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Plenarprotokoll 18/130

Deutscher

Stenografischer Bericht

130. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015

Inhalt:

Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- Tagesordnungspunkt 5: nung...... 12553 A a) – Zweite und dritte Beratung des von den Absetzung der Tagesordnungspunkte 5 f und Fraktionen der CDU/CSU und SPD 15...... 12554 A eingebrachten Entwurfs eines Asylver- fahrensbeschleunigungsgesetzes Nachträgliche Ausschussüberweisungen . . . 12554 A Drucksachen 18/6185, 18/6386. . . . 12576 D Begrüßung der Präsidentin des Seimas der – Bericht des Haushaltsausschusses ge- Republik Litauen, Frau Loreta Graužinienė. 12570 A mäß § 96 der Geschäftsordnung Drucksache 18/6387 ...... 12576 D

Tagesordnungspunkt 4: b) Beschlussempfehlung und Bericht des In- Abgabe einer Regierungserklärung durch die nenausschusses Bundeskanzlerin: zum Europäischen Rat am – zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla 15./16. Oktober 2015 in Brüssel Jelpke, , Sigrid Hupach, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion Dr. , Bundeskanzlerin . . . . 12554 D DIE LINKE: Flüchtlinge willkommen Dr. (DIE LINKE) ...... 12559 A heißen – Für einen grundlegenden Wandel in der Asylpolitik (SPD) ...... 12561 C – zu dem Antrag der Abgeordneten , Jan Korte, Sabine Zimmermann Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/ (Zwickau), weiterer Abgeordneter und DIE GRÜNEN) ...... 12564 B der Fraktion DIE LINKE: Alle Flücht- (CDU/CSU) ...... 12566 A linge willkommen heißen – Gegen eine Politik der Ausgrenzung und Norbert Spinrath (SPD) ...... 12568 C Diskriminierung – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) (CDU/CSU) . 12570 A , Ekin Deligöz, Britta Haßelmann, weiterer Abgeordneter und (DIE LINKE) ...... 12572 D der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) (CDU/CSU) . 12573 B NEN: Für eine faire finanzielle Ver- antwortungsteilung bei der Aufnah- (BÜNDNIS 90/ me und Versorgung von Flüchtlingen DIE GRÜNEN) ...... 12573 D Drucksachen 18/3839, 18/6190, 18/4694, 18/6386...... 12577 A (CDU/CSU) . . . . . 12574 C c) Zweite und dritte Beratung des von der (CDU/CSU) ...... 12575 D Bundesregierung eingebrachten Entwurfs II Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. , Donnerstag, den 15. Oktober 2015

eines Gesetzes zur schnelleren Entlas- , Bundesministerin tung der Länder und Kommunen bei BMFSFJ ...... 12590 D der Aufnahme und Unterbringung von Asylbewerbern (Entlastungsbeschleuni- Nadine Schön (St. Wendel) (CDU/CSU) . . . 12592 B gungsgesetz) Drucksachen 18/6172, 18/6381. . . . . 12577 B (SPD) ...... 12594 A d) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs Namentliche Abstimmungen . . 12595 A, B, C, 12607 D eines Gesetzes zur Verbesserung der Un- terbringung, Versorgung und Betreuung Ergebnisse . . . . ausländischer Kinder und Jugendlicher 12595 B, 12598 B, 12601 B, 12604 B, Drucksachen 18/5921, 18/6289, 12609 A 18/6392...... 12577 B Tagesordnungspunkt 6: e) Beschlussempfehlung und Bericht des a) Antrag der Abgeordneten , Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen , Stephan Kühn (Dresden), und Jugend weiterer Abgeordneter und der Fraktion – zu dem Antrag der Abgeordneten BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Aus dem Norbert Müller (Potsdam), Ulla Jelpke, Pkw-Abgasskandal Konsequenzen zie- Sigrid Hupach, weiterer Abgeordneter hen – Wettbewerbsfähigkeit der Auto- und der Fraktion DIE LINKE: Unbe- mobilindustrie sichern gleitete minderjährige Flüchtlinge Drucksache 18/6334...... 12609 A mit einer starken Jugendhilfe auf- nehmen b) Antrag der Abgeordneten , , , weiterer Ab- – zu dem Antrag der Abgeordneten geordneter und der Fraktion DIE LINKE: Beate Walter-Rosenheimer, Luise Die notwendigen Konsequenzen aus dem Amtsberg, Dr. , Betrugsskandal um Kfz-Abgase ziehen weiterer Abgeordneter und der Frakti- Drucksache 18/6325 ...... 12609 C on BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Das Kindeswohl bei der Versorgung un- Dr. (BÜNDNIS 90/ begleiteter minderjähriger Flüchtlin- DIE GRÜNEN) ...... 12612 A ge absichern , Parl. Staatssekretär Drucksachen 18/4185, 18/5932, BMVI ...... 12613 D 18/6392 ...... 12577 C Caren Lay (DIE LINKE) ...... 12616 B Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister BMI ...... 12577 C (SPD) ...... 12617 B

Jan Korte (DIE LINKE) ...... 12579 B Sabine Leidig (DIE LINKE) ...... 12618 B

Dr. Eva Högl (SPD) ...... 12580 D Arno Klare (SPD) ...... 12618 D

Dr. (BÜNDNIS 90/ (CDU/CSU) ...... 12619 B DIE GRÜNEN) ...... 12582 A Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/ (CDU/CSU) ...... 12583 C DIE GRÜNEN) ...... 12620 B

Sevim Dağdelen (DIE LINKE) ...... 12585 C (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 12621 D Dr. Barbara Hendricks, Bundesministerin BMUB...... 12586 B Oliver Wittke (CDU/CSU) ...... 12622 A

Claudia Roth () (BÜNDNIS 90/ (DIE LINKE) ...... 12622 C DIE GRÜNEN) ...... 12587 B Birgit Kömpel (SPD) ...... 12623 B (CDU/CSU) ...... 12588 B Stephan Kühn (Dresden) (BÜNDNIS 90/ Rüdiger Veit (SPD) ...... 12590 B DIE GRÜNEN) ...... 12624 A

Andrea Lindholz (CDU/CSU) ...... 12590 C Dr. (CDU/CSU) ...... 12624 D Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 III

Dr. Birgit Malecha-Nissen (SPD) . . . . . 12626 B Tagesordnungspunkt 31: a) Zweite Beratung und Schlussabstimmung (SPD) ...... 12627 C des von der Bundesregierung eingebrach- ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Partnerschafts- und Kooperationsab- Tagesordnungspunkt 30: kommen vom 11. Mai 2012 zwischen a) Erste Beratung des von der Bundesregie- der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Re- rung eingebrachten Entwurfs eines Ersten publik Irak andererseits Gesetzes zur Änderung des Seearbeits- Drucksachen 18/5577, 18/6374. . . . . gesetzes 12629 C Drucksache 18/6162...... 12628 C b) – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten b) Erste Beratung des von der Bundesregie- Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- kommen vom 7. Mai 2015 zwischen zes zur Auswahl und zum Anschluss von der Regierung der Bundesrepublik Telekommunikationsendgeräten Deutschland und der Regierung von Drucksache 18/6280...... 12628 D Jersey über die Zusammenarbeit in Steuersachen und die Vermeidung c) Erste Beratung des von der Bundesregie- der Doppelbesteuerung bei bestim- rung eingebrachten Entwurfs eines Ge- mten Einkünften setzes zur Änderung vom 10. Dezember Drucksachen 18/6157, 18/6369 Buch- 2014 des Übereinkommens vom 27. Juni stabe b und Buchstabe c...... 12629 D 1980 zur Gründung des Gemeinsamen Fonds für Rohstoffe – Zweite und dritte Beratung des von Drucksache 18/6294...... 12628 D der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem d) Antrag der Abgeordneten , Zusatzabkommen vom 31. März , Kordula Schulz-Asche, 2015 zum Abkommen vom 21. Juli weiterer Abgeordneter und der Fraktion 1959 zwischen der Bundesrepublik BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Biosi- Deutschland und der Französischen cherheit bei Hochrisikoforschung in den Republik zur Vermeidung der Dop- Lebenswissenschaften stärken pelbesteuerungen und über gegen- Drucksache 18/6204...... 12628 D seitige Amts- und Rechtshilfe auf dem Gebiete der Steuern vom Ein- e) Antrag der Abgeordneten Dr. Kirsten kommen und vom Vermögen sowie Tackmann, , Caren Lay, wei- der Gewerbesteuern und der Grund- terer Abgeordneter und der Fraktion DIE steuern LINKE: Herdenschutz ist Wolfsschutz – Drucksachen 18/6158, 18/6369 Jetzt ein bundesweites Kompe- Buchstabe b und Buchstabe c . . . 12629 D tenzzentrum aufbauen Drucksache 18/6327 ...... 12629 A c) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Energie zu der Verordnung der Bundesregierung: Vierte Verordnung zur Änderung der Zusatztagesordnungspunkt 2: Außenwirtschaftsverordnung a) Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, Drucksachen 18/5891, 18/5976 Nr. 2.1, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- 18/6180...... 12630 B NEN: Einsetzung des 3. Untersuchung- sausschusses d)–f) Drucksache 18/6330...... 12629 A Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses: Sammelübersich- b) Antrag der Abgeordneten Tom Koenigs, ten 233, 234 und 235 zu Petitionen , Luise Amtsberg, wei- Drucksachen 18/6210, 18/6211, 18/6212. 12630 C terer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Keine Straflosigkeit bei Kriegsverbrechen – Zusatztagesordnungspunkt 6: Völkerstrafprozesse in Deutschland vo- ranbringen Beratung der Beschlussempfehlung des Aus- schusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes Drucksache 18/6341...... 12629 B (Vermittlungsausschuss) zu dem Dritten Ge- IV Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 setz zur Änderung des Regionalisierungsge- Vorteile zum Übereinkommen über die setzes biologische Vielfalt Drucksachen 18/3785, 18/3993, 18/4164, Drucksachen 18/5219, 18/6384. . . . . 12638 D 18/4189, 18/4514, 18/6370 ...... 12630 D Rita Schwarzelühr-Sutter, Parl. Staatssekre­ tärin BMUB ...... 12638 D

Tagesordnungspunkt 25: Birgit Menz (DIE LINKE) ...... 12639 C a) Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD: Die maritime Wirtschaft stärken Dr. Klaus-Peter Schulze (CDU/CSU) . . . . 12640 C und ihre Bedeutung für Deutschland (BÜNDNIS 90/ hervorheben DIE GRÜNEN) ...... 12642 A Drucksache 18/6328...... 12630 D Carsten Träger (SPD) ...... 12643 A b) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Vierter Bericht der Bundesregierung Josef Göppel (CDU/CSU) ...... 12643 D über die Entwicklung und Zukunftsper- spektiven der maritimen Wirtschaft in René Röspel (SPD) ...... 12644 C Deutschland Drucksache 18/5764...... 12631 A c) Antrag der Abgeordneten Dr. Valerie Tagesordnungspunkt 9: Wilms, , , a) Antrag der Abgeordneten Dr. Kirsten weiterer Abgeordneter und der Fraktion Tackmann, Karin Binder, , BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Amt des weiterer Abgeordneter und der Frakti- Maritimen Koordinators aufwerten on DIE LINKE sowie der Abgeordneten Drucksache 18/6347 ...... 12631 A Friedrich Ostendorff, Harald Ebner, Nicole Maisch, weiterer Abgeordneter und der , Parl. Staatssekretär Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: BMWi ...... 12631 B Milchmarkt stabilisieren – Milchkrise beenden Herbert Behrens (DIE LINKE) ...... 12632 B Drucksache 18/6206...... 12646 A

Rüdiger Kruse (CDU/CSU) ...... 12633 A b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung und Landwirt- Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/ schaft DIE GRÜNEN) ...... 12634 B – zu dem Antrag der Fraktionen der Johann Saathoff (SPD) ...... 12635 B CDU/CSU und SPD: Auslaufen der Milchquote – Wettbewerbsfähigkeit Hans-Werner Kammer (CDU/CSU) . . . . 12636 B der Milchviehhalter sichern

Dr. (CDU/CSU) . . . . . 12637 B – zu dem Antrag der Abgeordneten Friedrich Ostendorff, Nicole Maisch, Harald Ebner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE Tagesordnungspunkt 7: GRÜNEN: Landwirtschaft braucht – Zweite und dritte Beratung des von der flächendeckende Milchviehhaltung – Bundesregierung eingebrachten Entwurfs Bäuerliche Milcherzeuger stärken – eines Gesetzes zur Umsetzung der Ver- Milchpreise stabilisieren pflichtungen nach dem Nagoya-Proto- Drucksachen 18/4424, 18/4330, koll und zur Durchführung der Ver- 18/5601 ...... 12646 A ordnung (EU) Nr. 511/2014 sowie zur Änderung des Patentgesetzes Dr. (DIE LINKE) . . . . 12646 B Drucksachen 18/5321, 18/6384. . . . . 12638 C Christian , Bundesminister BMEL . . 12647 C – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) . . . 12649 A eines Gesetzes zu dem Protokoll von Na- goya vom 29. Oktober 2010 über den Zu- Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/ gang zu genetischen Ressourcen und die DIE GRÜNEN) ...... 12649 D ausgewogene und gerechte Aufteilung der sich aus ihrer Nutzung ergebenden Franz-Josef Holzenkamp (CDU/CSU) . . 12651 B Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 V

Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD) ...... 12651 D (Wetzlar) (SPD) . . . . . 12670 D

Kees de Vries (CDU/CSU) ...... 12653 C Matthias W. Birkwald (DIE LINKE) . . . . 12671 C

Rita Hagl-Kehl (SPD) ...... 12654 D (CDU/CSU) ...... 12672 C

Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/ Tagesordnungspunkt 8: DIE GRÜNEN) ...... 12673 D

Zweite und dritte Beratung des von der Bun- (SPD) ...... 12675 A desregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierzehnten Gesetzes zur Änderung des (CDU/CSU) ...... 12676 A Atomgesetzes Drucksachen 18/5865, 18/6234 ...... 12656 A (SPD) ...... 12677 C Rita Schwarzelühr-Sutter, Parl. Staatssekre­ tärin BMUB ...... 12656 A Tagesordnungspunkt 13: Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) . . . . 12656 D Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- Steffen Kanitz (CDU/CSU) ...... 12657 D schusses für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit zu dem Antrag der Abgeord- Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/ neten , Caren Lay, Diana Golze, DIE GRÜNEN) ...... 12659 B weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Wohnungsnot, Mietsteigerungen (SPD) ...... 12660 C und Mietwucher in Hochschulstädten be- kämpfen Florian Oßner (CDU/CSU) ...... 12661 B Drucksachen 18/2870, 18/4512 ...... 12678 D

Tagesordnungspunkt 11: in Verbindung mit Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für die Angelegenheiten der Europäi- Zusatztagesordnungspunkt 3: schen Union zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Franziska Brantner, , Antrag der Abgeordneten Christian Kühn (Tü- (), weiterer Abge- bingen), Kai Gehring, Sven-Christian Kindler, ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE weiterer Abgeordneter und der Fraktion GRÜNEN: Gemeinsame Grundwerte stär- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Bund-­Länder- ken – Europa stärken Aktionsplan „Studentisches Wohnen, Integ- Drucksachen 18/4686, 18/6196 ...... 12663 B ration und soziale Infrastruktur“ auflegen Drucksache 18/6336 ...... 12678 D Michael Roth, Staatsminister AA ...... 12663 B , Parl. Staatssekretär (DIE LINKE) ...... 12664 C BMUB...... 12679 A

Thomas Dörflinger (CDU/CSU) ...... 12665 B Nicole Gohlke (DIE LINKE) ...... 12680 B Dr. Franziska Brantner (BÜNDNIS 90/ Sylvia Jörrißen (CDU/CSU) ...... 12681 B DIE GRÜNEN) ...... 12666 D Christian Kühn (Tübingen) (BÜNDNIS 90/ Dr. (SPD) ...... 12668 A DIE GRÜNEN) ...... 12682 C Iris Eberl (CDU/CSU) ...... 12669 A (CDU/CSU) ...... 12683 D

Tagesordnungspunkt 12: Tagesordnungspunkt 10: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Erste Beratung des von der Bundesregierung Änderung des Zwölften Buches Sozialge- eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur setzbuch und weiterer Vorschriften Umsetzung der EU-Mobilitäts-Richtlinie Drucksache 18/6284 ...... 12670 C Drucksache 18/6283 ...... 12685 A VI Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015

Zusatztagesordnungspunkt 4: Tagesordnungspunkt 16: Antrag der Abgeordneten Peter Meiwald, Zweite und dritte Beratung des von der Bun- , Christian Kühn (Tübingen), desregierung eingebrachten Entwurfs eines weiterer Abgeordneter und der Fraktion Gesetzes zur Bekämpfung der Korruption BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Sport und Drucksachen 18/4350, 18/6389 ...... 12697 D Alltag verbinden – Lärmschutzregeln für Sportanlagen den heutigen Anforderungen (SPD) ...... 12698 A anpassen Drucksache 18/4329 ...... 12685 B Jörn Wunderlich (DIE LINKE) ...... 12699 B

Monika Lazar (BÜNDNIS 90/ (CDU/CSU) ...... 12700 B DIE GRÜNEN) ...... 12685 C (BÜNDNIS 90/ Karsten Möring (CDU/CSU) ...... 12686 B DIE GRÜNEN) ...... 12701 B

Ralph Lenkert (DIE LINKE) ...... 12688 B Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU) ...... 12702 B

Ulli Nissen (SPD) ...... 12689 B

Michaela Engelmeier (SPD) ...... 12690 A Tagesordnungspunkt 17: Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Tagesordnungspunkt 14: Gesetzes zur Änderung des Unterhalts- a) – Zweite und dritte Beratung des von der rechts und des Unterhaltsverfahrensrechts Bundesregierung eingebrachten Ent- Drucksachen 18/5918, 18/6287, 18/6380. . . 12703 A wurfs eines Gesetzes zur Bereinigung des Rechts der Lebenspartner Drucksachen 18/5901, 18/6227. . . . 12691 A Tagesordnungspunkt 18: – Zweite und dritte Beratung des von den – Zweite und dritte Beratung des von der Abgeordneten (Köln), Ulle Bundesregierung eingebrachten Entwurfs Schauws, Luise Amtsberg, weiteren eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Abgeordneten und der Fraktion BÜND- Energieverbrauchskennzeichnungsge- NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur abschlie- setzes ßenden Beendigung der verfassungs- Drucksachen 18/5925, 18/6292, widrigen Diskriminierung eingetra- 18/6383...... 12703 C gener Lebenspartnerschaften Drucksachen 18/3031, 18/6227. . . . 12691 A – Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung b) Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- Drucksache 18/6388 ...... 12703 C schusses für Recht und Verbraucherschutz zu dem Antrag der Abgeordneten Harald Dr. (SPD) ...... 12703 D Petzold (Havelland), Sigrid Hupach, Jan Korte, weiterer Abgeordneter und der Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) . . . . 12704 C Fraktion DIE LINKE: Ehe für gleichge- schlechtliche Paare – Der Entschließung Hansjörg Durz (CDU/CSU)...... 12705 C des Bundesrates folgen Drucksachen 18/5205, 18/6379 . . . . . 12691 B Dr. (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 12706 D Dr. Karl-Heinz Brunner (SPD) ...... 12691 B

Harald Petzold (Havelland) (DIE LINKE) . . 12692 A Tagesordnungspunkt 19: Dr. Sabine Sütterlin-Waack (CDU/CSU) . . . 12693 A Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE Gesetzes zur Änderung des Umwelt-Rechts- GRÜNEN) ...... 12694 B behelfsgesetzes zur Umsetzung des Urteils Alexander Hoffmann (CDU/CSU) ...... 12695 C des Europäischen Gerichtshofs vom 7. No- vember 2013 in der Rechtssache C-72/12 Susann Rüthrich (SPD) ...... 12696 C Drucksachen 18/5927, 18/6288, 18/6385. . . 12708 A Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 VII

Tagesordnungspunkt 20: Anlage 2 Zweite und dritte Beratung des von der Bun- Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten desregierung eingebrachten Entwurfs eines Volker Beck (Köln), Sven-Christian Kindler, Ersten Gesetzes zur Änderung des Batterie- Peter Meiwald, Monika Lazar, Julia Verlinden, gesetzes Jürgen Trittin, Corinna Rüffer und Stephan Drucksachen 18/5759, 18/6233 ...... 12708 B Kühn (alle BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zu der namentlichen Abstimmung über den von den Fraktionen der CDU/CSU und SPD ein- Tagesordnungspunkt 21: gebrachten Entwurf eines Asylverfahrensbe- Zweite und dritte Beratung des von den Frak- schleunigungsgesetzes tionen der CDU/CSU und SPD eingebrachten (Tagesordnungspunkt 5 a)...... 12711 B Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung des Bundeszentralregistergesetzes Drucksachen 18/6186, 18/6390 ...... 12708 C Anlage 3 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordne- ten Beate Müller-Gemmeke, Maria Klein- Tagesordnungspunkt 22: Schmeink und Dr. Harald Terpe (alle BÜND- Zweite Beratung und Schlussabstimmung des NIS 90/DIE GRÜNEN) zu der namentlichen von der Bundesregierung eingebrachten Ent- Abstimmung über den von den Fraktionen der wurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom CDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurf 3. Dezember 2014 zur Änderung des Ab- eines Asylverfahrensbeschleunigungsgesetzes kommens vom 30. März 2011 zwischen der (Tagesordnungspunkt 5 a)...... 12713 B Bundesrepublik Deutschland und Irland zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur Verhinderung der Steuerverkür- zung auf dem Gebiet der Steuern vom Ein- Anlage 4 kommen und vom Vermögen Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Drucksachen 18/5579, 18/6369 Dr. Lars Castellucci und Dr. Dorothea Schlegel Buchstabe a...... 12709 A (beide SPD) zu der namentlichen Abstimmung über den von den Fraktionen der CDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurf eines Asyl- Tagesordnungspunkt 23: verfahrensbeschleunigungsgesetzes Erste Beratung des von der Bundesregierung (Tagesordnungspunkt 5 a)...... 12714 C eingebrachten Entwurfs eines Ersten Geset- zes zur Änderung des Lebensmittelspeziali- tätengesetzes Anlage 5 Drucksache 18/6164...... 12709 B Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten und Dr. Wolfgang Strengmann- Kuhn (beide BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Tagesordnungspunkt 24: zu der namentlichen Abstimmung über den Erste Beratung des von der Bundesregie- von den Fraktionen der CDU/CSU und SPD rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- eingebrachten Entwurf eines Asylverfahrens- zes zur Umsetzung der aufsichts- und be- beschleunigungsgesetzes rufsrechtlichen Regelungen der Richtlinie (Tagesordnungspunkt 5 a)...... 12715 C 2014/56 EU sowie zur Ausführung der entsprechenden Vorgaben der Verordnung (EU) Nr. 537/2014 im Hinblick auf die Ab- Anlage 6 schlussprüfung bei Unternehmen von öf- fentlichem Interesse (Abschlussprüferauf- Erklärungen nach § 31 GO zu der namentlichen sichtsreformgesetz – APAReG) Abstimmung über den von den Fraktionen der Drucksache 18/6282...... 12709 C CDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurf eines Asylverfahrensbeschleunigungsgesetzes (Tagesordnungspunkt 5 a)...... 12717 D Nächste Sitzung ...... 12709 D Klaus Brähmig (CDU/CSU)...... 12717 D

Anlage 1 Marco Bülow (SPD)...... 12718 A Liste der entschuldigten Abgeordneten. . . . 12711 A Dr . (SPD)...... 12718 C VIII Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015

Dr . Ute Finckh-Krämer (SPD)...... 12718 D Anlage 10

Hilde Mattheis (SPD)...... 12719 A Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten (SPD)...... 12719 D Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Umwelt-Rechtsbehelfsgesetzes zur Umset- (SPD)...... 12723 B zung des Urteils des Europäischen Gerichts- hofs vom 7. November 2013 in der Rechtssa- Christoph Strässer (SPD)...... 12726 D che C-72/12 (Tagesordnungspunkt 19)...... 12737 C Beate Walter-Rosenheimer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)...... 12727 A (CDU/CSU)...... 12737 D

Dr . Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/ Dr . (SPD)...... 12738 C DIE GRÜNEN)...... 12727 C (DIE LINKE)...... 12739 A

Anlage 7 Peter Meiwald (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)...... 12739 C Erklärung des Abgeordneten Michael Grosse- Brömer (CDU/CSU) als Berichterstatter zu der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes (Vermittlungs- Anlage 11 ausschuss) zu dem Dritten Gesetz zur Ände- Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung rung des Regionalisierungsgesetzes des von der Bundesregierung eingebrachten (Zusatztagesordnungspunkt 6)...... 12728 C Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Batteriegesetzes (Tagesordnungspunkt 20)...... 12740 B Anlage 8 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Dr . (CDU/CSU)...... 12740 B des von der Bundesregierung eingebrachten (SPD)...... 12741 B Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der EU-Mobilitäts-Richtlinie Ralph Lenkert (DIE LINKE)...... 12742 B (Tagesordnungspunkt 10)...... 12728 D Peter Meiwald (BÜNDNIS 90/ Matthäus Strebl (CDU/CSU) ...... 12729 A DIE GRÜNEN)...... 12742 D Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU). . . . 12729 D

Ralf Kapschack (SPD) ...... 12730 D Anlage 12 Matthias W . Birkwald (DIE LINKE)...... 12731 D Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und SPD Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ eingebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur DIE GRÜNEN)...... 12732 C Änderung des Bundeszentralregistergesetzes (Tagesordnungspunkt 21)...... 12743 A

Anlage 9 Reinhard Grindel (CDU/CSU)...... 12743 B Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Alexander Hoffmann (CDU/CSU) ...... 12743 C des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Dr . (SPD) ...... 12744 B Unterhaltsrechts und des Unterhaltsverfah- rensrechts Jan Korte (DIE LINKE)...... 12744 C (Tagesordnungspunkt 17)...... 12733 B Dr . Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/ (CDU/CSU)...... 12733 C DIE GRÜNEN)...... 12745 C

Dr . Sabine Sütterlin-Waack (CDU/CSU) . . . . 12734 C

Sonja Steffen (SPD)...... 12735 C Anlage 13 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Jörn Wunderlich (DIE LINKE)...... 12736 C und Schlussabstimmung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN). . . . 12737 B Gesetzes zu dem Protokoll vom 3. Dezember Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 IX

2014 zur Änderung des Abkommens vom Elvira Drobinski-Weiß (SPD)...... 12752 A 30. März 2011 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Irland zur Vermeidung der Karin Binder (DIE LINKE)...... 12753 A Doppelbesteuerung und zur Verhinderung der Steuerverkürzung auf dem Gebiet der Steuern (BÜNDNIS 90/ vom Einkommen und vom Vermögen DIE GRÜNEN)...... 12753 D (Tagesordnungspunkt 22)...... 12747 A

Philipp Graf Lerchenfeld (CDU/CSU). . . . . 12747 A Anlage 15 Dr . (CDU/CSU)...... 12747 D Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten () (SPD)...... 12749 A Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der aufsichts- und berufsrechtlichen Regelungen Richard Pitterle (DIE LINKE) ...... 12749 D der Richtlinie 2014/56/EU sowie zur Ausfüh- rung der entsprechenden Vorgaben der Ver- (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . 12750 B ordnung (EU) Nr. 537/2014 im Hinblick auf die Abschlussprüfung bei Unternehmen von öffentlichem Interesse (Abschlussprüferauf- Anlage 14 sichtsreformgesetz – APAReG) (Tagesordnungspunkt 24)...... 12754 B Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Dr . Matthias Heider (CDU/CSU)...... 12754 C Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Lebensmittelspezialitätengesetzes Matthias Ilgen (SPD) ...... 12755 D (Tagesordnungspunkt 23)...... 12750 D Klaus Ernst (DIE LINKE)...... 12756 C Alois Rainer (CDU/CSU)...... 12750 D Dieter Janecek (BÜNDNIS 90/ Carola Stauche (CDU/CSU)...... 12751 C DIE GRÜNEN) 12757 D

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(A) (C)

130. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015

Beginn: 9.01 Uhr

Präsident Dr. : ZP 6 Beratung der Beschlussempfehlung des Aus- Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet. schusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuss) zu dem Dritten Gesetz Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich zur Änderung des Regionalisierungsgesetzes begrüße Sie alle herzlich und möchte Ihnen vor Eintritt in die Tagesordnung eine Vereinbarung zwischen den Frak- Drucksachen 18/3785, 18/3993, 18/4164, tionen vortragen, zu der ich Sie um Ihre Zustimmung bit- 18/4189, 18/4514, 18/6370 te. Es ist vereinbart worden, die Tagesordnung um die in ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Christian der Zusatzpunkteliste aufgeführten Punkte zu erweitern: Kühn (Tübingen), Kai Gehring, Sven-Christian ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion Kindler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Lage in der Türkei nach dem Terroranschlag Bund-Länder-Aktionsplan „Studentisches (B) (D) in Ankara Wohnen, Integration und soziale Infrastruk- tur“ auflegen (siehe 129. Sitzung) Drucksache 18/6336 ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver- fahren ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter Meiwald, Monika Lazar, Christian Kühn (Tü- (Ergänzung zu TOP 30) bingen), weiterer Abgeordneter und der Fraktion a) Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/ BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN CSU, SPD, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/ Sport und Alltag verbinden – Lärmschutzre- DIE GRÜNEN geln für Sportanlagen den heutigen Anforde- Einsetzung des 3. Untersuchungsausschus- rungen anpassen ses Drucksache 18/4329 Drucksache 18/6330 Überweisungsvorschlag: Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäfts- Reaktorsicherheit (f) ordnung Sportausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Tom ZP 5 a) – Zweite und dritte Beratung des von den Frak- Koenigs, Omid Nouripour, Luise Amtsberg, tionen der CDU/CSU und SPD eingebrachten weiterer Abgeordneter und der Fraktion Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einer Speicherpflicht und Höchstspeicher- Keine Straflosigkeit bei Kriegsverbrechen frist für Verkehrsdaten – Völkerstrafprozesse in Deutschland vor- Drucksache 18/5088 anbringen – Zweite und dritte Beratung des von der Bun- Drucksache 18/6341 desregierung eingebrachten Entwurfs eines Überweisungsvorschlag: Gesetzes zur Einführung einer Speicherpflicht Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f) und Höchstspeicherfrist für Verkehrsdaten Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe (f) Federführung strittig Drucksache 18/5171 12554 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015

Präsident Dr. Norbert Lammert (A) Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft (C) schusses für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO (6. Ausschuss) Der am 25. September 2015 (125. Sitzung) überwie- Drucksache 18/6391 sene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Innenausschuss (4. Ausschuss) zur Mitberatung über- Berichts des Ausschusses für Recht und Ver- wiesen werden: braucherschutz (6. Ausschuss) zu dem An- Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- trag der Abgeordneten Jan Korte, Dr. André gebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes Hahn, Ulla Jelpke, weiterer Abgeordneter zur Stärkung der pflegerischen Versorgung und der Fraktion DIE LINKE und zur Änderung weiterer Vorschriften Auf Vorratsdatenspeicherung verzichten (Zweites Pflegestärkungsgesetz – PSG II) Drucksachen 18/4971, 18/6391 Drucksache 18/5926 Dabei soll von der Frist für den Beginn der Beratun- Überweisungsvorschlag: gen, soweit erforderlich, abgewichen werden. Ausschuss für Gesundheit (f) Innenausschuss Der Tagesordnungspunkt 5 f – hier geht es um den Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Antrag mit dem Titel „Besonders gefährdete Flüchtlinge Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO in Erstaufnahmeeinrichtungen und Gemeinschaftsunter- künften besser schützen“ – soll heute abgesetzt werden. Der am 24. September 2015 (124. Sitzung) überwie- sene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem Ausschuss Ebenso soll der Tagesordnungspunkt 15, der Antrag für Wirtschaft und Energie (9. Ausschuss) zur Mitbera- zum Thema Sport und Fankultur, abgesetzt und statt- tung überwiesen werden: dessen der Antrag auf Drucksache 18/4329 zum Thema „Sport und Alltag verbinden“ aufgerufen werden. Antrag der Abgeordneten Stephan Kühn (Dresden), Oliver Krischer, Matthias Gastel, weiterer Abgeord- Darüber hinaus kommt es zu den in der Zusatzpunkte- neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN liste dargestellten weiteren Änderungen des Ablaufs. Zum Schutz der Verbraucher – Unzutreffende An- Ich mache schließlich noch auf mehrere nachträgli- gaben beim Spritverbrauch und Schadstoffausstoß che Ausschussüberweisungen im Anhang zur Zusatz- von PKW beenden punkteliste aufmerksam: (B) Drucksache 18/6070 (D) Der am 25. September 2015 (125. Sitzung) überwiese- ne nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Aus- Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur (f) schuss für Wirtschaft und Energie (9. Ausschuss) sowie Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz dem Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Re- Ausschuss für Wirtschaft und Energie aktorsicherheit (16. Ausschuss) zur Mitberatung über- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit wiesen werden: Ich frage Sie, ob Sie mit diesen Vereinbarungen ein- Erste Beratung des von der Bundesregierung einge- verstanden sind. – Das ist offensichtlich der Fall. Dann brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der ist das so beschlossen. Wohnimmobilienkreditrichtlinie Ich rufe nun unseren Tagesordnungspunkt 4 auf: Drucksache 18/5922 Abgabe einer Regierungserklärung durch die Überweisungsvorschlag: Bundeskanzlerin zum Europäischen Rat am Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f) 15./16. Oktober 2015 in Brüssel Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Energie Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit Die Linke vor. Der am 25. September 2015 (125. Sitzung) überwie- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für sene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklä- Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft (10. Aus- rung 77 Minuten vorgesehen. – Auch dazu sehe ich kei- schuss) zur Mitberatung überwiesen werden: nen Widerspruch. Also verfahren wir so. Erste Beratung des von der Bundesregierung einge- Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung die Bundeskanzlerin Frau Angela Merkel. des Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuergesetzes an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsge- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) richts Drucksache 18/5923 Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin: Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) Meine Damen und Herren! Der Zusammenhalt Europas Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz ist auch 58 Jahre nach Verabschiedung der Römischen Ausschuss für Wirtschaft und Energie Verträge nicht selbstverständlich, sondern er ist ein kost- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 12555

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (A) barer Schatz. Er wird – auch das lehrt die Erfahrung der bleibt die Wiederherstellung der freien Selbstbestim- (C) letzten 58 Jahre – immer wieder auf die Probe gestellt, mung der und ihrer territorialen Unversehrtheit. manchmal sogar auf eine sehr harte Probe. Und doch ist (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem dieser Zusammenhalt Europas so wie damals vor 58 Jah- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ren auch heute unverzichtbar, um die drängenden Fragen, denen wir gegenüberstehen, zu beantworten. Meine Damen und Herren, auf dem heute beginnen- den Europäischen Rat werden wir auch über den weiteren Denken wir dabei zunächst an die unverändert gro- Prozess zum Referendum in Großbritannien sprechen. ße Aufgabe, die europäische Staatsschuldenkrise nicht Es versteht sich von selbst, dass wir dabei konstruktiv einfach irgendwie, sondern dauerhaft und nachhaltig zu mit der britischen Regierung zusammenarbeiten werden. überwinden, also so, dass Europa nach der Krise stärker Das habe ich bei meinem Besuch am letzten Freitag auch ist als vor der Krise. Es ist erst wenige Wochen her, dass dem britischen Premierminister David Cameron noch die Lage in Griechenland uns alle in Atem hielt und täg- einmal zugesichert. Aber es versteht sich von selbst, dass lich die Hauptschlagzeilen prägte. Mittlerweile scheint es Unverhandelbares gibt, dass es Errungenschaften der das fast schon Ewigkeiten zurückzuliegen. Dennoch europäischen Integration gibt, die nicht zur Disposition dürfen wir natürlich in unseren Bemühungen nicht nach- gestellt werden können, wie etwa das Prinzip der Freizü- lassen, die Reformprozesse in Europa auf der Grundlage gigkeit und das Prinzip der Nichtdiskriminierung. Auch nationaler Eigenverantwortung und europäischer Solida- das habe ich natürlich deutlich gemacht. rität fortzusetzen, vorneweg in den von der Krise ganz (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie besonders betroffenen Staaten. bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wir dürfen auch nicht nachlassen – da sind wir längst nicht am Ende –, die Gründungsfehler der Europäischen Jetzt wird es vor allen Dingen an der britischen Seite Wirtschafts- und Währungsunion zu beheben. Dazu liegen, in den kommenden Wochen ihre inhaltlichen Vor- müssen wir weiter daran arbeiten, zum Beispiel die wirt- stellungen noch einmal zu präzisieren. Ich bin überzeugt schaftspolitische Koordinierung in Europa zu verbessern davon, dass wir am Ende einen tragfähigen Kompromiss und zu intensivieren. Denn die gemeinsame Währung finden können. Ich wünsche mir Großbritannien wei- steht wie keine zweite Entscheidung des europäischen terhin als aktiven Partner in einer starken Europäischen Einigungsprozesses auch dafür, wie und wie stark wir Union. weltweit unsere Werte und Interessen behaupten können, (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie und dies gerade in einer Zeit schwierigster außen- und bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE (B) sicherheitspolitischer Herausforderungen. GRÜNEN) (D) Das gilt ganz besonders mit Blick auf die Lage in Denn gerade in Anbetracht der großen außen- und sicher- der Ukraine. Wir werden weiter an der Umsetzung der heitspolitischen Herausforderungen, die wir zu meistern Minsker Vereinbarung arbeiten, gemeinsam mit Frank- haben, brauchen wir ein Europa, das näher zusammen- reich – im Normandie-Format – und in enger Abstim- rückt, statt ein Europa, das auseinanderdriftet. mung mit unseren europäischen und transatlantischen Kein anderes Thema macht in diesen Tagen so deut- Partnern. lich, wie groß die Herausforderung ist, die Europa an- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- gesichts der vielen Menschen zu bestehen hat, und wie stark diese uns fordert. Deshalb müssen wir eine - ordneten der SPD) päische Antwort auf die Frage finden, wie Europa auf Dazu gehört auch, dass unser Vorgehen bei den gegen Herausforderungen wie Krieg und Verfolgung in unserer Russland verhängten Sanktionen an die Umsetzung eben Nachbarschaft reagiert. Es ist nicht übertrieben, diese genau dieses Minsker Abkommens gekoppelt ist und Aufgabe als historische Bewährungsprobe Europas zu bleibt. bezeichnen. Es ist klar, dass die Bewältigung dieser Be- währungsprobe nur gelingen kann, wenn wir parallel an Der seit September weitgehend eingehaltene Waffen- vielen Stellen und auf allen Ebenen ansetzen: national, in stillstand, der begonnene Abzug schwerer und leichter den Kommunen, den Ländern, beim Bund genauso wie Waffen und ganz besonders die Absage der Wahlen bzw. in Europa und global in der Außen- und Entwicklungspo- die Verschiebung des Wahltermins in den Gebieten der litik. Denn es gibt ihn nicht, den einen Schalter, den wir Separatisten sind der Hoffnungsschimmer, der sich rea- zur erfolgreichen Bewältigung dieser Herausforderung lisiert und von dem ich im Februar, als wir die Minsker einfach umlegen könnten, und dann wäre es geschafft. Vereinbarung abgeschlossen haben, gesprochen habe. Abschottung im 21. Jahrhundert ist angesichts des Ich spreche immer noch von einem Hoffnungsschim- Internets ebenfalls eine Illusion. Sie wäre weder für mer – nicht mehr, aber auch nicht weniger ist es –, aber Deutschland noch für die Europäische Union als Gan- das bietet uns jetzt die Chance, endlich auch auf dem zes eine vernünftige Alternative. Also: Nur gemeinsames Weg zu einer politischen Lösung voranzukommen. Der Handeln aller Ebenen ist der Weg, der den Anforderun- unabdingbare Schlussstein von Minsk ist der vollständi- gen unserer globalisierten und digitalisierten Zeit gerecht ge Abzug aller sich illegal in der Ukraine aufhaltenden wird und mit dem wir es schaffen werden, diese histori- Truppen und Söldner sowie die vollständige Kontrolle sche Bewährungsprobe zu meistern. In den letzten Wo- der Ukraine über ihre eigene Grenze. Unser Ziel ist und chen haben wir hierbei einiges erreicht, jedenfalls viel 12556 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (A) mehr als in vielen Monaten und Jahren zuvor. Denken Ich sage ganz offen: Sich zu enthalten, ist aus meiner (C) wir nur an das Sondertreffen der Staats- und Regierungs- Sicht in einer solchen Frage keine Option, die den Men- chefs am 23. April dieses Jahres, das keine wirklich weit- schen im Lande hilft. reichenden Beschlüsse zustande gebracht hat. Damals (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- gab es umfangreiche Kritik. 800 Menschen waren im ordneten der SPD) Mittelmeer umgekommen. Nur wenig war als Schluss- Mit diesem in kürzester Zeit erarbeiteten Paket ver- folgerung zu sehen. bessern wir zum 1. November dieses Jahres, also in we- National sind viele ganz zentrale innenpolitische niger als einem Monat, die Voraussetzung dafür, dass Maßnahmen in dem jetzigen Gesetzespaket enthalten, diejenigen, die aus wirtschaftlicher Not zu uns kommen das dem Bundestag heute zur Entscheidung vorliegt und und sich daher zu Unrecht auf unser Grundrecht auf Asyl das in enger Abstimmung mit den Ländern erarbeitet berufen, unser Land schneller als bisher wieder verlas- wurde. Ich möchte mich bei allen bedanken, die daran sen, damit diejenigen, die tatsächlich vor Krieg und Ver- mitgewirkt haben. Es zeigt, dass unser Land nicht nur folgung zu uns geflohen sind, sehr viel besser und effizi- enter als bislang Hilfe von uns allen bekommen. in Finanzkrisen schnell, flexibel und im Geiste des Mit- einanders reagieren kann – Bund, Länder, Städte und (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Gemeinden –, sondern dass wir, wenn es um alles geht – ordneten der SPD) auch um Kern und Inhalte unserer Grundwerte, also um Der Bund und Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, unsere deutsche und europäische Verfasstheit –, in der haben, glaube ich, durch die Entscheidung, gerade die Lage sind, zu handeln. Das ist eine gute Botschaft an die finanziellen Leistungen des Bundes zu erhöhen, deutlich Menschen. gemacht: Wir alle halten dies für eine nationale Kraftan- strengung, für eine nationale Gesamtaufgabe. Und das ist (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) auch richtig so. Ich will hier nur die wesentlichen Stichworte nen- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) nen, die unser Gesetzespaket vorsieht. Das sind die Verpflichtungen des Bundes zur finanziellen Unterstüt- Gerade um denjenigen zu helfen, die länger bei uns zung der Länder und Kommunen, so die Einführung von bleiben – wobei ich auch noch einmal darauf hinweisen Pauschalbeträgen, die sich nach der Zahl der tatsächlich möchte, dass nach der Genfer Flüchtlingskonvention der Aufenthaltsstatus für Flüchtlinge aus Bürgerkriegsgebie- aufgenommenen Personen und nach der Dauer der Be- ten erst einmal auf drei Jahre beschränkt ist und dann ge- (B) arbeitung der Anträge richten. Es sind die Förderung schaut wird, ob sich die außenpolitischen Bedingungen (D) des sozialen Wohnungsbaus, die Förderung bei der Be- verbessert haben –, ist es wichtig, dass wir ein Gesetzes­ treuung unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge, die paket geschaffen haben, mit dem auch die Integration Erleichterung des Zugangs zu Integrationskursen, zur schneller und besser stattfinden kann, und zwar auf der Sprachförderung und zum Arbeitsmarkt für Menschen Grundlage unserer Verfassung, auf der Grundlage unse- mit guter Bleibeperspektive und die Beschleunigung der rer Werte und auf der Grundlage unserer Gesetze. Verfahren für Menschen mit geringer Bleibeperspektive, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- auch um sie anschließend deutlich schneller in ihre Hei- ordneten der SPD) matländer zurückführen zu können. Weiter sind es die Einstufung von Albanien, Kosovo und Montenegro als Meine Damen und Herren, so wichtig, so richtig und sichere Herkunftsstaaten, die laufende Verbesserung der so unverzichtbar alle Maßnahmen unseres Gesetzpake- Ausstattung des Bundesamtes für Migration und Flücht- tes auch sind – ihnen werden im Übrigen weitere folgen; wir reden im Augenblick über die Umsetzung von zwei linge, damit Asylanträge künftig schneller bearbeitet und EU-Richtlinien inklusive der Option eines Transitverfah- entschieden werden können. Die Verringerung der An- rens im Landgrenzenbereich –, so richtig bleibt es, dass reize, die dazu führen können, dass Menschen aus rein all diese Maßnahmen auf nationaler Ebene bei weitem finanziellen Gründen nach Deutschland kommen, bedeu- nicht ausreichen werden, um die historische Bewäh- tet beispielsweise, dass wir in den Erstaufnahmeeinrich- rungsprobe zu bestehen, von der ich vorhin sprach. Dafür tungen vor allem Sachleistungen zur Verfügung stellen. braucht es mehr, und dafür braucht es vor allen Dingen (Beifall bei der CDU/CSU) ein gesamteuropäisches Vorgehen. Ich habe dafür beim letzten Sondertreffen der Staats- und Regierungschefs am Das waren einige der Punkte, die wir heute beschließen 23. September geworben, der Bundesinnenminister hat werden und die wichtig und ein Beispiel für schnelles das beim letzten Innenministertreffen am 8. und 9. Ok- Handeln sind. tober getan. Ich habe dafür in der vergangenen Woche zusammen mit dem französischen Präsidenten François So kann man sagen: Es ist Bund und Ländern gemein- Hollande im Europäischen Parlament geworben. Genau sam gelungen, ein gutes nationales Gesamtpaket zu ver- dafür werde ich mich heute beim regulären Treffen des einbaren, und ich werbe heute um Ihre Zustimmung. Europäischen Rates mit aller Entschiedenheit einsetzen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ordneten der SPD) ordneten der SPD) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 12557

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (A) Ganz konkret wird es heute in Brüssel darum gehen, hat der Rat bereits zusätzlich 200 Millionen Euro aus (C) die Umsetzung der am 23. September getroffenen Be- dem diesjährigen EU-Haushalt genehmigt; dem hat ges- schlüsse zu überprüfen und, wo notwendig, neue Maß- tern Abend auch das Europäische Parlament zugestimmt. nahmen anzustoßen. Ich danke ausdrücklich dem Kom- Im kommenden Jahr soll dann die humanitäre Hilfe aus missionspräsidenten Jean-Claude Juncker, der mehrere dem EU-Haushalt um zusätzliche 300 Millionen Euro konkrete Maßnahmenpakete vorgelegt hat, die wichtige aufgestockt werden. Deutschland hat darüber hinaus sei- Schritte beinhalten und in die richtige Richtung weisen. nen eigenen Beitrag bereits um 100 Millionen Euro er- Wir erleben so direkt wie nie, dass in unserer globa- höht. Und ich sage zu: Sollte sich herausstellen, dass die- lisierten Welt Kriege, Konflikte und Perspektivlosigkeit, se Zusagen gerade mit Blick auf den anstehenden Winter die es vermeintlich nur sehr weit von uns entfernt gibt, nicht ausreichen, um die Lebensmittelleistungen wieder immer häufiger bis vor unsere Haustüren gelangen. Die zu erhöhen, dann werden wir weitere Mittel einsetzen. wichtigste Ursache für die aktuelle Flüchtlingsbewegung (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie nach Europa ist und bleibt der Krieg in Syrien. Um die bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE Situation in diesem von Terror und Gewalt so furchtbar GRÜNEN und des Abg. Wolfgang Gehrcke gequälten Land zu stabilisieren und langfristig zu befrie- [DIE LINKE]) den, brauchen wir natürlich einen Prozess des politischen Dialogs, der auch Russland und andere internationale Denn je besser es uns gelingt, menschenwürdige Bedin- Akteure, auch regionale Akteure, einbezieht. gungen und Lebensperspektiven in der Nähe der Hei- matstaaten der Flüchtlinge wiederherzustellen, desto Um auch das gleich zu sagen: All das braucht einen weniger werden sich Menschen gezwungen sehen, den langen Atem, vielleicht sogar einen sehr langen. Seit gefährlichen Weg nach Europa auf sich zu nehmen. Beginn des Bürgerkriegs in Syrien vor über vier Jahren mussten wir erleben, dass viele Millionen Menschen Meine Damen und Herren, ohne Zweifel: Eine Schlüs- flüchten. Das ist einfach nur deprimierend. Wir müssen selrolle in dieser Situation spielt die Türkei; denn mit auch konstatieren: Alle bisherigen diplomatischen Bemü- über 2 Millionen Schutzsuchenden trägt sie derzeit die hungen haben nicht den geringsten Erfolg gebracht, und Hauptlast der Fluchtbewegung aus Syrien. Die meisten nichts – auch das will ich nicht verschweigen – macht Kriegsflüchtlinge, die in die Europäische Union kom- uns derzeit Mut, dass sich an der desolaten Lage des Lan- men, reisen über die Türkei ein. Wir werden die Flücht- des, dessen Menschen von Assad und IS gleichsam in die lingsbewegung daher nicht ordnen und eindämmen Zange genommen werden, schon in allernächster Zeit et- können, ohne mit der Türkei zusammenzuarbeiten. Das was Entscheidendes zum Guten wenden könnte. beinhaltet, dass wir der Türkei für die Versorgung der Flüchtlinge und für die humanitäre Hilfe größere Unter- Sollen wir es dann also gleich sein lassen? Sollen wir (B) stützung zuteilwerden lassen. Das beinhaltet auch, dass (D) erst gar nicht versuchen, weiterzumachen? Sollen wir wir bei der Grenzsicherung und bei der Bekämpfung kri- aufgeben? Nein, das kann keine vernünftige Option sein. Deshalb wählen wir sie auch nicht. Wir wollen vielmehr mineller Schlepperbanden zusammenarbeiten; denn es in Zusammenarbeit mit der internationalen Gemeinschaft ist nicht hinnehmbar, dass die schmale Meeresrinne, die unseren ganz bescheidenen Teil dazu beitragen, dass der zwischen der türkischen Küste und den griechischen In- Prozess eines politischen Dialogs in Gang gesetzt werden seln und damit zwischen zwei NATO-Partnern liegt, im kann. Dem diente die Reise des Bundesaußenministers Augenblick von Schleppern beherrscht wird. nach , dem dient die Reise des Bundesaußenmi- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) nisters in den nächsten Tagen nach und Saudi-Arabi- en, dem dient auch meine Reise in die Türkei. Zur Stärkung der Zusammenarbeit zwischen der Eu- ropäischen Union und der Türkei hat die Europäische Wir verstärken gleichzeitig unsere Bemühungen, im- Kommission einen Aktionsplan vorgelegt, den wir nun mer auch die Länder zu unterstützen, die im Moment den rasch mit der Türkei vereinbaren müssen; gestern war der weit überwiegenden Teil der Flüchtlinge aus Syrien bei stellvertretende Kommissionspräsident Timmermans in sich beherbergen und dies auch weiter tun werden. Das der Türkei. Die Bundesregierung unterstützt diese Bemü- sind allen voran die Türkei, der Libanon und Jordanien. hungen zusätzlich durch den deutsch-türkischen Migrati- Diese Länder verdienen größte Anerkennung für die Hil- onsdialog, zu dem morgen die ersten Gespräche stattfin- fe, die sie für die Menschen leisten, die vor dem Bürger- den werden. Ich werde am Sonntag nach Istanbul reisen, krieg in Syrien geflohen sind, und sie verdienen unsere um mit den Vertretern der Türkei über die Ergebnisse des Unterstützung, meine Damen und Herren, und zwar ganz heute beginnenden Europäischen Rates zu sprechen. konkret. Meine Damen und Herren, ich verstehe, dass manche (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD so- von uns besorgt sind, ob es Europa in den Beratungen wie bei Abgeordneten der LINKEN und des mit der Türkei gelingt, nicht nur aktuelle Interessen in BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) der Flüchtlingsfrage zum Ausdruck zu bringen, sondern Das verlangt, dass wir uns finanziell stärker als bis- immer auch unsere Werte zu behaupten. Führen wir uns her engagieren. Deshalb haben wir auf dem Sondergip- dazu vor Augen: Mit der Türkei finden Verhandlungen fel der Staats- und Regierungschefs am 23. September über den Beitritt zur Europäischen Union statt. Es gilt – dazu aufgerufen, den vor Ort tätigen Hilfsorganisationen das ist selbstverständlich – das Prinzip: Pacta sunt ser- 1 Milliarde Euro zusätzlich zur Verfügung zu stellen. Die vanda, Verträge werden eingehalten. Die Verhandlungen EU-Institutionen haben rasch gehandelt. Im Eilverfahren der EU mit der Türkei werden ergebnisoffen geführt. Da- 12558 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (A) ran hält sich die Bundesregierung, daran halte auch ich Wir haben im Kreise der Staats- und Regierungschefs (C) mich. vereinbart, dass die Hotspots bis Ende November voll funktionsfähig sein sollen. Die ersten Einrichtungen – es In diesem Geiste habe ich in der Vergangenheit alle gibt wenige, aber es gibt immerhin Fortschritte – haben meine Gespräche mit der Türkei geführt, und so wird es inzwischen in Italien und Griechenland ihre Arbeit auf- auch am Sonntag wieder sein. Am Sonntag werden alle genommen. Deutschland trägt zum Aufbau der Hotspots Fragen – wie die Lage in Syrien, Visafreiheit, sichere Herkunfts- und Drittstaaten, der gemeinsame Kampf ge- bei, indem wir Italien und Griechenland personell und gen Terrorismus und die Situation der Menschenrechte in materiell unterstützen. Auch hier sage ich: Das wird nur der Türkei – auf den Tisch kommen. Wir dürfen jedoch gelingen, wenn wir das als eine gesamteuropäische Auf- nicht den Fehler machen, jetzt nur noch auf die Fluchtbe- gabe verstehen. wegungen über die Türkei in Richtung Europa zu schau- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- en, so wie wir, wenn wir ehrlich sind, im Frühling – also ordneten der SPD) noch vor wenigen Monaten, jedenfalls viel zu lange – nur auf die Fluchtbewegungen über Italien in Richtung Nord- Die sogenannten Hotspots sind sozusagen der Aus- europa geschaut haben. gangspunkt einer fairen Verteilung in Europa. Wir haben nach kontroversen Diskussionen und auch einer kontro- In einer globalisierten Zeit müssen wir alles mit al- versen Abstimmung die Verteilung von 160 000 Flücht- lem im Zusammenhang betrachten. Deshalb werden wir lingen beschlossen. Die Umsetzung dieses wichtigen auch die Zusammenarbeit mit den vielen anderen Tran- Beschlusses der Justiz- und Innenminister hat begonnen. sit- und Herkunftsstaaten verstärken, insbesondere in Ende letzter Woche wurden die ersten Flüchtlinge aus Afrika. Mitte November werden wir mit den dortigen von Italien nach Schweden gebracht. Es werden Partnerstaaten auf Malta zu einem EU-Afrika-Gipfel weitere folgen, die von Griechenland nach Luxemburg zusammenkommen, von dem wir konkrete und spürba- gebracht werden. re Fortschritte erwarten; der Europäische Rat wird auch dieses Treffen heute vorbereiten. Wir arbeiten darauf Ich weiß, das ist nur ein erster, kleiner Anfang; aber hin, dass die Europäische Union 1,8 Milliarden Euro für damit ist der Rahmen gesetzt. Seit dem Sondergipfel der eine bessere Bekämpfung von Fluchtursachen in Afrika Staats- und Regierungschefs im September 2015 sind zur Verfügung stellt. Dabei geht es um die Verbesserung hierzu wichtige Maßnahmen auf den Weg gebracht wor- der wirtschaftlichen Perspektiven für die dort lebenden den. Ich bleibe unverändert – und das ist die Meinung Menschen, aber auch um die Stärkung der Kapazitäten der ganzen Bundesregierung – davon überzeugt, dass wir der afrikanischen Staaten im Kampf gegen kriminelle einen dauerhaften und verbindlichen Verteilungsmecha- Schlepperbanden. nismus in Europa benötigen, genauso wie ihn die Euro- (B) päische Kommission vorgeschlagen hat. Deshalb werden (D) Aber nun noch einmal zurück zur Europäischen Uni- wir weiter daran arbeiten. on: Dies umfasst auch, dass wir entschieden weiter dar- an arbeiten müssen, die Lage an den Außengrenzen der (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Europäischen Union besser in den Griff zu bekommen. ordneten der SPD) Mit der Entscheidung für Dublin haben wir die Kontrolle Da wird noch viel Überzeugungsarbeit zu leisten sein; im Wesentlichen an die europäischen Außengrenzen ver- aber wir werden nicht nachlassen. legt. Das war ein Vertrauensvorschuss, den wir gegeben haben. Wir müssen heute konstatieren, dass diese Kon- Neben der fairen und solidarischen Verteilung ist ein trolle an den Außengrenzen nicht funktioniert. Deshalb weiteres ganz wichtiges gesamteuropäisches Thema die muss sie stärker auf die europäische Gemeinsamkeit ge- Rückführung von Menschen, die keinen Anspruch auf stellt werden, deshalb muss sie effektiver gemacht wer- Schutz in der Europäischen Union haben. Die Rückfüh- den, deshalb müssen wir Personal zur Verfügung stellen. rungsquote in der Europäischen Union lag im letzten Jahr Die Kommission hat bis zu 1 100 Personen angefordert. bei unter 40 Prozent. Das ist alles andere als zufrieden- Gemeldet haben wenige Mitgliedstaaten, unter anderem stellend; da müssen wir besser werden. Aber – ich habe Deutschland, unter anderem Österreich; aber ich erwar- mir die Zahlen sehr genau angeguckt – Deutschland liegt te – das muss Ergebnis dieses Europäischen Rats sein –, hier nirgends an der Spitze. Deshalb müssen vor allen dass alle ihren Beitrag dazu leisten. Das ist selbstver- Dingen wir besser werden; unser nationales Maßnah- ständlich. menpaket trägt ja genau dazu bei. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ordneten der SPD) Dazu gehört, dass wir die europäische Grenzschutzagen- tur Frontex stärken. Die Mitgliedstaaten müssen, wie Ich habe bereits im Europäischen Parlament gesagt, gesagt, ihr Personal entsenden. Frontex lebt davon, dass dass das Dublin-Verfahren in der Praxis nicht funktio- Mitgliedstaaten Personal zur Verfügung stellen. Die Mel- niert. Deshalb ist es gut und richtig, dass die Europäische dungen sind enttäuschend; ich sagte es schon. Kommission angekündigt hat, im Frühjahr kommenden Jahres einen Vorschlag zur Änderung von Dublin vor- Dazu gehört, dass wir Hotspots einrichten. Die ersten zulegen. Wir werden uns auch mit eigenen Vorschlägen Arbeiten haben begonnen. An diesen Hotspots an der daran beteiligen. Außengrenze sollen Flüchtlinge – das wissen Sie –, die in Europa ankommen, unmittelbar untergebracht, regist- Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen, die riert und auf ihre Schutzbedürftigkeit überprüft werden. Themen, die wir heute beim Europäischen Rat in Brüssel Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 12559

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (A) besprechen werden, machen einmal mehr deutlich, wie weniger Krieg, weniger Bürgerkrieg und weniger Terror (C) sehr wir ein Europa brauchen, das sich solidarisch ver- gibt. hält, statt gesamteuropäische Herausforderungen zu Pro- blemen einzelner Mitgliedstaaten zu erklären. Ein Euro- (Beifall bei der LINKEN) pa, das in einer globalisierten Welt seiner Verantwortung Sagen Sie jetzt nicht, das liege nicht in Ihrer Macht. gerecht wird, weil es seine Werte und Interessen weltweit Die Vereinigten Staaten haben ihre Öl- und Gaskriege behaupten will, das muss ein solidarisches Europa sein. Alles andere wird scheitern. immer mit Beteiligung europäischer Länder geführt. US-Drohnen morden mit logistischer Unterstützung aus (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Deutschland. Die Saudis führen ihren Krieg im Jemen Ein Europa, das diese Solidarität annimmt und auch unter anderem mit deutschen Waffen. Es ist doch zutiefst lebt das wird noch ein mühevoller Prozess; aber ich glau- verlogen, über die Beseitigung von Fluchtursachen zu be, dass wir erfolgreich sein können , ein solches Europa, reden und gleichzeitig die Waffenexporte ausgerechnet das auf dieser Grundlage arbeitet, wird auch stärker aus nach Saudi-Arabien zu verdreifachen. So bekämpft man dieser Krise hervorgehen, als es in diese Krise hineinge- Fluchtursachen nicht, sondern so macht man glänzende gangen ist. Ich werde mich heute beim Europäischen Rat Geschäfte mit ihnen. dafür einsetzen und bitte um Ihrer aller Unterstützung. Herzlichen Dank. (Beifall bei der LINKEN) (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU sowie Deshalb muss ich Ihnen sagen: Solange Sie Waffenex- des Abg. Rüdiger Veit (SPD) Beifall bei der porte in Spannungsgebiete nicht endlich verbieten, ist SPD sowie des Abg. Cem Özdemir [BÜND- das ganze Gerede über die Bekämpfung von Fluchtursa- NIS 90/DIE GRÜNEN]) chen vollkommen unglaubwürdig. (Beifall bei der LINKEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der Darüber hinaus brauchen wir endlich eine eigenstän- Kollegin Sahra Wagenknecht für die Fraktion Die Linke. dige europäische Politik gegenüber den Vereinigten Staa- (Beifall bei der LINKEN) ten, gerade wenn sie sich als oberster Feldwebel dieser Welt aufspielen und bomben und töten, wo immer es ihnen passt. Ohne den Irakkrieg gäbe es den „Islami- Dr. Sahra Wagenknecht (DIE LINKE): (B) Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Frau schen Staat“ nicht, der heute in Syrien wütet. Das jüngs- (D) Bundeskanzlerin! Es gibt Werte, die man mit Blick auf te Kriegsverbrechen in Kunduz mit 22 zivilen Toten, die großen Traditionen von der Antike bis zur Aufklä- Ärzten und Patienten zeigt erneut den ganzen Zynismus rung mit gutem Grund und im besten Sinne als europäi- dieser angeblichen Antiterrorkriege. Genau diese Kriege sche Werte bezeichnen kann. Demokratie, Solidarität und mit ihren Tausenden zivilen Opfern sind es doch, die den auch Gerechtigkeit gehören dazu. Wie wenig die Europä- Hass säen, auf dem der islamistische Terror gedeiht. ische Union mit solchen Werten zu tun hat, zeigt sich in der Flüchtlingskrise besonders krass. Europäische Einig- (Beifall bei der LINKEN) keit besteht gegenwärtig eigentlich nur darin, mehr in die Deshalb unterstützen wir es durchaus, dass Sie, Frau Abschottung der EU-Außengrenzen zu investieren – ein Merkel, eben noch einmal für eine politische Lösung für Konjunkturprogramm für die Stacheldrahthersteller und für die Schleusermafia statt einer verantwortungsvollen Syrien plädiert haben. Ich denke, es gibt keinen anderen europäischen Flüchtlingspolitik. Weg. Auch der IS, der sich in Städten mit Tausenden zi- vilen Einwohnern versteckt, lässt sich nicht mit Bomben (Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/ stoppen, und zwar weder mit amerikanischen noch mit CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN) russischen. Ich finde, das ist ein Armutszeugnis für Europa. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN – Thomas Wenn man den IS stoppen will, dann muss man ihn Oppermann [SPD]: Wo leben Sie eigentlich?) von Waffenlieferungen und Finanzen abschneiden. Eines Natürlich weiß jeder, dass die Lösung nicht darin der Länder, die in der Vergangenheit genau das Gegenteil liegt, die vielen Millionen verzweifelten Menschen, die getan haben und immer noch tun, die den IS also direkt weltweit auf der Flucht vor Krieg, vor Bürgerkrieg und und indirekt unterstützt haben, ist allerdings die Türkei, vor Terror sind, und ausgerechnet die soll jetzt unser großer Partner in der Flüchtlingskrise werden, ausgerechnet Erdoğan, der sein (Zuruf von der CDU/CSU: Populismus!) eigenes Land durch die Aufkündigung des Friedenspro- in die EU oder gar nach Deutschland zu holen. Aber ge- zesses mit den Kurden an den Rand eines Bürgerkrieges rade deshalb wäre es endlich an der Zeit, über die Besei- führt. tigung von Fluchtursachen nicht nur zu reden, sondern auch real etwas dafür zu tun, dass es auf dieser Welt (Unruhe) 12560 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015

(A) Präsident Dr. Norbert Lammert: braucht und schon überlegt, in welchen anderen Berei- (C) Einen Augenblick, Frau Wagenknecht. – Ich darf so- chen er dafür kürzen muss, nicht. Wir erleben zurzeit wohl auf der Regierungsbank als auch im Plenum um ein doch ein eklatantes Staatsversagen, und jetzt rächt es gewisses Maß an Aufmerksamkeit bitten. sich, dass die politischen Weichen in diesem Land seit vielen Jahren in die falsche Richtung gestellt wurden. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeord- Es ist doch nicht erst seit dem Zuzug der Flüchtlin- neten der CDU/CSU und des Abg. Thomas ge so, dass bezahlbarer Wohnraum gerade für diejenigen Oppermann [SPD]) fehlt, die kein dickes Portemonnaie haben. Das ist seit vielen Jahren so. Ein wesentlicher Grund dafür ist, dass Dr. Sahra Wagenknecht (DIE LINKE): die Kommunen durch Steuersenkungen für Reiche und Unternehmen finanziell ausgehungert wurden, sodass Vielen Dank. – Wie gut die Türkei zum sicheren Dritt- viele unter diesem Druck eben ihren Wohnungsbestand staat taugt, hat der furchtbare Anschlag mit über 100 To- verkauft haben. Das ist doch eine Realität. ten am letzten Wochenende gezeigt. Ich finde, es ist eine humanitäre Bankrotterklärung, mit einem Regime zu Genauso ist es nicht erst seit dem Zuzug der vielen paktieren, das Journalisten, Kurden und Gewerkschafter Flüchtlingskinder so, dass in diesem Land Lehrer fehlen. verfolgt. Schon seit vielen Jahren werden Lehrerstellen abgebaut, weil die Verkleinerung des öffentlichen Dienstes natür- (Beifall bei der LINKEN) lich immer das leichteste Mittel ist, um im Korsett der Frau Merkel, sagen Sie deshalb Ihre Türkei-Reise ab. Schuldenbremse klarzukommen. So kurz vor den Wahlen ist sie nichts anderes als direkte Einige von Ihnen reden hier von Leitkultur, aber Sie Wahlkampfhilfe für Erdoğan. schaffen es noch nicht einmal, zu verhindern, dass wegen (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- des Lehrermangels immer mehr Deutschstunden ausfal- neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – len und viele Kinder die Schule verlassen, ohne jemals Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Kein Pakt mit einen Zugang zu Thomas Manns Der Zauberberg oder Erdoğan!) Goethes Faust gefunden zu haben. Natürlich ist es wichtig, dass die Lager vor Ort, in de- (Beifall bei der LINKEN) nen sich ungleich mehr Flüchtlinge aufhalten als in der Dieses Bildungselend, die Wohnungsnot und auch gesamten EU, besser ausgestattet werden. Das erreichen den riesigen Niedriglohnsektor gab es schon, bevor die wir aber doch nicht dadurch, dass wir uns für Erdoğans Flüchtlinge kamen, aber natürlich werden diese Proble- Machtpolitik einspannen lassen, (B) me jetzt ins Extremste verschärft. Die Stimmen, die den (D) (Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Richtig!) ohnehin schon lückenhaften Mindestlohn weiter aufwei- chen wollen, werden immer lauter. Das heißt, die Zu- sondern indem wir Hilfsorganisationen wie die Welter- wanderung soll jetzt auch noch für Lohndumping miss- nährungsorganisation der UN besser ausstatten, damit sie braucht werden. Ich finde das unerträglich. Das muss ihre Aufgaben dort erfüllen können. verhindert werden. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) Ich muss sagen: Sie können doch nicht im Ernst glau- Wir brauchen stattdessen dringend bessere Sicherun- ben, dass Sie mit einer zusätzlichen Milliarde, die die EU gen gegen Lohndrückerei. Wir brauchen ein groß ange- jetzt in Aussicht gestellt hat, die Lebensbedingungen von legtes öffentliches Wohnungsbauprogramm. Wir brau- etwa 10 Millionen Flüchtlingen, die es derzeit in und um chen eine massive Aufstockung der Bildungsausgaben. Syrien gibt, wirklich verbessern können. Wer so etwas Wer jetzt immer noch meint, dieses Problem ließe sich erzählt, der ist doch einfach unseriös. dadurch lösen, dass man die Budgets ein bisschen um- (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) schichtet, der hat, finde ich, den Ernst der Lage nicht be- griffen. Inzwischen ist davon auszugehen, dass in diesem Jahr über 1 Million Flüchtlinge nach Deutschland kommen. Natürlich können wir es schaffen. Deutschland ist ein Die Willkommenskultur, die große Teile der Bevölke- reiches Land. Aber dann muss man eben auch den Mut rung in den letzten Wochen und Monaten an den Tag ge- haben, sich das Geld bei den Reichen zu holen und nicht legt haben, ist wirklich bewundernswert. Es ist jetzt aber bei den Armen. auch langsam an der Zeit für eine Verantwortungskultur (Beifall bei der LINKEN) der Politik, und zwar vor allem der Bundespolitik, Allein die 500 reichsten Familien in Deutschland haben (Beifall bei der LINKEN) ein Privatvermögen in Höhe von über 600 Milliarden die damit beginnen muss, dass man sich den vorhande- Euro. Die zehn reichsten Familien kassieren zusammen nen Problemen stellt, statt sie kleinzureden. Dividenden in Höhe von 2,4 Milliarden Euro im Jahr. Die hundertste Wiederholung Ihres „Wir schaffen Aber statt solch unverschämten Reichtum höher das“, Frau Bundeskanzlerin, hilft dem Bürgermeister zu besteuern, lassen Sie es zu, dass die Kosten für die einer Gemeinde unter Haushaltsnotstand, der eine win- Flüchtlinge als Argument dafür herhalten müssen, war- terfeste Unterbringungsmöglichkeit für die Flüchtlinge um wir unsere Erzieherinnen und Erzieher in den Kitas Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 12561

Dr. Sahra Wagenknecht (A) nicht ordentlich bezahlen können. Sie lassen es zu, dass Präsident Dr. Norbert Lammert: (C) Mietern in kommunalen Wohnungen gekündigt wird, um Thomas Oppermann ist der nächste Redner für die Wohnraum für Flüchtlinge zu schaffen. Wissen Sie nicht, SPD-Fraktion. was Sie damit anrichten? (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Frau Merkel, Sie haben mehrfach Ihre Aussage wie- der CDU/CSU) derholt, dass Sie Menschen in Notsituationen ein freund- liches Gesicht zeigen wollen. Aber ganz abgesehen davon, dass das freundliche Gesicht mit den geplanten Thomas Oppermann (SPD): Internierungslagern an der Grenze zu einer ziemlich Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Verehrte hässlichen Grimasse zu werden droht, Frau Wagenknecht, auch in Ihrer ersten Rede als neu ge- wählte Fraktionsvorsitzende ist es Ihnen nicht gelungen, (Beifall bei der LINKEN – Sabine Weiss (Wesel I) [CDU/CSU]: Ach!) mich mit Ihren Ausführungen zu überzeugen. fragen sich auch viele: Wo war und wo ist Ihr freund- (Zurufe von der LINKEN: Oh! – Katja liches Gesicht gegenüber Menschen in Notsituationen Kipping [DIE LINKE]: Oberlehrer!) hier im Land? Wo ist Ihr freundliches Gesicht gegenüber Ich möchte Ihnen trotzdem zu Ihrer Wahl gratulieren. denen, die von Jobcentern gedemütigt und in miese Bil- Viele Menschen verändern sich, wenn sie ein solches liglohnjobs gedrängt werden? Amt ausüben. Das wünsche ich auch Ihnen von ganzem (Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/ Herzen. CSU) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Wo ist Ihr freundliches Gesicht gegenüber der alleiner- der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/ ziehenden Mutter, die ihre Kinder nur noch dank des An- DIE GRÜNEN) gebots der Tafeln satt bekommt? Meine Damen und Herren, auf dem heutigen Europä- (Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/ ischen Rat müssen die Staats- und Regierungschefs den CSU und der SPD) nächsten großen Schritt zur Bewältigung der Flüchtlings- Wo ist Ihr freundliches Gesicht gegenüber der wachsen- krise gehen. Diese Krise kann Deutschland auch zusam- den Zahl von Menschen, denen nach einem langen Ar- men mit Österreich und Schweden nicht allein bestehen. beitsleben Armut im Alter droht? Dazu brauchen wir die Hilfe von ganz Europa. (B) (Sabine Weiss (Wesel I) [CDU/CSU]: Wo Finanzminister Wolfgang Schäuble hat aus italieni- (D) leben Sie eigentlich?) schen und französischen Zeitungen zitiert, Deutschland All diese Notsituationen lassen Sie seit vielen Jahren habe mit seiner Entscheidung, die Flüchtlinge aus Un- zu – mit einem ziemlich ungerührten Gesicht. garn aufzunehmen, die Ehre Europas gerettet. Es ist gut, dass uns die Aufnahme von Flüchtlingen überall viel (Beifall bei der LINKEN) Respekt einbringt, aber nach meinem Verständnis ist es Ich erinnere Sie daran, wie viel Geld Sie über Nacht nicht die Aufgabe Deutschlands, Europas Ehre zu retten. bereitgestellt haben, als deutsche Banken ins Taumeln Europa kann seine Ehre nur selber retten. gerieten. Heute taumeln in Deutschland Städte und Ge- meinden, aber Sie hantieren mit Kleinbeträgen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Widerspruch bei Abgeordneten der SPD) Ein erster Schritt dazu war der Beschluss über die Ver- Ich sage Ihnen: Wer selbst von Zukunftsangst gequält teilung von 120 000 Flüchtlingen und die Errichtung von wird, der ist selten bereit, anderen mit offenen Armen Hotspots in Griechenland und Italien. Dem müssen jetzt eine Perspektive zu bieten. weitere Schritte folgen. Das heißt für mich zuallererst: (Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Europa muss an vorderster Stelle stehen, wenn es darum NEN]: Pfui!) geht, die Fluchtursachen zu beseitigen. Viele Menschen Nehmen Sie endlich Ihre Verantwortung wahr, statt zuzu- fliehen zu uns, weil es in den Flüchtlingslagern im Nahen lassen, dass AfD, Pegida und Co. dort ernten gehen, wo Osten nicht mehr genug zu essen gibt. Das können wir Sie Spannungen und Überforderung gesät haben, schnell ändern. Wir müssen den Ländern, die den größten Teil der Flüchtlinge aufnehmen, mit aller Kraft helfen. (Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Pfui!) Ich möchte Frank-Walter Steinmeier danken: Auf- sonst – das muss ich Ihnen sagen – wird mir angst und grund seiner Initiative wurde in New York vereinbart, bange, wenn ich daran denke, wie dieses Land in ein oder dass die Etats des Welternährungsprogramms und des zwei Jahren aussehen wird. UN-Flüchtlingshilfswerks um 1,8 Milliarden Dollar auf- gestockt werden. Das ist ein guter Anfang. (Beifall bei der LINKEN – Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Eine Beleidi- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gung der Menschen ohne Geld!) der CDU/CSU) 12562 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015

Thomas Oppermann (A) Aber ich finde, auch die EU muss mehr Mittel mobilisie- Meine Damen und Herren, die ersten Reaktionen (C) ren, als es auf dem letzten Gipfel vereinbart wurde. der Deutschen auf die vielen Flüchtlinge waren offene Herzen und Optimismus. Fast jeder zweite Deutsche hat (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten mittlerweile entweder für die Flüchtlinge gespendet oder der CDU/CSU und der LINKEN) ist in irgendeiner Weise selbst aktiv geworden. Das ist Das geht allerdings nur, wenn die EU ihren Haushalt auf das größte zivilgesellschaftliche Engagement, das wir in den Prüfstand stellt. Er scheint mir völlig aus der Zeit unserem Land je erlebt haben. Dafür möchte ich allen, gefallen zu sein. Man kann ihm in keiner Weise ansehen, die dabei mitgemacht haben, ganz herzlich danken. dass sich diese Welt total verändert hat. Im Jahr 2016 gibt (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten die Europäische Union 150 Milliarden Euro aus, 40 Pro- der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜND- zent davon für Agrarsubventionen. 34 Prozent fließen in NISSES 90/DIE GRÜNEN) die Strukturfonds. Für Migration und Entwicklungshilfe gibt es dagegen nur Kleckerbeträge. Aber neben diesem anhaltenden Engagement haben sich auch viele Ängste und Sorgen in der Mitte unserer Meine Damen und Herren, wir brauchen einen Haus- Gesellschaft entwickelt. Und die müssen wir ernst neh- halt, der der weltpolitischen Rolle und Bedeutung Euro- men. pas gerecht wird, und das heißt für mich: mehr Geld für wirtschaftliche Zusammenarbeit und mehr Geld für die Ich war in der vergangenen Woche mit den Kollegen Bewältigung der Flüchtlingskrise. Jürgen Trittin und Fritz Güntzler bei einer Bürgerver- sammlung in Friedland. In Friedland leben im Augen- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten blick auf 700 Plätzen 3 000 Flüchtlinge. Zu dieser Bür- der CDU/CSU – Heike Hänsel [DIE LINKE]: gerversammlung kamen 450 Menschen. Die haben ihre Eine andere Handelspolitik der EU!) Sorgen auf den Tisch gepackt. Da war von Überforde- Die zweite große Aufgabe Europas ist die Sicherung rung die Rede, von Müll auf den Straßen, von Bedro- der europäischen Außengrenzen. Die Freizügigkeit bzw. hungssituationen und Regelverletzungen. die Reisefreiheit, um die uns viele Menschen in der gan- (Zuruf des Abg. Herbert Behrens [DIE LIN- zen Welt beneiden, wird nur dann erhalten bleiben, wenn KE]) es gelingt, die EU-Außengrenzen zu sichern. Wenn die EU-Außengrenzen offen bleiben, wird Schengen fallen, Ich bin aber am Ende trotzdem optimistisch aus dieser und das müssen wir unbedingt verhindern. Veranstaltung herausgegangen; denn es gab überhaupt keine Anzeichen von Fremdenfeindlichkeit. Und das Er- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gebnis spricht am Ende auch für sich. Der Bürgermeis- (B) der CDU/CSU) ter hat zugesagt, dass er die Straßenlaternen nachts nicht (D) Sichere Außengrenzen bedeuten keineswegs die Ab- mehr abdimmt. Das stärkt das subjektive Sicherheitsge- schottung von Europa. Ganz im Gegenteil: Deutschland fühl. Die Polizei hat zugesagt, dass sie die Präsenz im wird auch in Zukunft viele Flüchtlinge aufnehmen. Aber Lager erhöht, sodass sie bei Konflikten schnell eingreifen das muss in einem geordneten Verfahren geschehen, an kann. Und wir waren uns alle einig, dass wir Flüchtlin- dem sich alle Länder Europas beteiligen. ge mit Sprachkenntnissen und sozialer Kompetenz viel stärker in die Flüchtlingshilfe einbinden müssen. Was ich Mittelfristig brauchen wir ohnehin ein europäisches sagen will, ist: Man kann etwas gegen Ängste unterneh- Asylverfahren, ein Verfahren, in dem nicht nationale, men. sondern europäische Gerichte entscheiden. Wir brauchen gemeinschaftliche europäische Standards für Asylbewer- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) ber. Denn das, was wir derzeit erleben, ist die Nationa- Wir dürfen die Menschen nicht wegen ihrer Ängste ab- lisierung des Asylrechts. Das überfordert einige wenige stempeln. Wir dürfen die Probleme nicht verschweigen, Länder, und das spaltet am Ende ganz Europa. sonst wenden sich die Bürger von der Politik ab und ge- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten hen zu Pegida. Und das müssen wir unbedingt verhin- der CDU/CSU) dern, meine Damen und Herren! Für eine bessere Flüchtlingspolitik brauchen wir die (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Kooperation mit der Türkei. Wir alle wissen, dass die Das Motto „Wir schaffen das“ ist ein guter Appell an Ausgangslage nach dem furchtbaren Terroranschlag in die ehrenamtlichen Helfer; aber der Satz darf jetzt keine Ankara und nach dem Kriegseinsatz Russlands in Syrien bloße Durchhalteparole werden. Jetzt muss der Staat sei- nicht einfacher geworden ist. Trotzdem müssen wir mit ne Handlungsfähigkeit unter Beweis stellen. Vom „Wir allen Beteiligten reden. Daran führt kein Weg vorbei. schaffen das“ müssen wir jetzt übergehen zum „Wir ma- Ich finde es richtig, dass die Bundeskanzlerin am chen das“. Das erwarten die Menschen von uns. Sonntag in die Türkei fährt, und ich bin sicher – das hat (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten sie eben auch klargemacht –, dass sie dort auch die rich- der CDU/CSU) tigen Worte findet. Nur eine rechtsstaatliche und demo- Ich bin deshalb froh, dass wir heute gemeinsam ein kratische Türkei kann ein starker Partner für Europa sein. Asylpaket verabschieden werden. Dazu gibt es – und (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten das ist gut – in beiden Koalitionsfraktionen Entschei- der CDU/CSU) dungen ohne Gegenstimmen. Wir sind uns einig, dass Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 12563

Thomas Oppermann (A) die Flüchtlinge mit Bleiberecht schnell integriert und die Das werden die Länder allein nicht bewältigen können. (C) ohne Bleiberecht schnell zurückgeführt werden sollen. Ich sage ganz klar: Mit dem Kooperationsverbot betref- Wir sind uns einig, dass die Geschwindigkeit, mit der die fend Bund und Länder wird das auch nicht gehen. Flüchtlinge zu uns kommen, deutlich verringert werden (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten muss. Auch wollen wir bessere Kontrollen an der Gren- der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE ze. Aber Grenzhaftlager für Tausende von Flüchtlingen GRÜNEN – Dr. [DIE LINKE]: Ihr werden mit uns nicht zu machen sein. habt doch zugestimmt!) (Beifall bei der SPD) Wenn wir sagen: „Wir brauchen eine Verantwortungsge- Davon bin ich genauso wenig überzeugt wie von der meinschaft von Bund, Ländern und Kommunen bei der Idee, ausgerechnet den integrationswilligen Asylbewer- Integration“, dann passt ein Kooperationsverbot dazu in bern die Sozialhilfe zu kürzen. keiner Weise. Die beiden Dinge gehören nicht zusam- men. Im Übrigen glaube ich, dass es uns im Augenblick (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- nicht hilft, wenn wir jeden Tag eine neue Idee zur Dis- ten der LINKEN und des Abg. Kai Gehring kussion stellen. Wir sollten uns vielmehr darauf konzen- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) trieren, das, was wir beschlossen haben, auch tatsächlich umzusetzen. Ich glaube, dass die Flüchtlingskrise auch eine große Chance bietet, den Reformstau in diesem Land anzuge- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Thomas hen, nicht nur bei der Bildung, sondern auch in anderen Strobl (Heilbronn) [CDU/CSU]) Bereichen. Wir dürfen keine Angst vor den Kosten der Um das zu schaffen, war es richtig, dass die Bundeskanz- Integration haben. Deutschland hat nach Japan die äl- lerin die Flüchtlingsfrage zur Chefsache gemacht und teste Bevölkerung aller Industrieländer. 50 Prozent der als Gesamtkoordinator bestellt hat. Seine Flüchtlinge sind jünger als 25 Jahre. Das ist eine riesige wichtigste Aufgabe ist es, vor dem Wintereinbruch dafür Chance. Deshalb muss diese Krise auch genutzt werden, zu sorgen, dass alle Flüchtlinge ein Dach über dem Kopf Probleme zu lösen, die wir sonst nur hätten schwer lösen bekommen, dass wir in diesem Winter keine Obdachlo- können. sigkeit von Flüchtlingen in Deutschland haben. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Zweites Beispiel: Wohnen. Wohnungsnot hatten wir schon, bevor die vielen Flüchtlinge gekommen sind. Nun Das ist eine große Herausforderung. Dafür wünsche ich (B) kommt zu der alten Wohnungsnot in den Ballungszent- (D) ihm ganz persönlich eine glückliche Hand. ren die neue Wohnungsnot der Flüchtlinge hinzu. Jetzt (Beifall bei der SPD) stellen wir fest: Wir müssen beides angehen. Wir werden praktisch durch die Flüchtlinge gezwungen, auch die alte Die noch viel größere Herausforderung ist aber natür- Wohnungsnot zu beseitigen, und zwar in einer viel hö- lich die Integration von Hunderttausenden Flüchtlingen heren Geschwindigkeit, als wir uns das bisher gedacht mit Bleiberecht. Das ist keine Frage des Krisenmanage- haben. ments, sondern eine Daueraufgabe für die nächsten 10 oder 15 Jahre. Sie wird die Politik in Deutschland grund- (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Matthias legend verändern. Ich will das an drei Beispielen aufzei- W. Birkwald [DIE LINKE]: Als das Frau gen: Wagenknecht gesagt hat, hat sich bei Ihnen keine Hand gerührt!) Das erste Beispiel bezieht sich auf den Bereich Bil- dung. Schätzungen zufolge kommen allein in diesem Jedem ist klar, dass wir schnell handeln müssen. Die Flüchtlinge können nicht jahrelang in Notunterkünften Jahr 325 000 schulpflichtige Kinder nach Deutschland. belassen werden; das wäre ein sozialer Sprengsatz. In Aufgrund der seit Jahren sinkenden Schülerzahlen ha- Notunterkünften kann Integration nicht gelingen. Klar ist ben die Länder in erheblichem Umfang Schulkapazitäten aber auch: Beim Wohnungsbau müssen wir darauf ach- abgebaut. Ich würde es als einen ganz schweren Fehler ten, dass es keine Konkurrenz zwischen Flüchtlingen und ansehen, wenn wir jetzt die zusätzlichen Schüler aufneh- Mietern gibt, die schon lange eine bezahlbare Wohnung men, indem wir die Klassen vergrößern und am Ende die suchen. Unterrichtsqualität für alle Schülerinnen und Schüler im Lande verschlechtern. Das darf nicht passieren, meine (Beifall bei der SPD) Damen und Herren! Mein letzter Punkt. Integration kann nur gelingen, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten wenn die Neuankömmlinge unsere Grundwerte und Re- der LINKEN) geln kennen und akzeptieren. Deshalb haben wir die ers- ten 19 Artikel des Grundgesetzes in arabische Sprache Deshalb brauchen wir eine gesamtgesellschaftliche übersetzen lassen und verteilen sie in Flüchtlingswohn- Kraftanstrengung. heimen, (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Volker Kauder [CDU/CSU]: Wie schön! Die NEN]: Ja, machen!) sollen doch Deutsch lernen!) 12564 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015

Thomas Oppermann (A) verbunden mit der Aufforderung, mit uns ins Gespräch nachdem Sie nicht als Beschwörung, sondern aus Über- (C) zu kommen. Die Menschenrechte, die Gleichberech- zeugung gesagt haben: „Wir schaffen das“, während Ihr tigung von Männern und Frauen sowie Religions- und Innenminister weiterhin den Eindruck erweckt hat: Ich Meinungsfreiheit, all diese Rechte gelten ohne Wenn und will es gar nicht schaffen. Aber. Nur wer das akzeptiert, kann einen Platz in unserer (Zuruf von der CDU/CSU: Frechheit! Lä- Gesellschaft finden. cherlich!) (Beifall bei der SPD) In Zeiten, in denen jeder Landrat schnelle Unterstüt- Ich bin übrigens optimistisch, dass das den meisten zung braucht, macht sich ein Innenminister Gedanken gelingen wird; denn die meisten Flüchtlinge sehnen sich darüber, warum Flüchtlinge eigentlich noch Geld für ein nach einem Leben in Freiheit, nach einem Leben ohne Taxi haben. Ich will Ihnen das sehr klar sagen: Wenn je- korrupte Verwaltung und nach einem Leben ohne reli- mand, nachdem er zwischen 1 000 und 5 000 Euro für giöse Fanatiker; davon haben sie bislang genug kennen- fünf, sechs, sieben, acht oder neun Schlepper bezahlt hat, gelernt. Aber die Werte sind nicht nur für die Flücht- hier ankommt und weiß, dass hier seine Familie oder Ver- linge verbindlich, und Ordnung brauchen wir nicht nur wandte oder Freunde wohnen, zu denen er gehen könnte, an unseren Grenzen, sondern auch in der Mitte unserer dann hat er wahrscheinlich in der Not und in der Hoff- Gesellschaft. Zur Wirklichkeit in unserem Land gehört nung auf Sicherheit auch noch die , um mit dem leider, dass Flüchtlingsheime brennen, Andersdenkende Taxi durch Deutschland zu fahren. So eine Diffamierung verfolgt werden sowie rassistische und rechtsextreme halte ich für Stimmungsmache, die uns in dieser Situati- Hassbotschaften im Internet verbreitet werden. Ich fin- on überhaupt nicht hilft. de es unerträglich, dass hierzulande Bürgermeister und (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Land ­räte mit Gewalt bedroht werden, nur weil sie sich sowie bei Abgeordneten der SPD und der um Flüchtlinge kümmern. LINKEN) (Beifall im ganzen Hause) Das gilt auch für Sie, Herr Schäuble, der Sie der Mei- Ganz schlimm finde ich die Radikalisierung der Pegi- nung waren, man sollte doch jetzt bitte einmal die Unter- da-Bewegung in Erfurt und Dresden. stützungsleistung für die Flüchtlinge, die eine Integration wollen und die bei uns Deutsch lernen wollen, kürzen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Sie wissen genau, dass das verfassungsrechtlich gar nicht LINKEN) geht. Deswegen auch hier: Warum solche Stimmungsma- Heribert Prantl hat in der Süddeutschen Zeitung zu Recht che? Wofür ist sie eigentlich notwendig, meine Damen und Herren? (B) geschrieben: „Die Hetze auf der Dresdener Pegida-De- (D) mo ist der Begleitchor zu den Gewalttaten gegen Flücht- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN lingsunterkünfte.“ sowie bei Abgeordneten der LINKEN) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Frau Wagenknecht, eines kann ich Ihnen nicht erspa- Ich meine, dass die Polizei nicht dulden darf, wenn bei ren: Auch nachdem Sie heute, für mich zum ersten Mal solchen Demonstrationen zu Straftaten aufgerufen wird. hörbar, Herrn Putin kritisiert haben, muss ich Ihnen leider sagen, dass es mich aufregt, dass Sie hier eine Feststel- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ lung nach dem Motto treffen: Wer in Deutschland arm DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der ist, wird auch schnell rechtsextrem. – So geht es nicht. CDU/CSU und der LINKEN) (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Die Bürgerinnen und Bürger dürfen bei all den Tur- SES 90/DIE GRÜNEN – Dr. bulenzen und Verwerfungen, die jetzt auf uns zukommen [DIE LINKE]: Das hat sie überhaupt nicht ge- mögen, nicht das Gefühl haben, dass wir die staatliche sagt!) Ordnung preisgeben und darauf verzichten, die Schwä- Ich kenne ganz viele Menschen in Deutschland, die cheren in dieser Gesellschaft zu schützen; darauf müssen verdammt wenig Geld haben, die aber helfen, helfen, wir achten. Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten. helfen. Nein, es geht darum, Zusammenhalt in der Ge- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten sellschaft zu schaffen, und nicht darum, Stimmung gegen der CDU/CSU) andere zu machen und die einen gegen die anderen auf- zubringen. Das gilt für alle Seiten. Präsident Dr. Norbert Lammert: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Das Wort erhält nun die Kollegin Katrin Göring- sowie bei Abgeordneten der SPD) Eckardt für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Ich finde: Ja, wir müssen uns Gedanken um die Sorgen der Bürgerinnen und Bürger machen, wir alle gemein- Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sam. Aber wir sollten nicht Ängste und Neid verstärken. NEN): Wir sollten doch Zutrauen ausstrahlen. Gerade die Union Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! sollte Zutrauen ausstrahlen. Mich wundert es sehr, dass In der vergangenen Woche haben Sie, Frau Bundeskanz- die CDU/CSU ausgerechnet in dem Moment in eine Iden- lerin, etwas Richtiges getan. Sie haben die Flüchtlings- titätskrise gerät, in dem auf der einen Seite christliche politik zur Chefinsache gemacht; das ist konsequent, Werte und auf der anderen Seite ökonomische Interes- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 12565

Katrin Göring-Eckardt (A) sen zusammenkommen. Empathie und Ökonomie – das mern. Auch das müssen wir berücksichtigen, wenn wir es (C) könnte doch Ihre Stunde sein. Kommen Sie doch heraus gut schaffen wollen, und darum muss es ja wohl gehen. aus der Angstecke. Nehmen Sie es in die Hand, und sa- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) gen Sie mit Überzeugung und mit Engagement, von mir aus sogar mit Enthusiasmus: Ja, wir machen jetzt Politik, Meine Damen und Herren, die Auffangstationen, die und wir kriegen das hin, liebe Bürgerinnen und Bürger. sogenannten Hotspots, in Italien, in Griechenland laufen auf gut Deutsch – Herr Kauder, das ist Ihnen ja immer (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN besonders wichtig – Gefahr, vom Hotspot ganz schnell sowie bei Abgeordneten der SPD) zum Brennpunkt zu werden. Frau Merkel drängt ja dazu, Ich bin fest überzeugt: Unser Land ist nicht überlas- diese Zentren einzurichten. Aber dann muss man bitte tet, sondern es ist auch nach Monaten, nachdem die Zahl einmal wissen, wozu sie eigentlich da sein sollen. Sind der Anträge sprunghaft angestiegen ist, nicht ausreichend diese Hotspots eigentlich dazu da, um zu registrieren, leistungsfähig. Das ist der Punkt. Wir können es und eine erste Notaufnahme vorzunehmen, oder sind sie ei- müssen es leistungsfähig machen. Die Frage ist nicht, ob gentlich dazu da, um Ingewahrsamnahme und Abschre- wir es schaffen, sondern wie wir es schaffen, wer sich ckung zu organisieren? Diesen Unterschied müssen wir darüber Gedanken macht und wo der große Plan ist. Ich machen, und wir müssen wissen, wofür sie da sind. Es glaube, dass wir wirklich in einer Situation sind, in der wird nicht funktionieren – auch nicht mit Hotspots –, die es sehr darauf ankommt, dass die Menschen Vertrauen in europäischen Grenzen auf eine neue Art dichtzumachen. die Handlungsfähigkeit der Politik haben können. Frau Merkel, Sie haben ja gesagt: Das Dublin-System ist obsolet. Ja, dann erkennen Sie das bitte auch an, und (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- dann sagen Sie: Das System wird nicht mehr funktionie- SES 90/DIE GRÜNEN) ren, wir brauchen da wirklich ein neues. Wenn es nicht gelingt, dieses Vertrauen herzustellen, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dann werden wir weiter große Pegida-Demonstrationen sowie der Abg. Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]) haben. Wenn wir uns zum Anwalt der Angst machen statt zum Anwalt der Bürgerinnen und Bürger, die wollen, Wenn man sich die Situation in den Nachbarländern dass es funktioniert, dann haben wir als politische Klasse anschaut, stellt man fest – ich habe das hier schon ge- in der Tat ein großes Problem. sagt –: Immer noch hat das World Food Programme nicht genügend Geld zur Verfügung. Immer noch leben die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Menschen in den Unterkünften im Libanon und in Jor- Ja, das ist eine große Herausforderung für Europa. danien in einer katastrophalen Situation. Da hilft es nicht, Wir sind das stärkste Land in Europa, und wir werden nur ein Bekenntnis abzugeben. Da hilft es nur, eine Geld­ (B) die Hunderttausende, die auf der Flucht sind, nicht auf überweisung vorzunehmen. Hier muss wirklich Druck (D) arme und fragile Staaten abwälzen können. Da hilft übri- ausgeübt werden, damit das am Ende auch passiert. gens auch kein schmutziger Deal mit Herrn Erdoğan. Die Das ist übrigens noch nicht die Bekämpfung von Vereinbarungen mit der Türkei helfen den Flüchtlingen Fluchtursachen. Fluchtursachen bekämpft man ganz be- aus Syrien, dem Irak und der Türkei nicht. Sie sind ein stimmt nicht wie Herr Putin mit seiner Intervention zu- Wahlkampfgeschenk für Herrn Erdoğan, gunsten von Assad, die die Lage in Syrien noch weiter (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- verschlimmert. Eine militärische Antwort auf ein huma- SES 90/DIE GRÜNEN) nitäres Problem ist immer falsch. Das gilt auch für die Mission im Mittelmeer. für einen Präsidenten, der die Pressefreiheit abschafft, der unter dem Deckmantel der Terrorbekämpfung Kurden (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) bombardiert. Herrn Erdoğan muss man klar sagen, was Diese Mission heißt jetzt „Sophia“, und sie soll die europäische Werte sind. Ja, man kann der Türkei bei der Schlepper bekämpfen. Aber solange wir keinen anstän- Aufnahme von Flüchtlingen helfen, aber nicht um den digen Weg nach Europa haben, machen wir das Geschäft Preis eines Rabatts bei der Frage der Menschenrechte. der Schlepper mit, und das sollten wir nicht wollen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Frau Bundeskanzlerin, Sie haben gesagt: Wir schaffen sowie bei Abgeordneten der SPD und der das. – Das war der erste Schritt. Jetzt geht es um Kraft; LINKEN) jetzt geht es um Mühe; jetzt geht es um Haltung. Ich Der Umgang mit den Flüchtlingen ist und bleibt eine hoffe sehr, dass das auch in der Unionsfraktion endlich gesamteuropäische Aufgabe, eine Aufgabe, die erst in und in Gänze so gesehen wird. Ich hoffe, dass sich diese Ansätzen entwickelt ist. Vor zwei Jahren haben die Mit- Haltung, die ich nun wirklich für eine absolut christliche gliedstaaten verbindliche Vorgaben zur Aufnahme fest- halte, auch ausweist in dem, was wir sagen, und in dem, gelegt. Die Umsetzung ist bis heute nicht passiert. Wir was wir tun. brauchen eine gerechte Verteilung. Der Vorschlag der (Volker Kauder [CDU/CSU]: Was christlich EU-Kommission ist kein Allheilmittel, aber er ist zumin- ist, entscheidet der liebe Gott!) dest einmal ein erster Schritt. Doch Achtung: Die Vertei- lung rein nach Statistik statt nach Sinnhaftigkeit schafft Dazu gehört die Ehrlichkeit, über Probleme zu reden; nur neue Probleme. Manche Flüchtlinge haben besonde- viele sind hier angesprochen worden. Dazu gehört es, zu re Sprachkenntnisse, andere haben Familie in Europa. Es sagen, was es kosten wird, wie viele Lehrer, wie viele geht hier weiterhin um Menschen und nicht um Num- Sozialarbeiter, wie viele Wohnungsbauer wir brauchen 12566 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015

Katrin Göring-Eckardt (A) werden. Dazu gehört es, ehrlich zu sagen: Ja, es wird an ge geht, mag dies jeder kleinere Staat mit Außengrenze (C) vielen Stellen in Deutschland erst einmal eng werden; schaffen, aber wenn es um Hunderttausende geht, zeigt aber wir haben eine gemeinsame Perspektive. sich, dass dies nicht zu machen ist. Sorgen wir dafür, dass der rechte Mob, der auf der Deswegen dürfen wir – dazu brauchen wir eine klare Straße ist, mit seiner Angstmache in der Ecke steht. Wir Aussage – die Sicherung der Außengrenzen nicht allein als demokratische Kräfte müssen sagen: Die Menschen, in nationalstaatliche Verantwortung geben, sondern da die hierherkommen, werden Neubürgerinnen und Neu- trägt Europa eine gemeinsame Verantwortung. bürger sein, und wir werden mit ihnen zusammenleben, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- und wir werden alles dafür tun, dass diese Gesellschaft ordneten der SPD) Zusammenhalt organisiert und erlebt und dass wir mit Überzeugung und Kraft gute Politik machen. Dazu muss sich Europa bekennen. Das wird natürlich Geld kosten. Aber ich kann gut nachvollziehen und ver- Vielen Dank stehen, dass Länder wie Italien, Griechenland und ande- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN re, die eine Außengrenze haben, sagen: Den Deutschen sowie des Abg. (Havelland) fällt es leichter, über die Sicherung von Schengen zu [DIE LINKE]) sprechen, weil sie keine Schengen-Außengrenze haben. Darauf antworte ich: Wir sind bereit, mitzuhelfen, dass Präsident Dr. Norbert Lammert: Europa seine Außengrenzen sichern kann, dass dies auch in Zukunft so geschieht, wie es notwendig ist, liebe Kol- Für die CDU/CSU-Fraktion hat Volker Kauder nun leginnen und Kollegen. das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ordneten der SPD) ordneten der SPD) Auch darüber muss gesprochen werden, Frau Bun- Volker Kauder (CDU/CSU): deskanzlerin. Da ist, salopp gesagt, höchste Eisenbahn Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! geboten, damit in der Welt klar wird: Europa ist bereit, Der Anlass für die heutige Debatte und die Regierungser- Flüchtlinge aufzunehmen. Europa ist aber auch bereit, klärung der Bundeskanzlerin ist eine Sitzung des Europä- die beschlossene Sicherung der Außengrenzen durchzu- ischen Rates heute und morgen. Da steht natürlich in ers- führen. ter Linie die Frage „Was tut Europa in einer der größten Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist rich- Herausforderungen in der Nachkriegsgeschichte?“ auf tig, darüber zu reden, dass wir den Ländern, die erste (B) der Tagesordnung. Wir alle wissen: Bei allem, was wir Anlaufstellen sind – Italien, Griechenland –, bei der Re- (D) national tun – darauf werde ich noch kommen –, werden gistrierung und Unterbringung von Flüchtlingen helfen. wir diese Herausforderung nicht allein von Deutschland aus, sondern nur in und mit Europa bewältigen können. In Richtung der Grünen sage ich: Ich habe wenig Ver- ständnis, wenn man – der Begriff „Hotspot“ ist wirklich (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- nicht besonders toll, vielleicht fällt einem da auch ein ordneten der SPD) verständlicherer Name ein – die Erstaufnahmeeinrich- Der Umgang mit dieser Situation – das muss jeder in tungen als Anstalten diffamiert. Nein, das sind notwen- Europa wissen – entscheidet auch darüber, ob die Men- dige Maßnahmen, um den Flüchtlingsstrom koordinieren schen noch Vertrauen in Europa setzen und hier eine zu können. Deswegen unterstützen wir – ich denke, die Zukunftsperspektive sehen. Europa muss wissen: Wenn Regierung und die Koalition insgesamt – den Aufbau sol- jetzt keine richtige Antwort kommt, dann werden sich cher Erstaufnahmeeinrichtungen in Griechenland und in viele fragen, welchen Sinn Europa überhaupt noch hat. Italien mithilfe der EU. Deshalb ist es richtig, was die Bundeskanzlerin vorhin (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- gesagt hat. Man muss alles daransetzen, dass sich Europa ordneten der SPD) dessen auch bewusst ist. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn der Es kommt jetzt darauf an, dass Europa erkennt, dass Satz richtig ist, dass Politik mit dem Betrachten der man nicht im Kleinteiligen groß sein kann, aber im Gro- Wirklichkeit beginnt, dann ist es doch völlig klar – wenn ßen kleinteilig bleibt. Das ist die entscheidende Heraus- man sich diese Wirklichkeit anschaut –, dass die Tür- forderung, um die es nun geht. kei, wie die Bundeskanzlerin zu Recht formuliert hat, eine wesentliche Rolle spielt. Jetzt kann man sagen: Die (Beifall bei der CDU/CSU) Türkei spielt zwar eine wichtige Rolle – wenn sie ihre Da wünschen wir Ihnen, Frau Bundeskanzlerin, natürlich Aufgabe nicht so wahrnimmt, wie wir glauben, dass sie viel Erfolg und Überzeugungskraft. wahrgenommen werden muss, dann wird das Chaos rie- sengroß –, aber egal; wir reden nicht mit denen. – Dies Dazu gehört auch, dass sich Europa in der Flüchtlings- ist aber eine Form von Politikverweigerung, der wir uns politik noch einmal neu sortiert. Die Sicherung der Au- nicht anschließen, meine sehr verehrten Damen und Her- ßengrenzen und Dublin III funktionieren im Augenblick ren. nicht richtig. Vielleicht muss man auch sagen: Schengen kann nur funktionieren, wenn jeder seine eigene Außen- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- grenze sichert. Solange es um ein paar Tausend Flüchtlin- ordneten der SPD) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 12567

Volker Kauder (A) Frau Göring-Eckardt, nach der Rede der Bundeskanz- Galgen zu zeigen, Schilder dranzuhängen, das ist in einer (C) lerin wäre der Hinweis auf die besondere Situation in der Demokratie unwürdig, liebe Kolleginnen und Kollegen. Türkei gar nicht mehr notwendig gewesen. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD so- (Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- wie bei Abgeordneten der LINKEN und des NEN]: Doch, gerade! – Weitere Zurufe vom BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Aber man darf auf keinem Auge blind sein. Ich fand – Frau Kollegin Roth, das machen wir untereinander aus. auch nicht in Ordnung, was die TTIP-Gegner gemacht (Heiterkeit – Dr. Anton Hofreiter [BÜND- haben. Eine Guillotine aufzubauen, das ist um kein Haar NIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt verliert er besser, als einen Galgen zu zeigen, meine lieben Kolle- 100 Prozent!) ginnen und Kollegen. Es ist doch wirklich bemerkenswert mutig, wenn die (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD so- Bundeskanzlerin sich in aller Öffentlichkeit an dieses wie bei Abgeordneten der LINKEN und des Rednerpult stellt und sagt: „Ich werde, weil es notwen- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) dig ist, mit der Türkei reden. Aber es wird kein Thema Beides geht nicht. Beides muss auch klar angesprochen ausgeblendet. Das geht bis hin“ – wie formuliert worden werden. ist – „zur Situation der Menschenrechte.“ Da kann ich nur sagen: Respekt, wenn man so etwas öffentlich for- Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich bin ei- muliert – und weiß, dass dies im Zweifel auch Erdoğan nigermaßen überrascht und auch ohne Verständnis, wenn hört –, weil man weiß, dass man diese Aufgabe anpacken ich von den ganzen Dingen höre, die mit dem World muss. Auch dafür wünschen wir viel Erfolg. Food Programme und dem UNHCR zu tun haben. Wie viele andere habe ich Flüchtlingslager im Nahen und (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Mittleren Osten besucht und mir dort ein verschafft. ordneten der SPD) Dabei hatte ich eindrückliche Begegnungen mit Men- Es ist aber nicht nur eine große Herausforderung in schen, die aus dem Süden Syriens kamen, also nicht aus Europa, sondern es ist auch eine große Herausforderung der Gegend um Aleppo herum, mit einfachen Menschen, in unserem Land. Darüber ist schon mehrfach gespro- die mir mittels Dolmetscher gesagt haben: Wir sind Fel- chen worden, und darüber werden wir auch beim nächs- lachen, kleine Bauern. Wir können nicht lesen, wir kön- ten Tagesordnungspunkt sprechen, bei dem es um das nen nicht schreiben. Deswegen glauben wir nicht daran, Asylpaket geht. Ich bin froh, dass wir diese Vereinbarun- dass eine Zukunft in Europa für uns einfach sein würde. (B) gen haben treffen können, auch mit den Bundesländern. Wir möchten gerne wieder in unser Land, nach Syrien (D) zurück, wenn dort der Bürgerkrieg zu Ende ist. Deswe- Bei manchem, das wir jetzt erreicht haben, haben wir gen sind wir hier an der Grenze zu Syrien – in Jordanien uns vor einigen Wochen noch gar nicht vorstellen kön- beispielsweise. nen, dass es erreicht werden könnte. Deshalb kann ich nur sagen: Wir sind handlungsfähig – ein entsprechendes Wenn diese Menschen aber nun erfahren, dass ihnen Signal geben wir auch –, aber wir verschließen uns auch die Rationen für Essen und die Mittel, die notwendig sind, nicht den Fragen der Kommunen und der Menschen. Wir um das tägliche Leben zu fristen, von 36 Dollar auf 16, reden mit den Menschen und den Vertretern der Kommu- 15 und dann auf unter 10 Dollar gekürzt werden, machen nen über das, was getan werden muss. sie sich natürlich auch Gedanken, ob sie es unter diesen Umständen drei Jahre aushalten können oder nicht. Wenn Beispielsweise haben wir von der CDU/CSU-Bundes- man also etwas als Skandal bezeichnen kann, dann ist tagsfraktion für heute Nachmittag die Landräte sowie die das ein Skandal, was da in den Flüchtlingslagern passiert. Oberbürgermeister der kreisfreien Städte eingeladen – unabhängig von der Parteizugehörigkeit. Weit über 200 (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD so- werden da sein. Wir werden mit ihnen reden und ihnen wie bei Abgeordneten der LINKEN und des sagen, was wir jetzt auf den Weg bringen. Manche For- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) derung, manche kritische Anmerkung ist zu einem Zeit- Deswegen erwarte ich, Frau Bundeskanzlerin, dass auch punkt gemacht worden, als dieses Paket noch gar nicht das heute Abend im Europäischen Rat angesprochen verabschiedet war und es natürlich auch noch nicht wird und die Regierungen einmal nachfassen, wann das wirken konnte. Darüber werden wir mit den Menschen Geld nun zur Verfügung gestellt worden ist. reden. Ich finde, es ist notwendig, dass man mit den Leu- ten redet und ihnen auch sagt: Das und das haben wir Frau Wagenknecht, Sie haben kritisiert, dass man nur vor. – Wir dürfen die Katastrophenstimmung nicht im- 1 Milliarde Euro gebe. Ich will Ihnen dazu einmal sagen: mer weiter verstärken, sondern müssen sagen: Wir haben „Sie müssen genau hinhören“, und sollten nicht nach Möglichkeiten, zu handeln, um die Dinge zu verbessern. dem Motto verfahren: Ideologisch höre ich das, was ich will. – Es ist ausdrücklich gesagt worden: Das Geld, was Dies, meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe nötig ist, um ordentliche Existenzen für die Flüchtlinge Kolleginnen und Kollegen – da gebe ich Ihnen recht –, zu sichern, wird auch gegeben. ist wichtig, damit so Sachen wie die Radikalisierung bei Pegida nicht noch weiteren Zulauf bekommen. Ich teile (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- die Kritik. Was dort geschehen ist, geht überhaupt nicht. ordneten der SPD) 12568 Deutscher Bundestag – 18. 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Volker Kauder (A) Es bleibt nicht bei der 1 Milliarde, wenn sich heraus- Herzlichen Dank. (C) stellen sollte, dass mehr nötig ist. Das machen wir dann (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- schon. ordneten der SPD) Aber ich will wissen, warum es so lange braucht, bis das Geld ankommt. Wenn die EU Geld gegeben hat – Präsident Dr. Norbert Lammert: darunter 100 Millionen Euro von Deutschland –, jetzt Nächster Redner ist der Kollege Norbert Spinrath für 350 Millionen Euro und dann 1 Milliarde Euro, wa- die SPD-Fraktion. rum braucht es dann so lange, bis das Geld ankommt? Dazu kann ich nur sagen: Neben der konkreten Aufga- (Beifall bei der SPD) be, die wir hier haben, ist natürlich die Bekämpfung von Fluchtursachen eine wichtige Aufgabe. Es wird aber Norbert Spinrath (SPD): nicht möglich sein, in kurzer Zeit alle Fluchtursachen zu Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! beseitigen. Aber eine Fluchtursache für die Menschen in Sehr geehrte Damen und Herren! Die Europäische Uni- den Flüchtlingslagern ist auf jeden Fall dann gegeben, on kommt aus dem Krisenmodus nicht heraus. Sie muss wenn sie den Eindruck haben, mit ihnen werde nicht sich ständig neu behaupten und ihre befriedende, sta- anständig umgegangen. Hier kann man schnell Abhilfe bilisierende Wirkung und die Werte, auf denen sie sich schaffen; das kann schon morgen geschehen, liebe Kolle- gründet, immer häufiger gegen vordergründige nationale ginnen und Kollegen. Und das erwarten wir auch. Interessen behaupten. Es bleibt zu hoffen, dass zu den augenblicklichen Krisensituationen nicht noch eine neue (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD so- hinzukommt, dass das Vereinigte Königreich nicht für wie bei Abgeordneten der LINKEN und des neue Krisen sorgt. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) In diesem Zusammenhang muss ich sagen, dass ich es Wir haben mit dem Paket, das nachher beraten und außerordentlich bedauerlich finde, dass es mangels kon- verabschiedet wird, gezeigt, dass wir in diesem Land, kreter Vorschläge durch Premier Cameron heute in Brüs- wenn die Aufgaben groß sind, auch verantwortlich han- sel keine substanzielle Debatte über das britische Refe- deln können. Wahrscheinlich ist es schon so, Kollege rendum geben wird, wie das ursprünglich vorgesehen Oppermann, dass man, wenn man vor einer bestimmten war. Das zeigt mir vor allen Dingen eins: Cameron ist Aufgabe steht, auch spürt, welche Verantwortung man eben nicht der gewiefte Taktiker, als der er oft beschrie- hat. Und deswegen, weil sie die Verantwortung spüren, ben wurde. Er ist eher ein Getriebener. Er handelt ohne sind grüne Oberbürgermeister in Baden-Württemberg Konzept. Er hat sich im Wahlkampf in eine Sackgasse hi- (B) und ein grüner Ministerpräsident bei diesem Paket dabei. neinmanövriert. Mit seiner populistischen Kampagne ge- (D) gen Europa wird er seinem Land langfristig schaden. Um Die Grünen hier im Bundestag sind in der Opposition. es ganz klar zu sagen: Wir wollen, dass das Vereinigte Okay. Ich erinnere mich aber noch sehr gut daran, dass Königreich Mitglied der EU bleibt. Sollte Cameron aber wir als Union, als wir in der Opposition waren und es aus seiner Not heraus Vorschläge zur Renationalisierung um große Aufgaben in der Außenpolitik ging, gesagt ha- oder zur Schaffung neuer Blockademöglichkeiten vorle- ben: Da machen wir mit. Auch wenn die SPD und die gen, dann müssen wir sie ganz klar ablehnen. Grünen regieren, machen wir da mit, um zu zeigen, dass wir zusammenstehen. – Das hätte ich eigentlich in dieser (Beifall bei der SPD) Situation von Ihnen erwartet. Ich hatte eigentlich erwartet, dass Cameron seine Vor- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- schläge auf dem Gipfel im Dezember 2015 präsentiert. ordneten der SPD) Der heutigen britischen Presse muss ich aber entnehmen, dass er das auf den März 2016 verschieben will. Viel- Vielleicht sind ja meine Informationen nicht ganz richtig. leicht sollte er das Referendum ganz absagen; denn wenn Deswegen will ich mich korrigieren und sagen: Das er- man den Umfragen Glauben schenkt, sind die Werte sehr warte ich von Ihnen. besorgniserregend. Ich glaube, Cameron täte für sein Land und für die gesamte Union Besseres, wenn er auf (Zuruf des Abg. Kai Gehring [BÜNDNIS 90/ dieses Referendum verzichtete. DIE GRÜNEN]) In der EU müssen die Spielregeln für alle gleicher- – Ganz ruhig. Ich war doch ganz friedlich. Ich habe doch maßen gelten. Auch die Werte der Europäischen Union nur eine Erwartung geäußert. Das werde ich doch noch müssen weiterhin gelten. Die Europäische Union muss tun dürfen. Aber wenn Sie mich schon provozieren, dann mehr sein als eine Freihandelszone und ein gemeinsa- muss ich Ihnen sagen: Enthaltung hat mit Verantwortung mer Binnenmarkt, nämlich eine Wertegemeinschaft, die in schwerer Zeit nichts zu tun. durch gemeinschaftliche Ziele, solidarisches Handeln (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – und sozialen Zusammenhalt geprägt ist. Gerade die ak- Sabine Weiss (Wesel I) [CDU/CSU]: Das ist tuelle Flüchtlingskrise zeigt doch auf, dass die EU auf es!) dieser Grundlage handlungsfähig sein muss. Ich habe durchaus Verständnis dafür, dass angesichts der immen- Frau Bundeskanzlerin, viel Erfolg heute Abend. sen Herausforderungen Sorgen wachsen, Sorgen vor ei- Es steht viel auf dem Spiel: dass sich Europa in einer ner Überforderung, die sich auch bei uns in Deutschland, schwierigen Zeit als handlungsfähig erweist. insbesondere aber in den jüngeren EU-Mitgliedstaaten Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. 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Norbert Spinrath (A) zeigen. Aber ich sage ganz nachdrücklich: Bei allem An die Verantwortlichen in Dresden gerichtet: Wer Gal- (C) Verständnis für derartige Sorgen müssen wir auch wei- gen zeigt und damit zur Lynchjustiz auffordert, gehört terhin dem Vertrauen der Bevölkerung gerecht werden. nicht in die Abendausgabe der Tagesschau oder in das Wir müssen deutlich machen, dass wir Lösungen haben. heute journal und nicht auf die Titelseiten der Presse, Wir müssen die Herausforderungen annehmen, ohne sie sondern der gehört in den Knast. zugleich in Überforderungen umzudeuten. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei Abgeordneten der SPD) DIE GRÜNEN – Axel Schäfer () Wir müssen unsere europäischen Partner eben nicht [SPD]: Sehr wahr!) nur auffordern, Solidarität zu üben. Vielmehr müssen wir Aber gerade weil wir diese Situation so vorbildlich sie mit unserem so hohen Engagement davon überzeu- bewältigt haben, versetzt uns das nun in die Lage, ge- gen, dass die Bewältigung der aktuellen Flüchtlingssitua- meinsam und partnerschaftlich, nicht mit dem großen tion nur gemeinsam in der EU zu lösen ist. Dabei müssen Knüppel fordernd, mit den anderen Mitgliedern der eu- wir viele nationale Ressentiments überwinden, die mir ropäischen Familie neue Wege zu suchen, neue Wege hin in den letzten Tagen und Wochen immer wieder in Ge- zu einer echten gemeinsamen europäischen Flüchtlings- sprächen mit europäischen Nachbarn begegnen. Aber wir und Asylpolitik. Wir müssen das Dublin-System ablösen. müssen uns auch, liebe Kolleginnen und Kollegen, selbst Wie schon die Bundeskanzlerin ausführte, ist es nicht mahnen, unseren eigenen Sprachgebrauch in Richtung mehr zielführend. Es hat nie wirklich funktioniert. Wir auf etwas mehr Demut zu verändern. Wie klingt es, wenn müssen das vom JI-Rat beschlossene Quotensystem um wir der EU und Brüssel im Sommer Versagen vorgewor- einen permanenten Verteilungsmechanismus erweitern. fen haben, obwohl wir wussten, dass Kommission und Dies sind richtige Ansätze, die aber allein das Problem EP mutige Maßnahmen vorgeschlagen haben, die aber an nicht lösen können. einer Reihe von Mitgliedstaaten und nicht an der EU ge- scheitert sind? Das muss man so klar benennen. Wir müssen dafür sorgen, dass wir Anreize für die Mitgliedstaaten schaffen, das Quotensystem dann auch (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Axel zu erfüllen. Dafür müssen sie nach meinem Verständnis Schäfer (Bochum) [SPD]: Das ist genau die Mittel aus dem EU-Haushalt erhalten, aber auch zurück- Wahrheit!) zahlen, wenn sie ihre Quote nicht erfüllen oder die ih- – Danke, lieber Kollege Schäfer. nen zugewiesenen Flüchtlinge das Land wieder verlas- sen. Der Haushalt muss dafür aufgestockt werden. Wir Liebe Kolleginnen und Kollegen, wie klingt es aus brauchen gleiche Standards beim Asylverfahren. Wir unserem Mund, Europas Solidarität hart einzufordern, brauchen gleiche Standards bei der Verfahrensdauer, bei (B) (D) wenn wir selbst unseren Partnern in der EU Dublin I, II Anerkennungsquoten. Wir brauchen vergleichbare Stan- und III aufgedrängt haben und in Deutschland davon am dards bei Aufnahme- und Unterbringungsbedingungen. meisten profitierten Nur dann wird es möglich sein, auch den Flüchtlingen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ klarzumachen, dass sie in jedem Land in der Europäi- DIE GRÜNEN) schen Union bleiben können, das ihnen zugewiesen wird. Dazu können wir uns auch weitere Anreize vorstellen, und genau dann, wenn in den letzten Jahren unsere italie- auch für Flüchtlinge. Aber wir müssen insgesamt dafür nischen und griechischen Freunde nach Hilfe gerufen ha- Sorge tragen, dass wir wirklich zu einer echten gemein- ben und Solidarität nicht forderten, sondern erwarteten, samen europäischen Flüchtlings- und Asylpolitik kom- mit der kalten Schulter auf Dublin I, II und III verwiesen men. haben?

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Präsident Dr. Norbert Lammert: DIE GRÜNEN) Herr Kollege. Wundert es uns noch, wenn wir gerade jetzt bei unserer aktuellen – ich sage einmal – Überflutung mit Flücht- Norbert Spinrath (SPD): lingszahlen plötzlich Solidarität in seiner wahren Bedeu- Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. – Wenn dies tung definieren, dass unsere Nachbarn irritiert sind und nicht gelingen sollte, wenn sich die Mitgliedstaaten auch diese Dinge als deutsches Problem bezeichnen? weiterhin auf ihre Kirchtürme und ihre egoistischen nati- Wir haben in diesen Wochen in Deutschland gemein- onalen Interessen zurückziehen, wenn sie wieder Zäune sam mit großen Teilen der Verwaltung, mit vielen Orga- bauen und Kontrollen an den Binnengrenzen aufnehmen, nisationen, die dort unterwegs sind, mit vielen Menschen dann liebe Kolleginnen und Kollegen, verliert die EU ihr aus der Bevölkerung die Situation zwar mit sehr großen Fundament, ihre Werte. Anstrengungen, aber auch mit großer Empathie vorbild- Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, die überwiegen- lich bewältigt. Nebenbei bemerkt, Frau Wagenknecht: de Mehrzahl des Deutschen Bundestages unterstützt die Wer diese großartige Leistung so kleinredet, wie Sie es humanitäre Politik, die wir hier betreiben. Der Europäi- tun, muss sich nicht wundern, wenn Pegida und AfD sche Rat muss dem heute Abend folgen und muss eine Aufwind erfahren. menschliche, insbesondere aber eine solidarische euro- (Beifall bei der SPD – Dr. Sahra päische Antwort auf diese europäische Flüchtlingsfrage Wagenknecht [DIE LINKE]: Was?) finden, – 12570 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015

(A) Präsident Dr. Norbert Lammert: auf, die deutsche Bevölkerung einzuteilen in diejenigen, (C) Herr Kollege, es hilft alles nichts. die den Flüchtlingen helfen wollen, und diejenigen, die nicht helfen wollen. Alle wollen helfen, nur haben die Norbert Spinrath (SPD): einen andere Vorstellungen als die anderen, wie man hel- fen kann. – sowie für die Aufnahme von schutzsuchenden Men- schen und bei der Bekämpfung der Fluchtursachen. Set- (Beifall bei der CDU/CSU) zen Sie sich heute und morgen in Brüssel dafür ein. Unser Asylrecht und auch die Flüchtlingskonvention Danke. sehen vor, dass wir Menschen in Deutschland und Euro- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ pa aufnehmen. Aber wie viele kann Europa aufnehmen? DIE GRÜNEN) 5 Millionen, 10 Millionen, 50 Millionen, 200 Millionen? ( (Augsburg) [BÜNDNIS 90/ Präsident Dr. Norbert Lammert: DIE GRÜNEN]: Das Asylrecht kennt keine Liebe Kolleginnen und Kollegen, auf der Ehrentri- Begrenzung! – Weiterer Zuruf des Abg. Özcan büne haben die Präsidentin des Seimas der Republik Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Litauen, Frau Graužinienė, und ihre Delegation Platz Wer beantwortet diese Fragen? genommen. (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall) GRÜNEN]: Ja, Sie nicht! Offensichtlich!) Ich begrüße Sie herzlich im Namen aller Kolleginnen Und wie beantwortet man diese Frage, nach welchen Kri- und Kollegen. Ich bedanke mich für die intensiven und terien? Die Zahl derjenigen, die wir aufnehmen, kann nur guten Gespräche, die wir gestern miteinander geführt so hoch sein, dass wir unsere eigenen Lebensgrundlagen, haben. Wir freuen uns auf die weitere Zusammenarbeit unsere eigene Stabilität nicht gefährden. unserer beiden Parlamente. (Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Nun hat der Kollege Hans-Peter Friedrich für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. Wir können nur so viele aufnehmen, wie wir integrieren können, ohne unsere Kultur, unsere Identität zu gefähr- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) den.

Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) (CDU/CSU): (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (B) Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her- (D) ren! Europa lebt seit 70 Jahren in Frieden, abgesehen von Alles leere Sätze! – Özcan Mutlu [BÜND- einigen Auseinandersetzungen beispielsweise auf dem NIS 90/DIE GRÜNEN]: Schämen Sie sich!) Balkan. Aber ist nicht friedlicher geworden. Es Wie viele das sind, entscheidet jedes Land in seiner gibt zig Millionen Menschen, die ihre Heimat, die Regi- eigenen Souveränität. Wir Deutschen entscheiden das in on, in der sie geboren und aufgewachsen sind, verlassen unserer Souveränität. Meine sehr verehrten Damen und mussten und in der Welt umherirren. Mit jeder Krise, mit Herren, unsere europäischen Nachbarn entscheiden das jedem Konflikt, meine sehr verehrten Damen und Herren, in ihrer Souveränität. Ich höre immer, dass die Deutschen steigen die Flüchtlingszahlen – heute Af­ghanistan und sagen: Wissen Sie, unsere Geschichte zwingt uns zu die- Syrien, morgen und Bangladesch, übermorgen sem und hält uns von jenem ab. – Aber auch die ande- die Sahelzone, Subsahara-Afrika und Afrika insgesamt. ren haben eine Geschichte – die Ungarn, die Tschechen, Deswegen ist die Frage, welche Rolle Europa in die- die Slowaken, die Kroaten, die Slowenen, die baltischen sem Szenario, das sich nicht von selbst auflösen wird, in Länder –, Zukunft spielen wird. Haben wir, so stellt sich die Frage, (Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE]: Vielleicht die Pflicht, diesen vielen Millionen Menschen auf der haben die doch eine andere Geschichte! – Welt zu helfen? Ich kenne niemanden in diesem Haus, Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: der nicht sagen würde: Ja, wir haben die Verpflichtung, Oh mein Gott! Das tut weh, was Sie sagen!) nach unserer Kraft und unserer Leistungsfähigkeit das zu tun. – Aber, meine sehr verehrten Damen und Herren, das und sie entscheiden mit ihrer Mentalität und aus ihrer bedeutet doch nicht, dass wir diese zig Millionen Men- Geschichte heraus, wie viele aufgenommen werden kön- schen alle zu uns holen können – auch das weiß doch nen. Das ist europäisch. jeder. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Claudia Roth (Augsburg) [BÜNDNIS 90/ Sie brauchen nicht unseren moralischen Zeigefinger, DIE GRÜNEN]: Das sagt doch auch nie- sondern sie haben ihre eigene Souveränität. mand! – Weitere Zurufe vom BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Die Bewältigung der Flüchtlingskrise und die Redu- zierung des Zustroms auf das verkraftbare Maß, meine Wir müssen ihnen in ihrer Heimat, in der Nähe ihrer Damen und Herren, ist eine Herausforderung für die ge- Heimat helfen, wir müssen Fluchtalternativen schaffen. samte Europäische Union; aber sie ist auch eine Chance. Jeder weiß, dass wir sie nicht alle hierherholen können. Deswegen, meine Damen und Herren: Hören Sie bitte (Zuruf der Abg. [DIE LINKE]) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 12571

Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) (A) Es ist eine Chance, weil Europa beweisen kann, dass es dann ist nicht nur Dublin, sondern dann ist auch Schen- (C) nicht nur in der Lage ist, technokratische Vorschriften, gen beendet. Dann wird uns nichts anderes übrig bleiben, Richtlinien und Verordnungen zu schaffen, sondern auch (Claudia Roth (Augsburg) [BÜNDNIS 90/DIE in der Lage ist, existenzielle Probleme der Bürgerinnen GRÜNEN]: Ja, dann bauen wir eine Mauer!) und Bürger unserer Länder zu lösen. Darin besteht eine Chance, und diese Chance muss Europa jetzt ergreifen. als wieder unsere deutschen nationalen Grenzen zu schützen. Auch das ist eine Wahrheit, die auf dem Tisch (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – liegt und über die wir reden müssen. Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Ich will ganz konkret werden und sagen, was jetzt ge- Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: schehen muss: Gehen Sie nach Bayern, Mensch!) Erstens. Wir müssen die territoriale Integrität Deutsch- Zweitens. Was muss noch geschehen? Wir müssen ge- lands und Europas wirksam wiederherstellen. genüber den Menschen in den Krisenländern und in den Flüchtlingslagern das klare Signal aussenden: Wir kön- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) nen nicht mehr aufnehmen, als es unsere Integrations- Jeder Staat muss in der Lage sein, sein Staatsgebiet und fähigkeit zulässt. Unsere Kapazitäten sind weitgehend seine Grenzen zu schützen, sonst verliert er seine Sicher- erschöpft. Es ist kein besonderer Ausweis von Nächs- heit, seine Staatlichkeit und das Vertrauen seiner Bürger. tenliebe, den Menschen dort Illusionen zu machen, die Deswegen ist das das oberste Prinzip. dann wie die Seifenblasen platzen, wenn sie hierherkom- men. Deswegen war es richtig, dass wir vor drei Wochen Wir haben heute die Situation, dass wir die Sicherung Grenzkontrollen eingeführt haben; da ist viel rumkriti- unserer Grenzen auf die europäische Ebene übertragen siert worden. Es war wichtig, das Signal zu setzen: Hier haben, jedenfalls teilweise. Wir haben gesagt: Ja, wir ver- gibt es eine Grenze, zichten auf Grenzkontrollen, wenn wir Europäer gemein- ( [SPD]: Das hat doch nichts sam unsere Außengrenzen schützen. – Deswegen, meine genutzt! – Zuruf des Abg. Dr. Wolfgang sehr verehrten Damen und Herren, geht es darum – und Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- das ist das allerwichtigste Ziel, das jetzt erreicht werden NEN]) muss –, die Außengrenzen Europas wirksam und lücken- los zu schützen und dafür zu sorgen, dass nur so viele hier beginnt ein Gebiet, in dem wir in der Lage sind, un- nach Europa kommen, wie wir verkraften können und ser Recht durchzusetzen. (B) wie mit unserer Integrationskraft auch aufgenommen Drittens. Es ist ganz wichtig, dass wir – Volker Kauder (D) werden können. hat recht, wenn er sagt: „Hotspots“ ist kein schöner Be- griff – die Aufnahme- und Registrierungszentren an den (Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) europäischen Außengrenzen errichten und dort trennen zwischen denen, die eine Bleibeperspektive haben, und Präsident Dr. Norbert Lammert: den anderen, die zurückgeschickt werden müssen, und Herr Kollege Friedrich, lassen Sie eine Zwischenbe- das auch tun. Das ist jetzt wichtig. Das ist ein zentrales merkung zu? Anliegen. Das ist ein wichtiges Zeichen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) (CDU/CSU): Bayern hat Erstaufnahmezentren für die Balkanzu- Nein, keine Zwischenbemerkung. – Es ist entschei- wanderer errichtet; das ist oft kritisiert worden, wird aber dend, dass wir das jetzt schaffen, und zwar nicht irgend- jetzt von allen Bundesländern kopiert. Man hat klipp und wann, nicht nächstes Jahr, auch nicht irgendwann in ein klar gleich gesagt: Wir brauchen schnelle Verfahren, und paar Monaten, sondern jetzt. wir müssen, wenn die Voraussetzungen nicht gegeben (Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sind, die Menschen zurückschicken. – Ich glaube, dass diese Erstaufnahmeeinrichtungen, zum Beispiel in Bam- Deswegen ist der Europäische Rat heute von ganz gro- berg – jetzt entstehen sie im ganzen Land –, dazu bei- ßer Bedeutung; denn er stellt genau diese Aufgabe in den getragen haben, dass die Quote der Balkanzuwanderer Mittelpunkt. Wir müssen alle Kräfte dafür verwenden, nachhaltig reduziert worden ist. Das ist ein erster Erfolg diese Aufgabe zu erfüllen. und zeigt, dass man nur die richtigen Signale aussenden muss. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE]: Wie denn? Wir brauchen Transitzonen an den deutschen Grenzen, Wie denn? Schießen, oder was? – Zurufe vom (Claudia Roth (Augsburg) [BÜNDNIS 90/ BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) DIE GRÜNEN]: Nein!) Und ich sage auch: Wenn es uns nicht gelingt, die Sicher- die nicht, wie die SPD behauptet hat, Hafteinrichtungen heit und die Integrität Europas herzustellen, sind, (Zuruf des Abg. Richard Pitterle [DIE LIN- (Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE]: Sie wer- KE]) den es aber!) 12572 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015

Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) (A) weil das ein notwendiges Stoppsignal an unseren Gren- Nur eines sollte nicht auf die Agenda kommen, weil es (C) zen ist, ein Stoppsignal, das gesendet werden muss, da- damit überhaupt nichts zu tun hat, und das ist die Frage mit es verstanden wird. des Beitritts der Türkei zur Europäischen Union. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Widerspruch bei der SPD – Dr. Konstantin Das ist ein Thema von so grundsätzlicher Bedeutung, von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So dass es nicht im tagespolitischen Handel gelöst werden ein Quatsch! Hilflos ist das, was Sie hier er- kann. zählen!) (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE Viertens. Wir müssen sichtbar und erkennbar zurück- GRÜNEN]: Was machen Sie hier eigentlich führen. Das passiert an den Hotspots. Die Europäische für rhetorische Purzelbäume? Das ist doch Kommission hat eine Migrationsagenda vorgelegt, in der alles ein schlechter Witz, Herr Friedrich! – Rückführung vorgesehen ist. Diese Migrationsagenda Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE wird im Europäischen Parlament beraten, leider nur un- GRÜNEN]: Worüber reden Sie?) terstützt von der EVP und bekämpft von den Sozialisten, an der Spitze die deutschen Sozialdemokraten. Meine Damen und Herren, es geht darum, Grenzen (Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE zu sichern, Signale zu setzen, Kooperationen einzugehen GRÜNEN]: Der ist echt im Lagerkoller!) und darum, lieber Gerd Müller, sich gemeinsam in Eu- ropa Afrika zu widmen, und zwar noch bevor sich die Ich möchte Sie wirklich bitten, liebe Kolleginnen und Afrikaner auf den Weg machen, Kollegen von der SPD: Sie können hier doch nicht so reden, aber in Brüssel Ihre Leute laufen lassen, die per- (Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE manent die Rückführungsbemühungen der Europäischen GRÜNEN]: Die machen sich schon auf den Kommission torpedieren. Sorgen Sie auch da für Ord- Weg! – Dr. Konstantin von Notz [BÜND- nung! NIS 90/DIE GRÜNEN]: Wirr und chaotisch, Herr Friedrich!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zuruf von der SPD: Was für ein Quatsch! – bevor alle nach Europa kommen wollen. Es geht darum, Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE sich darum zu kümmern, dass dieser Kontinent, Afrika, GRÜNEN]: Die Große Koalition zerstritten in den Menschen eine Zukunft bieten kann. der wichtigsten Frage! Das ist ja großartig!) (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Brandstifter!) (B) Fünftens. Wir brauchen eine stärkere Kooperation mit (D) unseren Nachbarländern außerhalb der Europäischen Vielen Dank. Union. Deswegen sind die Gespräche mit der Türkei von zentraler Bedeutung. Wir brauchen diese Kooperation, (Beifall bei der CDU/CSU) und zwar nicht nur, weil die Türkei bei der Beseitigung von Fluchtursachen eine Schlüsselrolle hat, Präsident Dr. Norbert Lammert: Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Klaus (Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ernst das Wort. NEN]: Ist Orbán Ihr neuer Freund? Das ist ja unglaublich! Erst Orbán und dann Erdoğan!) Klaus Ernst (DIE LINKE): sondern auch, weil die Türkei bei der Steuerung der Herr Dr. Friedrich, das war ja eine sehr schneidige Flüchtlingsströme eine entscheidende Rolle spielt. Rede. Ich glaube, dass es ganz selbstverständlich ist, dass wir (Claudia Roth (Augsburg) [BÜNDNIS 90/ dem Anliegen der Türkei auf finanzielle Entlastung nach- DIE GRÜNEN]: Tja!) kommen. Wir können den Türken nicht zumuten, dass sie die Menschen dort aufnehmen, sie nicht weiterleiten und Stellen wir uns mal vor, Sie wären bei Anne Will gewe- gleichzeitig die Kosten in vollem Umfang tragen. sen und nicht die Kanzlerin, und Sie hätten das bei Anne Will gesagt. Stellen wir uns das mal einen Moment lang (Claudia Roth (Augsburg) [BÜNDNIS 90/ vor. – Ich möchte bei dieser Gelegenheit der Kanzlerin DIE GRÜNEN]: Das machen sie schon seit ausdrücklich für dieses Interview danken, das sie Anne vier Jahren!) Will gegeben hat. Hier müssen sich die Europäer, hier müssen auch wir (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN uns beteiligen. Ich halte das für ein wichtiges Anliegen. sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Und wenn man den Türken in anderer Weise entgegen- kommen kann – natürlich immer unter Beibehaltung der Das war eine ganz klare Botschaft. Kriterien, die wir beispielsweise hinsichtlich Visalibera- (Volker Kauder [CDU/CSU]: Nehmen Sie lisierung aufgestellt haben –, einmal die Hand aus der Tasche!) (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE Herr Friedrich, nachdem Sie sehr deutlich gesagt ha- GRÜNEN]: Aha!) ben, wo Sie in dieser Auseinandersetzung stehen, hätte dann ist das ein Thema. ich von Ihnen gerne eine Frage beantwortet: Die Gren- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 12573

Klaus Ernst (A) zen zu sichern, die Außengrenzen, möglicherweise auch nämlich dass wir unsere Grenzen sichern und dafür sor- (C) die der Bundesrepublik, das ist, wenn 10 kommen, noch gen, dass wir über unsere Grenzen die zu uns reinkom- möglich, bei 100 vielleicht auch noch, bei 1 000 – schau- men lassen, die wir nach unseren Vorschriften und nach en Sie sich das in Ungarn an – wird es schon kompliziert. unseren Möglichkeiten hereinlassen können. Das ist das, Aber was wollen Sie bei 10 000, bei 100 000 oder bei was ich fordere, und das ist das, was auch die Bürgerin- 200 000 machen? Wie wollen Sie die Grenze sichern? Glauben Sie, dass da ein kleines Zäunchen reicht? Mei- nen und Bürger in ganz Europa von ihrem Staat erwarten: nen Sie, dass Sie die Menschen, die kommen, weil sie be- dass die Staaten wirksam in der Lage sind, ihr Staatsge- droht sind, in dieser Größenordnung aufhalten können? biet zu schützen. Wir können das doch nicht aufgeben! Das ist eine berechtigte Frage, die auch die Kanzlerin ge- Das ist ein staatsrechtliches Thema. stellt hat. Glauben Sie wirklich, dass Sie mit einem Zaun (Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- oder drei, vier Grenzpolizisten, die ein bisschen mit dem Knüppel wedeln, die Menschen daran hindern können, NEN) ihre Existenz zu sichern, wenn sie das wollen? Wollen Es ist doch unglaublich, was Sie hier sagen: Wir sind Sie – das wäre ja die Konsequenz, Herr Friedrich –, dass nicht in der Lage, unsere Grenzen zu schützen. irgendwann an den Grenzen geschossen wird, um die Grenzen zu sichern? Wo hören Sie auf? (Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Zurufe von der CDU/CSU) NEN]: Wovon reden Sie?) – Die Frage ist doch berechtigt. Wir müssen in der Lage sein, unsere Grenzen zu schüt- zen. Das ist etwas, was wir auch erreichen können. Das (Beifall bei der LINKEN) ist der Sinn und Zweck des Europäischen Rates von heu- Wie wollen wir denn die Menschen aufhalten, wenn sie te, und das ist auch der Sinn und Zweck all der Verab- kommen? Darauf haben Sie in Ihrer schneidigen Rede redungen, die auf europäischer Ebene getroffen werden. keine Antwort gegeben, Herr Friedrich. Ich hätte darauf aber gerne eine. Was meinen Sie damit, wenn Sie sagen: (Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- „Wir machen zu“? Mit welchen Mitteln wollen Sie die NEN]: Herr Friedrich, wir sind nicht im Menschen aufhalten, wenn sie mit ihren Kindern im Arm Krieg!) am Zaun stehen und rüber wollen? Ich hoffe, dass sie funktionieren; denn wenn sie europä- (Volker Kauder [CDU/CSU]: Machen Sie isch nicht funktionieren, müssen sie national eingeführt mal zu!) (B) werden. Das ist meine Forderung. Das habe ich gesagt (D) Herr Friedrich, ich habe den Eindruck, diese Rede, die und sonst nichts, Herr Ernst. Sie hier gehalten haben, war vielleicht wichtig für die AfD in Bayern, (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Sie haben es anders gemeint! – (Volker Kauder [CDU/CSU]: Jetzt reicht es! – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Michael Brand [CDU/CSU]: Setzen Sie sich Das war ja unglaublich!) hin! Disqualifiziert!) aber nicht so sehr für die Auseinandersetzung, die wir in Präsident Dr. Norbert Lammert: dieser Frage hier eigentlich zu führen haben. Das Wort erhält nun der Kollege Manuel Sarrazin für (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne- ten der SPD) Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Kollege Friedrich, entschuldigen Sie Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) (CDU/CSU): Lieber Herr Ernst, an dem, was Sie hier sagen, wird bitte – ich respektiere Sie durchaus –, aber das gerade deutlich, dass Sie ein Radikaler sind. war eher eine persönliche Transitzone, die Sie hier auf dem Weg nach irgendwohin abgeliefert haben. (Lachen bei der LINKEN und dem BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ten der SPD) und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten Sie sind ein Radikaler. Es ist unglaublich, dass Sie mir der SPD) unterstellen, dass ich wollte, dass an Grenzen geschossen Ich möchte Ihnen gerne einen Satz entgegenhalten, den wird. Das ist unsäglich. Nehmen Sie das bitte zurück! der ehemalige CDU-Sozialminister aus Nordrhein-West- Das, was jeder Staat, was jedes Staatsgebilde ganz selbst- falen, Konrad Grundmann, gesagt hat. Er hat in Bezug verständlich für sich in Anspruch nehmen kann, verlange ich auch für Europa; und wenn Europa dazu nicht in der auf den Karneval – Ihre Rede hat mich gerade daran er- Lage ist, verlange ich das für unser Land, innert –, (Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Wie zwischen (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Ma- den USA und Mexiko? Soll es so aussehen?) chen Sie nicht den Karneval so schlecht!) 12574 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015

Manuel Sarrazin (A) einmal gesagt, man solle das Unglück der Vertriebenen Nichts wird einfacher zu lösen sein, wenn man ein- (C) und Flüchtlinge nicht zum Gegenstand von Büttenreden zelne Staaten hinausdrängt oder einen Kahlschlag bei machen. den Werten zulässt, wie man ihn bei Herrn Cameron zum (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Teil vermuten kann. Auch dafür wird Ihr Einsatz auf dem und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten Europäischen Rat gebraucht. Lassen Sie nicht länger die der SPD) ökonomische Herausforderung der Euro-Krise hinten he- runterfallen. Wir müssen auch hier entschlossen voran- Jetzt frage ich mich: Warum klatschen Sie nicht mit – gehen. Nur ein starkes Europa, das zusammenhält, wird denn Ihre Partei hat doch die Leistung vollbracht, Ver- triebene und Flüchtlinge in dieses Land zu integrieren –, in der Lage sein, die Herausforderungen zu bewältigen. statt zu sagen: „Das Boot ist voll; wir haben keinen Platz Danke sehr. mehr“? Es ist doch auch Ihre Geschichte, die Sie hier er- wähnen könnten, auch und gerade in Bayern, und auch (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN als CSU! sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) Präsident Dr. Norbert Lammert: Ich erteile nun dem Kollegen Gunther Krichbaum für Ich glaube, Sie müssen der Größe der Herausforde- die CDU/CSU das Wort. rung gerecht werden. Dieses Niveau der Debatte wird es nicht. Denn wir müssen erkennen: Selbst wenn wir ver- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) suchen würden, uns vollständig abzuschotten, sogar be- wusst um den Preis, dass Menschen an unseren Grenzen Gunther Krichbaum (CDU/CSU): zu Schaden kommen könnten, wäre damit niemandem gedient: den betroffenen Menschen sowieso nicht – sie Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es würden trotzdem Mittel und Wege suchen und finden, zu gibt Herausforderungen, für die jeder Mitgliedstaat der uns zu gelangen – und auch uns selbst in Europa nicht. Europäischen Union zu klein ist – und sei er auch noch Denn Abschottung und Abriegelung im Zeitalter des so groß, wie beispielsweise die Bundesrepublik Deutsch- Internets sind eine Illusion, Herr Friedrich. Und jetzt land. Genau dann muss die Antwort natürlich eine euro- klatschen Sie! Das ist nämlich etwas, was Ihre Kanzle- päische sein. rin letzte Woche im Europäischen Parlament gesagt hat. Das gilt vor allem für die Bewältigung der gegenwär- Aber bei Ihnen rührt sich keine Hand. Keine Hand rührt (B) sich bei Ihnen dazu! tigen Flüchtlingsströme. Es ist richtig, dass wir sagen: (D) „Wir schaffen das“, aber richtig ist auch, dass wir vor (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN allem die europäischen Partner noch stärker in die Pflicht und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten nehmen und ihnen sagen müssen: Wir schaffen es nicht der SPD) alleine. Kanzlerin Merkel hat letzte Woche dargelegt, dass Anfänge sind gemacht. Auch wenn sich beispielswei- Europa seine Rolle in der Welt nur behalten kann, wenn es bei dieser historischen Herausforderung zu seinen se der britische Premierminister anfangs noch weigerte, Werten steht. Die Werte der Europäischen Union sind syrische Flüchtlinge aufzunehmen, so lenkte er später christlich, humanistisch, jüdisch, und ganz oben steht der ein – zugegebenermaßen auf noch viel zu niedrigem Ni- Wert der Nächstenliebe. Dass ich das den Parteien mit veau. Auf dem JI-Rat gelang es dann erstmals, eine Ver- dem „C“ hier erklären muss – Ihre Kanzlerin schafft das teilungsquote festzulegen. Mein persönlicher Dank gilt anscheinend schon nicht –, ist eine Schande; das muss hier ganz besonders auch Ihnen, Herr Innenminister de ich wirklich sagen. Maizière. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Was wir aber keinesfalls akzeptieren können, ist die und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten Totalverweigerung einiger Staaten, wie beispielsweise, der SPD) um sie namentlich zu nennen, der Slowakei. Deren so- Ich möchte noch eines sagen, Frau Merkel. Wir haben zialistischer Ministerpräsident Fico sagt auch noch gera- in Europa die Angewohnheit, immer die aktuelle Krise dezu pharisäisch, er würde Flüchtlinge aufnehmen, aber nach ganz oben zu stellen; das haben auch Sie angespro- nur, wenn es Christen seien. Man sollte ihm womöglich chen. Europa wird der Herausforderung, die die Geflüch- einmal ein Exemplar der Europäischen Menschenrechts- teten mit sich bringen, und den Anstrengungen, die von konvention, aber ganz bestimmt eines des Neuen Testa- uns gefordert werden, auch im Hinblick auf die Stabilität ments zuschicken; in unserer Nachbarschaft, nur dann gerecht werden kön- nen, wenn wir auch die Reformen, die wir zu Hause ma- (Beifall der Abg. Claudia Roth (Augsburg) chen müssen, entschlossen angehen, die Wirtschafts- und [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Währungsunion geschlossen vertiefen, für starke europä- denn darin heißt es: ische Institutionen sorgen, dabei auch die Demokratiefra- ge stellen und nicht zulassen, dass sich neue Spaltpilze in Was du einem meiner geringsten Brüder getan hast, Europa entwickeln. das hast du mir getan. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 12575

Gunther Krichbaum (A) Das ist Solidarität, Nächstenliebe und Humanität, wie scherweise auf ein niedrigeres Niveau als gegenwärtig (C) sie niemand anderes als Jesus Christus selbst vorgelebt kommen. An dieser Stelle, Herr Dr. Strengmann-Kuhn, hat. ist mit Blick auf die Entscheidung des Bundesverfas- (Beifall des Abg. Heinz Wiese (Ehingen) sungsgerichts aus dem Jahr 2012 das letzte Wort mit [CDU/CSU]) Sicherheit noch nicht gesprochen; denn der Kontext ist jetzt ein anderer. Er hat die Menschen bestimmt nicht nach ihrer Religi- onszugehörigkeit gefragt, bevor er geholfen hat. Deswe- (Zuruf des Abg. Dr. Wolfgang Strengmann- gen darf dieses Denken – namentlich das Denken von Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Herrn Fico – wirklich als bizarr bezeichnet werden. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Zuruf des Abg. Dr. Wolfgang Strengmann- der Abg. Claudia Roth (Augsburg) [BÜND- Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) NIS 90/DIE GRÜNEN] – Axel Schäfer (Bo- – Stellen Sie bitte eine Zwischenfrage! Ansonsten geht chum) [SPD]: Herrn Orbán nicht zu verges- das von meiner Redezeit ab. – Die Flüchtlinge werden sen!) auch in Rumänien, in Bulgarien und anderen Ländern der Die Europäische Union ist eine Solidargemeinschaft. Europäischen Union in Sicherheit leben können. Es geht Wir erleben hier jedoch eine Entsolidarisierung innerhalb darum, hier eine Lösung zu finden. Wir brauchen eine der Europäischen Union, aber eben auch gegenüber den echte Vergemeinschaftung. Von diesem Ziel sind wir ge- in Not geratenen Menschen. Das ist nicht akzeptabel, und genwärtig noch weit entfernt. das dürfen wir diesen Staaten auch nicht durchgehen las- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) sen. Frau Bundeskanzlerin, ich glaube, es gibt niemanden (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) in diesem Hause, der Sie im Hinblick auf den bevorste- Hier wünsche ich mir in der Tat einen noch stärkeren henden Europäischen Rat heute Abend beneidet. Gerade Druck der Europäischen Kommission; denn der Um- deshalb wünschen wir Ihnen allen eine glückliche Hand. gang mit der gegenwärtigen Krise ist gewissermaßen der Vielen Dank. humanitäre Lackmustest für die gesamte Europäische Union. Wir sind kein Wirtschaftsklub, wir sind eine Wer- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- teunion. ordneten der SPD) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (B) der SPD) Vizepräsident : (D) Als nächstem Redner erteile ich dem Abgeordneten Gerade vor diesem Hintergrund war das Handeln un- Thorsten Frei, CDU/CSU-Fraktion, das Wort. serer Bundeskanzlerin Angela Merkel in der Nacht vom 4. auf den 5. September 2015 die einzig richtige Vorge- (Beifall bei der CDU/CSU) hensweise. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Thorsten Frei (CDU/CSU): der SPD) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei aller Notwendigkeit für die innenpolitischen Weichen- Es war ein Freitagabend, an dem der österreichische Bundeskanzler Werner Faymann anrief und die dramati- stellungen hin zu besseren Systemen, schnelleren Ver- sche Lage schilderte. Es gibt sicherlich Momente, in de- fahren und geringeren Anreizen ist uns allen klar, dass nen Entscheidungen gefragt sind und keine Arbeitskreise die Migrationswelle nach Europa angesichts ihrer Größe, oder Zirkel, die man vorher einrichten könnte. Deswegen Komplexität und auch Dynamik letztlich nur in einem war es wichtig, die Flüchtlinge, die ja bereits in der Eu- gesamteuropäischen und internationalen Ansatz zu be- ropäischen Union waren, an der Grenze hereinzulassen. wältigen ist. Deshalb ist es umso enttäuschender, dass Diese Entscheidung war mutig und verdient Respekt. Sie diese Aufgabe nicht von allen europäischen Ländern als ist gerade der Beweis für die Humanität und die Werte, das angenommen wird, was sie ist, nämlich als eine echte für die wir in dieser Europäischen Union insgesamt ste- Herausforderung und Bewährungsprobe für die Glaub- hen, und hat eine Eskalation vermieden. würdigkeit und Zukunftsfähigkeit der Europäischen Uni- on. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich möchte auch darauf eingehen, was Herr Oppermann Das hat zwei wesentliche Gründe. Zum einen ist es so, vorhin über die Europäisierung des Asylrechts gesagt dass sich durch die sozialen und ökonomischen Anreize, hat. Ja, das ist richtig, aber leider auch leichter gesagt die wir in Deutschland setzen, eine Sogwirkung auf die als getan; denn das hat auch Auswirkungen auf uns. Be- Menschen in ihren Ländern entwickelt. Darauf antwor- dingt durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungs- ten wir unter anderem mit dem Asylverfahrensbeschleu- gerichts haben wir mit das höchste Leistungsniveau in nigungsgesetz. Zum anderen ist es eben so, dass sich 21 Europa. Deswegen brauchen wir in der Tat Vereinheitli- von 28 Mitgliedstaaten der Europäischen Union derzeit chungen, um Fehlanreize auszuschließen. Das heißt, wir darin gefallen, diese epochale Entwicklung als Zaungäste müssen eine Anpassung vornehmen, durch die wir logi- zu verfolgen, statt ihre Verantwortung wahrzunehmen. 12576 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015

Thorsten Frei (A) Es ist nicht akzeptabel, wenn täglich 9 000 oder sondern allein in diesem Jahr schon mehr als eine halbe (C) 10 000 Menschen nach Deutschland kommen, wenn Million Menschen. Deutschland in einer Woche so viele Asylbewerber auf- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) nimmt wie Frankreich im ganzen Jahr und wenn deutlich mehr als die Hälfte der Menschen, die in die 28 Staaten Es sind auch ideologische Gründe, die diese Regierung der Europäischen Union kommen, ihren Asylantrag in davon abhalten, Außengrenzen wirkungsvoll zu sichern. Deutschland stellen. Deshalb erwarten wir, dass von die- Ich glaube, es ist keine unzulässige Verknüpfung von sem Gipfel in Brüssel das Signal ausgeht, dass alle Län- Sachverhalten, wenn ich sage: Solidarität bei der Bewäl- der der Europäischen Union bereit sind, ihren Teil der tigung der Staatsschuldenkrise in Griechenland ist keine Verantwortung entsprechend ihrer Größe und Leistungs- Einbahnstraße. Man darf schon erwarten, dass die einge- fähigkeit zu tragen. gangenen Verpflichtungen auch eingehalten werden. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Die Frau Bundeskanzlerin hat in ihrer Regierungser- Vizepräsident Peter Hintze: klärung darauf hingewiesen, dass wir dieser Herausfor- Herr Kollege. derung letztlich nur gerecht werden können, wenn es uns gelingt, an den Fluchtursachen in den Herkunftsländern anzusetzen. Es ist klar, dass die Herausforderungen sehr Thorsten Frei (CDU/CSU): differenziert sind, und zwar bei jedem betroffenen Land. Herr Präsident, ich komme zum Ende. Darauf braucht es individuelle Antworten. Aber richtig ist eben auch, dass man dieser Herausforderung nur gerecht Vizepräsident Peter Hintze: werden kann, wenn man alle Aspekte der Außen- und Si- Sie hätten schon längst zum Ende kommen müssen. cherheitspolitik, der Entwicklungspolitik, aber auch der Das ist das Problem. Klima- und Umweltschutzpolitik zusammenfasst und ein Thorsten Frei (CDU/CSU): Gesamtbild zur Lösung zeichnet. Herr Präsident, ich verspreche es Ihnen. – Wir müs- Das alles wird Zeit kosten – Zeit, die wir nicht haben, sen mehr außenpolitische Verantwortung übernehmen. Zeit, die insbesondere die Städte und Gemeinden nicht Das wird Geld kosten; das müssen wir in der öffentli- haben, die die Flüchtlingskrise operativ zu meistern ha- chen Debatte deutlich machen. Ich glaube, dann werden ben. Wir brauchen schnellere Antworten, um die Flücht- die Menschen auch mehr Verständnis dafür haben, dass lingsströme einzudämmen. Dazu gehört die Sicherung wir diesen internationalen Einsatz als Teil der Lösung der (B) der Außengrenzen; darauf ist in dieser Debatte bereits Probleme in Europa brauchen. (D) eingegangen worden. Es geht hier um mehr als nur um Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit und Ihre die Bewältigung der Flüchtlingskrise. Wer nicht in der Geduld, Herr Präsident. Lage ist, die Grenzen zu sichern, der legt Hand an die Freizügigkeit in Europa. Das wollen wir nicht. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ordneten der SPD) (Beifall der Abg. Barbara Lanzinger [CDU/ CSU]) Vizepräsident Peter Hintze: Deshalb müssen die Außengrenzen der Europäischen Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie- Union wirkungsvoll geschützt werden. Darum geht es, ßungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksa- meine sehr verehrten Damen und Herren. che 18/6335. Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke? – Wer stimmt dagegen? – Wer (Beifall bei der CDU/CSU) enthält sich? – Der Antrag ist abgelehnt mit den Stim- men der CDU/CSU-Fraktion und der SPD-Fraktion bei Es geht darum, dass wir es schaffen, in der Region stärker Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und Zu- mit einer Stimme zu sprechen. Das gilt für die Gespräche stimmung der Fraktion Die Linke. mit der Türkei, die notwendig sind, um die Sicherung der Außengrenzen zu erreichen. Es geht aber auch darum, Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 5 a bis 5 e auf: dass die europäischen Länder bereit und in der Lage sind, a) – Zweite und dritte Beratung des von den Frak- die Sicherung der Außengrenzen zu erreichen. tionen der CDU/CSU und SPD eingebrachten Ich will an dieser Stelle ganz deutlich sagen: Aus mei- Entwurfs eines Asylverfahrensbeschleuni- ner Sicht mangelt es manchen Ländern – ich nenne in gungsgesetzes diesem Zusammenhang Griechenland – nicht nur an den Drucksache 18/6185 Möglichkeiten, sondern auch am Willen, die Außengren- zen zu schützen. Beschlussempfehlung und Bericht des Innen- ausschusses (4. Ausschuss) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Drucksache 18/6386 Denn es ist auffällig, dass nicht mehr, wie es bis Ende des Jahres 2014 vor der Übernahme der Regierung durch – Bericht des Haushaltsausschusses (8. Aus- schuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung Tsipras gelungen ist, nur wenige Zehntausend über die östliche Mittelmeerroute nach Europa gekommen sind, Drucksache 18/6387 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 12577

Vizepräsident Peter Hintze (A) b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- – zu dem Antrag der Abgeordneten Beate Walter- (C) richts des Innenausschusses (4. Ausschuss) Rosenheimer, Luise Amtsberg, Dr. Franziska – zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke, Brantner, weiterer Abgeordneter und der Frak- Jan Korte, Sigrid Hupach, weiterer Abgeord- tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN neter und der Fraktion DIE LINKE Das Kindeswohl bei der Versorgung unbe- Flüchtlinge willkommen heißen – Für einen gleiteter minderjähriger Flüchtlinge absi- grundlegenden Wandel in der Asylpolitik chern – zu dem Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke, Drucksachen 18/4185, 18/5932, 18/6392 Jan Korte, Sabine Zimmermann (Zwickau), Zu dem Entwurf eines Asylverfahrensbeschleuni- weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE gungsgesetzes liegt ein Entschließungsantrag der Frak- LINKE tion Bündnis 90/Die Grünen vor. Zu diesem Gesetzent- Alle Flüchtlinge willkommen heißen – Ge- wurf werden wir später fünf namentliche Abstimmungen gen eine Politik der Ausgrenzung und Dis- durchführen. kriminierung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für – zu dem Antrag der Abgeordneten Luise die Aussprache 77 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei- Amtsberg, Ekin Deligöz, Britta Haßelmann, nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ich eröffne die Aussprache. Als erstem Redner erteile ich Bundesminister Dr. Thomas de Maizière für die Bun- Für eine faire finanzielle Verantwor- desregierung das Wort. tungsteilung bei der Aufnahme und Versor- gung von Flüchtlingen (Beifall bei der CDU/CSU) Drucksachen 18/3839, 18/6190, 18/4694, Bundesminister des In- 18/6386 Dr. Thomas de Maizière, nern: c) Zweite und dritte Beratung des von der Bun- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und desregierung eingebrachten Entwurfs eines Ge- Kollegen! Mit dem heute vorliegenden Gesetzentwurf setzes zur schnelleren Entlastung der Länder treffen wir wichtige Entscheidungen für unser Land. Das und Kommunen bei der Aufnahme und Un- (B) ist die größte und umfassendste Änderung des Asylrechts (D) terbringung von Asylbewerbern (Entlastungs- seit Anfang der 90er-Jahre. beschleunigungsgesetz) Wir beschleunigen die Asylverfahren. Wir erklären Drucksache 18/6172 Albanien, Kosovo und Montenegro zu sicheren Her- Beschlussempfehlung und Bericht des Haus- kunftsländern. Wir wollen, dass in Deutschland aus- haltsausschusses (8. Ausschuss) sichtslose Asylanträge gar nicht erst gestellt werden. Wir Drucksache 18/6381 verpflichten die Flüchtlinge – nicht die Länder – zur Un- terbringung in der Erstaufnahmeeinrichtung; das entlas- d) Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- tet auch die Kommunen. Wir setzen auf eine konsequen- regierung eingebrachten Entwurfs eines Geset- te Rückführung der Menschen ohne Bleibeperspektive. zes zur Verbesserung der Unterbringung, Ver- Wer unser Land nach Ausschöpfung aller Rechtsmittel sorgung und Betreuung ausländischer Kinder verlassen muss, wer seinen Pass wegwirft, um einer Ab- und Jugendlicher schiebung zu entgehen, dem streichen wir die bisherigen Drucksachen 18/5921, 18/6289 Leistungen. Es gibt mehr Sachleistungen statt Bargeld. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist die eine Seite. Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- ses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Das Gesetzespaket hat aber auch eine andere Seite, (13. Ausschuss) und die ist genauso wichtig. Wir bekennen uns zur Auf- Drucksache 18/6392 nahme und Integration der schutzbedürftigen Flüchtlin- ge. Wir öffnen früher die Integrationskurse für Menschen e) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- mit Bleibeperspektive. Wir wollen, dass die, die blei- richts des Ausschusses für Familie, Senioren, ben – jedenfalls in den nächsten Jahren –, früher in Arbeit Frauen und Jugend (13. Ausschuss) kommen. Sprache und Arbeit sind die besten Mittel zur – zu dem Antrag der Abgeordneten Norbert Integration. Wir erleichtern und vereinfachen eine rasche Müller (Potsdam), Ulla Jelpke, Sigrid Hupach, und vernünftige Unterbringung. weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE Zu all dem kommen umfangreiche finanzielle Hilfen LINKE in Milliardenhöhe für Länder und Kommunen, auch für Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge mit den sozialen Wohnungsbau. Wir gehen also neue Wege, einer starken Jugendhilfe aufnehmen um dieser großen Herausforderung gerecht zu werden. 12578 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015

Bundesminister Dr. Thomas de Maizière (A) Das ist ein großes Paket und ein großer Schritt, und ich Straftaten, begangen von Flüchtlingen, zu erstellen. Die- (C) bedanke mich für die breite Zustimmung. ses Lagebild werden wir dann vorstellen. Es soll einer Legendenbildung in die eine oder andere Richtung ent- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- gegenwirken und mit Fakten Klarheit und Ehrlichkeit in ordneten der SPD) dieser Debatte herbeiführen. Die Regelungen betreffen viele einzelne Schicksale, unterschiedliche Schicksale. Sie betreffen zum Beispiel Ja, Frau Göring-Eckardt, ich habe das Verhalten man- einen jungen Mann aus Eritrea, der vor einer Diktatur cher Flüchtlinge – einer Minderheit – kritisiert und bin und dem Wehrdienst geflüchtet ist. Sie betreffen einen dafür kritisiert worden. Bitte schön. syrischen Akademiker mit Familie, und sie betreffen ei- (Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE nen älteren Mann aus , der weder lesen noch GRÜNEN]: Sie hätten mal sagen sollen, dass schreiben kann. Sie betreffen eine junge jesidische Frau, es eine Minderheit war und ein Einzelfall!) die so gerade eben vor dem Terror des „Islamischen Staa- tes“ geflüchtet ist. Sie betreffen auch einen Antragsteller Sie haben es jetzt wieder getan. Ich will gar nicht auf aus Albanien, der schon zum zweiten oder dritten Mal die Taxikosten eingehen, sondern auf einen ganz ande- einen Asylantrag stellt, weil er hier arbeiten möchte. Die ren Punkt, wo wir einen grundlegenden Meinungsunter- Maßnahmen betreffen also Menschen mit unterschied- schied haben. Wenn man das, was Sie sagen, nämlich lichen Biografien, unterschiedlichen Lebenswegen. Wir dass es verständlich ist, dass ein Flüchtling mit seiner werden mit diesem Gesetz vielen Menschen helfen kön- Familie kommen möchte, zu Ende denkt, kommt man nen, aber eben nicht jedem. Asyl- und Flüchtlingspolitik zu dem Schluss: Dahinter steckt der Anspruch, dass es heißt auch, unterschiedliche Schicksale unterschiedlich jedem Flüchtling in Deutschland das Recht gibt, sich sei- zu behandeln. nen Wohnsitz auszuwählen. Da bin ich anderer Meinung. (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. (Beifall bei der CDU/CSU – Claudia Roth Dr. Eva Högl [SPD]) (Augsburg) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Artikel 6! Familie! – Kai Gehring [BÜND- Meine Damen und Herren, die Maßnahmen dieses Ge- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Grundgesetz!) setzes betreffen uns alle, nicht nur die Flüchtlinge. Die ganze Flüchtlingskrise betrifft uns alle. Die Sorgen wer- Wenn der Asylantrag abgelehnt ist, muss der Betreffende den größer – Herr Oppermann hat das gesagt ; das dürfen unser Land verlassen. Wenn der Asylantrag angenom- wir auch aussprechen. Es sind auch unsere Sorgen. Es men wird, dann kann er bleiben. Aber in dieser Phase gibt keine Differenz zwischen Sorgen von Politikern und der Aufnahme müssen wir darauf bestehen, dass die Las- Sorgen der Bevölkerung. ten in Deutschland gleich verteilt werden und dass der (B) Flüchtling dahin geht, wohin er im Rahmen der Vertei- (D) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- lung geschickt wird – und nicht in den Ort seiner Wahl. ordneten der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU) Aber Aufgabe einer Regierung ist es, Sorgen nicht nur zu verstehen, sondern zu handeln und sie abzubauen. Das Realitäten zu verschweigen, hilft niemandem. Das tun wir unter anderem mit diesem Gesetzespaket. würde manchen Bürger eher in die Arme der Extremen treiben, als wenn solche Sorgen auch ausgesprochen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- werden. ordneten der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU) Die Zahl derer, die in diesem Jahr zu uns kommen, ist einfach zu hoch. Ich kenne niemanden, der das ernsthaft Ich kritisiere genauso und massiv die steigende An- bestreitet. zahl von Angriffen auf Asylbewerberunterkünfte und Straftaten im Zusammenhang mit diesen. Diese Entwick- (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE lung ist erschreckend und beschämend. Menschen, die GRÜNEN]: Frau Merkel!) Flüchtlinge hassen, hassen in Wahrheit auch unser Land, Wir arbeiten mit Hochdruck daran, diese Zahl zu ver- und Menschen, die Galgen zeigen, verlassen – neben der ringern – international, europäisch und national. Keine Tatsache, dass sie sich strafbar machen – jeden Boden für Maßnahme alleine ist geeignet, die Zahl der Flüchtlin- Dialog in unserem Land. ge zu begrenzen. Nur zusammen wirken sie. Auch un- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ser heute vorliegendes Gesetzespaket leistet dazu einen ordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/ wichtigen Beitrag. Herr Abgeordneter Sarrazin, die Al- DIE GRÜNEN) ternative ist nicht totale Abschottung oder totale Öff- nung. Es ist eine Frage des Maßes. Darauf kommt es an, Ich sehe jedenfalls meine Aufgabe als Innenminister dar- und daran arbeiten wir. in, jeder Art von Hass, Gewalt und Straftaten – wer auch immer sie begeht, und aus welchem Motiv sie auch im- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- mer erfolgen – entschieden entgegenzutreten. ordneten der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Meine Damen und Herren, ich habe den Präsidenten ordneten der SPD) des Bundeskriminalamts damit beauftragt, gemeinsam mit den Bundesländern erstmals ein Lagebild zur Kri- Das vorliegende Gesetzespaket ist eine Gemein- minalität in und um Aufnahmeeinrichtungen sowie über schaftsleistung, und zwar länderübergreifend. Ich glaube, Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 12579

Bundesminister Dr. Thomas de Maizière (A) wenn wir vor sechs Monaten oder sogar noch vor zwei Ich tue das selten, aber ich kann der Bundeskanzlerin (C) Monaten so etwas vorgeschlagen hätten, hätten wir si- hier nur recht geben. Asyl und Grundrechte kennen keine cherlich nicht eine solche Zustimmung bekommen. Ich Kontingente. Dafür haben Sie meine volle Zustimmung. sage das besonders mit Blick auf die Länder mit grüner (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Regierungsbeteiligung. Realität schafft Mehrheiten. Das neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE ist nun einmal so in der Politik, und das ist auch richtig GRÜNEN) so. Ich will aber auch sagen: Das ist kein revolutionärer Satz In den letzten Wochen werde ich fast jeden Tag ge- der Bundeskanzlerin. Das ist eigentlich eine humanis- fragt, wie hoch die Zahl der Flüchtlinge sein wird und tische Selbstverständlichkeit und nichts anderes als die ob es eine Obergrenze gibt. Ich glaube, eine Antwort Wiedergabe des Grundgesetzes. Das muss man so ein- auf diese Frage gibt es nicht. Das wird dieser Aufgabe nicht gerecht. Die Herausforderung zeigt ihren Umfang ordnen. erst auf dem gemeinsamen Weg. Jede neue Zahl würde (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- umgedeutet, um nach innen die Sorgen zu vergrößern NIS 90/DIE GRÜNEN) und um nach außen mehr Menschen in Kriegsgebieten vorzutäuschen, sie würden geradezu eingeladen nach Es ist schon bezeichnend, dass diese Selbstverständ- Deutschland, was natürlich nicht stimmt. Wir haben viel lichkeit in den Reihen der CSU zum völligen Austi- zu tun mit den Menschen, die zu uns kommen. Wir stel- cken führt. Ja, sie ticken völlig aus: Söder, Herrmann, len uns dieser Aufgabe mit großer humanitärer und admi- ­Seehofer. Es gibt kein Halten mehr. Ich will es deutlich nistrativer Verantwortung. Aber dass wir Menschen aus sagen – auch an die Adresse der Bundeskanzlerin –: In Krisengebieten geradezu einladen, nach Deutschland zu diesem Fall haben Sie die Unterstützung der Linken kommen, trifft einfach nicht zu. gegen die Extremisten in Ihren eigenen Reihen. Darauf können Sie sich voll und ganz verlassen. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Ja, es geht auch um Veränderung. Das Zusammenle- neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) ben mit so vielen Flüchtlingen einerseits und das Aus- halten harter Maßnahmen andererseits, das ist neu für Allerdings steht das vorangestellte Zitat in einem ek- die einen wie für die anderen. Die Flüchtlinge müssen latanten Widerspruch zu dem, was Sie – auch Sie, Frau unsere Gesetze und Gewohnheiten akzeptieren und ein- Bundeskanzlerin – heute vorlegen. Die Dauer der Unter- halten. Das mag für manche auch eine Veränderung be- bringung in einer Erstaufnahmeeinrichtung für geflüch- deuten. Aber das ist nötig. Es gibt nur einen zentralen tete Frauen, Kinder und Familien von drei auf sechs Mo- (B) Bereich, wo wir uns nicht verändern wollen und verän- nate verpflichtend zu erhöhen, ist inakzeptabel. Es sind (D) dern werden: bei der Achtung unseres Grundgesetzes, bei Menschen, und Menschen haben das Recht, menschen- der Wahrung unserer Grundwerte sowie bei Respekt und würdig untergebracht zu werden. Anstand im Zusammenleben. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- In diesem Sinne bitte ich um Zustimmung zu diesem neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Gesetzespaket. Es soll des Weiteren ein Zurück zu Sachleistungen ge- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ben. Das ist nicht nur viel teurer und bürokratischer. Das ordneten der SPD) entmündigt vielmehr Menschen. Wir dürfen nicht ver- gessen: Es geht um Menschen. Was Sie heute vorgelegt haben, ist daher inakzeptabel. Vizepräsident Peter Hintze: Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- ordneten Jan Korte, Fraktion Die Linke. neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der LINKEN) Ich will noch etwas erwähnen: Das Kosovo soll ein sicheres Herkunftsland sein. Darf ich kurz daran erin- nern, dass wir hier jedes Jahr einen Bundeswehreinsatz Jan Korte (DIE LINKE): im Kosovo beschließen sollen, weil es dort so unsicher Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! ist? Fällt Ihnen irgendetwas auf? Das ist doch unlogisch. Gleich zu Beginn – sicherlich zur Freude der CSU – ein Das ist Ideologie und nichts anderes. Das lehnen wir ab. Zitat der Bundeskanzlerin: (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- Das Grundrecht auf Asyl für politisch Verfolgte NIS 90/DIE GRÜNEN) kennt keine Obergrenze. Dann begehen Sie einen offenen Verstoß gegen ein (Claudia Roth (Augsburg) [BÜNDNIS 90/ klares Urteil des Bundesverfassungsgerichts mit Blick DIE GRÜNEN]: Da hat sie recht!) auf die Leistungskürzung. Das kann doch nicht sein. Es Das gilt auch für die Flüchtlinge, die aus der Hölle gibt ein aktuelles Urteil dazu, und Sie gehen einfach dar- eines Bürgerkriegs zu uns kommen. über hinweg. Auch das ist nicht zu akzeptieren und wird von uns klar abgelehnt. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- GRÜNEN) neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) 12580 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015

Jan Korte (A) Der Kollege Klaus Ernst hat hinsichtlich der Transit- desrepublik. Das ist die richtige Antwort, die wir geben (C) zonen eben wunderbar sachlich im Disput mit dem Kol- müssen. legen Friedrich argumentiert. Was ist das für ein Gerede? (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Wenn man das wirklich macht, dann schafft man Mas- neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) senhaftanstalten und dann macht es nach Ihrer Logik nur Sinn, wenn die Grenzen komplett geschlossen und neue Viertens. Egal ob Flüchtling oder Nichtflüchtling, Mauern gebaut werden. Das ist das Ende der europäi- natürlich brauchen wir eine Reregulierung des Arbeits- schen Idee, das Ende von Schengen. hält markts. Neu und gut für alle, ob für Inländer, Ausländer es nicht aus, was Sie mit Europa machen, um auch das oder Flüchtling, wäre ein Verbot der Leiharbeit – das einmal klar zu sagen. steht an –, wären ein vernünftiger Lohn und ein Min- destlohn von 10 Euro für alle, ohne jegliche Ausnahme. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Das wären die richtigen Antworten, die man jetzt geben neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) müsste. Ich will meine Kritik gerecht verteilen. Ich würde mir (Beifall bei der LINKEN) auch von der SPD und bei all diesen Fra- Ich will noch kurz etwas zum Flüchtlingssoli anmer- gen wenigstens einmal, in einem Punkt eine klare Hal- ken, den es angeblich geben müsse, wie es durch die Ga- tung wünschen. zetten geisterte, was im Zweifel von der CSU – ich weiß (Dr. Eva Högl [SPD]: Wir haben eine sehr es aber nicht – kam. Dazu will ich sagen: Wenn jemand klare Haltung!) einen Flüchtlingssoli zahlen sollte, dann ist das die deut- sche Rüstungsindustrie. Die sollte zahlen, und das Geld Sagen Sie, wo Sie in dieser Debatte stehen. Wo stehen sollte direkt an den UNHCR überwiesen werden. Das Sie eigentlich? wäre richtig. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Eine Anmerkung auch zu den Grünen. In Hessen und neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) in Baden-Württemberg – das waren die Schlüsselländer – Ich habe einige Punkte aufgezählt, die aufzeigen, was gab es die Chance, das Vorhaben der Koalition zu verhin- man kurzfristig machen könnte. Dazu gehört auch – das dern. Die wurde leider nicht ergriffen. Ich freue mich im ist kurzfristig machbar – ein Verbot von Rüstungsexpor- Übrigen, dass Thüringen und dem in dieser ten; das ist die richtige Antwort. Form am Freitag im Bundesrat nicht zustimmen werden. (Beifall bei der LINKEN) (B) (D) (Beifall bei der LINKEN) All das könnte man tun. Diese kleinen Punkte, die eine Ich will noch einmal die Bundeskanzlerin zitieren – soziale, weltoffene Modernisierung in diesem Land dar- das ist heute schon mehrfach geschehen –, und zwar ih- stellen könnten, würden übrigens dazu führen, dass am ren Satz: Wir schaffen das. – Die entscheidende Frage ist: Ende aus dem ganzen Krisengerede ein großer Aufbruch, Was wollen wir schaffen? Diese Frage müssen wir disku- sozial, demokratisch, weltoffen, entstehen könnte. An tieren und beantworten. Eigentlich bietet die Situation, dessen Ende könnte eine massive Steigerung der Lebens- in der wir jetzt sind, die große Chance für eine soziale, qualität durch eine angekurbelte Binnenkonjunktur und Solidarität stehen. Was wir jetzt brauchen, ist nicht das, weltoffene und demokratische Modernisierung der Bun- was Sie vorgelegt haben. Was wir jetzt brauchen, ist eine desrepublik, für eine Öffnung der Bundesrepublik und neue Ära der Solidarität, der Mitmenschlichkeit, eine für eine wirkliche Integrationspolitik. klare Haltung gegen Rassismus. Es gibt auch eine Gefahr Erstens. Die Kommunen waren vor der Ankunft der aus der Mitte. Flüchtlinge völlig unterfinanziert, sie sind es jetzt genau- Namens der Linken sage ich: Die Linke wird niemals so. Neu und gut für alle wäre es, in dieser Zeit endlich zulassen, dass die Schwachen gegen die Allerschwächs- die Finanzierung der Länder, des Bundes und der Kom- ten ausgespielt werden. Dagegen werden wir aufstehen. munen neu zu regeln, damit die Misere ein Ende hat. Das wäre gut für alle. Vielen Dank. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN)

Zweitens. Der soziale Wohnungsbau wurde vor der Vizepräsident Peter Hintze: Ankunft der Flüchtlinge kurz und klein frikassiert. In elf Als nächste Rednerin erteile ich das Wort der Abge- Jahren wurden 1 Million Sozialwohnungen abgebaut. ordneten Dr. Eva Högl, SPD-Fraktion. Neu und gut für alle wäre es, jetzt massiv in den sozialen Wohnungsbau zu investieren. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der LINKEN) Drittens. Es gäbe jetzt die große Chance, endlich das Dr. Eva Högl (SPD): Bildungssystem in diesem Land zu reformieren und mit Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen dieser Kleinstaaterei Schluss zu machen. Neu und gut und Kollegen! 25 Jahre nach der deutschen Einheit und für alle wäre ein Topbildungssystem in der ganzen Bun- 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 12581

Dr. Eva Högl (A) Deutschland für Menschen aus allen Teilen der Welt ein schnell unsere Sprache lernen, dass sie ihre Qualifikati- (C) Land der Hoffnung, des Friedens, des Schutzes und der onen verbessern, dass sie einen Arbeitsplatz finden, dass Sicherheit, und darauf können wir sehr stolz sein. sie eine Ausbildung machen und eine Wohnung bekom- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten men, dass sie sich mit unseren Werten und unserer Kultur der CDU/CSU) vertraut machen und dass wir gemeinsam mit ihnen das Zusammenleben in unserer Gesellschaft gestalten. Damit Diesen Gedanken hat dieser Tage for- investieren wir in die betroffenen Menschen, aber auch in muliert. Ich finde, er hat recht. Ungefähr bis zu 10 000 unsere gesamte Gesellschaft. Das ist wichtig. Menschen kommen jeden Tag nach Deutschland. Sie flie- hen vor Krieg, vor Terror, vor Verfolgung, vor Not und (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Elend. Ich sage es in dieser Debatte ganz deutlich: Wir der CDU/CSU) helfen Menschen in Not. Wir geben ihnen Schutz, und Ein weiterer Aspekt ist ebenfalls ganz wichtig: Wir wir geben ihnen Sicherheit. machen Politik für alle Menschen hier in Deutschland (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten und in Europa. Wir denken bei unserer Politik für Woh- der CDU/CSU) nungsbau und Integration, für Arbeitsmarkt und Aus- bildung auch an alle anderen: an die Rentnerinnen und Deutschland ist ein starkes Land. Wir sind weltoffen. Rentner, an die Obdachlosen, an die Familien, an die Al- Wir sind reich. Wir heißen die Menschen hier willkom- leinerziehenden und an Arbeitslose. men, und wir sind hilfsbereit. Außerdem ist unser Arbeits- markt in einer guten Verfassung. Hinzu kommt – auch (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Was das gehört in diese Debatte –, dass wir Einwanderung schlagt ihr denn vor?) brauchen. Deswegen sage ich ganz klar: Ja, wir schaffen Wir machen Politik für alle, und das ist ganz entschei- das. Trotzdem müssen wir sehr klar und deutlich die Fra- ge beantworten: Was schaffen wir, wie schaffen wir das, dend. Diese Botschaft geht auch von diesem Asylpaket und wer schafft das? Damit wir das schaffen, brauchen aus. wir einen handlungsfähigen Staat. Deshalb ist das Asyl- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten paket, das wir heute hier beraten und hoffentlich auch der CDU/CSU) verabschieden, ein richtiger und wichtiger Beitrag. Natürlich wissen wir: Wir müssen, wenn wir helfen (Beifall bei Abgeordneten der SPD) wollen, auch helfen können. Das heißt, dass dauerhaft In diesem Asylpaket steckt eine ganze Reihe von nicht 10 000 Menschen jeden Tag nach Deutschland Maßnahmen, die dazu beitragen, dass wir die Menschen, kommen können. Deshalb sind wir uns im Deutschen (B) die zu uns kommen, schnell registrieren, gut unterbrin- Bundestag einig, dass wir die Zuflucht begrenzen müs- (D) gen und menschenwürdig versorgen, dass wir die Verfah- sen. ren kurz und stramm führen und dass wir die Menschen, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) die hier keine Perspektive haben, die hier keinen Schutz bekommen können, wirksam zurückführen. Auch das Aber wir antworten darauf nicht damit, dass wir die gehört dazu, auch das gehört in dieses Paket. Alle ande- Grenzen schließen, wir senken nicht unsere Standards für ren, die die Perspektive haben, in unserer Gesellschaft die Menschen, die zu uns kommen, und wir antworten bleiben zu können, sollen eine Zukunft in Deutschland auch nicht mit Abschreckung, bekommen. (Beifall bei der SPD) Ich möchte zwei Punkte aus diesem Paket herauspi- sondern wir antworten mit menschenwürdiger Politik. cken, die besonders wichtig sind. Der eine Punkt betrifft Wir wollen die Fluchtursachen bekämpfen. Dazu ist heu- das Thema „Verfahren verkürzen“. Es ist absolut men- te Morgen schon viel gesagt worden, was ich nicht wie- schenunwürdig, dass die Personen, die jetzt hierherkom- men – sie kommen in großer Zahl –, monatelang darauf derholen möchte. warten müssen, dass sie registriert werden, dass sie ihr Aber ich möchte noch etwas sagen, was ich für ganz Anliegen vortragen können, dass sie überhaupt einen entscheidend halte: Es geht um Europa. Meiner Meinung Antrag stellen können, und dann monatelang oder sogar nach ist das Thema „Flüchtlinge und Zuwanderung“ eine jahrelang darauf warten, dass eine Entscheidung getrof- Bewährungsprobe für Europa. Ich will es ganz deutlich fen wird. Deswegen müssen wir die Verfahren verkürzen. sagen: Schengen ist wichtiger als der Euro. Wenn wir (Beifall bei der SPD) die zentrale Errungenschaft Europas nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, nämlich die offenen Grenzen und Es ist richtig, dass die Menschen so lange in den Erst- die Freizügigkeit, das, was Europa für die Bürgerinnen aufnahmeeinrichtungen bleiben, bis die Verfahren abge- und Bürger ausmacht, preisgeben, nur weil wir nicht in schlossen sind. Das ist ein wichtiger und richtiger Bei- der Lage sind, eine gute und vernünftige Flüchtlingspoli- trag zur Verkürzung der Verfahren. tik zu machen, dann wäre das wirklich ein Skandal. Zweiter Punkt. In dem Asylpaket steckt ganz viel zum (Beifall bei der SPD) Thema Integration. Auch das ist ein ganz wichtiger Bau- stein. Viele der Menschen, die zu uns gekommen sind Deswegen muss unser Engagement in Richtung Europa und noch kommen, werden länger oder auch für immer gehen. Das ist eine gemeinsame Aufgabe in Europa. Wir bei uns bleiben. Deswegen ist es so wichtig, dass sie brauchen gleiche Standards, einheitliche Verfahren, eine 12582 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015

Dr. Eva Högl (A) gerechte Verteilung, eine solidarische Finanzierung, und, und es verhindert die Integration, die wir doch gerade (C) ja, wir brauchen auch besser gesicherte Außengrenzen. wollen. Wir sagen Nein zu immer weiteren Anspruchs­ einschränkungen im Asylbewerberleistungsgesetz; da Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist das verweise ich auf die klare Rechtsprechung des Bundes- Asylpaket richtig und wichtig. Ich bitte darum, dem heu- verfassungsgerichts. Herr de Maizière, gerade haben Sie te zuzustimmen und es so zu verabschieden. Es ist ein von der Achtung gegenüber dem Grundgesetz gespro- wichtiger Schritt, wenn auch nicht der letzte; es bleibt chen. Das gilt auch für Sie. noch viel zu tun. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wir stehen vor einer großen Herausforderung. Das ist sowie bei Abgeordneten der LINKEN) ein tolles Wort, ich weiß, aber ich meine es ganz ernst. Wir kapitulieren nicht davor, sondern gehen diese Her- Wir lehnen eine immense Bürokratisierung durch Sach- ausforderung engagiert und beherzt im Sinne der Men- leistungen ab, die Flüchtlingen und den Helferinnen und schen an, die zu uns kommen und hier Schutz suchen. Helfern das Leben zusätzlich erschwert und immense Herzlichen Dank. Kosten erzeugt. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Vizepräsident Peter Hintze: Das alles sind bürokratische Placebos, die uns in der der- Als nächstem Redner erteile ich dem Abgeordneten zeitigen Situation einfach nicht weiterhelfen. Dr. Konstantin von Notz, Bündnis 90/Die Grünen, das In Abwägung der positiven und der negativen Argu- Wort. mente werden wir uns heute bei dem von Ihnen vorgeleg- ten Gesamtpaket enthalten. Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Tatsächlich effektive Maßnahmen liegen aber längst NEN): auf dem Tisch: Anerkennung und Rechtssicherheit für Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! die Asylsuchenden, die seit Jahren bei uns leben; Meine sehr verehrten Damen und Herren! Derzeit er- reichen Deutschland mehr Flüchtlinge als jemals zuvor (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Sie kommen die überfällige Abschaffung der Vorrangprüfung, die aus- zweifellos aus sehr unterschiedlichen Gründen, aber die gerechnet von der SPD verhindert wurde, Frau Högl – überwältigende Mehrheit von ihnen kommt nach drama- herzlichen Glückwunsch! –; tischer Flucht und in größter Not. In dieser Zeit gibt es (B) in Deutschland Zehntausende von Menschen, die nicht unbürokratische Anerkennung derjenigen aus Staaten mit (D) lange fragen, was dieses Land, sondern was sie selbst hohen Anerkennungsraten; entschlossene Maßnahmen für Flüchtlinge tun können. Hauptamtliche und Ehren- für Integration, vor allen Dingen eine Bildungsoffensive. amtliche, Junge und Alte, sie alle leisten vorbildliche und All das schlagen wir seit langem und heute erneut vor, großartige Arbeit, oftmals bis an den Rand der Erschöp- und all das ignorieren Sie noch immer. Das ist einfach zu fung. Diesen Menschen gebührt zunächst einmal unser wenig, meine Damen und Herren. aller Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall im ganzen Hause) Statt Entschlossenheit und Geschlossenheit in der Jetzt erwartet man zu Recht Antworten von uns, aus CDU/CSU-Fraktion Meuterei auf der Bounty . Aus Krei- dem Deutschen Bundestag. Wir sehen in dem heute vor- sen ausgerechnet der Fachpolitiker der Union wurde liegenden Paket zwar durchaus gute Instrumente, aber offen mit – ich zitiere – „Regierungsabwahl“ gedroht. leider auch zahlreiche schlechte, verfassungsrechtlich Regierungsabwahl! Man muss es sich einmal vorstel- problematische und vielfach einfach untaugliche. len! Diese Drohung soll offensichtlich von Ihren eigenen massiven Versäumnissen ablenken. Wir sagen Ja zu einer strukturellen und dauerhaften finanziellen Entlastung der Länder und Kommunen. Wir (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sagen Ja zu überfälligen Verbesserungen im Asylrecht, CSU und CDU tragen seit zehn Jahren die Verantwor- dazu, 16- und 17-Jährige endlich nicht einfach wie Er- tung für die Innen- und auch für die Flüchtlingspolitik wachsene zu behandeln. Wir sagen Ja zu einem einfa- in diesem Land. Um dies zu kaschieren und um ein drin- cheren Planungsrecht, das hoffentlich möglichst viele gend erforderliches Einwanderungsgesetz zu verhindern, Flüchtlinge vor dem kommenden Winter aus den Zelten riskieren Sie lieber das politische Ende Ihrer eigenen holt. Bundeskanzlerin. Das ist ein Skandal, meine Damen und Aber wir sagen Nein zu dem nutzlosen und verfas- Herren. sungsrechtlich problematischen Konstrukt der sicheren (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Herkunftsstaaten. Volker Kauder [CDU/CSU]: Ein Kalauer! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Kein Skandal!) sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Früher hieß konservativ sein: auch Verantwortung Wir sagen Nein dazu, Asylsuchende länger in Erstauf- übernehmen in schwierigen Zeiten. – Heute haben wir ei- nahmeeinrichtungen festzusetzen; das ist unpraktikabel, nen Innenminister, der ohne irgendeine Faktenbasis über Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 12583

Dr. Konstantin von Notz (A) taxifahrende Flüchtlinge schwadroniert, um allen Ernstes Wir brauchen Geschlossenheit und Mut. Wir brauchen (C) den Eindruck zu erwecken, Herr de Maizière, er habe mit ein klares Ja zur Einwanderungsgesellschaft und zur der katastrophal schlechten Ausstattung des BAMF, mit Integration. Wir können das schaffen. Wir können das der unakzeptabel langen Verfahrensdauer und mit dem schaffen, aber nur, wenn alle, die es schaffen wollen, an ganzen Chaos der letzten Monate nichts zu tun. Das ist einem Strang ziehen. absurd. Das ist peinlich, Herr de Maizière. Man kann nur Ganz herzlichen Dank. hoffen, dass der Chef des Bundeskanzleramts es besser und sachbezogener angeht als Sie. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Vizepräsident Peter Hintze: Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abge- Und ? Der macht seit Wochen die un- ordneten Nina Warken, CDU/CSU-Fraktion. sozialen, unchristlichen, antieuropäischen Positionen der „neuen Rechten“ hoffähig. Ich sage Ihnen: Das wird Ih- (Beifall bei der CDU/CSU) nen noch leidtun, meine Damen und Herren. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Nina Warken (CDU/CSU): sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Volker Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lie- Kauder [CDU/CSU]: Das glaube ich nicht!) ber Kollege von Notz, ganz klar ist mir nicht geworden, wie wir es eurer Ansicht nach schaffen wollen, wenn die Nun will er – Herr Seehofer – die eigene Bundesregie- grüne Fraktion sich enthält. rung verklagen – vor dem Bundesverfassungsgericht. Das ist nur noch grotesk, meine Damen und Herren. Un- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- fassbar! ordneten der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Seit vielen Wochen und Monaten diskutieren wir sowie bei Abgeordneten der SPD und der über das Thema Flüchtlinge. Gemeinsam haben wir be- LINKEN) reits zahlreiche Reformen auf den Weg gebracht, um die stark gestiegenen Flüchtlingszahlen und die damit ver- Ich möchte der Bundeskanzlerin an dieser Stelle sa- bundenen Herausforderungen zu bewältigen. Vieles hat gen: Ich habe, auch im Sinne meiner Partei und Fraktion, sich verändert. Wir sprechen heute von einer der größten vieler Leute dort, durchaus Respekt für Ihre bisherige Flüchtlingskrisen seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Haltung in der Flüchtlingsfrage. Aber wer solche Koaliti- Doch eines hat sich nicht geändert: unsere feste Über- (B) onspartner hat, der muss sich fragen, ob er für die größte zeugung, dass unser Asylsystem nur funktionieren kann, (D) Herausforderung unserer Geschichte seit der Wiederver- wenn die geltenden Regeln von allen Beteiligten einge- einigung tatsächlich gewappnet ist. halten werden. (Rüdiger Veit [SPD]: Wir sind auch noch da! – (Beifall bei der CDU/CSU) Gegenruf der Abg. Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mal rechts Mehr denn je stellt sich heute im Angesicht der nicht und mal links!) nachlassenden Flüchtlingsströme nach Deutschland die Frage: Was ist ein gerechtes Asylsystem? Je nachdem, Wenn 24 Stunden nach der Regierungsabwahldrohung wohin man in diesem Hohen Haus schaut, wird es ver- von Herrn Uhl die irrsinnige Forderung, die Türkei ernst- schiedene Antworten darauf geben. Ich möchte mich da- haft zu einem sicheren Herkunftsstaat zu machen, über- her auf vier Kernpunkte konzentrieren, die wir wohl fast nommen wird, dann erweckt das schlicht den Eindruck alle teilen. der Erpressbarkeit, Herr Kauder. Ein Asylsystem ist dann gerecht, wenn es denjenigen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Schutz bietet, die vor politischer Verfolgung, Krieg, Plün- sowie bei Abgeordneten der LINKEN – derung und Vergewaltigung aus ihrer Heimat fliehen. Volker Kauder [CDU/CSU]: Wenn man etwas freiwillig macht, ist man nicht erpresst!) Ein Asylsystem ist dann gerecht, wenn es seine Kapa- zitäten für diejenigen zur Verfügung stellt, die den Schutz Wenn die Autorität erodiert wie am Dienstag in der wirklich benötigen. Sitzung Ihrer Bundestagsfraktion, wenn in der Partei Es ist gerecht, wenn es verlässlich und anerkannt ist: Putsch in der Luft liegt wie gestern Abend offenbar in verlässlich für unsere internationalen Partner, für die Schkeuditz, Schutzsuchenden und – das wird häufig vergessen – an- (Sabine Weiss (Wesel I) [CDU/CSU]: Sie erkannt durch die eigene Bevölkerung. waren doch gar nicht dabei!) Ein Asylsystem ist aber auch nur dann gerecht, wenn dann fehlt das Vertrauen, das Sie dringend brauchen. Ich es den Verfolgten eine angemessene menschenwürdige sage Ihnen: Sie müssen das in Ihren Reihen klären; denn Aufnahme und die Chance zur Integration bieten kann. wir brauchen eine Haltung – eine Haltung! –: die Bun- Seit Anfang September – das wird sicherlich niemand desregierung, dieses Parlament und das ganze Land. hier bestreiten – befinden wir uns bei der Flüchtlingsfra- (Sabine Weiss (Wesel I) [CDU/CSU]: Sie ent- ge im Ausnahmezustand. Wir erleben einen massiven halten sich doch heute! Das ist Ihre Haltung!) Zustrom von bis zu 10 000 Asylbewerbern am Tag, die 12584 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015

Nina Warken (A) alle registriert, versorgt und untergebracht werden müs- die Monatslöhne in den Heimatländern der Menschen um (C) sen. Die hauptamtlichen und die ehrenamtlichen Helfer ein Vielfaches. Es ist deshalb das richtige Signal, dass die leisten in diesen Tagen großartige Arbeit und manchmal Auszahlung von Geldleistungen längstens einen Monat fast schon Übermenschliches: die Mitarbeiterinnen und im Voraus erfolgen darf. In den Erstaufnahmeeinrich- Mitarbeiter der Ausländerbehörden, Polizisten, Soldaten tungen soll der Bargeldbedarf künftig, soweit möglich, und die vielen Helfer vom THW, vom Roten Kreuz, von durch Sachleistungen ersetzt werden. Ich möchte an die- den freiwilligen Feuerwehren und vielen weiteren Orga- ser Stelle eindringlich appellieren, diese Regelung auch nisationen, wie sie zum Beispiel auch heute auf den Zu- konsequent umzusetzen. schauertribünen Platz gefunden haben. Dafür möchte ich (Beifall bei der CDU/CSU) ihnen herzlich danken. Liebe Kolleginnen und Kollegen, im Sinne der Akzep- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie tanz des Asylsystems sind auch die vorgesehenen Ein- bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE schränkungen im Leistungsbezug. Nimmt ein vollzieh- GRÜNEN) bar Ausreisepflichtiger, bei dem das Ausreisedatum und Liebe Kolleginnen und Kollegen, angesichts der die Reisemöglichkeit feststehen, die Ausreise nicht wahr, aktuellen Lage verstehe ich, wenn es in Landkreisen, steht ihm nach dieser Frist bis zur Ausreise nur noch ein Städten und Gemeinden, aber auch bei freiwilligen und Anspruch auf Deckung des Bedarfs an Ernährung und hauptamtlichen Helfern heißt: Wir können diese Massen Unterkunft einschließlich Heizung sowie Körper- und nicht mehr bewältigen. – Genauso verstehe ich die Sor- Gesundheitspflege zu. Gleiches gilt für Geduldete, bei gen und Bedenken der Menschen bei uns im Land, wenn denen eine Abschiebung aus selbst zu vertretenden Grün- es gilt, auf einmal 1 000 Flüchtlinge innerhalb weniger den nicht möglich ist. Diese Einschränkungen stehen – Stunden in einer kleinen Gemeinde unterzubringen, wie das hat auch die Anhörung ergeben – im Einklang mit zum Beispiel im Fall von Hardheim in meiner Heimat- dem Grundgesetz und der Rechtsprechung des Bundes- region. verfassungsgerichts. Für mich steht fest: Wir dürfen unsere Kommunen und (Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- die Helfer nicht grenzenlos belasten. Wir brauchen drin- NEN) gend geordnete Strukturen und Verfahren. Deshalb ist es Bei diesen Asylbewerbern ist nämlich nicht von einem von fundamentaler Bedeutung, dass wir mit der heutigen dauerhaften Aufenthalt und daher von einem geringeren Debatte und ihren rechtlichen Folgen ein Signal an die Bedarf zur Deckung der Kosten für die Lebensführung Bürgerinnen und Bürger senden, dass wir die Sorgen auszugehen. ernst nehmen und unserer Verantwortung nachkommen, (B) Herr der Lage zu sein. Es ist deshalb richtig, dass wir mit (Volker Kauder [CDU/CSU]: Schön!) (D) dem Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz eine konse- Nachholbedarf besteht bei der Abschiebung der Aus- quente Trennung einhalten zwischen den Schutzbedürf- reisepflichtigen. Nach wie vor klaffen die Zahl der abge- tigen und denen, die keinen Anspruch auf Asyl haben, lehnten Asylbewerber und die Zahl der Abschiebungen eine Trennung, die sich wie ein roter Faden durch unser weit auseinander. Aber auch hier sage ich: Wir müssen komplettes Asylsystem ziehen muss. die Akzeptanz und die Berechenbarkeit unseres Asylsys- Wir haben nun in diesem Sinne ein Gesamtpaket auf tems beibehalten. Dazu gehört, dass wir unsere Regeln den Weg gebracht, durch das die Verfahren beschleunigt endlich konsequent durchsetzen und damit auch abge- werden, Anreize reduziert werden sowie die Schaffung lehnte Asylbewerber zügig wieder nach Hause schicken. von Unterbringungsmöglichkeiten und die Integration (Beifall bei der CDU/CSU – Volker Kauder von Asylbewerbern mit Bleibeperspektive erleichtert [CDU/CSU]: Dafür sind die Länder zustän- werden. Ein wichtiger Baustein dabei ist, dass nun alle dig!) Balkanländer als sichere Herkunftsstaaten eingestuft werden, weil dort keine systematische Verfolgung droht. Alles andere ist angesichts der Lage in den Kommunen Damit können nun auch Anträge von Asylbewerbern aus nicht mehr zu vermitteln. Auch hier machen wir mit dem Albanien, dem Kosovo und Montenegro schneller bear- Gesetz unsere Hausaufgaben und geben den Ländern ent- beitet werden. sprechende Instrumente an die Hand. So dürfen Abschie- bungen künftig nicht mehr angekündigt werden. Mit der (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) bislang gängigen Praxis wurden viel zu häufig diejenigen Antragsteller aus sicheren Herkunftsländern müssen geschützt, die sich ihrer Abschiebung durch Untertau- zudem künftig bis zum Ende des Asylverfahrens in der chen entziehen wollten. Erstaufnahmeeinrichtung bleiben. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Liebe Kolleginnen und Kollegen, eine weitere Voraus- Jetzt liegt der Ball im Feld der Länder. Für die gilt: Kom- setzung für ein geordnetes Verfahren und ein faires Asyl- men Sie Ihrer Pflicht nach, und verweisen Sie diejeni- system ist die Beseitigung von Fehlanreizen. Ein wichti- gen schneller des Landes, die kein Recht haben, hier zu ger Anreiz für die Menschen, die in unser Land kommen, sein, und die lediglich die Kapazitäten für die tatsächlich ohne schutzbedürftig zu sein oder obwohl sie bereits in Schutzbedürftigen blockieren! einem anderen Land Schutz gefunden haben, sind die Geldleistungen, die bei uns gewährt werden. Diese mö- Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn uns dies al- gen manchem gering erscheinen, übersteigen jedoch oft les gelingt und unser Asylsystem akzeptiert, berechenbar Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 12585

Nina Warken (A) und fair bleibt und wir ein geordnetes Verfahren haben, Vizepräsident Peter Hintze: (C) dann bin ich mir sicher, dass wir auch die wichtigste Auf- Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abge- gabe erfolgreich bewältigen: die Integration der zu uns ordneten Sevim Dağdelen, Fraktion Die Linke. kommenden Menschen. So sorgen wir mit dem Geset- zespaket, etwa mit der Öffnung der Integrationskurse für (Beifall bei der LINKEN) Asylbewerber und Geduldete mit guter Bleibeperspek- tive, dafür, dass sich diese Menschen bei uns im Land Sevim Dağdelen (DIE LINKE): schneller eine eigene Zukunft aufbauen können. Gleich- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe zeitig gebe ich dem Bundesinnenminister recht, wenn er Frau Kollegin, weil Sie von „Fehlanreizen“ gesprochen betont, dass Integration keine Einbahnstraße sein dürfe. haben, möchte ich hier eines doch einmal betonen: Die Nicht nur wir müssen Integrationsangebote und eine ge- Menschenwürde ist kein Fehlanreiz. Auch Menschen, die lebte Willkommenskultur schaffen, sondern auch umge- nach Deutschland kommen und deren Asylantrag abge- kehrt erwarten wir von den Flüchtlingen, dass sie unsere lehnt wird, haben ein Recht darauf, hier in Menschen- Werte und unsere Gesetze achten und annehmen. Eines würde zu leben. muss auch gesagt werden: Wer sich zum Beispiel von (Beifall bei der LINKEN) Frauen das Essen nicht reichen lässt oder sich weigert, mit ihnen zusammen einen Deutschkurs zu besuchen, Das garantiert unser Grundgesetz. Der Schutz der Men- den werden wir, egal wie sehr wir uns bemühen, nicht schenwürde und des Grundgesetzes sollte eigentlich integrieren können, und der sollte sich fragen, ob wir das auch Ihnen wie uns allen hier oberste Verpflichtung sein. richtige Land für ihn sind. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- (Beifall bei der CDU/CSU) neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Meine sehr geehrten Damen und Herren, das vorlie- Heute steht eine historische Abstimmung an. Nach gende Gesetzespaket ist ein großer Schritt in die richti- dem Asylkompromiss im Jahr 1992 ist dies der gravie- ge Richtung. Wenn der Flüchtlingsstrom weiter anhält, rendste Angriff auf das Grundgesetz und auf das Recht werden jedoch weitere Maßnahmen folgen müssen. auf Asyl. Es ist ein schwarzer Tag für das Asylrecht. Bundespräsident Gauck hat es vor kurzem auf den Punkt Diesmal sind es leider nicht nur Union und SPD, die gebracht: Unser Herz ist weit, doch unsere Möglichkei- die Axt an die Restbestände dieses Grundrechtes legen, ten sind endlich. – Letzteres ist uns sehr wohl bewusst. sondern es sind leider – ich bedauere das aus tiefstem Deshalb sollten wir bereits heute über weitere Schritte Herzen – die grün mitregierten Länder Baden-Württem- (B) nachdenken, wie etwa die Möglichkeit, Asylverfahren berg und Hessen. Ich finde, auch eine Enthaltung, liebe (D) auch direkt an der Grenze durchzuführen. Wie auch Bun- Kolleginnen und Kollegen, ist angesichts dieser massi- deskanzlerin Merkel heute betont hat, können wir die ven Eingriffe in die rechtsstaatlichen Garantien, in dieses Flüchtlingskrise nicht allein in Deutschland lösen. Wir Recht auf Asyl, ein Armutszeugnis. brauchen eine faire Verteilung der Flüchtlinge innerhalb (Beifall bei der LINKEN) Europas. Das sollten Sie sich noch einmal überlegen. Vizepräsident Peter Hintze: Dieser Gesetzentwurf atmet lediglich den Geist der Frau Kollegin, die Sache mit der Endlichkeit gilt auch Abwehr und der Abschreckung. Deshalb wird er nur dazu für die Redezeit. Die ist schon überschritten. führen, dass Flüchtlinge schlechter gestellt werden. Er at- met auch den Geist der Abschottung. Wir Linke weisen (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) ihn deshalb scharf zurück, weil wir der Auffassung sind, das Grundrecht auf Asyl und das Grundgesetz dürfen Nina Warken (CDU/CSU): nicht zum Steinbruch der Abschottungspolitik werden. Ich komme zum Ende. – Liebe Kolleginnen und Kol- (Beifall bei der LINKEN) legen, in der gegenwärtigen Situation gibt es nicht die eine Lösung. Wir brauchen eine ganze Reihe von Maß- Sie reden immer von Integration. Dabei bringen Sie nahmen. Einige davon können wir sofort in Angriff neh- hier ein Regelwerk auf den Weg, das Integration ver- men, für andere brauchen wir einen langen Atem. Auf hindert. Welchen integrationspolitischen Nutzen soll es nationaler Ebene gehen wir mit dem Gesetzespaket den denn haben, dass Menschen hier sechs Monate lang nicht richtigen Schritt und geben den Ländern gute Instrumen- arbeiten dürfen? Welchen integrationspolitischen Nutzen te in die Hand. Ich fordere diese nochmals auf, sie zu nut- soll es denn haben, dass Menschen sechs Monate lang zen. Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, rufe ich zu: zwangskaserniert werden sollen? Und welchen integrati- Stimmen wir dem Gesetz mit breiter Mehrheit zu, und onspolitischen Nutzen soll es haben, dass Menschen nur senden wir ein Signal nicht nur an die Flüchtlinge, son- noch Sachleistungen bekommen? Sie wissen, dass das dern vor allem auch an unsere Bürgerinnen und Bürger! nicht zur Integration der Menschen führen wird. Vielen Dank. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Das ist auch Ihr Kalkül, meine Damen und Herren. Sie ordneten der SPD) wollen diese Abschreckung, und Sie wollen diese Aus- 12586 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015

Sevim Dağdelen (A) grenzung und Schlechterstellung der Flüchtlinge. Das ist Es ist unsere politische Verantwortung, Sorge zu tragen, (C) einfach schändlich, meine Damen und Herren. dass aus Fremden Nachbarn werden können. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wir brauchen Integration statt Abschreckung und Ausgrenzung der Schutzsuchenden. Deshalb hat mein Es geht jetzt vor allem um pragmatische Schritte, um Kollege Korte richtig gesagt: Wir brauchen ein soziales konkrete Maßnahmen, die den Menschen wirklich hel- Integrationsprogramm, mehr Lehrer, mehr öffentlichen fen, ganz egal, ob sie hier geboren sind oder erst seit kur- Wohnungsbau, mehr Ärzte, mehr Krankenhäuser statt zem bei uns leben. Unsere Politik muss in diesem Sinne Entrechtung und Ausgrenzung von Flüchtlingen. jetzt auch sicherstellen, dass für alle Menschen Wohn- (Gunther Krichbaum [CDU/CSU]: Sehr lange raum oder – sofern noch kein endgültiger Wohnraum drei Minuten!) vorhanden ist – vorübergehende Unterkünfte zur Verfü- gung stehen. – Eines will ich noch erwähnen, weil meine Kollegin auch überzogen hat. Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie uns die Realität betrachten. Der Winter steht nun wirklich unmit- (Gunther Krichbaum [CDU/CSU]: Oder ist es telbar vor der Tür, die Temperaturen bewegen sich schon nur so langer Atem?) jetzt um den Gefrierpunkt. Das heißt, wir haben keine Zeit zu verlieren. Alle Menschen brauchen ein Dach über Vizepräsident Peter Hintze: dem Kopf. Wir sind – das wissen wir alle – ein starkes . Land. (Beifall bei der SPD – Zuruf von der LIN- Sevim Dağdelen (DIE LINKE): KEN: Das kommt zu spät!) Angesichts der Bombardierung kurdischer Gebie- Wir sind bei allen Schwierigkeiten, die ich nicht kleinre- te durch Erdoğan und die AKP und angesichts dieses den will, durchaus in der Lage, diesem überlebenswich- furchtbaren Bombenanschlags und der Verfolgungswelle tigen Bedürfnis der Menschen gerecht zu werden. Das in der Türkei, angesichts des Krieges gegen den eigenen muss, wird und kann unser Land auch wirklich leisten. Teil der Bevölkerung von Erdoğan: Möchten Sie diesen Terrorunterstützer, der den IS und andere islamistische Wir brauchen – erstens – kurzfristige Lösungen für (B) Terrormilizen bewaffnet – das wissen Sie auch –, zum neue Unterkünfte und Erstaufnahmeeinrichtungen. Mein (D) sicheren Herkunftsstaat erklären? Das ist doch wirklich Haus hat seinen Beitrag zu dem vorliegenden Gesetzes- schäbig, meine lieben Kolleginnen und Kollegen. text mit weitgehenden Änderungen im Bauplanungsrecht (Beifall bei der LINKEN) geleistet, insbesondere um die Situation in den Kommu- nen zu verbessern. Mit unseren Regelungsvorschlägen machen wir in sämtlichen Gebietsarten – in Bebauungs- Vizepräsident Peter Hintze: plangebieten, im nicht beplanten Innenbereich und im Die Zeit, Frau Kollegin. Außenbereich – sowohl Erstaufnahmeeinrichtungen als auch Gemeinschaftsunterkünfte zulässig. Sevim Dağdelen (DIE LINKE): Im Übrigen haben wir eine Art Generalklausel vorge- Es ist schäbig und schändlich. Hören Sie damit auf! legt: Wenn auch mit allen bereits genannten Erleichte- Bekämpfen Sie die Fluchtursachen und paktieren Sie rungen dringend benötigte Aufnahmeeinrichtungen und nicht mit der personifizierten Fluchtursache Erdoğan! Gemeinschaftsunterkünfte nicht rechtzeitig bereitgestellt (Beifall bei der LINKEN) werden können, ermöglichen wir auch generelle Abwei- chungen von den Vorschriften des Baugesetzbuches. Vizepräsident Peter Hintze: Wir müssen – zweitens – den Wohnungsneubau in Nächste Rednerin ist die Bundesministerin Dr. Barbara Deutschland kräftig ankurbeln. Viele Menschen, die zu Hendricks für die Bundesregierung. uns kommen – das wissen wir –, werden auf Dauer oder (Beifall bei der SPD) zumindest für eine Reihe von Jahren bleiben. Sie werden sich, wie viele Deutsche auch, auf die Suche nach gutem und bezahlbarem Wohnraum machen. Ich sage hier ganz Dr. Barbara Hendricks, Bundesministerin für Um- welt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit: klar: Wir werden dabei nicht zulassen, dass der Eindruck entsteht, dass für Flüchtlinge gebaut wird und für Einhei- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir mische nicht. erleben gerade eine Situation, die unsere Gesellschaft im Ganzen fordert. In der Hoffnung auf Frieden und eine (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Zukunft vertrauen sich vor Krieg und Hoffnungslosigkeit der CDU/CSU und des Abg. Dr. Wolfgang geflüchtete Menschen uns an. Es ist unsere menschliche Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Pflicht, sie aufzunehmen und willkommen zu heißen. NEN]) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 12587

Bundesministerin Dr. Barbara Hendricks (A) Das kann nicht sein. Unser Ziel ist und bleibt dauerhafter und dynamisch bei der Versorgung von Flüchtlingen fi- (C) bezahlbarer Wohnraum für alle Menschen mit niedrigem nanziell zu unterstützen. und mittlerem Einkommen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Gunther sowie der Abg. Dr. Eva Högl [SPD]) Krichbaum [CDU/CSU]) Der Bedarf und die Not sind doch augenscheinlich, wenn Wir investieren deshalb 2 Milliarden Euro zusätzlich und wir sehen, wie die Menschen tagelang im Freien auf ihre damit insgesamt 4 Milliarden Euro bis zum Jahr 2019 Registrierung warten oder gar bei Temperaturen unter in den sozialen Wohnungsbau. Ich freue mich, dass die null auf der Straße schlafen müssen. Deshalb: Die finan- zielle Unterstützung durch den Bund ist ein guter Teil Länder die zweckentsprechende Verwendung der Mittel dieses Pakets. zugesagt haben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Der Bund wird den Kommunen zudem weitere Immo- sowie bei Abgeordneten der SPD) bilien und Liegenschaften schnell und verbilligt für den sozialen Wohnungsbau überlassen. Was wir eben auch brauchen, sind schnellere Verfahren. Nur kommt es weder zu einer Aufhebung der Wider- (Beifall bei der SPD) rufsprüfung noch zu einer Altfalllösung. Genauso fehlen Ich setze mich darüber hinaus für steuerliche Anreizinst- erleichterte Verfahren bei besonders Schutzbedürftigen oder unbürokratische Möglichkeiten zur privaten Unter- rumente ein. Hierzu stehe ich bereits mit dem Bundesfi- bringung und zur familiären Zusammenführung. nanzminister im Dialog. Ich bin sehr zuversichtlich, dass wir hier gemeinsam mit den Ländern schon sehr bald zu (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) einem guten Ergebnis kommen werden. Das betrifft übrigens Artikel 6 unseres Grundgesetzes. Grundsätzlich gilt: Wir brauchen die Länder und Das als Asylverfahrensbeschleunigung zu bezeichnen, Kommunen genauso wie private Investoren und Flä- das ist wirklich Etikettenschwindel, und dem stimmen chenvermarkter. Alle geeigneten Flächen müssen für den wir nicht zu. Wohnungsneubau aktiviert werden. Und wir brauchen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) mehr private Investitionen in den Wohnungsneubau. Was ich im vorliegenden Gesetzentwurf wirklich (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – schmerzlich vermisse, das ist die Rückbesinnung auf Ar- Heike Hänsel [DIE LINKE]: Wem sagen Sie tikel 1 und auf Artikel 18 unseres Grundgesetzes. Denn das?) das müsste heißen: keine Verschärfung, sondern eine Po- (B) litik aus der Perspektive des Flüchtlings und gemessen (D) Niemand kann allerdings mit Sicherheit vorhersagen, ob an der Realität von großen Fluchtbewegungen, eine Po- die Maßnahmen ausreichen oder ob wir nicht in einigen litik, die die Würde des Flüchtlings und das individuelle Monaten weitere Schritte beraten müssen. Denn wir alle Grundrecht auf Asyl achtet und es nicht traktiert. wissen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Wohnen ist ein (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) kein Luxus; Wohnen ist nichts, worauf ein Mensch, und sei es auch nur vorübergehend, einfach einmal so ver- Wer Integration und ein friedliches Zusammenleben zichten könnte. wirklich will, der verlängert doch nicht die Verweildauer in Erstaufnahmeeinrichtungen und der entwürdigt auch (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Schutzsuchende nicht mit Sachleistungen, sondern er Wohnen ist ein Grundbedürfnis. Dem Rechnung zu tra- sorgt dafür, dass die Menschen unsere Sprache lernen gen, ist eine gesamtgesellschaftliche Pflicht, ist eine ge- können und dass sie schnell in Bildung, Ausbildung und samtgesellschaftliche Aufgabe, die wir nur gemeinsam Arbeit, übrigens ohne Vorrangprüfung, kommen können. lösen können. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Herzlichen Dank. Anders als die Rhetorik von Angela Merkel atmen die (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten fast enthemmten Debattenbeiträge mancher – dazu ge- der CDU/CSU) hört auch Hans-Peter Friedrich – in diesen Tagen immer weniger den Geist der humanitären Schutzverantwor- Vizepräsident Peter Hintze: tung, der so viele Helfer in unserem Land beseelt, übri- Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abge- gens auch und gerade in Bayern. ordneten Claudia Roth, Bündnis 90/Die Grünen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Max Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Straubinger [CDU/CSU]: Aber die können NEN): nicht mehr, Frau Roth!) Lieber Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kolle- Vielmehr atmen sie den Geist von Abwehr, von Abschre- gen! Weil wir es schaffen wollen, ist es längst überfällig ckung und von Anreizminderung. Ein Baustein dafür ist und wichtig und richtig, dass sich der Bund nun endlich die Erweiterung der Liste der sicheren Herkunftsländer, bereit erklärt hat, die Länder und Kommunen strukturell wie im vorliegenden Gesetzentwurf vorgesehen. Die Ab- 12588 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015

Vizepräsidentin Claudia Roth (A) surdität dieses Konstrukts wird am Beispiel Kosovo deut- beiter in den Ausländerbehörden und Hilfsorganisationen (C) lich – da hat Kollege Korte doch recht –, das nicht einmal und die vielen ehrenamtlichen Helfer in einem beispiel- in der EU von allen Ländern als unabhängiger Staat aner- losen Kraftakt dafür, dass Deutschland seinen hohen kannt wird und in das wir – alle, die zugestimmt haben – humanitären Ansprüchen in dieser Ausnahmesituation noch vor der Sommerpause deutsche Soldaten geschickt gerecht wird. Sie sind die stillen Helden in dieser histo- haben, weil die Lage dort so instabil ist. Wenn jetzt sogar rischen Flüchtlingskrise, und wir können ihnen gar nicht die Türkei, wo die Menschenrechte mit Füßen getreten oft genug Danke sagen. werden, wo es entgrenzte Gewalt gibt, zum sicheren Her- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- kunftsland umdefiniert werden soll – und nichts anderes ordneten der SPD) ist das –, dann zeigt das doch auch die Willkürlichkeit des Konzepts insgesamt. Wer diese beeindruckende Leistung ernsthaft anerkennt, der muss aber auch erkennen, dass diese Leistung auf (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Dauer nicht tragbar ist und dass die Menschen in unse- sowie des Abg. [DIE LINKE]) rem Land in diesen Tagen von uns Lösungen erwarten. Wir erleben mehr und mehr eine von innenpolitischen Vorrangiges Ziel des Asylpaketes ist die Entlastung Interessen getriebene Außenpolitik. Aber wie soll eine der Kommunen. Die kommunalen Spitzenverbände hal- solche Politik menschenrechtsbasiert und wertegeleitet ten die finanziellen Hilfen für ausreichend, sein? Darauf haben Sie keine Antwort. (Rüdiger Veit [SPD]: Wie bitte?) Liebe Kolleginnen und Kollegen, Deutschland ist in diesen Tagen leicht entflammbar. Wenn wir sehen, dass und ich hoffe sehr, dass die Leistungen, die der Bund im Durchschnitt täglich zwei Flüchtlingsunterkünfte an- zusätzlich zur Verfügung stellt, auch umfassend an die gegriffen werden, wenn wir angesichts der fürchterlichen Kommunen weitergegeben werden. Bayern ist da ein Entgleisungen der Pegida nach Dresden blicken, wenn Vorbild. wir angesichts der widerlichen Hetze der AfD nach Er- Bevor ich auf den Gesetzentwurf eingehe, möchte ich furt blicken, dann erwarte ich, dass wir uns alle unserer den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den Ministeri- Verantwortung für unser Land und für alle Menschen in en danken, die in den letzten Wochen und Tagen Tag und diesem Land bewusst sind. Nacht an der Umsetzung gearbeitet haben. Hierfür heute (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einmal ein herzliches Dankeschön. sowie der Abg. Dr. Eva Högl [SPD]) (Beifall bei der CDU/CSU) Deswegen meine Bitte: Zündeln Sie nicht mit! Hören (B) (D) Sie auf mit der Kriegsrhetorik! Die Flüchtlinge bedrohen Vizepräsident Peter Hintze: uns nicht; sie sind doch in Not und nicht wir in Notwehr. Frau Kollegin, der Kollege Veit von der SPD-Fraktion Setzen Sie klare Zeichen, dass Hass und Ausgrenzung in möchte Sie etwas fragen. Wollen Sie das zulassen oder unserem Land nichts verloren haben! weitersprechen? Vielen Dank. Andrea Lindholz (CDU/CSU): (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Nein, ich rede weiter. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN) Vizepräsident Peter Hintze: Bitte. Vizepräsident Peter Hintze: Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abge- ordneten Andrea Lindholz, CDU/CSU-Fraktion. Andrea Lindholz (CDU/CSU): Der Gesetzentwurf soll im Grunde fünf Vorhaben um- (Beifall bei der CDU/CSU) setzen: erstens die Asylverfahren weiter beschleunigen, zweitens Fehlanreize minimieren, drittens die Ausreise- Andrea Lindholz (CDU/CSU): pflicht konsequent durchsetzen, viertens die Unterbrin- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten gung der Asylbewerber erleichtern und fünftens die Inte- Damen und Herren! grationshilfen für Menschen mit guter Bleibeperspektive verbessern. Der letzte Punkt ist entscheidend, um die gesellschaftlichen Folgen dieser Krise zu meistern. Wir Vizepräsident Peter Hintze: wollen den Menschen, die tatsächlich schutzbedürftig Da muss ich widersprechen: Es sitzt ein Präsident hin- sind, die Chance geben, sich schnell zu integrieren und ter Ihnen. Aber das macht nichts. sich schnell selbst zu versorgen. Deshalb heben wir auch (Heiterkeit – Rüdiger Veit [SPD]: Immer das Leiharbeitsverbot auf und öffnen früher die Integra- gendern!) tionskurse. Wichtig ist – das wird heute zum wiederholten Male Andrea Lindholz (CDU/CSU): nicht gesagt –, dass künftig nur Menschen mit guter Blei- Seit Monaten sorgen die Verantwortungsträger in den beperspektive auf die Kommunen verteilt werden und Kommunen, unsere Polizisten und Soldaten, die Mitar- nur aussichtslose Asylbewerber bis zum Verfahrensab- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 12589

Andrea Lindholz (A) schluss in der Erstaufnahmeeinrichtung verbleiben sol- und spürbar. Nach Niederbayern und Oberbayern strö- (C) len, und das ist auch richtig so. Darum bitten uns im Üb- men seit Wochen tagtäglich Tausende von Menschen. rigen auch Kommunen und Ehrenamtliche, weil sie ihren Die Kommunen und alle Verantwortlichen sind an ih- Fokus im Wesentlichen auf diejenigen richtigen wollen, ren Belastungsgrenzen angekommen. Es ist daher nach- die ein Bleiberecht bei uns erhalten werden. vollziehbar, dass der bayerische Ministerpräsident vom Bund, der die Entscheidungen hierzu zu treffen hat, er- (Beifall bei der CDU/CSU) wartet, dass richtige Entscheidungen getroffen werden, Mit diesem Gesetzespaket stufen wir auch Albanien, Entscheidungen, die Bayern entlasten. Ich appelliere an Kosovo und Montenegro als sichere Herkunftsstaaten dieser Stelle auch an die Solidarität der anderen Bundes- ein. Schon im letzten Jahr hatte die Union dies gefordert. länder. Sie müssen zügig und gemäß dem Königsteiner Das ist richtig so; denn allein in diesem Jahr wurden rund Schlüssel im erforderlichen Maß Flüchtlinge aufnehmen 80 000 Asylanträge aus dem Kosovo und aus Albanien und Bayern entlasten. registriert, aber zu 99 Prozent abgelehnt. Selbst Ober- (Beifall bei der CDU/CSU) bürgermeister, die den Grünen oder der SPD angehören, schließen sich mittlerweile unserer Meinung an, weil sie Deutschland ist stark wie kein anderes Land, und es nah an der Realität, nah an den Menschen vor Ort sind. hilft wie kaum ein anderes Land, auch in der Flücht- lingskrise. Aber auch unsere Aufnahmefähigkeit ist nicht (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) unbegrenzt. Ein Bevölkerungswachstum von jährlich 1 Mit dem Asylpaket setzen wir heute auch die bayeri- bis 2 Prozent kann kein Land, auch Deutschland nicht, sche Forderung nach einer bundesweiten Verteilung von schultern. Das wäre weder gegenüber der deutschen Be- unbegleiteten Minderjährigen um. Auch das ist richtig völkerung noch gegenüber den Helfern noch gegenüber so. Bayern wird bis zum Jahresende rund 15 000 Flücht- den Flüchtlingen verantwortungsvoll. linge in der Jugendhilfe versorgen. Bundesweit sind das Unsere Bundeskanzlerin hat heute Morgen in ihrer aktuell rund 35 000 Flüchtlinge. Es ist wichtig, dass auch Regierungserklärung eindrucksvoll dargestellt, dass es diesbezüglich die Solidarität der Bundesländer unterein- keine einfache Lösung gibt. Die Menschen vor Ort fra- ander endlich greift. Der Bund unterstützt mit 350 Mil- gen uns – zumindest mich und viele meiner Kollegen aus lionen Euro pro Jahr die Versorgung. Ich will an dieser der CDU/CSU-Fraktion – tagtäglich: „Was könnt ihr ma- Stelle nochmals sagen, dass auch diesbezüglich unter an- chen, was könnt ihr tun?“, und uns erreichen Hunderte derem Bayern die Hauptlast trägt. von E-Mails. Wir müssen den Menschen erklären, dass (Beifall bei der CDU/CSU) es sich nicht um eine einfache Lösung handelt. Es wird, wie Angela Merkel gesagt hat, keinen Schalter geben, Natürlich müssen abgelehnte Asylbewerber ihrer Aus- (B) den man einfach umlegen kann. Diese Herausforderung (D) reisepflicht nachkommen. Wir können nicht hinnehmen, ist vielschichtig, und sie kann nur auf europäischer Ebene dass nur rund 10 Prozent aller Ausreisepflichtigen -zu bewältigt werden, nur mit Maßnahmen der Außen- und rückgeführt werden. Entwicklungspolitik, nur vor Ort und in den Anrainer- (Beifall des Abg. Gunther Krichbaum [CDU/ staaten. CSU]) Trotzdem kann es nicht sein, dass Deutschland in Eu- Es ist gerechtfertigt, die Leistungen für Menschen, die ropa die Hauptlast trägt. Trotzdem kann es nicht sein, nicht ausreisen, die sich der Ausreise entziehen oder wi- dass wir den effektiven Grenzschutz quasi aufgegeben dersetzen, in Zukunft konsequent zu kürzen. Das wird haben; das gilt für Europa wie für Deutschland. Der auch verfassungsrechtlich standhalten. Insgesamt ist der Schutz der eigenen Grenzen ist kein Ausdruck von Men- Gesetzentwurf ein wichtiger Zwischenschritt, mit dem schenfeindlichkeit, sondern er ist die verfassungsgemäße wir auf nationaler Ebene nach der Reform des Bleibe- Pflicht eines jeden Staates. rechts und der Aufenthaltsbeendigung vom Juli 2015 für (Beifall bei der CDU/CSU) wichtige Verbesserungen sorgen. Auch unser Bundespräsident hat in Mainz klarge- Aber auch die Länder müssen noch nachbessern. Wir stellt, dass unsere Hilfsbereitschaft groß ist, aber unsere brauchen an den Verwaltungsgerichten noch mehr Rich- Kapazitäten begrenzt sind. Ja, die Kanzlerin hat recht: ter, noch mehr Personal, damit dort nicht der nächste Das faktische Limit wird sich wohl nur schwer beziffern Flaschenhals entsteht. Das Bundesamt für Migration und lassen. Aber die Lage in den Kommunen ist dramatisch. Flüchtlinge hat allein im September 23 000 Asylanträge In Bayern gibt es Kommunen, die an der Belastungsgren- entschieden. Wir wollen – das ist auch richtig –, dass ze sind. Es kann daher kein Weiter-so geben. Das haben mehr Entscheidungen erfolgen. Da aber jeder zweite Be- auch die kommunalen Spitzenverbände in der Anhörung scheid beklagt wird, brauchen wir an den Gerichten mehr am Montag eindrucksvoll bestätigt. Wir müssen dieser Richter, damit dort nicht der nächste Stau entsteht. Entwicklung Rechnung tragen. (Beifall bei der CDU/CSU) Natürlich lassen sich Grenzen nicht per Kabinetts- All diese Maßnahmen, die wir heute beschließen, wer- beschluss schließen. Natürlich will niemand Grenzen den nicht ausreichen. Sie sind ein wichtiger Zwischen- schließen oder eine Abschottung Deutschlands oder Eu- schritt. Wir müssen auch alles daransetzen, die unkont- ropas. Das bedeutet aber noch lange nicht, dass wir in der rollierte Zuwanderung von bis zu zehntausend Menschen aktuellen Ausnahmesituation nicht auch effektivere Kon- pro Tag nach Deutschland einzudämmen, und zwar zügig trollen und Zurückweisungen an den eigenen Grenzen 12590 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015

Andrea Lindholz (A) erwägen sollten. Das Landgrenzenverfahren, das in der Ich habe die Anhörung der Vertreter der kommunalen (C) EU-Asylverfahrensrichtlinie vorgesehen ist, kann neben Spitzenverbände also nicht so verstanden, wie Sie es ge- der Sicherung der Außengrenzen und der Einführung von sagt haben. Vielleicht möchten Sie das korrigieren. Hotspots ein Baustein sein. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Gemeinsam müssen wir es schaffen, in Deutschland der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE und Europa ein tragfähiges Asylsystem unter den aktu- GRÜNEN) ellen Bedingungen für die Zukunft zu gestalten. Daran müssen wir alle gemeinsam verantwortlich mitarbeiten. Vizepräsident Peter Hintze: Aber auch innerhalb Deutschlands können wir diese He- rausforderung nur gemeinsam bewältigen. Das geht nur, Wollen Sie darauf antworten? wenn wir ohne Hysterie und ohne Dramatik weiterhin mit überlegtem Handeln auf allen Ebenen zusammen- Andrea Lindholz (CDU/CSU): arbeiten und nicht vergessen, dass es um Menschen mit Ja. – Ich habe die kommunalen Spitzenverbände sehr individuellen Schicksalen geht, die aus unterschiedlichen wohl so verstanden, dass sie die jetzt weiter zugesagten Gründen bei uns Schutz suchen. finanziellen Hilfen für ausreichend halten. An dieser Wir können stolz sein auf die vergangenen Mona- Stelle lobe ich Bayern, das die Leistungen eins zu eins an te und Wochen, in denen die Menschen in Deutschland die Kommunen weitergibt – im Gegensatz zum Beispiel Herausragendes geleistet haben. Ich wünsche mir, dass zu Nordrhein-Westfalen –, noch einmal ausdrücklich, wir in diesem Sinne und in dieser Rhetorik weitermachen und ich wünsche mir, dass das in anderen Bundesländern und gut zusammenarbeiten. Ich werbe heute um die Zu- ebenso erfolgt. stimmung zu diesem Gesetzespaket, dem sicherlich noch (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Johannes weitere Schritte folgen müssen. Fechner [SPD]: Jetzt geht das wieder los! Vielen Dank. Denken Sie an die Krankenversicherung! Da könnt ihr euch mal eine Scheibe abschneiden!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ordneten der SPD) Vizepräsident Peter Hintze: Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Bundes- Vizepräsident Peter Hintze: ministerin Manuela Schwesig für die Bundesregierung. Zu einer Kurzintervention – mit der Bitte, es wirklich kurz zu machen, weil wir schon lange bei diesem Thema (Beifall bei der SPD) (B) sind –: Rüdiger Veit, SPD-Fraktion. (D) Manuela Schwesig, Bundesministerin für Familie, Rüdiger Veit (SPD): Senioren, Frauen und Jugend: Frau Kollegin Lindholz, ich wollte mit meiner Zwi- Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen schenfrage nichts Böses wie die Unterbrechung Ihres und Herren Abgeordnete! In jeder Notsituation und bei Redeflusses bewirken. Ich wollte Ihnen nur Gelegenheit jeder Rettungsaktion gilt das Prinzip „Kinder und Frau- geben, einen eventuellen Versprecher zu korrigieren oder en zuerst“. Wenn viele Menschen aus guten Gründen in aber Ihre Aussage zu präzisieren. Sie haben nämlich aus- unser Land flüchten – das ist hier vielfach angesprochen geführt, dass die Kommunen das, was wir ihnen jetzt als worden – und wir nicht alles für alle sofort leisten kön- finanziellen Ausgleich geben wollen, als ausreichend nen, dann, so finde ich, muss ein Schwerpunkt auf denje- empfinden. nigen liegen, die einen besonderen Schutz brauchen, und (Claudia Roth (Augsburg) [BÜNDNIS 90/ das sind für mich die Kinder. DIE GRÜNEN]: Das stimmt nicht!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Das kann man, glaube ich, so nicht sagen. der CDU/CSU) ( [CDU/CSU]: In Bayern Deshalb legt Ihnen die Bundesregierung heute ein schon!) Asylpaket mit Schwerpunkt auf der Unterstützung von Kindern und Familien und gleichzeitig den Entwurf ei- Denn wir müssen erst einmal erreichen, dass die Länder- nes Gesetzes zur besseren Versorgung und Betreuung der finanzminister diese Mittel so an die Kommunen weiter- Kinder und Jugendlichen, die unbegleitet zu uns kom- geben, dass sie in ihren kommunalen Haushalten keine men, vor. nennenswerte Unterdeckung mehr haben; das ist das Ent- scheidende. 60 Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht; die Hälfte davon sind Kinder. Über 200 000 Kinder und (Gunther Krichbaum [CDU/CSU]: Ja, zum Jugendliche kommen zu uns nach Deutschland, und es ist Beispiel Nordrhein-Westfalen! – Sabine Weiss wichtig, dass diese Kinder und Jugendlichen so schnell (Wesel I) [CDU/CSU]: Besonders Nord- wie möglich nicht nur gut untergebracht werden, sondern rhein-Westfalen! Genau!) auch Anschluss finden. Dazu gehört für die Kleinen der Im Übrigen weise ich darauf hin, dass den Kommunen Zugang zu den Kitas, um schnell die Sprache zu erler- im Hinblick auf die Finanzierung der Infrastruktur – Kin- nen, und für die Schulkinder, schnell in die Schule zu dergärten, Schulen usw. – noch weitere Kosten entstehen. kommen, wo sie die Sprache lernen und Freundschaften Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 12591

Bundesministerin Manuela Schwesig (A) schließen. Das ist der beste Weg, um hier eine neue Hei- kommen. Denken Sie noch einmal daran, wie es war, als (C) mat zu finden. Ihr eigenes Kind das erste Mal alleine zur Schule ge- gangen und von der Schule zurückgekommen ist. Man (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der schaut dann schon auf die Uhr und fragt sich, ob das alles CDU/CSU) klappt. Ich gehöre zu diesen besorgten Eltern. Denken Deshalb ist es gut und richtig, dass wir im Asylpaket Sie daran, wie es ist, wenn man seinem 12-jährigen Mäd- festgehalten haben, dass wir die freiwerdenden Mittel aus chen oder Jungen gesagt hat, er oder sie solle am Abend dem Betreuungsgeld zur Verbesserung der Kinderbetreu- zu einer bestimmten Zeit zu Hause sein. Spätestens zehn ung nutzen und sie bis auf fast 1 Milliarde Euro jährlich Minuten nach der vorgegebenen Zeit guckt man auf die aufstocken und dass wir mit dem Gesetzentwurf, den ich Uhr. Wer von uns kann sich vorstellen, dass der 14-jäh- Ihnen als Ministerin vorgelegt habe, dafür sorgen, dass rige Sohn auf seiner Flucht vier Monate lang durch viele die geflüchteten Kinder und Jugendlichen genauso wie Länder allein unterwegs ist? Ich kann das nicht. die hier geborenen und aufwachsenden Kinder und Ju- Ich weiß, dass es das gibt, weil diese Jugendlichen zu gendlichen auch Zugang zu den Kinder- und Jugendleis- uns gekommen sind und ich mit ihnen gesprochen habe. tungen haben. Ich möchte nicht, dass wir Flüchtlingskin- Aber ich glaube, wirklich zu ermessen, wie groß das Leid der gegen einheimische Kinder stellen – oder umgedreht. für Familien sein muss, um diesen Weg zu gehen, also Jedes Kind muss eine Chance haben, in unserem Land ihre Kinder zu uns zu schicken, ist fast unvorstellbar. gut aufzuwachsen. Deshalb ist es so wichtig, dass wir diesen unbegleiteten (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Kindern und Jugendlichen, die hier erst einmal nieman- der CDU/CSU) den haben, eine Heimat und Schutz bieten, als ob sie un- sere eigenen Kinder wären. Die Kinder und Jugendlichen können eine gute Integrati- on der Familien voranbringen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/ Ich möchte mich an dieser Stelle ganz herzlich bei DIE GRÜNEN) allen Abgeordneten der Regierungskoalition – ich weiß, dass das zu großen Teilen auch aus der Opposition unter- Deshalb gibt es besondere Schutzmaßnahmen für stützt wird – und bei meinem Kollegen Herrn de Maizière diese Unbegleiteten, die aber vor Ort nicht mehr funk- bedanken. tionieren. Wenn über hundert dieser Unbegleiteten in ankommen – ich weiß, dass es im Bereich des Natürlich müssen wir gemeinsam eine gute Balance Jugendamtes in Passau so viele sind –, über tausend in finden. Es stellt doch gar keiner infrage, dass die Men- ganz Bayern, über tausend in oder in Ham- schen bei uns ein Asylrecht haben, und ich glaube, unser burg, also in diesen sogenannten Drehkreuzen, dann ist (B) Land zeigt, wie offen wir sind. Zwischen dem Satz „Wir (D) es ganz praktisch nicht mehr möglich, für alle jungen schaffen das“ und den gleichzeitig berechtigten Sorgen Menschen an diesen Orten Jugendwohngruppen, Sozial- und Forderungen derjenigen, die das praktisch vor Ort arbeiter und das, was wir an dieser Stelle alles brauchen, umsetzen müssen – unsere Bürgermeisterinnen und Bür- bereitzustellen. Deshalb ist es eine Frage der Solidarität, germeister, die Landrätinnen und Landräte, die vielen aber vor allem eine Frage des Kindeswohls, dass zukünf- hauptamtlichen und freiwilligen Helfer, die uns sagen, tig die Kapazitäten der Kinder- und Jugendhilfe überall dass das aber auch praktisch funktionieren und es prak- in Deutschland genutzt werden, um diesen Kindern und tische Kapazitäten geben muss –, gibt es keinen Wider- Jugendlichen, die hier ohne Familie ankommen, ein gu- spruch, sondern das gehört zusammen. tes Zuhause zu geben. Wir haben gemeinsam versucht, diese Balance zu fin- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten den, und uns gefragt, wer den Schutz am nötigsten hat, der CDU/CSU) wer die meiste Unterstützung braucht und wer vielleicht zu denjenigen gehört, die gute Gründe haben, zu uns zu Das machen wir mit dem neuen Gesetz und stellen da- kommen, denen wir das alles aber nicht bieten können. mit das Kindeswohl in den Mittelpunkt. An dieser Stelle Das gehört zur Ehrlichkeit und zur Sicherung unseres möchte ich mich bei meinem Kollegen, Bundesfinanzmi- Asylrechts dazu. nister Schäuble, bedanken, weil es gelungen ist, auch für diese besonders schutzwürdige Gruppe zusätzlich Geld Deshalb bin ich dem Innenminister dankbar, dass wir zur Verfügung zu stellen. Es ist immer ein Spagat, auf bei dem Schutz für Kinder und auch bei den Kinder- und der einen Seite das Geld zusammenzuhalten und auf der Jugendleistungen keine Abstriche machen, sondern dass anderen Seite zu schauen, wofür wir es ausgeben. Aber wir diese Standards in der heutigen Zeit weiter sichern. ich glaube, dafür zu sorgen, dass die Kinder und Jugend- Es ist ein wichtiges Signal, dass wir nicht sagen: „Jetzt lichen hier gut ankommen und gut integriert werden, ist funktioniert das alles nicht mehr“, wodurch die Kinder eine Investition in die Zukunft. Wenn wir das nicht mach- unter die Räder kämen, sondern dass wir weiterhin beto- ten, würde das ein großes Risiko bedeuten. nen: Die Kinder und Jugendlichen sind uns wichtig, egal wie schwer es ist. Zum Schluss möchte ich darauf hinweisen, dass wir vieles von dem, was heute besprochen worden ist, nur (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der leisten können, weil es die vielen ehrenamtlichen Hel- CDU/CSU) ferinnen und Helfer gibt. Ja, sie kommen an ihre Be- Zu dieser wichtigen Schutzgruppe gehören vor al- lastungsgrenze. Deshalb ist es gut und richtig, dass wir lem die Kinder und Jugendlichen, die unbegleitet zu uns mit diesem Paket dafür sorgen, dass es ein Sonderpro- 12592 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015

Bundesministerin Manuela Schwesig (A) gramm geben wird, auf dessen Grundlage dem Bundes- bleme und Fragen, die so plötzlich auf unser Land zu- (C) freiwilligendienst 10 000 Stellen bewilligt werden, damit kommen. Bundesfreiwillige Flüchtlingen helfen können, damit In ganz Deutschland diskutieren wir darüber, ob wir aber auch Flüchtlinge anderen Flüchtlingen helfen. Wir das schaffen. Man muss sich doch erst einmal die Frage sollten das Potenzial, das Flüchtlinge mitbringen, nicht stellen: Was heißt es denn, es zu schaffen? Es so hinzu- vernachlässigen. Dass Flüchtlinge selbst mit anpacken, ist für die Akzeptanz in der Gesellschaft und für ihre In- bekommen, dass keiner etwas merkt, dass alles picobello tegration wichtig. Das werden wir mit dem neuen Pro- rundläuft und dass keiner irgendwelche Einbußen hat? gramm machen. Das wird es nicht heißen. Das sagen wir den Menschen in unserem Land offen und ehrlich. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) „Wir schaffen es“ kann auch nicht heißen, dass einer oder eine ein Patentrezept hat. Deshalb, lieber Kollege Ich sage vielen herzlichen Dank für die Unterstützung. Konstantin von Notz, ist es völlig verrückt, dass Sie uns Wer hier fordert, es müsse Kitaplätze geben, es müsse vorwerfen, dass wir in einer Volkspartei und in einer Schulplätze geben, und wir sollten etwas für Kinder und Fraktion um den richtigen Weg ringen für die Freiwilligen tun, der kann dem Gesetzentwurf heute nur zustimmen. (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ringen?) (Widerspruch bei Abgeordneten des BÜND- NISSES 90/DIE GRÜNEN) und über das, was jetzt zu tun ist, diskutieren. Sie be- zeichnen das als „Meuterei auf der Bounty“. Ich be- Der Schwerpunkt dieses Paketes liegt auf der Integration. zeichne es als das, was Demokratie ausmacht. Es ist das Ich finde nicht, dass man auf der einen Seite sagen kann, Selbstverständlichste in einem demokratischen System, man müsse etwas tun, aber auf der anderen Seite nichts dass über den richtigen Weg gerungen wird. akzeptiert, was gemacht wird. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Herzlichen Dank an die Regierungsfraktionen, dass Burkhard Lischka [SPD] – Jan Korte [DIE sie diese wichtigen Sachen mit uns auf den Weg bringen. LINKE]: Die Basisdemokraten der CDU, ja, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten genau! Basisdemokratischer Aufbruch!) der CDU/CSU – Sevim Dağdelen [DIE LIN- Dabei ist jeder in diesem Haus, aber auch draußen ein- KE]: Schauen Sie einmal in das Gesetz! Was geladen, mitzudiskutieren. Ich sage aber auch: Mitdisku- sehen Sie denn da?) tieren heißt, konkrete Vorschläge zu machen, wie man es (B) besser machen kann und was man machen kann, (D) Vizepräsident Peter Hintze: (Sabine Weiss (Wesel I) [CDU/CSU]: Rich- Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Abge- tig!) ordneten Nadine Schön, CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) statt nur zu sagen, dass wir es nicht schaffen, wieso wir das nicht schaffen und was alles nicht geht. Das ist ein zu einfacher Weg. Nadine Schön (St. Wendel) (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. sind Bilder und Begegnungen, die in diesen Tagen die Burkhard Lischka [SPD]) Debatte um die Flüchtlinge prägen, medial und auch bei Jeder ist aufgefordert, in dieser schwierigen Situation jedem von uns vor Ort. Es sind Bilder aus von konstruktive Vorschläge zu machen. Kindern, die bei einstelligen Temperaturen in unbeheiz- ten Zelten übernachten, die krank sind, die husten, die „Wir schaffen es“ heißt meiner Ansicht nach, dass frieren. wir alle gefordert sind, mitzumachen, anzupacken und die Probleme zu lösen. Das fängt bei jedem Einzelnen Es gibt aber auf der anderen Seite auch die Familie, an und geht von den Ländern, den Kommunen und dem die nicht in die ihnen angebotene Wohnung einziehen Bund weiter bis zu den Verhandlern auf europäischer und will, weil einer anderen Familie ein ganzes Haus ange- internationaler Ebene. boten wurde. Es gibt den Imam, der einer deutschen Po- litikerin nicht die Hand geben will. Aber es gibt auch die Meiner Meinung nach gibt es drei Ziele, für die wir Flüchtlinge, die sich selbst einbringen: als Arzt in den Lösungen erarbeiten. Das Paket, das wir heute vorlegen, Aufnahmestellen, als Berater in der Kommune, als Helfer hält schon viele dieser Lösungen bereit. Andere müssen vor Ort. Es gibt die deutschen Schülerinnen und Schüler, erst erarbeitet werden. die voller Neugierde und Offenheit auf ihre neuen Mit- Unser erstes Ziel muss es sein, dass in den kommen- schüler zugehen, sie als neue Freunde akzeptieren und zu den Jahren nicht noch einmal so viele Menschen zu uns Hause davon berichten. Es gibt aber auch die Menschen, kommen – kommen müssen – wie in diesem Jahr. Dazu die abends Angst haben, allein durch den Park zu gehen. trägt der Gesetzentwurf bei, indem ganz klar zwischen Es gibt nicht den einen Flüchtling. Es gibt nicht den denen, die aus Krisengebieten zu uns fliehen, und denje- einen Bürger, und es gibt auch nicht den einen Politiker. nigen, die aus wirtschaftlichen Gründen kommen, diffe- Vor allem gibt es nicht die eine Lösung für all die Pro- renziert wird. Für Letztere sind alle Anreize, hierherzu- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 12593

Nadine Schön (St. Wendel) (A) kommen, zu reduzieren, und genau das tun wir mit dem machen. Ich plädiere entschieden dafür, dabei auch die (C) Gesetzentwurf. digitalen Möglichkeiten besser zu nutzen. Mit digitalen Lösungen kann Doppel- und Dreifacharbeit vermieden Es ist aber auch völlig klar, dass wir nicht alle Flücht- werden. Damit können Kosten gespart werden. Digitale linge aus den Krisengebieten in unserem Land aufneh- Mittel zur Koordinierung der Ehrenamtlichen entlasten men können. Eine Zahl als Obergrenze zu definieren, diese. Sie leisten Großartiges, aber sie verzweifeln an der wäre völlig unseriös. Ich sage aber auch: Hier haben schieren Menge. Sie verzweifeln oft an der Organisation, auch die anderen europäischen Länder eine Verantwor- tung. Hier hat die Türkei eine Verantwortung. Der Li- die sich ständig ändert. Deshalb an dieser Stelle ein ganz banon und Jordanien brauchen mehr Unterstützung bei herzliches Dankeschön an die Hauptamtlichen, aber auch der Versorgung der Flüchtlinge vor Ort. Deshalb ist es an die Ehrenamtlichen in unserem Land. wichtig, dass heute wie auch in den nächsten Tagen und (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Wochen auf europäischer und internationaler Ebene da- ordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/ rüber gesprochen und verhandelt wird. Dabei ist unsere DIE GRÜNEN) Bundeskanzlerin Angela Merkel die Frau, die mit ihrer Macht und ihrem Einfluss auf internationaler Ebene viel Der Bund entlastet auch durch konkrete Hilfe vor Ort, erreichen kann. Auch Bundesaußenminister Steinmeier bei uns im etwa, indem er bei der Registrierung muss entsprechende Gespräche führen. Auf internatio- hilft. Wenn man hört, dass so viele Menschen in unse- naler Ebene liegt der Hebel, wenn es darum geht, den rem Land und in anderen Ländern nicht registriert sind, Flüchtlingsstrom zu begrenzen. dann ist das ein Offenbarungseid. Das können wir nicht hinnehmen. Die Menschen haben ein Anrecht darauf, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- zu wissen, wer in unserem Land ist. Denn nur wenn die ordneten der SPD) Flüchtlinge registriert sind, wenn wir wissen, wer bei uns Unser zweites Ziel ist: Wir müssen Lasten verteilen ist, können wir die Versorgung garantieren sowie für Si- und entlasten. Wir tragen als Familienpolitiker in diesem cherheit und auch Integration sorgen. Hause zwei entscheidende Punkte zu dem Gesetzespaket Damit bin ich bei dem dritten Punkt, den wir gemein- bei, die in den nächsten Wochen zu genau dieser Entlas- sam bewältigen müssen, nämlich bei dem wichtigen The- tung führen werden. Das betrifft zum einen die unbeglei- ma Integration. Zu Recht stellen sich die Menschen in teten minderjährigen Flüchtlinge. Dazu hat die Ministe- unserem Land die Frage, ob das funktionieren kann, ob rin gerade viel gesagt. Künftig werden alle Bundesländer die Menschen, die zu uns kommen, denn bereit sind, die in die Versorgung der minderjährigen Flüchtlinge ein- Werte zu akzeptieren, die wir hier leben. Rechtsstaatlich- gebunden. Wir entlasten damit die Länder, in denen sie keit, die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau, (B) derzeit zu Zehntausenden ankommen und von wo aus sie Religionsfreiheit und Meinungsfreiheit – wird all das ak- (D) bisher nicht weiterverteilt werden konnten, weil das na- zeptiert werden? tionale Recht dem entgegensteht. Nun wird eine Weiter- verteilung möglich. Das dient dem Kindeswohl. Es dient Für uns als Union ist klar, dass das die Prinzipien sind, aber vor allem auch der Entlastung der Länder und der die unser Land so stark gemacht haben. Deshalb sagen Kommunen vor Ort. wir deutlich: Wer bei uns und mit uns leben will, wer von dieser Stärke unseres Landes profitieren will, der muss Ich komme aus dem Saarland, einem Land, das viele diese Regeln des Zusammenlebens auch akzeptieren. Er unbegleitete Minderjährige bestens aufgenommen und muss sie verstehen, er muss sie leben. Das ist die klare versorgt hat. Aber hier ist eine Entlastung dringend not- Aufforderung an alle, die zu uns kommen. wendig, und das machen wir mit diesem Gesetz. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ordneten der SPD) Es ist wichtig, dass wir das so schnell wie möglich ver- mitteln. Wir schaffen im Bundesfreiwilligendienst 10 000 neue Stellen an der Schnittstelle zwischen Ehrenamtlichen und Hauptamtlichen und entlasten somit in den Kommu- Vizepräsident Peter Hintze: nen und Hilfsorganisationen sowohl die Ehrenamtlichen Apropos Regeln! als auch die Hauptamtlichen. Ich hoffe, dass viele Kom- munen und viele Organisationen von diesem Angebot Nadine Schön (St. Wendel) (CDU/CSU): Gebrauch machen werden. Herr Präsident, ich habe gesehen, dass ich zum Schluss Mit dem Paket sorgen wir auch für eine finanzielle kommen muss. Entlastung – das ist schon gesagt worden –, indem der Bund viele Kosten übernimmt: für die unbegleiteten Vizepräsident Peter Hintze: Minderjährigen, für Bauen und Wohnen, für die Kinder- Nein, Sie hätten schon zum Schluss kommen müssen. betreuung und die Versorgung der Flüchtlinge vor Ort. Wir entlasten aber auch organisatorisch, vor allem die Nadine Schön (St. Wendel) (CDU/CSU): Hauptamtlichen, die ebenfalls an ihre Grenzen kommen. Dann gestatten Sie mir noch einen Abschlusssatz. – Das klare Ziel von Kanzleramtsminister Peter Ich plädiere dafür, dass sich all diejenigen, die heute die Altmaier und auch BAMF-Chef Weise ist, die Verfah- Frage stellen, ob wir es denn schaffen können, bei dem ren stringenter, weniger bürokratisch und einfacher zu wichtigen Thema Integration einbringen. Jeder, der heute 12594 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015

Nadine Schön (St. Wendel) (A) diese Frage stellt, muss spätestens morgen damit anfan- schaften des heutigen Gesetzentwurfs, und es sind ange- (C) gen, etwas mit dazu beizutragen, dass wir es schaffen. messene und vernünftige Botschaften. Denn nur alle gemeinsam können wir die Probleme lö- Aber wir wissen auch: Das heutige Gesetzespaket ist sen. nur ein kleiner Teil der Lösung. Der eigentliche Treibsatz (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- für die Flüchtlingsströme sind der Krieg in Syrien und ordneten der SPD) die katastrophale Situation in den Flüchtlingslagern. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsident Peter Hintze: Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Abge- Wer den Flüchtlingsstrom auch nur ansatzweise verrin- ordneten Burkhard Lischka, SPD-Fraktion. gern will, der muss bereit sein, die Flüchtlinge in der Kri- senregion viel stärker als bisher zu unterstützen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall des Abg. (Altötting) [CDU/CSU]) Burkhard Lischka (SPD): Die Flüchtlingswanderung können wir nicht mit einem Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Erlauben Machtwort beenden. Aber wir können etwas tun, wenn Sie mir zum Ende dieser Debatte eine simple Feststel- Nahrung und Hoffnung in den Flüchtlingslagern schwin- lung, die Herr Kauder heute Morgen schon einmal ge- den, und zwar sofort. Alles andere wird sich bitter rächen. troffen hat, nämlich: Gute Politik beginnt mit dem Be- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der trachten der Wirklichkeit. CDU/CSU) Was wir in diesen Tagen erleben, ist eine Gesellschaft, Meine Damen und Herren, Deutschland hat in den die schwankt. Sie schwankt zwischen einer wirklich ein- letzten Wochen und Monaten bei der Flüchtlingsaufnah- zigartigen Hilfsbereitschaft, über die sich viele in der me Großartiges geleistet, und wir bleiben auch in Zu- Welt verwundert die Augen reiben, auf die sie aber auch kunft aufnahmebereit. Aber wir können auch nicht Un- mit großer Hochachtung schauen, auf der einen Seite und mögliches leisten. Gerade deshalb werden wir in diesen Zweifeln und Sorgen, ob unser Land eine so große Zahl Tagen Europa nicht aus der Verantwortung entlassen. von Flüchtlingen bewältigen kann, auf der anderen Seite. Es steht die bange Frage im Raum, ob es Grenzen der (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Aufnahmefähigkeit gibt. Fast jeder von uns, auch hier Diese Flüchtlingskrise wird die Europäer auch dazu im Haus, spürt, dass beides in diesen Tagen irgendwie (B) zwingen, ganz grundlegend über sich, ihr Verhältnis un- (D) zusammengehört: das Helfenwollen, aber auch die Ah- tereinander und zum Rest der Welt nachzudenken. Wir nung, dass uns die Realität Grenzen setzt, Grenzen, die brauchen europäische Lösungen. Aber diese können wir mit keiner noch so gut gemeinten Wunschvorstellung nicht darin bestehen, dass wir – 25 Jahre nach Fall des verschieben können. Eisernen Vorhangs – zwischen den europäischen Staaten Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen: Probleme wieder Mauern und Stacheldraht errichten. lassen sich nicht lösen, indem man sie einfach ignoriert. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Es ist wichtig und richtig, die Probleme zu benennen, die des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) die Aufnahme so vieler Menschen bis in den Lebensalltag hinein mit sich bringt. Das muss ohne Schwarzmalerei Wenn jeder Staat die Krise für sich regelt und wir in nati- und Übertreibung und mit klarer Kante gegen Fremden- onalstaatliche Abschottung zurückfallen, dann ist die eu- hass und Rassismus geschehen. Aber die Augen vor den ropäische Idee am Ende – und übrigens die Flüchtlings- Problemen und Herausforderungen zu verschließen, das krise noch immer nicht gelöst. wird nicht funktionieren. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei Abgeordneten der SPD) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Was wir brauchen, sind passende Lösungen und Ant- Wir können nur gemeinsam unsere Außengrenzen worten, um mit der großen Zahl von Flüchtlingen um- kontrollieren, Anmelde- und Registrierzentren an den zugehen. Deshalb brauchen wir schnelle Asylverfahren, EU-Außengrenzen schaffen und dann diejenigen, die un- den Abbau falscher Anreize und eine klare Priorität für seren Schutz benötigen, in einem fairen und gerechten Kriegsflüchtlinge. Verfahren auf 28 europäische Staaten verteilen. Ja, wir können das schaffen in einem Europa mit 508 Millionen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Einwohnern. Aber was jetzt hinzukommen muss, ist der der CDU/CSU) feste politische Wille, die Probleme gemeinsam anzuge- Wer eine Bleibeperspektive hat, den wollen wir schnell hen. Sonst werden wir sehr schnell zu der Einsicht kom- integrieren und auf diese Weise rasch aus Flüchtlingen men: Ja, wir wollen helfen. Aber nein, wir können nicht Mitschüler und Arbeitskollegen machen. Unmögliches schaffen. (Beifall bei der SPD) Recht herzlichen Dank. Wer allerdings nicht vor Krieg und Vertreibung flüchtet, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten den wollen wir zurückführen. Das sind die klaren Bot- der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 12595

(A) Vizepräsident Peter Hintze: Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stim- (C) Ich schließe die Aussprache. me noch nicht abgegeben hat? – Das ist nicht der Fall. Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführerin- Wir kommen zur Abstimmung über den von den nen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen.3) Fraktionen der CDU/CSU und SPD eingebrachten Ent- wurf eines Asylverfahrensbeschleunigungsgesetzes. Wir kommen nun zur dritten namentlichen Abstim- Hierzu liegen eine Reihe von Erklärungen nach § 31 mung: über Artikel 2 des Gesetzentwurfes in der Aus- der Geschäftsordnung des Bundestages vor.1) Der In- schussfassung, Änderung des Asylbewerberleistungsge- nenausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Be- setzes. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, schlussempfehlung auf Drucksache 18/6386, den Ge- die vorgesehenen Plätze einzunehmen. – Das ist der Fall. setzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Ich eröffne die Abstimmung über Artikel 2 des Gesetz- Drucksache 18/6185 in der Ausschussfassung anzuneh- entwurfes in der Ausschussfassung. men. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat bean- Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stim- tragt, über den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung me noch nicht abgegeben hat? – Das ist nicht der Fall. getrennt abzustimmen, und zwar erstens über Artikel 1 Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die Schrift- Nummern 15, 16 und 19 – Änderung der §§ 47, 48 und führerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu 59 a des Asylverfahrensgesetzes –, zweitens über Arti- beginnen.4) kel 1 Nummer 34 – Neufassung der Anlage II zu § 29 a Wir kommen jetzt zur vierten namentlichen Abstim- des Asylverfahrensgesetzes –, drittens über Artikel 2 – mung: über Artikel 8 und Artikel 12 des Gesetzentwur- Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes –, viertens fes in der Ausschussfassung, Änderung des Finanzaus- über Artikel 8 – Änderung des Finanzausgleichsgeset- gleichsgesetzes und Änderung des Entflechtungsgesetzes. zes – und Artikel 12 – Änderung des Entflechtungsgeset- Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die zes – sowie fünftens über den Gesetzentwurf im Übrigen. Plätze einzunehmen. – Ist das der Fall? – Jawohl. Ich er- Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat hierzu vier öffne die Abstimmung über Artikel 8 und Artikel 12 des namentliche Abstimmungen verlangt, die wir nacheinan- Gesetzentwurfes in der Ausschussfassung. der durchführen werden. Nach einer Unterbrechung der Ist jemand im Haus, der bei dieser vierten Abstimmung Sitzung zur Auszählung folgt eine weitere namentliche noch nicht abgestimmt hat? – Das ist nicht der Fall. Ich Abstimmung auf Verlangen der Fraktion Die Linke zur schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführerin- dritten Lesung des Gesetzentwurfes. nen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen.5) Wir kommen zur ersten namentlichen Abstimmung: Bis zum Vorliegen der Ergebnisse der vier namentlichen Abstimmungen unterbreche ich die Sitzung. (B) über Artikel 1 Nummern 15, 16 und 19 des Gesetzent- (D) wurfes in der Ausschussfassung. (Unterbrechung von 12.53 Uhr bis 13.07 Uhr) Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. – Sind alle Urnen be- Vizepräsident Peter Hintze: setzt? – Ich eröffne die Abstimmung. Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet. – Da wir jetzt auch noch mündliche Abstimmungen durchfüh- Hat ein Mitglied des Hauses seine Stimme noch nicht ren werden, bitte ich alle, zu ihren Plätze zu gehen. abgegeben? – Das ist nicht der Fall. Ich schließe die Ab- stimmung und bitte die Schriftführerinnen und Schrift- Ich verlese die vier Protokolle. 2) führer, mit der Auszählung zu beginnen. Erstes Protokoll des von den Schriftführerinnen und Wir kommen jetzt zur zweiten namentlichen Abstim- Schriftführern ermittelten Ergebnisses der namentli- mung: über Artikel 1 Nummer 34 des Gesetzentwurfes in chen Abstimmung über Artikel 1 Nummern 15, 16 und der Ausschussfassung, hier: Neufassung der Anlage II zu 19 des von den Fraktionen der CDU/CSU und der SPD § 29 a des Asylverfahrensgesetzes. eingebrachten Gesetzentwurfs in der Ausschussfassung, Drucksachen 18/6185 und 18/6386: abgegebene Stim- Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die men 601. Mit Ja haben gestimmt 478, mit Nein haben vorgesehenen Plätze einzunehmen. – Sind alle Urnen gestimmt 117, Enthaltungen 6. Damit ist Artikel 1 Num- besetzt? – Das ist der Fall. Ich eröffne die Abstimmung mern 15, 16 und 19 des Gesetzentwurfs in der Ausschuss- über Artikel 1 Nummer 34 des Gesetzentwurfes in der fassung angenommen. Ausschussfassung. 3) Ergebnis Seite 12598 1) Anlagen 4) Ergebnis Seite 12601 2) Ergebnis Seite 12595 5) Ergebnis Seite 12604

Endgültiges Ergebnis Ja (Börde) Abgegebene Stimmen: 598; Dorothee Bär CDU/CSU davon Thomas Bareiß ja: 477 Dr. Andre Berghegger nein: 116 Günter Baumann Dr. enthalten: 5 Peter Altmaier 12596 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015

(A) Monika Grütters Carsten Körber Stefan Müller (Erlangen) (C) Dr. Hartmut Koschyk Dr. Gerd Müller Fritz Güntzler Dr. Philipp Murmann Dr. Dr. Maria Böhmer Gunther Krichbaum Dr. Günter Krings Helmut Nowak Dr. Rüdiger Kruse Dr. Georg Nüßlein Klaus Brähmig Jürgen Hardt Michael Brand Dr. Roy Kühne Dr. Günter Lach Florian Oßner Dr. Stefan Heck Uwe Lagosky Dr. Dr. Dr. Matthias Heider Dr. Karl A. Lamers Dr. Andreas G. Lämmel Dr. Norbert Lammert () Cajus Caesar Mark Helfrich Ulrich Lange Dr. Martin Pätzold Uda Heller Barbara Lanzinger Ulrich Petzold Alexandra Dinges-Dierig Jörg Hellmuth Dr. Dr. Paul Lehrieder Dr. Thomas Dörflinger Peter Hintze Dr. Marie-Luise Dött Dr. Hansjörg Durz Dr. Philipp Graf Lerchenfeld Alois Rainer Iris Eberl Robert Hochbaum Dr. Dr. Jutta Eckenbach Hermann Färber (Dortmund) Dr. Alexander Hoffmann Matthias Lietz Enak Ferlemann Andrea Lindholz Dr. (B) Ingrid Fischbach Franz-Josef Holzenkamp Dr. Johannes Röring (D) Dirk Fischer (Hamburg) Dr. Dr. Norbert Röttgen Axel E. Fischer Margaret Horb Wilfried Lorenz Erwin Rüddel (Karlsruhe-Land) Bettina Hornhues Dr. Claudia Lücking-Michel Dr. Charles M. Huber Dr. Jan-Marco Luczak Anita Schäfer (Saalstadt) Thorsten Frei Anette Hübinger Dr. Wolfgang Schäuble Dr. Hubert Hüppe Dr. Hans-Peter Friedrich Yvonne Magwas (Hof) Sylvia Jörrißen Thomas Mahlberg Jana Schimke Dr. Thomas de Maizière Norbert Schindler Dr. Michael Fuchs Dr. Hans-Joachim Fuchtel Heiko Schmelzle Alexander Funk Dr. Egon Jüttner Hans-Georg von der Marwitz Christian Schmidt (Fürth) Ingo Gädechens Bartholomäus Kalb Gabriele Schmidt (Ühlingen) Dr. Thomas Gebhart Hans-Werner Kammer Stephan Mayer (Altötting) Ronja Schmitt Steffen Kanitz Reiner Meier Dr. Nadine Schön (St. Wendel) Dr. Kristina Schröder Josef Göppel Bernhard Kaster (Wiesbaden) Reinhard Grindel Volker Kauder Dr. h.c. Dr. Ole Schröder Ursula Groden-Kranich Dr. Stefan Kaufmann Dr. Bernhard Schulte-Drüggelte Hermann Gröhe Dr. Klaus-Peter Schulze Klaus-Dieter Gröhler Dr. Karsten Möring Michael Grosse-Brömer (Weil am Astrid Grotelüschen Jürgen Klimke Volker Mosblech Rhein) Markus Grübel Christina Schwarzer Carsten Müller Oliver Grundmann () Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 12597

(A) Annette Widmann-Mauz Michael Gerdes (C) Dr. Heinz Wiese (Ehingen) Detlef Müller (Chemnitz) Bernd Siebert Klaus-Peter Willsch Angelika Glöckner Bettina Müller Elisabeth Winkelmeier- Michelle Müntefering Becker Dr. Rolf Mützenich Oliver Wittke Gabriele Groneberg Dagmar G. Wöhrl Michael Groß Carola Stauche Barbara Woltmann Uli Grötsch Dr. Frank Steffel Wolfgang Gunkel Thomas Oppermann Dr. Heinrich Zertik Mahmut Özdemir (Duisburg) Albert Stegemann Rita Hagl-Kehl Aydan Özoguz Dr. Gudrun Zollner Ulrich Hampel Christian Petry Jeannine Pflugradt SPD Christian Frhr. von Stetten (Peine) Joachim Poß (Minden) Ingrid Arndt-Brauer Rita Stockhofe Dr. Wilhelm Priesmeier Dr. Barbara Hendricks Florian Pronold Max Straubinger Heidtrud Henn Dr. Heinz-Joachim Barchmann Matthäus Strebl Dr. Simone Raatz Dr. Gabriele Hiller-Ohm Thomas Stritzl (Essen) Mechthild Rawert Dr. (Heilbronn) Stefan Rebmann Sören Bartol Lena Strothmann Dr. Eva Högl Gerold Reichenbach Bärbel Bas Michael Stübgen Matthias Ilgen Dr. Uwe Beckmeyer Dr. Sabine Sütterlin-Waack Christina Jantz Lothar Binding (Heidelberg) (B) Dr. Sönke Rix (D) Astrid Timmermann-Fechter Dr. Dr. Karl-Heinz Brunner Dr. Hans-Peter Uhl René Röspel Dr. Volker Ullrich Johannes Kahrs Dr. Dr. Lars Castellucci Michael Roth (Heringen) Petra Crone Bernd Rützel Michael Vietz Dr. Marina Kermer Johann Saathoff (Kleinsaara) Arno Klare Annette Sawade Sven Volmering Martin Dörmann Dr. Hans-Joachim Christel Voßbeck-Kayser Elvira Drobinski-Weiß Dr. Bärbel Kofler Schabedoth Siegmund Ehrmann Birgit Kömpel Axel Schäfer (Bochum) Dr. Michaela Engelmeier Dr. Nina Scheer Dr. h.c. Dr. Hans-Ulrich Krüger Nina Warken Petra Ernstberger Helga Kühn-Mengel Dr. Dorothee Schlegel Karin Evers-Meyer Christian Lange (Backnang) () (Hamburg) Dr. Johannes Fechner Dr. Matthias Schmidt (Berlin) Dr. Dr. Steffen-Claudio Lemme Dagmar Schmidt (Wetzlar) Peter Weiß (Emmendingen) Elke Ferner Burkhard Lischka (Erfurt) Sabine Weiss (Wesel I) Dr. Ute Finckh-Krämer Gabriele Lösekrug-Möller Elfi Scho-Antwerpes Christian Flisek Hiltrud Lotze Ursula Schulte Karl-Georg Wellmann Kirsten Lühmann Dr. Dr. Birgit Malecha-Nissen Waldemar Westermayer Peter Wichtel Sigmar Gabriel Klaus Mindrup Rita Schwarzelühr-Sutter 12598 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015

(A) Dr. Renate Künast (C) Norbert Spinrath Eva Bulling-Schröter Markus Kurth Monika Lazar Martina Stamm-Fibich Sevim Dağdelen Dr. Sahra Wagenknecht Steffi Lemke Dr. Dr. Peer Steinbrück Klaus Ernst Nicole Maisch Dr. Frank-Walter Steinmeier Wolfgang Gehrcke Birgit Wöllert Peter Meiwald Nicole Gohlke Jörn Wunderlich Beate Müller-Gemmeke Michael Thews Sabine Zimmermann Özcan Mutlu Dr. Karin Thissen Dr. Andre Hahn (Zwickau) Dr. Konstantin von Notz Franz Thönnes Heike Hänsel Friedrich Ostendorff Carsten Träger Dr. Cem Özdemir Rüdiger Veit Inge Höger BÜNDNIS 90/ Lisa Paus Andrej Hunko DIE GRÜNEN Brigitte Pothmer Dirk Vöpel Sigrid Hupach Kerstin Andreae Tabea Rößner Ulla Jelpke Annalena Baerbock Claudia Roth (Augsburg) Marieluise Beck (Bremen) Corinna Rüffer Dirk Wiese Katja Kipping Volker Beck (Köln) Manuel Sarrazin Gülistan Yüksel Jan Korte Dr. Franziska Brantner Elisabeth Scharfenberg Jutta Krellmann Katrin Kunert Ekin Deligöz Dr. Dr. Jens Zimmermann Caren Lay Katja Dörner Dr. Manfred Zöllmer Sabine Leidig Katharina Dröge Kordula Schulz-Asche Ralph Lenkert Harald Ebner Dr. Wolfgang Strengmann- Matthias Gastel Kuhn BÜNDNIS 90/ Stefan Liebich Kai Gehring Hans-Christian Ströbele DIE GRÜNEN Dr. Gesine Lötzsch Katrin Göring-Eckardt Dr. Harald Terpe Dr. Valerie Wilms Markus Tressel (B) (D) Birgit Menz Britta Haßelmann Jürgen Trittin Nein Cornelia Möhring Dr. Anton Hofreiter Dr. Julia Verlinden Bärbel Höhn Doris Wagner SPD Norbert Müller (Potsdam) Dieter Janecek Beate Walter-Rosenheimer Dr. Alexander S. Neu Uwe Kekeritz Harald Petzold (Havelland) Katja Keul Enthalten DIE LINKE Richard Pitterle Sven-Christian Kindler SPD Jan van Aken Maria Klein-Schmeink Dr. Dietmar Bartsch Dr. Petra Sitte Tom Koenigs Herbert Behrens Sylvia Kotting-Uhl Marco Bülow Karin Binder Dr. Kirsten Tackmann Oliver Krischer Matthias W. Birkwald Azize Tank Stephan Kühn (Dresden) Susann Rüthrich Heidrun Bluhm Frank Tempel Christian Kühn (Tübingen) (Spandau)

Zweites Protokoll des von den Schriftführerinnen und sachen 18/6185 und 18/6386: abgegebene Stimmen 598. Schriftführern ermittelten Ergebnisses der namentli- Mit Ja haben gestimmt 477, mit Nein haben gestimmt chen Abstimmung über Artikel 1 Nummer 34 des Ge- 118, Enthaltungen 3. Artikel 1 Nummer 35 des Gesetz- setzentwurfs in der Ausschussfassung, Neufassung der entwurfs in der Ausschussfassung ist damit angenom- Anlage II zu § 29 a des Asylverfahrensgesetzes, Druck- men.

Endgültiges Ergebnis Ja Dorothee Bär Sybille Benning Thomas Bareiß Dr. Andre Berghegger Abgegebene Stimmen: 594; CDU/CSU Norbert Barthle Dr. Christoph Bergner davon Stephan Albani Günter Baumann Ute Bertram ja: 473 Katrin Albsteiger Maik Beermann Peter Beyer nein: 118 Peter Altmaier Manfred Behrens (Börde) Steffen Bilger enthalten: 3 Artur Auernhammer Veronika Bellmann Clemens Binninger Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 12599

(A) Peter Bleser Olav Gutting Michael Kretschmer Dr. Andreas Nick (C) Dr. Maria Böhmer Christian Haase Gunther Krichbaum Michaela Noll Wolfgang Bosbach Florian Hahn Dr. Günter Krings Helmut Nowak Norbert Brackmann Dr. Stephan Harbarth Rüdiger Kruse Dr. Georg Nüßlein Klaus Brähmig Jürgen Hardt Bettina Kudla Julia Obermeier Michael Brand Matthias Hauer Dr. Roy Kühne Wilfried Oellers Dr. Reinhard Brandl Mark Hauptmann Günter Lach Florian Oßner Helmut Brandt Dr. Stefan Heck Uwe Lagosky Dr. Tim Ostermann Dr. Ralf Brauksiepe Dr. Matthias Heider Dr. Karl A. Lamers Henning Otte Dr. Helge Braun Helmut Heiderich Andreas G. Lämmel Ingrid Pahlmann Heike Brehmer Mechthild Heil Dr. Norbert Lammert Sylvia Pantel Ralph Brinkhaus Frank Heinrich (Chemnitz) Katharina Landgraf Martin Patzelt Cajus Caesar Mark Helfrich Ulrich Lange Dr. Martin Pätzold Gitta Connemann Uda Heller Barbara Lanzinger Ulrich Petzold Alexandra Dinges-Dierig Jörg Hellmuth Dr. Silke Launert Dr. Joachim Pfeiffer Alexander Dobrindt Michael Hennrich Paul Lehrieder Eckhard Pols Michael Donth Ansgar Heveling Dr. Katja Leikert Thomas Rachel Thomas Dörflinger Peter Hintze Dr. Philipp Lengsfeld Kerstin Radomski Marie-Luise Dött Christian Hirte Dr. Andreas Lenz Alexander Radwan Hansjörg Durz Dr. Heribert Hirte Philipp Graf Lerchenfeld Alois Rainer Iris Eberl Robert Hochbaum Dr. Ursula von der Leyen Dr. Peter Ramsauer Jutta Eckenbach Thorsten Hoffmann Antje Lezius Eckhardt Rehberg Hermann Färber (Dortmund) Ingbert Liebing Lothar Riebsamen Dr. Thomas Feist Alexander Hoffmann Matthias Lietz Josef Rief Enak Ferlemann Karl Holmeier Andrea Lindholz Dr. Heinz Riesenhuber Ingrid Fischbach Franz-Josef Holzenkamp Dr. Carsten Linnemann Johannes Röring Dirk Fischer (Hamburg) Dr. Hendrik Hoppenstedt Patricia Lips Dr. Norbert Röttgen Axel E. Fischer Margaret Horb Wilfried Lorenz Erwin Rüddel (B) (Karlsruhe-Land) Bettina Hornhues Dr. Claudia Lücking-Michel Albert Rupprecht (D) Dr. Maria Flachsbarth Charles M. Huber Dr. Jan-Marco Luczak Anita Schäfer (Saalstadt) Thorsten Frei Anette Hübinger Daniela Ludwig Dr. Wolfgang Schäuble Dr. Astrid Freudenstein Hubert Hüppe Karin Maag Andreas Scheuer Dr. Hans-Peter Friedrich Thomas Jarzombek Yvonne Magwas Karl Schiewerling (Hof) Sylvia Jörrißen Thomas Mahlberg Jana Schimke Michael Frieser Andreas Jung Dr. Thomas de Maizière Norbert Schindler Dr. Michael Fuchs Dr. Franz Josef Jung Gisela Manderla Tankred Schipanski Hans-Joachim Fuchtel Xaver Jung Matern von Marschall Heiko Schmelzle Alexander Funk Dr. Egon Jüttner Hans-Georg von der Marwitz Christian Schmidt (Fürth) Ingo Gädechens Bartholomäus Kalb Andreas Mattfeldt Gabriele Schmidt (Ühlingen) Dr. Thomas Gebhart Hans-Werner Kammer Stephan Mayer (Altötting) Ronja Schmitt Alois Gerig Steffen Kanitz Reiner Meier Patrick Schnieder Eberhard Gienger Alois Karl Dr. Michael Meister Nadine Schön (St. Wendel) Cemile Giousouf Anja Karliczek Jan Metzler Dr. Kristina Schröder Josef Göppel Bernhard Kaster Maria Michalk (Wiesbaden) Reinhard Grindel Volker Kauder Dr. h.c. Hans Michelbach Dr. Ole Schröder Ursula Groden-Kranich Dr. Stefan Kaufmann Dr. Mathias Middelberg Bernhard Schulte-Drüggelte Hermann Gröhe Roderich Kiesewetter Dietrich Monstadt Dr. Klaus-Peter Schulze Klaus-Dieter Gröhler Dr. Georg Kippels Karsten Möring Uwe Schummer Michael Grosse-Brömer Volkmar Klein Marlene Mortler Armin Schuster (Weil am Astrid Grotelüschen Jürgen Klimke Volker Mosblech Rhein) Markus Grübel Axel Knoerig Elisabeth Motschmann Christina Schwarzer Manfred Grund Jens Koeppen Carsten Müller Detlef Seif Oliver Grundmann Markus Koob (Braunschweig) Johannes Selle Monika Grütters Carsten Körber Stefan Müller (Erlangen) Reinhold Sendker Dr. Herlind Gundelach Hartmut Koschyk Dr. Gerd Müller Dr. Patrick Sensburg Fritz Güntzler Kordula Kovac Dr. Philipp Murmann Bernd Siebert 12600 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015

(A) Thomas Silberhorn Elisabeth Winkelmeier- Kerstin Griese Dr. Rolf Mützenich (C) Johannes Singhammer Becker Gabriele Groneberg Andrea Nahles Tino Sorge Oliver Wittke Michael Groß Dietmar Nietan Carola Stauche Dagmar G. Wöhrl Uli Grötsch Ulli Nissen Dr. Frank Steffel Barbara Woltmann Wolfgang Gunkel Thomas Oppermann Dr. Wolfgang Stefinger Tobias Zech Bettina Hagedorn Mahmut Özdemir (Duisburg) Albert Stegemann Heinrich Zertik Rita Hagl-Kehl Aydan Özoguz Peter Stein Emmi Zeulner Metin Hakverdi Markus Paschke Erika Steinbach Dr. Matthias Zimmer Ulrich Hampel Christian Petry Sebastian Steineke Gudrun Zollner Sebastian Hartmann Jeannine Pflugradt Johannes Steiniger Dirk Heidenblut Sabine Poschmann Christian Frhr. von Stetten SPD Hubertus Heil (Peine) Joachim Poß Gabriela Heinrich Achim Post (Minden) Dieter Stier Niels Annen Marcus Held Florian Post Rita Stockhofe Ingrid Arndt-Brauer Wolfgang Hellmich Dr. Wilhelm Priesmeier Gero Storjohann Rainer Arnold Dr. Barbara Hendricks Florian Pronold Stephan Stracke Heike Baehrens Heidtrud Henn Dr. Sascha Raabe Max Straubinger Ulrike Bahr Gustav Herzog Dr. Simone Raatz Matthäus Strebl Heinz-Joachim Barchmann Gabriele Hiller-Ohm Martin Rabanus Karin Strenz Dr. Katarina Barley Petra Hinz (Essen) Stefan Rebmann Thomas Stritzl Doris Barnett Thomas Hitschler Gerold Reichenbach Thomas Strobl (Heilbronn) Dr. Matthias Bartke Dr. Eva Högl Dr. Carola Reimann Lena Strothmann Sören Bartol Matthias Ilgen Andreas Rimkus Michael Stübgen Bärbel Bas Christina Jantz Sönke Rix Dr. Sabine Sütterlin-Waack Uwe Beckmeyer Frank Junge Dennis Rohde Dr. Peter Tauber Lothar Binding (Heidelberg) Josip Juratovic Dr. Martin Rosemann Antje Tillmann Burkhard Blienert Thomas Jurk René Röspel Astrid Timmermann-Fechter Willi Brase Oliver Kaczmarek Dr. Ernst Dieter Rossmann Dr. Hans-Peter Uhl Dr. Karl-Heinz Brunner (B) Johannes Kahrs Michael Roth (Heringen) (D) Dr. Volker Ullrich Martin Burkert Ralf Kapschack Bernd Rützel Arnold Vaatz Dr. Lars Castellucci Gabriele Katzmarek Sarah Ryglewski Oswin Veith Petra Crone Ulrich Kelber Johann Saathoff Thomas Viesehon Bernhard Daldrup Marina Kermer Annette Sawade Michael Vietz Dr. Daniela De Ridder Arno Klare Dr. Hans-Joachim Volkmar Vogel (Kleinsaara) Sabine Dittmar Lars Klingbeil Schabedoth Sven Volmering Martin Dörmann Dr. Bärbel Kofler Axel Schäfer (Bochum) Christel Voßbeck-Kayser Elvira Drobinski-Weiß Birgit Kömpel Dr. Nina Scheer Kees de Vries Siegmund Ehrmann Anette Kramme Marianne Schieder Dr. Johann Wadephul Michaela Engelmeier Dr. Hans-Ulrich Krüger Udo Schiefner Marco Wanderwitz Dr. h.c. Gernot Erler Helga Kühn-Mengel Dr. Dorothee Schlegel Nina Warken Petra Ernstberger Christine Lambrecht Ulla Schmidt (Aachen) Kai Wegner Saskia Esken Christian Lange (Backnang) Matthias Schmidt (Berlin) Albert Weiler Karin Evers-Meyer Dr. Karl Lauterbach Dagmar Schmidt (Wetzlar) Marcus Weinberg (Hamburg) Dr. Johannes Fechner Steffen-Claudio Lemme Carsten Schneider (Erfurt) Dr. Anja Weisgerber Dr. Fritz Felgentreu Burkhard Lischka Elfi Scho-Antwerpes Peter Weiß (Emmendingen) Elke Ferner Gabriele Lösekrug-Möller Ursula Schulte Sabine Weiss (Wesel I) Christian Flisek Hiltrud Lotze Ewald Schurer Ingo Wellenreuther Gabriele Fograscher Kirsten Lühmann Stefan Schwartze Karl-Georg Wellmann Dr. Edgar Franke Dr. Birgit Malecha-Nissen Andreas Schwarz Marian Wendt Ulrich Freese Caren Marks Rita Schwarzelühr-Sutter Waldemar Westermayer Dagmar Freitag Katja Mast Rainer Spiering Kai Whittaker Sigmar Gabriel Klaus Mindrup Norbert Spinrath Peter Wichtel Michael Gerdes Susanne Mittag Svenja Stadler Annette Widmann-Mauz Martin Gerster Detlef Müller (Chemnitz) Martina Stamm-Fibich Heinz Wiese (Ehingen) Angelika Glöckner Bettina Müller Sonja Steffen Klaus-Peter Willsch Ulrike Gottschalck Michelle Müntefering Peer Steinbrück Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 12601

(A) Dr. Frank-Walter Steinmeier Matthias W. Birkwald Frank Tempel Christian Kühn (Tübingen) (C) Claudia Tausend Heidrun Bluhm Dr. Axel Troost Renate Künast Michael Thews Christine Buchholz Alexander Ulrich Markus Kurth Dr. Karin Thissen Eva Bulling-Schröter Kathrin Vogler Monika Lazar Franz Thönnes Roland Claus Dr. Sahra Wagenknecht Steffi Lemke Carsten Träger Sevim Dağdelen Halina Wawzyniak Dr. Tobias Lindner Rüdiger Veit Dr. Diether Dehm Katrin Werner Nicole Maisch Klaus Ernst Birgit Wöllert Ute Vogt Peter Meiwald Dirk Vöpel Nicole Gohlke Jörn Wunderlich Beate Müller-Gemmeke Gabi Weber Annette Groth Sabine Zimmermann Özcan Mutlu Bernd Westphal Dr. Andre Hahn (Zwickau) Dr. Konstantin von Notz Dirk Wiese Heike Hänsel Pia Zimmermann Friedrich Ostendorff Gülistan Yüksel Dr. Rosemarie Hein Cem Özdemir Dagmar Ziegler Inge Höger BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Lisa Paus Stefan Zierke Andrej Hunko Brigitte Pothmer Dr. Jens Zimmermann Sigrid Hupach Kerstin Andreae Manfred Zöllmer Ulla Jelpke Annalena Baerbock Tabea Rößner Brigitte Zypries Kerstin Kassner Marieluise Beck (Bremen) Claudia Roth (Augsburg) Katja Kipping Volker Beck (Köln) Corinna Rüffer BÜNDNIS 90/ Jan Korte Dr. Franziska Brantner Manuel Sarrazin DIE GRÜNEN Jutta Krellmann Agnieszka Brugger Elisabeth Scharfenberg Katrin Kunert Ekin Deligöz Dr. Valerie Wilms Ulle Schauws Caren Lay Katja Dörner Dr. Gerhard Schick Sabine Leidig Katharina Dröge Nein Dr. Frithjof Schmidt Ralph Lenkert Harald Ebner Kordula Schulz-Asche SPD Michael Leutert Kai Gehring Hans-Christian Ströbele Stefan Liebich Katrin Göring-Eckardt Klaus Barthel Dr. Harald Terpe Dr. Gesine Lötzsch Anja Hajduk Cansel Kiziltepe Markus Tressel (B) Thomas Lutze Britta Haßelmann (D) Hilde Mattheis Jürgen Trittin Birgit Menz Dr. Anton Hofreiter Mechthild Rawert Dr. Julia Verlinden Niema Movassat Bärbel Höhn Susann Rüthrich Doris Wagner Norbert Müller (Potsdam) Dieter Janecek Frank Schwabe Beate Walter-Rosenheimer Dr. Alexander S. Neu Uwe Kekeritz Harald Petzold (Havelland) Katja Keul Richard Pitterle Sven-Christian Kindler Enthalten DIE LINKE Martina Renner Maria Klein-Schmeink SPD Jan van Aken Dr. Petra Sitte Tom Koenigs Dr. Dietmar Bartsch Kersten Steinke Sylvia Kotting-Uhl Marco Bülow Herbert Behrens Dr. Kirsten Tackmann Oliver Krischer Dr. Ute Finckh-Krämer Karin Binder Azize Tank Stephan Kühn (Dresden) Swen Schulz (Spandau)

Drittes Protokoll des von den Schriftführerinnen und abgegebene Stimmen 603. Mit Ja haben gestimmt 476, Schriftführern ermittelten Ergebnisses der namentli- mit Nein haben gestimmt 120, Enthaltungen 7. Artikel 2 chen Abstimmung über Artikel 2 des Gesetzentwurfs des Gesetzentwurfs in der Ausschussfassung ist damit in der Ausschussfassung, Änderung des Asylbewerber- angenommen. leistungsgesetzes, Drucksachen 18/6185 und 18/6386:

Endgültiges Ergebnis Ja Thomas Bareiß Dr. Christoph Bergner Norbert Barthle Ute Bertram Abgegebene Stimmen: 597; CDU/CSU Günter Baumann Peter Beyer davon Stephan Albani Maik Beermann Steffen Bilger

ja: 474 Katrin Albsteiger Manfred Behrens (Börde) Clemens Binninger Peter Altmaier Veronika Bellmann Peter Bleser nein: 117 Artur Auernhammer Sybille Benning Dr. Maria Böhmer enthalten: 6 Dorothee Bär Dr. Andre Berghegger Wolfgang Bosbach 12602 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015

(A) Norbert Brackmann Dr. Stephan Harbarth Rüdiger Kruse Dr. Georg Nüßlein (C) Klaus Brähmig Jürgen Hardt Bettina Kudla Julia Obermeier Michael Brand Matthias Hauer Dr. Roy Kühne Wilfried Oellers Dr. Reinhard Brandl Mark Hauptmann Günter Lach Florian Oßner Helmut Brandt Dr. Stefan Heck Uwe Lagosky Dr. Tim Ostermann Dr. Ralf Brauksiepe Dr. Matthias Heider Dr. Karl A. Lamers Henning Otte Dr. Helge Braun Helmut Heiderich Andreas G. Lämmel Ingrid Pahlmann Heike Brehmer Mechthild Heil Dr. Norbert Lammert Sylvia Pantel Ralph Brinkhaus Frank Heinrich (Chemnitz) Katharina Landgraf Martin Patzelt Cajus Caesar Mark Helfrich Ulrich Lange Dr. Martin Pätzold Gitta Connemann Uda Heller Barbara Lanzinger Ulrich Petzold Alexandra Dinges-Dierig Jörg Hellmuth Dr. Silke Launert Dr. Joachim Pfeiffer Alexander Dobrindt Michael Hennrich Paul Lehrieder Eckhard Pols Michael Donth Ansgar Heveling Dr. Katja Leikert Thomas Rachel Thomas Dörflinger Peter Hintze Dr. Philipp Lengsfeld Kerstin Radomski Marie-Luise Dött Christian Hirte Dr. Andreas Lenz Alexander Radwan Hansjörg Durz Dr. Heribert Hirte Philipp Graf Lerchenfeld Alois Rainer Iris Eberl Robert Hochbaum Dr. Ursula von der Leyen Dr. Peter Ramsauer Jutta Eckenbach Thorsten Hoffmann Antje Lezius Eckhardt Rehberg Hermann Färber (Dortmund) Ingbert Liebing Lothar Riebsamen Dr. Thomas Feist Alexander Hoffmann Matthias Lietz Josef Rief Enak Ferlemann Karl Holmeier Andrea Lindholz Dr. Heinz Riesenhuber Ingrid Fischbach Franz-Josef Holzenkamp Dr. Carsten Linnemann Johannes Röring Dirk Fischer (Hamburg) Dr. Hendrik Hoppenstedt Patricia Lips Dr. Norbert Röttgen Axel E. Fischer Margaret Horb Wilfried Lorenz Erwin Rüddel (Karlsruhe-Land) Bettina Hornhues Dr. Claudia Lücking-Michel Albert Rupprecht Dr. Maria Flachsbarth Charles M. Huber Dr. Jan-Marco Luczak Anita Schäfer (Saalstadt) Thorsten Frei Anette Hübinger Daniela Ludwig Dr. Wolfgang Schäuble (B) Dr. Astrid Freudenstein Hubert Hüppe Karin Maag Andreas Scheuer (D) Dr. Hans-Peter Friedrich Thomas Jarzombek Yvonne Magwas Karl Schiewerling (Hof) Sylvia Jörrißen Thomas Mahlberg Jana Schimke Michael Frieser Andreas Jung Dr. Thomas de Maizière Norbert Schindler Dr. Michael Fuchs Dr. Franz Josef Jung Gisela Manderla Tankred Schipanski Hans-Joachim Fuchtel Xaver Jung Matern von Marschall Heiko Schmelzle Alexander Funk Dr. Egon Jüttner Hans-Georg von der Marwitz Christian Schmidt (Fürth) Ingo Gädechens Bartholomäus Kalb Andreas Mattfeldt Gabriele Schmidt (Ühlingen) Dr. Thomas Gebhart Hans-Werner Kammer Stephan Mayer (Altötting) Ronja Schmitt Alois Gerig Steffen Kanitz Reiner Meier Patrick Schnieder Eberhard Gienger Alois Karl Dr. Michael Meister Nadine Schön (St. Wendel) Cemile Giousouf Anja Karliczek Jan Metzler Dr. Kristina Schröder Josef Göppel Bernhard Kaster Maria Michalk (Wiesbaden) Reinhard Grindel Volker Kauder Dr. h.c. Hans Michelbach Dr. Ole Schröder Ursula Groden-Kranich Dr. Stefan Kaufmann Dr. Mathias Middelberg Bernhard Schulte-Drüggelte Hermann Gröhe Roderich Kiesewetter Dietrich Monstadt Dr. Klaus-Peter Schulze Klaus-Dieter Gröhler Dr. Georg Kippels Karsten Möring Uwe Schummer Michael Grosse-Brömer Volkmar Klein Marlene Mortler Armin Schuster (Weil am Astrid Grotelüschen Jürgen Klimke Volker Mosblech Rhein) Markus Grübel Axel Knoerig Elisabeth Motschmann Christina Schwarzer Manfred Grund Jens Koeppen Carsten Müller Detlef Seif Oliver Grundmann Markus Koob (Braunschweig) Johannes Selle Monika Grütters Carsten Körber Stefan Müller (Erlangen) Reinhold Sendker Dr. Herlind Gundelach Hartmut Koschyk Dr. Gerd Müller Dr. Patrick Sensburg Fritz Güntzler Kordula Kovac Dr. Philipp Murmann Bernd Siebert Olav Gutting Michael Kretschmer Dr. Andreas Nick Thomas Silberhorn Christian Haase Gunther Krichbaum Michaela Noll Johannes Singhammer Florian Hahn Dr. Günter Krings Helmut Nowak Tino Sorge Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 12603

(A) Jens Spahn Barbara Woltmann Wolfgang Gunkel Thomas Oppermann (C) Carola Stauche Tobias Zech Bettina Hagedorn Mahmut Özdemir (Duisburg) Dr. Frank Steffel Heinrich Zertik Rita Hagl-Kehl Aydan Özoguz Dr. Wolfgang Stefinger Emmi Zeulner Metin Hakverdi Markus Paschke Albert Stegemann Dr. Matthias Zimmer Ulrich Hampel Christian Petry Peter Stein Gudrun Zollner Sebastian Hartmann Jeannine Pflugradt Erika Steinbach Dirk Heidenblut Sabine Poschmann Sebastian Steineke SPD Hubertus Heil (Peine) Joachim Poß Johannes Steiniger Gabriela Heinrich Achim Post (Minden) Niels Annen Christian Frhr. von Stetten Marcus Held Florian Post Ingrid Arndt-Brauer Dieter Stier Wolfgang Hellmich Dr. Wilhelm Priesmeier Rainer Arnold Rita Stockhofe Dr. Barbara Hendricks Florian Pronold Heike Baehrens Gero Storjohann Heidtrud Henn Dr. Sascha Raabe Ulrike Bahr Stephan Stracke Gustav Herzog Dr. Simone Raatz Heinz-Joachim Barchmann Max Straubinger Gabriele Hiller-Ohm Martin Rabanus Dr. Katarina Barley Matthäus Strebl Petra Hinz (Essen) Mechthild Rawert Doris Barnett Karin Strenz Thomas Hitschler Stefan Rebmann Dr. Matthias Bartke Thomas Stritzl Dr. Eva Högl Gerold Reichenbach Sören Bartol Thomas Strobl (Heilbronn) Matthias Ilgen Dr. Carola Reimann Bärbel Bas Lena Strothmann Christina Jantz Andreas Rimkus Uwe Beckmeyer Michael Stübgen Frank Junge Sönke Rix Lothar Binding (Heidelberg) Dr. Sabine Sütterlin-Waack Josip Juratovic Dennis Rohde Burkhard Blienert Dr. Peter Tauber Thomas Jurk Dr. Martin Rosemann Willi Brase Antje Tillmann Oliver Kaczmarek René Röspel Dr. Karl-Heinz Brunner Astrid Timmermann-Fechter Johannes Kahrs Dr. Ernst Dieter Rossmann Martin Burkert Dr. Hans-Peter Uhl Ralf Kapschack Michael Roth (Heringen) Dr. Lars Castellucci Dr. Volker Ullrich Gabriele Katzmarek Bernd Rützel Petra Crone Arnold Vaatz Ulrich Kelber Sarah Ryglewski Bernhard Daldrup (B) Oswin Veith Marina Kermer Johann Saathoff (D) Dr. Daniela De Ridder Thomas Viesehon Arno Klare Annette Sawade Sabine Dittmar Michael Vietz Lars Klingbeil Dr. Hans-Joachim Martin Dörmann Volkmar Vogel (Kleinsaara) Dr. Bärbel Kofler Schabedoth Elvira Drobinski-Weiß Sven Volmering Birgit Kömpel Axel Schäfer (Bochum) Christel Voßbeck-Kayser Siegmund Ehrmann Anette Kramme Dr. Nina Scheer Kees de Vries Michaela Engelmeier Dr. Hans-Ulrich Krüger Marianne Schieder Dr. Johann Wadephul Dr. h.c. Gernot Erler Helga Kühn-Mengel Udo Schiefner Marco Wanderwitz Petra Ernstberger Christine Lambrecht Dr. Dorothee Schlegel Nina Warken Saskia Esken Christian Lange (Backnang) Ulla Schmidt (Aachen) Kai Wegner Karin Evers-Meyer Dr. Karl Lauterbach Matthias Schmidt (Berlin) Albert Weiler Dr. Johannes Fechner Steffen-Claudio Lemme Dagmar Schmidt (Wetzlar) Dr. Anja Weisgerber Dr. Fritz Felgentreu Burkhard Lischka Carsten Schneider (Erfurt) Peter Weiß (Emmendingen) Elke Ferner Gabriele Lösekrug-Möller Elfi Scho-Antwerpes Sabine Weiss (Wesel I) Christian Flisek Hiltrud Lotze Ursula Schulte Ingo Wellenreuther Gabriele Fograscher Kirsten Lühmann Ewald Schurer Karl-Georg Wellmann Dr. Edgar Franke Dr. Birgit Malecha-Nissen Stefan Schwartze Marian Wendt Ulrich Freese Caren Marks Andreas Schwarz Waldemar Westermayer Dagmar Freitag Katja Mast Rita Schwarzelühr-Sutter Kai Whittaker Sigmar Gabriel Klaus Mindrup Rainer Spiering Peter Wichtel Michael Gerdes Susanne Mittag Norbert Spinrath Annette Widmann-Mauz Martin Gerster Detlef Müller (Chemnitz) Svenja Stadler Heinz Wiese (Ehingen) Angelika Glöckner Bettina Müller Martina Stamm-Fibich Klaus-Peter Willsch Ulrike Gottschalck Michelle Müntefering Sonja Steffen Elisabeth Winkelmeier- Kerstin Griese Dr. Rolf Mützenich Peer Steinbrück Becker Gabriele Groneberg Andrea Nahles Dr. Frank-Walter Steinmeier Oliver Wittke Michael Groß Dietmar Nietan Claudia Tausend Dagmar G. Wöhrl Uli Grötsch Ulli Nissen Michael Thews 12604 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015

(A) Dr. Karin Thissen Wolfgang Gehrcke Katrin Werner Steffi Lemke (C) Franz Thönnes Nicole Gohlke Birgit Wöllert Dr. Tobias Lindner Carsten Träger Annette Groth Jörn Wunderlich Nicole Maisch Rüdiger Veit Dr. Andre Hahn Sabine Zimmermann Peter Meiwald Ute Vogt Heike Hänsel (Zwickau) Beate Müller-Gemmeke Dirk Vöpel Dr. Rosemarie Hein Pia Zimmermann Özcan Mutlu Gabi Weber Inge Höger Dr. Konstantin von Notz Bernd Westphal Andrej Hunko BÜNDNIS 90/ Friedrich Ostendorff Dirk Wiese Sigrid Hupach DIE GRÜNEN Cem Özdemir Gülistan Yüksel Ulla Jelpke Kerstin Andreae Lisa Paus Dagmar Ziegler Kerstin Kassner Annalena Baerbock Brigitte Pothmer Katja Kipping Stefan Zierke Marieluise Beck (Bremen) Tabea Rößner Jan Korte Dr. Jens Zimmermann Volker Beck (Köln) Claudia Roth (Augsburg) Jutta Krellmann Manfred Zöllmer Dr. Franziska Brantner Corinna Rüffer Katrin Kunert Brigitte Zypries Agnieszka Brugger Manuel Sarrazin Caren Lay Ekin Deligöz Elisabeth Scharfenberg Sabine Leidig BÜNDNIS 90/ Katja Dörner Ulle Schauws DIE GRÜNEN Ralph Lenkert Katharina Dröge Dr. Gerhard Schick Michael Leutert Dr. Valerie Wilms Harald Ebner Dr. Frithjof Schmidt Stefan Liebich Matthias Gastel Kordula Schulz-Asche Dr. Gesine Lötzsch Nein Kai Gehring Dr. Wolfgang Strengmann- Thomas Lutze Katrin Göring-Eckardt Kuhn SPD Birgit Menz Anja Hajduk Hans-Christian Ströbele Cornelia Möhring Cansel Kiziltepe Dr. Harald Terpe Niema Movassat Britta Haßelmann Susann Rüthrich Markus Tressel Norbert Müller (Potsdam) Dr. Anton Hofreiter Jürgen Trittin Dr. Alexander S. Neu Bärbel Höhn DIE LINKE Dr. Julia Verlinden Harald Petzold (Havelland) Dieter Janecek Doris Wagner (B) Jan van Aken Richard Pitterle Uwe Kekeritz (D) Beate Walter-Rosenheimer Dr. Dietmar Bartsch Martina Renner Katja Keul Herbert Behrens Dr. Petra Sitte Sven-Christian Kindler Karin Binder Kersten Steinke Maria Klein-Schmeink Enthalten Matthias W. Birkwald Dr. Kirsten Tackmann Tom Koenigs SPD Heidrun Bluhm Azize Tank Sylvia Kotting-Uhl Christine Buchholz Frank Tempel Oliver Krischer Klaus Barthel Eva Bulling-Schröter Dr. Axel Troost Stephan Kühn (Dresden) Marco Bülow Roland Claus Alexander Ulrich Christian Kühn (Tübingen) Dr. Ute Finckh-Krämer Sevim Dağdelen Kathrin Vogler Renate Künast Hilde Mattheis Dr. Diether Dehm Dr. Sahra Wagenknecht Markus Kurth Swen Schulz (Spandau) Klaus Ernst Halina Wawzyniak Monika Lazar Frank Schwabe

Viertes Protokoll des von den Schriftführerinnen und tungsgesetzes, Drucksachen 18/6185 und 18/6386: abge- Schriftführern ermittelten Ergebnisses der nament- gebene Stimmen 601. Mit Ja haben gestimmt 544, mit lichen Abstimmung über Artikel 8 und Artikel 12 des Nein hat keiner gestimmt, Enthaltungen 57. Artikel 8 und Gesetzentwurfs in der Ausschussfassung, Änderung des Artikel 12 des Gesetzentwurfs sind in der Ausschussfas- Finanzausgleichsgesetzes und Änderung des Entflech- sung angenommen.

Endgültiges Ergebnis Ja Norbert Barthle Peter Beyer Günter Baumann Steffen Bilger Abgegebene Stimmen: 599; CDU/CSU Maik Beermann Clemens Binninger Manfred Behrens (Börde) Peter Bleser davon Stephan Albani Katrin Albsteiger Veronika Bellmann Dr. Maria Böhmer ja: 542 Peter Altmaier Sybille Benning Wolfgang Bosbach Artur Auernhammer Dr. Andre Berghegger Norbert Brackmann nein: 0 Dorothee Bär Dr. Christoph Bergner Klaus Brähmig enthalten: 57 Thomas Bareiß Ute Bertram Michael Brand Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 12605

(A) Dr. Reinhard Brandl Mark Hauptmann Günter Lach Florian Oßner (C) Helmut Brandt Dr. Stefan Heck Uwe Lagosky Dr. Tim Ostermann Dr. Ralf Brauksiepe Dr. Matthias Heider Dr. Karl A. Lamers Henning Otte Dr. Helge Braun Helmut Heiderich Andreas G. Lämmel Ingrid Pahlmann Heike Brehmer Mechthild Heil Dr. Norbert Lammert Sylvia Pantel Ralph Brinkhaus Frank Heinrich (Chemnitz) Katharina Landgraf Martin Patzelt Cajus Caesar Mark Helfrich Ulrich Lange Dr. Martin Pätzold Gitta Connemann Uda Heller Barbara Lanzinger Ulrich Petzold Alexandra Dinges-Dierig Jörg Hellmuth Dr. Silke Launert Dr. Joachim Pfeiffer Alexander Dobrindt Michael Hennrich Paul Lehrieder Eckhard Pols Michael Donth Ansgar Heveling Dr. Katja Leikert Thomas Rachel Thomas Dörflinger Peter Hintze Dr. Philipp Lengsfeld Kerstin Radomski Marie-Luise Dött Christian Hirte Dr. Andreas Lenz Alexander Radwan Hansjörg Durz Dr. Heribert Hirte Philipp Graf Lerchenfeld Alois Rainer Iris Eberl Robert Hochbaum Dr. Ursula von der Leyen Dr. Peter Ramsauer Jutta Eckenbach Thorsten Hoffmann Antje Lezius Eckhardt Rehberg Hermann Färber (Dortmund) Ingbert Liebing Lothar Riebsamen Dr. Thomas Feist Alexander Hoffmann Matthias Lietz Josef Rief Enak Ferlemann Karl Holmeier Andrea Lindholz Dr. Heinz Riesenhuber Ingrid Fischbach Franz-Josef Holzenkamp Dr. Carsten Linnemann Johannes Röring Dirk Fischer (Hamburg) Dr. Hendrik Hoppenstedt Patricia Lips Dr. Norbert Röttgen Axel E. Fischer Margaret Horb Wilfried Lorenz Erwin Rüddel (Karlsruhe-Land) Bettina Hornhues Dr. Claudia Lücking-Michel Albert Rupprecht Dr. Maria Flachsbarth Charles M. Huber Dr. Jan-Marco Luczak Anita Schäfer (Saalstadt) Thorsten Frei Anette Hübinger Daniela Ludwig Dr. Wolfgang Schäuble Dr. Astrid Freudenstein Hubert Hüppe Karin Maag Andreas Scheuer Dr. Hans-Peter Friedrich Thomas Jarzombek Yvonne Magwas Karl Schiewerling (Hof) Sylvia Jörrißen Thomas Mahlberg Jana Schimke (B) Michael Frieser Andreas Jung Dr. Thomas de Maizière Norbert Schindler (D) Dr. Michael Fuchs Dr. Franz Josef Jung Gisela Manderla Tankred Schipanski Hans-Joachim Fuchtel Xaver Jung Matern von Marschall Heiko Schmelzle Alexander Funk Dr. Egon Jüttner Hans-Georg von der Marwitz Christian Schmidt (Fürth) Ingo Gädechens Bartholomäus Kalb Andreas Mattfeldt Gabriele Schmidt (Ühlingen) Dr. Thomas Gebhart Hans-Werner Kammer Stephan Mayer (Altötting) Ronja Schmitt Alois Gerig Steffen Kanitz Reiner Meier Patrick Schnieder Eberhard Gienger Alois Karl Dr. Michael Meister Nadine Schön (St. Wendel) Cemile Giousouf Anja Karliczek Jan Metzler Dr. Kristina Schröder Josef Göppel Bernhard Kaster Maria Michalk (Wiesbaden) Reinhard Grindel Volker Kauder Dr. h.c. Hans Michelbach Dr. Ole Schröder Ursula Groden-Kranich Dr. Stefan Kaufmann Dr. Mathias Middelberg Bernhard Schulte-Drüggelte Hermann Gröhe Roderich Kiesewetter Dietrich Monstadt Dr. Klaus-Peter Schulze Klaus-Dieter Gröhler Dr. Georg Kippels Karsten Möring Uwe Schummer Michael Grosse-Brömer Volkmar Klein Marlene Mortler Armin Schuster (Weil am Astrid Grotelüschen Jürgen Klimke Volker Mosblech Rhein) Markus Grübel Axel Knoerig Elisabeth Motschmann Christina Schwarzer Manfred Grund Jens Koeppen Carsten Müller Detlef Seif Oliver Grundmann Markus Koob (Braunschweig) Johannes Selle Monika Grütters Carsten Körber Stefan Müller (Erlangen) Reinhold Sendker Dr. Herlind Gundelach Hartmut Koschyk Dr. Gerd Müller Dr. Patrick Sensburg Fritz Güntzler Kordula Kovac Dr. Philipp Murmann Bernd Siebert Olav Gutting Michael Kretschmer Dr. Andreas Nick Thomas Silberhorn Christian Haase Gunther Krichbaum Michaela Noll Johannes Singhammer Florian Hahn Dr. Günter Krings Helmut Nowak Tino Sorge Dr. Stephan Harbarth Rüdiger Kruse Dr. Georg Nüßlein Jens Spahn Jürgen Hardt Bettina Kudla Julia Obermeier Carola Stauche Matthias Hauer Dr. Roy Kühne Wilfried Oellers Dr. Frank Steffel 12606 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015

(A) Dr. Wolfgang Stefinger Heinrich Zertik Uli Grötsch Andrea Nahles (C) Albert Stegemann Emmi Zeulner Wolfgang Gunkel Dietmar Nietan Peter Stein Dr. Matthias Zimmer Bettina Hagedorn Ulli Nissen Erika Steinbach Gudrun Zollner Rita Hagl-Kehl Thomas Oppermann Sebastian Steineke Metin Hakverdi Mahmut Özdemir (Duisburg) Johannes Steiniger SPD Ulrich Hampel Aydan Özoguz Christian Frhr. von Stetten Sebastian Hartmann Markus Paschke Niels Annen Dieter Stier Dirk Heidenblut Christian Petry Ingrid Arndt-Brauer Rita Stockhofe Hubertus Heil (Peine) Jeannine Pflugradt Rainer Arnold Gero Storjohann Gabriela Heinrich Sabine Poschmann Heike Baehrens Stephan Stracke Marcus Held Joachim Poß Ulrike Bahr Max Straubinger Wolfgang Hellmich Achim Post (Minden) Heinz-Joachim Barchmann Matthäus Strebl Dr. Barbara Hendricks Florian Post Dr. Katarina Barley Karin Strenz Heidtrud Henn Dr. Wilhelm Priesmeier Doris Barnett Thomas Stritzl Gustav Herzog Florian Pronold Klaus Barthel Thomas Strobl (Heilbronn) Gabriele Hiller-Ohm Dr. Sascha Raabe Dr. Matthias Bartke Lena Strothmann Petra Hinz (Essen) Dr. Simone Raatz Sören Bartol Michael Stübgen Thomas Hitschler Martin Rabanus Bärbel Bas Dr. Sabine Sütterlin-Waack Dr. Eva Högl Mechthild Rawert Uwe Beckmeyer Dr. Peter Tauber Matthias Ilgen Stefan Rebmann Lothar Binding (Heidelberg) Antje Tillmann Christina Jantz Gerold Reichenbach Burkhard Blienert Astrid Timmermann-Fechter Frank Junge Dr. Carola Reimann Willi Brase Dr. Hans-Peter Uhl Josip Juratovic Andreas Rimkus Dr. Karl-Heinz Brunner Dr. Volker Ullrich Thomas Jurk Sönke Rix Marco Bülow Arnold Vaatz Oliver Kaczmarek Dennis Rohde Martin Burkert Oswin Veith Johannes Kahrs Dr. Martin Rosemann Dr. Lars Castellucci Thomas Viesehon Ralf Kapschack René Röspel Petra Crone Michael Vietz Gabriele Katzmarek Dr. Ernst Dieter Rossmann Bernhard Daldrup (B) Volkmar Vogel (Kleinsaara) Ulrich Kelber Michael Roth (Heringen) (D) Dr. Daniela De Ridder Sven Volmering Marina Kermer Susann Rüthrich Sabine Dittmar Christel Voßbeck-Kayser Cansel Kiziltepe Bernd Rützel Martin Dörmann Kees de Vries Arno Klare Sarah Ryglewski Elvira Drobinski-Weiß Dr. Johann Wadephul Lars Klingbeil Johann Saathoff Marco Wanderwitz Siegmund Ehrmann Dr. Bärbel Kofler Annette Sawade Nina Warken Michaela Engelmeier Birgit Kömpel Dr. Hans-Joachim Kai Wegner Dr. h.c. Gernot Erler Anette Kramme Schabedoth Albert Weiler Petra Ernstberger Dr. Hans-Ulrich Krüger Axel Schäfer (Bochum) Marcus Weinberg (Hamburg) Saskia Esken Helga Kühn-Mengel Dr. Nina Scheer Dr. Anja Weisgerber Karin Evers-Meyer Christine Lambrecht Marianne Schieder Peter Weiß (Emmendingen) Dr. Johannes Fechner Christian Lange (Backnang) Udo Schiefner Sabine Weiss (Wesel I) Dr. Fritz Felgentreu Dr. Karl Lauterbach Dr. Dorothee Schlegel Ingo Wellenreuther Elke Ferner Steffen-Claudio Lemme Ulla Schmidt (Aachen) Karl-Georg Wellmann Dr. Ute Finckh-Krämer Burkhard Lischka Matthias Schmidt (Berlin) Marian Wendt Christian Flisek Gabriele Lösekrug-Möller Dagmar Schmidt (Wetzlar) Waldemar Westermayer Gabriele Fograscher Hiltrud Lotze Carsten Schneider (Erfurt) Kai Whittaker Dr. Edgar Franke Kirsten Lühmann Elfi Scho-Antwerpes Peter Wichtel Ulrich Freese Dr. Birgit Malecha-Nissen Ursula Schulte Annette Widmann-Mauz Dagmar Freitag Caren Marks Swen Schulz (Spandau) Heinz Wiese (Ehingen) Sigmar Gabriel Katja Mast Ewald Schurer Klaus-Peter Willsch Michael Gerdes Hilde Mattheis Frank Schwabe Elisabeth Winkelmeier- Martin Gerster Klaus Mindrup Stefan Schwartze Becker Angelika Glöckner Susanne Mittag Andreas Schwarz Oliver Wittke Ulrike Gottschalck Detlef Müller (Chemnitz) Rita Schwarzelühr-Sutter Dagmar G. Wöhrl Kerstin Griese Bettina Müller Rainer Spiering Barbara Woltmann Gabriele Groneberg Michelle Müntefering Norbert Spinrath Tobias Zech Michael Groß Dr. Rolf Mützenich Svenja Stadler Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 12607

(A) Martina Stamm-Fibich Katrin Göring-Eckardt Kordula Schulz-Asche Kerstin Kassner (C) Sonja Steffen Anja Hajduk Dr. Wolfgang Strengmann- Katja Kipping Peer Steinbrück Britta Haßelmann Kuhn Jan Korte Dr. Frank-Walter Steinmeier Dr. Anton Hofreiter Hans-Christian Ströbele Jutta Krellmann Christoph Strässer Bärbel Höhn Dr. Harald Terpe Katrin Kunert Claudia Tausend Dieter Janecek Markus Tressel Caren Lay Michael Thews Uwe Kekeritz Jürgen Trittin Sabine Leidig Dr. Karin Thissen Katja Keul Dr. Julia Verlinden Ralph Lenkert Doris Wagner Franz Thönnes Sven-Christian Kindler Michael Leutert Beate Walter-Rosenheimer Carsten Träger Maria Klein-Schmeink Stefan Liebich Rüdiger Veit Dr. Valerie Wilms Tom Koenigs Dr. Gesine Lötzsch Ute Vogt Sylvia Kotting-Uhl Thomas Lutze Dirk Vöpel Oliver Krischer Enthalten Birgit Menz Gabi Weber Stephan Kühn (Dresden) Cornelia Möhring Bernd Westphal Christian Kühn (Tübingen) DIE LINKE Niema Movassat Dirk Wiese Renate Künast Jan van Aken Norbert Müller (Potsdam) Gülistan Yüksel Markus Kurth Dr. Dietmar Bartsch Dr. Alexander S. Neu Dagmar Ziegler Monika Lazar Herbert Behrens Harald Petzold (Havelland) Stefan Zierke Steffi Lemke Karin Binder Richard Pitterle Dr. Jens Zimmermann Dr. Tobias Lindner Matthias W. Birkwald Martina Renner Manfred Zöllmer Nicole Maisch Heidrun Bluhm Dr. Petra Sitte Brigitte Zypries Peter Meiwald Christine Buchholz Beate Müller-Gemmeke Eva Bulling-Schröter Kersten Steinke BÜNDNIS 90/ Özcan Mutlu Roland Claus Dr. Kirsten Tackmann DIE GRÜNEN Dr. Konstantin von Notz Sevim Dağdelen Azize Tank Kerstin Andreae Friedrich Ostendorff Dr. Diether Dehm Frank Tempel Annalena Baerbock Cem Özdemir Klaus Ernst Dr. Axel Troost Marieluise Beck (Bremen) Lisa Paus Wolfgang Gehrcke Alexander Ulrich (B) (D) Volker Beck (Köln) Brigitte Pothmer Nicole Gohlke Kathrin Vogler Dr. Franziska Brantner Tabea Rößner Annette Groth Dr. Sahra Wagenknecht Agnieszka Brugger Claudia Roth (Augsburg) Dr. Andre Hahn Halina Wawzyniak Ekin Deligöz Corinna Rüffer Heike Hänsel Katrin Werner Katja Dörner Manuel Sarrazin Dr. Rosemarie Hein Birgit Wöllert Katharina Dröge Elisabeth Scharfenberg Inge Höger Jörn Wunderlich Harald Ebner Ulle Schauws Andrej Hunko Sabine Zimmermann Matthias Gastel Dr. Gerhard Schick Sigrid Hupach (Zwickau) Kai Gehring Dr. Frithjof Schmidt Ulla Jelpke Pia Zimmermann

Ich rufe nun die übrigen Teile des Gesetzentwurfs in schließe die Abstimmung und bitte die Schriftführerin- der Ausschussfassung auf. Ich bitte diejenigen, die zu- nen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. stimmen wollen, um ihr Handzeichen. – Wer stimmt da- Das Ergebnis der namentlichen Abstimmung wird Ihnen gegen? – Wer enthält sich? – Die übrigen Teile des Gesetz- später bekannt gegeben.1) entwurfs sind mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion Wir kommen nun zur Abstimmung über den Entschlie- und der SPD-Fraktion bei Enthaltung der Fraktion Bünd- ßungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf nis 90/Die Grünen und gegen die Stimmen der Fraktion Drucksache 18/6393. Wer stimmt dafür? – Wer stimmt da- Die Linke in zweiter Beratung angenommen. gegen? – Wer enthält sich? – Der Entschließungsantrag ist Dritte Beratung mit Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und der SPD-Frak- tion bei Zustimmung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und Schlussabstimmung. Wir stimmen nun über den und Enthaltung der Fraktion Die Linke abgelehnt. Gesetzentwurf auf Verlangen der Fraktion Die Linke na- mentlich ab. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schrift- Vizepräsidentin Ulla Schmidt: führer, ihre Plätze an den Urnen einzunehmen. – Sind Tagesordnungspunkt 5 b. Wir setzen die Abstimmun- alle Plätze an den Urnen besetzt? – Das ist der Fall. Ich gen über die Beschlussempfehlungen des Innenausschus- eröffne die Schlussabstimmung über den Gesetzentwurf. ses auf Drucksache 18/6386 fort. Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stim- me noch nicht abgegeben hat? – Das ist nicht der Fall. Ich 1) Ergebnis Seite 12609 12608 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015

Vizepräsidentin Ulla Schmidt (A) Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Be- Beschlussempfehlung des Ausschusses? – Wer ist dage- (C) schlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Frak- gen? – Wer enthält sich? – Wunderbar. tion Die Linke auf Drucksache 18/3839 mit dem Titel (Beifall des Abg. Christian Kühn (Tübingen) „Flüchtlinge willkommen heißen – Für einen grundle- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) genden Wandel in der Asylpolitik“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer Die Beschlussempfehlung ist also mit den Stimmen der enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Koalitionsfraktionen bei Ablehnung der Fraktion Die Linke und bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen Grünen angenommen. der Opposition angenommen. Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchsta- Unter Buchstabe c empfiehlt der Ausschuss die Ableh- be d seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des nung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck- 18/6190 mit dem Titel „Alle Flüchtlinge willkommen sache 18/4694 mit dem Titel „Für eine faire finanzielle heißen – Gegen eine Politik der Ausgrenzung und Dis- Verantwortungsteilung bei der Aufnahme und Versor- kriminierung“. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- gung von Flüchtlingen“. Wer stimmt für diese Beschlus- lung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die sempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koaliti- sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen onsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition ange- von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen von Bünd- nommen. nis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen. (Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Es muss ein Fehler gewesen sein! Sie Jetzt kommt Tagesordnungspunkt 5 c. Abstimmung haben über c abstimmen lassen, Frau Präsi- über die Beschlussempfehlung des Haushaltsausschusses dentin, richtig?) zu dem von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur schnelleren Entlastung der Länder – Ja, c. und Kommunen bei der Aufnahme und Unterbringung von Asylbewerbern. Der Haushaltsausschuss empfiehlt (Zuruf der Abg. Anja Hajduk [BÜNDNIS 90/ in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/6381, DIE GRÜNEN]) den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache – Gut. Dann wiederholen wir die Abstimmung. Jetzt pas- 18/6172 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese sen alle bitte mal auf. Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist die Beschlussempfehlung ein- (B) Unter Buchstabe c empfiehlt der Ausschuss die- Ab stimmig angenommen. (D) lehnung des Antrages der Fraktion Die Linke auf Druck- sache 18/6190 mit dem Titel „Alle Flüchtlinge willkom- Tagesordnungspunkt 5 d. Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Ge- men heißen – Gegen eine Politik der Ausgrenzung und setzes zur Verbesserung der Unterbringung, Versorgung Diskriminierung“. und Betreuung ausländischer Kinder und Jugendlicher. (Max Straubinger [CDU/CSU]: Nein, das ist Der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend er nicht, Frau Präsidentin!) empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/6392, den Gesetzentwurf der Bundes- Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? regierung auf Drucksachen 18/5921 und 18/6289 in der (Max Straubinger [CDU/CSU]: Das ist ja b, Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die Frau Präsidentin! – Weitere Zurufe von der dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen CDU/CSU: Das ist b! – Jörn Wunderlich [DIE wollen, um das Handzeichen. – Wer ist dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter LINKE], an die CDU/CSU gewandt: Mein Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen ge- Gott, passt doch mal ein bisschen auf dort hin- gen die Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung ten!) von Bündnis 90/Die Grünen angenommen. – Darf ich vielleicht noch einmal wiederholen – ich weiß, Dritte Beratung es ist jetzt sehr anstrengend –: Unter Buchstabe b lautete der Antrag der Linken: „Flüchtlinge willkommen hei- und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem ßen“ – das ist gleich –, aber dann folgt: „Für einen grund- Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz- legenden Wandel in der Asylpolitik“. Die entsprechende entwurf ist in dritter Lesung mit dem gleichen Stimmen- Beschlussempfehlung ist angenommen worden. Jetzt verhältnis angenommen. kommt Buchstabe c. Da lautet der Antrag der Linken: „Alle Flüchtlinge willkommen heißen – Gegen eine Poli- Tagesordnungspunkt 5 e. Abstimmung über die Be- tik der Ausgrenzung und Diskriminierung“. Auch hierzu schlussempfehlung des Ausschusses für Familie, Senio- gibt es eine Beschlussempfehlung des Ausschusses, die ren, Frauen und Jugend auf der Drucksache 18/6392. Der besagt: Dieser Antrag soll abgelehnt werden. Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlus- sempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Jetzt bitte ich noch mal alle, über die Beschlussemp- Die Linke auf Drucksache 18/4185 mit dem Titel „Un- fehlung zu Buchstabe c abzustimmen. Wer ist für die begleitete minderjährige Flüchtlinge mit einer starken Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 12609

Vizepräsidentin Ulla Schmidt (A) Jugendhilfe aufnehmen“. Wer stimmt für diese Beschlus- Überweisungsvorschlag: (C) sempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur (f) Ausschuss für Wirtschaft und Energie sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppo- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union sition angenommen. Haushaltsausschuss Unter Buchstabe c empfiehlt der Ausschuss die Ableh- b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine Leidig, Herbert Behrens, Caren Lay, weiterer Ab- nung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen geordneter und der Fraktion DIE LINKE auf Drucksache 18/5932 mit dem Titel „Das Kindeswohl bei der Versorgung unbegleiteter minderjähriger Flücht- Die notwendigen Konsequenzen aus dem Be- linge absichern“. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- trugsskandal um Kfz-Abgase ziehen lung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Drucksache 18/6325 Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koaliti- Überweisungsvorschlag: onsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition ange- Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur (f) nommen. Ausschuss für Wirtschaft und Energie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktor­ Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b auf: sicherheit a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Oliver Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für Krischer, Kerstin Andreae, Stephan Kühn (Dres- die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei- den), weiterer Abgeordneter und der Fraktion nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Bevor ich die Aussprache eröffne, möchte ich Ihnen Aus dem Pkw-Abgasskandal Konsequenzen das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermit- ziehen – Wettbewerbsfähigkeit der Automo- telte Ergebnis der namentlichen Abstimmung bekannt bilindustrie sichern geben: abgegebene Stimmen 600. Mit Ja haben gestimmt 475, mit Nein haben gestimmt 68, Enthaltungen 57. Da- Drucksache 18/6334 mit ist der Gesetzentwurf angenommen.

Endgültiges Ergebnis Wolfgang Bosbach Dr. Hans-Peter Friedrich Mark Hauptmann (Hof) Abgegebene Stimmen: 599; Norbert Brackmann Dr. Stefan Heck Klaus Brähmig Michael Frieser Dr. Matthias Heider (B) davon (D) ja: 475 Michael Brand Dr. Michael Fuchs Helmut Heiderich nein: 68 Dr. Reinhard Brandl Hans-Joachim Fuchtel Mechthild Heil enthalten: 56 Helmut Brandt Alexander Funk Frank Heinrich (Chemnitz) Dr. Ralf Brauksiepe Ingo Gädechens Mark Helfrich Dr. Thomas Gebhart Ja Dr. Helge Braun Uda Heller Heike Brehmer Alois Gerig Jörg Hellmuth CDU/CSU Ralph Brinkhaus Eberhard Gienger Michael Hennrich Stephan Albani Cajus Caesar Cemile Giousouf Ansgar Heveling Katrin Albsteiger Gitta Connemann Josef Göppel Peter Hintze Peter Altmaier Alexandra Dinges-Dierig Reinhard Grindel Christian Hirte Artur Auernhammer Alexander Dobrindt Ursula Groden-Kranich Dr. Heribert Hirte Dorothee Bär Michael Donth Hermann Gröhe Robert Hochbaum Thomas Bareiß Thomas Dörflinger Klaus-Dieter Gröhler Thorsten Hoffmann Norbert Barthle Marie-Luise Dött Michael Grosse-Brömer (Dortmund) Günter Baumann Hansjörg Durz Astrid Grotelüschen Alexander Hoffmann Maik Beermann Iris Eberl Markus Grübel Karl Holmeier Manfred Behrens (Börde) Jutta Eckenbach Manfred Grund Franz-Josef Holzenkamp Veronika Bellmann Hermann Färber Oliver Grundmann Dr. Hendrik Hoppenstedt Sybille Benning Dr. Thomas Feist Monika Grütters Margaret Horb Dr. Andre Berghegger Enak Ferlemann Dr. Herlind Gundelach Bettina Hornhues Dr. Christoph Bergner Ingrid Fischbach Fritz Güntzler Charles M. Huber Ute Bertram Dirk Fischer (Hamburg) Olav Gutting Anette Hübinger Peter Beyer Axel E. Fischer Christian Haase Hubert Hüppe Steffen Bilger (Karlsruhe-Land) Florian Hahn Thomas Jarzombek Clemens Binninger Dr. Maria Flachsbarth Dr. Stephan Harbarth Sylvia Jörrißen Peter Bleser Thorsten Frei Jürgen Hardt Andreas Jung Dr. Maria Böhmer Dr. Astrid Freudenstein Matthias Hauer Dr. Franz Josef Jung 12610 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015

(A) Xaver Jung Matern von Marschall Heiko Schmelzle Christel Voßbeck-Kayser (C) Dr. Egon Jüttner Hans-Georg von der Marwitz Christian Schmidt (Fürth) Kees de Vries Bartholomäus Kalb Andreas Mattfeldt Gabriele Schmidt (Ühlingen) Dr. Johann Wadephul Hans-Werner Kammer Stephan Mayer (Altötting) Ronja Schmitt Marco Wanderwitz Steffen Kanitz Reiner Meier Patrick Schnieder Nina Warken Alois Karl Dr. Michael Meister Nadine Schön (St. Wendel) Kai Wegner Anja Karliczek Jan Metzler Dr. Kristina Schröder Albert Weiler Bernhard Kaster Maria Michalk (Wiesbaden) Marcus Weinberg (Hamburg) Volker Kauder Dr. h.c. Hans Michelbach Dr. Ole Schröder Dr. Anja Weisgerber Dr. Stefan Kaufmann Dr. Mathias Middelberg Bernhard Schulte-Drüggelte Peter Weiß (Emmendingen) Roderich Kiesewetter Dietrich Monstadt Dr. Klaus-Peter Schulze Sabine Weiss (Wesel I) Dr. Georg Kippels Karsten Möring Uwe Schummer Ingo Wellenreuther Volkmar Klein Marlene Mortler Armin Schuster (Weil am Karl-Georg Wellmann Rhein) Jürgen Klimke Volker Mosblech Marian Wendt Christina Schwarzer Axel Knoerig Elisabeth Motschmann Waldemar Westermayer Detlef Seif Jens Koeppen Carsten Müller Kai Whittaker Johannes Selle Markus Koob (Braunschweig) Peter Wichtel Reinhold Sendker Carsten Körber Stefan Müller (Erlangen) Annette Widmann-Mauz Dr. Patrick Sensburg Hartmut Koschyk Dr. Gerd Müller Heinz Wiese (Ehingen) Bernd Siebert Kordula Kovac Dr. Philipp Murmann Klaus-Peter Willsch Dr. Andreas Nick Thomas Silberhorn Michael Kretschmer Elisabeth Winkelmeier- Gunther Krichbaum Michaela Noll Johannes Singhammer Becker Dr. Günter Krings Helmut Nowak Tino Sorge Oliver Wittke Rüdiger Kruse Dr. Georg Nüßlein Jens Spahn Dagmar G. Wöhrl Bettina Kudla Julia Obermeier Carola Stauche Barbara Woltmann Dr. Frank Steffel Dr. Roy Kühne Wilfried Oellers Tobias Zech Dr. Wolfgang Stefinger Günter Lach Florian Oßner Heinrich Zertik Albert Stegemann Uwe Lagosky Dr. Tim Ostermann Emmi Zeulner Peter Stein (B) Dr. Karl A. Lamers Henning Otte Dr. Matthias Zimmer (D) Ingrid Pahlmann Erika Steinbach Andreas G. Lämmel Gudrun Zollner Dr. Norbert Lammert Sylvia Pantel Sebastian Steineke Martin Patzelt Johannes Steiniger Katharina Landgraf SPD Ulrich Lange Dr. Martin Pätzold Christian Frhr. von Stetten Barbara Lanzinger Ulrich Petzold Dieter Stier Niels Annen Dr. Silke Launert Dr. Joachim Pfeiffer Rita Stockhofe Ingrid Arndt-Brauer Paul Lehrieder Eckhard Pols Gero Storjohann Rainer Arnold Dr. Katja Leikert Thomas Rachel Stephan Stracke Heike Baehrens Dr. Philipp Lengsfeld Kerstin Radomski Max Straubinger Ulrike Bahr Dr. Andreas Lenz Alexander Radwan Matthäus Strebl Heinz-Joachim Barchmann Philipp Graf Lerchenfeld Alois Rainer Karin Strenz Dr. Katarina Barley Dr. Ursula von der Leyen Dr. Peter Ramsauer Thomas Stritzl Doris Barnett Antje Lezius Eckhardt Rehberg Thomas Strobl (Heilbronn) Dr. Matthias Bartke Ingbert Liebing Lothar Riebsamen Lena Strothmann Sören Bartol Matthias Lietz Josef Rief Michael Stübgen Bärbel Bas Andrea Lindholz Dr. Heinz Riesenhuber Dr. Sabine Sütterlin-Waack Uwe Beckmeyer Dr. Carsten Linnemann Johannes Röring Dr. Peter Tauber Lothar Binding (Heidelberg) Patricia Lips Dr. Norbert Röttgen Antje Tillmann Burkhard Blienert Wilfried Lorenz Erwin Rüddel Astrid Timmermann-Fechter Willi Brase Dr. Claudia Lücking-Michel Albert Rupprecht Dr. Hans-Peter Uhl Dr. Karl-Heinz Brunner Dr. Jan-Marco Luczak Anita Schäfer (Saalstadt) Dr. Volker Ullrich Martin Burkert Daniela Ludwig Dr. Wolfgang Schäuble Arnold Vaatz Dr. Lars Castellucci Karin Maag Andreas Scheuer Oswin Veith Petra Crone Yvonne Magwas Karl Schiewerling Thomas Viesehon Bernhard Daldrup Thomas Mahlberg Jana Schimke Michael Vietz Dr. Daniela De Ridder Dr. Thomas de Maizière Norbert Schindler Volkmar Vogel (Kleinsaara) Sabine Dittmar Gisela Manderla Tankred Schipanski Sven Volmering Martin Dörmann Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 12611

(A) Elvira Drobinski-Weiß Birgit Kömpel Dr. Nina Scheer Heidrun Bluhm (C) Siegmund Ehrmann Anette Kramme Marianne Schieder Christine Buchholz Michaela Engelmeier Dr. Hans-Ulrich Krüger Udo Schiefner Eva Bulling-Schröter Dr. h.c. Gernot Erler Helga Kühn-Mengel Dr. Dorothee Schlegel Roland Claus Petra Ernstberger Christine Lambrecht Ulla Schmidt (Aachen) Sevim Dağdelen Saskia Esken Christian Lange (Backnang) Matthias Schmidt (Berlin) Dr. Diether Dehm Karin Evers-Meyer Dr. Karl Lauterbach Dagmar Schmidt (Wetzlar) Klaus Ernst Dr. Johannes Fechner Steffen-Claudio Lemme Carsten Schneider (Erfurt) Wolfgang Gehrcke Dr. Fritz Felgentreu Burkhard Lischka Elfi Scho-Antwerpes Nicole Gohlke Elke Ferner Gabriele Lösekrug-Möller Ursula Schulte Annette Groth Christian Flisek Hiltrud Lotze Ewald Schurer Dr. Andre Hahn Gabriele Fograscher Kirsten Lühmann Frank Schwabe Heike Hänsel Dr. Edgar Franke Dr. Birgit Malecha-Nissen Stefan Schwartze Ulrich Freese Caren Marks Andreas Schwarz Dr. Rosemarie Hein Dagmar Freitag Katja Mast Rita Schwarzelühr-Sutter Inge Höger Sigmar Gabriel Klaus Mindrup Rainer Spiering Andrej Hunko Michael Gerdes Susanne Mittag Norbert Spinrath Sigrid Hupach Martin Gerster Detlef Müller (Chemnitz) Svenja Stadler Ulla Jelpke Angelika Glöckner Bettina Müller Martina Stamm-Fibich Kerstin Kassner Ulrike Gottschalck Michelle Müntefering Sonja Steffen Katja Kipping Kerstin Griese Dr. Rolf Mützenich Peer Steinbrück Jan Korte Gabriele Groneberg Andrea Nahles Dr. Frank-Walter Steinmeier Jutta Krellmann Michael Groß Dietmar Nietan Claudia Tausend Katrin Kunert Uli Grötsch Ulli Nissen Michael Thews Caren Lay Wolfgang Gunkel Thomas Oppermann Dr. Karin Thissen Sabine Leidig Bettina Hagedorn Mahmut Özdemir (Duisburg) Franz Thönnes Ralph Lenkert Rita Hagl-Kehl Aydan Özoguz Carsten Träger Michael Leutert Metin Hakverdi Markus Paschke Rüdiger Veit Stefan Liebich (B) Ulrich Hampel Christian Petry Ute Vogt (D) Dr. Gesine Lötzsch Sebastian Hartmann Jeannine Pflugradt Dirk Vöpel Thomas Lutze Dirk Heidenblut Sabine Poschmann Gabi Weber Birgit Menz Hubertus Heil (Peine) Joachim Poß Bernd Westphal Cornelia Möhring Gabriela Heinrich Achim Post (Minden) Dirk Wiese Marcus Held Florian Post Gülistan Yüksel Niema Movassat Wolfgang Hellmich Dr. Wilhelm Priesmeier Dagmar Ziegler Norbert Müller (Potsdam) Dr. Barbara Hendricks Florian Pronold Stefan Zierke Dr. Alexander S. Neu Heidtrud Henn Dr. Sascha Raabe Dr. Jens Zimmermann Harald Petzold (Havelland) Gustav Herzog Dr. Simone Raatz Manfred Zöllmer Richard Pitterle Gabriele Hiller-Ohm Martin Rabanus Brigitte Zypries Martina Renner Petra Hinz (Essen) Stefan Rebmann Dr. Petra Sitte Thomas Hitschler Gerold Reichenbach BÜNDNIS 90/ Kersten Steinke Dr. Eva Högl Dr. Carola Reimann DIE GRÜNEN Dr. Kirsten Tackmann Matthias Ilgen Andreas Rimkus Dr. Valerie Wilms Azize Tank Christina Jantz Sönke Rix Frank Tempel Frank Junge Dennis Rohde Nein Dr. Axel Troost Josip Juratovic Dr. Martin Rosemann Alexander Ulrich Thomas Jurk René Röspel SPD Kathrin Vogler Oliver Kaczmarek Dr. Ernst Dieter Rossmann Cansel Kiziltepe Dr. Sahra Wagenknecht Johannes Kahrs Michael Roth (Heringen) Ralf Kapschack Bernd Rützel Halina Wawzyniak DIE LINKE Gabriele Katzmarek Sarah Ryglewski Katrin Werner Ulrich Kelber Johann Saathoff Jan van Aken Birgit Wöllert Marina Kermer Annette Sawade Dr. Dietmar Bartsch Jörn Wunderlich Arno Klare Dr. Hans-Joachim Herbert Behrens Sabine Zimmermann Lars Klingbeil Schabedoth Karin Binder (Zwickau) Dr. Bärbel Kofler Axel Schäfer (Bochum) Matthias W. Birkwald Pia Zimmermann 12612 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015

(A) BÜNDNIS 90/ Dr. Ute Finckh-Krämer Anja Hajduk Dr. Konstantin von Notz (C) DIE GRÜNEN Hilde Mattheis Britta Haßelmann Omid Nouripour Volker Beck (Köln) Mechthild Rawert Dr. Anton Hofreiter Friedrich Ostendorff Susann Rüthrich Agnieszka Brugger Bärbel Höhn Lisa Paus Swen Schulz (Spandau) Dieter Janecek Sven-Christian Kindler Brigitte Pothmer Christoph Strässer Uwe Kekeritz Tabea Rößner Stephan Kühn (Dresden) BÜNDNIS 90/ Katja Keul Claudia Roth (Augsburg) Monika Lazar DIE GRÜNEN Maria Klein-Schmeink Manuel Sarrazin Peter Meiwald Kerstin Andreae Tom Koenigs Elisabeth Scharfenberg Corinna Rüffer Annalena Baerbock Sylvia Kotting-Uhl Ulle Schauws Hans-Christian Ströbele Marieluise Beck (Bremen) Oliver Krischer Dr. Gerhard Schick Jürgen Trittin Dr. Franziska Brantner Christian Kühn (Tübingen) Dr. Frithjof Schmidt Dr. Julia Verlinden Ekin Deligöz Renate Künast Kordula Schulz-Asche Katja Dörner Markus Kurth Dr. Wolfgang Strengmann- Enthalten Katharina Dröge Steffi Lemke Kuhn Harald Ebner Dr. Tobias Lindner Dr. Harald Terpe SPD Matthias Gastel Nicole Maisch Markus Tressel Klaus Barthel Kai Gehring Beate Müller-Gemmeke Doris Wagner Marco Bülow Katrin Göring-Eckardt Özcan Mutlu Beate Walter-Rosenheimer

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Dr. Anton Das Problem ist – das merkt man auch an den Zwi- Hofreiter, Bündnis 90/Die Grünen. Bitte schön. schenrufen –, dass weder Regierung noch Koalitions- fraktionen oder Autoindustrie bis jetzt gemerkt haben, Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): dass diese Grenzwerte keine lästige Erfindung sind. Man Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen hat sie nicht eingeführt, weil man sich gesagt hat: Wir är- und Kollegen! Man kann sich leider des Eindrucks nicht gern jetzt mal die Autoindustrie und erlassen Grenzwer- erwehren, dass VW und die Bundesregierung in einem te. – Nein, diese Grenzwerte gibt es aus einem sehr ein- Punkt sehr deutlich etwas gemeinsam haben: Beiden wa- fachen Grund. Es gibt sie, weil die Autoabgase toxisch (B) ren saubere Autos nicht wirklich wichtig; die einen haben für Menschen sind, weil die Autoabgase die Gesundheit (D) geschummelt, und die anderen haben wunderbar wegge- der Menschen gefährden, insbesondere in den Städten, schaut. wo die Autodichte höher ist. Deshalb gibt es diese Grenz­ werte, und nicht, um die Autoindustrie zu ärgern. Und (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – deshalb sind diese Grenzwerte einzuhalten. Max Straubinger [CDU/CSU]: Wir haben die besten Autos, Herr Hofreiter!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Wir sehen allerdings, wohin das führt: VW ist schwer angeschlagen, „made in “ ist in manchen Re- Die Grenzwerte gibt es noch aus einem weiteren gionen in Verruf geraten. Es gilt der alte Spruch – dies- Grund: Weil wir verhindern wollen, dass der CO2-Aus- mal gilt er wirklich, meine Damen und Herren von der stoß am Ende zu einem so starken Klimawandel führt, CSU –: Wer betrügt, der fliegt – und zwar aus dem Markt. dass unsere Lebensgrundlagen gefährdet werden. Des- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wegen gibt es diese Grenzwerte. sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Max Es ist schon bedenklich, wenn Vertreter der Autoin- Straubinger [CDU/CSU]: Das müssen Sie die dustrie sagen: Uns war natürlich klar, dass das alles gar Käufer entscheiden lassen, Herr Hofreiter!) nicht so ernst gemeint war. Die Autokäufer wissen doch Leider ist der schöne Spruch „Vorsprung durch Tech- eigentlich, dass ein Auto, für das ein Verbrauch von 5 Li- nik“ ersetzt worden durch „Vorsprung durch Betrug“. tern angegeben wird, in Wirklichkeit 7 Liter verbraucht. Diese Grenzwerte sind doch eigentlich dazu da, um (Max Straubinger [CDU/CSU]: Das ist doch Autos untereinander vergleichen zu können. Auch das nicht wahr!) Umweltbundesamt sagt uns: Wir wissen auch, dass die- So was funktioniert auf Dauer allerdings nie; denn die se NOx-Grenzwerte eigentlich gar nicht ernst gemeint Schummelei kommt am Ende immer heraus. Durch das waren. Die wirkliche Belastung ist ein Vielfaches die- Wegschauen des Verkehrsministeriums wurde das zur ses Wertes. – So ist das Ganze allerdings nicht gedacht. größten Gefahr für die Arbeitsplätze bei uns in Deutsch- Diese Grenzwerte waren politisch dafür gedacht, unser land. Klima und die Gesundheit der Menschen in den Städten zu schützen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Max Straubinger [CDU/CSU]: Weil Sie es ka- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN puttmachen wollen!) sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 12613

Dr. Anton Hofreiter (A) Wie konnte es überhaupt so weit kommen? Wie konn- Verkehrsministerium endlich handeln, und da muss auch (C) te der größte Autokonzern Deutschlands und Europas in Frau Hendricks endlich handeln, statt nur zu reden! so große Schwierigkeiten geraten, dass man jetzt insge- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- samt überlegen muss, wie es weitergeht? Es konnte so SES 90/DIE GRÜNEN) weit kommen, weil es eine unheilige Allianz zwischen der Bundesregierung und den Automanagern gibt, weil Wir brauchen Kaufprämien, wir brauchen vernünftige es zu oft Autokanzler gab, weil es sowohl bei den Sozial- Grenzwerte, und wir brauchen ein Ministerium, das nicht demokraten als auch in der Union zu viele Leute gab, die nur von Kontrollen redet, sondern diese Kontrollen auch sagten, dass sie Benzin im Blut haben. real, auf der Straße, umsetzt. Denn es ist doch absurd, dass das Kraftfahrt-Bundesamt de facto ein paar Häk- (Zuruf der Abg. Ulli Nissen [SPD]) chen auf ein paar Zetteln macht, aber nicht in der Lage Das ist eines der Hauptprobleme dahinter. ist, irgendetwas selber zu kontrollieren. Deshalb meine Aufforderung an das Verkehrsministerium: Handeln Sie Es kam auch deshalb so weit, weil die Autoindustrie endlich! Sorgen Sie für vernünftige Kontrollen! Sorgen nach und nach größenwahnsinnig geworden ist. Vertreter Sie für vernünftige Rahmenbedingungen! Eine Auto- der Autoindustrie konnten einfach bei Frau Merkel anru- industrie, die in Zukunft saubere Autos baut und nicht fen, und Frau Merkel hat dann auf Wunsch der Autoin- schummelt, hat die besten Chancen, eine führende Indus- dustrie einen bereits ausgehandelten Kompromiss zu den trie für die Zukunft Deutschlands zu werden. CO2-Grenzwerten zerschossen. Dass eine Autoindustrie, die so viel Macht und Einfluss hat, am Ende glaubt, über (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN den Gesetzen zu stehen, und zwar nicht nur in Deutsch- sowie bei Abgeordneten der LINKEN) land und Europa, sondern auch in den USA, das ist nahe- liegend. Und das ist ein Riesenproblem für unser Land. Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Kommen Sie jetzt bitte zum Schluss, Herr Hofreiter; (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN das wäre gut. Sonst muss ich Ihren Leuten Zeit abziehen. und bei der LINKEN)

Was ist jetzt zu tun, damit VW nicht so endet wie Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Eon und RWE? Können Sie sich noch daran erinnern, Das war schon der Schluss, und die CSU ist glücklich. wie arrogant Eon und RWE waren? Sie haben gesagt: Ach, die erneuerbaren Energien werden nie mehr als 3, (Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ 4 Prozent zur Stromerzeugung beitragen; wir setzen wei- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) (B) ter auf klassische, alte Kohlekraftwerke. Und wie stehen (D) sie jetzt da? Jetzt stehen sie am Rand der Pleite, und die Kommunen in NRW sind in höchster Not. Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Genau diese Gefahr kann uns bei den Autokonzernen Für die Bundesregierung hat jetzt der Staatssekretär drohen. Die Autokonzerne sind von großer Bedeutung Ferlemann das Wort. für die Bundesrepublik Deutschland; (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ordneten der SPD) (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN) Enak Ferlemann, Parl. Staatssekretär beim Bundes- denn die Autoindustrie ist eine der zentralen Industrien minister für Verkehr und digitale Infrastruktur: bei uns. Die Autokonzerne sind von großer Bedeutung Sehr geschätzte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen für Tausende von Menschen, die dort arbeiten. Sie sind und Kollegen! Zuallererst möchte ich meinen Minister von großer Bedeutung für die Kommunen, die auf die entschuldigen, der heute sicherlich sehr gerne eine Rede Steuerzahlungen dieser Konzerne angewiesen sind. Sie zu diesem Tagesordnungspunkt gehalten hätte. sind insgesamt für die ökonomische Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland von großer Bedeutung, (Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- weil die Autoindustrie eine zentrale Industrie ist. NEN]: Oh ja! Das glaube ich! – Weitere Zuru- fe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Deshalb können die Konzerne nur eine einzige logi- sche Konsequenz daraus ziehen: In Zukunft bauen wir Aber er ist, wie Sie wissen, auch auf Ihren Wunsch im nicht nur bequeme und gute und schöne Autos – das be- Haushaltsausschuss gebunden, und das Haushaltsrecht streitet niemand –, sondern in Zukunft bauen wir auch ist das höchste Recht des Parlaments. Das bitte ich zu die saubersten Autos; respektieren. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Zum Zweiten möchte ich sagen: Ich komme aus dem sowie bei Abgeordneten der LINKEN) VW-Land, aus Niedersachsen. Die Auswirkungen, die dieser Skandal hat, werden bei uns bis in jedes Dorf zu in Zukunft überlassen wir die Technologieführerschaft spüren sein. Die Auswirkungen auf die Struktur unseres nicht Toyota, das zum Beispiel ein Wasserstoffauto ent- Landes und auf die dortigen Bedingungen werden enorm wickelt hat, oder Hyundai. Das ist die ganz entscheiden- sein. Deswegen ist man als Niedersachse äußerst betrof- de Frage. Dafür bedarf es guter Rahmenbedingungen, fen. Denn man sagt bei uns nicht zu Unrecht: Wenn VW die von der Politik gesetzt werden müssen. Da muss das erkältet ist, liegt Niedersachsen schon mit einer Grippe 12614 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015

Parl. Staatssekretär Enak Ferlemann (A) im Bett. – Jetzt ist VW wahrscheinlich nicht nur erkäl- Bereichen sind wir aktiv und Ihrem Anti-Auto-Antrag (C) tet, sondern schwer erkrankt. Deswegen müssen wir uns sehr weit voraus. auch um unser Land, um Niedersachsen, durchaus Sor- Zum ersten Komplex. Wir haben sofort nach Be- gen machen. kanntwerden der Vorwürfe der US-Behörden das Kraft- Die von Volkswagen eingestandenen Manipulationen fahrt-Bundesamt angewiesen, strenge spezifische Nach- bei den Emissionen von Dieselfahrzeugen sind ein sehr prüfungen bei Volkswagen durch unabhängige Gutachter ernstzunehmender Vorgang. Sie sind unzulässig und il- vornehmen zu lassen. Diese Nachprüfungen erstrecken legal, und sie erfordern sowohl eine vollumfängliche sich auch auf Fahrzeuge anderer Hersteller im In- und Aufklärung als auch eine zügige Beseitigung der entspre- Ausland. Dabei wird sowohl auf dem Prüfstand, der so- chenden Einrichtungen. VW steht in der Verantwortung, genannten Rolle, als auch unter realen Verkehrsbedin- den Schaden zu beheben, eine damit verbundene Belas- gungen auf der Straße kontrolliert. tung seiner Kunden auszuschließen und verlorengegan- Darüber hinaus haben wir eine Untersuchungskom- genes Vertrauen wiederherzustellen. Das ist ein großer mission unter der Leitung von Staatssekretär Odenwald, Schaden für die Marke VW; so viel steht jetzt schon besetzt mit Fachleuten aus dem Bundesverkehrsministe- einmal fest. Ein Weg, den ich allerdings nicht mitgehe, rium und dem Kraftfahrt-Bundesamt, eingesetzt, die be- ist, jetzt eine ganze Branche, so wie Herr Hofreiter es reits wenige Tage nach Bekanntwerden der Vorwürfe in gemacht hat, unter Generalverdacht zu stellen Wolfsburg zu ersten Gesprächen war und Einsicht in die (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Unterlagen genommen hat. Das Kraftfahrt-Bundesamt ordneten der SPD) hat VW im Zuge dessen aufgefordert, einen verbindli- chen Maßnahmen- und Zeitplan vorzulegen und tech- und wegen der Manipulationen Einzelner Hunderttau- nische Details zu der installierten Software mitzuteilen. sende von fleißigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Dieser Plan ist bei uns Mitte letzter Woche fristgerecht zu verunglimpfen. eingegangen. (Max Straubinger [CDU/CSU]: Genau so ist Das Kraftfahrt-Bundesamt hat heute eine rechtsver- es!) bindliche Anordnung zum verpflichtenden Rückruf der Wenn die Grünen in ihrem Antrag der gesamten Auto- Fahrzeuge gegenüber VW erlassen. Die zugrundeliegen- mobilbranche Schönfärberei oder Greenwashing vorwer- de EG-Verordnung sieht vor, dass das Kraftfahrt-Bun- fen und ihr grüner Vorzeige-Verkehrspessimist Winnie desamt zur Beseitigung aufgetretener Mängel und zur Hermann sagt: „Mit 750 000 Arbeitsplätzen ist die Auto- Gewährleistung der Vorschriftsmäßigkeit auch bereits (B) mobilindustrie nicht ... so bedeutend, wie sie tut“ – Zitat im Verkehr befindlicher Fahrzeuge nachträglich Neben- (D) Ende –, dann ist das eine unglaubliche Respektlosigkeit bestimmungen anordnen kann. Von dieser Möglichkeit gegenüber den Menschen, die in den vergangenen Jahr- macht das Kraftfahrt-Bundesamt nunmehr Gebrauch. zehnten an vorderster Stelle für unser aller Wachstum (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- und unseren Wohlstand gearbeitet haben und es auch NEN]: Das hätte es mal früher machen sollen!) heute noch tun. Dieser Bescheid kommt im Hinblick auf den Sach- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- verhalt zu dem Ergebnis, dass es sich bei dem von VW ordneten der SPD – Zuruf der Abg. Sabine in bestimmte Diesel-Kfz eingebauten Softwareprogram- Leidig [DIE LINKE]) men um eine unzulässige Abschalteinrichtung handelt. Deutschland ist und bleibt das Autoland Nummer eins. Er auferlegt VW, die unzulässigen Abschalteinrichtun- Wir sind seit 130 Jahren Innovationsführer beim Auto- gen zu entfernen und geeignete Maßnahmen zur Wieder- mobil. Alle wichtigen Erfindungen – vom Viertaktmotor herstellung der Vorschriftsmäßigkeit insbesondere der bis zum Antiblockiersystem – kommen aus Deutschland. Emissionen des genehmigten Systems nach der Entfer- Darauf beruht ein wesentlicher Teil unseres Wohlstands, nung dieser zu ergreifen und dies durch entsprechende und darauf können wir alle miteinander zu Recht stolz Nachweise zu belegen. sein. Er auferlegt VW außerdem, den von VW am 7. Okto- (Stefan Liebich [DIE LINKE]: Die Schum- ber 2015 vorgelegten Zeit- und Maßnahmenplan einzu- melsoftware kommt auch aus Deutschland!) halten und über den Erfolg der Rückrufaktion dem Kraft- fahrt-Bundesamt regelmäßig zu berichten. Was Sie machen, ist teilweise unanständig und auch eine unzulässige Vermischung verschiedener Sachverhalte. Hinsichtlich der Fristen sieht der Bescheid ferner Fol- gendes vor: Für Fahrzeuge mit einem 2-Liter-Aggregat (Sabine Leidig [DIE LINKE]: Was Sie ma- ist bis zum Ende dieses Monats eine generelle Lösung chen, ist unanständig! Das ist ja unglaublich!) für die Mängelbehebung anhand eines Fahrzeugs mit Insgesamt geht es um drei unterschiedliche Komplexe, Testsoftware verbindlich aufzuzeigen. Für Fahrzeuge mit die unabhängig voneinander zu betrachten sind: erstens einem 1,6-Liter-Aggregat ist bis Mitte November eine um die Manipulation bei Dieselfahrzeugen durch VW, generelle Lösung für die Mängelbehebung verbindlich zweitens um die Optimierung von Prüfmechanismen in aufzuzeigen. Für Fahrzeuge mit einem 1,2-Liter-Aggre- der Typengenehmigung und drittens um die Überprüfung gat ist bis Ende November eine generelle Lösung für die des ordnungsgemäßen Wartungszustandes. In allen drei Mängelbehebung verbindlich aufzuzeigen. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 12615

(A) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Bereits heute sind bei der Typengenehmigung nach (C) Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage EU-Recht sogenannte nationale Überwachungspro- der Kollegin Leidig? gramme möglich. Dies wird umgangssprachlich auch Feldüberwachung genannt. Dabei wird nach der Typen- genehmigung stichpunktartig die Konformität der Seri- Parl. Staatssekretär beim Bundes- Enak Ferlemann, enfahrzeuge überprüft. minister für Verkehr und digitale Infrastruktur: Nein, ich möchte im Zusammenhang berichten. Zum dritten Komplex. Ein weiteres, wieder ande- res Thema, das man eben nicht vermischen darf, ist die Überprüfung des ordnungsgemäßen Wartungszustandes Vizepräsidentin Ulla Schmidt: der Fahrzeuge, die sich bereits im Betrieb befinden. Hier Danke schön. greift die sogenannte AU, die periodische Abgasuntersu- chung, die sich in den vergangenen Jahren sehr bewährt Enak Ferlemann, Parl. Staatssekretär beim Bundes- hat. minister für Verkehr und digitale Infrastruktur: (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Die entsprechenden Rückrufaktionen beginnen An- NEN]: Was? Das meinen Sie nicht wirklich fang 2016. Deren Einleitung und auch deren Fortgang ernst! Ich fasse es nicht! – Dr. Anton Hofreiter werden ebenso vom Kraftfahrt-Bundesamt überwacht [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was hat sich werden. bewährt?) Fest steht, dass VW bei allen Maßnahmen die Ver- Um auch hier noch näher an die Realemissionen he- braucherinteressen vollumfänglich berücksichtigen ranzukommen, arbeiten wir an einer Kombination der muss. Das heißt konkret: Alle Maßnahmen, die der Scha- Messungen am Überwachungssystem und am Endrohr. densbehebung dienen, und auch mögliche Folgeauswir- Eine sachgerechte Umsetzung dieser Erweiterung wird kungen dürfen nicht zulasten der Kunden gehen. Wir derzeit geprüft und anschließend auf den Weg gebracht. haben gegenüber VW keinen Zweifel daran gelassen, Ungeachtet unserer Maßnahmen in diesen drei Fel- dass wir die Aufklärung und Problemlösung aufmerksam dern müssen wir auch einmal ganz klar sagen: Wir haben begleiten und nicht nachlassen werden, bis der ganze Fall in den vergangenen Jahren bei den Emissionen durchaus aufgeklärt ist. deutliche Fortschritte gemacht. Zum zweiten Komplex. Mit den Manipulationen bei (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- VW nichts zu tun hat unser Engagement auf europäischer NEN]: Bei Stickoxid nicht!) (B) Ebene, die Prüfmechanismen bei der Typengenehmigung (D) so zu optimieren, dass wir näher an die Realemissionen Die Bundesregierung hat sich im Rahmen der Verhand- herankommen. lungen zur europäischen CO2-Richtlinie stark dafür ein- gesetzt, dass wir in Europa heute die weltweit anspruchs- (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- vollsten Zielwerte haben. NEN]: Sie stehen seit Jahren auf der Bremse!) (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Wie Sie alle wissen, stehen wir in Brüssel seit 2011 in NEN]: Offensichtlich reicht es nicht!) Verhandlungen mit der Kommission und den National- staaten, um neben dem Test auf der Rolle auch einen Test Dadurch sind allein in den letzten fünf Jahren die mit portabler Messtechnik im Realverkehr auf der Stra- CO2-Emissionswerte von Pkw um mehr als 25 Pro- ße, den sogenannten RDE-Test, einzuführen. zent gesunken. Gleichzeitig hat die Einführung der Eu- ro-Grenzwertstufen seit 1992 zu einer über 90-prozenti- (Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE gen Reduzierung der NOx-Grenzwerte geführt. GRÜNEN]: Sie versuchen doch, dies zu ver- (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- hindern!) NEN]: Das ist Schönrederei, was Sie da ma- Das entspricht im Wesentlichen dem Verfahren, das wir chen!) jetzt bereits bei den strengen spezifischen Nachprüfun- Das ist die Lösung: näher ran an die Realemission und gen anwenden. nicht noch weiter runter mit den Grenzwerten, wie es die Die Verkehrsminister der Länder sind sich seit langem Grünen in ihrem Antrag wieder einmal fordern. darüber einig, dass diese RDE-Tests eingeführt werden. (Beifall bei der CDU/CSU – Stephan Kühn Vor diesem Hintergrund wurden bereits mehrere Verord- (Dresden) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: nungspakete verabschiedet. Jetzt geht es darum, letzte Sie sollen die Grenzwerte einhalten! – Oliver Details zu klären und einen verbindlichen Zeitplan zur Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Einführung der neuen Prüfmechanismen einzuführen. Frau Hendricks ist aber für eine Senkung der Gleichzeitig setzen wir uns mit großem Nachdruck Grenzwerte!) auf internationaler Ebene dafür ein, ein weltweit einheit- Ihnen geht es bei der ganzen Diskussion, so hat man den liches Testverfahren zur Ermittlung von Abgasemissi- Eindruck, nicht um Aufklärung, nicht um Lösungen und onen, das sogenannte WLTP, zu entwickeln und in die nicht um Fortschritte. Sie schrecken nicht davor zurück, europäischen Vorschriften zur Typengenehmigung zu völlig unterschiedliche Sachverhalte wild zusammenzu- überführen. würfeln und Wahrheit und Klarheit Ihrer Ideologie zu op- 12616 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015

Parl. Staatssekretär Enak Ferlemann (A) fern. Ihnen geht es ausschließlich um einen Fundamen- organisierte Betrug muss ohne Wenn und Aber aufgeklärt (C) talangriff auf das Auto an sich als Symbol für Mobilität, werden. Flexibilität und Individualität. (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ordneten der SPD – Sabine Leidig [DIE LIN- NEN]) KE]: Quatsch!) Herr Ferlemann, Sie können uns als Linke glauben: Wir nehmen die Interessen der Beschäftigten ernst. Aber Vizepräsidentin Ulla Schmidt: ich bin wirklich entsetzt, wenn Sie im Grunde argumen- Herr Staatssekretär, ich muss Sie noch einmal fragen, tieren, dass ausgerechnet diejenigen, die Aufklärung ver- ob Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Krischer zulas- langen, den Standort schlechtreden. Ich sage: Gerade im sen. Interesse der Beschäftigten gehören die Fakten endlich auf den Tisch und nicht länger unter den Tisch. Enak Ferlemann, Parl. Staatssekretär beim Bundes- (Beifall bei der LINKEN) minister für Verkehr und digitale Infrastruktur: Ich habe aber leider das Gefühl, dass die Wahrheit Nein, danke. – Wir klären die Vorgänge bei VW auf nur scheibchenweise ans Licht kommt. Auch das Kri- und sorgen dafür, dass die Maßnahmen zur Behebung senmanagement der Bundesregierung ist wirklich nicht der Manipulationen vollumfänglich umgesetzt werden. gerade vorbildlich. Jahrelang haben Sie die Hinweise der Wir wahren die Verbraucherinteressen und stellen sicher, Umweltverbände und der EU ignoriert und buchstäblich dass die Umrüstung nicht zulasten der Kunden geht. Wir in den Wind geschlagen. Offenbar konnte sich die Au- treiben die Einführung der RDE-Tests auf europäischer tolobby in diesem Land sehr sicher fühlen, dass dieser Ebene weiter voran. Deutschland bleibt Autoland Num- Schwindel nicht auffliegt. Sie durfte sich auch sicher füh- mer eins: für unser Wachstum, unseren Wohlstand und len: Martin Winterkorn als einer der Cheflobbyisten war unsere Arbeit von morgen. in der letzten Legislaturperiode neun Mal bei der Bun- Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. deskanzlerin. Auch andere Vertreterinnen und Vertreter der Branche gingen wie selbstverständlich bei ihr ein und (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- aus. Aus meiner Sicht ist Regel Nummer eins – schreiben ordneten der SPD) Sie sich diese ins Stammbuch –: Diese Kumpanei, diese Klüngelei zwischen Automobilindustrie und Politik muss (B) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: endlich ein Ende haben. (D) Vielen Dank. – Als Nächste spricht die Kollegin Caren (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Lay, Fraktion Die Linke. neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der LINKEN) Es geht aber immer noch weiter. Heute haben wir in der Zeitung gelesen: Die EU ist entsetzt darüber, dass die Caren Lay (DIE LINKE): Bundesregierung nicht genügend aufklärt. Die Abgas- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und werte überschreiten die zulässigen Höchstgrenzen in der Herren! Der sogenannte Dieselgate ist wirklich so ein Realität um sage und schreibe 400 Prozent. Dazu sagt die Hammer, dass die Story inzwischen filmreif ist. Der Hol- EU: Oh, das ist zu viel. Jetzt dürfen diese Werte nur noch lywoodschauspieler Leonardo DiCaprio sicherte sich um 60 Prozent überschritten werden. – Ich meine, das ist vor ein paar Tagen die Rechte. Das ist leider kein Witz. an sich schon ein bemerkenswerter Vorgang. In welchem anderen Bereich beschließt man, dass bestehende Grenz­ ­Leonardo DiCaprio mimt bekanntermaßen am liebsten werte nur zu 60 Prozent überschritten werden dürfen? den Schurken. Das sollte vor allen Dingen dem Minister Das ist doch wirklich unmöglich. etwas mehr Ansporn sein, sonst spielt DiCaprio am Ende nämlich nicht Martin Winterkorn, sondern Alexander (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Dobrindt. neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der LINKEN – Oliver Wittke Selbst das ist der Bundesregierung offenbar noch zu [CDU/CSU]: Sie sind ja lustig! – Stephan streng. Sie blockieren, wenn man den Presseberichten Kühn (Dresden) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- glauben kann. Ich kann nur sagen: Geben Sie diese Hal- NEN]: Der Film würde ein Flop werden!) tung auf! Hören Sie mit der Blockade auf! Machen Sie den Weg für schärfere Kontrollen und bessere Gesetze Meine Damen und Herren, ob die Spiegel-Meldung frei! stimmt, dass bis zu 30 Manager in diesen Betrug invol- viert sind oder nicht, wissen wir nicht. Aber kein Mensch (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- glaubt doch wirklich, dass es hier einzelne Manager und neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) einzelne Ingenieure gewesen sind, die diese Schummel- Offenbar glauben einige, Umweltverschmutzung sei software heimlich und völlig unbemerkt von allen ande- ein Kavaliersdelikt. Aber Luftverpestung durch Diesel­ ren eingebaut haben. Das ist organisierter Betrug. Dieser abgase in diesem Maßstab gefährdet die Gesundheit von Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 12617

Caren Lay (A) Millionen von Menschen. Deshalb dürfen wir das nicht Vizepräsidentin Ulla Schmidt: (C) dulden. Herr Kollege Klare, ich muss Sie unterbrechen. Ge- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- statten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Leidig aus der Fraktion Die Linke? neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Es ist außerdem auch Verbrauchertäuschung in gro- Arno Klare (SPD): ßem Maßstab. Ab heute haben wir mit dem Rückruf Nein, danke. Ich möchte das jetzt in Ruhe vortragen. von 2,4 Millionen Autos eine Kennziffer. Es sind also 2,4 Millionen Autokäufer betroffen. Im Verbraucher- Vizepräsidentin Ulla Schmidt: ausschuss des Bundestages wollten Sie das Thema nicht kommentieren, und zwar mit dem absurden Argument, Also generell keine Zwischenfragen. das sei kein Verbraucherthema. Wer das nicht mitbekom- (Caren Lay [DIE LINKE]: Das ist doch al- men hat, dem ist nicht mehr zu helfen. bern! – Sabine Leidig [DIE LINKE]: Das ist krass! Sie haben alle die Hosen voll!) (Beifall bei der LINKEN)

Meine Damen und Herren, zum Schluss stellt sich die Arno Klare (SPD): entscheidende Frage: Wer wird für diesen Schlamassel Zweiter Punkt. Unter dem Gesichtspunkt, Krise als bezahlen? Sind es am Ende die Verbraucher und die Be- produktiven Wendepunkt zu begreifen, bin ich sehr dank- schäftigten? Bei den Familien Piëch und Porsche ist in bar – es ist fast untergegangen –, dass sich am Diens- jedem Fall einiges zu holen. Mit einem Vermögen von tag dieser Woche sechs Unternehmen in Deutschland, 12 Milliarden Euro müssen die keine Existenzängs- und zwar keine kleinen Unternehmen, zum H2-Mobili- te haben, ganz anders als die Beschäftigten, die jetzt ty-Joint-Venture zusammengeschlossen haben. Das ist um ihre Jobs fürchten müssen. Oder nehmen wir Herrn ein ganz wichtiger Schritt, weil dabei nämlich sicherge- ­Winterkorn: Er fällt mit einem stattlichen Jahreseinkom- stellt wird, dass es bis 2023 in dieser Republik 400 Was- men von 16 Millionen Euro ganz schön weich. Er soll es serstofftankstellen geben wird. angeblich auch im nächsten Jahr bekommen. Warum sage ich das? Diese Tankstellen sind die Be- Meine Damen und Herren, dort sitzt das Geld. Da ist dingung, um Möglichkeiten neuer schadstoffarmer etwas zu holen, und ich finde, da sollten wir es uns auch Antriebe zu nutzen. Es geht nicht darum, Schadstoffe holen. herauszurechnen, was ohnehin illegal ist, oder herauszu- (B) filtern, was technisch möglich ist und sein muss, sondern (D) Vielen Dank. schlicht darum, sie gar nicht erst entstehen zu lassen. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Dritter Punkt. Ich war erfreut, aber auch gleichzeitig Vielen Dank. – Für die SPD-Fraktion hat jetzt der Kol- verärgert – ich sage gleich etwas zu beiden Punkten –, lege Arno Klare das Wort. dass VW deutlich gemacht hat, jetzt einen anderen Weg (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) zu gehen, was die Antriebsformen angeht, und sich stär- ker auf Brennstoffzellen und Elektromobilität zu stützen. Arno Klare (SPD): Das ist gut so, und das können sie auch gut. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich war auf der IAA enttäuscht – das ist schon gesagt Meine Damen und Herren! Von Max Frisch stammt der worden, und das kann ich teilen –, dass das erste serien- Satz: „Krise ist ein produktiver Zustand.“ Der Satz ist reife Brennstoffzellenfahrzeug nicht aus Wolfsburg oder gut und richtig, und ich stelle dazu fest: Lamento und von einem der anderen deutschen Premiumhersteller Bashing sind kein produktiver Vorgang. kam, sondern von Toyota vorgestellt worden ist. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Was muss jetzt getan werden? Wir brauchen so etwas Für mich ist klar: Die Mobilität der Zukunft ist elek- wie eine Zukunftslandkarte bzw. eine produktive und in- trisch, und sie gehört der batteriebetriebenen Mobilität novative To-do-Liste, was wir jetzt machen müssen. So und der Brennstoffzellenmobilität. Wir alle wissen vom bewältigt man Krisen. Das ist der erste Punkt. Hofmannschen Apparat, was Wasserstoff bewirken kann. Das muss ich niemandem erklären, der im Chemieun- Wir brauchen natürlich Aufklärung: rückhaltlos und terricht aufgepasst hat. Der Hofmannsche Apparat hat transparent, ohne dass irgendwelche Reste von Zweifeln ein kleines Effizienzproblem: Man muss mehr Energie bleiben. Wir brauchen natürlich Real-Driving-Emissi- hineinstecken, als man nachher an Wasserstoffenergie ons-Tests. Aber ob dann die NTE-Limits, die es dabei gewinnen kann. Das gilt aber nicht, wenn die hineinge- gibt, mit einem CF-Wert von 1,5 oder 1,2 angegeben steckte Energie aus erneuerbaren Quellen stammt. An werden, ist zwar wichtig, aber nicht zukunftsentschei- dieser Stelle wird daraus ein industriepolitisches The- dend. ma. Denn dann hat man Wasserstoff als Speicher für den 12618 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015

Arno Klare (A) überschüssigen Strom, der im Moment abgeregelt wer- stelle, nutze ich die Möglichkeit, jetzt darauf aufmerk- (C) den muss. sam zu machen, dass die von Ihnen ins Feld geführte Untersuchungskommission – das haben wir gerade ge- (Beifall bei der SPD) hört – von Staatssekretär Odenwald geleitet wird. Wir Das ist der entscheidende Punkt. Hier kommen zwei Pole wissen – das ist akribisch belegt –, dass die Betrügerei- zusammen. en mit den Abgaswerten nicht neu sind. Das ist bereits im Februar 2009 von der Deutschen Umwelthilfe dem Man könnte über die Methanisierung sogar Kohle- Verkehrsministerium dargelegt worden. Es haben dort kraftwerke cleanen, also sauber bekommen, indem man Gespräche stattgefunden. Danach haben noch weitere das CO in CH umwandelt, das wiederum in Motoren 2 4 Gespräche stattgefunden. Es sind Briefe geschrieben verbrannt oder sogar wieder zu Strom gemacht werden worden, und es sind Probemessungen gezogen worden. kann. So geht das vonstatten. Diese Vernetzung aber ver- Die Deutsche Umwelthilfe hat wieder und wieder auf die misse ich in all Ihren Reden. Problematik aufmerksam gemacht. Im Verkehrsministe- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) rium wurde das zur Kenntnis genommen und abgebügelt. Staatssekretär Odenwald ist seit 2009 in leitender Funk- Solche Pläne, meine Damen und Herren, liebe Kol- tion im Verkehrsministerium tätig. Von 2010 bis 2012 leginnen und Kollegen, brauchen auch Gesetze bzw. war er dort Leiter der Zentralabteilung. Danach wurde gesetzliche Flankierungen. Diese gesetzlichen Flankie­ er Staatssekretär. rungen gehen aber nicht über das Strafrecht, sondern eher über das Steuerrecht; denn da geht es um eine Son- Ich bin der Meinung, dass weder das Verkehrsminis- der-AfA für E‑Fahrzeuge, die wir unbedingt brauchen, terium noch das Kraftfahrt-Bundesamt, das in dieser Zeit um einen Hochlauf hinzubekommen. keine einzige Kontrollmessung durchgeführt hat, dazu geeignet sind, jetzt die Verwicklungen bzw. die Sachver- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der halte umfassend aufzuklären und für Alternativen zu sor- CDU/CSU) gen. Wir bestehen darauf, dass eine wirklich unabhängige Wir brauchen wahrscheinlich auch keine Kaufprämi- Untersuchung stattfindet und dass das Umweltbundesamt en, die haushalts- und kassenwirksam sind, sondern wir in Zukunft für die Messungen verantwortlich ist – und sollten eher darüber reden, ob wir nicht Tilgungszuschüs- nicht diejenigen, die für den Schlamassel verantwortlich se für private Käufer über die KfW organisieren. Das ist sind. nämlich haushaltsneutral, bewirkt aber genau dasselbe. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (B) der CDU/CSU – Stephan Kühn (Dresden) NEN]) (D) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann ma- chen Sie es doch! Nicht nur darüber reden!) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Ich sage Ihnen zum Abschluss, was wir auf keinen Danke schön. – Herr Kollege Klare, möchten Sie da- Fall brauchen. Wir brauchen auf keinen Fall irgendeinen rauf antworten? schwachsinnigen Hollywoodfilm à la Watergate oder so ähnlich – egal wer ihn dreht. Wenn schon ein Film ge- Arno Klare (SPD): dreht werden soll, dann bitte doch einmal einen mit einer Selbstverständlich. – Erst einmal bitte ich darum, zwei positiven Utopie über die H2‑angetriebene Mobilität der Sachverhalte – das ist gerade schon von Herrn Ferlemann Zukunft. gesagt worden, ich sage es jetzt noch einmal – auseinan- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – derzuhalten. Frau Leidig, Sie wissen, dass ich im Februar Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- dieses Jahres auf einer Veranstaltung der Deutschen Um- NEN]: Dann kommt die deutsche Automobil- welthilfe – da haben wir, glaube ich, auf demselben Po- industrie aber nicht vor! Das ist das Problem!) dium gesessen – darauf hingewiesen habe, dass wir dafür Sorge tragen müssen, dass die werksseitig angegebenen Ich bin relativ sicher: Wenn den Kollegen Rimkus oder Werte möglichst mit denen übereinzustimmen haben, die mich einer fragen würde, ob wir an einem entsprechen- dann auch auf der Straße erreicht werden. den Drehbuch mitschreiben wollten, dann würden wir das sogar ohne Honorar tun. (Sabine Leidig [DIE LINKE]: Das wird aber nicht gemacht! – Oliver Krischer [BÜND- Danke schön. NIS 90/DIE GRÜNEN]: Aha!) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) – Also, ich habe selber darauf hingewiesen, dass es dort Differenzen gibt. – Das alles aber ist auf dem Weg. Vizepräsidentin Ulla Schmidt: All das wird passieren. Und die Real-Driving-Emissi- Vielen Dank. – Das Wort zu einer Kurzintervention ons-Tests, von denen wir gerade geredet haben, werden hat jetzt die Kollegin Leidig. diese Labortests ergänzen. Man muss aber, wenn man sich das einmal technisch Sabine Leidig (DIE LINKE): anschaut, auch sehen, wie das bei diesen Tests, die dann Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Nachdem beide Kol- auf der Straße passieren, funktionieren muss. Tests müs- legen nicht gestattet haben, dass ich eine Zwischenfrage sen, damit sie vergleichbar sind, wiederholbar und ob- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 12619

Arno Klare (A) jektivierbar sein. Wenn eine Strecke im Schwarzwald ab- dem erstklassige Arbeit geleistet wird und erstklassige (C) gefahren wird, gibt es einen großen Unterschied zu einer Automobile gebaut werden. Strecke in Mühlheim, wo eben die Topografie eine ganz (Beifall bei der CDU/CSU – Kirsten andere ist. Lühmann [SPD]: Wir von der SPD auch!) (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Meine Damen und Herren von den Grünen und der NEN]: Hören Sie dieses Gerede auf! – Sabine Linksfraktion, wir werden es nicht zulassen, dass Sie Leidig [DIE LINKE]: Das weiß ich alles! Da- hier eine effiziente Technologie, nämlich die Diesel- rum geht es gar nicht!) technologie, ein exzellentes Unternehmen, nämlich den Man muss Folgendes sehen: Diese RDE-Tests sind VW-Konzern, sowie eine innovative und leistungsstarke zur Ergänzung dessen vorgesehen, was in den Labors ge- Branche, nämlich die deutsche Automobilindustrie, Pars messen wird. Wir wollen da auch diesen anderen Zyklus pro Toto in Misskredit bringen. haben, der wesentlich realistischere Werte liefert. (Caren Lay [DIE LINKE]: Das hat niemand (Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE gesagt! – Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Das GRÜNEN]: Sagen Sie doch einfach klar, Sie hat VW selbst gemacht!) wollen Tests verhindern und weiter schum- Das haben diese drei Institutionen nicht verdient. Ganz meln!) im Gegenteil: Sie sind Leistungsträger unserer Wirt- Wir sind alle dafür, dass sich diese Werte stärker an- schaft in Deutschland. nähern. Das hat etwas mit Verbraucherschutz und Ehr- (Beifall bei der CDU/CSU) lichkeit zu tun. Aber wir dürfen zwei Sachverhalte nicht Meine Damen und Herren von den Grünen, ich lese durcheinanderbringen, nämlich die in Rede stehende Ihnen gerne vor, was in Ihrem zur Debatte stehenden An- Manipulation durch willentlich falsch eingestellte Soft- trag steht: „Die Schönfärberei ... der Automobilindustrie ware und die Lücke, die es zwischen den Verbrauchswer- ist gescheitert.“ ten im Labor und den tatsächlich auf der Straße erziel- ten Verbrauchswerten gibt. Das sind zwei verschiedene (Sabine Leidig [DIE LINKE]: Sie wollen die Sachverhalte, um die wir uns natürlich beide vehement Betrügereien decken?) kümmern müssen. Weiter ist die Rede von systematischer „Verbrauchertäu- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der schung, Gesundheitsgefährdung und Klimazerstörung“. CDU/CSU) (B) (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (D) NEN]: Alles passiert!) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Wenn das kein Automobil-Bashing ist, wenn das nicht Vielen Dank. – Der nächste Redner in der Debatte ist die Fortsetzung Ihres Antiautokurses ist, dann frage ich der Kollege Oliver Wittke, CDU/CSU-Fraktion. mich, wo hier die inhaltliche Auseinandersetzung mit (Beifall bei der CDU/CSU) den tatsächlichen Themen stattfindet, die auf der Tages- ordnung stehen. Oliver Wittke (CDU/CSU): (Beifall bei der CDU/CSU – Jörn Wunderlich Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und [DIE LINKE]: Das sind Fakten! – Dr. Anton Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Eines vor- Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: weg: Jawohl, auch wir sind entsetzt über das Ausmaß des Das ist jetzt total irre!) Skandals. Es ist völlig klar, dass der zur Diskussion ste- Liebe Frau Lay, wenn Sie vorgeben, Arbeitnehmerin- hende Betrug nicht nur ein Betrug im Hinblick auf staatli- teressen zu vertreten, und so tun, als würden Ihnen die che Vorgaben und europäische Normen ist, sondern auch Jobs am Herzen liegen, dann hören Sie bitte auf, von ein Betrug an Kunden des VW-Konzerns sowie an den Kumpanei zu reden, wenn die Bundeskanzlerin mit den eigenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die exzel- Chefs der deutschen Automobilkonzerne spricht. Das ist lente Arbeit leisten. Es wird in diesen Tagen im Übrigen richtig, und das fordern wir auch von ihr. Es ist gut, dass immer klarer, dass es sich nicht um das Fehlverhalten ei- sich die Kanzlerin um die Arbeitsplätze kümmert und sie niger weniger handelt. Vielmehr hat eine bestimmte Un- sichert. ternehmenskultur diesen Skandal ermöglicht. Daher geht es nun nicht nur um eine umfassende und transparente (Beifall bei der CDU/CSU – Matthias W. Aufklärung, sondern auch um einen Wechsel der Unter- Birkwald [DIE LINKE]: Es kommt darauf an, nehmenskultur im VW-Konzern. Das ist dieser Konzern, was hinten herauskommt!) insbesondere die Führung dieses Konzerns, den Mitar- Im Zusammenhang mit der Dieseltechnologie möchte beiterinnen und Mitarbeitern, aber auch den Kundinnen ich noch etwas sagen. Es gibt kaum eine Technologie, die und Kunden sicherlich schuldig. in den vergangenen Jahren in puncto Sauberkeit solche Fortschritte gemacht hat wie die Dieseltechnologie. Aber genauso klar ist auch – das will ich hier in aller Deutlichkeit sagen –: Wir, die CDU/CSU-Bundestags- (Stephan Kühn (Dresden) [BÜNDNIS 90/ fraktion, stehen zu einem erstklassigen Unternehmen, in DIE GRÜNEN]: In der Theorie! – Dr. Anton 12620 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015

Oliver Wittke (A) Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: vor wenigen Tagen, sich mit genau dieser Problematik (C) Auf dem Papier!) beschäftigt hat und beschlossen hat, dass es eine Verän- derung der Grenzwerte bei den Stickoxiden geben wird. Die durchschnittlichen CO2-Emissionen von Pkw sind seit 1995 um 30 Prozent gesunken. Seit Euro 3 wurden Das heißt, wir werden dort einen großen Schritt weiter- die NOx-Emissionen von Diesel-Pkw um 84 Prozent re- kommen. Ich wäre im Verlauf meiner Rede noch darauf duziert. gekommen. Das ist keine Forderung, sondern das ist ein Fakt. Das geschah auf Betreiben auch der Bundesrepu­ (Stephan Kühn (Dresden) [BÜNDNIS 90/ blik Deutschland; das ist ein Fakt, mit dem wir vorange- DIE GRÜNEN]: Auf dem Papier!) kommen sind, und damit machen wir die Dieseltechnolo- Mit modernen Dieselsystemen lässt sich der Kraftstoff- gie im Übrigen noch sauberer. verbrauch um 20 Prozent im Vergleich zum Ottomotor (Beifall bei der CDU/CSU – Oliver Krischer reduzieren. Wenn wir im Übrigen über neue Technolo- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Also gilt das, gien sprechen und beispielsweise die Hybridtechnologie was die Umweltministerin gesagt hat, und voranbringen wollen, dann brauchen wir die Dieseltech- nicht das, was Herr Ferlemann gesagt hat!) nologie; denn Hybridtechnologie ohne Dieseltechnolo- gie ist unsinnig und wird es nicht geben. So lange, bis Eines will ich noch anschließen, Herr Kollege der elektroenergetische Antrieb oder der Wasserstoff- Krischer. Wir müssen ein ganz klein wenig auch darauf antrieb zu 100 Prozent im Automobilverkehr eingesetzt achten, dass wir hier nicht das Geschäft ausländischer werden können, brauchen wir Zwischenlösungen. Des- Automobilkonzerne betreiben. halb brauchen wir eine Fort- und Weiterentwicklung der Dieseltechnologie. Diese lassen wir uns von Ihnen nicht (Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) kaputtreden. Dass wir führend sind in der Dieseltechnologie, dass wir (Beifall bei der CDU/CSU – Matthias W. eine Technologie entwickelt haben, die über die Jahre Birkwald [DIE LINKE]: Deutschland hat ge- hinweg Stück für Stück sauberer geworden ist, und dass schlafen!) beispielsweise amerikanische Automobilunternehmen und auch andere ausländische Automobilkonzerne kein Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Interesse daran haben, diese europäische Technologie Herr Kollege Wittke, lassen Sie eine Zwischenfrage weiter zu fördern, liegt doch offen auf der Hand. des Kollegen Krischer zu? (Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Herr Wittke deckt eine Verschwö- (B) (D) Oliver Wittke (CDU/CSU): rung auf! Kommt Ihnen das nicht selber lä- Ja, bitte, gerne. cherlich vor?) Da geht es um schlichte wirtschaftliche Interessen, Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): da geht es um Arbeitsplätze. Wir sind dafür da, deutsche Danke, Herr Kollege Wittke, dass Sie die Zwischen- Arbeitsplätze zu sichern und nicht Arbeitsplätze in den frage zulassen. – Ich habe eben schon versucht, Herrn Vereinigten Staaten. Staatssekretär Ferlemann eine Zwischenfrage zu stel- len – die hat er nicht zugelassen –, als er die Pressemit- (Beifall bei der CDU/CSU) teilungen des Bundesverkehrsministeriums aneinander- gereiht und hier vorgelesen hat. Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Mich würde interessieren, ob Sie die Auffassung von Herr Kollege Wittke, weil Sie so temperamentvoll Herrn Staatssekretär Ferlemann, die er hier vorgetragen sind, hat jetzt der Kollege Ostendorff das Bedürfnis, Ih- hat, teilen, wonach bei Stickoxiden – Sie haben gerade nen eine Frage zu stellen, damit Sie ungebrochen weiter- selber über die Dieseltechnologie gesprochen – keine machen können. weitere Grenzwertreduzierungen im Realbetrieb erfor- derlich sind, oder ob das gilt, was die Bundesumwelt- Oliver Wittke (CDU/CSU): ministerin gestern, nachzulesen in einem Gastbeitrag Frau Präsidentin, das machen wir vielleicht im An- für die Süddeutsche Zeitung – ich kann Ihnen das gerne schluss an diese Debatte. Ich würde jetzt gerne mit mei- vorlesen –, fordert, nämlich dass es bei Stickoxiden im ner Rede fortfahren. Realbetrieb deutliche Emissionsreduktionen geben muss. Könnten Sie mir bitte diese Frage beantworten? Gilt das, was Herr Ferlemann sagt – es gibt keine weitere Verände- Vizepräsidentin Ulla Schmidt: rung bei den Grenzwerten –, oder gilt das, was die Bun- Gut. desumweltministerin gestern in dem Gastbeitrag für die Süddeutsche Zeitung gesagt hat? Oliver Wittke (CDU/CSU): Ich habe eine Frage zugelassen. Wir wollen jetzt nicht Oliver Wittke (CDU/CSU): ein Frage-und-Antwort-Spiel zwischen Wittke und der Herr Kollege Krischer, Sie wissen vielleicht, dass der grünen Bundestagsfraktion machen. Das wäre, glaube Verkehrsministerrat am 8. Oktober dieses Jahres, also ich, auf Dauer etwas langweilig für die anderen Zuhöre- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 12621

Oliver Wittke (A) rinnen und Zuhörer hier im Saal. – Vielen Dank für Ihr lich dafür starkmachen, dass wir zu einer Offenlegung (C) Verständnis. solcher Untersuchungsergebnisse kommen. Das tue ich alleine, um Ihnen den Wind aus den Segeln zu nehmen (Beifall bei der CDU/CSU) und der Behauptung entgegenzutreten, dass da Kumpa- Es ist deutlich geworden – Staatssekretär Ferlemann nei, Vertuschung oder sonst etwas im Spiel seien. Das ist hat das ausdrücklich gesagt –, dass es auch Handlungs- es nämlich beileibe nicht. bedarf gibt. Darum ist es gut, dass wir über Real Driving (Beifall bei der CDU/CSU – Oliver Krischer Emissions nicht nur debattieren und nicht nur Forderun- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist schon gen aufstellen, sondern dass das System im Januar 2016 mal gut!) kommen wird und die Labortests endlich durch Untersu- chungen und Tests auf der Straße ergänzt werden. Damit Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich hoffe, dass wir verbessern wir die Kontrollen. Ich halte das für einen aus dieser Krise lernen. Ich hoffe, dass auch andere Un- ganz wichtigen Schritt. Da kommen wir tatsächlich wei- ternehmen, im Übrigen nicht nur in der Automobilindus- ter voran. trie, aus dieser Krise lernen. Ich bin mir ganz sicher: Die deutsche Automobilindustrie und auch der VW-Konzern Ich habe gerade etwas zu den NOX-Grenzwerten ge- werden gestärkt aus dieser schwierigen Situation hervor- sagt. Der Verkehrsministerrat hat, wie ich gerade schon gehen, weil wir sie dabei begleiten, weil wir die Rahmen- in der Antwort auf die Frage des Kollegen Krischer aus- bedingungen setzen geführt habe, am 8. Oktober beschlossen, dass es eine Veränderung der Grenzwerte geben wird. Es wird eine (Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE Verschärfung geben. Das ist gut so und vernünftig. Auch GRÜNEN]: Seit wann setzen Sie Rahmenbe- da gab es sicherlich Handlungsbedarf. dingungen?) Ich will auch offen eingestehen: Es reicht eben nicht und weil wir nicht wie Sie Bashing betreiben, weil wir aus, dass wir als Koalitionsfraktionen ein Elektromobili- keinen Feldzug gegen das Automobil betreiben, sondern tätsgesetz als ersten Schritt auf den Weg gebracht haben, weil wir an der Seite dieses wichtigen deutschen Indust- sondern es müssen weitere Schritte folgen. Wir wollen riezweiges stehen. die Elektromobilität weiter fördern, und wir werden sie Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. weiter voranbringen. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD – Stephan Kühn (Dresden) [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Wann geht es los?) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: (B) Das Wort zu einer Kurzintervention hat jetzt der Kol- (D) – Entschuldigung, Kollege Kühn, was haben Sie in Ihrer lege Ostendorff. Regierungszeit (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Das ist zehn Jahre her! – Matthias NEN): Gastel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist Schönen Dank, Frau Präsidentin, dass Sie mir als Be- schon sehr lange her! – Stephan Kühn (Dres- troffenem gestatten, Ihnen, Herr Wittke – Sie waren ja den) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das einmal Verkehrsminister in Nordrhein-Westfalen –, die war ein sehr starkes Argument! – Dr. Anton Frage zu stellen, wie Sie Betroffenen diejenigen Fragen Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie beantworten, die sie vom VW-Konzern nicht beantwortet haben das letzte Mal mit der FDP regiert!) bekommen. – die ist gar nicht einmal so lange her; Sie waren damals Meine Frau und ich haben in unserem Betrieb einen noch nicht dabei – vorangebracht? Nichts haben Sie hin- Caddy-Lieferwagen. Wir haben uns umgestellt, weil wir bekommen. Wir haben die Elektrotechnologie bei Kraft- dachten, der Opel, den wir vorher hatten, ist nicht das fahrzeugen vorangebracht. Richtige, und wir haben uns auf den Kauf eines VW Cad- Ich will eine persönliche Bemerkung anschließen, dy geeinigt. Damit verbunden war das Versprechen des weil ich auch da für Offenheit und Transparenz bin. Händlers, dass damit ein wesentlich höherer Wiederver- kaufswert verbunden ist. Das hat sich mittlerweile mar- (Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE ginalisiert. GRÜNEN]: Sie haben das letzte Mal mit der In unser Auto ist der Motortyp EA 189 eingebaut wor- FDP regiert!) den. Das Vorhandensein dieses Motortyps ist durch das – Herr Hofreiter, hören Sie gut zu. Vielleicht gefällt Ihnen Internet mühsam erkannt worden, nachdem die Marke- das, was ich jetzt sage. – Ich bin dafür, dass beispielswei- ting-Chefin des VW-Konzerns, die ich als Abgeordneter se Untersuchungsergebnisse des Kraftfahrt-Bundesamtes erreichen konnte, nicht in der Lage gewesen war, mir veröffentlicht werden, weil die Zeiten vorbei sind, in de- Antwort auf die Frage zu geben, ob mein Auto von dem nen man solche Untersuchungsergebnisse irgendwo un- Skandal betroffen ist oder nicht. Ich glaube, das Verfah- ter der Decke halten konnte. Da gibt es nichts zu verste- ren, das hier gewählt worden ist, ist alles andere als kun- cken. Die müssen auf den Tisch gelegt werden, und dann denfreundlich; denn man braucht Wochen, bevor man muss darüber debattiert werden. Nur so bekommt man erst im Internet erfährt, ob der Motor des eigenen Autos Änderungen hin. Darum werde ich mich ganz persön- betroffen ist oder nicht, und man bekommt keine direk- 12622 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015

Friedrich Ostendorff (A) te Antwort. Mir wurde das Versprechen gegeben, dass Sie werden in die Umweltzonen fahren können, Sie wer- (C) dieser 1,6-Liter-Motor eventuell Anfang nächsten Jahres den keinen Wertverlust erleiden, sondern Sie haben ein umgebaut wird. Das kann uns doch nicht befriedigen. Ist technologisch hochwertiges Fahrzeug erworben, für das das Ihre Antwort, Herr Wittke? Unterstützen Sie dieses Sie einen angemessenen Preis bezahlt haben. Vorgehen? Halten Sie es für verbraucherfreundlich, dem Kunden, der betroffen ist, der getäuscht worden ist, so (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Antwort zu geben? Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Darf er nun in die Gelsenkirchener Innenstadt? Was macht er Wir, die wir den Caddy auch deshalb gekauft haben, die nächsten Monate? Das ist die Frage!) weil wir Kunden in den Umweltzonen im Ruhrgebiet – Ihre Heimat wie meine Heimat – beliefern, fragen uns Vizepräsidentin Ulla Schmidt: zu Hause natürlich, ob dieser Caddy möglicherweise zu Jetzt hat Jutta Krellmann, Fraktion Die Linke, das Unrecht eine Betriebserlaubnis und eine Umweltplaket- Wort. te hat. Damit hätten wir uns als Halter strafbar gemacht. Wie beantworten Sie als ehemaliger Verkehrsminister (Beifall bei der LINKEN) mir die Frage, in welchem Rechtszustand ich mich be- finde? Darf ich dieses Auto in einer Umweltzone, etwa in Jutta Krellmann (DIE LINKE): der Stadt Dortmund, noch betreiben oder nicht? Was ist Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Ihre Antwort? Kollegen! Im August war die Welt für die Beschäftigten bei VW noch in Ordnung. Seit September wissen sie vom Vizepräsidentin Ulla Schmidt: systematischen Betrug einzelner Manager. Verbrauche- Herr Kollege Wittke, möchten Sie erwidern? rinnen und Verbraucher werden verprellt, Umwelt und Kommunen belastet. Gleichzeitig erleben wir, wie dafür Oliver Wittke (CDU/CSU): verantwortliche Topmanager mit fast 30 Millionen Euro Ja, gerne. abgefunden werden und weich fallen. Das alles ist nicht zu entschuldigen. Vizepräsidentin Ulla Schmidt: (Beifall bei der LINKEN) Bitte schön. Jetzt aber stellt sich die Frage: Wer muss dafür eigent- lich den Kopf hinhalten? Mit Sicherheit trifft es diejeni- Oliver Wittke (CDU/CSU): gen, die keine Schuld an dem Skandal und an dem gan- (B) Herr Kollege Ostendorff, ich will Ihre Fragen gerne zen Schlamassel haben, nämlich die Beschäftigten. (D) beantworten, vor allem, weil Sie mich als ehemaligen Verkehrsminister und nicht als Verkaufsberater von VW Die Bundesregierung und die niedersächsische Lan- angesprochen haben. Die Fragen, die Sie gestellt haben, desregierung können sich sicher sein, dass wir sehr genau gingen ja wohl eher in Richtung VW als an einen Men- darauf schauen, was sie in den nächsten Tagen machen schen, der politische Verantwortung trägt. werden. Als Abgeordnete aus Niedersachsen und erst recht als Gewerkschafterin der IG Metall weiß ich nur zu Staatssekretär Ferlemann hat Ihnen gerade dargelegt – gut, wie wichtig VW als Arbeitgeber für die Menschen in ich hoffe, Sie haben richtig zugehört –, wie die Bundes- diesem Bundesland ist. regierung gehandelt hat. Das Kraftfahrt-Bundesamt hat dem VW-Konzern aufgegeben, binnen kürzester Zeit – Es geht hier aber nicht nur um die niedersächsischen man sollte nicht von Wochen, sondern kann fast schon Beschäftigten. von Tagen reden – Konzepte aufzuzeigen, wie diese (Ulli Nissen [SPD]: Auch um die Hessen!) Missstände abgestellt werden. Natürlich hat jeder Kun- de ein Anrecht darauf, dass diese Missstände abgestellt In Deutschland arbeiten 160 000 Menschen bei VW, werden. Natürlich müssen diese Fahrzeuge nachgerüstet weltweit sind es 600 000. Hinzu kommen die Beschäftig- werden. Natürlich müssen diese Fahrzeuge umgerüstet ten aus den Zulieferbetrieben, die befristet beschäftigten werden. Das ist Verbraucherschutz, der praktiziert wird. Leiharbeiter und die Werkvertragsbeschäftigten. Sie alle Wir sind dazu da, diesen Verbraucherschutz sicherzustel- sorgen sich derzeit um ihren Arbeitsplatz, ihre Zukunft len, und wir werden ihn sicherstellen. Am Ende – Gott und die Sicherheit ihrer Familien, und das alles wegen sei Dank verfügt VW über diese Technologien – wird Ihr organisierten Betrugs von Managern. Auto so sauber sein wie das, das Sie eigentlich kaufen Ich fordere Sie auf, die Befürchtungen und Ängste wollten. Dafür steht das Kraftfahrt-Bundesamt; dafür der Menschen ernst zu nehmen. Sie sind schockiert, dass gibt es die politischen Rahmenbedingungen. so etwas bei VW passieren konnte. Können Sie sich ei- Was Ihr Vertrauensverhältnis zu diesem Konzern an- gentlich vorstellen, wie Angst und Unsicherheit die Men- belangt: Das ist eine Geschichte, die Sie mit sich aus- schen im Moment umtreiben? In diesem Zusammenhang machen müssen. Auf Ihre Frage dazu kann ich Ihnen si- ist jetzt Arbeitsplatzsicherung das A und O bei VW. cherlich keine Antwort geben. Aber Sie werden am Ende (Beifall bei der LINKEN) dieses Prozesses einen Wagen haben, der so sauber ist wie der, den Sie bestellt haben. Damit haben sich alle an- Dabei sind alle gefragt, allen voran der Arbeitgeber VW. deren Fragen, die Sie gestellt haben, erübrigt. Das heißt, Das erwarten die Arbeiter zu Recht, insbesondere die- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 12623

Jutta Krellmann (A) jenigen, die bald ihre Miete nicht mehr zahlen können, gasmessungen bei seinen Dieselfahrzeugen manipuliert. (C) weil der befristete Leiharbeitsvertrag ausläuft. Insgesamt – Stand heute – sind davon circa 11 Millionen Fahrzeuge betroffen. Die Gewerkschaft und die betrieblichen Interessen- vertreter haben viel Erfahrung mit Beschäftigungssiche- Noch kann keiner diesen langfristigen Imageschaden rung in Krisenzeiten. Sie wissen, wie man mit Arbeits- auch nur annähernd beziffern. Ich persönlich allerdings zeitkonten, mit Arbeitszeitverkürzung und Kurzarbeit bedauere vor allem, dass es nun wohl zum großen Teil umgeht. Nun muss endlich auch die Bundesregierung die die VW-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter sein werden, notwendigen gesetzlichen Rahmenbedingungen dafür die die Suppe auslöffeln müssen, die ihnen ihre Füh- schaffen. Sie muss zusehen, dass jetzt alles unternom- rungsetage eingebrockt hat. Sie haben gut gearbeitet. Sie men wird, damit die Folgen des VW-Skandals nicht auf trifft keinerlei Schuld. Auch wenn noch nicht klar ist, die Beschäftigten und die Kommunen abgewälzt werden. welches Ausmaß der Abgasskandal von VW erreicht – (Beifall bei der LINKEN) eines muss sicher sein: Die Affäre muss offensiv aufge- deckt und vollumfänglich aufgearbeitet werden, und bei Auch Leiharbeitsbeschäftigte verdienen den Schutz der Aufarbeitung darf es keine Tricks geben. durch Kurzarbeit. Es kommt darauf an, die Arbeitsplätze der Beschäftigten zu erhalten. Klar ist: Wenn VW hustet, (Beifall bei der SPD) dann wackelt ganz Niedersachsen, und es wackeln un- Leider gehen die Folgen noch ein bisschen weiter; zählige Firmen über VW hinaus. Herr Ferlemann hat es bereits erwähnt. Die Kommunen Die Bosse können sich entspannt zurücklehnen und mit VW-Standorten sind unmittelbar betroffen. Wenn werden sich möglicherweise auf einer sonnigen Insel Wolfsburg beispielsweise eine Haushaltssperre verhängt, ausruhen – nicht jedoch die Beschäftigten –, werden sie ist für Standorte wie Baunatal in meinem Heimatland doch alle vielleicht in Millionenhöhe abgefunden. Hessen nicht sicher, ob die für die nächsten Jahre ge- planten Modernisierungen nun auch realisiert werden Meine Damen und Herren, die Bundesregierung hat können. Wir alle wissen: Fehlende Investitionen in einen die Verantwortung für die Beschäftigten bei VW. Standort können diesen mittel- und langfristig als Gan- (Beifall bei der LINKEN) zen gefährden. Daher darf VW jetzt keine Fehler mehr machen: nicht bei der Aufarbeitung des Skandals, nicht Sie hat auch die Verantwortung für die zig betroffenen im Hinblick auf die notwendigen Konsequenzen daraus Beschäftigten in den umliegenden Bereichen: den Bä- und schon gar nicht beim Entwurf einer Strategie für die ckereien, den Kiosken, den Supermärkten und allen an- nächsten Jahre. deren, die dazugehören. Nehmen Sie Ihre Verantwortung (B) wahr, damit dort Beschäftigung weiter erhalten bleibt. Jetzt, liebe Kolleginnen und Kollegen, kommen wir (D) ins Spiel. Hier ist auch die Politik gefragt. Ich fordere Vielen Dank. Folgendes: (Beifall bei der LINKEN) Erstens. Abgaswerte müssen zukünftig einheitlich und unabhängig vom Unternehmen festgestellt und überprüft Vizepräsidentin Ulla Schmidt: werden. Dazu müssen die neuen realitätsnahen Messver- Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist Birgit Kömpel, fahren zügig eingeführt werden. SPD-Fraktion. Zweitens. Messungen im realen Fahrbetrieb dürfen (Beifall bei der SPD) nicht mehr wesentlich von den Laborergebnissen abwei- chen. Es müssen klare Konsequenzen bei Verstößen auf Birgit Kömpel (SPD): nationaler und internationaler Ebene vereinbart werden. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Last, but not least: Die Aufarbeitung des Skandals Kollegen! VW stand stets für deutsche Wertarbeit – muss eng begleitet und genauestens beobachtet werden, damit weitere negative Folgen von den Arbeitnehmerin- (Oliver Wittke [CDU/CSU]: Immer noch!) nen und den Arbeitnehmern abgewendet werden können. hier bei uns und in der ganzen Welt. Der VW-Käfer zum Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, es wird ein har- Beispiel war das Sinnbild für das deutsche Wirtschafts- ter Weg werden, um das verlorengegangene Vertrauen wunder nach dem Krieg. VW wurde in einem Atemzug mit Wörtern wie Zuverlässigkeit, Wertbeständigkeit und im In- und Ausland wiederzugewinnen. Aber ihn zu ge- Sicherheit genannt. Diese Eigenschaften haben VW groß hen, sind wir vor allem den Menschen schuldig, die im gemacht und den Erfolg des Unternehmens begründet. Vertrauen auf den guten Ruf von VW täglich an vielen Standorten in Deutschland und auf der ganzen Welt ihr Auch zu Beginn des Jahres hat VW wieder Erfolge Bestes für das Unternehmen geben. verkündet. Die Marke von 600 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sollte erstmals in der Geschichte des Auto- Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. bauers überschritten werden. VW war damit auf dem bes- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) ten Weg, zum größten Autobauer der Welt aufzusteigen. Diese einmalige Erfolgsgeschichte ist nun vorerst zu Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Ende erzählt. Das ist sehr bedauerlich, und das ist auch – Vielen Dank. – Für Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt leider – selber verschuldet. VW hat in großem Maß Ab- der Kollege Stephan Kühn das Wort. 12624 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. 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(A) Stephan Kühn (Dresden) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- bekannt hat. Nur scheint 24 Stunden vor Rückmeldefrist (C) NEN): keine abgestimmte Position der Bundesregierung vorzu- Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kol- liegen; denn gestern hat der Parlamentarische Staatsse- legen! Kein einziges Mal hat das Kraftfahrt-Bundesamt kretär Norbert Barthle im Verkehrsausschuss bekräftigt, in der Vergangenheit die Angaben der Automobilherstel- dass es dazu noch keine abgeschlossene Meinung der ler kontrollieren lassen. Erst durch die VW‑Affäre soll Bundesregierung gibt. Deshalb stellt sich die Frage, ob nunmehr untersucht werden, ob das, was typgenehmigt Verkehrsminister Dobrindt mal wieder auf der Bremse wurde, auch tatsächlich verbaut wurde. steht. Das Kraftfahrt-Bundesamt kann diese Aufgabe nicht Ich erwarte von dieser Bundesregierung, dass sie sich selber wahrnehmen; denn das Kraftfahrt-Bundesamt be- jetzt konsequent für den Schutz der Menschen vor ge- sitzt keinen einzigen Rollenprüfstand, um zum Beispiel sundheitsgefährdenden Stickoxiden und für eine besse- Abgasuntersuchungen vorzunehmen. Das ist in etwa re Luftqualität in Städten einsetzt. Das ist das Gebot der so, als wenn die Polizei Verkehrskontrollen durchfüh- Stunde. ren soll, aber keine Fahrzeuge dafür zur Verfügung hat. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Das Kraftfahrt-Bundesamt ist vollständig auf technische der LINKEN) Dienstleister angewiesen. Diese wiederum werden für die Zulassung von Fahrzeugen und Fahrzeugteilen direkt Die Krise der deutschen Automobilindustrie kann von der Automobilindustrie bezahlt. Da sind wirtschaft- auch eine Chance sein, wenn sie für die Umstellung auf liche Interessenkonflikte vorprogrammiert. Wir brauchen emissionsfreie Antriebe genutzt wird. Wer es mit Klima- daher eine unabhängige europäische Typgenehmigungs- und Umweltschutz ernst meint, muss jetzt auf Elektro- behörde. mobilität setzen – und nicht länger auf den Diesel. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Denn damit wäre man international schlecht aufgestellt: Die Feldüberwachung der im Verkehr befindlichen Fahr- In den USA ist der Markt für Diesel praktisch tot, in Chi- zeuge sollte künftig durch das Umweltbundesamt über- na gibt es keine Diesel‑Pkw, dort setzt man gleich auf die nommen werden. Elektromobilität. Herr Ferlemann, Sie haben die Abgasuntersuchung Industriepolitisch gesehen, darf die deutsche Automo- angesprochen. Das war interessant. Sie haben von der bilindustrie nicht den Anschluss verlieren. Dafür hängen Endrohrmessung gesprochen. Ihnen müsste eigentlich von ihr in Deutschland zu viele Arbeitsplätze ab. Die (B) bekannt sein, dass seit 2006 – so meine Erinnerung – gar Politik muss jetzt unterstützend eingreifen: Wir brau- (D) keine Endrohrmessungen mehr durchgeführt werden. chen ein Marktanreizprogramm mit einer Kaufprämie für Elektroautos, wenn die Elektromobilität – ob nun mit (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Batterie- oder Brennstoffzellentechnologie – endlich aus Genau!) der Nische kommen soll. War das jetzt ein Hinweis darauf, dass sie künftig wie- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) der stattfinden werden? Dann wäre das ja sehr positiv zu bewerten. Wir brauchen ein Investitionsprogramm für Elektromo- bilität, um zum Beispiel den Aufbau öffentlich zugäng- (Zuruf des Abg. Jörn Wunderlich [DIE LIN- licher Ladeinfrastruktur voranzutreiben. Eine klare Li- KE]) nie der Bundesregierung kann ich an dieser Stelle nicht Autos, die Schadstoffgrenzwerte nur im Labor einhal- erkennen: Frau Hendricks ist für eine Kaufprämie, Herr ten, aber nicht auf der Straße, sie dort vielmehr um ein Dobrindt dagegen. Vielfaches überschreiten, sind nicht zukunftsfähig. Das Meine Damen und Herren, jetzt muss gehandelt wer- ist Greenwashing, und das ist gescheitert. den, um die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Auto- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mobilindustrie langfristig zu sichern. sowie bei Abgeordneten der LINKEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Messverfahren für Straßentests werden aktuell in sowie der Abg. Caren Lay [DIE LINKE]) Brüssel verhandelt. Bei den sogenannten Real Driving Emissions, kurz RDE, geht es um Abgastests unter rea- Vizepräsidentin Ulla Schmidt: len Fahrbedingungen. Die Kommission hat am 6. Okto- Vielen Dank. – Der Kollege Matthias Heider spricht ber einen Vorschlag dazu vorgelegt. So sollen die realen jetzt für die CDU/CSU‑Fraktion. Emissionen ab 2017 nur noch maximal um das 1,6‑Fache oberhalb der festgesetzten Abgasgrenzwerte liegen dür- (Beifall bei der CDU/CSU) fen, ab 2019 nur noch um das 1,2‑Fache und damit im Bereich der Messunsicherheit des RDE‑Verfahrens. Mor- Dr. Matthias Heider (CDU/CSU): gen, also am Freitag, dem 16. Oktober, muss die Bundes- Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! regierung der Kommission antworten, wie sie zu diesem Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es wird heute wohl Vorschlag steht. Erfreulich, dass sich die Bundesum- nicht das letzte Mal sein, dass wir uns mit diesem The- weltministerin gestern öffentlich zu diesem Vorschlag ma beschäftigen müssen. Wir alle haben aber, wie ich Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 12625

Dr. Matthias Heider (A) glaube, inzwischen den Eindruck gewinnen können, dass Mitarbeiter des Konzerns sind wir auf der Spur. Wir wol- (C) es mehr darum geht, politisches Kapital aus dem Fehl- len nicht diejenigen bestrafen, die mit guter Arbeit dazu verhalten von einzelnen Personen zu schlagen. Das, was beitragen, dass ein vernünftiges Produkt entsteht. Sie uns heute hier verquickt vortragen, macht jedenfalls (Beifall bei der CDU/CSU) deutlich, dass Sie allen Anspruch auf diese Lösung er- heben. Lassen Sie uns einen Blick auf das Ausmaß des Scha- dens werfen. Weltweit sind 11 Millionen Fahrzeuge be- Meine Damen und Herren von den Grünen, es gibt durchaus ein paar Punkte, die vernünftig sind. Da gibt troffen, allein in Deutschland 2,4 Millionen. Das Ver- es auch gar keinen Widerspruch zu den Forderungen in trauen der Verbraucher ist tief enttäuscht, weil sie Autos Ihrem Antrag, nämlich dass Aufklärungsarbeit zu leis- von VW als ein solides und zuverlässiges Produkt aus ten ist. Dass es allen Beteiligten angelegen sein muss, Deutschland kennen. Das Bild der seriösen deutschen Schaden vom Unternehmen Volkswagen und damit auch Ingenieurskunst insgesamt ist angekratzt. Wenn Sie mit Schaden von der deutschen Wirtschaft abzuwenden, das Besuchern aus dem Ausland sprechen, dann erfahren Sie, ist ein Gebot, dem Sie alle schon im Interesse der Ar- dass man dort auch die große Sorge hat, dass die Marke beitsplätze in Deutschland zustimmen müssten. „made in Germany“ damit beschädigt wird. Wie konnte es eigentlich zu diesem dolosen und massiven Fehlver- Es wird eine Menge Aufklärungsarbeit betrieben. halten einzelner Mitarbeiter bei VW kommen? Das ist VW hat eine externe Revision in Form von Anwälten in die Frage, die uns hier heute interessieren muss. den USA und Deutschland beauftragt. In Deutschland ermittelt die Staatsanwaltschaft wegen Betruges. Der Die Ursachen sind wohl insbesondere innerhalb des Verkehrsminister hat eine Kommission aus Experten von Konzerns zu suchen, Kraftfahrt-Bundesamt und Ministerium einberufen, die (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ebenfalls an der Aufklärung des Fehlverhaltens arbeitet. NEN]: Und bei der Bundesregierung!) Es gibt einen Austausch mit den amerikanischen Behör- den. Und die Bundesregierung berichtet dem Bundestag weil dieser Skandal zeigt: Wenn eine solche Manipu- und seinen Ausschüssen. lation an einem so zentralen Bauteil wie dem Motor in einem Konzern möglich ist, dann müssen nicht nur Ich stelle zunächst einmal fest, dass all das, was not- dringend die manipulierten Fahrzeuge in die Werkstatt, wendig ist, im Moment getan wird, um die Situation auf- sondern dann brauchen auch die Compliance-Regeln in zuklären. diesem Konzern dringend eine Inspektion. Ich habe die Ich lese in Ihrem Antrag aber beispielsweise auch, Hoffnung, dass der VW-Konzern das jetzt sehr vorbild- lich lösen wird. (B) dass Sie glauben, es sei jetzt ein Wendepunkt im Hinblick (D) auf die Dieseltechnologie erreicht. Das klingt, als hätten Die Ursachen sind aber auch außerhalb des Konzerns Sie schon die Abschaffung des Diesel-Pkw beschlossen. zu suchen, weil wir prüfen müssen, ob unsere bisherigen Das ist aber genau der falsche Weg, und das hat der Kol- Regelungen – das hat der Kollege Kühn gerade richtig lege Wittke in seiner Rede gerade eindrucksvoll belegt. angesprochen – zur Erteilung der Typgenehmigungen Natürlich brauchen wir saubere Dieselmotoren, aber wir durch das Kraftfahrt-Bundesamt im Rahmen der Stra- brauchen auch Dieselmotoren, die effizient sind. Dabei ßenverkehrs-Zulassungs-Ordnung ausreichend sind. ist es ein hoffnungsvolles Potenzial, dass die meisten Es hat wohl nicht funktioniert, dass man das, was das Hersteller von Dieseltechnologie sagen, dass der Ver- Kraftfahrt-Bundesamt möglicherweise auch mit eigenen brauch um weitere 15 bis 20 Prozent verbessert werden Kräften nachprüfen könnte, konsequent auf Labore und kann. Wenn wir eine saubere und gleichzeitig sparsamere Zertifizierungsstellen outgesourct hat. Technologie behalten können, warum sollen wir sie dann schon abschaffen, nur weil Sie das heute hier fordern? (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Aha!) Zum Antrag der Linken wollte ich eigentlich nichts sagen. Nur so viel: Sie geben vor, dass Sie Arbeitsplät- Wenn die Industrie in einem solchen Umfang von einer ze schützen wollen. Sie schlagen dafür kompliziertere Bürokratieentlastungsregelung Gebrauch macht, dass Strukturen beim Umweltbundesamt und beim Kraft- man schon von einem Missbrauch sprechen muss, dann fahrt-Bundesamt vor. Sie wollen gleich auch noch die gehört auch diese auf den Prüfstand, gar keine Frage. Gruppenklage als neue Klageart einführen und damit (Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE wahrscheinlich Sammelklagen nach amerikanischem GRÜNEN]: Dann können wir doch mal klat- Vorbild Vorschub leisten. Sie sprechen von einem Unter- schen! – Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE nehmensstrafrecht. GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) (Caren Lay [DIE LINKE]: Nein! Das haben – Klatschen Sie ruhig. Ich habe ja schon eingangs gesagt: Sie falsch verstanden! Das ist doch Quatsch!) Es gibt Punkte, da sind wir uns durchaus einig. Dabei bestrafen Sie eigentlich die Mitarbeiter des (Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE VW-Konzerns; denn Unternehmensstrafrecht ist so et- GRÜNEN]: Haben Sie das dem Minister auch was wie eine kollektive Schuldzuweisung. Bei uns in einmal gesagt?) Deutschland ist es Gott sei Dank so, dass Schuld an ein persönlich vorwerfbares Verhalten geknüpft ist. Gerade Wie reagiert jetzt der VW-Konzern auf diese drohen- diesem persönlichen Fehlverhalten der entsprechenden den hohen Kosten – es wird wohl einen hohen Milliar- 12626 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015

Dr. Matthias Heider (A) denbetrag erfordern – in seinem Hause? Ein Sparpro- Inzwischen ist auch klar: Insgesamt sind etwa 11 Mil- (C) gramm wird auf den Weg gebracht. lionen VW-Fahrzeuge von der Manipulation betroffen. Meine Kollegin Birgit Kömpel hat gesagt: Gerade unsere (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Generation ist der Marke VW sehr verbunden. Sie hat NEN]: Das ist nichts Neues!) auch ein Stück weit unser Leben begleitet. 1 Milliarde Euro soll dieses Sparprogramm erbringen. Wir müssen dabei fest im Blick haben: Die Automobil- Das wird einen Kostendruck bei vielen Zulieferern, die industrie hat für den Standort Deutschland eine enorme auch bei Ihnen zu Hause in den Wahlkreisen angesiedelt wirtschaftliche Bedeutung – damals wie heute. Deutsche sind, auslösen. Das hat das Potenzial, Arbeitsbedingun- Fahrzeughersteller und ihre Zulieferer sind in vielen Be- gen und Arbeitsplätze zu gefährden. Es wird auch da- reichen Innovationsführer, und das muss auch in Zukunft für sorgen – das haben die Kollegen aus Niedersachsen so bleiben. Die Folgen dieses Skandals werden jedoch schon damals in der Aktuellen Stunde vorgetragen –, dass noch lange nachwirken. Unsere besondere Sorge gilt da- es Gewerbesteuereinbrüche in Städten und Gemeinden bei den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, gibt. Braunschweig und Wolfsburg haben schon Haus- haltssperren verhängt. Wir haben deshalb überhaupt kei- (Beifall bei der SPD) ne Freude an den Folgen dieses Skandals. Im Gegenteil: großartig ausgebildeten Facharbeiterinnen und Fachar- Wir müssen durch konsequente Aufklärung dafür sorgen, beitern, Ingenieurinnen und Ingenieuren. Sie sind verun- dass ein solcher Vorfall nicht wieder geschehen kann. sichert, wissen nicht, wie es für sie weitergeht, und haben Angst um ihren Arbeitsplatz. Die Industrie – das ist eines der klaren Ziele – muss zeigen, dass der Diesel weiter neben den verschiedenen Warum geht ein erfolgreicher Konzern einen solchen Möglichkeiten der Elektromobilität eine Zukunftstechno- Weg? Das werden sich viele fragen. Warum so viel Ener- logie ist. Wir müssen zeigen, dass Produkte aus Deutsch- gie in die Manipulation stecken, statt ein Produkt weiter- land für Verlässlichkeit stehen, dass „made in Germany“ zuentwickeln? Fakt ist – hier widerspreche ich meinem weiterhin das Signet für Qualität ist und dass Deutsch- Vorredner –: Die Dieseltechnologie stößt bei hohen Leis- land auf diesen Feldern Technologieführer ist. Letztens tungen, bei hohen Geschwindigkeiten an ihre Grenzen, müssen die Verbraucher vor Täuschungen dieser Art was die Einhaltung der Abgasnorm angeht. Lassen Sie geschützt werden. So kann Vertrauen wiederhergestellt uns deshalb den Skandal als echte Chance nutzen, unsere werden – das ist die vordringliche Aufgabe –, so schüt- Energie und unseren Erfindergeist in die Weiterentwick- zen wir den deutschen Automarkt, eine Schlüsselbranche lung alternativer Antriebe zu investieren! Mein Kollege unserer Industrie, ohne daraus – diese Bitte habe ich – Arno Klare hat uns heute schon eine innovative To-do- (B) politisches Kapital schlagen zu wollen. Liste vorgestellt. Die Zukunft gehört der Elektromobi- (D) lität. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie der CDU/CSU) des Abg. Dr. Harald Terpe [BÜNDNIS 90/DIE Denn wir haben reichlich Strom aus erneuerbaren Ener- GRÜNEN]) gien. Damit ist der Weg zu wirklich sauberer Mobilität frei. Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen Vielen Dank. – Nächste Rednerin ist Dr. Birgit und Kollegen, wenn wir heute ein Auto kaufen, dann Malecha-Nissen, SPD-Fraktion. können wir viele technische Errungenschaften als Ext- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ras dazukaufen: vernetzte Navigation, klimatisierte Sit- der CDU/CSU) ze, Einparkhilfen, automatische Distanzregelung, Fern- lichtassistenten, um nur einige zu nennen. Mittlerweile Dr. Birgit Malecha-Nissen (SPD): machen diese Extras einen beträchtlichen Teil des Kauf- preises aus. Automatische Distanzregelung und Fern- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen lichtassistenten sind jedoch nicht nur Luxus, sondern und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es hört tragen auch wesentlich zur Verkehrssicherheit bei. sich an wie ein Wirtschaftskrimi und ist doch Realität. Im Frühjahr 2014 gab es erste Hinweise, dass europäi- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten sche Dieselmodelle der Marke VW die strengen ameri- der CDU/CSU) kanischen Abgasnormen nicht einhalten. Während man Vielleicht müssen wir an dieser Stelle einmal umdenken in der Folge noch von technischen Problemen sprach, und diese Fahrerassistenzsysteme auch zur Standardaus- kam dann im September dieses Jahres der Paukenschlag: rüstung eines Fahrzeugs erklären, ähnlich wie früher den Der VW-Konzern gab erstmals öffentlich zu, bei Ab- Airbag. gastests manipuliert zu haben. Nun haben sich die Er- eignisse überschlagen und den vorläufigen Höhepunkt (Beifall bei der SPD) erreicht: Texas verklagt VW wegen des Verstoßes gegen Katalysatoren zur Steuerung der Abgaswerte, über Verbraucherschutz- und Umweltgesetze, und das Kraft- die wir heute sprechen, gehören zur Standardausrüstung. fahrt-Bundesamt ordnet, ganz aktuell, den Rückruf von Wird deswegen alles unternommen, die Kosten zu sen- 2,4 Millionen Autos an. ken, zu manipulieren und gesetzliche Vorgaben zu umge- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 12627

Dr. Birgit Malecha-Nissen (A) hen, weil es eine Standardausrüstung ist? Wird etwa auch Vizepräsidentin Ulla Schmidt: (C) bei anderen Standardausrüstungen gespart und der Fokus Danke schön. – Letzter Redner in dieser Debatte ist zu stark auf gewinnbringende Extras gelegt? Diese Fra- der Kollege Johann Saathoff, SPD-Fraktion. ge werden wir heute nicht beantworten können, aber mir (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten war es wichtig, sie heute einmal in den Raum zu stellen. der CDU/CSU) Liebe Kolleginnen und Kollegen, unsere Umweltmi- nisterin Barbara Hendricks hat bereits schärfere Abgas- Johann Saathoff (SPD): vorschriften und -kontrollen für alle Dieselfahrzeuge ge- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten fordert. Die Kosten für das Kontrollsystem sollen dabei Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! die Hersteller tragen. Was heißt das jetzt konkret? Mein In Ostfriesland gibt es gerade eine ganze Liste von Sor- Kollege hat es zum Teil schon genannt – ich möchte es gen; aber meine kleinste Sorge ist derzeit, wen Leonardo noch einmal erwähnen –: Das neue Testverfahren WLTP ­DiCaprio denn als Nächstes spielen wird, mit weltweiten strengen Prüfstandards muss schnellst- möglich eingeführt werden, möglichst noch vor 2014. (Beifall bei der SPD) (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das ist es sei denn, er kandidiert für den Deutschen Bundestag. vorbei! Das geht nicht mehr!) Nach Bekanntwerden des Abgasskandals werden Dieses Verfahren löst ein altes Messverfahren ab, das schnell Konsequenzen gefordert. Aber eines muss zu- schon in den 90er-Jahren entwickelt wurde. An der Stelle nächst klargestellt werden: Die Arbeiterinnen und Arbei- ist es mir wichtig, zu sagen: Man kann sich gut vorstel- ter in den Werken von VW haben gute Arbeit geleistet, len, dass ganz viel Raum für Manipulationen besteht, nicht nur in den letzten Jahren. Sie sind es, die VW in wenn man ein Messsystem nutzt, das fast 20 Jahre alt den letzten Jahrzehnten durch ihren Einsatz zur weltweit ist, aber die Software auf dem Stand des Jahres 2015 ist. größten Automarke gemacht haben. Als Zweites werden wir natürlich – (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Heiko Schmelzle [CDU/CSU])

Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Es sind nicht nur die Arbeiterinnen und Arbeiter in den Ich darf Sie an die Zeit erinnern. Werken, sondern auch an den Werken, also die Zuliefe- rer, die gute Arbeit geleistet haben. Es ist gute Arbeit in den Standortkommunen geleistet worden, die sich auf die Dr. Birgit Malecha-Nissen (SPD): (B) Automobilindustrie eingestellt haben. Als Kind von der (D) Ja. Es gibt zu diesem Thema so viel zu sagen. Küste kann ich sagen, dass stets auch in den Häfen gute (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten Arbeit geleistet wurde, die die wichtige Aufgabe des Ex- der SPD sowie des Abg. Dr. Anton Hofreiter ports übernommen haben. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Heiterkeit Insofern liegt eigentlich eine unfaire Situation vor, bei Abgeordneten der CDU/CSU) wenn die eigentlichen Leistungsträger plötzlich zur Ver- antwortung gezogen werden sollen. Verantwortung ha- Vizepräsidentin Ulla Schmidt: ben die Menschen in den Managementetagen, nicht die Ja, aber das geht leider nicht. Es sitzen noch ganz viele Menschen, die am Band arbeiten. hier im Saal, die viel zu sagen haben. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN) Dr. Birgit Malecha-Nissen (SPD): Wir müssen dafür Sorge tragen, dass am Ende nicht die Okay, noch zwei Sätze. – Zweitens werden wir uns Menschen an den Werkbänken und an den Bändern die umgehend auf EU-Ebene für die Einführung der Mes- Suppe für inakzeptable Managemententscheidungen aus- sung der Realemissionen von Pkws als weiteres Kon­ zulöffeln haben. trollverfahren einsetzen. Wir müssen dafür sorgen, dass neben den theoretischen Messungen natürlich auch auf Es ist richtig, Konsequenzen zu fordern. Allerdings ist der Straße gemessen und geprüft wird, um das Ver- es genauso richtig, erst alle Sachverhalte gründlich auf- brauchsverhalten realistisch abzubilden. zuklären. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU Vizepräsidentin Ulla Schmidt: sowie der Abg. Kirsten Lühmann [SPD]) Jetzt! Nur auf Grundlage der Erkenntnis der Aufklärung kön- nen wirksame Konsequenzen gefordert werden. Dr. Birgit Malecha-Nissen (SPD): Liebe Kolleginnen und Kollegen, keine Frage: Durch Ich bedanke mich ganz herzlich. den Abgasskandal ist Vertrauen zerstört worden. Das ist (Heiterkeit und Beifall bei der SPD sowie des besonders schlimm, weil Deutschland weltweit als kli- Abg. Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE mapolitischer Vordenker gilt. Das ist besonders schlimm, GRÜNEN]) weil Deutsche den Ruf haben, auch nachts um drei an 12628 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015

Johann Saathoff (A) einer vollkommen leeren Straße vor einer Fußgängeram- Vizepräsidentin Ulla Schmidt: (C) pel auf Grün zu warten, also Rechtsstaatlichkeit zu leben. Vielen Dank. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, in- (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der terfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den SPD) Drucksachen 18/6334 und 18/6325 an die in der Tages- ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Es kommt darauf an, wie man nun beispielgebend Sie damit einverstanden? – Ich sehe, das ist der Fall. mit der Situation umgeht, und man kann darin auch eine Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Chance sehen. Zum Beispiel kann ich mir gut – wir haben das heute schon mehrfach gehört – einen konsequenten Ich bitte Sie um Ihre Aufmerksamkeit; denn wir haben Einstieg in die Elektromobilität vorstellen. Seite 44 des eine Reihe von Abstimmungen vorzunehmen. Koalitionsvertrags kann in dieser Frage deutlich helfen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 30 a bis 30 e so- (Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE wie die Zusatzpunkte 2 a und 2 b auf. Es handelt sich GRÜNEN]: Interessiert diese Seite 44 Ihren um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Minister auch nur ein bisschen?) Debatte. Ich möchte an dieser Stelle ein Lob für den Neun-Punk- Wir kommen zunächst zu den unstrittigen Überwei- te-Plan der Bundesumweltministerin Barbara Hendricks sungen. Tagesordnungspunkte 30 a bis 30 e sowie Zu- aussprechen. satzpunkt 2 a: (Beifall der Abg. Dr. Daniela De Ridder 30 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- [SPD]) gebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Seearbeitsgesetzes Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Art, wie man die Krise aufklärt, wie man Transparenz schafft, wie man da- Drucksache 18/6162 für sorgt, dass die Verantwortlichen zur Verantwortung Überweisungsvorschlag: gezogen und die Nichtverantwortlichen geschützt wer- Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz den, und wie man sich aus der Krise heraus für die Zu- Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur kunft aufstellt, schafft neues Vertrauen – neues Vertrau- en in neue VW-Modelle, aber auch neues Vertrauen in b) Erste Beratung des von der Bundesregierung „made in Germany“. Die Dieseltechnologie würde ich an eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aus- dieser Stelle nicht gleich kaputtreden; denn Dieselantrie- wahl und zum Anschluss von Telekommuni- be sind energieeffizient und außerdem im Sinne unserer kationsendgeräten (B) Klimaziele. Dass die Stickoxidproblematik beherrschbar Drucksache 18/6280 (D) ist, sei an dieser Stelle auch mal erwähnt. Überweisungsvorschlag: (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Ausschuss für Wirtschaft und Energie (f) CDU/CSU) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur Allein in diesem Bereich gibt es 70 000 Arbeitsplätze. Ausschuss Digitale Agenda Wer hat eigentlich vor einem Jahr seinen angegebenen c) Erste Beratung des von der Bundesregierung Abgas- und Verbrauchswerten getraut? Das gilt übrigens eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än- auch für Energieausweise an Gebäuden. Ich will das aus- derung vom 10. Dezember 2014 des Überein- drücklich nicht kleinreden. Eine wirksame unabhängige kommens vom 27. Juni 1980 zur Gründung Kontrolle ist jetzt wichtiger denn je; wir haben viel über des Gemeinsamen Fonds für Rohstoffe Real Drive Emission gehört. Neue Testverfahren sind Drucksache 18/6294 wichtig. Überweisungsvorschlag: Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben es in ab- Ausschuss für Wirtschaft und Energie geänderter Form schon gehört: Wenn VW hustet, dann hat Ostfriesland eine Lungenentzündung. Die Auswirkungen d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kai auf die Region sind enorm. Aber es gibt auch bundesweit Gehring, Harald Ebner, Kordula Schulz-Asche, Auswirkungen, wegen der Zulieferer von VW. Wir sind weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- gefordert, dafür zu sorgen, dass es nicht zu unumkehrba- NIS 90/DIE GRÜNEN ren Strukturbrüchen kommt, und zwar wir alle. Biosicherheit bei Hochrisikoforschung in den Lebenswissenschaften stärken (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Drucksache 18/6204 Für die Menschen in den Werken, denen man keinen Vorwurf machen kann, müssen wir uns einsetzen. Diese Überweisungsvorschlag: Menschen haben ihre ganze Kraft eingesetzt – oder wie Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen­ abschätzung wir Ostfriesen sagen: Knooit hett lüttje Mann sük genug. e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Dr. Kirsten Tackmann, Karin Binder, Caren Lay, (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE CDU/CSU) LINKE Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 12629

Vizepräsidentin Ulla Schmidt (A) Herdenschutz ist Wolfsschutz – Jetzt ein bun- men. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – (C) desweites Kompetenzzentrum aufbauen Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Überwei- Drucksache 18/6327 sungsvorschlag ist gegen die Stimmen von Bündnis 90/ Die Grünen angenommen. Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft (f) Ich rufe die Tagesordnungspunkte 31 a bis 31 f auf. Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktor­ Hierbei handelt es sich um die Beschlussfassung zu Vor- sicherheit lagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. ZP 2a) Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU, Tagesordnungspunkt 31 a: SPD, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Ent- Einsetzung des 3. Untersuchungsausschusses wurfs eines Gesetzes zu dem Partnerschafts- Drucksache 18/6330 und Kooperationsabkommen vom 11. Mai Überweisungsvorschlag: 2012 zwischen der Europäischen Union und Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäfts­ ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Re- ordnung publik Irak andererseits Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an Drucksache 18/5577 die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Die Vorlage auf Drucksache 18/6327 soll fe- Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärti- derführend beim Ausschuss für Ernährung und Landwirt- gen Ausschusses (3. Ausschuss) schaft beraten werden. Sind Sie damit einverstanden? – Drucksache 18/6374 Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist so beschlossen. Der Auswärtige Ausschuss empfiehlt in seiner Be- Wir kommen nun zu einer Überweisung, bei der die schlussempfehlung auf Drucksache 18/6374, den Gesetz- Federführung strittig ist. entwurf der Bundesregierung auf Drucksache 18/5577 Zusatzpunkt 2 b: anzunehmen. Beratung des Antrags der Abgeordneten Tom Zweite Beratung Koenigs, Omid Nouripour, Luise Amtsberg, und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – NIS 90/DIE GRÜNEN (B) Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz- (D) Keine Straflosigkeit bei Kriegsverbrechen – entwurf ist mit den Stimmen der Fraktionen von CDU/ Völkerstrafprozesse in Deutschland voran- CSU und SPD gegen die Stimmen der Fraktion Die Lin- bringen ke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Drucksache 18/6341 angenommen. Überweisungsvorschlag: Tagesordnungspunkt 31 b: Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f) Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe (f) – Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- Federführung strittig regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 7. Mai 2015 zwischen Interfraktionell wird Überweisung des Antrags der Regierung der Bundesrepublik Deutschland der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksa- und der Regierung von Jersey über die Zusam- che 18/6341 mit dem Titel „Keine Straflosigkeit bei Kriegsverbrechen – Völkerstrafprozesse in Deutschland menarbeit in Steuersachen und die Vermeidung voranbringen“ an die in der Tagesordnung aufgeführten der Doppelbesteuerung bei bestimmten Ein- Ausschüsse vorgeschlagen. Die Fraktionen der CDU/ künften CSU und der SPD wünschen Federführung beim Aus- Drucksache 18/6157 schuss für Recht und Verbraucherschutz, die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wünscht Federführung beim – Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe. regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Zusatzabkommen vom 31. März 2015 Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der zum Abkommen vom 21. Juli 1959 zwischen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen – Federführung beim Bundesrepublik Deutschland und der Französi- Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe – schen Republik zur Vermeidung der Doppelbe- abstimmen. Wer stimmt für diesen Überweisungsvor- steuerungen und über gegenseitige Amts- und schlag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Rechtshilfe auf dem Gebiete der Steuern vom Überweisungsvorschlag ist mit den Stimmen von CDU/ Einkommen und vom Vermögen sowie der Ge- CSU, SPD und der Fraktion Die Linke gegen die Stim- werbesteuern und der Grundsteuern men der Grünen abgelehnt. Drucksache 18/6158 Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD – Federführung beim Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus- Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz – abstim- schusses (7. Ausschuss) 12630 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015

Vizepräsidentin Ulla Schmidt (A) Drucksache 18/6369 Buchstabe b und Buchsta- Drucksache 18/6210 (C) be c Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- Der Finanzausschuss empfiehlt unter Buchstabe b hält sich? – Die Sammelübersicht 233 ist mit den Stim- seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/6369, men aller Fraktionen angenommen. den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Druck- Tagesordnungspunkt 31 e: sache 18/6157 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Hand- Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti- zeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – onsausschusses (2. Ausschuss) Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit Sammelübersicht 234 zu Petitionen den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stim- men der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion Drucksache 18/6211 Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- Dritte Beratung hält sich? – Die Sammelübersicht 234 ist gegen die Stim- men der Fraktion Die Linke angenommen. und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Tagesordnungspunkt 31 f: Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz- Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti- entwurf ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis in dritter onsausschusses (2. Ausschuss) Lesung angenommen. Sammelübersicht 235 zu Petitionen Der Finanzausschuss empfiehlt unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/6369, Drucksache 18/6212 den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksa- Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- che 18/6158 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem hält sich? – Die Sammelübersicht 235 ist mit den Stim- Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzei- men der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der chen. – Wer ist dagegen? – Wer enthält sich? – Der Ge- Opposition angenommen. setzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stim- men von CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen Ich rufe den Zusatzpunkt 6 auf: bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen. Beratung der Beschlussempfehlung des Aus- Dritte Beratung schusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuss) zu dem Dritten Gesetz (B) und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem zur Änderung des Regionalisierungsgesetzes (D) Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz- Drucksachen 18/3785, 18/3993, 18/4164, entwurf ist in dritter Lesung mit dem gleichen Stimmen- 18/4189, 18/4514, 18/6370 verhältnis angenommen. Berichterstatter ist der Kollege Abgeordnete Michael Tagesordnungspunkt 31 c: Grosse-Brömer. Der Kollege Michael Grosse-Brömer gibt als Berichterstatter des Bundestages im Rahmen ei- Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- ner schriftlichen Erklärung eine Protokollerklärung der richts des Ausschusses für Wirtschaft und Ener- Bundesregierung zur Kenntnis. Diese Erklärung nehmen gie (9. Ausschuss) zu der Verordnung der Bun- wir zu Protokoll.1) desregierung Wir kommen zur Abstimmung. Der Vermittlungsaus- Vierte Verordnung zur Änderung der Außen- schuss hat gemäß § 10 Absatz 3 Satz 1 seiner Geschäfts- wirtschaftsverordnung ordnung beschlossen, dass im Deutschen Bundestag Drucksachen 18/5891, 18/5976 Nr. 2.1, 18/6180 über die Änderungen gemeinsam abzustimmen ist. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des Vermittlungs- Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- ausschusses auf Drucksache 18/6370? – Wer stimmt da- lung auf Drucksache 18/6180, die Aufhebung der Ver- gegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ordnung auf Drucksache 18/5891 nicht zu verlangen. ist bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegen- probe! – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung Ich rufe die Tagesordnungspunkte 25 a bis 25 c auf: ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und Bünd- a) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ nis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke CSU und SPD angenommen. Die maritime Wirtschaft stärken und ihre Be- Tagesordnungspunkte 31 d bis 31 f. Wir kommen zu deutung für Deutschland hervorheben den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses. Drucksache 18/6328 Tagesordnungspunkt 31 d: b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre- Beratung der Beschlussempfehlung des Petiti- gierung onsausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 233 zu Petitionen 1) 7 Anlage Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 12631

Vizepräsidentin Ulla Schmidt (A) Vierter Bericht der Bundesregierung über die Wenn wir über die maritime Branche in Deutschland (C) Entwicklung und Zukunftsperspektiven der sprechen, dann reden wir nicht nur über Unternehmen maritimen Wirtschaft in Deutschland und Verbände, die ihre Heimat in Norddeutschland ha- ben, sondern auch über Industrien und Dienstleistungen Drucksache 18/5764 von Flensburg bis zum Bodensee. Wir haben große Mo- Überweisungsvorschlag: torenhersteller, die in Friedrichshafen für die Welt produ- Ausschuss für Wirtschaft und Energie (f) zieren und auf dem nationalen, aber auch dem internati- Auswärtiger Ausschuss onalen Markt im Antriebsgeschäft aktiv sind. Wir haben Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur große Werften. Wir haben große Schifffahrtsunterneh- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktor­ men in Deutschland, die auf dem Weltmarkt eine wichti- sicherheit ge Rolle spielen. Diese Unternehmen haben am Ende des Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab- Tages immerhin 400 000 Direktbeschäftigte in Deutsch- schätzung Ausschuss für Tourismus land. Es sind, um einige Kennzahlen zu benennen, 2 800 c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Unternehmen mit einem Umsatz von 30 Milliarden Euro. Dr. Valerie Wilms, Dieter Janecek, Matthias Bei dieser Nationalen Maritimen Konferenz geht es – Gastel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion ich bin den Koalitionsfraktionen sehr dankbar, dass sie BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN die Eckpunkte, die für die Branche wichtig sind, in ihrem Antrag unterstrichen haben – um die Zukunftsfähigkeit Amt des Maritimen Koordinators aufwerten der Unternehmen. Eine Konferenz wie die am kommen- Drucksache 18/6347 den Wochenanfang stattfindende muss, denke ich, eine Überweisungsvorschlag: Antwort auf die Fragen geben: Wie sieht diese Branche Ausschuss für Wirtschaft und Energie (f) in der Zukunft, in den nächsten zehn Jahren, aus? Was Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur haben wir zu gewärtigen? Was müssen wir seitens der Haushaltsausschuss Politik tun, um Rahmenbedingungen zu setzen, die diese Ich bitte, die Plätze zu tauschen, Branche auch in den nächsten zehn Jahren gut dastehen lassen? Ich glaube, das ist das entscheidende Thema, vor (Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Okay! dem wir uns nicht drücken werden und nicht drücken Komm, wir gehen rüber! – Stephan Kühn dürfen. (Dresden) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Koalitionsfraktionen haben in ihrem Antrag und Oh ja, Platztausch! – Heiterkeit bei Abge- in ihren Beschlussfassungen Wesentliches und Rich- ordneten der LINKEN und des BÜNDNIS- tungsweisendes dazu ausgeführt. Die Ziele, die wir uns (B) SES 90/DIE GRÜNEN) vornehmen müssen, sind auch im Hinblick auf die Ge- (D) soweit das geht. Alles im Rahmen. staltung der maritimen Politik in der Bundesrepublik Deutschland in den nächsten zehn Jahren entscheidend. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für Wir müssen die maritimen Zukunftsmärkte im Auge die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei- behalten, dabei bestehende und zukünftige maritime nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Wachstumsmärkte genau identifizieren und unsere hohen Dann eröffne ich die Aussprache. Das Wort hat der technologischen Standards auch zum Schutz der Umwelt Parlamentarische Staatssekretär Uwe Beckmeyer für die einsetzen. Bundesregierung. – Bitte schön. Wir müssen die Technologieführerschaft in Deutsch- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) land sichern und ausbauen und unsere internationale Wettbewerbsfähigkeit stärken. Das heißt auch, dass wir chancengleiche Wettbewerbsbedingungen für unsere Uwe Beckmeyer, Parl. Staatssekretär beim Bundes- Unternehmen schaffen müssen, damit deutsche Unter- minister für Wirtschaft und Energie: nehmen auch auf den Exportmärkten bestehen können. Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Wir wollen das Green Shipping fortsetzen, und ich Herren! Wir debattieren dieses wichtige Thema heute im glaube, das haben wir gemeinsam mit der Industrie gut Vorfeld der Nationalen Maritimen Konferenz, die Anfang entwickelt. Der Klima- und Umweltschutz im Seever- der kommenden Woche, am 19./20. Oktober, in Bremer- kehr sorgt dafür, dass umweltfreundliche Technologien haven stattfindet. Diese Konferenz hatte im Gegensatz zu eingeführt werden – zwangsweise auch von Dritten. Es den Vorgängerkonferenzen schon im Vorfeld verschiede- war und ist ein gutes Werk, einheitliche Umweltstan- ne neue Merkmale aufzuweisen. Wir haben diese Konfe- dards auf internationaler Ebene zu schaffen. renz mit sechs Branchenforen vorbereitet. Wir haben dort einen sehr intensiven fachlichen Austausch zwischen den Wir müssen die Infrastruktur für unsere Häfen verstär- Branchen, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, den ken – sowohl see- als auch landseitig. Die Modernisie- Verbänden und der Politik durchführen können. Wir le- rung der Verkehrsinfrastruktur ist von immenser Bedeu- gen großen Wert darauf, dass bei dieser Konferenz am tung für die Wettbewerbsfähigkeit unserer Häfen. kommenden Montag und Dienstag, obwohl sie eine nati- Ausbildung und Beschäftigung haben etwas mit dem onale Konferenz ist, der internationale Aspekt eine große maritimen Know-how zu tun, das wir am Schifffahrts- Rolle spielt; denn es geht um Branchen, die sich im inter- standort Deutschland für unsere Unternehmen, die auf nationalen Rahmen tummeln müssen. das Kapitäns-Know-how zurückgreifen möchten, auch in 12632 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015

Parl. Staatssekretär Uwe Beckmeyer (A) der nächsten Dekade dringend benötigen. Daneben brau- dem Antrag, den die Regierungsfraktionen vorgelegt ha- (C) chen wir im Bereich der maritimen Industrie auch eine ben, als auch in den Branchenforen, die in Vorbereitung Antwort darauf, wie es mit „Industrie 4.0“ weitergeht. der Maritimen Konferenz stattgefunden haben, und in Dort geht es spezifisch auch um die Frage, wie es mit dem Bericht der Bundesregierung wider, der vor einiger „Hafen 4.0“ weitergeht. Ich denke, hier ist eine innovati- Zeit vorgelegt worden ist. ve Seehafentechnologie in großem Maße gefordert. Darin wird festgeschrieben, was es alles fortzuführen Das Thema „Maritime Sicherheit“ und die Sicher- gilt. An dieser Stelle will ich einsetzen und nachfragen: heitspolitik haben wir in unseren Branchenforen auch Was soll eigentlich fortgeführt werden? Ist es etwa der besprochen. In Deutschland wurden Anti-Piraterie-Maß- Arbeitsplatzabbau? Inzwischen fahren weniger als 7 000 nahmen entwickelt. Wir haben Standards gesetzt, die Seeleute unter deutscher Flagge. Soll die Verschlechte- international beachtet werden. Die IMO empfiehlt sie, rung der Arbeitsmarktsituation fortgesetzt werden? Laut und ich denke, wir haben auch bei der Überwachung von Zentraler Heuerstelle in Hamburg gibt es ein immer sensiblen Seegebieten industrielle Standards zu setzen. krasser werdendes Missverhältnis zwischen der Zahl der Diese werden uns auf dem Weltmarkt Dritten gegenüber nachgefragten Arbeitsplätze und der Zahl der offenen helfen, dass unsere Instrumente und Technologien, mit Stellen. Insbesondere Nautiker suchen unmittelbar nach denen wir sensible Seegebiete überwachen lassen, Be- ihrer Ausbildung händeringend nach Arbeitsplätzen, um achtung finden. ihre Patente ausfahren zu können. Das ist für sie ent- scheidend, um nicht ihre teure Qualifikation zu verlie- Ich will zu diesen Zielen sagen, dass wir bei der stra- ren und im Nichts zu landen. Andernfalls wäre ihre teure tegischen Ausrichtung unserer einzelnen Maßnahmen Ausbildung umsonst gewesen. aktuell Gutes vorzuweisen haben. Im Bereich der Inno- vationsförderung, bei der Technologieentwicklung und Auf der Maritimen Konferenz kann kein wirklicher in Bezug auf die umfassende Strategie eines Nationalen Fortschritt festgestellt werden. Im Bericht der Bundes- Masterplans Maritime Technologien haben wir Gutes im regierung, den ich eben erwähnt hatte, wird darauf an Köcher. Auf der Maritimen Konferenz werden wir dazu mehreren Stellen hingewiesen. Die Schifffahrtskrise ist noch einiges Wegweisendes ausführen. nicht überwunden: Ich bedanke mich bei den Koalitionsfraktionen für ih- Die deutsche Handelsflotte hat sich reduziert, und ren wegweisenden Antrag die Anzahl der Schifffahrtsunternehmen ist zurück- gegangen. Der Anteil der Schiffe, die unter deut- (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- scher Flagge fahren, ist gesunken – mit Auswirkun- NEN]: Die haben aber gar nicht geklatscht!) gen auf Beschäftigung und Ausbildung deutscher (B) und bitte das Haus um den entsprechenden Beschluss Seeleute. (D) dazu. Diese Bilanz vor der 9. Nationalen Maritimen Konferenz Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. ist vernichtend. Die Konsequenz daraus muss heißen: Es darf kein Weiter-so geben. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Die Linke will erreichen, dass die maritime Wirtschaft sichere, saubere und dauerhafte Arbeitsplätze schafft. Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Vielen Dank, Herr Staatssekretär. – Für die Fraktion (Beifall bei der LINKEN) Die Linke erhält jetzt Herbert Behrens das Wort. Wir sehen nicht zu, wenn immer weniger Schiffe unter (Beifall bei der LINKEN) deutscher Flagge fahren. Die Reeder flüchten nämlich unter Flaggen von Niedriglohnländern und umgehen Herbert Behrens (DIE LINKE): Tarifverträge mit guten Heuern und guten Arbeitsbedin- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! gungen. Sie wollen ihre Schiffe künftig zunehmend unter Das Thema hätte eigentlich ein bisschen mehr Zeit ver- Flaggen fahren lassen, die ihnen genehme Arbeitsbedin- dient. Nach der normalen Parlamentsplanung war dieses gungen, das heißt billige Arbeitskräfte, liefern. Trotzdem Thema für morgen früh vorgesehen. Aber die Bundesre- haben sich die Reeder immer alles gut bezahlen lassen. gierung muss morgen früh noch die Vorratsdatenspeiche- Da sind sie wieder, die Pfeffersäcke. Während der Kla- bautermann deutlich hörbar gewirkt hat, geht es bei den rung durchsetzen, sodass wir heute weniger Zeit haben, Pfeffersäcken sehr ruhig zu. Das Ergebnis: Sie werden uns mit dieser entscheidenden Frage der maritimen Wirt- subventioniert, indem sie für ihre Mannschaften nur schaft auseinanderzusetzen. 40 Prozent Lohnsteuer zahlen müssen, während andere Ich will mich deshalb auch auf nur einen oder zwei Arbeitgeber für ihre Beschäftigten 100 Prozent Lohn- wesentliche Punkte konzentrieren, die uns als Linke steuer zahlen müssen. Die Reeder wollen aber noch mehr wichtig sind, wenn wir hier über das Thema „Maritime gefördert werden. Jetzt sollen 40 Prozent Lohnsteuer- Wirtschaft“ verhandeln. einbehalt nicht mehr ausreichen; man will 100 Prozent Lohnsteuereinbehalt. Damit sollen Wettbewerbsnachtei- In der Handelsschifffahrt haben wir es mit Begriffen le ausgeglichen werden, so wird argumentiert, die sie an- wie „Klabautermann“ und „Pfeffersäcke“ zu tun gehabt. geblich gegenüber anderen Flaggenstaaten haben. Die Klabautermänner sind inzwischen verschwunden, seitdem die Schiffe nicht mehr aus Holz sind. Aber die Wenn wir uns das einmal genauer ansehen, merken Pfeffersäcke sind noch da. Das spiegelt sich sowohl in wir, dass da mit falschen Zahlen operiert wird. So wird Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 12633

Herbert Behrens (A) behauptet, in den Niederlanden gebe es schon heute ei- Die Bedingungen in der deutschen Schifffahrt, auch (C) nen 100-prozentigen Lohnsteuereinbehalt. Das ist falsch. was die Arbeitnehmer angeht, sind vorbildlich. Wir sind Er liegt dort bei 40 Prozent für Beschäftigte auf Schif- aber längst nicht mehr die einzigen, die vorbildliche fen unter niederländischer Flagge und bei 10 Prozent Bedingungen schaffen. Es gibt – das müsste Ihnen be- für Beschäftigte auf Schiffen, die unter der Flagge eines kannt sein – international entsprechende Listen der Ge- europäischen Staates fahren. Richtig ist, dass in Italien, werkschaften. Schiffe, die nicht positiv auf diesen Listen Belgien, Malta und Portugal der 100-prozentige Lohn- vermerkt sind, werden in den Häfen auch gerne einmal steuereinbehalt gilt. Aber selbst die marktbeherrschen- abgewiesen. Unsere europäischen Mitbewerberstaaten – den griechischen Reeder haben keinen 100-prozentigen es geht nicht um irgendwelche Südseeinseln – halten die Lohnsteuereinbehalt. Sie zahlen 85 Prozent Lohnsteu- Bedingungen ebenfalls alle ein. Sie machen aber noch er für die Kapitäne und 90 Prozent Lohnsteuer für die etwas anderes, nämlich ein gutes Angebot. Wir wollen Mannschaften. Es wird also deutlich: Hier wird auf die nichts anderes, als die Möglichkeiten, die das EU-Bei- Politik der Bundesregierung massiv Einfluss genommen hilferecht bietet, ausnutzen. Man muss sie voll und ganz und versucht, sich weitere Vorteile zu verschaffen und ausnutzen; denn sonst hat man keinen Vorteil. eine neue Runde im Subventionswettlauf auf dem Markt Wir wollen natürlich unsere Bundeskanzlerin nicht zu beginnen. Hier muss dringend eine Änderung erfol- mit leeren Händen zur Maritimen Konferenz schicken. gen. Ansonsten haben wir eine subventionierte Schiff- Daher haben die Koalitionsfraktionen diesen Antrag er- fahrtsbranche, die auch noch versucht, andere vom euro- arbeitet. Ich bin dem Kollegen Saathoff und seiner Küs- päischen Markt zu verdrängen. Das darf nicht sein. tengang sehr dankbar für die gute Zusammenarbeit. Man (Beifall bei der LINKEN) muss auch feststellen: Ohne uns gäbe es keine Verlän- gerung von ISETEC. Ohne uns gäbe es auch keine Wei- terentwicklung von maritimer Technologie der nächsten Vizepräsident Johannes Singhammer: Generation. Mit uns gibt es eine Aufstockung des Inno- Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Rüdiger vationsprogramms, und zwar ohne dass die Länder mit- Kruse. ziehen müssen, sondern dadurch, dass der Bund seinen (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Anteil verdoppelt. Das heißt, wir haben 50 Prozent mehr Bernd Westphal [SPD]) im Spiel und können wesentlich mehr fördern. Die Län- der bekommen für jeden Förder-Euro, den sie einsetzen, 2 Euro vom Bund dazu. Besser geht es nicht, liebe Län- Rüdiger Kruse (CDU/CSU): der. Jetzt nutzt auch die Chance! Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- (B) ren! Will Deutschland führende Schifffahrtsnation blei- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- (D) ben? Diese Frage steht seit längerem im Raum. Wenn ordneten der SPD) Fragen längere Zeit unbeantwortet im Raum stehen, dann Wir haben uns auch mit Umweltfragen beschäftigt, werden sie durch Zeitablauf beantwortet, und zwar in der und irgendwie haben wir schon vor Wochen gewusst, Regel mit Nein. Man muss also schon etwas tun. Die ein- dass man den Schiffsdiesel nur schwer – wahrscheinlich gangs gestellte Frage darf aber nicht erst auf der Mariti- nur mit Software – sauber bekommt. men Konferenz diskutiert werden. Vielmehr müssen wir (Heiterkeit bei Abgeordneten des BÜNDNIS- mit einer Antwort in die Maritime Konferenz gehen – mit SES 90/DIE GRÜNEN) dem klaren Willen, Schifffahrtsnation zu bleiben. Deswegen haben wir gesagt: Wir wollen ein anderes Das ist keine Frage von Seefahrtsromantik. Man kann Antriebssystem fördern. Mit diesem Beschluss machen Geschichten über Klabautermänner erzählen, etwa in wir den Weg frei für ein LNG-Förderprogramm. Das einem Museumshafen in Hamburg, Rostock oder sonst heißt, dass wir neue Schiffsantriebe mit gasbetriebener wo. Man kann nette Bücher vorlesen, zum Beispiel wenn Technologie bekommen werden. Das ist eine Technolo- Vorlesetag ist. Das hat aber nichts mit einer Schifffahrts- gie, die weltweit nachgefragt werden wird. Schon jetzt nation zu tun. verlangen die Häfen an der amerikanischen Küste von (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) ihren Liniendiensten, dass sie in ihrer Flotte jedes Jahr die Umweltwerte verbessern. Mit dieser Technologie, die Wenn man Exportnation sein will – wir haben vorhin dann führend aus Deutschland käme, sichern wir unseren über unsere Automobilindustrie gesprochen; das ist eine Export und tun gleichzeitig etwas Gutes für Klima- und Exportindustrie –, dann muss man auch Logistiknation Umweltschutz. sein. Es gibt keinen Export ohne Logistik, und es gibt keine Logistik ohne Schifffahrt. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ordneten der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ordneten der SPD) Erstmalig werden wir uns auf der Maritimen Konfe- renz auch einem Thema widmen, dem wir vielleicht in Man könnte sich zwar damit trösten, dass andere Länder der Kantine begegnen, ohne es zu wissen. Es wird auch auch schöne Schiffe haben; aber es ist ein deutlicher Un- in Deutschland sehr viel Fisch aus illegaler Fischerei an- terschied, ob man die Organisation der Logistik selber in gelandet, die eine Hälfte wahrscheinlich auf dem Frank- der Hand hat und mitentscheidet, wo und unter welchen furter Flughafen und der Rest verteilt auf Bremerhaven Bedingungen die Handelsströme verlaufen, oder nicht. und Hamburg. Das muss man zurückweisen, und zwar 12634 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015

Rüdiger Kruse (A) nicht nur, weil das illegal ist, sondern auch weil dadurch keit nicht an Veränderungen; denn damit sind gewisse (C) unsere mühsam ausgehandelten Ziele, was die Fisch- Risiken verbunden. fangquoten angeht, zerstört werden und weil die illegale (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Fischerei für die Besatzungsmitglieder unter unmensch- lichsten Bedingungen erfolgt. Damit sind Menschenhan- Bequem, werte Kolleginnen und Kollegen, ist vor al- del und Kriminalität mit nach allgemeiner Schätzung bis lem der Maritime Koordinator, Herr Beckmeyer. Er soll zu 15 Milliarden Euro Umsatz verbunden. Wir wollen die maritime Politik dieser Bundesregierung koordinie- der Bundesregierung Möglichkeiten an die Hand geben, ren. Doch wo ist er? Heute ist er mal da. das zu überwachen und Transporte, die nicht entspre- (Dagmar Ziegler [SPD]: Er ist immer da!) chend zertifiziert sind, zurückzuweisen. So kann man Globalisierung im positiven Sinne für den Umweltschutz Gestern aber, im Verkehrsausschuss, wo es um das betreiben, und das machen wir auf dieser Konferenz. Thema „Lotswesen“ ging, war er trotz ausdrücklicher Einladung nicht anwesend. Man kann nur festhalten: (Beifall bei der CDU/CSU) Ihn interessieren die wirklichen Probleme der maritimen Die Kollegen von den Grünen haben den Vorschlag Wirtschaft nicht. gemacht, das Amt des Maritimen Koordinators beim (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Verkehrsministerium anzusiedeln und es aufzuwerten. Dagmar Ziegler [SPD]: Er war im Wirtschafts- Die Ansiedlung beim Verkehrsministerium werte ich als ausschuss!) Kompliment, weil das ein von uns geführtes Haus ist. Er will nicht mit dem Parlament zusammen Lösungen (Beifall bei der CDU/CSU) erarbeiten. Wir müssen feststellen: Der Maritime Koor- Was die Aufwertung des Amtes angeht, ist festzustellen: dinator versagt. In Wirklichkeit hat er ja auch nichts zu Mit dem Antrag, den wir heute beschließen, werten wir koordinieren. Im Wirtschaftsministerium, wo sein Amt den Maritimen Koordinator extrem auf; denn es gibt jetzt angesiedelt ist, gibt es in Sachen Maritimes nichts zu verdammt viel zu koordinieren. Dabei werden wir ihn entscheiden. Die Schifffahrtsthemen nehmen ihm täglich massiv unterstützen. das Verkehrsministerium oder andere Ressorts ab. Das Maritime Bündnis zwischen Reedern, Gewerkschaft, Herzlichen Dank. Küstenländern und dem Bund sowie die Verkehrswege- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- planung und die Anbindung der Seehäfen darf er nicht ordneten der SPD) koordinieren. Auch hier hat der Maritime Koordinator keinen Einfluss. Er beschäftigt sich noch nicht einmal am Rande damit. (B) Vizepräsident Johannes Singhammer: (D) Die Kollegin Dr. Valerie Wilms spricht jetzt für Bünd- Aber eines, Herr Beckmeyer, haben Sie in den zwei nis 90/Die Grünen. Jahren Ihrer Amtszeit wirklich geschafft. Sie haben die Maritime Konferenz zu sich nach Hause geholt, nach Bremerhaven. Wird das die Veranstaltung zur Verab- Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): schiedung in Ihren wohlverdienten Ruhestand? Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Die Politik für die maritime Wirtschaft tritt (Widerspruch bei Abgeordneten der SPD) seit Beginn der Schifffahrtskrise auf der Stelle, obwohl Werte Kolleginnen und Kollegen, maritime Politik Sie hier eben wieder blumige Reden gehört haben, dass wird vor allem im Verkehrsministerium gemacht. Des- es angeblich anders wird. Neue Ideen liefert diese Große halb gehört der Maritime Koordinator dahin, und zwar Koalition nun wirklich nicht. Es wird immer nur an ein jetzt und sofort. paar kleinen Schräubchen gedreht. Mit diesem Herum- doktern kommen wir nicht weiter. Sie müssten jetzt wirk- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) lich einmal einen großen Wurf wagen. Liebe Großkoalitionäre, für Ihren Antrag haben Sie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ja sehr lange gebraucht. Darum hatte ich doch eine ge- sowie des Abg. Ralph Lenkert [DIE LINKE]) wisse Hoffnung, dass Sie wirklich zu neuen, zündenden Ideen kommen. Aber jetzt kam die Ernüchterung: 13 eng Ansonsten geht die maritime Wirtschaft in Deutschland – beschriebene Seiten ohne irgendetwas Neues. Das reicht um im Bild zu bleiben – wirklich unter. nicht, liebe Kolleginnen und Kollegen aus den Küsten- Wir geben jedes Jahr mindestens 60 Millionen Euro gangs der Großkoalition. Fassen Sie doch zumindest ein in die Schifffahrtsförderung, ohne dass die Branche ihre einziges Thema ernsthaft an und führen es dann auch zu Zusagen einhält. Die Zahl der Schiffe unter deutscher Ende! Flagge geht kontinuierlich zurück. Jetzt sind es schon Dass Sie wirklich nichts zu Ende führen, sieht man deutlich unter 200 anstelle der von den Reedern ur- an der Schifffahrtsförderung ganz deutlich. Auch wenn sprünglich zugesagten 600 Schiffe. Scheinbar will sich Sie den Lohnsteuereinbehalt nach dem Vorschlag Ham- die Bundesregierung immer weiter das Geld aus der Ta- burgs auf 100 Prozent erhöhen, lösen Sie die Probleme sche ziehen lassen. Das ist GroKo-Politik. Wann wird es nicht. Damit erhöhen Sie nur den Bürokratieaufwand. endlich neue Ideen im sogenannten Maritimen Bündnis Mit den etwa 60 Millionen Euro jährlich fördern wir je- geben? Hier regiert seit Jahren großer Stillstand. Ich den Mitarbeiter an Bord eines deutschen Seeschiffes mit sage: Die Bundesregierung wagt sich aus Bequemlich- etwa 1 300 Euro pro Monat. Die Zahl deutscher Seeleute Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 12635

Dr. Valerie Wilms (A) nimmt trotzdem stetig ab. Derzeit sind weniger als 5 000 Beckmeyer in das Verkehrsministerium wechselt, dann (C) deutsche Seeleute auf Schiffen unter deutscher Flagge passiert dort auch einmal etwas. beschäftigt, und jeden Tag werden es weniger. (Heiterkeit und Beifall bei der SPD – Eckhardt Werfen wir einen Blick auf das komplizierte System Rehberg [CDU/CSU]: Das war völlig über- des Lohnsteuereinbehalts: Dabei zahlen die Reeder den flüssig!) Seeleuten erst einmal den Bruttolohn und ziehen die Lohnsteuer ein. Teile davon – irgendwann sollen nach Ih- Es geht um die Zukunft der nationalen maritimen ren Plänen 100 Prozent einbehalten werden – dürfen sie Wirtschaft und darum, sich ehrlich zu machen. Wollen aber selbst behalten, anstatt sie an das Finanzamt zu ge- wir noch deutsches Know-how in unseren Häfen und auf ben. Da wiehert der deutsche Amtsschimmel bei diesem unseren Schiffen? Brauchen wir noch die deutsche Flag- bürokratischen Aufwand. Aber das sind wir von dieser ge? Aus meiner Sicht ist es nicht egal, ob ein Toaster über Großen Koalition schon gewohnt. Rotterdam oder Hamburg nach Deutschland kommt. Wir reden über 400 000 Arbeitsplätze und über 30 Milliar- Warum sind Sie nicht offen für wirklich neue Ideen? den Euro Wertschöpfung pro Jahr, übrigens nicht nur in Mein Vorschlag ist, erstens den internationalen Heuerta- Norddeutschland, sondern in der gesamten Republik. rif für die Seeleute anstelle des höheren deutschen ein- Mir ist an dieser Stelle wichtig, darauf hinzuweisen – zuführen. Nur damit werden deutsche Seeleute wieder Uwe Beckmeyer hat das bereits getan –, dass Schiffsmo- international wettbewerbsfähig. toren vornehmlich in Süddeutschland produziert werden. (Eckhardt Rehberg [CDU/CSU]: Das ist ein 3 000 Handelsschiffe sind noch in deutschem Eigentum, Sechstel!) 350 – etwas mehr als 10 Prozent – unter deutscher Flag- ge. Daran müssen wir etwas ändern. Zweitens. Gleichzeitig gibt es – das gehört automatisch dazu – volle Lohnsteuerfreiheit, und der Staat bezahlt die In Vorbereitung dieses Antrags hat es eine sehr gute Sozialversicherung. Die Seeleute hätten dann netto das Zusammenarbeit gegeben, Herr Kruse. Ich möchte mich Gleiche in der Tasche wie bisher. Die deutsche Seeschiff- ganz herzlich für die konstruktive Zusammenarbeit bei fahrt würde wieder wettbewerbsfähig werden. So sichern Ihnen bedanken, genauso wie bei Birgit Malecha-Nissen, wir die Arbeitsplätze der deutschen Seeleute dauerhaft meiner Mitlotsin in der SPD-Küstengang, die von der und schaffen endlich wieder neue. Dann kommt wieder Verkehrsseite her zugearbeitet hat. Wir haben gut zusam- Schwung in das Maritime Bündnis. Gehen Sie diesen mengearbeitet. Ich glaube, das können wir öfter so ma- Weg! chen. Herzlichen Dank euch beiden! Herzlichen Dank. (Beifall bei der SPD) (B) (D) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das Sprichwort lautet „Schifffahrt tut not“ und nicht „Schifffahrt macht Not“. Im Moment trifft aber eher Vizepräsident Johannes Singhammer: Letzteres zu. Was beschreibt der Antrag im Einzelnen? Der Kollege Johann Saathoff spricht jetzt für die SPD. Er beschreibt die Erhöhung des Lohnsteuereinbehalts von 40 auf 100 Prozent. Mehr geht dann auch nicht mehr. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Dies ist bis 2025 befristet. Dann wird evaluiert. Die der CDU/CSU) 183-Tage-Regelung, die dafür sorgte, dass die Menschen kontinuierlich 183 Tage auf einem Schiff angestellt Johann Saathoff (SPD): sein mussten – das war in der Praxis kaum möglich –, Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten fällt weg. Mit diesen Regelungen schaffen wir Anreize, Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! wieder deutsche Seeleute auf Schiffen zu beschäftigen. Een groot Schkipp will vööl Water hebben. Da ich ge- Deutsche Flagge und deutsche Besatzung sind Vorausset- rade gebeten wurde, meinen plattdeutschen Ausspruch zung für den Ausbildungspakt „Bündnis für Ausbildung zu übersetzen: Ein großes Schiff braucht viel Wasser. – und Beschäftigung in der Seeschifffahrt“. Für diesen Im vorliegenden Antrag geht es um ein großes Schiff. Pakt zahlt der Bund 60 Millionen Euro, die Reederschaft Es geht nämlich schlicht um die Zukunft der nationalen 30 Millionen Euro. Das ist gut angelegtes Geld auf bei- maritimen Wirtschaft. Der Antrag erfolgt in Vorbereitung den Seiten; denn es geht um die dauerhafte Sicherung des der Maritimen Konferenz, die in der nächsten Woche in maritimen Know-hows in Deutschland. Bremerhaven stattfindet. Der Konferenz sind erstmalig Fachforen vorausgegangen. Ich habe bei einigen die- In unserem Antrag geht es des Weiteren um Innovati- ser Foren dabei sein können und muss sagen: In diesen onsförderung im Schiffbau. Wir heben den Bundesanteil Fachforen wurde hervorragende Arbeit geleistet. Diese von 50 auf 66 Prozent an. Wir hatten im Vorfeld Proble- Konferenzen haben sich weiterentwickelt. Das ist das me beim Kofinanzierungsanteil auf Landesebene. Verdienst unseres Staatssekretärs Uwe Beckmeyer. Da- (Eckhardt Rehberg [CDU/CSU]: Besonders für herzlichen Dank! in Niedersachsen!) (Beifall bei der SPD) Es ist jedenfalls richtig, diesen Anteil anzuheben. Der Wenn der eine oder andere an dieser Stelle meint, dass Ansatz des Bundes soll von 15 Millionen auf 20 Milli- der Maritime Koordinator in das Verkehrsministerium onen Euro angehoben werden. Ich hoffe, dass wir das in gehört, dann greife ich diesen Ball gerne auf. Wenn Uwe den Haushaltsberatungen gemeinsam hinbekommen. 12636 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015

Johann Saathoff (A) Wichtig ist, dass die Innovationen im Schiffbau von time Wirtschaft wird eines sehr deutlich: Die Linke und (C) Deutschland ausgehen. Aber wir müssen auch aufpas- die Grünen wollen alles schlechtreden. sen, dass es uns im Schiffbau nicht so geht wie beim (Zurufe von der LINKEN und dem BÜND- MP3-Player, bei dem die Innovation erst einmal in NIS 90/DIE GRÜNEN: Oh!) Deutschland ermöglicht wurde, die Produktion und das Geldverdienen jedoch woanders stattfanden. Sie wollen nicht, dass wir uns in Deutschland weiterent- wickeln, sondern reden alles schlecht, während wir Kurs Lassen Sie mich noch einige Worte zum Thema halten und sagen: Wir setzen auf die Innovationen von Offshore sagen. Ich denke, man kann konstatieren, dass Industrie und Wirtschaft und unterstützen sie als Große das eine Erfolgsgeschichte der Koalition ist. Ein Wind- Koalition. Wir wollen, dass Deutschland auf den Welt- park nach dem anderen wird derzeit eingeweiht und meeren nicht den Anschluss verliert. Wir wollen, dass macht Deutschland Stück für Stück umweltfreundlicher. Deutschland als maritimer Standort Spitzenklasse bleibt. Kaum einer hier im Haus hat das für möglich gehalten. (Beifall bei der CDU/CSU) Aber wir müssen auch dafür sorgen, dass Rechtssicher- heit und Planungssicherheit für die Investoren geschaffen Die erfolgreichen Bemühungen der vergangenen Jahre werden. In diesem Zusammenhang müssen wir beson- führen wir daher konsequent fort. Zugleich setzen wir ders auf die Gestaltung der Ausschreibungen achten. neue Impulse, etwa beim Maritimen Bündnis, bei der Frage des Lohnsteuereinbehalts, beim Umweltschutz Wir brauchen auch eine bedarfsgerechte Netzanbin- und bei der Meerestechnologie. dung. Ich gebe zu: Persönlich hätte ich mir da mehr Fort- schrittlichkeit in unseren Forderungen gewünscht. Das Ich nehme einen Punkt heraus, nämlich LNG. Ver- Problem „800 Megawatt von Nord- und Ostsee zusam- flüssigtes Erdgas ist ein Treibstoff mit großer Zukunft. men“ besteht weiterhin. Ein Netzanschlusspunkt sind Diesen Trend wollen und werden wir nicht verschlafen. Deshalb fordern wir ein Förderprogramm für LNG-be- 450 Megawatt; 900 Megawatt wäre also die logische triebene Schiffe, den Ausbau der entsprechenden Infra- Lösung des Problems auf dem Meer. Aber die Projekte, struktur inklusive eines LNG-Terminals und die Opti- die ab 2020 realisiert werden, sind jetzt in der Phase der mierung des Rechtsrahmens für LNG. Projektierung. Deswegen müssen wir uns Gedanken da- rüber machen, dass die Lücke zwischen 2020 und 2025 Ein Thema, das sämtliche Vertreter der maritimen gar nicht erst entsteht und dass wir die Planungs- und Wirtschaft eint, ist die Infrastrukturpolitik. Gerade bei Investitionssicherheit gewährleisten. den Hinterlandanbindungen der Seehäfen mit Bahn, Straße und Binnenwasserstraße steht unserem Land noch (B) (D) Wir haben zum Thema LNG eine ganze Menge Rege- viel Arbeit bevor. Daher räumen wir der Engpassbesei- lungen gefunden. Aber wir sollten in dieser Frage auch tigung rund um die deutschen Seehäfen Priorität ein. bei eigenen Schiffen mit gutem Beispiel vorangehen. Die deutliche Steigerung der Infrastrukturausgaben wird (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten hier besondere Wirkung entfalten. Ich erinnere an den der CDU/CSU) Nord-Ostsee-Kanal, für den wir fast 1 Milliarde Euro ausgeben. Herr Saathoff, an der Stelle braucht das Ver- Wir haben die Weiterentwicklung des nationalen Ha- kehrsministerium keine Unterstützung. Wir leisten dort fenkonzeptes in unserem Antrag behandelt. Sorgen wir hervorragende Arbeit und sind auf einem tollen Weg. also gemeinsam dafür, dass unser großes Schiff „Deut- (Beifall bei der CDU/CSU) sche maritime Wirtschaft“ immer mindestens eine Hand- breit Wasser unter dem hat. Leider – das muss man in dieser Debatte sagen – zie- hen wir in dieser Frage nicht an einem Strang. Gestern Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. haben Grüne und Linke im Verkehrsausschuss gemein- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten sam gegen die Vertiefung von und Weser gestimmt. der CDU/CSU) (Zuruf von der LINKEN: Sehr gut!) Das sei nicht erforderlich, sagen sie, weil der Verkehr zu- Vizepräsident Johannes Singhammer: künftig über Wilhelmshaven abgewickelt werden könnte. Als Nächstes spricht der Kollege Hans-Werner Kammer, CDU/CSU. (Herbert Behrens [DIE LINKE]: Für die gro- ßen Pötte, ja!) (Beifall bei der CDU/CSU) Ich kenne Wilhelmshaven etwas besser als die meisten in diesem Saal, und ich kann Ihnen sagen: Der JadeWeser- Hans-Werner Kammer (CDU/CSU): Port kann sehr viel; aber er kann nicht Bremerhaven und Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Hamburg ersetzen. Auch das müsste klar sein. Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Auch wir hätten uns für diese maritime Debatte etwas mehr Zeit (Beifall bei der CDU/CSU) gewünscht. Aber unser Antrag zeigt, dass wir Kurs halten Von einer unzureichenden Anbindung Hamburgs und und auch Fahrt aufnehmen. Im Zusammenhang mit der Bremerhavens würden vor allem niederländische Häfen Debatte über die Autoindustrie und jetzt über die mari- profitieren. Das hätte fatale Konsequenzen für die mari- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 12637

Hans-Werner Kammer (A) time Wirtschaft in Deutschland. Sie müssen sich fragen, Es ist 143 Meter lang, 25 Meter breit und hat 100 Meter (C) ob Sie das wollen. hohe Karbonmasten. Es soll einmal besondere Segelgäste (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) aufnehmen. Auch dieses Schiff wurde auf einer Werft in Kiel gebaut. Wir haben einen Hafen, in dem viele Kreuz- Gleiches gilt übrigens für die Blockadehaltung der fahrer anlegen. Wir haben zahlreiche mittelständische niedersächsischen Grünen, die dem Infrastrukturausbau Unternehmen im technischen Bereich, von Sonartechnik im Hafenhinterland regelmäßig im Weg stehen. Nieder- bis Signaltechnik für Schiffe. Wir haben ein Gleisnetz, sachsen ist ein Schlüsselland für die Durchleitung der das an den Hafen angeschlossen ist, und wir haben mit Verkehre. Solch ein ideologisch begründeter Stillstand GEOMAR ein Forschungsinstitut, das Meeres- und Kli- schadet der Branche; denn in der Schifffahrt gilt: Wer maforschung betreibt und auch im Tiefseebergbau eini- den Motor stoppt, wird abgetrieben. Gut, dass die Verant- ges macht. Das soll nur einmal zeigen, wie umfangreich wortung in diesem Bereich beim Bund, also in unseren der maritime Bereich ist. Händen, liegt. Das gilt nicht nur für den Standort Kiel; das Gleiche Frau Wilms, zu Ihrem Antrag, das Amt des Maritimen könnte man über Lübeck, Rostock, Bremen und Bremer- Koordinators vom Wirtschaftsministerium ins Verkehrs- haven sagen. Es gibt bei uns zahlreiche maritime Zent- ministerium zu verlagern, hat der Kollege Kruse schon ren, nicht nur im Norden, sondern auch im Süden, etwa etwas gesagt. Ich freue mich, dass Sie ein solch großes in Friedrichshafen oder in Nürnberg. Dort gibt es genau- Vertrauen in das Bundesverkehrsministerium, den Mi- so viele Kapazitäten, genauso viel Know-how und Wert- nister und seine Staatssekretäre setzen. Das ist absolut schöpfung. Man kann also sagen, dass es sich nicht um gerechtfertigt. Dieses Vertrauen habe ich in manchen eine norddeutsche, sondern um eine nationale Aufgabe Debatten bei Ihnen bisher nicht feststellen können; aber handelt, so gerne ich Norddeutschland auch hier vertrete. man lernt ja dazu. Ich finde das klasse. Deshalb würde ich mich sehr freuen, wenn sich vielleicht (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) auch der eine oder andere Süddeutsche in diese Debatte Es ist aber zu bezweifeln, dass diese Maßnahme der einbringen würde. maritimen Wirtschaft wirklich hilft. Sie zählen in Ihrem Wir haben noch eine ganze Menge zu tun; denn es gibt Antrag zahlreiche maritime Themen auf, die im Ver- hier ein Wahrnehmungsdefizit. Deshalb, Herr Beckmeyer, kehrsministerium federführend bearbeitet werden. Fast würde ich Sie bitten, ein bisschen mehr Dynamik in die alle Ministerien arbeiten dem Maritimen Koordinator maritime Wirtschaft zu bringen. Jedem Euro für die ma- zu, sei es im Bereich der Offshorewindkraft, sei es beim ritime Wirtschaft entsprechen 16 Euro für die Luft- und Lohnsteuereinbehalt. Nahezu jedes Bundesministerium Raumfahrt; das Verhältnis ist noch nicht ausgegoren. In- (B) (D) befasst sich regelmäßig mit maritimen Fragen. Folglich sofern müssen wir, denke ich, da noch angreifen, noch braucht es einen Koordinator, der die Arbeit der Minis- mehr für die maritime Wirtschaft arbeiten. terien zusammenführt. Die Frage, wo sein Schreibtisch steht, ist nicht entscheidend. Die maritime Branche hat (Beifall bei der CDU/CSU) drängendere Probleme. Daher lehnen wir Ihren kleinka- Warum müssen wir das tun? Die maritime Wirtschaft rierten – so bezeichne ich ihn – Antrag ab. befindet sich in einem der globalsten Wettbewerbe, den Es ist der Antrag der Koalition, der die maritime Wirt- die deutsche Wirtschaft zu bestehen hat. Die Wettbewer- schaft voranbringen wird. In der nächsten Woche wird ber kommen aus Korea, aus China, aus Japan und natür- von der Maritimen Konferenz ein deutliches Zeichen für lich auch aus Europa. Wir sind in einem Wettbewerb um den maritimen Standort Deutschland ausgehen. Da bin Subventionen; auch das muss man sagen. ich absolut sicher. Lieber Herr Behrens, den Lohnsteuereinbehalt ma- Herzlichen Dank. chen wir ja nicht, weil wir es lieben, uns solchen Themen anzunähern – das kann ich gerade für die CDU sagen –, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und aber wenn Sie mit Ihren Verdi-Kollegen sprechen, dann der SPD) werden Sie feststellen, dass gerade die das fordern.

Vizepräsident Johannes Singhammer: (Herbert Behrens [DIE LINKE]: In der Tat!) Abschließender Redner in dieser Aussprache ist der Wir machen das auch deswegen, um unseren Seeleuten, Kollege Dr. Philipp Murmann für die CDU/CSU. für die Sie ja gesprochen haben, im Kostenwettbewerb (Beifall bei der CDU/CSU) die Chance zu geben, ihr Patent ausfahren zu können; das können sie sonst nämlich nicht. Nur deswegen haben wir uns auf diese Sache eingelassen. Dr. Philipp Murmann (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- (Herbert Behrens [DIE LINKE]: Gucken wir ren! Als geborener Kieler möchte ich darauf hinweisen, uns die Zahlen nächstes Jahr noch mal an, was was für ein Netzwerk die maritime Wirtschaft eigentlich ihr gemacht habt!) bedeutet. In Kiel werden U-Boote mit Brennstoffzellen- Ich denke, das ist eine gute Lösung. Es ist wichtig, dass technik gebaut; das ist einmalig in der Welt. Vor zwei wir das so hinbekommen haben. Wochen ging die „Sailing Yacht A“ in die erste Testpha- se; das ist das größte Segelschiff, das neu gebaut wird. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) 12638 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015

Dr. Philipp Murmann (A) Aus meiner Sicht müssen wir vier Dinge tun: Wir Vizepräsident Johannes Singhammer: (C) müssen erstens dafür sorgen, dass es in vielen Bereichen Damit schließe ich die Aussprache, und wir kommen ein Level-Playing-Field gibt. Dafür ist noch mehr Ein- zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen von satz in der IMO notwendig. Gerade wir Europäer müs- CDU/CSU und SPD auf Drucksache 18/6328 mit dem sen uns zusammentun, um die Standards hochzuhalten, Titel „Die maritime Wirtschaft stärken und ihre Bedeu- müssen aber sicherlich auch noch gemeinsam mit Bund tung für Deutschland hervorheben“. Wer für diesen An- und Ländern arbeiten. Insofern bin ich den Mitgliedern trag stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. – Wer des Haushaltsausschusses sehr dankbar, die es jetzt in stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Antrag ist der zweiten Runde des Haushalts geschafft haben, eini- damit mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen ge Themen voranzubringen. Auch der Dank an das Ver- die Stimmen der Fraktion Die Linke und Bündnis 90/Die kehrsministerium, das ISETEC-Projekt wieder auf die Grünen angenommen. Schiene gehoben zu haben, sodass es uns nicht verloren Tagesordnungspunkt 25 b und 25 c. Interfraktionell geht. Da haben wir doch einiges geschafft. Vielen Dank wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen allen, die dazu beigetragen haben. 18/5764 sowie 18/6347 an die in der Tagesordnung auf- geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Ich sehe, dass Sie (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- damit einverstanden sind, weil es keinen Widerspruch ordneten der SPD) – Eckhardt Rehberg [CDU/ gibt. Dann sind diese Überweisungen so beschlossen. CSU]: Sonst wäre das tot!) Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 7 auf: Wir müssen zweitens das Fördern angehen. Der Lohn- steuereinbehalt ist ein Thema, ISETEC sicherlich ein an- – Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- deres. Auch LNG wurde angesprochen. Hier müssen wir regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zunächst staatlich fördern, weil wir erst einmal genügend zur Umsetzung der Verpflichtungen nach dem Masse hineinbringen müssen. Ich hoffe, dass wir dann zu Nagoya-Protokoll und zur Durchführung der einer wirtschaftlichen Lösung kommen, damit die Unter- Verordnung (EU) Nr. 511/2014 sowie zur Ände- nehmen, die da jetzt Geld hineinstecken, am Ende Erfolg rung des Patentgesetzes damit haben. Drucksache 18/5321 (Beifall bei der CDU/CSU) – Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes Drittens ist es ganz besonders wichtig, die Systemfä- zu dem Protokoll von Nagoya vom 29. Oktober higkeit in Deutschland zu erhalten. Das gilt nicht nur für 2010 über den Zugang zu genetischen Ressour- (B) den Marinebereich, aber auch da, im Überwasserschiff- cen und die ausgewogene und gerechte Auftei- (D) bau. Ein Schiff ist eben ein komplexes System. Es be- lung der sich aus ihrer Nutzung ergebenden steht aus Stahl, aber auch aus sehr viel Elektronik. Alles Vorteile zum Übereinkommen über die biologi- muss exakt aufeinander abgestimmt sein. Da müssen sche Vielfalt große Projekte gemanagt werden, um die Systemfähig- keit zu erhalten. Das müssen wir weiterhin vorantreiben Drucksache 18/5219 und uns dafür einsetzen. Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit Vierter und letzter Punkt – darüber wurde schon viel (16. Ausschuss) gesprochen –: Infrastruktur. Auch daran müssen wir weiterarbeiten. Beim Nord-Ostsee-Kanal sind wir ganz Drucksache 18/6384 gut vorangekommen, die Elbevertiefung steht noch aus. Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Um- Offshore ist ein wichtiges Thema; Sie haben es angespro- setzung der Verpflichtungen nach dem Nagoya-Protokoll chen. Die Netzanbindung und all diese Dinge müssen vo- liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/ rangetrieben werden. Wir haben es sehr begrüßt, dass das Die Grünen vor. Verkehrsministerium mit großer Priorität an dem Hafen- konzept arbeitet. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für diese Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei- Deutschland ist eine Schifffahrtsnation, meine Damen nen Widerspruch. Das ist somit beschlossen. und Herren. Wir wollen dafür sorgen, dass das auch so Deshalb eröffne ich die Aussprache und erteile als ers- bleibt. Meine Vorfahren waren Wikinger, nehme ich je- ter Rednerin der Parlamentarischen Staatssekretärin Rita denfalls an. Die hatten auch schon eine ganze Menge Ah- Schwarzelühr-Sutter das Wort für die Bundesregierung. nung vom Maritimen; denn sie wussten schon: Den Wind können wir nicht bestimmen, aber die Segel können wir (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) richtig setzen. – Mit unserem Antrag haben wir die Segel gut gesetzt, denke ich. Insofern bitte ich Sie, dem Antrag Rita Schwarzelühr-Sutter, Parl. Staatssekretärin bei zuzustimmen. der Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit: Vielen Dank. Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Kollegen! Biologische Vielfalt ist wertvoll. Das ist ein ordneten der SPD) Schatz. Die Natur ist nicht nur Grundlage für unsere Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 12639

Parl. Staatssekretärin Rita Schwarzelühr-Sutter (A) Existenz und alles menschliche Leben – sie ist auch eine den Naturschutz weltweit. Naturschutz wird zur wirt- (C) geradezu unerschöpfliche Quelle für neue Ideen und In- schaftlichen Alternative. novationen. Häufig sind Pflanzen, Tiere und andere Le- Die Umsetzung des Nagoya-Protokolls nimmt auch bewesen – als genetische Ressourcen – Grundlage für den Privatsektor in die Verantwortung. Wenn zum Bei- neue Produkte. So wird aus einer Heilpflanze ein neues spiel ein Wirtschaftsunternehmen Naturgüter nutzt, Pro- Medikament, ein neu entdecktes Enzym wird zum Aus- dukte daraus entwickelt und davon auch wirtschaftlich gangspunkt für ein biotechnologisches Verfahren, und profitiert, dann muss dieses Unternehmen auch zur Er- wilde Pflanzen werden zu neuen Pflanzensorten oder haltung dieser Naturgüter beitragen. Kosmetikprodukten entwickelt. Meine Damen und Herren, es ist wichtig, dass wir Diese Zusammenhänge hatte die internationale Staa- kommenden Generationen denselben Reichtum an biolo- tengemeinschaft vor Augen, als sie 1992 auf der Kon- gischer Vielfalt hinterlassen, den wir geerbt haben. Wer ferenz in Rio das Übereinkommen über die biologische die Natur erforscht und von ihr profitiert, der muss sie Vielfalt, die sogenannte CBD, beschloss. Die CBD hat auch schützen. So leistet das Nagoya-Protokoll einen drei Ziele: die Erhaltung der biologischen Vielfalt, die wertvollen Beitrag für die nachhaltige Entwicklung. Ich nachhaltige Nutzung ihrer Bestandteile und die ausge- denke, es ist ein gutes Zeichen, dass wir das Nagoya-Pro- wogene und gerechte Aufteilung der Vorteile aus der tokoll in diesem Jahr nach der Nachhaltigkeitskonferenz Nutzung von genetischen Ressourcen. Dieses dritte Ziel in New York ratifizieren können. der CBD erlaubt es biodiversitätsreichen Ländern, auch wirtschaftlich davon zu profitieren, dass sie biologische Ich möchte mich ganz herzlich auch für die gute Zu- Vielfalt schützen und bewahren. Hier wird das Phänomen sammenarbeit mit den Parlamentariern bedanken. der Biopiraterie bekämpft: Wer auch immer Forschung Vielen Dank. und Entwicklung an solchen genetischen Ressourcen be- treibt, hat dies mit dem Land zu vereinbaren, aus dem (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) die Ressource stammt. Vorteile aus der Nutzung werden geteilt. Vizepräsident Johannes Singhammer: (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Nächste Rednerin ist die Kollegin Birgit Menz für die NEN]: Das ist einfach falsch!) Fraktion Die Linke. Um das dritte Ziel der CBD umzusetzen, hat die inter- (Beifall bei der LINKEN) nationale Staatengemeinschaft 2010 in Japan, in Nagoya, das Nagoya-Protokoll beschlossen. Es konkretisiert Birgit Menz (DIE LINKE): (B) dieses Ziel des Übereinkommens und setzt klare inter- Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Abgeordne- (D) nationale Regeln für den Zugang zu genetischen Res- te! Liebe Gäste! Es war ein hartes Ringen, bis sich die sourcen, für ihre Nutzung und für den Vorteilsausgleich. 193 Vertragsstaaten der Biodiversitätskonvention auf die Das Nagoya-Protokoll ist auch ein Erfolg der deutschen Verabschiedung des Nagoya-Protokolls einigen konnten. CBD-Präsidentschaft von 2008 bis 2010. Denn auf der Auf Drängen der Entwicklungsländer wurde 2010 mit 9. Vertragsstaatenkonferenz der CBD 2008 in hat dem völkerrechtlich verbindlichen Protokoll das dritte Deutschland – unter dem damaligen Bundesumweltmi- große Ziel der Konvention – der faire Ausgleich von Vor- nister Sigmar Gabriel – den Grundstein für dieses völker- teilen, die durch die Nutzung und Kommerzialisierung rechtliche Verbot der Biopiraterie gelegt. genetischer Ressourcen und traditionellen Wissens er- 2014 hat die Europäische Union eine Verordnung langt werden – endlich umgesetzt. beschlossen, die das Nagoya-Protokoll umfassend und Lassen Sie mich eines klarstellen: Wir begrüßen ganz wirksam in europäisches Recht umsetzt. Die heute vorge- ausdrücklich die Ratifizierung des Nagoya-Protokolls. legten Gesetze sorgen – gemeinsam mit der europäischen Verordnung – dafür, dass Deutschland das Nagoya-Pro- (Beifall bei der LINKEN) tokoll umsetzt und ratifizieren kann. Der Biopiraterie Begründung: weil es einen entscheidenden Beitrag zum wird somit wirksam ein Riegel vorgeschoben. Das Bun- Schutz der Artenvielfalt und zu mehr Gerechtigkeit leis- desamt für Naturschutz wird zukünftig kontrollieren, ob tet. sich Nutzer von genetischen Ressourcen an die Gesetze von Herkunftsländern halten. Gerade weil uns die Wirksamkeit des Protokolls am Herzen liegt, ist uns der vorliegende Gesetzentwurf Mit dieser Umsetzung des Nagoya-Protokolls erweist zu dessen nationaler Umsetzung nicht gut genug. Wir sich Deutschland erneut als zuverlässiger Partner und lehnen ihn deshalb in der bestehenden Form ab. Der treibende Kraft in der internationalen Naturschutzpolitik. deutsche Gesetzentwurf schafft weder für die Grund- Diese Umsetzung ist gerade für die Entwicklungsländer lagenforschung noch für die Wirtschaft ausreichende von großer Bedeutung. Das Abholzen von wertvollen Rechtssicherheit. Das ist ein großes Problem. Tropenwäldern und die Ausbeutung von anderen Ökosys- Wenn der Gesetzentwurf Forschung und Innovation temen erscheinen dort häufig kurzfristig verlockend und nicht hemmen soll, muss vor allem die nichtkommerzi- profitabel, zerstören aber langfristig unsere gemeinsame elle Grundlagenforschung mit Informations- und Bera- Lebensgrundlage. Hier hilft das Nagoya-Protokoll; denn tungsangeboten unterstützt werden. es trägt dazu bei, biologische Vielfalt in Wert zu setzen, und bietet so einen starken wirtschaftlichen Anreiz für (Beifall bei der LINKEN) 12640 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015

Birgit Menz (A) Das Bundesamt für Naturschutz als zuständige Behörde Vertrauen von Entwicklungs- und Schwellenländern in (C) sagt schon jetzt, dass mit den vorhandenen Stellen we- die Verlässlichkeit der Industriestaaten zu beschädigen; der eine solche Beratung noch – viel schlimmer; ich zi- denn die Verlässlichkeit, so legt es der Entwurf nahe, tiere – „ein völker- und europarechtskonformer Vollzug könnte sehr schnell dort enden, wo der Profit beginnt. von Nagoya-Protokoll und europäischer Verordnung“ Das wäre ein falsches Zeichen. gewährleistet werden kann. Das darf nicht sein. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) Das können wir nicht unterstützen. Wir brauchen ein Die Linke fordert deshalb, die notwendigen Planstellen Gesetz, dass das Nagoya-Protokoll im Sinne des Schut- zu schaffen, und hat einen entsprechenden Antrag für die zes unserer Umwelt und im Sinne der Gerechtigkeit best- Haushaltsdebatte verfasst. möglich umsetzt. Was Sie uns hier anbieten, ist schlicht- (Beifall bei der LINKEN) weg nicht gut genug. Auch die geforderten Offenlegungspflichten gehen Vielen Dank. nicht weit genug, um dem Patentamt eine wirkungsvol- (Beifall bei der LINKEN) le Kontrolle zu ermöglichen. Hier muss dringend nach- gebessert werden: Statt „Angaben zum geographischen Vizepräsident Johannes Singhammer: Herkunftsort“ muss ein Nachweis über den legalen Zu- gang zu den genetischen Ressourcen verlangt werden. Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Dr. Klaus- Fehlende Angaben würden zur Konsequenz haben, dass Peter Schulze. ein Patentgesuch nicht weiter verfolgt wird. Außerdem (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- muss auch hier neben den genetischen Ressourcen tradi- ordneten der SPD) tionelles Wissen explizit einbezogen werden. Das gravierendste Problem aber ist, dass der Gesetz- Dr. Klaus-Peter Schulze (CDU/CSU): entwurf Unklarheiten gerade da schafft, wo Klarheiten Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her- unbedingt erforderlich sind, nämlich bei der kommerzi- ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Ratifizierung ellen Nutzung. Es stimmt: Die Definition von „Nutzung“ und Umsetzung des Protokolls von Nagoya ist auf den und „Nutzer“, die die EU-Verordnung zugrunde legt, ist ersten Blick nur etwas für den am Artenschutz interes- hier wenig hilfreich. Die Bundesregierung hätte aber sierten Feinschmecker, aber bei näherem Hinsehen wird durchaus genug Spielraum gehabt, hier eine Verbesse- die weitreichende naturschutz- und entwicklungspoliti- rung vorzunehmen. Spanien macht uns das vor. Der spa- sche Bedeutung dieses Themas deutlich. Die vorliegen- (B) nische Gesetzentwurf sieht vor, dass bei Missachtung der den Gesetzentwürfe zur Ratifizierung und zur Umset- (D) Sorgfaltspflichten die sofortige Aussetzung nicht nur der zung des Protokolls in Deutschland sind der erfolgreiche Nutzung genetischer Ressourcen, sondern explizit auch Abschluss eines Jahrzehnte währenden Diskussions- und der Kommerzialisierung verfügt werden kann. Mit die- Verhandlungsprozesses. Daher ist die heutige Verab- sen Vorschriften kann also direkt in die illegale Vermark- schiedung beider Gesetzentwürfe ein historischer Mo- tung eingegriffen werden. ment und unterstreicht Deutschlands führende Rolle in Um es klar zu sagen: Der deutsche Gesetzentwurf der internationalen Naturschutzpolitik. verhindert nicht, dass deutsche Patente vergeben werden Das Protokoll – darauf hat die Staatssekretärin schon können, die auf illegalem Zugang oder der unrechtmäßi- hingewiesen – ist im Wesentlichen während der deut- gen Nutzung von genetischen Ressourcen und damit ver- schen Präsidentschaft zwischen 2008 und 2010 feder- bundenem traditionellem Wissen beruhen. Er verhindert führend bearbeitet, unter der Mitwirkung vieler einzelner ebenso wenig die Vermarktung von Produkten, die aus Mitgliedstaaten vorbereitet und entsprechend unterzeich- illegaler Forschung und Entwicklung entstehen. Einer net worden. der Sachverständigen hat dies als „im entwicklungspoli- tischen Kontext nur schwer vermittelbar“ bezeichnet. Ich Worum geht es beim Protokoll von Nagoya? Es re- bezeichne das als ungerecht und unverantwortlich. gelt den Zugang zu den genetischen Ressourcen und die ausgewogene und gerechte Aufteilung der Vorteile, die (Beifall bei der LINKEN) sich aus ihrer Nutzung ergeben. Es setzt das dritte Ziel Vor nicht einmal drei Wochen hat die Welt sich in der CBD um, schafft einen verlässlichen internationalen New York auf eine umfassende Armuts-, Entwicklungs- Rahmen für den Umgang mit genetischen Ressourcen und Umweltagenda geeinigt. Ein zentraler Erfolg dieser und einen ökonomischen Anreiz für die Erhaltung der Agenda war, dass sie für alle gilt und dass alle dazu auf- biologischen Vielfalt. Es ist ein Instrument zur Verhinde- gefordert werden, zu handeln. Dieses neue gemeinsame rung der Biopiraterie, gibt den Entwicklungs- wie auch Handeln soll von einem neuen Miteinander begleitet den Nutzerländern einen verlässlichen Rahmen bei der werden, der globalen Partnerschaft. Dabei geht es nicht Nutzung genetischer Ressourcen. Es trägt dazu bei, den darum, mehr Verantwortung auf die Entwicklungsländer Wert biologischer Vielfalt bei der Herstellung neuartiger abzuschieben, sondern es geht um Gerechtigkeit und ge- Produkte besser zu berücksichtigen und setzt wirtschaft- genseitiges Vertrauen. Was hat das nun mit der heutigen liche Anreize für die Bewahrung und nachhaltige Nut- Abstimmung zu tun? Nicht einmal drei Wochen nach der zung der Natur. Länder mit hoher biologischer Vielfalt Unterzeichnung dieser Agenda soll der Deutsche Bun- sollen auch wirtschaftlich davon profitieren, dass sie destag ein Gesetz verabschieden, das geeignet ist, das Lebensräume und Arten schützen und erhalten. Es soll Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 12641

Dr. Klaus-Peter Schulze (A) gewährleistet sein, dass Forscher die Gesetze der Her- zu erwartende Nutzer beraten und informieren, insbe- (C) kunftsländer respektieren und für ihre Forschung nur sondere aus der Pharmazie, der Kosmetikindustrie, der biologisches Material nutzen, das im Herkunftsland legal Biotechnologie, Pflanzenzucht und Gartenbau und na- erlangt wurde. Durch die In-Wert-Setzung genetischer türlich aus dem Bereich der nichtkommerziellen Grund- Ressourcen wird ein starker Anreiz für den Natur- und lagenforschung. Auch die Überprüfung der erwarteten Artenschutz weltweit gesetzt. Es kann ein Beitrag zum etwa 750 Anträge von Sammlungen zur Aufnahme in das Schutz der Lebensgrundlagen der indigenen Völker sein, EU-Register gehört zu dieser Aufgabe. wenn es gelingt, dass die Nationalstaaten die Vorteile, Aufgrund der Vielzahl von Aufgaben wird für das die sie erhalten, auch an die jeweiligen indigenen Völker Bundesamt für Naturschutz mit zusätzlichem Personal- weitergeben. bedarf gerechnet. Im Gesetzentwurf spricht das zustän- Den Wert der biologischen Vielfalt und den wirtschaft- dige Ministerium von insgesamt 16 Stellen. Zunächst lichen Nutzen von Ökosystemen und der darin beheima- einmal sind für das Haushaltsjahr 2016 3 Stellen vorge- teten Pflanzen und Tiere haben wir Menschen frühzeitig sehen. Wir haben gemeinsam mit den Sozialdemokraten erkannt. Bis zum Inkrafttreten des Protokolls am 12. Ok- mit einem Entschließungsantrag darauf hingewirkt, dass tober 2014 hatten jedoch die Herkunftsstaaten, zumeist zu gegebener Zeit eine Analyse der Anträge erfolgt, ge- Entwicklungsländer, keinerlei Vorteile aus der Nutzung prüft wird, wie hoch der Antragsberg ist, wie die Abar- ihrer genetischen Ressourcen, und es verstärkten sich beitung erfolgt. Auf Grundlage dieser Analyse hat ein mehr und mehr die Forderungen nach einem Einschrei- Aufwuchs in den Folgejahren beim Personal zu erfolgen. ten gegen die schon erwähnte Biopiraterie und den Raub- Für uns als Fraktion gilt: Wir wollen keinen Papiertiger bau an biologischer Vielfalt in solchen Ländern. Nicht als Gesetz haben, aber wir wollen auch keine überbor- erst seit dem Wirken des wohl berühmtesten deutschen dende Bürokratie. Deshalb ist eine ständige Analyse der Biopiraten, Alexander von Humboldt, profitiert auch Anträge, die dem Bundesamt für Naturschutz vorliegen, Deutschland vom Nutzen der Ressourcen anderer Län- dringend erforderlich. Wir werden als Gesetzgeber auch der, sei es für die Entwicklung von neuen Medikamenten in den nächsten Jahren darauf achten, dass das entspre- aus Heilpflanzen, für die Kosmetikproduktion oder für chend umgesetzt wird. innovative Erzeugnisse der Biotechnologie. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Das Nagoya-Protokoll wurde infolge der am 5. Juni Derzeit ist die EU-Kommission dabei, sogenannte 1992 in Rio de Janeiro unterzeichneten Biodiversitäts- Guidance-Dokumente zu erarbeiten, die eine genauere konvention nach einem langen und schwierigen Ver- Erläuterung von Schlüsselbegriffen regeln sollen. Das handlungsprozess am 29. Oktober 2010 in Nagoya be- ist, glaube ich, das, was die Kollegin der Linken ange- schlossen und setzt erstmals international verbindliche sprochen hat. Wir gehen davon aus, dass, wenn diese Do- (B) Standards für den Umgang mit genetischen Ressourcen (D) kumente vorliegen, durch das Bundesamt entsprechende und fördert so Transparenz und Rechtssicherheit. praxistaugliche Formen der Veröffentlichung vorgenom- Deutschland hat das Protokoll am 23. Juni 2011 unter- men werden, damit Rechtssicherheit für alle Beteiligten zeichnet und der Wille, es zu ratifizieren, ist im Koaliti- geschaffen werden kann. onsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD festgehalten. Meine sehr verehrten Damen und Herren, mittlerwei- Parallel zur 10. CBD-Vertragsstaatenkonferenz in Py- le haben 62 Staaten das Protokoll ratifiziert, darunter die eongchang, an der ich zusammen mit meinem Kollegen Europäische Union und die EU-Mitgliedstaaten Kroati- Carsten Träger teilnehmen konnte – das hat genau vor en, Dänemark, Ungarn und Spanien. Deutschland wird einem Jahr stattgefunden –, fand auch das erste Treffen nunmehr als fünftes EU-Land die Ratifizierung vorneh- der Vertragsparteien zum Nagoya-Protokoll statt, bei men. Es zeigt sich wieder, dass wir international ein zu- dem weitreichende Entscheidungen für die internatio- verlässiger Partner sind. nale Fortentwicklung des Protokolls getroffen wurden. Auf europäischer Ebene wurde das im April 2014 mit der Ich glaube aber, dass wir mit der Verabschiedung der Verordnung (EU) Nr. 511/2014 geregelt. Die Bundesre- Gesetze am heutigen Tag noch nicht am Ziel angekom- gierung hat in der Kabinettssitzung am 29. April dieses men sind. Ich hatte heute Vormittag die Möglichkeit, Jahres die vorliegenden Gesetzentwürfe gebilligt. mit Kollegen aus dem Umweltausschuss ein Gespräch mit der Sonderberichterstatterin der Vereinten Nationen Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und für die Rechte indigener Völker zu führen. Frau ­Victoria Reaktorsicherheit hat in seiner Sitzung am 14. Oktober Tauli-Corpuz hat uns darauf aufmerksam gemacht, dass 2015 den Gesetzentwürfen zugestimmt, nachdem am die Vereinbarung zum Vorteilsausgleich zwischen den 30. September 2015 hierzu eine öffentliche Anhörung Nationalstaaten nur die eine Seite ist, auf der anderen stattgefunden hat. Die Anhörung im Umweltausschuss Seite muss dafür gesorgt werden, dass die Mittel vor Ort hat noch einmal die gesamte Bandbreite der Wirkung des ankommen. Man muss zukünftig daran arbeiten, dass die Protokolls von Nagoya verdeutlicht und aufgezeigt, wie Vorteile aus der Vereinbarung tatsächlich bei den Indi- anspruchsvoll die Umsetzung in Deutschland in Verant- genen ankommen und für den Erhalt ihrer Lebensgrund- wortung durch das Bundesamt für Naturschutz als zu- lagen genutzt werden können. Deutschland muss in den ständige Vollzugsbehörde sein wird und welche Auswir- verschiedenen Gremien, in denen es vertreten ist, ent- kungen dies für Wissenschaft und Forschung und für die sprechenden Druck aufbauen. Wirtschaft haben kann. Das Bundesamt wird aber nicht nur für den Vollzug der Bestimmungen des Protokolls Ein zweiter Punkt. Leider treten nicht alle Staaten dem von Nagoya verantwortlich sein, sondern soll etwa 600 Nagoya-Protokoll bei. Wenn ein so großes Industrieland 12642 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015

Dr. Klaus-Peter Schulze (A) wie die USA sich dem bisher verschließt, dann ist das für cen erst dann anmelden, wenn das Produkt kurz vor der (C) unsere mittelständische Wirtschaft nicht gut; denn sie ist Vermarktung steht. Dann wird die Nutzung der Ressour- auf faire Wettbewerbsbedingungen angewiesen. cen zwar angemeldet, aber die Vermarktung nicht mehr sanktioniert. Das heißt, das, was nicht angemeldet wird, Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. könnte rein theoretisch sanktioniert werden. Man muss (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) erst einmal darauf kommen, ein völkerrechtliches Ab- kommen, das jahrelang verhandelt worden ist, auf eine Vizepräsident Johannes Singhammer: solche Art und Weise zu unterminieren und ad absurdum Nächste Rednerin ist die Kollegin Steffi Lemke, zu führen. Bündnis 90/Die Grünen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Sabine Leidig [DIE LINKE]) Steffi Lemke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Damit werden Sie die Vermarktung von illegal erworbe- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und nen Ressourcen eben nicht stoppen können. Kollegen! Liebe Gäste auf den Tribünen! Worum geht es bei diesem Nagoya-Protokoll, einem Begriff, der sich Es kommt hinzu – Frau Staatssekretärin, deshalb habe nicht von alleine erschließt? Es geht um globale Ge- ich bei Ihrer Rede einen Einwurf gemacht –, dass Sie rechtigkeit. Es geht darum, die wirtschaftlichen Vortei- Forschung aus Privatmitteln und die Forschung aus öf- le auszugleichen, die hauptsächlich Industriestaaten aus fentlichen Mitteln unterschiedlich behandeln. Das heißt, der Nutzung genetischer Ressourcen oder traditionellen wenn privat geforscht wird, dann ist das gemäß Ihrem Wissens oft aus Staaten der Erdteile Afrika und Süd- Gesetzentwurf nicht meldepflichtig; es ist also schlicht- amerika ziehen, indem dort auf dieser Grundlage Pro- weg falsch, wie Sie es dargestellt haben. Meldepflichtig dukte entwickelt und vermarktet werden. Das Anliegen ist nur Forschung aus öffentlichen Mitteln oder wenn des Nagoya-Protokolls, einen Gerechtigkeitsausgleich mit Drittmitteln geforscht wird. Aber ein privates Un- zwischen den reichen Industriestaaten und den ärmeren ternehmen, das mit rein privaten Mitteln forscht, muss Staaten bzw. den Menschen, die in diesen Regionen le- die Forschungsaktivität nicht einmal melden. Das ist ben, zu schaffen, unterstützen hoffentlich wir alle hier im das Gegenteil dessen, was im Nagoya-Protokoll in Ar- Haus unisono. Insofern werden wir dem Gesetzentwurf tikel 8 Buchstabe a gefordert wird. Dort wird ausdrück- zur Ratifizierung des Nagoya-Protokolls heute auch zu- lich gefordert, dass es „vereinfachte Maßnahmen“ für stimmen. Aber dann ist auch Schluss mit lustig. die „nicht kommerzielle“ Forschung geben soll, weil es für unsere Gesellschaft wichtig ist, dass Pflanzen und Denn: Das, was Sie mit der nationalen Übersetzung genetische Ressourcen zum Nutzen des Gemeinwesens (B) des Nagoya-Protokolls, mit Ihrem Gesetzentwurf heute erforscht werden und dieses Wissen der Allgemeinheit (D) hier im Deutschen Bundestag, anrichten, ist das Gegen- zur Verfügung gestellt wird. An dieser Stelle führen Sie teil von dem, was im Nagoya-Protokoll gefordert wird. zusätzliche Bürokratie ein. Ich bin eigentlich immer für (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Stellen im Bundesamt für Naturschutz, aber sie müssen Sinn machen. Die Stellen, die entstehen sollen, werden Sie alle von der Großen Koalition, die Sie hier sitzen, die öffentliche Forschung bürokratischer gestalten; es ist wissen das auch; denn das haben Ihnen Ihre eigenen absurd, was Sie da veranstalten. Sachverständigen in der Anhörung des Umweltaus- schusses so um die Ohren gehauen, dass die Schwarte (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN kracht. Sie haben Ihnen in der Anhörung des Umwel- sowie der Abg. Sabine Leidig [DIE LINKE]) tausschusses nicht gesagt: Da ist irgendwie etwas falsch; Es gibt einen dritten gravierenden Fehler in Ihrem Ge- das könnte man besser machen. – Stattdessen haben sie setzentwurf und in der EU-Verordnung; denn eine große Ihnen gesagt: Das widerspricht dem Geist, der Intention Zahl der genetischen Ressourcen wird dadurch überhaupt des Nagoya-Protokolls ganz grundsätzlich. – Damit wird nicht erfasst. Es wird das erfasst, was ab dem Zeitpunkt Biopiraterie, das heißt die Ausbeutung von Ressourcen in des Inkrafttretens des Nagoya-Protokolls bzw. der Um- armen Ländern, eben nicht beendet und nicht reduziert. setzung auf EU-Ebene und in Deutschland genutzt wird. Sie als Bundesregierung führen nahtlos die Strategie fort, Das heißt, all die Ressourcen, die in den letzten Jahren die in den letzten Jahren diesbezüglich von einzelnen Fir- gesammelt worden sind, die sich in öffentlichen oder men und Staaten gefahren worden ist. privaten Sammlungen befinden, werden hier überhaupt nicht erfasst. Sie haben in Ihrem Gesetzentwurf – genauso wie in der EU-Verordnung, die mit tatkräftiger deutscher Unter- Meine Bitte ist – ich will hier ja nicht nur Kritik üben; stützung zustande gekommen ist – eine doppelte Unter- wobei das bei diesem Thema wirklich schwierig ist –: teilung vorgenommen. Das heißt, Sie trennen Forschung Nehmen Sie die Kritik Ihrer eigenen Sachverständigen und Entwicklung von der Vermarktung von Produkten. aus der Anhörung im Umweltausschuss ernst. Verhandeln Und dann regeln Sie die Sache so, dass deutsche Phar- Sie auf europäischer Ebene nach, damit möglichst bald maunternehmen – Herr Göppel, stellen Sie sich vor, eine neue EU-Verordnung auf den Weg gebracht werden Sie verträten ein deutsches Pharmaunternehmen – nicht kann. Dann können wir hier über einen Gesetzentwurf anmelden müssen, wenn sie bei der Forschung und Ent- verhandeln, der tatsächlich versucht, das Nagoya-Proto- wicklung solche genetischen Ressourcen nutzen. Das koll umzusetzen; was ohnehin schwierig genug ist. Sie kriegt vermutlich keiner mit, weil man es eben nicht schaden mit dem heute vorliegenden Gesetzentwurf dem melden muss. Man muss die Nutzung solcher Ressour- Vorteilsausgleich zwischen armen und reichen Staaten. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 12643

Steffi Lemke (A) Danke. Deshalb begrüße ich es sehr, dass Deutschland eine (C) glaubwürdige Vorreiterrolle in der internationalen Natur- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schutzpolitik eingenommen hat, gerade auch mit Blick sowie der Abg. Sabine Leidig [DIE LINKE]) auf die mitunter sehr, sehr schwierigen Verhandlungen zum Nagoya-Protokoll. Wir müssen einfach zur Kenntnis Vizepräsident Johannes Singhammer: nehmen, Frau Lemke, dass wir hier über das Ergebnis Der Kollege Carsten Träger spricht jetzt für die SPD. eines mehrjährigen, um nicht zu sagen: langjährigen Ver- handlungsprozesses sprechen, weil die unterschiedlichs- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ten Interessen zum Teil diametral zueinander standen. Ich der CDU/CSU) selbst durfte bei der letzten Konferenz in Südkorea dabei sein und kann bestätigen, wie schwierig diese Verhand- Carsten Träger (SPD): lungen waren und welch hohes Ansehen Deutschland in Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und diesen Fragen deshalb genießt. Kollegen! Ich möchte einen anderen Akzent setzen. Be- Mit den heutigen Beschlüssen ermöglicht der Bun- trachte ich die Entwicklung der letzten beiden Jahre, destag den deutschen Beitrag zum Nagoya-Protokoll und so scheint mir, dass die Weltgemeinschaft gerade noch wird damit auch in dieser Hinsicht als einer der ersten rechtzeitig zur Besinnung kommt. Trotz der aktuellen EU-Staaten der internationalen Vorreiterrolle gerecht. internationalen Krisen bleibe ich dabei: Gerade in den Es wurde schon gesagt: Das Bundesamt für Naturschutz letzten Monaten gelingen im Bereich Klima- und Na- wird zukünftig kontrollieren, ob in Deutschland die Re- turschutz beachtliche internationale Erfolge: Der Nach- geln zu Zugang und Vorteilsausgleich in den Herkunfts- haltigkeitsgipfel in New York ist gerade hoffnungsvoll ländern eingehalten werden. zu Ende gegangen, für den Klimagipfel in gibt es positive Aussichten, auch weil der G-7-Gipfel von El- Mit dem Änderungsantrag der Koalitionsfraktionen haben wir den Sorgen, die in der letzten Woche in der An- mau in diesem Sommer schon gute Signale gesetzt hat, hörung zum Ausdruck gebracht wurden, Rechnung ge- und bereits im letzten Jahr trat das Nagoya-Protokoll in tragen: Die Stellenausstattung des Bundesamtes für Na- Kraft, eine zentrale Säule des Übereinkommens über den turschutz wird einer jährlichen Evaluierung unterzogen Erhalt der biologischen Vielfalt, vom Umfang und vom und damit sichergestellt. Einige Rechtsbegriffe werden Anspruch her das umfassendste internationale Natur- konkretisiert – das war auch ein großer Vorwurf – und schutzabkommen. schnell und praxistauglich veröffentlicht. Auch das Pa- Die drei großen Ziele des Nagoya-Protokolls wurden tentgesetz wird so geändert, dass nachvollzogen werden kann, ob das biologische Material aus den anderen Län- (B) schon genannt: die Erhaltung biologischer Vielfalt, die (D) nachhaltige Nutzung ihrer Bestandteile und die gerechte dern legal erlangt wurde. Aufteilung der Vorteile, die aus der Nutzung genetischer (Beifall bei der SPD) Ressourcen erzielt werden. Ein Beispiel: Eine seltene wertvolle Pflanze in einem Land, meist einem Entwick- Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich werbe um Zu- lungsland, wird von einem Unternehmen, meist in einem stimmung zu dem Beitritt zum Nagoya-Protokoll, weil wir damit ein wichtiges Signal für die internationale Zu- Industrieland, genutzt, um ein Medikament oder ein sammenarbeit setzen und weil wir damit einen nachhalti- Kosmetikprodukt auf den Markt zu bringen. Weder wur- gen Beitrag zum Naturschutz in den Schatzkammern der de das Herkunftsland um die Zustimmung zur Nutzung Artenvielfalt, in den wirtschaftlich schwachen Regionen gebeten, noch werden die Gewinne irgendwie mit dem der Erde leisten. Herkunftsland geteilt. Das nennen wir Biopiraterie, und im Nagoya-Protokoll geht es darum, diese zu bekämpfen. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Klaus- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Peter Schulze [CDU/CSU] – Steffi Lemke der CDU/CSU) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das bleibt nach Ihrem Gesetzentwurf so!) Vizepräsident Johannes Singhammer: Liebe Kolleginnen und Kollegen, für den Erhalt der Für die CDU/CSU spricht jetzt unser Kollege Josef Göppel. biologischen Vielfalt ist es unerlässlich, dass Entwick- lungsländer auch wirtschaftlich davon profitieren, Le- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) bensräume und Arten zu schützen. Dieser ökonomische Anreiz wird mit dem Protokoll gesetzt. Josef Göppel (CDU/CSU): Der zweite Aspekt ist auch ganz wichtig: Das schafft Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! An Vertrauen in der Zusammenarbeit zwischen den Indus- einem Tag, an dem wir die neuen Gesetze für Asylbe- trie- und den Entwicklungsländern. Wir wissen längst, werber verabschiedet haben, darf man schon sagen: Hier dass wir zum Beispiel beim Klimaschutz auf eine ver- geht es um Beseitigung und Eindämmung von Fluchtur- trauensvolle Zusammenarbeit mit den Entwicklungslän- sachen, und zwar weit in die Zukunft hinein. dern angewiesen sind. Aber wie soll das gelingen, wenn (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der reiche Norden die ärmsten Staaten ihrer Ressourcen der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜND- beraubt? NISSES 90/DIE GRÜNEN) 12644 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015

Josef Göppel (A) Das ist das Erfreuliche und Hoffnungsvolle an der Um- Ich sage nochmals – ich kehre zum Anfang zurück –: (C) setzung des Nagoya-Protokolls. Hier geht es darum, durch einen gerechten Vorteilsaus- Ich sehe es noch vor mir, wie vor ziemlich genau fünf gleich für Lebens- und Entwicklungschancen in diesen Jahren, im Oktober 2010, die Delegierten geradezu er- Ländern zu sorgen, damit dort die eigene, gewachsene leichtert aufgeatmet und stürmisch Beifall gespendet Kultur auch im 21. Jahrhundert eine Zukunft hat. haben, weil es endlich gelungen war, zu einem Überein- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD so- kommen zu finden, damals, ein Jahr nach dem Desaster wie bei Abgeordneten der LINKEN) in Kopenhagen in Bezug auf den Klimaschutz.

Dieses Nagoya-Protokoll kommt etwas spröde daher; Vizepräsident Johannes Singhammer: das wurde von den Rednerinnen und Rednern vor mir Abschließender Redner in dieser Aussprache ist der ganz gut beleuchtet. Ich sehe auch Anlass, drei Punkte zu Kollege René Röspel für die SPD. markieren, an denen nachgearbeitet werden muss: (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Erstens. In der Anhörung hat sogar der Vertreter der chemischen Industrie gesagt: Wir wissen nicht, wann der CDU/CSU) die Nutzung beginnt und wann sie endet. Man befürchte eine Flut von Rechtsstreitigkeiten zulasten der Betriebe, René Röspel (SPD): die umsetzen wollen. In der europäischen Verordnung Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her- fehlt der Bereich der Vermarktung. Im spanischen Um- ren! Wenn man nach den guten Worten von Josef Göppel setzungsgesetz sind Verwendung und Vermarktung ent- als Umwelt- oder, wie ich, als Forschungspolitiker hier halten. Auch im französischen Umsetzungsgesetz ist von steht, hat man manchmal den Eindruck, in anderen Be- Utilisation commerciale die Rede, also der nutzbringen- reichen unserer Gesellschaft herrsche die Meinung vor, den Verwendung. Deswegen denke ich, das muss in den die Art Homo sapiens sei die einzige, die auf der Welt weiteren Beratungen darüber, wie man das Ganze hand- bedeutend ist, und es sei gar nicht so schlimm, wenn je- habbar macht, noch einmal aufgegriffen werden. den Tag viele Arten diesen Planeten unwiederbringlich Zweiter Punkt. Es geht um gewaltige kulturelle Unter- verlassen, meistens aufgrund menschlichen Handelns. schiede für indigene Völker. Übrigens, heute Abend sind Deswegen ist es richtig, an die Bedeutung von Artenviel- welche vom Amazonas hier in Berlin; auch dort geht es falt und Biodiversität anzuknüpfen. um diese Fragen. Für diese Menschen kann etwas, was der Mutter Erde entnommen wird, niemals Privatbesitz Albert Einstein wird ein Zitat zugeschrieben; es klingt ein bisschen dramatisch, macht aber vielleicht etwas (B) sein. Deswegen haben sie keinerlei Verhältnis zu dem, (D) was wir „Patente“ nennen. Es geht also darum, in einem deutlicher, wie wichtig andere Arten sind und wie ab- offenen und durchsichtigen Prozess in den jeweiligen hängig der Mensch von anderen Arten ist. Er soll irgend- Ländern ausgiebig und einfühlsam mit den bisherigen wann einmal gesagt haben: Wenn die Biene unsere Erde Hütern dieser Schätze zu reden. Sie sehen oftmals ihre verlässt, hat der Mensch noch vier Jahre zu leben. – Das nationale Regierung als Handlanger der Industrie. ist vielleicht ein bisschen sehr dramatisch, zeigt aber die (René Röspel [SPD]: Sehr richtig, Josef!) Zusammenhänge zwischen den Arten und die Bedeutung der Artenvielfalt auf unserem Planeten. Damit bin ich beim dritten Punkt. Der Vorteilsaus- gleich, um den es geht – das hat ja mein Kollege Schulze Es ist nicht nur so, dass der Mensch von genetischer sehr klar dargestellt –, geht fast immer an die nationale Vielfalt abhängig ist. Vielmehr sind Biodiversität und Regierung, aber noch lange nicht an die lokalen Gruppen, Artenvielfalt, wie hier heute schon häufig erwähnt wur- die in den jeweiligen Gebieten wohnen und in einer Art de, auch ein großer Schatz, den die Menschheit hat. Als Allmendewirtschaft, in einer allgemeinen Wirtschafts- Forschungspolitiker muss ich natürlich das Beispiel nen- weise, über Jahrhunderte mit diesen Stoffen umgegangen nen, das vor einigen Wochen in allen Medien war: Der sind und sie auch zum Wohl ihrer Gemeinschaften ver- diesjährige Nobelpreis für Medizin ist an die Forscher wendet haben. Tu Youyou, Campbell und Omura gegangen. Sie haben (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) sich Pflanzen und eine Vielzahl von Bakterien, also na- türlich vorkommende Arten, angeschaut und sie auf Deswegen ist auch an diesem Punkt noch einmal nach- Wirkstoffe untersucht. Es ist ihnen gelungen, Wirkstof- zuarbeiten. fe zu isolieren, die seit vielen Jahren gegen Malaria und Trotzdem: Wenn ich ein Resümee ziehe, kann ich sa- Wurmkrankheiten eingesetzt werden können und vielen gen, dass wir heute an einem wichtigen Punkt sind, auch Millionen Menschen das Leben retten oder erleichtern. wenn die Anzahl der Abgeordneten, die an diesem Be- schluss teilnimmt, überschaubar ist. Dennoch ist es ein Dieser Zugang zur Forschung und zu genetischen Beschluss, der die Welt gerechter macht, der weit in die Ressourcen muss offen sein, und es ist wichtig – das re- Zukunft reicht und der uns auch hilft, in einer positiven gelt das Nagoya-Protokoll glücklicherweise –, dass der Art und Weise auf die Gemeinschaften und Völker, die Nutzen solcher Forschung und solcher Erkenntnisse fair diese Schätze besitzen, zuzugehen – so wie das Bild verteilt wird. Du hast in gute Worte gefasst, Josef, dass Deutschlands seit kurzem ja auch durch sein Verhalten man auch Respekt gerade vor den indigenen Völkern ha- gegenüber Flüchtlingen geprägt wird. ben muss, die dieses Wissen und diese Ressourcen ha- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 12645

René Röspel (A) ben, dass man gut mit ihnen umzugehen hat und nicht zu der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen (C) deren Nachteil handeln darf. angenommen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Wir kommen jetzt zur der CDU/CSU und der Abg. Sabine Leidig dritten Beratung [DIE LINKE]) und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Dass dieser Schatz bewahrt werden muss, ist richtig, und Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – das Nagoya-Protokoll ist hier ein wegweisender Schritt. Wer stimmt dagegen? – Gibt es Enthaltungen? – Der Ge- Als Forschungspolitiker darf ich trotzdem eine Kritik setzentwurf ist damit mit den Stimmen von CDU/CSU bzw. eine Besorgnis ausdrücken, die der Umweltaus- und SPD gegen die Stimmen der Fraktionen Die Linke schuss durch die Mitglieder der Koalitionsfraktionen in und Bündnis 90/Die Grünen angenommen. einer Entschließung glücklicherweise aufgegriffen hat: Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Ent- Seit langen Jahren bearbeiten naturkundliche Samm- schließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen lungen und die Wissenschaft in Deutschland Hundert- auf Drucksache 18/6394. Wer stimmt für diesen Ent- tausende genetische und biologische Objekte jedes Jahr schließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält neu, und die Umsetzung des Nagoya-Protokolls führt sich? – Dieser Entschließungsantrag von Bündnis 90/Die dazu, dass der Erfüllungsaufwand bei diesem Verfahren Grünen ist damit mit den Stimmen von CDU/CSU und groß sein wird. Damit wir das Nagoya-Protokoll gut um- SPD gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen setzen können, brauchen die Wissenschaftlerinnen und und der Fraktion Die Linke abgelehnt. Wissenschaftler also eine gute Unterstützung. Ich sage das ausdrücklich: Das Bundesamt für Naturschutz wird Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den von der für die Genehmigung zuständig sein, aber wir dürfen die Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nicht alleine zu dem Protokoll von Nagoya über den Zugang zu gene- lassen, sondern müssen sie durch Beratung und Koordi- tischen Ressourcen und die ausgewogene und gerechte nierung unterstützen. Aufteilung der sich aus ihrer Nutzung ergebenen Vorteile zum Übereinkommen über die biologische Vielfalt. Der Das setzt voraus – und das ist nicht nur meine Bit- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktor- te, sondern meine Aufforderung an die Bundesregierung sicherheit empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlus- und gerade auch an das zuständige Bundesministerium sempfehlung auf der Drucksache 18/6384, den Gesetz- für Bildung und Forschung –, dass in den nächsten Mo- entwurf der Bundesregierung auf Drucksache 18/5219 naten und Jahren wirklich darauf geachtet wird, dass die (B) anzunehmen. Ich bitte jetzt diejenigen, die dem Gesetz- (D) Forschung nicht durch Bürokratie belastet wird, wenn entwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer es nicht sein muss, sondern dass notfalls für eine Über- ist dagegen? – Wer enthält sich? – Niemand. Der Gesetz- gangszeit auch zusätzliche Personalstellen geschaffen entwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen werden, damit das Nagoya-Protokoll zum Frieden der des gesamten Hohen Hauses angenommen. Forscher umgesetzt werden kann. Das sollte uns dieser Schatz der Menschheit wert sein. Wir kommen jetzt zur Vielen Dank. dritten Beratung (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem der CDU/CSU) Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Niemand. Der Gesetzentwurf ist mit allen Stimmen des Hohen Vizepräsident Johannes Singhammer: Hauses angenommen. Damit schließe ich die Aussprache. Unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung emp- Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den von der fiehlt der Ausschuss auf Drucksache 18/6384, eine Ent- Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Geset- schließung anzunehmen. Wer für diese Beschlussemp- zes zur Umsetzung der Verpflichtungen nach dem - Na fehlung stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen. – Wer goya-Protokoll und zur Durchführung der Verordnung stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Diese Beschlus- (EU) Nr. 511/2014 sowie zur Änderung des Patentgeset- sempfehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD zes. und der Fraktion Die Linke bei Enthaltung von Bünd- Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und nis 90/Die Grünen angenommen. Damit haben wir auch Reaktorsicherheit empfiehlt unter Buchstabe a seiner diesen Tagesordnungspunkt abgeschlossen. Beschlussempfehlung auf der Drucksache 18/6384, Ich rufe hiermit die Tagesordnungspunkte 9 a und 9 b den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Druck- auf: sache 18/5321 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte jetzt diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzei- Dr. Kirsten Tackmann, Karin Binder, Heidrun chen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Bluhm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den DIE LINKE sowie der Abgeordneten Friedrich Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen Ostendorff, Harald Ebner, Nicole Maisch, wei- 12646 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015

Vizepräsident Johannes Singhammer (A) terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- wir noch über der Schallmauer von 100 000 Milchvieh- (C) NIS 90/DIE GRÜNEN betrieben. Milchmarkt stabilisieren – Milchkrise been- (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE den GRÜNEN]: Das stimmt!) Drucksache 18/6206 Wir erleben jetzt den dritten Preisabsturz seit 2009. Je- Überweisungsvorschlag: der vierte Betrieb hat unterdessen die Milchproduktion Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft (f) aufgegeben. Die 75 000 Überlebenden stehen bereits am Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktor­ Abgrund. Ich verstehe sehr gut, dass sie ihre Not und sicherheit Verzweiflung auf die Straße getragen haben. b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Ausschusses für Ernährung und Land- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- wirtschaft (10. Ausschuss) neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) – zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU Unionskollege de Vries meinte einmal, wer nicht für und SPD 32 Cent melken könne, der solle es lassen. – Mag sein. Aber seit Monaten ist der Milchpreis im Tiefflug Rich- Auslaufen der Milchquote – Wettbewerbs- tung 20 Cent. Statt guten Lohns für gute Arbeit haben fähigkeit der Milchviehhalter sichern die Betriebe durchschnittlich 23 000 Euro Schulden pro – zu dem Antrag der Abgeordneten Friedrich Hektar angehäuft. Das kann uns doch nicht gleichgültig Ostendorff, Nicole Maisch, Harald Ebner, sein. weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Aber nicht nur kleine Familienbetriebe können Milch nicht unter 30 Cent pro Liter produzieren. Die Krise trifft Landwirtschaft braucht flächendeckende auch Betriebe, die investiert haben. Ja, sie haben häu- Milchviehhaltung – Bäuerliche Milcher- fig, weil sie der Ankündigung des Paradieses nach dem zeuger stärken – Milchpreise stabilisieren Wegfall der Quote geglaubt haben, in noch mehr Milch Drucksachen 18/4424, 18/4330, 18/5601 investiert, aber auch in bessere Lebensbedingungen für die Tiere im Stall und in bessere Arbeits- und Lebens- Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die diesem Tagesordnungspunkt durch Beratung besonders verbun- bedingungen für die Menschen, die sie betreuen. Diesen den sind, Platz zu nehmen. Betrieben sitzen jetzt die Banken im Nacken. (B) (D) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für Und was kommt als Alternative aus Brüssel? Wieder die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Einen Wider- ein Milchpaket mit weiteren 69 Millionen Euro für Li- spruch höre ich nicht. Dann ist das somit beschlossen. quiditätshilfen in Deutschland. Aber das ist wieder nur ein Sterbegeld, das letzten Endes in fremden Taschen und Ich eröffne die Aussprache. Als erster Rednerin erteile vor allem bei den Banken landet. ich das Wort der Kollegin Dr. Kirsten Tackmann für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der LINKEN) Statt Ursachen zu bekämpfen, bleibt es wieder nur bei Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): einem Tropfen Milch auf den heißen Stein. So geht das Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lie- doch nicht. be Gäste! Heute legen die Linken und die Grünen einen Viele Betriebe wollen gar nicht mehr Geld aus Brüs- gemeinsamen Antrag vor. Das ist sehr ungewöhnlich, sel. Sie fordern faire Bezahlung für ihre schwere Arbeit, aber die Lage in vielen Milchvieherzeugerbetrieben ist und zwar, wie ich finde, völlig zu Recht. dramatisch, weil sie seit Monaten für ihre Produkte nur noch ein Handgeld bekommen. Ich finde, da ist es mehr (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- als angemessen, Trennendes beiseitezuschieben und ge- NIS 90/DIE GRÜNEN) meinsam zu handeln. Seien wir doch ehrlich: Wer heutzutage Milch produziert, (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- muss schon positiv bekloppt sein. NIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich danke Kollegen Friedrich Ostendorff ausdrücklich für die sehr vertrauensvolle Zusammenarbeit, die diesen Wir sollten einmal die Plenarsitzungen für den Rest des Antrag ermöglicht hat. Jahres morgens um 3 Uhr beginnen und auf sonnabends und sonntags ausweiten. Dann ahnen wir vielleicht, wie Wir müssen in der Milchpolitik endlich die Weichen viel Lebensqualität dann noch übrig bleibt. richtig stellen. Immer mehr Betriebe steigen aus der Milchproduktion aus, meistens schweren Herzens. Das Am meisten ärgert mich aber, dass mit Milch durchaus sind längst nicht nur Betriebe, die schlecht gemanagt Geld verdient wird. Supermärkte und Großmolkereien werden. Als ich 2005 neu in den Bundestag einzog, lagen machen satte Gewinne auf Kosten der Milchproduzen- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 12647

Dr. Kirsten Tackmann (A) ten. Ich finde, hier kann sich die Politik nicht mehr he- macht von Supermärkten und Molkereien zu beseitigen, (C) raushalten. muss endlich das Kartell- und Wettbewerbsrecht gestärkt (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- werden. NIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- Aber wir brauchen ein radikales Umdenken, damit NIS 90/DIE GRÜNEN) sich wirklich etwas ändert. Das ist eine Herausforderung, Ich hoffe auf eine offene, aber auch sehr ernsthafte vor allem für die Union. Ich war selbst einmal in einer Diskussion. Ich finde, die Milcherzeugerinnen und -er- Partei, die geglaubt hat, immer recht zu haben. Ich weiß, zeuger haben das verdient. wie schmerzhaft es ist, sich davon zu lösen. Ich weiß aber auch, wie heilsam und vor allem wie nötig das ist. Denn Vielen Dank. für viele Betriebe ist die Milchstraße längst zur Sackgas- (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- se geworden. NIS 90/DIE GRÜNEN) Es macht doch keinen Sinn, immer mehr Milch zu pro- duzieren, die nicht gebraucht wird. Auch in einer globa- Vizepräsident Johannes Singhammer: lisierten Welt wartet längst niemand mehr darauf, unsere Für die Bundesregierung hat jetzt Bundesminister Milchseen und Butterberge zu kaufen. Ich finde es auch, Christian Schmidt das Wort. ehrlich gesagt, zynisch, unsere überflüssigen Lebensmit- tel auf Drittmärkten quasi zu entsorgen. Wir können doch (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) die Landwirtschaft vor Ort nicht auch noch die Zeche für unseren Wachstumswahn zahlen lassen. Christian Schmidt, Bundesminister für Ernährung (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- und Landwirtschaft: NIS 90/DIE GRÜNEN) Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Was schlagen Linke und Grüne gemeinsam vor? Zum Kollegen! Milch ist im Augenblick billig. Sie ist zu bil- Beispiel ein neues System zur Anpassung der Milchmen- lig. Unsere hochwertigen Lebensmittel sind einen besse- ge an die Nachfrage. Nein, das ist keine Milchquote 2.0, ren Preis wert. Von der guten Milch werden Verbraucher sondern es ist die Korrektur der Fehler des alten Systems. satt. Es müssen aber auch die Milcherzeuger satt wer- Denn es war eben nicht an der Nachfrage orientiert. Die den können. Wir alle wissen, dass bei diesen Preisen – Betriebe mussten die Quote teuer bezahlen, und der Bör- das gilt übrigens nicht nur für Milch, sondern auch für senhandel hat sie oft weiter verteuert. Schweinefleisch – und durch Trockenheit Bauern in wirt- (B) schaftliche Schieflage geraten können und geraten sind. (D) Zu diesen Instrumenten der Vergangenheit wollen Das ist nicht gut. wir nicht zurück. Aber es macht doch Sinn, in Zeiten der Überproduktion den Betrieben einen Ausgleich zu Landwirte, auch mit mittleren und kleinen Betrieben, zahlen, die freiwillig ihre Milchmenge reduzieren. Was brauchen gute Perspektiven. Deswegen ergreifen wir so- spricht denn dagegen, wenn Milcherzeugerinnen und wohl kurz- als auch mittelfristig Maßnahmen, um den -erzeuger gemeinsam mit Molkereien, Wissenschaft und Markt und die Einkommen zu stabilisieren. Verbraucherverbänden die Milchmenge aushandeln? Beim Wein akzeptiert doch selbst die Union eine Men- Jetzt geht es allerdings vor allem um die Linderung genregulierung. Aber bei der Milch sieht sie tatenlos zu, der akuten Probleme. Deswegen stellen wir den Land- wie der Markt die Betriebe enteignet. Ich finde das wirk- wirten kurzfristige Liquiditätshilfen zur Verfügung. Ich lich zynisch. würde gar nicht darüber reden und fragen, ob man das mag oder nicht – man braucht es. Deswegen soll das sehr (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- schnell umgesetzt werden. NIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU) Man kann auch von den Biobetrieben lernen, die näm- lich erstmals nicht von der Krise betroffen sind. Viel- Ich darf bei der Gelegenheit sagen: Wenn wir Bilanz leicht liegt das daran, dass bei Biomilch das Angebot ziehen, dann müssen wir feststellen, dass die Flexibilität kleiner ist als die Nachfrage und ihre Verarbeitung und bei den Direktzahlungen, die im Rahmen der Agrarpo- Vermarktung stärker regional orientiert sind. litik an die Milcherzeuger gehen und die einen Teil des (Dr. Wilhelm Priesmeier [SPD]: Richtig! – Einkommens darstellen, zu wünschen übrig lässt. Ja, wir Zuruf von der SPD: Und der Preis anständig sind dieses Jahr spät dran. Das ist deswegen so, weil sich ist!) die neue Agrarpolitik mit Greening, Junglandwirteprä- mie und anderen neuen Elementen erst einpendeln muss. Gunnar Hemme hat uns in der Ausschussanhörung erklärt, dass man bei regionaler Verarbeitung und Ver- Ich wäre bereit gewesen, die Direktzahlungen aus marktung auch konventionell erzeugte Milch in Bran- Mitteln des Bundeshaushaltes vorzeitig zu finanzieren. denburg fair bezahlen kann. Also müssen wir Handel und Wenn ich aber erlebe, dass alle 16 Bundesländer, die da- Verarbeitung für faire Milchpreise in die Pflicht nehmen. für die Verantwortung tragen, die weiße Fahne hissen und Zum Beispiel sollen durchschnittliche Erzeugungskosten mir sagen, dass sie administrativ nicht in der Lage sind, als Mindestbasispreis für Vertragsverhandlungen mit den den Tanker Direktzahlungen auf einen schnelleren Kurs Molkereien vorgeschrieben werden. Um die Marktüber- zu bringen bzw. den Kurs zu korrigieren, dann haben wir, 12648 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015

Bundesminister Christian Schmidt (A) meine Damen und Herren, auch hier eine Baustelle bzw. len will, dass das Beispiel der privaten Lagerhaltung für (C) ein Problem, das weit über die Milch hinausgeht. Schweinefleisch zeigt, dass man mit privater Lagerhal- tung, wenn sie nicht klug angelegt ist, Probleme allen- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) falls in die Zukunft verschiebt, sie aber nicht löst. Wir müssen uns die Strukturen der bürokratisierten (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Wilhelm europäischen Agrarpolitik ernsthaft und schnell vorneh- Priesmeier [SPD]: Genau das ist es! Nicht men. So kann das nicht weitergehen. mehr und nicht weniger!) (Beifall des Abg. Dr. Wilhelm Priesmeier Wir müssen aber auch die Fragen stellen: Was macht [SPD]) die Landwirtschaft zukunftsfähig? Wie schaffen wir an- Mittel- und langfristig müssen die Strukturen anpas- passungsfähige Strukturen? Was sichert unseren Milch- sungsfähiger werden. Manches muss ausgebaut werden – bauern in Zukunft ein gutes Auskommen? Natürlich ist auch die Exportförderung, zu der ich noch kommen wer- es gut, zu wissen, dass die EU-Marktbeobachter davon de. ausgehen, dass sich der Milchpreis in den nächsten Jah- ren bei 35 Cent einpendeln wird; das ist die Grundlage. In Brüssel wurde, was die Soforthilfe angeht, über Aber auch dann wird es Ausschläge nach oben und unten 500 Millionen Euro verhandelt. Die Kommission hat geben. Natürlich sind wir gespannt-optimistisch, dass die sie aufgeteilt. Der Anteil von 70 Millionen Euro für un- Entwicklung der – jedenfalls bei den Produkten – wieder ser Land ist der größte. Das ist von Bedeutung für die anziehenden Preise mit einem gewissen Verzug auf die Direkthilfe. Ich habe ein Modell vorgestellt, wie diese Rohmilchpreise – so sind unsere Hoffnungen und Erwar- 70 Millionen Euro so schnell wie möglich bei den Land- tungen – übergeht. Aber das löst natürlich das Problem wirten ankommen können. Dabei ging es mir darum, nicht. Wir wollen daher die Ausschläge mit marktgeeig- die größtmögliche und schnellstmögliche Wirkung zu neten Mitteln abfedern. Wir brauchen einige Grundlagen erzielen. Landwirte, die von ihrer Hausbank bereits ein dafür: erstens eine hohe Qualität und Regionalität unse- Liquiditätshilfedarlehen erhalten haben, bekommen dazu rer Produkte, zweitens vorausschauende Marktbeobach- einen direkten Zuschuss von der Bundesanstalt für Land- tung und ein Sicherheitsnetz und drittens weltweite Wett- wirtschaft und Ernährung. Das ist die Liquiditätshilfe, bewerbsfähigkeit. Die Milchquote ist Vergangenheit, Geld, das direkt bei den Bauern ankommt. Das Darlehen und das ist gut so. Das soll auch so bleiben. Ich kenne muss unter dem normalen Satz verzinst werden – es müs- niemanden, der in Wahrheit der Milchquote eine Träne sen 1 bis 1,5 Prozent weniger sein –, es muss im ersten nachweint. Jahr tilgungsfrei sein, und es wird eine Laufzeit von vier bis sechs Jahren haben. (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. (B) Dagmar Ziegler [SPD]) (D) Dieses Angebot – ein ähnliches Modell hat die Land- wirtschaftliche Rentenbank bereits seit Juli für die „Su- Mein Dank gilt bei der Anpassung vor allem den perabgabe“ laufen – wird dann durch konkretes Cash in Landwirtinnen und Landwirten sowie denjenigen, die Form der Liquiditätshilfe noch befördert und beschleu- den Weg und den Übergang – weg von der Milchquote, nigt, sodass de facto eine Regelung vorhanden ist, die hin zu einem neuen Regime, das nun schon seit einigen dazu führt, dass die Konteninhaber, auf deren Konten Jahren besteht – vorbereitet und aktiv mitgestaltet haben. gegenwärtig rote Zahlen sind, jedenfalls für die nächste Auch von Verbandsseite wurde dieser Weg – Dank an Zeit wieder flüssig werden können. den Deutschen Bauernverband – sehr gut begleitet und unterstützt. (Beifall bei der CDU/CSU) (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE Natürlich ist mir klar, dass das die Probleme nicht löst. GRÜNEN]: Der Weg an den Rand des Ab- Aber wer schnell hilft, hilft doppelt. Und dann lasst uns grunds!) weitersehen, was wir noch tun müssen. Ich bin überzeugt: Die Marktorientierung wird den Ich will darauf hinweisen, dass wir den delegierten Milchmarkt langfristig stabilisieren; Rechtsakt der Europäischen Union noch in dieser Woche erwarten. Dann werde ich sofort die Eilverordnung auf (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- den Weg bringen, sodass alles, was die Antragstellung NEN]: Vielleicht passiert aber das Gegenteil!) betrifft, noch im Laufe dieses Jahres über die Bühne ge- denn mit unserer jetzigen Situation eines geringen Au- hen kann. ßenschutzes lassen sich die Milchmenge und der Milch- Durch die Kopplung unserer Zuschüsse an die Dar- preis nicht vom Weltmarkt entkoppeln. All die Roman- lehen stellen wir auch sicher, dass das Geld tatsächlich tiker, die sagen: „Lasst uns doch ohne Außenschutz so ankommt. Die Sorge, dass die Banken besonders viel etwas versuchen“ – als ob wir unseren eigenen Markt verdienen, ist damit unberechtigt. alleine regieren könnten –, weise ich auf das hin, was die Kollegin Tackmann im Hinblick auf die Subventionie- Wir schaffen Marktentlastung durch ein neues, at- rung von Exporten gesagt hat. Die sogenannten Export- traktives Programm der privaten Lagerhaltung für Milch erstattungen sind Gift für die Länder der Dritten Welt. Ich und Käse – diese wurde, was Magermilchpulver betrifft, will und werde sie nicht akzeptieren. bereits stark in Anspruch genommen – sowie ein verbes- sertes und praktikables Programm der privaten Lagerhal- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- tung für Schweinefleisch, wenngleich ich nicht verheh- ordneten der SPD – Oliver Krischer [BÜND- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 12649

Bundesminister Christian Schmidt (A) NIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir exportieren das Das habe ich bei der Mengensteuerung bisher noch nir- (C) doch dahin!) gendwo gesehen. Wer ehrlich zu sich selbst ist und wis- senschaftliche Bewertungen liest, der kann zu keinem Ich will, dass dorthin exportiert wird, wo zahlungskräf- anderen Ergebnis kommen. tige Kunden sind. Dass es zahlungskräftige Kunden zum Beispiel in den USA und China gibt, ist doch nicht von Wir müssen über viele Fragen reden, beispielsweise der Hand zu weisen. über Steuerungsmechanismen bei Preisanpassungen, über Versicherungsmodelle und die Frage, ob wir mit (Beifall bei der CDU/CSU) Fondslösungen abfedern können, und wir müssen über Ich will keine Verwischung der Fragen. das Kartellrecht reden. Ich habe in Kürze mit dem Prä- sidenten des Bundeskartellamtes ein Gespräch auch über Die Wertschöpfungskette muss sich organisieren. das Thema „Verkauf unter Einstandspreis“. Das ist ein Thema, das wir uns natürlich anschauen müssen. Wir Vizepräsident Johannes Singhammer: werden darüber auch auf europäischer Ebene offen re- Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage der den. Kollegin Bulling-Schröter? Ein letzter Punkt: Export. Der Export in die rich- tige Richtung ist wichtig. Wer ihn nicht will, der muss Christian Schmidt, Bundesminister für Ernährung sagen, dass dann die Hälfte unserer Landwirte die Be- und Landwirtschaft: triebe schließen müsste. Das will ich nicht, sondern ich Mit Interesse, Frau Kollegin Bulling-Schröter. will einen fairen und vernünftigen freien Handel haben. Deswegen werde ich die Mittel für das Auslandsmesse- Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): programm erhöhen. Danke schön, Herr Minister. – Ich möchte Sie Folgen- (Beifall bei der CDU/CSU) des fragen: Ich habe in einem Zeitungsartikel gelesen, dass die USA Zölle auf Butterprodukte aus der EU ver- Ein allerletztes Wort noch: Wir haben heute früh das hängen. Der Hintergrund ist, dass nach Auffassung der Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz verabschiedet und USA alles zu billig ist und dass die USA beispielswei- darüber debattiert – in der Regierungserklärung hat die se Milch- und Joghurtprodukte selber herstellen wollen. Kanzlerin das dargelegt –, wie wir daran arbeiten müs- Wie stehen Sie denn dazu? sen, dass nicht so viele Menschen sich auf den Weg zu uns machen. Die Menschen kommen zu uns aus Flücht- lingslagern, in denen sie – Gott sei’s geklagt – deswe- Bundesminister für Ernährung (B) Christian Schmidt, gen leben müssen, weil sie aus ihren Häusern gebombt (D) und Landwirtschaft: wurden. Wenn wir, die internationale Gemeinschaft, die Vielen Dank, Frau Kollegin. wir über Überfluss reden, nicht in der Lage sind, sicher- (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- zustellen, dass die Milch zu den Menschen kommt und NEN]: Deshalb sind Sie für TTIP, oder?) nicht die Menschen zur Milch, dann haben wir versagt. Ich habe den Artikel nicht gelesen. (Beifall bei der CDU/CSU – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Milch nach (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Syrien, oder was heißt das jetzt? Mann, Mann, NEN]: Sie sollten aber so was lesen als Land- Mann!) wirtschaftsminister!) Deshalb werden mein Kollege Gerd Müller und ich Wenn es sich aber so, wie Sie sagen, verhält, dann ist das ein nationales Programm auflegen und uns darum küm- die beste Vorlage dafür, dass wir TTIP brauchen. mern, dass die Mütter und ihre Kinder, die im Libanon (Beifall bei der CDU/CSU – Lachen bei der oder woanders in den Flüchtlingslagern sind, etwas be- LINKEN und beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- kommen. Das ist ein richtiges Verständnis von sozialem NEN) Marktgeschehen. Die EU wird eine High-Level Group einrichten, die Herzlichen Dank. sich mit Marktmodellen, aber auch mit Ideen zu Risiko- (Beifall bei der CDU/CSU) management und Sicherungsfonds befasst. Dort bestehen keine Denkverbote. Jede Idee muss aber wirklich weiter- helfen. Vizepräsident Johannes Singhammer: Der Kollege Friedrich Ostendorff spricht jetzt für Danke, dass Sie sagen: Die Partei hat immer recht. Bündnis 90/Die Grünen. Der alte SED-Slogan würde nicht mehr funktionieren. Ich will aber auch allen Verbänden und allen, die auf die- Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sem Gebiet unterwegs sind, sagen: Es gibt keinen, der NEN): immer recht hat. Deswegen bin ich bereit, darüber zu Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Schönen reden. Aber jeder muss schon den Nachweis erbringen, Dank zurück an Kirsten Tackmann für die geleistete ge- dass seine Idee auch wirklich greift. meinsame Arbeit. Ja, es war gut, dass wir das auf die Rei- (Beifall bei der CDU/CSU) se gebracht haben. Wir haben gerade eindrücklich erlebt, 12650 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015

Friedrich Ostendorff (A) warum es gut war, dass wir unsererseits ein deutliches Bemühungen, die sehr erfolgversprechend sind. Sicher, (C) Signal an unsere Milchviehbetriebe gesendet haben. es bleiben ja noch so demokratische Freunde – für die CSU ist das wahrscheinlich nicht so schwierig – wie Sau- Herr Minister Schmidt, Sie und viele aus Ihren Reihen di-Arabien, Iran und Ägypten. Der Absatz unserer Butter haben uns Milchbauern noch vor einem halben Jahr das dort hat sich tatsächlich etwas gesteigert; das ist richtig. Blaue vom Himmel versprochen: Die Zukunft liegt im Aber meinen Sie wirklich, unseren Milchviehbetrieben Export, die Zukunft liegt auf dem Weltmarkt, die lang- fristigen Aussichten sind bestens, die Welt wartet auf un- verkaufen zu können, dass dies der sichere Hafen der sere Milch, sie braucht unsere Milch. – Mit der Realität Zukunft ist, auf dem man Existenzen gründen kann, auf hat das nichts, aber auch gar nichts zu tun. dem man die Zukunft aufbauen kann? Diese Heilsver- sprechen glaubt Ihnen keiner mehr. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Das mag bei Kees de Vries nicht angekommen sein. Er hat vieles versprochen, zum Beispiel 32 Cent für die Wie sonst, Herr Minister Schmidt, sind die anhalten- Milch. Wer bei dem Preis nicht wirtschaften könne, sol- den Proteste zu erklären, zu denen es kommt, wann im- le Beamter werden. Solche Dinge hörten wir von ihm. mer Sie irgendwo im Land auftauchen? Diese Proteste Gut, das hat sich alles als Märchenstunde erwiesen. Die entstehen, egal wo Sie hinfahren, ob nach Brüssel, nach Realität ist leider hart. Sie von der Union, oftmals auch Fulda, nach München oder am vergangenen Samstag zur vom Bauernverband, haben durch Ihr ständiges Wachs- Anuga in Köln. Die Milchbauern und ‑bäuerinnen be- tumsmantra die Milchviehbetriebe bis an den Rand des zeugen ihre Wut. Sie sind vor Ort. Sie kämpfen gegen Abgrunds geführt. Gewachsen sind in den letzten Jahren Ihre Politik. Das hat zumindest immerhin dazu geführt, doch nur die Milchpulvertürme der Exportmolkereien, wie wir heute hörten, dass Ihr Personenschutz deutlich geförderte Milchpulvertürme, die uns heute gehörig um verstärkt worden ist. Man hat Angst vor den wild gewor- die Ohren fliegen. denen Milchbauern. Milchpulver als deutsches Premiumprodukt für die Ihre heilige Dreifaltigkeit aus Union, Bauernverband Versorgung der Welt, demnächst dann auch noch über und Agrarindustrie hat ausgedient, Herr Minister. Syrien abgeworfen – Sie können nicht verhehlen, dass (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Sie sehr lange im Verteidigungsbereich waren; ich hoffe, dass wir dann ein Transportflugzeug haben, das das alles Bis heute haben Sie nämlich keinerlei Vorschläge zur leisten kann –, Milchpulver als bestmögliche Wertschöp- Lösung der Probleme vorgelegt. Warum haben Sie denn fung für unsere Betriebe, das ist doch völlig absurd, Herr auf den Bericht des Bundeskartellamtes zur Situation auf (B) Minister. dem Milchmarkt nicht reagiert? Jetzt wollen Sie darüber (D) sprechen. 2012 war es an der Zeit, über die Machtlosig- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN keit der Milcherzeuger zu reden. Ja, Sie vertreten natür- sowie bei Abgeordneten der LINKEN) lich einseitig nur die Interessen der Molkereien. Diese Botschaft glaubt Ihnen, Herr Minister, doch drau- Überproduktion muss eingedämmt werden; das ist die ßen kein Mensch mehr. Für 25 Cent kann kein Betrieb Aufgabe der Stunde, nichts anderes. melken, keiner in Deutschland, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Wir haben zu viel Milch. Der Milchüberschuss in der vor allem nicht die Betriebe, die Sie so hoch gelobt ha- Welt beträgt 10 Millionen Tonnen; das kann jeder nach- ben, die Wachstumsbetriebe, die resilient und für die Zu- lesen. Genau seit 2010 werden in Europa 10 Millionen kunft gut aufgestellt seien. So waren Ihre Worte. Gerade Tonnen mehr erzeugt. Jeder kann doch erklären, dass das diese Betriebe hat es ganz heftig erwischt. eindeutig zu viel ist. Die Anzahl der Milchbetriebe ist in den letzten zehn Ihre Politik führt dazu, dass insbesondere die Wachs- Jahren um ein Drittel gesunken und hat in den letzten tumsbetriebe schließen müssen. Wir stehen vor einem sechs Monaten vor dem Wegfall der Milchquote um Strukturbruch mit volkswirtschaftlichen Verlusten in 2,2 Prozent auf unter 75 000 abgenommen. Das, meine Milliardenhöhe. Da helfen keine freiwilligen Verbind- Damen und Herren von der Union, das, Herr Agrarmi- lichkeiten, Herr Minister, die Sie ja so gerne jeden Tag, nister Schmidt, ist der Erfolg Ihrer Politik. Wo ist denn, fast jede Stunde verkünden. Besonders schlimm: Die Herr Minister Schmidt, die versprochene rosige Zukunft Milch wandert aus den benachteiligten Grünlandgebieten für die Milchviehbetriebe? Wo sind denn die Zukunfts- ab, wo sie hingehört; dort hat sie oft eine hohe Bedeutung märkte, die Sie versprochen haben? Chinas Importe an für die Erhaltung der Arten. Wir brauchen endlich ein Milchpulver sind von Januar bis Mai dieses Jahres um Krisenmanagement, das die Menge an den europäischen 54 Prozent im Vergleich zum Vorjahr eingebrochen. Ich Bedarf anpasst. sehe da keine großen Märkte. Sie müssen mir erklären, wie das als Zukunftsabsatzmarkt deklariert werden kann. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Allein Indien hat in den letzten fünf Jahren – auch das muss man zur Kenntnis nehmen – seine Erzeugung um Meine Damen und Herren, der Milchmarkt kann nur 25 Prozent gesteigert. Auch da gibt es inzwischen eigene mit einer nachfrageorientierten Produktion funktionie- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 12651

Friedrich Ostendorff (A) ren. Herr Minister Schmidt, wir fordern Sie zum x‑ten Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C) Mal auf – diesmal beide Fraktionen der Opposition ge- NEN): meinsam –: Folgen Sie doch endlich den Empfehlungen Wie Sie wissen, Kollege Holzenkamp, bewegen wir der Länderagrarministerkonferenz. Setzen Sie sich end- uns europäisch. Die Befürchtung, dass dann sofort von lich für ein Krisenmanagement, für eine flexible Ange- außerhalb Europas Milchmengen in die Europäische botsregulierung, national und europäisch, ein. Union fließen, die unsere Freigaben besetzen würden, habe ich nicht. Das mag uns unterscheiden. Sie mögen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dann bitte erklären, was Sie erwarten, wann Indien den und bei der LINKEN) Markt hier überschwemmt. Ich glaube, in Indien ist im Nutzen Sie die Möglichkeiten für eine Marktregulierung, Moment noch Luft für die eigene Versorgung. Auch der indem Sie die Auszahlung konditioniert an eine Men- chinesische Milchbauer wird noch nicht in der Lage sein, genreduzierung binden. Stärken Sie die Marktmacht der den Gang nach Bayern anzutreten. Ich sehe diese Gefahr Milcherzeuger durch die Abschaffung der Andienungs- nicht. pflicht – Europa ist in der Lage, die Milchmenge mit seiner Stärke nachfrageorientiert zu regulieren, wie ich es ge- Vizepräsident Johannes Singhammer: sagt habe. Das ist die Lösung; anders wird es nicht gehen. Herr Kollege Ostendorff, gestatten Sie noch eine Zwi- Sie sehen es doch an den Zahlen: 730 Millionen Ton- schenfrage? nen Erzeugung in der Welt, 720 Millionen Tonnen Ver- brauch. Seit 2010 – ich habe es gesagt – gab es eine Stei- Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gerung um 10 Millionen Tonnen, und zwar in Europa. NEN): Sonst hat niemand gesteigert, auch die USA kaum. Die- – lassen Sie mich diesen Gedanken gerade noch zu Ende se 10 Millionen Tonnen, die Europa seit 2010 zugelegt bringen, dann gerne –, durch Verbesserungen im Wett- hat – auch Deutschland hat leider erheblich zugelegt –, bewerbsrecht und eine Stärkung der Erzeugerbündelung. machen jetzt den Preis kaputt. Helfen Sie den Milchviehbetrieben, die auf Grünland, oft (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- in benachteiligten Regionen, produzieren. SES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Darauf mögen Sie dann bitte noch eine Antwort geben. SES 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Das können wir hier leider nicht machen, das müssen wir Herbert Behrens [DIE LINKE]) gleich bilateral klären. (B) Milchbäuerinnen und Milchbauern haben nicht mehr (D) die Zeit, darauf zu warten, dass dieser Minister endlich Vizepräsident Johannes Singhammer: einen Weg findet, ohne Gesichtsverlust zur Vernunft zu Nächster Redner ist der Kollege Dr. Wilhelm kommen. Vielleicht will der Minister es aber auch gar Priesmeier für die SPD. nicht. (Beifall bei der SPD) Jetzt bitte Ihre Zwischenfrage. Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD): Vizepräsident Johannes Singhammer: Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her- Jetzt erteilt der Präsident dem Kollegen Franz-Josef ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn man so zu- Holzenkamp das Wort zu einer Zwischenfrage. hört, dann glaubt man, Friedrich Ostendorff und die Kol- legin Tackmann haben den Stein der Weisen gefunden, wie man zu einer neuen Marktwirtschaft kommt. Franz-Josef Holzenkamp (CDU/CSU): Herr Präsident, ich habe auch bewusst so lange ge- Eins ist doch klar: Wenn wir mit den Beschlüssen von wartet, bis Sie mir das Wort erteilen. – Herr Kollege 2003 – unter Rot-Grün von Renate Künast in Luxemburg Ostendorff, ich möchte zunächst bemerken, dass wir – in hervorragender Weise durchgesetzt – ernst machen, ich glaube, da sind wir uns alle einig; das wissen wir dann bedeutet das, dass wir am Ende die Interventions- auch von unserer gemeinsamen Ausschussarbeit – uns politik abgeschafft, den Interventionspreis gesenkt, die alle um die Milchviehbetriebe wirklich sorgen und dass Exporterstattungen gestrichen und uns damit dem Welt- wir alle um richtige, um bessere Wege für die landwirt- markt geöffnet haben. Das bietet Chancen, das bietet na- schaftlichen Betriebe streiten. Im Übrigen geht es den türlich auch Risiken. Schweinehaltern, insbesondere den Sauenhaltern, schon Mit dem alten System haben wir die Betriebe nicht seit längerer Zeit nicht viel besser. stabilisiert; die Zahl der Betriebe ist kontinuierlich zu- Aber ich möchte die Frage stellen: Wie wollen Sie die rückgegangen. Zu Recht weist der grüne Antrag darauf Außengrenzen absichern? Denn das muss ja Vorausset- hin, dass seit 1999 die Hälfte der Betriebe aufgegeben zung sein, um innerhalb von Europa ein eigenes, unab- hat. Das ist zu Zeiten passiert, als wir noch einen regu- hängiges, hohes Preisniveau zu halten. Wie wollen Sie lierten Markt hatten. Die Quote hat das nicht verhindern die Außengrenzen sichern, und wer soll das dann eventu- können. ell bezahlen? Wer soll die Kosten für die Kompensation In den letzten Jahren haben wir zumindest durch Ver- tragen? änderungen des Agrarsystems im Hinblick auf die Ge- 12652 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015

Dr. Wilhelm Priesmeier (A) meinsame Agrarpolitik und das Zahlungssystem dafür len kann, was Sie als Finanzierung anbieten. Das wird (C) gesorgt, dass die Landwirtschaft in Europa erheblich wesentlich darüber hinausgehen. Das wird dann natürlich wettbewerbsfähiger geworden ist. Man sollte sich nicht auch die sonstigen Zahlungen, die wir in dem Bereich einfach von dem verabschieden, was man einmal mitbe- noch haben, in ganz erheblichem Umfang belasten. So schlossen hat. Dazu sollte man stehen, und dazu stehe ich einfach ist die Rechnung nicht. zumindest in der vollen Verantwortung. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU) Das, was Sie auf der einen Seite nehmen, können Sie Als Kassandra braucht man hier nicht aufzutreten. Der dann auf der anderen Seite – linke Tasche/rechte Ta- eigentliche Akteur im Milchpulvermarkt ist Neuseeland. sche – wieder ausgeben. So kann man das machen. Sie Nicht nur die Europäer haben ihre Produktion drastisch wollen eine Abgabe für Erzeuger einführen, die ihre Pro- erhöht, sondern die Neuseeländer haben das Gleiche duktion um mehr als 5 Prozent erhöhen. Warum gerade getan. Wir finden uns jetzt in einer Situation wieder, 5 Prozent? Warum nicht 3,8 oder 4,9? Dafür liefern Sie in der wir in der Tat eine Überproduktion haben. Aber keinen überzeugenden Beleg. welches Instrument ist denn besser geeignet als Ange- bot und Nachfrage mit dem daraus resultierenden Preis, (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- um solche Krisen zu bewältigen? Bisher kann ich nicht NEN]: Warum wollen Sie 69 und nicht 70 Mil- erkennen, dass da jemand wirklich den Stein der Wei- lionen Liquiditätsbeihilfe?) sen gefunden hat. Wenn ich an alte Zeiten zurückdenke: Die durchschnittlichen Erzeugungskosten sollen der Schon der zentral gelenkten Planwirtschaft war kein Er- Maßstab für den unteren Preis sein. – Wo sind denn die folg beschieden. durchschnittlichen Erzeugungskosten in Irland, in Est- (Beifall bei der CDU/CSU – Franz-Josef land, in Italien, in Griechenland? Überall sind unter- Holzenkamp [CDU/CSU]: Bravo!) schiedliche Bedingungen im Markt. Überall sind unter- schiedliche Kostensituationen. Das, was wir hier in Ansätzen sehen, ist so etwas Ähn- liches. (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 15 Cent Milchpreis in Estland! Meine Damen und Herren, diese Denkweise kann ich Estland hat den niedrigsten Milchpreis in Eu- nicht mehr nachvollziehen. Das hat den europäischen ropa!) Steuerzahler sehr viel Geld gekostet, nicht zur Stabili- sierung beigetragen und auch nicht für wettbewerbs- und In dieser Situation kann man das in einem gemeinsamen zukunftsfähige Betriebe gesorgt. europäischen Markt überhaupt nicht definieren. Der An- (B) satz, den Sie fahren, ist ökonomisch nicht tragfähig. Das (D) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – müssen Sie, finde ich, einmal offen eingestehen. Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo kommen die Liquiditätshilfen Private Lagerhaltung halte ich nicht für das Mittel der her, Wilhelm? Aus Steuergeldern!) Wahl. Das dient den Lagerhaltern, aber nicht den Land- – Die Liquiditätshilfen kommen aus den Steuergeldern, wirten. Die Anhebung des Interventionspreises – vielen zum Teil natürlich auch aus den Zahlungen, die durch die Dank, dass Sie das abgewehrt haben – ist auch kein taug- „Superabgabe“ nach Brüssel abgeflossen sind. liches Mittel, genauso wenig wie der Versuch einer flexi- blen Mengensteuerung. Das ist purer Dirigismus, blanke (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE Bürokratie. GRÜNEN]: Die wird es die nächsten Jahre nicht geben!) Bürokratie – das haben wir eben schon gehört – funk- tioniert im Agrarbereich nicht besonders gut. Man ist Das heißt, die kommen aus dem Sektor unmittelbar. noch nicht einmal in der Lage, die Direktzahlungen vor- Das Vertrauen der deutschen Landwirte, glaube ich, zeitig auszuzahlen. verliert man durch eine offene und geradlinige Politik Liquiditätshilfen für an sich gut aufgestellte Betriebe nicht; ich setze darauf. Wenn wir zurückschauen, dann in so einer Krisensituation, das kann ich durchaus nach- können wir erkennen, dass wir in den vergangenen Jahr- vollziehen. Das ist ein überschaubarer Bereich. Das kann zehnten viele Milliarden für nichts ausgegeben haben. man politisch vertreten – das haben wir in anderen Berei- Was jetzt auf dem Tisch liegt, ist ein Konzept, original chen auch –, aber nur für die Betriebe, die in einer ent- übernommen vom BDM. Insofern, glaube ich, sitzt hier sprechenden Situation sind. So etwas kann man natürlich die parlamentarische Speerspitze dieses Verbandes. nicht dauerhaft darstellen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Kontrollen und Überwachungsinstrumente – das wäre ordneten der SPD) ja Ihre Strategie – müssten erst aufgebaut werden. Sank- Ob man sich wirklich dazu machen sollte, ist für mich tionen müssten durchgesetzt werden. Überall wäre staat- die Frage; ich glaube, eher nicht. Eigene Ideen dazu, wie liches Handeln gefragt. Ich sage eines voraus: Bis das man das Ganze angeht, habe ich heute nicht gehört. Instrumentarium umgesetzt wäre, würde niemand mehr über diese Krise reden. Sie fordern Bonuszahlungen für Betriebe, die ihre Produktion kurzfristig drosseln. Da muss man natürlich (Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Dann sehen, dass man das nicht unbedingt nur aus dem bezah- kommt die nächste Krise!) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 12653

Dr. Wilhelm Priesmeier (A) Ich erinnere mich noch an 2009. Was war unmittel- Ich hoffe einmal, dass wir in einem halben oder Drei- (C) bar danach? Da haben wir eine Kuhschwanzprämie be- vierteljahr über die derzeitige Krise in der jetzigen Form schlossen. Die haben wir ein Jahr später ausbezahlt; da nicht mehr reden werden. war der Preis schon wieder oben. Das sind Instrumente, Vielen Dank. die untauglich sind. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- der CDU/CSU) ordneten der SPD) Ich habe das feste Vertrauen in die deutsche Agrar- Vizepräsidentin Claudia Roth: wirtschaft, in die Landwirtschaft, in die Milchviehhalter Vielen Dank, Herr Kollege. – Einen schönen Nach- und in die Milchbauern, dass sie auch diese Krise über- mittag von meiner Seite Ihnen und den Gästen oben! winden werden; denn die Krise ist endlich. Der nächste Redner ist Kees de Vries für die CDU/ (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- CSU-Fraktion. NEN]: Die Krise ist nicht endlich!) (Beifall bei der CDU/CSU) Am Horizont scheint sich eine gewisse Entspannung ab- zuzeichnen. Das kann man nicht einfach negieren. Der Kees de Vries (CDU/CSU): Milchpulverpreis in Neuseeland – Neuseeland ist der Frau Präsidentin! Liebe Zuschauer auf den Tribünen! Pulverexporteur – ist auf den Terminmärkten schon um Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Milch 60 Prozent gestiegen. Das lässt den Rückschluss zu, dass mal wieder. Zwei Anträge werden abschließend beraten, wir die Talsohle zumindest durchschritten haben und es nämlich von den Grünen und von unserer Koalition. Die- vielleicht schon in allernächster Zeit wieder nach oben se Anträge basieren auf dem Milchquotenende am 1. Ap- geht. ril dieses Jahres. Ein weiterer Antrag stammt nun von den Grünen, die extra dazu die Linken mit ins Boot geholt Wenn wir etwas Gutes tun wollen, dann sollten wir haben, uns Gedanken darüber machen, wie wir im Binnenmarkt Wettbewerbsfähigkeit und Marktfähigkeit besser dar- (Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Ei- stellen können, wie wir Situationen, in denen es Nach- gentlich andersherum! Aber egal!) frageoligopole gibt, angehen können. Vielleicht sollten der aber wirklich nichts Neues bringt. wir Andienungsverpflichtungen und solche Dinge in be- stimmten Regionen begrenzen, um da dem Erzeuger eine (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE (B) (D) bessere Marktposition zu geben. GRÜNEN]: Wir begegnen uns auf Augenhö- he!) Es gibt auch andere Hinweise. Indem man regionali- – Nein, so lang bist du nicht. sierte Produkte auf den Markt bringt, erzeugt man einen höheren Mehrwert und kann auch mehr vom Verbraucher (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU) erwarten. Man schaue sich nur den Biobereich an! Da Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen von Grü- funktioniert der Markt. Also kann das mit dem Markt ja nen und Linken, Sie gießen hier erneut die Vorstellungen nicht so ganz falsch sein. Oder soll es da, wo die Preise des BDM in einen Antrag. Der BDM hat übrigens als Ers- steigen, in irgendeiner Form eine Begrenzung geben? ter – das war im Jahr 1998 – die Abschaffung der Quote Jeder Eingriff in solche Mechanismen bringt letztend- gefordert. Ich habe hier Flugblätter, die zeigen, dass der lich einen Wohlfahrtsverlust mit sich. BDM schon damals festgestellt hat, dass nur eine – ich zitiere – Abschaffung der Quote zu einer „Verbesserung (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) der Wirtschaftlichkeit“ und zur „Nutzung der Chancen Dafür muss ich hinterher die Konsequenzen tragen. Man auf den internationalen Märkten“ führt. kann das auch nicht in Gänze tun; denn im Rahmen der (Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Es gibt europäischen Agrarpolitik ist eine Neuorientierung ange- Leute, die dazulernen! – Gegenruf des Abg. sagt. Es ist, wie ich glaube, nicht zweckdienlich, dass wir Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- dazu übergehen, das bisherige System weiterzuführen. NEN]: Das sieht man in der Union nicht so!) Im Hinblick auf 2017/2020 gibt es eine ganze Reihe – Ja, die suche ich noch. an Handlungsoptionen; diese sollten wir auch wahrneh- Wenn dann jetzt, 15 Jahre später, dieser Wunsch in Er- men, indem wir beispielsweise Geld aus der ersten Säule füllung gegangen ist und alle zusammen feststellen, dass in die zweite packen, es zielgerichtet für die Förderung das auch nicht alle Betriebe retten kann, wird ein frei- von Grünlandstandorten ausgeben und so dafür sorgen, williger Verzicht auf Produktion gefordert. Das war auch dass diese Grünlandstandorte nachhaltig bearbeitet und beim ersten Antrag der Grünen zum Milchquotenende im Sinne des Klimaschutzes erhalten werden können. schon der Fall; aber, lieber Friedrich Ostendorff, durch Klimaschutz, Grünlandregionen und Milchproduktion Wiederholung wird diese Forderung nicht überzeugen- bilden ja letztlich eine Einheit. Die ersten beiden Fakto- der. Das hat im Übrigen auch schon das Johann-Hein- ren sind dabei die Grundlage für unsere Milchprodukti- rich-von-Thünen-Institut festgestellt. Jeder, der sich mit on; das wird auch in Zukunft so sein. dieser Materie auseinandergesetzt hat, weiß schon lange, 12654 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015

Kees de Vries (A) dass es für diese Krise keine Lösung im Sinne der Markt­ dieser freie Markt und die dazu gehörende Volatilität der (C) regulierung gibt. Das war auch so gewollt, als wir uns Preise für kleinere Betriebe so große Probleme bringen, 2003 zur Beendigung der Quotierung bekannt haben. Ich dass dies zu einem verstärkten Strukturwandel führen mache es kurz: Ein freiwilliger Verzicht auf Milchpro- wird – ich gebe zu, auch ich habe davor Angst –, wird duktion, wie Sie es hier wiederum fordern, ist schlicht uns die Zeit lehren. Ganz werden wir den Strukturwandel unrealistisch, ja sogar populistisch. nicht aufhalten können, genauso wenig wie den techni- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- schen Fortschritt. Aber wenn unsere Gesellschaft das als ordneten der SPD) ein Problem sehen wird, dann werden wir uns damit aus- einandersetzen müssen. Bestenfalls können wir versuchen, die Auswirkungen dieser Preiskrise zu mildern. Ich bin der Meinung, dass Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich habe unser Minister Christian Schmidt sich in diesem Fall bis schon gesagt, dass die aktuelle Krise nur der Markt lösen an die Grenzen seiner Möglichkeiten für unsere Milch- kann, indem Angebot und Nachfrage wieder in Balance bauern eingesetzt hat. gebracht werden. Aber genauso fest steht, dass die nächs- te Krise kommt. (Beifall bei der CDU/CSU – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Deshalb (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- braucht er jetzt Personenschutz, oder wie? – NEN]: Schon die nächste Krise! Die eine ist Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE noch nicht zu Ende!) GRÜNEN]: Das muss man den Milchbauern Die für mich spannende Frage ist, ob wir dann wieder noch einmal erklären! Das haben sie nicht diesen Weg gehen oder ob wir in der Lage sind, intel- ganz verstanden!) ligentere Modelle zu finden. Ich bin unserem Minister Maßgeblich durch seinen Einsatz hat EU-Kommissar Schmidt sehr dankbar, dass er auf der vorletzten Agrar- Hogan zugestimmt, dass die Gelder aus der „Superabga- ministerkonferenz gesagt hat, dass es bei der Lösung die- be“ – eigentlich zweckentfremdet – für unsere Milchbau- ser Frage keine „Denkverbote“ geben darf. ern eingesetzt werden. (Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Haupt- Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Krise ist nicht sache Mengenregulierung!) eine Folge des Auslaufens der Quotierung. Ich habe die berechtigte Hoffnung, dass wir in der nächs- (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE ten Zeit ohne Scheuklappen miteinander über die zukünf- GRÜNEN]: Ach, das ist ja erstaunlich!) tige Marktorientierung ins Gespräch kommen werden. (B) Nein, meine Damen und Herren – Frau Tackmann, viel- (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE (D) leicht können Sie auch noch lernen; wir haben diese GRÜNEN]: Nur über Menge dürfen wir nicht Hoffnung –, zwei verführerisch gute Jahre für die Milch- reden! Alles vorher schon mal regeln! – Oliver bauern haben zu einer Produktionssteigerung auch bei Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was uns um mehr als 4 Prozent geführt. ist denn jetzt mit China?) (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE Ich komme zum Schluss. Der Antrag der Grünen ist GRÜNEN]: Ja, das stimmt! – Oliver Krischer einfach nicht realistisch und deshalb abzulehnen. Folge- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist das richtig muss man dem Antrag der Koalition zustimmen. Problem!) Vielen Dank. Das ist zusammen mit dem Nachfragerückgang in China und den Sanktionen wegen der Ukraine-Krise die Ursa- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- che dafür, dass wir eine Überproduktion haben. ordneten der SPD) (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich dachte, China sei die Zukunft! Vizepräsidentin Claudia Roth: Was denn jetzt?) Vielen Dank, Kollege de Vries. – Die letzte Rednerin in der Debatte: Rita Hagl-Kehl für die SPD. – Friedrich, du wirst lernen: Es ist die Zukunft. – Diese Überschussproduktion wird in dem von uns allen gewoll- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ten freien Markt nun einmal zu sinkenden Preisen führen. der CDU/CSU) Jetzt sollten wir nicht in Aktionismus verfallen. Der Sektor wird nicht nur diese Krise überstehen. Der Sektor Rita Hagl-Kehl (SPD): hat eine gute Zukunft. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei uns lernt man schon in der Schule: (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Die Bundesrepublik Deutschland folgt dem Prinzip der NEN]: Der Sektor vielleicht! Aber Zehntau- sozialen Marktwirtschaft. Sozial bedeutet in diesem Zu- sende Milchbauern nicht!) sammenhang, dass man Härten abfängt. Dass man dafür Tatsache ist, dass wir im Durchschnitt der letzten Jahre auch Subventionen verwendet, wissen wir alle. Es ist ja zufriedenstellende oder sogar gute Preise hatten. Trotz- in den letzten Minuten schon darüber gesprochen wor- dem gab es vor und während der Quotierung einen Struk- den. Marktwirtschaft bedeutet, dass Angebot und Nach- turwandel, und diesen werden wir auch weiter haben. Ob frage den Preis regeln. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 12655

Rita Hagl-Kehl (A) Wir haben im Bereich der Milchwirtschaft ein Über- Österreich zum Beispiel, um zu dem Land zurückzukeh- (C) angebot an Milch. ren, das Milch zu uns exportiert, hat mehr als die Hälfte in der zweiten Säule. Dadurch ist es Österreich auch ge- (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE lungen, die Höfe von Bergbauern und die kleinen Struk- GRÜNEN]: Ja!) turen zu erhalten. Gleichzeitig besteht in Deutschland eine Nachfrage nach Biomilch, die wir allein nicht stillen können. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Oliver Krischer [BÜND- (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das müsst ihr denen GRÜNEN]: Auch richtig!) auf der Regierungsbank sagen!) Wir importieren Biomilch aus Österreich und Dänemark. – Genau. Ich wende mich natürlich auch an die Regie- (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE rungsbank, nicht nur an Sie. GRÜNEN]: Überall her, wo wir sie kriegen!) Ich komme zu den Zielen der SPD-Bundestagsfrakti- 30 Prozent des Umsatzes im Biobereich entfallen allein on. Wir wollen die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen auf Milchprodukte und Käse. 3 Prozent der Milchpro- Milchbauern sichern. Wir wollen nachhaltige und tierge- dukte in Deutschland werden aus Biomilch hergestellt. rechte Milchproduktion anstreben. Das schont auch die Der Preis für Biomilch ist in den letzten Monaten gestie- Umwelt. Wir wollen die Wertschöpfung und die Schaf- gen. Wir sind jetzt bei durchschnittlich 47,9 Cent pro Li- fung von Arbeitsplätzen in den ländlichen Regionen för- ter. Ich glaube, dafür kann man auch melken, dern. Genau deswegen müssen wir diesen Strukturwan- del aufhalten. Genau dazu dienen solche Mittel wie die (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE zweite Säule. GRÜNEN]: Sehr gut! Ja!) Herzlichen Dank. um die Begrifflichkeit von vorhin aufzugreifen. Meiner Meinung nach sollten wir uns nicht am Export orientie- (Beifall bei der SPD) ren, sondern an der Deckung der Nachfrage vor Ort. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Vizepräsidentin Claudia Roth: Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]) Vielen Dank, Frau Kollegin Hagl-Kehl. Friedrich, ich habe ein Wort von dir zur Bioproduktion Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird die vermisst. Überweisung der Vorlage auf Drucksache 18/6206 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor- (B) (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE geschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der (D) GRÜNEN]: Ich habe immer nur fünf Minu- Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. ten! Das ist das Problem! Ich könnte darüber auch noch ausführen, wenn du das möchtest! – Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus- Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ses für Ernährung und Landwirtschaft auf Drucksache NEN]: Der Friedrich redet auch 20 Minuten, 18/5601. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a wenn er das darf!) seiner Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache – Gut. – Dieser Bereich bietet ganz viele Chancen für 18/4424 mit dem Titel „Auslaufen der Milchquote – kleinere und mittlere Betriebe. Kleinere und mittlere Be- Wettbewerbsfähigkeit der Milchviehhalter sichern“. Wer triebe sind es auch, die wir durch die regionalen Wirt- stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt schaftskreisläufe fördern müssen. Das heißt, Regional- dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfeh- und Selbstvermarktung müssen gestärkt werden. Der lung ist angenommen mit den Stimmen von CDU/CSU Verbraucher in Deutschland will immer häufiger wissen, und SPD bei Gegenstimmen der Fraktionen Die Linke wo seine Produkte herkommen – auch im Bereich der und Bündnis 90/Die Grünen. Milch. Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ableh- (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen NEN]: Das hat aber nichts mit der Politik der auf Drucksache 18/4330 mit dem Titel „Landwirtschaft Bundesregierung zu tun!) braucht flächendeckende Milchviehhaltung – Bäuerliche – Lassen Sie mich doch bitte einmal ausreden. – Beispie- Milcherzeuger stärken – Milchpreise stabilisieren“. Wer le für solche Regionalprojekte wären Milchtankstellen, stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt Käseproduktion an den Höfen oder Erzeugergemein- dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfeh- schaften. Mit solchen Modellen kann man auch den lung ist angenommen bei Zustimmung von CDU/CSU Strukturwandel aufhalten. und SPD, Ablehnung von Bündnis 90/Die Grünen und einem Kollegen der Linken sowie bei Enthaltung der üb- Genau das ist auch das Ziel der SPD-Fraktion. Deswe- rigen Mitglieder der Linken. gen fordert die SPD‑Fraktion schon seit längerem, dass die zweite Säule auf mindestens 15 Prozent aufgewertet Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf: wird. Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Friedrich gierung eingebrachten Entwurfs eines Vierzehn- Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) ten Gesetzes zur Änderung des Atomgesetzes 12656 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015

Vizepräsidentin Claudia Roth (A) Drucksache 18/5865 Im Rahmen der Strategischen Umweltprüfung des (C) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- Programms bestand für die Öffentlichkeit die Möglich- ses für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsi- keit zur Beteiligung. Wir haben in diesem Programm cherheit (16. Ausschuss) die Kritik an der Option der Erweiterung des Endlagers Schacht Konrad berücksichtigt. In diesem Zusammen- Drucksache 18/6234 hang begrüße ich es, dass sich die Endlagerkommissi- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für on – ohne Verlängerung ihrer gesetzlich vorgesehenen die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei- Arbeitszeit bis Mitte 2016 – auch mit der Planung für nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. die Entsorgung der zurückzuholenden Asse-Abfälle und Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort der der möglicherweise endzulagernden Rückstände aus der Parlamentarischen Staatssekretärin Rita Schwarzelühr- Urananreicherung befassen wird. Sutter für die Bundesregierung. Der Umweltausschuss hat Ergänzungen des Entwurfs (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten empfohlen. Hierbei geht es um Regeln für das Verfahren der CDU/CSU) zur Übermittlung von Abfalldaten und die Erweiterung von Bußgeldtatbeständen. Ich halte die Änderungen für Rita Schwarzelühr-Sutter, Parl. Staatssekretärin bei sinnvoll. Sie gehen auf die Anregungen des Bundesrates der Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz, Bau und zurück und werden auch von der Bundesregierung un- Reaktorsicherheit: terstützt. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich verstehe gar nicht, dass bei so einem inte- Daher kann ich Ihnen insgesamt den Gesetzentwurf ressanten Thema nicht mehr Kolleginnen und Kollegen einschließlich seiner Änderungen zur Annahme empfeh- im Plenarsaal bleiben. len und hoffe auf eine entsprechende Beschlussfassung. (Ulli Nissen [SPD]: Aber wir sind da!) Herzlichen Dank. – Die wichtigsten sind da. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Die sogenannte Entsorgungsrichtlinie ist teilwei- se noch in nationales Recht umzusetzen. Sie dient der Vizepräsidentin Claudia Roth: Schaffung eines europäischen Gemeinschaftsrahmens Vielen Dank, Frau Kollegin Schwarzelühr-Sutter. – für die verantwortungsvolle und sichere Entsorgung ab- Nächste Rednerin: Eva Bulling-Schröter für die Linke. (B) gebrannter Brennelemente und radioaktiver Abfälle. Die (D) Mitgliedstaaten der Europäischen Union sollen geeignete (Beifall bei der LINKEN) innerstaatliche Vorkehrungen treffen, um ein hohes Si- cherheitsniveau bei der Entsorgung abgebrannter Bren- Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): nelemente und radioaktiver Abfälle zu gewährleisten. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das deutsche Recht entsprach schon weitgehend den Auch nach 40 Jahren Atomenergie sind grundsätzliche Vorgaben dieser Richtlinie. Ein erster Schritt zur weite- Fragen einer sicheren und dauerhaften Atommülllage- ren Umsetzung ist durch das Standortauswahlgesetz vom rung nicht geklärt. Regelmäßig wird darüber gestritten, 23. Juli 2013 erfolgt. Ich kann mich noch gut erinnern; wie und wo Atommüll überhaupt gelagert werden kann – das Gesetz wurde am letzten Sitzungstag vor der Som- nicht nur in der Atommüllkommission. Auch der Bericht merpause beschlossen. Mit dem vorliegenden Gesetzent- zum Nationalen Entsorgungsprogramm hat eine hefti- wurf wird die Umsetzung der Richtlinie jetzt abgeschlos- sen. ge Debatte ausgelöst. 70 000 Einsprüche hat es zu dem Berichtsentwurf gegeben. Wir sollen nun hier mit der Mit dem Gesetzentwurf wird die Bundesregierung 14. Novelle des Atomgesetzes sozusagen nachträglich verpflichtet, in Form eines Nationalen Entsorgungspro- eine gesetzliche Grundlage schaffen. gramms darzulegen, wie die Bundesrepublik Deutsch- land beabsichtigt, die nationale Strategie für eine ver- Es ist zunächst gut, dass im Bericht zum Nationalen antwortungsvolle und sichere Entsorgung bestrahlter Entsorgungsprogramm die enorme Menge leicht- und Brennelemente und radioaktiver Abfälle umzusetzen. mittelradioaktiver Abfälle aus Gronau und aus der Asse Das Nationale Entsorgungsprogramm ist künftig regel- thematisiert wird, sodass sich die Atommüllkommission mäßig zu überprüfen und bei Bedarf zu aktualisieren. mit der weiteren Klärung befassen kann. Es wird zumin- Wir haben im Vorgriff auf diese Regelung und vor dem dest vorerst darauf verzichtet, diesen Strahlenmüll in Hintergrund der europäischen Verpflichtung zur Vorlage dem dafür ungeeigneten Schacht Konrad zu verklappen. eines Entsorgungsprogramms bis zum 23. August dieses Damit reagiert die Bundesregierung offenbar auf den Jahres bereits ein Nationales Entsorgungsprogramm er- Protest aus der Region Salzgitter. Gut so! Das Beispiel stellt, das vom Bundeskabinett schon beschlossen und macht aber auch klar: Die Probleme, vor denen wir ste- der EU-Kommission übermittelt wurde. Wir haben da- hen, sind weiterhin gewaltig. mit Transparenz geschaffen und eine belastbare, solide gerechnete und ungeschönte Planung für die Entsorgung Der Bericht wurde dieses Jahr im Sommer fertigge- des Atommülls vorgelegt. stellt, aber erst jetzt kommt eine Atomgesetznovelle, die Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 12657

Eva Bulling-Schröter (A) im Grunde Details des Berichts regeln soll. Umgekehrt – Das ist kein Gerücht. – Das ist nun wieder ein Ablen- (C) wäre es eigentlich besser gewesen. kungsmanöver. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. (Ute Vogt [SPD]: Das ist ein Parlamentsbe- Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- schluss!) NEN]) Denn was wir wirklich brauchen, ist ein öffentlich-recht- Ich hätte mir gewünscht, dass die Novelle strengere An- licher Fonds, der die Rücklagen der Konzerne sichert. forderungen an den Bericht beinhalten würde und zum Darüber diskutieren wir nicht erst seit heute, sondern Beispiel eine problemorientierte Analyse – um festzu- schon länger. stellen, wo die Probleme wirklich liegen – und klare Kri- (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. terien vorsähe. Dann erst hätte der Bericht geschrieben Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- werden sollen. Das wäre eigentlich besser gewesen. NEN]) 70 000 Einwendungen – meine Damen und Herren, Nun wird wieder eine Kommission gebildet – es das ist doch schon ein bisschen peinlich, oder? So, wie werden interessante Namen genannt: ein gewisser Herr der Bericht jetzt ist, stellt er das wahre Ausmaß des Hennenhöfer, uns allen bekannt; da wird wieder einmal Atommülldesasters nicht dar, sondern tut so, als ob alles der Bock zum Gärtner gemacht –, unter Ausschluss der irgendwie lösbar wäre oder gelöst worden ist. Über die Linken, eine Kommission, die nicht demokratisch legiti- tatsächlichen Probleme schweigt sich der Bericht aus. miert wird; auch das haben wir schon öfter gesagt. Das Er verschweigt zum Beispiel die rostigen Atommüllfäs- zeigt wieder nur die Hilflosigkeit der Bundesregierung ser in der Asse. Auch die per Gerichtsbeschluss aufge- angesichts der drängenden Milliardenkosten und Proble- hobene Genehmigung für das Castorzwischenlager am me, die auf uns zukommen. AKW Brunsbüttel­ und die Frage, welche Probleme das für künftige Genehmigungsverfahren macht, werden mit Nun ist das Thema wieder auf dem Tisch. Eigentlich keinem Wort erwähnt. dachte ich, wir wären schon einen Schritt weiter. Aber da habe ich mich wieder einmal getäuscht. Ein letztes Beispiel. Im Bericht ist plötzlich von ei- nem „Eingangslager“ für Castorbehälter mit hochradi- (Beifall bei der LINKEN) oaktiven Abfällen die Rede. Das ist ein neuer Begriff für eine alte Sache. Aber warum braucht man ihn? Wir wis- Vizepräsidentin Claudia Roth: sen: Irgendwann laufen die Genehmigungen für die Zwi- Vielen Dank, Frau Kollegin Bulling-Schröter. – Nächs- schenlager und Ahaus aus. Wie geht es dann ter Redner: Steffen Kanitz für die CDU/CSU-Fraktion. weiter: ein neues Zwischenlager oder die alten mit viel (B) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- (D) mehr Müll? Im Kleingedruckten, ganz versteckt, steht ordneten der SPD) dann: In diesem Eingangslager sollen künftig immerhin 500 Castoren für Jahrzehnte zwischengelagert werden. – Hört! Hört! Ich finde das interessant, nicht nur für die Steffen Kanitz (CDU/CSU): Atommüllkommission, sondern auch für die Betroffenen Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle- vor Ort. Ich frage mich: Warum verstecken Sie diese In- gen! Das Nationale Entsorgungsprogramm, kurz: NaPro, formation? Ich muss Ihnen sagen: Wir, die Linken, halten ist das Herzstück der nuklearen Entsorgungsstrategie in das für vollkommen unakzeptabel. Deutschland. Der letzte vergleichbare Beschluss stammt aus dem Jahre 1979. Ich hoffe, dass dieser heutige Be- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- schluss etwas länger hält als der letzte; mindestens je- neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) doch zehn Legislaturperioden, die wir brauchen werden, Über den Inhalt des Berichts werden wir im Um- um ein Endlager für hochradioaktive Abfallstoffe zu weltausschuss sprechen; wir haben einen entsprechen- finden. Wir wollen es 2050 in Betrieb nehmen. Insofern den Antrag eingebracht. Heute diskutieren wir über die hat der heutige Beschluss historische Qualität. Ich möch- 14. Atomgesetznovelle. Die jetzt von den Regierungs- te mich an dieser Stelle ganz herzlich bedanken beim fraktionen eingereichten Nachbesserungen in Bezug auf BMUB für die geleistete Arbeit und dafür, dass wir heute die Informationspflichten der Betreiber und auf die Buß- diesen Beschluss verabschieden können. Vielen Dank für gelder finden wir richtig; das ist über den Bundesrat ja Ihre Arbeit. auch schon aufgerufen. Aber die Anforderungen an den (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Bericht zum Nationalen Entsorgungsprogramm hätten ordneten der SPD) schärfer und konkreter sein müssen. Damit würden Sie das Berichtswesen verbessern und wirklich umfassend Der Entwurf des Nationalen Entsorgungsprogrammes informieren. Aber weil das nicht so ist, werden wir uns wurde öffentlich diskutiert. Die Einwendungen, die gera- bei der Abstimmung enthalten. de von den Linken zitiert wurden, wurden berücksichtigt. Es gibt – Kollege Lagosky ist ja da – keine Erweiterung Ich muss noch ein Wort zu den Gerüchten sagen, die Konrads durch die Hintertür, was befürchtet wurde. Das uns hier erreichen: Es soll eine neue Kommission geben, stand in der ersten Fassung des Entwurfs nicht drin, aber die sich mit der Finanzierung der Atomlasten beschäfti- es wurde jetzt noch einmal klargestellt. gen soll. Bei der Umsetzung des NaPros werden die Empfeh- (Ute Vogt [SPD]: Das ist kein Gerücht!) lungen der Endlagerkommission eine wichtige Rolle 12658 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015

Steffen Kanitz (A) spielen. Um diese Rolle sachgerecht auszufüllen, muss fälle aus der Asse. Um es mit den Worten des BfS-Prä- (C) die Endlagerkommission stringent und auch pünktlich sidenten König zu sagen: Mit der Frage der Menge und bis Mitte 2016 ihren Arbeitsauftrag abarbeiten. der Verbackung der Abfälle mit Salz werden wir leben müssen, bis die Abfälle geborgen werden. Eine für die Endlagerkommission zentrale Aussage im Nationalen Entsorgungsprogramm ist, dass die radioakti- Schätzungen des BfS gehen davon aus, dass die Rück- ven Abfälle aus der Schachtanlage Asse sowie das ange- holung der Asse-Abfälle frühestens um das Jahr 2030 be- fallene abgereicherte Uran der Firma Urenco bei der Ar- ginnen könnte. Wir alle wissen, dass auch dieser Zeitplan beit mitgedacht werden sollen. Vor diesem Hintergrund ambitioniert ist angesichts der zeitlichen Verzögerungen, gab es in den letzten Wochen eine kontroverse Debatte in die wir insbesondere beim Bau eines neuen Schachtes der Endlagerkommission, aber auch in der Presse darü- sehen. Da auch die Rückholung viele Jahre in Anspruch ber, wie diese Abfallarten berücksichtigt werden sollen. nehmen wird, gehen wir nach einer aktuellen Studie der Ergebnis der Diskussion ist, dass die Endlagerkommis- DMT, die vom BfS in Auftrag gegeben wurde, davon sion die Asse-Abfälle behandeln wird und darlegt, wie aus, dass wir die gesamten Abfälle der Asse nicht vor die Abfälle konditioniert werden müssten, um zusammen dem Jahr 2065 kennen. mit den hochradioaktiven Abfällen entsorgt werden zu Laut Standortauswahlgesetz soll der Standort für ein können. Endlager für insbesondere hochradioaktive, wärmeent- Klar muss aber auch sein, dass der Schwerpunkt der wickelnde Abfälle 2031 gefunden sein, das heißt, min- Kommissionsarbeit auf dem Kriterienkatalog für die destens drei Jahrzehnte früher. Hier zeigt sich sehr deut- Suche nach einem Endlager für hochradioaktive Abfäl- lich: Hochradioaktive Abfälle und Asse-Abfälle können le liegt. Alles andere würde die Problemlösung auf zu- nicht zusammen gedacht werden. Wir planen die Inbe- künftige Generationen verschieben. Ich würde sogar so triebnahme des Endlagers für 2050. Das heißt, 15 Jahre weit gehen, dass es wahrscheinlich den gesamten Pro- nachdem wir das Endlager für hochradioaktive Abfall- zess gefährden würde. Ich möchte gerne anhand einiger stoffe in Betrieb nehmen, wissen wir erst, wie viele As- Fakten erklären, warum ich diese Gefahr für die Zukunft se-Abfälle wir haben. durchaus sehe: Neben dieser zeitlichen Dimension möchte ich auf Wir unterscheiden in Deutschland grundsätzlich zwei eine zweite Herausforderung hinweisen: Hochradioak- Abfallkategorien, zum einen die hochradioaktiven, wär- tive Abfälle und schwach- und mittelradioaktive Abfäl- meentwickelnden Abfälle, die größtenteils aus dem Be- le haben sehr unterschiedliche Anforderungen an das trieb der Kernkraftwerke stammen und etwa 10 Prozent Wirtsgestein: Hochradioaktive Abfälle produzieren Wär- des Abfallvolumens ausmachen, aber eben 99 Prozent me. Den bestmöglichen Einschluss gewährleisten dichte (B) der Radioaktivität – hier liegt also das maßgebliche Ge- Wirtsgesteine wie Tongestein oder Steinsalz. Schwach- (D) fahrenpotenzial und aus meiner Sicht auch unsere große und mittelradioaktive Abfälle produzieren keine Wärme; Verantwortung gegenüber nachfolgenden Generatio- aber aufgrund von Anteilen von Organik und Feuchtig- nen –, und zum anderen die schwach- und mittelradioak- keit bilden sich Gase. Damit diese Gase ohne Druck- tiven Abfälle, die zum großen Teil aus dem Rückbau der aufbau gespeichert werden können, sollte ein poröses Kernkraftwerke, der Forschung und auch der Medizin Wirtsgestein gewählt werden, das von einer dichten geo- stammen. Sie vereinen rund 90 Prozent des Abfallvolu- logischen Barriere umschlossen wird, zum Beispiel ei- mens; sie sind also mit Abstand die größte Menge der ner Tongesteinsschicht. Konrad verfügt über eine solche radioaktiven Abfälle in Deutschland, stehen aber für nur geologische Gesamtsituation. 1 Prozent der Radioaktivität. Das Gefährdungspotenzial In der Endlagerkommission haben uns Fachleute klar- sollte man nicht kleinreden, aber das ist eben ein anderes gemacht, dass diese beiden Abfallarten aufgrund ihrer Niveau als das der hochradioaktiven Abfälle. Eigenschaften nicht unmittelbar zusammen in ein Endla- Für 303 000 Kubikmeter dieser schwach- und mittel- ger verbracht werden können. Insbesondere die Asse-Ab- radioaktiven Abfälle ist bereits ein Endlager gefunden, fälle werden größte Mengen kontaminierten Salzgruß be- das eben schon erwähnte Endlager Schacht Konrad. inhalten, der das Wirtsgestein Ton angreifen würde. Ein Nach den aktuellen Planungen soll die Inbetriebnahme gemeinsames Endlager für beide Abfallarten wäre damit 2022 erfolgen. Um es ganz klar zu sagen: Ohne Konrad faktisch eine Vorfestlegung auf das Wirtsgestein Stein- werden wir keinen Rückbau der Kernkraftwerke hinbe- salz. Eine solche Vorfestlegung haben wir über alle Par- kommen. Deswegen: Konrad muss kommen. Wir wollen teien hinweg, gerade auch in der Endlagerkommission, an dem Zeitplan dringend festhalten. bisher bewusst vermieden. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und ordneten der SPD) der SPD) Nach dem Nationalen Entsorgungsprogramm der Stellen Sie sich vor dem Hintergrund dieser darge- Bundesregierung müssen auch mögliche zukünftige stellten Fakten nun vor, dass wir in der nächsten Legis- schwach- und mittelradioaktive Abfälle durch die Endla- laturperiode – das ist unser gemeinsames Ziel – mit der gerkommission betrachtet werden: die Urantails der Fir- Suche nach einem Endlager für sämtliche Abfallarten be- ma Urenco und die prognostizierten Rückholungsabfälle ginnen würden. Dann bekommen wir ein Endlager, das aus der Asse. Bei beiden Abfallarten ist aber noch nicht die bestmögliche Sicherheit für alle Abfallarten darstellt, klar, in welchen Mengen und in welcher Beschaffenheit sehr wahrscheinlich aber eben nicht die bestmögliche Si- sie vorliegen werden. Das gilt insbesondere für die Ab- cherheit für jede einzelne Abfallart. Dann stellt sich im Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 12659

Steffen Kanitz (A) Rahmen des laufenden Verfahrens möglicherweise he- schließen wollen, behandelt den Atommüll, das Gefähr- (C) raus, dass sich die Rückholung aus der Asse verzögert lichste und Langlebigste, was die Menschheit je produ- oder womöglich unmöglich wird. ziert hat. Der Gesetzentwurf in seinen Buchstaben ist für uns als grüne Fraktion völlig in Ordnung; er ist ja auch Was wird dann passieren? Völlig klar – das wissen wir relativ mager. Wir werden ihm zustimmen. jetzt schon –: Es wird einen Aufschrei derjenigen geben, die kein Endlager in Deutschland wollen. Hätten wir von Die Differenzen liegen eher in dem, was dahintersteht: Anfang an ein reines Endlager für HAW-Abfälle gesucht, im Nationalen Entsorgungsprogramm. Deswegen haben dann wären möglicherweise andere Kriterien angewen- sich auch alle bisherigen Rednerinnen und Redner dar- det und damit auch andere Standorte auf ihre Eignung auf bezogen. Auch ich will das tun und mit Konrad an- hin untersucht worden. Es besteht die Wahrscheinlich- fangen. Ich finde es erfreulich und lobenswert, dass das keit, dass dadurch ein besser geeigneter Standort für die BMUB sehr stark auf die Einwendungen eingegangen ist reinen hochradioaktiven Abfälle übersehen wurde. Die und – das erachte ich auch als einen Ausfluss der Arbeit Erwartung „Bestmögliche Sicherheit für 1 Million Jah- der Endlagerkommission – auch die gesellschaftspoliti- re“ wäre offensichtlich nicht erfüllt. Dann stehen wir schen Implikationen, die ein solches Endlager hat, sehr wieder – es ist ja nicht so, dass uns das nicht auch viele stark in den Vordergrund gerückt hat. Jetzt wird also da- wünschen würden – vor einem Scherbenhaufen, begin- von Abstand genommen, als erste Priorität für die Asse- nen wieder bei null. Ich meine, dass wir genau dies ganz und Urenco-Abfälle, wie es noch im Entwurf des NaPro dringend und um jeden Preis verhindern müssen, liebe stand, die Option Konrad zu sehen. Dass dies in den Hin- Kolleginnen und Kollegen. tergrund gerückt ist, ist gut. (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Aber immer noch ist im Hinblick auf Konrad ein Feh- Ulli Nissen [SPD]) ler zu finden – ich bitte, da nachzuarbeiten –: Im Natio- nalen Entsorgungsprogramm steht, der Stand von Wis- Wir tragen heute Verantwortung und können die Lö- senschaft und Technik sei für Konrad erst bei Ende der sung nicht auf zukünftige Generationen verschieben. Wir Betriebszeit nachzuweisen. Ich glaube, dass man damit haben maßgeblich von der Kernenergie profitiert – ja, das den Menschen im Umfeld von Konrad das Leben mit ist richtig – und haben jetzt die historische Chance, eine dem Endlager noch ein Stück schwerer macht. Der Stand Lösung zu finden. von Wissenschaft und Technik muss zu Beginn der Ein- Wie könnte diese Lösung aussehen? Ich glaube, wir lagerungsphase, also bei Inbetriebnahme von Konrad, brauchen zwei parallele Prozesse: nachgewiesen werden. Das neue Suchverfahren sollte in einem ersten Schritt (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (B) nur ein Endlager für hochradioaktive Abfälle zum Ziel sowie bei Abgeordneten der LINKEN) (D) haben. Hierfür liegen alle Ausgangsparameter, die benö- Herr Kanitz hat sehr deutlich ausgeführt – Sie hatten tigt werden – Abfallmenge, Radionuklidinventar –, vor, ja auch ein bisschen mehr Redezeit als ich –, sodass wir die Suchkriterien verbindlich festlegen kön- nen. Wenn wir von Transparenz und Glaubwürdigkeit (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist auch gut des Verfahrens sprechen, dann ist die verbindliche Fest- so!) legung der Kriterien vor Beginn des Verfahrens absolut welche Aufgaben das NaPro uns in der Endlagerkom- wichtig. mission stellt; deswegen will ich darauf nur relativ kurz Wir sollten parallel dazu für die schwach- und mit- eingehen. telradioaktiven Abfälle alle notwendigen Grundlagen Frau Schwarzelühr-Sutter, für uns in der Endlagerkom- erarbeiten. Nur: Wie gerade ausgeführt, werden wir Ge- mission ist klar: Ja, wir geben gemäß dem Zeitplan – so wissheit über sämtliche Parameter wahrscheinlich erst in haben wir es zumindest vor – einen Bericht ab. Das wird 50 Jahren haben. Insofern meine herzliche Bitte: Lassen aber nicht, wie ursprünglich gedacht, ein wirklicher, voll- Sie uns nicht wegen 1 Prozent der Radioaktivität das ge- kommener Abschluss- bzw. Endbericht sein, in dem wir samte Suchverfahren für Jahrzehnte unterbrechen. Auch alles darlegen, wie man das Verfahren zur Endlagersuche das gehört zur Glaubwürdigkeit dazu. Ich bitte alle Be- starten kann, sondern er wird bewusst „Bericht“ heißen, teiligten, sich diese Zusammenhänge klarzumachen und und es werden auch offene Fragen thematisiert. Die Fra- uns hier zu unterstützen. ge, ob und gegebenenfalls unter welchen Bedingungen Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. die Abfälle aus der Asse und von Urenco an demselben Standort eingelagert werden können – in zwei Endlager, (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) die auf irgendeine Weise miteinander verbunden sind –, werden wir nicht beantworten können, sondern diese Vizepräsidentin Claudia Roth: Frage wird ein Nachfolgegremium beantworten müssen. Vielen Dank, Steffen Kanitz. – Nächste Rednerin in Ein großer Fehler in dem NaPro ist auch die Rege- der Debatte ist Sylvia Kotting-Uhl für Bündnis 90/Die lung – Frau Bulling-Schröter hat es schon benannt – zum Grünen. Eingangslager. Ich halte es für völlig untragbar, festzu- legen, dass ein Eingangslager nach der Benennung des Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Standortes durch die Behörde und anschließendem Be- Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und schluss des Bundestages errichtet wird. Das wäre in der Kollegen! Die Atomgesetznovelle, die wir heute be- Tat ein Rückfall zum Prinzip „Gorleben“. 12660 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015

Sylvia Kotting-Uhl (A) Nach der Genehmigung des Standortes kann das Ein- Vizepräsidentin Claudia Roth: (C) gangslager gebaut und in Betrieb genommen werden, Vielen Dank, Frau Kollegin Kotting-Uhl. – Nächste nicht vorher. Ich bitte wirklich inständig: Lassen Sie uns Rednerin: Hiltrud Lotze für die SPD. einen solch absolut gravierenden Fehler nicht machen. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Steffen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Kanitz [CDU/CSU]) und bei der LINKEN sowie der Abg. Ute Vogt [SPD]) Hiltrud Lotze (SPD): Weil das zurzeit sehr stark diskutiert wird, will ich Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! auch noch kurz etwas zum Nachhaftungsgesetz sagen – Meine sehr verehrten Damen und Herren auf den Besu- auch deshalb, weil Sie sich, Herr Kanitz, in Ihrer Rede chertribünen! Unser Debattenthema heute ist die 14. No- zur ersten Lesung dieser Atomgesetznovelle, die Sie ja velle des Atomgesetzes, aber eigentlich – das haben wir zu Protokoll gegeben haben, wie wir alle, sehr stark mit hier jetzt eben schon gehört – reden wir über das Natio- nale Entsorgungsprogramm, das NaPro. der Finanzierung befasst haben. Zu dem Nachhaftungs- gesetz, das Sie für überflüssig erachtet haben, haben Sie Kernpunkte der Novelle sind der Auftrag und die Kri- gesagt, Sie hielten das für einen Startschuss zur Deindus- terien für ein Nationales Entsorgungsprogramm, wel- trialisierung unseres Landes. ches die Bundesregierung – das hat die Parlamentarische Staatssekretärin vorhin gesagt – ja bereits erstellt hat. Im (Lachen des Abg. Oliver Krischer [BÜND- NaPro wird nicht nur erstmals – und das breit angelegt, NIS 90/DIE GRÜNEN]) offen, ehrlich und umfassend – der Atommüll bilanziert, Ich zitiere Sie jetzt: sondern auch ein Konzept dafür entworfen, welcher Atommüll wo gelagert werden soll. Eine zeitlich und inhaltlich unbegrenzte Haftung kann nicht verhältnismäßig sein und entfaltet eine Ab unter die Erde und dann Schwamm drüber: Das gefährliche Signalwirkung für andere, risikobehaf- war – so flapsig könnte man es vielleicht sagen – lan- tete Branchen. Heute wollen Sie ein Einzelfallge- ge Zeit die gängige Entsorgungsphilosophie, mit fatalen setz für die Energieversorgungsunternehmen, und Folgen, wie wir bei der Asse erkennen mussten. Bei der morgen diskutieren wir über weitere Branchen mit Asse, in Gorleben und beim Schacht Konrad wurde auch klar, dass es nicht ohne die Beteiligung der Öffentlichkeit langfristigen Risiken ... geht. (Steffen Kanitz [CDU/CSU]: Genau!) (Beifall der Abg. Ulli Nissen [SPD]) (B) Herr Kanitz, weil Ihre Ausführungen ansonsten dar- (D) Diese Erkenntnis wurde mit dem Standortauswahl- auf schließen lassen, habe ich bisher gedacht, Sie hät- gesetz vom Juli 2013 und der Einsetzung der Endlager- ten erkannt, dass der Atommüll wirklich ganz singulär kommission aufgegriffen. Damit wurde auch schon der langfristige Risiken aufweist und wirklich mit nichts, Richtlinie entsprochen. Endlich sollte ein Verfahren ge- aber auch gar nichts und keiner anderen Branche in der funden werden, das die Öffentlichkeit, die Bevölkerung, Wirtschaft zu vergleichen ist und es von daher absolut miteinbezieht und bei ihr möglichst breite Akzeptanz gerechtfertigt ist, sich extra für diesen Bereich Gesetze findet, damit es nicht so wie bei Gorleben abläuft, wo zu überlegen. Ein solches Gesetz ist zum Beispiel das der Standort aus zweifelhaften politischen Erwägungen Nachhaftungsgesetz. willkürlich bestimmt wurde. (Steffen Kanitz [CDU/CSU]: Verfassungs- (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Sylvia recht!) Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Dieses Gesetz ist richtig; wir brauchen es dringend. Das Die Kommission ist also dabei, ein Suchverfahren zu ist ein guter erster Schritt. entwickeln, insbesondere für hochradioaktiven Müll. Je länger die Kommission tagt, desto deutlicher wird die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Dimension der Herausforderungen, die in dem Auftrag Sie haben des Weiteren gesagt: liegen. Das macht das Nationale Entsorgungsprogramm deutlich: Wir haben nicht nur ein ungelöstes Problem mit Das Nachhaftungsgesetz geht von der verfassungs- dem hochradioaktiven, sondern auch mit dem mittel- und rechtlich unzutreffenden Prämisse aus, die EVU schwachradioaktiven Müll. hätten alles zu bezahlen, was der Staat für gesell- schaftspolitisch wünschenswert hält. Es ist hier schon angeklungen: Was passiert mit den Asse-Abfällen und was mit den sogenannten Uran-Tails Nein, das haben die EVU nicht, aber die Entsorgung und aus Gronau? Das NaPro – auch das wurde schon ange- die sichere Verwahrung des Atommülls, den sie selbst sprochen – favorisiert nun die Suche nach einem Endla- produziert haben, haben sie in der Tat zu bezahlen. ger, das alle Arten des Atommülls, hochradioaktiv sowie Vielen Dank. mittel- und schwachradioaktiv, aufnehmen kann. Dies geschieht aus einem sehr guten Grund: Die Bedenken der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Bevölkerung gegen Schacht Konrad wurden gehört und sowie der Abg. Ute Vogt [SPD] und Eva ernst genommen. Das ist ein entscheidender Schritt in die Bulling-Schröter [DIE LINKE]) richtige Richtung. Als Abgeordnete, in deren Wahlkreis Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 12661

Hiltrud Lotze (A) Gorleben liegt, kann ich ein solches Vorgehen nur aus- eine gewaltige Aufgabe zu bewältigen haben. Unser Ziel (C) drücklich begrüßen. ist es, eine sichere Endlagerung für den atomaren Abfall zu finden. Ja, wir bemühen uns jetzt schon fast ein hal- (Beifall der Abg. Ulli Nissen [SPD]) bes Jahrhundert darum. Weitere 50 Jahre können wir uns Ich muss allerdings an dieser Stelle kritisch anmerken, gerade vor dem Hintergrund des Ausstiegs aus der Kern- dass die seit Jahrzehnten vorgetragenen Bedenken der energie nicht mehr leisten. Menschen aus Lüchow- über lange Zeit lei- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) der keine vergleichbare Folgewirkung hatten. Daher freut es mich, dass wir die 14. Novelle des Eine Suche nach einem Kombilager würde alle Vor- Atomgesetzes parlamentarisch nun so zügig behandeln. aussetzungen radikal verändern. Wir reden dann vom Dafür natürlich herzlichen Dank an das Bundesumwelt- zehnfachen Volumen und bei den Asse-Abfällen über ministerium. Wir schaffen hiermit den Rechtsrahmen für mögliche chemische Reaktionen, Prozesse und Auswir- das Nationale Entsorgungsprogramm; das wurde heu- kungen, die wir noch gar nicht kennen. te schon mehrfach angesprochen. Diesem Programm Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Kommission hat kommt die Aufgabe der Erstellung einer strategischen auch in diesem Fall eine, wie ich meine, gute Entschei- Gesamtkonzeption und eines umfassenden Verzeichnis- dung getroffen. Sie wird in dem Bericht, der im Juli 2016 ses aller atomaren Abfallarten in Deutschland zu. übergeben wird, insbesondere die Auswahlkriterien für Wir setzen damit auch Europarecht um. Jetzt sollten hochradioaktive Abfälle darstellen und sich in einem wir zügig weitermachen, um den Zeitplan einzuhalten, weiteren Kapitel mit Empfehlungen für eine Lagerstät- den das Standortauswahlgesetz vorgibt. In der Kom- te beschäftigen, in der auch die Asse-Abfälle eingelagert mission „Lagerung hoch radioaktiver Abfallstoffe“, der werden können. Endlagerkommission, haben wir uns laut gesetzlichem Eines muss aber aus meiner und aus unserer Sicht Rahmen bis zum 30. Juni 2016 Zeit gegeben, um Emp- ganz klar sein: Eine Verengung auf ein wie auch immer fehlungen für Kriterien und Verfahren zur Endlagersuche geartetes Kombilager, bei der es aufgrund des benötigten auszuarbeiten. Diese Zeit müssen wir jetzt sinnvoll nut- Volumens von vornherein nur auf Salz als Wirtsgestein zen, ohne Nebenkriegsschauplätze zu eröffnen, was ich und damit auf Gorleben als einzig möglichen Standort vor allem an die Kollegen der Grünen richte. hinausläuft, ist nicht akzeptabel. Das widerspräche auch (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/ den Zielen und dem Grundgedanken des Standortaus- DIE GRÜNEN]: Was?) wahlgesetzes. Mit der Beschlussempfehlung für eine Neuordnung (B) (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie der der Behördenstruktur zur nuklearen Entsorgung haben (D) Abg. Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE wir in der Endlagerkommission bereits einen zentralen GRÜNEN]) Eckpunkt für den Abschlussbericht gesetzt. Allerdings Auch Akzeptanz wäre so nicht zu erreichen. So wie ich ist es nach wie vor meine Meinung, dass Regulierung die Arbeit in der Kommission verfolge, ist das überhaupt und Betrieb der Endlagerung strikt getrennt durch un- nicht zu erwarten; da bin ich ganz sicher. Ich will das als terschiedliche Behörden erfolgen sollten und damit die Abgeordnete mit Gorleben im Wahlkreis hier nur noch Aufsicht durch verschiedene Bundesbehörden durchge- führt wird. einmal deutlich sagen, und das ist natürlich auch die Er- wartung der Menschen in meiner Region. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Liebe Kolleginnen und Kollegen, deswegen ist es Dies ist nicht nur im Sinne der EU-Vorgaben, sondern richtig, dass das Nationale Entsorgungsprogramm ex- entspricht auch meinem Verständnis einer effektiven plizit unter Vorbehalt der Ergebnisse der Endlagerkom- Kontrolle. mission steht und nicht umgekehrt, wie die Linken es Auch sollten wir uns in der Kommissionsarbeit bei der fordern. Aus all den hier genannten Gründen können wir inhaltlichen Befassung mit dem Thema Rechtsschutz gut der 14. Novelle des Atomgesetzes in der Fassung der Be- überlegen, in welchem Umfang und bis zu welchem Sta- schlussvorlage mit gutem Gewissen zustimmen. dium wir bei der Endlagererkundung Rechtsschutz emp- Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. fehlen. Bundestag und Bundesrat müssen aber Letztent- scheidungsrecht in dieser Frage behalten. Es darf nicht (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten sein, dass sich die Endlagerung nach einer Entscheidung der CDU/CSU) durch den Gesetzgeber durch vielfältige Klagemöglich- keiten und Gerichtsverfahren wiederum um Jahre oder Vizepräsidentin Claudia Roth: gar Jahrzehnte verzögert. Vielen Dank, Kollegin Lotze. – Der letzte Redner in (Beifall bei der CDU/CSU – Sylvia Kotting- dieser Debatte: Florian Oßner. Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So was (Beifall bei der CDU/CSU) kommt vor!) Das Nationale Entsorgungsprogramm mahnt uns mit Florian Oßner (CDU/CSU): der exakten Auflistung und Prognose aller Abfälle ge- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und rade dazu, termintreu zu sein und eine Endlagerung in Kollegen! Diese Debatte führt uns vor Augen, dass wir einem vernünftigen Zeithorizont zu realisieren. Der 12662 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015

Florian Oßner (A) Schacht Konrad – er wurde heute schon mehrfach an- ungerecht gegenüber allen anderen möglichen Standor- (C) gesprochen – ermöglicht es uns, voraussichtlich ab 2022 ten in Deutschland. den schwach- und mittelradioaktiven Abfall Schritt für (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE Schritt endzulagern. Den Abschlussbericht sollten wir GRÜNEN]: Tun wir ja auch nicht!) auf die wesentlichen Fragen mit dem Schwerpunkt hoch- radioaktive Abfälle beschränken. Wir müssen ihn nicht Das Nationale Entsorgungsprogramm führt aber nicht mit historischen und ethischen Betrachtungen überladen. nur die Abfälle aus der Kernenergie, sondern auch aus Die Endlagerkommission ist meines Erachtens auch nicht der Kerntechnik und der Medizin auf. Wir sollten bei un- als belehrendes Gremium gedacht, sondern als Empfeh- seren Bemühungen, diesen atomaren Abfall endzulagern, lungs- und Ratgeber für Legislative und Exekutive. nicht den Forschungsstandort Deutschland gefährden. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Deutschland hat internationale Zusagen zur Nichtver- breitung von hochangereichertem Uran gemacht. Dem- Die Bürger verlangen von uns mehrheitlich tragbare nach sind wir aufgefordert, dieses Material, das wir für Lösungsvorschläge für dieses komplexe Problem statt Forschungszwecke benötigen, immer an die Lieferländer akademischer Spiegelgefechte. Mit einem fristgerechten zurückzuführen. Bericht können wir gleichzeitig den vereinbarten Zeit- plan zum Ausstieg aus der Kernenergie einhalten und Wir sollten den kerntechnischen Forschungseinrich- ein klares Zeichen der Verantwortung gegenüber den tungen auch nicht die Grundlage entziehen, indem wir zukünftigen Generationen setzen. Ich denke, das ist ein den Zugang und die Rücknahme von Brennelementen für ganz wichtiger Punkt. Forschungszwecke gesetzlich unmöglich machen. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was soll das Ich erinnere in diesem Zusammenhang daran, dass der denn heißen?) Rückbau einzelner Kernkraftwerke bereits läuft. Ab 2022 werden die Rückbaumaßnahmen nach Abschaltung der Kerntechnik ist für die Grundlagenforschung in der letzten Kernkraftwerke – zum Beispiel Isar 2 in Essen- Industrie – zum Beispiel bei der Materialforschung; das bach bei Landshut in meiner Heimatregion – sicherlich wird oft nicht erkannt –, aber auch in der Medizin – zum noch intensiver. Das bedeutet, dass weiterer Abfall an- Beispiel bei der Krebsforschung – sowie in der Pharma- fällt. zie unerlässlich. Dort ist sie wichtig. Wir benötigen das Wissen der Experten auf diesem Gebiet für den Erhalt Wir sollten auch die Sorgen der Menschen an den der Spitzenposition des Forschungs- und Entwicklungs- (B) Standorten der Kernkraftwerke ernst nehmen. In den standorts Bayern bzw. Deutschland. (D) dortigen Zwischenlagern sind bereits die abgebrannten Kompetenzerhalt für den Rückbau ist hier absolut er- Brennelemente der Kernkraftwerke verwahrt. Jetzt sehen forderlich und überlebensnotwendig. Den Vorwurf, der sich einige dieser Standorte noch mit der Aufnahme von Kompetenzerhalt diene dazu, einen Wiedereinstieg in 26 weiteren Castorbehältern mit radioaktiven Abfällen die friedliche Nutzung der Kernenergie zu ermöglichen, aus den Wiederaufbereitungsanlagen La Hague und Sel- halte ich daher für eine ideologisch völlig verfehlte Ar- lafield konfrontiert. Das Standortauswahlgesetz sieht das gumentation. zwar so vor, doch die Bürgerinnen und Bürger müssen die Klarheit haben, dass es sich tatsächlich nur um eine (Beifall bei der CDU/CSU) zeitlich begrenzte Zwischenlagerung handelt. Ein Bericht Aus der Verantwortung gegenüber den nachkommen- der Endlagerkommission zum 30. Juni nächsten Jahres den Generationen heraus dürfen wir das Thema Endla- mit Schwerpunkt hochradioaktive Abfälle verdeutlicht, gerung nicht mehr auf die lange Bank schieben. Darum dass die Politik Befürchtungen der Bevölkerung klar ent- sollten wir, liebe Kolleginnen und Kollegen, in dieser gegentritt. Denn eines darf nicht passieren: Zwischenla- Legislaturperiode ein unverrückbares Zeichen zur Lö- ger dürfen sich letztlich nicht in Endlager verwandeln. sung der Endlagerfrage setzen. Daher müssen wir dieser (Beifall bei der CDU/CSU) Novelle zustimmen. Ebenso ist es für mich ein Gebot, das Standortaus- Herzliches „Vergelts Gott“ fürs Zuhören. wahlgesetz in Bezug auf die geografischen Standorte (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ernst zu nehmen. Bei der Ausarbeitung unserer Emp- ordneten der SPD) fehlungen muss das Prinzip der weißen Landkarte gel- ten. Kein Standort darf aus irgendwelchen Gründen von vornherein ausgeschlossen werden. Das bedeutet, dass Vizepräsidentin Claudia Roth: das Erkundungsbergwerk Gorleben so weit und so gut, Danke schön, lieber Kollege. – Damit schließe ich die wie es technisch und rechtlich erforderlich ist, offenge- Aussprache. halten werden muss. Das Bundesamt für Strahlenschutz Wir kommen zur Abstimmung über den von der ist gefordert, dafür Sorge zu tragen. Die Historie und die Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Än- Symbolik dieses Standorts für die Umweltbewegung und derung des Atomgesetzes. Der Ausschuss für Umwelt, letztlich auch ein Stück weit für Sie, liebe Grüne, dürfen Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit empfiehlt in nicht als Rechtfertigung herhalten, den Salzstock Gorle- seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/6234, ben vorab auszuklammern. Das wäre aus meiner Sicht den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksa- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 12663

Vizepräsidentin Claudia Roth (A) che 18/5865 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich Liebe Kolleginnen und Kollegen, was macht uns zu (C) bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus- Europäern? Ist das die Zugehörigkeit zu einem Konti- schussfassung zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. nent? Ist das der Binnenmarkt? Ist das der Euro? Sicher- Wer stimmt zu? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält lich auch. Aber wir sind vor allem eine Gemeinschaft von sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung Werten, eine Gemeinschaft, die sich verständigt hat auf angenommen. Zugestimmt haben CDU/CSU, SPD und Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, die Menschenrechte, Bündnis 90/Die Grünen. Enthalten haben sich die Lin- die Würde des Einzelnen, Solidarität und Freiheit. Wir ken. alle wissen, dass dies keine Selbstverständlichkeit ist, weder im globalen Wettstreit noch in der EU als Ganzes. Dritte Beratung Deshalb ist es gut, dass wir heute diese Debatte im Deut- und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem schen Bundestag führen. Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Die Logik Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz- habe ich nicht verstanden!) entwurf ist angenommen bei Zustimmung von CDU/ Ich weiß aus meiner bisherigen Arbeit, dass das The- CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung ma innerhalb der EU nicht von allen mit der gleichen Lei- der Linken. denschaft angepackt wird, weil man oft skeptisch ist, ob Ich kann Sie einladen, auch dem nächsten Tagesord- es zuträglich ist, sich in die inneren Angelegenheiten von nungspunkt zu folgen. Heute Morgen ging es um ein Mitgliedstaaten der Europäischen Union einzumischen. starkes Europa. Wollen wir einmal sehen, wie viele sich Wir sind eine Gemeinschaft. Genauso wie uns Fragen dafür einsetzen wollen. der Haushalts- und der Wirtschaftspolitik grenzüber- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf: schreitend beschäftigen, sind wir alle davon betroffen, wenn Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Zweifel ge- Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- zogen werden. Deshalb tut eine gesamteuropäische Ver- richts des Ausschusses für die Angelegenheiten ständigung not. Es ist auch gut, dass wir in den nationa- der Europäischen Union (21. Ausschuss) zu dem len Parlamenten, insbesondere im Deutschen Bundestag, Antrag der Abgeordneten Dr. Franziska Brantner, darüber reden. Annalena Baerbock, Marieluise Beck (Bremen), Unsere europäische Gesellschaft ist wertegebunden. weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- Das trägt uns und hält uns zusammen. Wir sind zugleich NIS 90/DIE GRÜNEN offen für alle Kulturen, alle Religionen und alle Ethnien. (B) Gemeinsame Grundwerte stärken – Europa (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Bayern!) (D) stärken Es ist schon merkwürdig, dass sich Deutschland dafür Drucksachen 18/4686, 18/6196 kritisieren lassen muss, dass es mit Flüchtlingen so um- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für geht, wie es unsere Werte vorschreiben, nämlich human die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei- und anständig. Auch das muss einmal zur Sprache ge- bracht werden. nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Alexander Staatsminister Michael Roth für die Bundesregierung. Ulrich [DIE LINKE]: Sagen Sie das Herrn (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Seehofer!) Wir müssen unsere Werte auch im Innern leben. Das Michael Roth, Staatsminister im Auswärtigen Amt: darf sich nicht alleine darauf fokussieren, dass wir schö- Guten Abend, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen ne, wohlfeile Reden halten. Es geht auch um konkrete und Kollegen! Ihrem Charme sind doch einige Abgeord- Taten. nete erlegen; das ist schön. (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Deine Rede ist auch wohlfeil!) Vizepräsidentin Claudia Roth: Deshalb haben die Koalitionsfraktionen von CDU/CSU Die Abgeordneten verlassen den Raum. und SPD im Koalitionsvertrag verabredet, einen wirksa- (Heiterkeit) men Mechanismus in der Europäischen Union zu imple- mentieren, der Fragen von Demokratie und Rechtsstaat- lichkeit verstärkt überprüft. Michael Roth, Staatsminister im Auswärtigen Amt: Es sind aber auch einige dageblieben. Bekannterma- (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Wo gibt ßen zählt die Qualität und nicht die Quantität. Im Übri- es den denn?) gen haben Sie, Frau Präsidentin, versucht, eine Brücke zu Dies ist uns nach langen Auseinandersetzungen gelungen. der Debatte anlässlich der Regierungserklärung der Bun- Nicht alleine die Kommission und das Europäische Par- deskanzlerin heute Morgen zu schlagen. Ich finde, dass lament beschäftigen sich mit dem Zustand der Werte und die jetzige Debatte unmittelbar an das anknüpft, worüber der Rechtsstaatlichkeit in der Europäischen Union. Viel- wir heute Morgen debattiert und gestritten haben. mehr haben wir seit Dezember 2014 auch im Ministerrat 12664 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015

Staatsminister Michael Roth (A) einen entsprechenden Mechanismus entwickelt. Das war Andrej Hunko (DIE LINKE): (C) nicht einfach, aber nun haben wir ihn. Wir werden uns Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr im kommenden November unter luxemburgischer Präsi- Staatsminister Roth, Sie haben vorhin einen Brücken- dentschaft zum allerersten Mal darüber austauschen, wie schlag zu der Debatte von heute Morgen versucht. Ich es um die Werte und die Rechtsstaatlichkeit bestellt ist. will einen Brückenschlag zur Debatte von gestern ma- Die luxemburgische Präsidentschaft hat als Thema die chen, in der wir über 70 Jahre UNO diskutiert haben. Grundwerte im digitalen Zeitalter vorgeschlagen. Wir Infolge der Gründung der Vereinten Nationen gab es haben uns kürzlich in einem Kolloquium der EU-Kom- die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Wenige mission über Fragen der Islamophobie und des Antisemi- Jahre später gab es in Europa die Europäische Menschen- tismus ausgetauscht. Genau solche Debatten werden wir rechtskonvention, das wichtigste Dokument zur Veranke- führen müssen; denn wie wir wissen, ist Artikel 7, der das rung von Menschenrechten in Europa. Ich finde es sehr Verfahren festlegt, das auf den Entzug der Stimmrechte befremdlich, dass weder im Antrag der Grünen noch in eines Landes hinausläuft, kein taugliches Instrumentari- Ihrer Rede darauf Bezug genommen wurde. um. Deswegen brauchen wir einen neuen Mechanismus, Die Europäische Menschenrechtskonvention ist im der inklusiv ist und der auch kein einzelnes Land an den Unterschied zur Allgemeinen Erklärung der Menschen- Pranger stellt; denn wir alle haben unsere Hausaufgaben rechte völkerrechtsverbindlich. Es gibt einen Gerichtshof zu erledigen. Wenn wir über den Antisemitismus in Euro- in Straßburg, den Europäischen Gerichtshof für Men- pa reden, dann wissen wir, dass dieser nicht nur ein Phä- schenrechte, der 820 Millionen Bürgern in den Staaten nomen in einigen wenigen Staaten ist, er ist ein Thema, des Europarates, also in ganz Europa, ein Individualkla- das auch uns in Deutschland in besonderer Weise betrifft. gerecht ermöglicht. Dieses Recht gibt es für alle Men- Ich hoffe, dass diese Debatte auch dazu beiträgt, uns schen, also auch für die Flüchtlinge, die jetzt nach Europa alle zu sensibilisieren, und dass sie dazu beiträgt, dass gekommen sind. Sie haben die Möglichkeit, vor diesem wir, wenn konkrete Missstände erkennbar werden, diese Gerichtshof zu klagen. Ich glaube, die Stärkung dieser auch benennen. Das darf kein Thema sein, das wir hinter Institution, auch ihre Benennung hier in der Debatte, ist verschlossenen Türen diskutieren, sondern das Thema der wichtigste Schutz zur Stärkung der Grundrechte in muss in die Parlamente hineingetragen werden. Wenn Europa. Deswegen will ich damit anfangen. der Antrag, der heute zur Debatte steht, dazu beitragen (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- kann, würde ich mich sehr darüber freuen. Ich zumindest neten der SPD) verstehe ihn als Rückenwind für die Bemühungen der Bundesregierung. Die Europäische Union, die nicht identisch mit Eu- ropa ist – sie ist ein Teil von Europa mit bestimmten (B) (D) Ich hoffe, dass es uns gelingt, auch in der Novem- Verträgen und bestimmten Institutionen –, hat sich im berdebatte im Ministerrat ein klares Zeichen zu setzen. Lissabon-Vertrag verpflichtet, dieser Menschenrechts- Worauf ich besonders hinweisen möchte, ist, dass bei konvention beizutreten, weil es auf der EU-Ebene kei- einer konkreten Missachtung der Grundwerte auch eine nen vergleichbaren Schutz gibt und auch damit Bürger entsprechende Ad-hoc-Debatte im Ministerrat vorgese- in Europa die Möglichkeit haben, bei Verstößen der EU hen ist. Wir werden im nächsten Jahr mit Ihrer Unter- vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte stützung den Beweis antreten müssen, dass wir uns da- zu klagen. Dieser Beitritt sollte mit Inkrafttreten des Lis- mit beschäftigen, wie es um die Grundwerte steht, ob sie sabon-Vertrags am 1. Dezember 2009 vollzogen werden. für uns nicht nur auf dem Papier stehen, sondern ob wir Das ist jetzt mittlerweile fast sechs Jahre her, und die- sie leben, ob wir sie verteidigen und ob wir sie achten. ser Beitritt ist nicht vollzogen worden. Wenn wir einen Wenn die Bundesregierung dabei auf die Unterstützung Antrag zu dem Thema in die Debatte einbrächten, wäre des Deutschen Bundestages zählen kann, wäre ich Ihnen die Forderung nach einem Beitritt der EU zur EMRK die ausgesprochen dankbar. wichtigste Forderung. Augustinus soll einmal gesagt haben: Nimm das (Beifall bei der LINKEN) Recht weg, was ist dann der Staat noch anderes als eine Aber nicht nur hinsichtlich der Menschenrechte, son- große Räuberbande? – Dieser Satz verpflichtet nicht nur dern auch hinsichtlich der Rechtsstaatlichkeit – darum Deutschland vor dem Hintergrund seiner schwierigen, geht es noch mehr in dem Antrag – gibt es durchaus funk- tragischen Geschichte, dieser Satz verpflichtet alle in Eu- tionierende Strukturen auf Europaratsebene. ropa, 28 Mitgliedstaaten und die Institutionen der Euro- päischen Union. Ich denke an die Venedig-Kommission; sie wird im grünen Antrag positiv erwähnt. Die Venedig-Kommissi- Vielen herzlichen Dank. on überwacht sozusagen Rechtsstaatlichkeit und vor al- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem len Dingen Verfassungsfragen in den 47 Mitgliedstaaten. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Beispielsweise in Moldawien sollte vor einigen Jahren ein Gesetz in Kraft treten, das kommunistische Symbole Vizepräsidentin Claudia Roth: verbietet. Dieses Gesetz ist von der Venedig-Kommis- sion als Verstoß gegen europäische und demokratische Vielen Dank, Michael Roth. – Nächster Redner in der Prinzipien bezeichnet worden. Deshalb ist es nicht in Debatte: Andrej Hunko für die Linke. Kraft getreten. Ein ähnliches Gesetz, das jetzt in der Uk- (Beifall bei der LINKEN) raine in Kraft getreten ist, wird bald ebenfalls von der Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 12665

Andrej Hunko (A) Venedig-Kommission beraten. Ich gehe von einem ähn- Nachnachnachfolgeversion der Römischen Verträge, im (C) lichen Ausgang aus. Lissabon-Vertrag, im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union. Es gibt ein Memorandum zwischen dem Europarat einerseits und der EU andererseits. Darin ist ganz klar Die Frage, vor der wir nun stehen, heißt: Was tun festgehalten, dass der Europarat die Benchmark, also wir, wenn sich ein Mitgliedstaat der Europäischen Uni- die Bezugsgröße, für Fragen der Menschenrechte, der on in der politischen Praxis erkennbar nicht an diesen Rechtsstaatlichkeit und der Demokratie bleibt und dass Grundwerten orientiert oder sogar dagegen verstößt? Ich eine Doppelung von Strukturen vermieden werden soll. verweise auf Artikel 7 des Lissabon-Vertrages, der be- Ich lese den grünen Antrag so, dass eine ähnliche Struk- stimmte Pönale, also bestimmte Strafen, vorsieht; diese tur auf EU-Ebene aufgebaut werden soll. Ich halte das Strafen sind sehr drakonisch. Es gibt beispielsweise die nicht für sinnvoll. Es schwächt eher die Strukturen. Möglichkeit des Entzugs des Stimmrechtes. Das heißt, (Dr. Frithjof Schmidt [BÜNDNIS 90/DIE das jeweilige Land kann im Rat, also in der Runde der GRÜNEN]: Quatsch!) europäischen Staats- und Regierungschefs, seine Stimme nicht mehr mitabgeben. Daraus folgt: Wenn die Strafe Ich komme zum Ende. Die Linke unterstützt die so drakonisch ist, dann zieht sie notwendigerweise nur Stärkung von Grundrechten. Die Linke ist aber dage- dann, wenn auch der Verstoß sehr bedeutend war. gen, wenn es dadurch eine Doppelung von Strukturen gibt und wenn Kompetenzen, die schon da sind und die Um ein Beispiel zu nennen: Wenn ein Land die Presse- funktionieren, auf EU-Ebene verlagert werden. Die Lin- freiheit abschaffen würde, dann würde Artikel 7 des Lis- ke tritt für die Stärkung insbesondere der Europäischen sabon-Vertrages vermutlich greifen. Aber wenn ein Land Menschenrechtskonvention, für die Stärkung des Euro- an der Pressefreiheit nur kratzt oder sie einschränkt, dann päischen Gerichtshofes und auch für die Weiterentwick- ist dieser Artikel 7 vermutlich ein Schwert, das zu scharf lung anderer Strukturen wie etwa der Europäischen So- ist, weil die Strafe zu hoch ist. Daher stellt sich die Fra- zialcharta ein. Darauf zielt der grüne Antrag leider nicht ge: Haben wir ein Format, um derartige Verstöße zu ahn- ab. Das, was mit diesem Antrag beantragt wird, läuft auf den oder um mit dem jeweiligen Land ins Gespräch zu eine Doppelung dieser Strukturen hinaus. Deswegen leh- kommen? Das ist in Artikel 7 so nicht verankert; dieses nen wir ihn ab. Format gibt es so nicht. Das hat den deutschen Außen- Vielen Dank. minister – seinerzeit – im Jahr 2013 zusammen mit seinen Amtskollegen aus Dänemark, den (Beifall bei der LINKEN) Niederlanden und Finnland auf die Idee gebracht, die so- genannte europäische Rechtsstaatsinitiative auf den Weg (B) (D) Vizepräsidentin Claudia Roth: zu bringen. Diese sieht ein Verfahren unterhalb des re- Vielen Dank, Kollege Hunko. – Nächster Redner in lativ komplizierten Verfahrens in Artikel 7 vor, bildlich der Debatte: Thomas Dörflinger für die CDU/CSU-Frak- gesprochen: ein Format, in dem man zunächst einmal tion. miteinander spricht und versucht, die Dinge in einem Dialog, in einem Trilog zu klären. Wenn jemand in der (Beifall bei der CDU/CSU) eigenen Familie über die Stränge schlägt, dann verweist man ihn auch nicht gleich des Hauses, sondern man setzt Thomas Dörflinger (CDU/CSU): sich zunächst an einen Tisch und versucht, die Dinge in Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und einem ruhigen, sachlichen Ton miteinander zu klären. – Herren! Ich will mir zu Beginn meiner Rede die Kritik So weit, so gut. meines Sohnes an meinem jüngsten Plenarbeitrag zu ei- gen machen, den ich um eine ehrliche Einschätzung ge- Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen, der heute beten hatte. Er hat gesagt: War prima; aber verstanden auf dem Tisch liegt, geht aber über das, was die europä- habe ich leider nichts. – Offenkundig ist das der Beweis ische Rechtsstaatsinitiative vorsieht, bei weitem hinaus dafür, dass wir, wenn wir es ohnehin schon mit schwieri- und ist auch der Grund dafür, weswegen sich die CDU/ gen Dingen zu tun haben, eine besondere Begabung da- CSU-Bundestagsfraktion mit dem Inhalt in keiner Weise für haben, diese schwierigen Dinge auch noch schwierig anfreunden kann. Bei der Konstruktion der europäischen zu erklären. Rechtsstaatsinitiative wurde sehr bewusst darauf geach- tet, dass eben nicht eine neue Institution geschaffen wird, Deswegen beginne ich mit den Anfängen: Als die sondern dass man mit den vorhandenen Mitteln, die das Europäische Wirtschaftsgemeinschaft – so hieß die Instrumentarium innerhalb der Europäischen Union bie- Vorgängerorganisation der heutigen EU damals – Mitte tet, das Format abbildet, um miteinander ins Gespräch zu der 1950er-Jahre gegründet wurde, hat man sich darauf kommen. verständigt, dass sich diejenigen, die damals schon da- bei waren, und diejenigen, die dazukommen möchten, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) an bestimmte Grundwerte halten. Das sind im Wesent- Wenn ich in dem Antrag nun etwas von Monitoring lichen, um es zu vereinfachen, die Dinge, die wir aus Panels und unabhängigen Expertenrunden lese, dann dem Grundgesetz unseres Landes kennen: Religions- mag das in Ihrer politischen Intention folgerichtig sein. freiheit, Meinungsfreiheit, Achtung vor der Menschen- würde, Achtung der Menschenrechte und alle weiteren (Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- dort niedergelegten Grundrechte. Das steht so auch in der NEN]: Ja!) 12666 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015

Thomas Dörflinger (A) – Das habe ich erwartet, Herr Kollege Sarrazin. Aber ich Aber Institutionen neu ins Leben zu rufen, die das Ziel (C) bitte gleichzeitig um Verständnis, dass wir diesem Ansatz verfolgen, durch ein auch parlamentarisch nicht legiti- so nicht folgen. miertes Gremium, (Beifall bei der CDU/CSU) (Andrej Hunko [DIE LINKE]: Sehr richtig!) Wir verfolgen den Ansatz auch deswegen nicht – das das von irgendwem besetzt wird, fand ich in dem Antrag der Grünen besonders span- (Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE nend –: Wir sind uns vermutlich einig darüber, dass alle GRÜNEN]: Vom Parlament!) 28 Mitgliedstaaten der Europäischen Union – wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung – Rechtsstaaten sind. In einen Mechanismus zu installieren, der dazu da ist, be- stimmte Fehlentwicklungen – tatsächliche oder ver- Rechtsstaaten gibt es ein Selbstreinigungsverfahren, das meintliche – in den einzelnen Mitgliedstaaten zu ahnden jeder Demokratie eigen ist. Das kommt aber im Antrag oder zu korrigieren, das halte ich nicht nur für nicht ver- der Grünen nicht einmal im Wort vor, was mich wun- einbar mit europäischem Recht, das halte ich auch poli- dert. Ich weiß nicht, wer das Wort „Basisdemokratie“ tisch für nicht angezeigt, meine sehr verehrten Damen schlussendlich erfunden hat, aber wenn es um die Ur- und Herren. heberrechte geht, könnte es sein, dass die Grünen in die engere Auswahl kommen. Auch das Wort „Wahl“ kommt (Beifall bei der CDU/CSU) in dem Antrag gar nicht vor. Die Wahl ist im demokra- Deswegen bleiben wir dabei: Wenn die luxemburgi- tischen Rechtsstaat ein Selbstreinigungsmittel, das die sche Ratspräsidentschaft im Verlauf dieses Jahres einen Bürgerinnen und Bürger selbst zur Anwendung bringen, Vorschlag vorlegt – der Staatsminister hatte darauf hinge- indem sie schlicht und ergreifend die Regierung, die sie wiesen –, wie in der europäischen Rechtsstaatsinitiative möglicherweise in ihren Rechten beschneidet oder ein- in diesem Jahre und in den Folgejahren zu verfahren ist, schränkt, abwählen, ohne dass es dazu von außen eines dann ist das für uns als CDU/CSU-Bundestagsfraktion Hinweises bedurft hätte. die Basis, auf der wir in den kommenden Jahren weiter- arbeiten. Dafür brauchen wir weder neue Gremien noch (Beifall bei der CDU/CSU) neue Institutionen. Wir arbeiten mit dem, was wir haben. Das liegt in der Zuständigkeit jedes einzelnen National- Herzlichen Dank. staats. (Beifall bei der CDU/CSU) Ich finde es interessant, dass zu den Handlungsemp- fehlungen, zu den Vorstellungen, die die Europäische (B) Vizepräsidentin Claudia Roth: (D) Kommission entwickelt hat, im März des vergangenen Vielen Dank, Kollege Dörflinger. – Nächste Rednerin Jahres, wenn ich es richtig im Kopf habe, ein Gutachten in der Debatte: Dr. Franziska Brantner für Bündnis 90/ des Juristischen Dienstes des Europäischen Rates heraus- Die Grünen. gegeben wurde. Die Kommission hatte vorgeschlagen, ein mehrstufiges Verfahren zu etablieren, um die europä- Dr. Franziska Brantner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ische Rechtsstaatsinitiative formal abzubilden. Kernsatz NEN): der Einschätzung des Juristischen Dienstes des Rates ist, Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Damen und Herren! dass die Vorschläge nicht durch die Zuständigkeit der Eu- Wir haben in den letzten Tagen und Wochen viel disku- ropäischen Union gedeckt sind. tiert: über unsere Werte, über den menschenwürdigen Dann finde ich es hochinteressant, dass Sie nicht nur Umgang mit Flüchtlingen. Wir haben gesehen, wie Orbán auf der Basis dieses Gutachtens einen Antrag formulie- mit Flüchtlingen umgegangen ist, eben nicht menschen- ren, der das abbildet, was schon durch den Juristischen würdig. Wir haben die Weigerung mehrerer Mitglied- Dienst des Rates als rechtswidrig eingestuft worden ist, staaten der EU erlebt, Flüchtlinge überhaupt aufzuneh- sondern dass Sie noch einen obendrauf setzen und of- men. Wir erleben ein öffentliches Zerlegen bei diesen fenkundig glauben, die Rechtswidrigkeit wäre geringer Themen, als ob es nicht um Menschen ginge, sondern um als bei der Vorlage, auf die Sie sich bezogen haben. Das irgendwelche Waren, die man hin und her schiebt. Es gab erschließt sich mir logisch nicht, meine sehr verehrten über den Sommer ein öffentliches Zerlegen – das war es fast schon – in der Griechenland-Debatte: Wer gewinnt? Damen und Herren. Wer verliert? Wer zahlt wie viel? Wir haben in unserer (Beifall bei der CDU/CSU) Nachbarschaft im Süden Länder, die eigentlich zerfallen, und trotzdem keine gemeinsame effektive Außenpolitik. Wir bleiben dabei – insofern teile ich das, was Staats- minister Roth zu Beginn der Debatte gesagt hat –: Der In diesen Tagen stelle ich mir immer wieder die Fra- Anlass und der Kern der europäischen Rechtsstaatsin- ge: Was hält uns in der Europäischen Union eigentlich itiative, so wie sie durch Guido Westerwelle und seine noch zusammen? Was verbindet uns noch? Was haben Amtskollegen 2013 auf den Weg gebracht worden ist, wir gemeinsam? Ich finde, das sind relevante Fragen, die finden unsere Zustimmung, weil es ein Format unterhalb man stellen muss. Ich glaube nicht, dass die Antwort „der von Artikel 7 ist, in dem Verstöße gegen die europäischen Euro“ oder „der Binnenmarkt“ ausreicht, um die Bürge- Grundrechte in den Nationalstaaten besprochen werden rinnen und Bürger auch in Zukunft mitzunehmen. können. In Artikel 2 des EU-Vertrages heißt es: Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 12667

Dr. Franziska Brantner (A) Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die ten benennen. Das heißt, die Parlamente wären genau (C) Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokra- diejenigen, die über die Zusammensetzung dieses Gre- tie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung miums bestimmen. Der Vorteil eines solchen Gremiums der Menschenrechte einschließlich der Rechte der wäre, dass Herr Orbán nicht mehr sagen könnte: Ach, Personen, die Minderheiten angehören. den Gutachter hat sich ja die Kommission ausgesucht; (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) der hat mit mir nichts zu tun. – Es wäre der große Vorteil eines solchen Gremiums, dass es eben unparteiisch wäre, Das ist es, was uns zusammenhält und was es durchzu- dass jeder mit in der Verantwortung stünde und man nicht setzen gilt. einfach sagen könnte: „Das kommt wieder aus Brüssel“, Sie alle wissen – das hat Herr Dörflinger auch schön sondern für jeden wäre klar: Da sind auch unsere Leute gesagt –: Bis zum Beitritt ist das alles relevant. Da gibt mit drin, die wir entsandt haben. es Kriterien, Untersuchungen, Überprüfungen. Manch- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) mal macht man ein Auge halb zu, aber es wird überprüft. Wenn man dann Mitglied ist, kann man sich eigentlich Das ist ein großer Unterschied. Und genau das brauchen wieder alles erlauben. Man kann es schlecht finden, dass wir: eine gemeinsame Anstrengung. es eine liberale Demokratie gibt. Man kann die Medien- Von Ihrer Seite kam nun der Einwand, ein solches und Kartellgesetze so weit dehnen, dass es eigentlich Gremium stelle eine Konkurrenz zum Europarat dar. Sie keine Pressefreiheit mehr gibt. Man kann Verfassungsge- wissen doch, der Europarat braucht eine EU, die diese richtsrechte beschneiden. Rechte auch umsetzen kann, und je stärker wir nach in- Das Einzige, was wir haben, ist die sogenannte Nuk- nen werden, desto glaubwürdiger ist der Europarat. Des- learbombe – Sie haben sie erwähnt –, die bis jetzt noch wegen handelt es sich nicht um eine Dopplung oder um nie genutzt wurde: der Artikel 7. Wir haben in dem Be- eine Konkurrenz, sondern beides ist absolut komplemen- reich nichts Vergleichbares zum Stabilitätspakt, zu der tär. Überprüfung der einzelnen Haushalte. Man kann kaum jemandem erklären, warum wir mitbestimmen oder mit- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) diskutieren, wie hoch die Mehrwertsteuer auf einer grie- Nötig ist auch, dass die Zivilgesellschaft basisdemo- chischen Insel ist, aber nichts tun können, wenn Men- kratisch in diesen Prozess eingebunden wird, dass die schen unwürdig behandelt werden. Den Bürgerinnen und Debatten transparent verlaufen und nicht nur im Minis- Bürgern zu erklären „Das ist die Europäische Union. Das terrat geführt werden, der in kleiner Runde darüber dis- eine können wir; bei dem anderen haben wir keine Inst- kutiert. Dieser repräsentiert ja nicht die europäische Fa- rumente“, ist sehr schwierig. (B) milie; die Familie ist größer als die Runde der Minister, (D) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) die irgendwo zusammensitzen. Deshalb muss man auch eine gemeinsame Debatte führen. Der bisherige Weg, nämlich „Wir hauen ein bisschen mehr Geld raus oder üben Druck aus, damit die Länder Schließlich haben Sie noch auf den Juristischen Dienst sich bewegen“, wird in Zukunft, glaube ich, nicht mehr des Europäischen Rates verwiesen. Sie wissen doch, dass funktionieren. Man wird einen Monsieur Hollande nicht dieser eh nichts einstufen darf. Ich weiß nicht, wie viele durch mehr Geld dazu bringen, mehr Flüchtlinge aufzu- Gesetze in dieser Legislaturperiode schon gegen den Rat nehmen, weil er Angst vor Marine Le Pen hat. Das Glei- des Wissenschaftlichen Dienstes dieses Hauses verab- che gilt in England für Cameron. In Osteuropa ist es eine schiedet wurden. Von daher würde ich auch nicht sagen, andere Debatte, aber auch dort wird man wegen Geld dass das unbedingt der Maßstab aller Dinge ist. Wenn nicht mehr Flüchtlinge aufnehmen. schon, dann wäre das am Ende eines Entscheidungspro- zesses der EuGH. Worum es geht – das Problem liegt doch wesent- lich tiefer –, ist dieses gemeinsame Verständnis unserer Ich glaube, dass es notwendig ist, diese Debatten öf- Grundwerte und ihrer Bedeutung auch für unsere po- fentlich, transparent und unabhängig, mit Experten und litischen Entscheidungen. Da braucht es gemeinsame trotzdem politisch geleitet zu führen. Wir brauchen sol- Anstrengungen, zu überzeugen und nicht nur anzupran- che Debatten in Europa. gern. Ich glaube, wir brauchen Instrumente, um dort hinzukommen, eine Neubesinnung oder Rückbesinnung Am Ende möchte ich aus der Rede der Bundeskanzle- auf das, was uns eigentlich ausmacht. Ich glaube, dass rin vor einer Woche in Straßburg zitieren. Sie hat gesagt: die Kommissionsinstrumente und das, was der Rat jetzt „Europa ist eine Wertegemeinschaft, eine Rechts- und macht, in die richtige Richtung gehen – Herr Roth, ich Verantwortungsgemeinschaft.“ Als Richtschnur nannte weiß, dass Sie sich dafür eingesetzt haben –, aber das ist sie: „Menschenwürde, Rechtsstaatlichkeit, Toleranz, die trotzdem zu zahnlos, zu vage. Achtung von Minderheiten, Solidarität.“ Deswegen wollen wir ein unabhängiges Gremi- Ich finde, dass unser Antrag eine gute Handhabe bie- um. Übrigens: Wenn Sie den Text gelesen hätten, Herr tet, um ohne Vertragsveränderungen diesen europäischen Dörflinger, hätten Sie gesehen, dass das Gremium mit ei- Werten mehr Geltung zu verschaffen. Herr Roth, nach nem Entsandten aus jedem nationalen Parlament besetzt Ihren Worten bin ich ganz zuversichtlich, dass die SPD sein soll. Das heißt, wir würden über den Verfassungsex- vielleicht zustimmt. Liebe Kolleginnen und Kollegen perten abstimmen, den wir in dieses Gremium senden. von der Union, geben Sie sich einen Ruck. Es wäre, wie Das Europäische Parlament würde zehn weitere Exper- ich glaube, ein schönes Signal aus diesem Hause, wenn 12668 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015

Dr. Franziska Brantner (A) wir auf diese Weise mehr Diskussionen und eine stärkere möglichen. Wir müssen aber weiter gehen, und es stimmt (C) Verankerung der Grundwerte europaweit einfordern. mich sehr hoffnungsvoll, dass das Europäische Parla- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ment sich vorgenommen hat, einen an den Kopenhage- ner Kriterien angelehnten Mechanismus zu definieren, der sogar über das hinausgehen wird, was heute vorliegt. Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Kollegin Brantner. – Nächster Redner in Zur Union möchte ich noch etwas sagen: Sie sind der Debatte: Dr. Lars Castellucci für die SPD. doch immer für Sicherheit, Ordnung, Recht, Leitkultur und all dies. Sie sind doch immer dafür, dass Menschen, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten die zu uns kommen, sich an unsere Gesetze zu halten ha- der CDU/CSU) ben. Das ist ja am Ende des Tages auch richtig. An dieser Stelle ist aber doch eindeutig klar: Regeln, die wir nicht Dr. Lars Castellucci (SPD): durchsetzen wollen, brauchen wir auch nicht aufzustel- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! len. Deswegen bitte ich Sie herzlich, sich nicht dagegen Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ja, es ist in zu versperren, dass wir hier ein Instrumentarium schaf- diesen Tagen viel von Europas Werten die Rede, und es fen, das uns hilft, Regeln, die wir gemeinsam aufgestellt ist wichtig, an dieser Stelle einmal festzuhalten, dass sich haben, auch wirklich durchsetzen zu können. nicht jeder aussuchen kann, um welche Werte es geht, sondern es vielmehr so ist, dass wir diese Werte aufge- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ schrieben haben. Sie sind aus Artikel 2 des EU-Vertrages DIE GRÜNEN) zitiert worden. Ich darf einmal vorlesen, was da weiter An dieser Stelle einen Appell: Europa soll zu ge- steht. Da steht nämlich auch noch: meinsamen Vorgehensweisen zurückfinden. Das sagen Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Ge- wir doch alle hier. Aber mit welchem Recht fordern wir sellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, eigentlich von Europa gemeinsame Vorgehensweisen, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, So- wenn wir noch nicht einmal hier in diesem Saal zu ge- lidarität und die Gleichheit von Frauen und Män- meinsamen Vorgehensweisen in der Lage sind, und das nern auszeichnet. noch beim Thema „Europäische Grundwerte“, die uns doch alle verbinden? Auch der Wert der Solidarität wird erwähnt, den wir ja gerade in der Flüchtlingsfrage einfordern. Wir fordern Vielleicht ist das wirklich einmal ein Punkt, bei dem ihn also nicht einfach so ein, sondern wir fordern ihn ein wir uns zusammenraufen und zeigen können: Für euro- auf der Basis von gemeinsam verabredeten und verab- päische Grundwerte stehen wir alle in diesem Haus. Wir (B) schiedeten Vertragstexten. werden aus Koalitionsdisziplin diesen Antrag zurückwei- (D) sen, aber wir werden im Laufe des Verfahrens auf euro- Interessant ist in diesem Zusammenhang auch – das päischer Ebene noch einmal einen Anlauf unternehmen ist ja das eigentliche Thema –, dass diese Grundwerte, und versuchen, zu einem gemeinsamen Text zu kom- wie Artikel 49 festlegt, zwingend zu erfüllen sind, wenn men. – Das würde ich sehr begrüßen. jemand Mitglied der Europäischen Union werden will, aber – das sagt ja selbst Herr Dörflinger – wir eigent- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ lich kein Instrumentarium haben, das sicherstellt, dass, DIE GRÜNEN) wenn jemand in der Europäischen Union drin ist, diese Ein letzter Aspekt. Jetzt ist von blauen Briefen, von Grundwerte auch eingehalten werden. Meine sehr ver- Kontrolle und neudeutsch von „blame and shame“ die ehrten Damen und Herren, das kann aus meiner Sicht so nicht bleiben. Rede. Ich frage, ob das eigentlich das ist, was uns am Ende hilft, zusammenzustehen. Oder müssen wir nicht (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten vielmehr mit jeder Faser und jeden Tag denen, die zu uns der CDU/CSU) kommen und die eigentlich andere Werte teilen, deutlich Wir brauchen also ein Instrument. Und diese Rechts- machen, dass wir wirklich hinter unserem Rechtsstaat staatinitiative passt aus meiner Sicht absolut in diese und hinter unseren Grundwerten stehen, dass wir denen Zeit; sie ist nötig. Wir laufen in Europa auseinander in dankbar sind, die sie in Generationen vor uns errungen diesen Wochen, in denen es eigentlich auf europäischen haben, und dass wir es als Auftrag verstehen, sie voran- Zusammenhalt ankommt. Wir brauchen dringend die zutreiben und sie auch in der heutigen Zeit durchzuset- Rückbesinnung auf das, was uns verbindet. zen? Es gibt Handlungsbedarf: Es können Flüchtlinge nicht Ich wünsche mir, dass wir nicht nur ein Instrumenta- zurück nach Italien überführt werden, es können Flücht- rium haben, mit dem wir gegenüber Menschen und Län- linge aufgrund von Gerichtsurteilen nicht zurück nach dern, die die Vorgaben nicht korrekt erfüllen, den Zeige- Ungarn überführt werden, es gibt Zurückweisungen an finger heben können, sondern dass wir im Gegenteil auch den Grenzen. Es wird europäisches Recht nicht einge- gute Beispiele schaffen und Begeisterung für unser Le- halten, und wir haben nichts in der Hand, um das zu än- bensmodell ausstrahlen. Ich halte es für fantastisch, auf dern. Deswegen lobe ich auch die Bundesregierung für einem Kontinent zu leben, auf dem wir uns Spielregeln die Schritte, die sie in die Wege geleitet hat. Ich finde sie gegeben haben, und, wenn wir uns in diesem Rahmen sehr gut. Ich bin auch dankbar dafür, dass die Grünen die- bewegen, frei und ohne Angst aufwachsen können. Das sen Antrag gestellt haben und diese Debatte heute hier er- ist ein Modell des Zusammenlebens für die ganze Welt. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 12669

Dr. Lars Castellucci (A) Das müssen wir ausstrahlen. Das ist das Wichtigste, was festzustellen und darauf zu reagieren. Es ist richtig: Die (C) wir hier miteinander verabreden können. Hürden für die Auslösung des Verfahrens nach Artikel 7 sind hoch. Doch die Väter des EU-Vertrages haben diese Wir dürfen nicht nur dabei stehen bleiben, in Kontroll- Hürden wohlüberlegt so hoch angesetzt, um die Union mechanismen zu denken, sondern wir müssen in Rich- in ihrem Bestand zu festigen. Wenn denn vom Volk ge- tung der jungen Generation und der Menschen, die zu wählte Regierungen einzelner EU-Länder über kürzere uns kommen, auch wieder unsere Werte wirklich vorle- oder längere Zeit Maßnahmen ergreifen, die fragwürdig ben. Die Menschen müssen bei uns spüren, dass uns das, erscheinen mögen, muss das eine demokratisch gefestig- was wir von der Türkei oder von denen, die zu uns kom- te Union aushalten und ausdiskutieren können. Das war men, fordern, wichtig ist. Diese Grundwerte sind funda- bis jetzt der Fall. mental für unsere Gesellschaft. Vielen Dank. Ein Verfahren nach Artikel 7 ist seit Bestehen der EU noch nie ausgelöst worden, obwohl es auch in der jün- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ geren Vergangenheit in Unionsstaaten immer wieder zu DIE GRÜNEN) Verletzungen von Grundwerten gekommen ist. Ich nenne sie beim Namen: politische Einflussnahme auf Gerichts- Vizepräsidentin Claudia Roth: verfahren, Korruption und Wahlfälschung, Diskriminie- Vielen Dank, Lars Castellucci. – Die letzte Rednerin rung von Minderheiten, Einschränkung der Presse- und in dieser Debatte: Iris Eberl. Meinungsfreiheit. (Beifall bei der CDU/CSU) Der jüngste Jahresbericht der Grundrechteagentur zeichnet das Bild einer sich verschlechternden Lage von Migrantinnen und Migranten auf. Eine Ursache dafür ist Iris Eberl (CDU/CSU): die durch Krieg, Not und Elend ausgelöste Flüchtlings- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und krise. Wir sind der Auffassung: Die Union muss sich als Kollegen! Der vorliegende Antrag trägt die Überschrift Staatengemeinschaft mit der Lösung dieses Problems be- „Gemeinsame Grundwerte stärken – Europa stärken“. schäftigen, auch mit dem Problem brutalster Menschen- Diese Aussage hat mich als Nichtjuristin fasziniert. Wir rechtsverletzungen in ihrer Nachbarschaft. stärken unsere gemeinsamen Grundwerte, und wir stär- ken damit ganz Europa, von Lissabon bis Minsk, von (Beifall bei der CDU/CSU) Reykjavik bis Istanbul. Großartig! Ich war begeistert. Werte sind nämlich dazu da, dass man sie lebt. Dafür Nach gründlichem Studium des Sachverhalts folgte die brauchen wir aber eine stabile Europäische Union und Ernüchterung. Seit Jahren geht es in einem zähen Ringen (B) nicht eine, deren Mitglieder sich gegenseitig misstrau- (D) um die Frage: Werden denn die gemeinsamen Grundwer- isch beäugen. te in allen EU-Ländern auch brav eingehalten, und wenn nicht, was dann? (Beifall bei der CDU/CSU) Verehrte Kolleginnen und Kollegen, Grundwerte sind Aber der Antrag der Grünen taugt in meinen Augen uns allen ein besonderes Anliegen; denn sie sind unser auch nicht. Die EU-Verträge bieten keine Rechtsgrund- kostbarstes Gut. Als überzeugte Europäerin sage ich: Das lage für einen neuen Aufsichtsmechanismus, schon gar gilt auch für die Europäische Union. Das Zusammen- keinen, der unterhalb der Schwelle des Artikels 7 läge. wachsen dieser Union macht deutlich, dass sie nicht nur Wenn Sie uns nicht glauben, dann lesen Sie das Gutach- ein zufälliger Verbund von souveränen Staaten ist. Hier ten vom 27. Mai 2014 des Juristischen Dienstes des Ra- wurde die Basis für ein gemeinsames Werteverständnis tes der Europäischen Union, den ich für nicht ganz so geschaffen. Weil das so grundsätzlich und wichtig ist, zi- unwichtig halte. Jetzt ist ganz sicher nicht die Zeit, sich tiere ich aus Artikel 2 des EU-Vertrages: mit Vertragsveränderungen zu befassen. Denn bereits im zweiten Halbjahr 2014 wurde mit der Vereinbarung Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die über den neuen politischen Rechtsstaatsmechanismus ein Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokra- wichtiges europapolitisches Ziel des Koalitionsvertrages tie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung umgesetzt. Kern des Mechanismus ist eine Diskussion der Menschenrechte einschließlich der Rechte der einmal pro Jahr im Allgemeinen Rat. Der neue politische Personen, die Minderheiten angehören. Mechanismus bleibt, im Gegensatz zum Grünenantrag, Die weitere Ausgestaltung der Architektur erfolgte in der im Rahmen der bestehenden Verträge, und das ist ent- Charta der Grundrechte von 2000 und 2007, wo diese scheidend. Er öffnet den Weg zu einem Dialog zwischen Werte konkretisiert wurden. allen Mitgliedstaaten im Rat unter Wahrung der Grund- sätze der Objektivität, der Nichtdiskriminierung und der Die Grünen wollen mit ihrem Antrag zum Schutz der Gleichbehandlung, sein Ansatz ist unparteiisch und fak- Grundwerte ein Monitoringpanel einführen. Dieses Inst- tengestützt. Und das überzeugt. rument überzeugt uns von der CDU/CSU gar nicht. Auch zusätzliche Ad-hoc-Diskussionen zu spezifi- (Beifall bei der CDU/CSU) schen Problemen einzelner Mitgliedstaaten sind möglich. Mit dem Artikel 7 des EU-Vertrages steht dem Rat ein Damit hat der Rat ein Instrument, um auch kurzfristig auf Instrument zur Verfügung, das Bestehen einer eindeu- besorgniserregende Entwicklungen innerhalb der Union tigen Gefahr, einer schwerwiegenden Verletzung der in zu reagieren. Der luxemburgische Ratsvorsitz wird die- Artikel 2 genannten Werte durch einen Mitgliedstaat sen Rechtsstaatsdialog noch 2015 in Gang setzen, wie 12670 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015

Iris Eberl (A) Staatsminister Roth ausführte. Sein Erfolg bleibt abzu- Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus- (C) warten. Geben wir doch diesem Instrument eine Chance, ses für die Angelegenheiten der Europäischen Union zum bevor wir neue Instrumente schaffen! Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Ti- tel „Gemeinsame Grundwerte stärken – Europa stärken“. (Beifall bei der CDU/CSU) Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung Schließlich geht der Antrag in seiner aktuellen Form auf Drucksache 18/6196, den Antrag der Fraktion Bünd- auch zu weit. Die Partnerländer würden mit einem sol- nis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/4686 abzuleh- chen ständigen Monitoringpanel-Überwachungsapparat nen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer unter Generalverdacht gestellt. Das, liebe Kolleginnen stimmt dagegen? – Dann bleibt niemand mehr, oder? Wer und Kollegen, zerstört die Vertrauensbasis innerhalb der will sich enthalten? – Die Beschlussempfehlung ist bei Europäischen Union. Zustimmung von CDU/CSU, Teilen der SPD Ein solches Monitoringpanel ist in einer Demokratie (Zuruf von der CDU/CSU: Großen Teilen!) auch überflüssig. Es ist die Aufgabe der Presse, Miss- und der Linken, bei Gegenstimmen von Bündnis 90/Die stände aufzuzeigen. Und sollte das Grundrecht der Pres- Grünen und zwei Enthaltungen aus der Sozialdemokratie sefreiheit gar verletzt sein, so gibt es heute die sozialen angenommen. Netzwerke. Dort wird jede Verfehlung publik gemacht und löst, je nach ihrer Art, einen Shitstorm aus, den nie- (Michael Roth, Staatsminister: Regierungs- mand überhören kann. Dass das funktioniert, erleben wir krise!) jeden Tag, oft im Übermaß. Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die Plätze zü- gig zu wechseln. Letztendlich habe ich gegen den Antrag auch politi- sche Bedenken, die in seiner eigenen Begründung liegen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf: Dort werden als Länder, deren Entwicklung Anlass zur Erste Beratung des von der Bundesregierung Sorge geben, nur – ich zitiere – „Ungarn, Rumänien oder eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än- früher … Italien“ genannt. Warum nicht Griechenland? derung des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch Warum nicht die Staaten, die sich bislang weigern, einen und weiterer Vorschriften angemessenen Teil der Last der Flüchtlingskrise zu über- nehmen? Hier offenbart sich eine wesentliche Schwäche Drucksache 18/6284 des vorgeschlagenen Instruments: Das ständige Gremi- Überweisungsvorschlag: um könnte auch dazu benutzt werden, nur missliebige Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Länder an den Pranger zu stellen, was einen ehrlichen Innenausschuss (B) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (D) Dialog über die Rechtsstaatlichkeit im Weiteren unmög- Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft lich machen würde. Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen­ Damit schließe ich meine Ausführungen und sage abschätzung ganz einfach: Ich bitte, den Antrag der Fraktion Bünd- Haushaltsausschuss nis 90/Die Grünen abzulehnen. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für Ich danke Ihnen. die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei- nen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. (Beifall bei der CDU/CSU) Ich würde Sie bitten, Platz zu nehmen und der ersten Vizepräsidentin Claudia Roth: Rednerin zuzuhören. Vielen Dank, Frau Kollegin Eberl. – Das ganze Haus – Ich eröffne die Aussprache. Erste Rednerin ist Dagmar alle Fraktionen – gratuliert Ihnen zu Ihrer ersten Rede im Schmidt für die SPD. Deutschen Bundestag. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Wilfried (Beifall) Oellers [CDU/CSU]) Wir wünschen Ihnen Kraft und viel Begeisterung für ein starkes Europa. Vielleicht haben wir es noch nie so drin- Dagmar Schmidt (Wetzlar) (SPD): gend gebraucht wie heute. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Ge- (Iris Eberl [CDU/CSU]: Ich danke! – Abg. Iris setzentwurf, mit dem wir uns heute beschäftigen, bein- Eberl [CDU/CSU] nimmt Glückwünsche ent- haltet viele verschiedene Dinge. Unter anderem verbes- gegen) sern wir die Arbeitsmarktintegration von Geduldeten, wir – Jetzt müssen die Männer erst mal gratulieren. Das ver- schaffen Gerechtigkeit für ehemalige NVA-Wehrdienst- stehe ich. leistende, die im Dienst verletzt wurden, und wir erleich- tern die Situation der Landwirtinnen und Landwirte bei (Ursula Groden-Kranich [CDU/CSU]: Und den Vorschriften zur Hofabgabe. die Frauen? Die Frauen bleiben sitzen, oder Wir leisten mit diesem Gesetzentwurf aber auch einen was?) Beitrag zur Entbürokratisierung – dort, wo es geboten ist. Ich mache jetzt trotzdem weiter. So verzichten wir mit dem Gesetz auf eine differenzierte Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 12671

Dagmar Schmidt (Wetzlar) (A) Nachweispflicht der Länder hinsichtlich der Übernah- Matthias W. Birkwald (DIE LINKE): (C) me der Kosten der Grundsicherung im Alter durch den Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Bund. In Zukunft wird nur noch zwischen Leistungen Herren! An Silvester 2014 waren 1 Million Menschen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung in Deutschland auf Grundsicherung im Alter und bei Er- unterschieden. Das ist eine spürbare und gebotene Ent- werbsminderung, sprich: auf Sozialhilfe, angewiesen. Sie lastung der Länder. mussten aufs Sozialamt, weil ihre Erwerbsminderungs- An anderer Stelle dagegen sind wir auf mehr Infor- rente durchschnittlich weniger als 735 Euro betrug oder mation angewiesen. Aus diesem Grund sollen die Daten ihr Alterseinkommen im Schnitt unter 782 Euro lag oder zum Bildungs- und Teilhabepaket in Zukunft häufiger weil sie sich ihre Miete nicht leisten konnten oder weil und detaillierter erhoben werden. Ich hoffe, dass dies ei- sie sich ihre Medikamente nicht leisten konnten. Was sie nen Beitrag für eine breite und zuverlässige Datenquelle vom Sozialamt dann erhalten, liegt weit unter den gän- leistet, die auch eine Grundlage dafür ist, das Bildungs- gigen Armutsrisikogrenzen. Die offizielle Armutsgrenze und Teilhabepaket noch einmal grundsätzlich diskutieren der Europäischen Union liegt für alleinlebende Men- und beraten zu können. So, wie es heute genutzt und ab- schen in Deutschland bei 979 Euro im Monat. Das ist gerufen wird, erfüllt es jedenfalls seine Aufgabe, für bes- der eigentliche Skandal. Und daran ändert Ihr 54 Seiten sere Bildung und Teilhabe armer Kinder zu sorgen, nicht. langer Gesetzentwurf gar nichts. (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie (Beifall bei der LINKEN) des Abg. Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn Ihr Gesetzentwurf ändert auch Nullkommanichts dar- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) an, dass die Zahl derjenigen Älteren, die aufs Sozialamt Ein weiterer Punkt ist die Anrechnung von Einkom- müssen, in den vergangenen zehn Jahren um 76 Prozent men im SGB XII. So gibt es bei der Anrechnung von gestiegen ist, und sich bei den Erwerbsgeminderten die Einnahmen aus dem Schonvermögen eine Verbesserung. Zahl sogar verdoppelt hat. Jahr für Jahr kommen 30 000 Zinsen aus dem Schonvermögen in Höhe von 26 Euro bis 40 000 Betroffene neu dazu. Akzeptieren Sie endlich, werden nicht auf die Leistungen des SGB XII angerech- dass viele Altersrenten und noch mehr Erwerbsminde- net. Und es wird in dem Gesetz die Anrechnung von rungsrenten nicht vor Armut schützen! Darum sage ich einmaligen Einnahmen geregelt. Diese werden im Fol- Ihnen: Schaffen Sie die ungerechten Abschläge für Er- gemonat angerechnet, sollten Regelleistungen für den werbsminderungsrentner und ‑rentnerinnen ab! laufenden Monat schon ausgezahlt sein – das ist über- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- wiegend Technik. neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wie erwähnt klären wir – und das ist keine Technik – (B) Und: Schaffen Sie die Kürzungsfaktoren in der Ren- (D) die Anrechnung der NVA-Verletztenrente. Wie zugesagt, tenanpassungsformel ab! Das wäre bitter notwendig. ist nach Prüfung durch das Ministerium eine Lösung für das Problem der Ungleichbehandlung von im Wehrdienst (Beifall der Abg. Kathrin Vogler der NVA Beschädigten gegenüber den im Wehrdienst der [DIE LINKE]) Beschädigten in dem Gesetzentwurf umge- setzt worden. Die Gleichstellung erfolgt durch die Be- Aber davon findet sich selbstverständlich nichts in Ihrem rücksichtigung eines Freibetrags aus der Verletztenrente, Gesetzentwurf. die für die ehemaligen NVA-Wehrdienstleistenden aus Worum geht es Ihnen? Seit dem 1. Januar 2014 ist die der gesetzlichen Unfallversicherung bezahlt wird. Der Grundsicherung im Alter komplett auf den Bund über- Freibetrag entspricht dabei der Höhe der Grundrente gegangen. Daraus ergeben sich Auslegungsfragen, Ver- nach dem Bundesversorgungsgesetz, die den beschädig- fahrensänderungen usw.; das machen Sie alles mehr oder ten Wehrdienstleistenden der Bundeswehr zusteht; je- weniger bürokratisch korrekt. Aber dann liest man auf weils abhängig vom Grad der Schädigungsfolgen. Damit einmal auf Seite 40 des Gesetzentwurfes, dass sich der ist eine Gleichstellung von ost- und westdeutschen Wehr- Bundesrat in seiner Stellungnahme einem echten Pro- dienstleistenden im SGB XII gewährleistet. blem zuwendet, Herr Kollege Weiß, den ich an dieser Nicht alles, was das SGB XII betrifft, aber vieles Stelle gerne ansprechen möchte, einem Problem, wegen Wichtige wird in dem vorliegenden Gesetzentwurf gere- dessen sich immer wieder Betroffene an uns wenden: Die gelt: Gerechtigkeit für die im Wehrdienst der NVA ver- Grundsicherung, die die Rente ja oft nur aufstockt – sa- letzten Soldaten, Verbesserungen für Landwirtinnen und gen wir zum Beispiel: um 200 Euro –, wird am Beginn Landwirte und für Flüchtlinge bei der Arbeits- und Aus- eines Monats ausgezahlt. Die Rente – sagen wir zum Bei- bildungsunterstützung. Ich freue mich auf die kommende spiel: in Höhe von 600 Euro – wird aber erst am Ende Diskussion. des Monats ausgezahlt. Folge: Die Rentnerin muss einen Monat lang von 200 Euro leben. Wie soll denn das ge- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten hen? der CDU/CSU) Wir hatten der Bundesregierung im November 2014 zu dieser Lücke zwischen Grundsicherung und Renten- Vizepräsidentin Claudia Roth: auszahlung eine Frage gestellt. Sie wollten prüfen, was Vielen Dank, Kollegin Schmidt. – Nächster Redner in Sie tun können. Der Bundesrat hat zur Lösung des Pro- der Debatte: Matthias W. Birkwald für die Linke. blems drei leider hochkomplizierte Verfahrensvarianten (Beifall bei der LINKEN) vorgelegt. Das ist schon befremdlich; aber dass die Bun- 12672 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015

Matthias W. Birkwald (A) desregierung auf Seite 51 des Gesetzentwurfs ebenfalls sonst eingezahlt. Dass wenigstens die jüngeren Ehe- (C) das Problem anerkennt, die vom Bundesrat vorgeschla- partnerinnen einen eigenen Rentenanspruch behalten, gene Regelung in epischer Breite auf ihre Schwächen hin wenn ihr Gatte den Hof nicht abgibt, wäre ein kleiner abklopft, um dann am Ende nichts vorzulegen, das ist Fortschritt. Das ändert an dem Grundproblem aber nur wirklich unverschämt. wenig. Darüber werden wir in der Anhörung noch reden. (Beifall bei der LINKEN) Herzlichen Dank. Zitat: (Beifall bei der LINKEN) Die Bundesregierung lehnt es bereits im Grundsatz ab, das im SGB XII geltende Zuflussprinzip ... zu Vizepräsidentin Claudia Roth: durchbrechen ... Vielen Dank, Herr Kollege Birkwald. – Nächste Red- nerin: Jana Schimke für die CDU/CSU-Fraktion. Welcher Grundsatz denn? Ignoranz? Bürokratische Weltfremdheit? Nein, das ist wirklich ein Schlag ins Ge- (Beifall bei der CDU/CSU) sicht von älteren Menschen, die einen Monat lang von 200 Euro leben sollen. Jana Schimke (CDU/CSU): Der Deutsche Verein für öffentliche und private Für- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir ha- sorge, wahrlich keine kommunistische Vorfeldorganisa- ben heute Morgen eine sehr interessante und wichtige tion, hatte ganz einfach und elegant gefordert, die Rente Debatte hier im Deutschen Bundestag erlebt. Wir haben im ersten Monat nicht zu berücksichtigen – ganz einfach. das Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz und damit, so Man bekäme also im ersten Monat einmalig zum Bei- will ich es sagen, eines der wichtigsten Gesetze in dieser spiel 800 Euro Grundsicherung und erst ab dem nächs- Legislaturperiode verabschiedet. Ich denke, eine ähnlich ten Monat dann immer nur 200 Euro Grundsicherung am wichtige Bedeutung haben die Änderungen, die wir jetzt Anfang des Monats und 600 Euro Rente am Ende des im Rahmen des Zwölften Sozialgesetzbuches verab- Monats. Das ist doch ein guter Vorschlag. Setzen Sie ihn schieden. um. Die Betroffenen werden es Ihnen danken. Mit der heutigen Beratung zum Zwölften Sozialge- (Beifall bei der LINKEN) setzbuch schaffen wir weitere Verbesserungen in unserer Sozialgesetzgebung. Zur Erinnerung: Vor zehn Jahren, Jetzt nach all der Kritik noch ein bisschen Lob am 1. Januar 2005, löste das Zwölfte Sozialgesetzbuch (Zurufe von der SPD: Oh! – Katja Mast das damalige Bundessozialhilfegesetz ab. Seitdem re- (B) [SPD]: Das sind wir gar nicht gewohnt!) gelt das SGB XII die Vorschriften für die Sozialhilfe in (D) Deutschland. Zur gleichen Zeit wurde für Arbeitsuchen- und ein bisschen Eigenlob. de, die zuvor Anspruch auf Sozial- oder Arbeitslosenhilfe (Zurufe von der SPD: Ah!) hatten, das Arbeitslosengeld II eingeführt. Diese Refor- men waren Teil der und brachten – dieser Bisher wurde die Verletztenrente bei früheren Wehr- Auffassung sind wir noch heute – unseren Arbeitsmarkt dienstleistenden der Nationalen Volksarmee auf die damals wieder auf Erfolgskurs. Grundsicherung angerechnet und die der Wehrdienstleis- tenden der Bundeswehr nicht. Das war ungerecht, und (Beifall des Abg. Dr. Matthias Bartke das ist ungerecht. Die Linke kritisiert das schon seit der [SPD] – Heiterkeit) 16. Legislaturperiode. Das SGB XII kennt mehrere Leistungsarten. Eine da- (Zuruf von der LINKEN: Aha!) von ist die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbs- minderung. Auf diese Sozialleistung ist erfreulicherwei- Jetzt wollen Sie endlich einen Freibetrag von durch- se nur ein kleiner Teil der Rentnerinnen und Rentner in schnittlich 238 Euro im Jahr einführen. Damit würden Deutschland angewiesen. Sie immerhin eine der einigungsbedingten Ungerechtig- keiten beseitigen. Das ist gut. Machen Sie weiter so. (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Er wird leider von Jahr zu Jahr immer größer, dieser (Beifall bei der LINKEN – Katja Mast Teil!) [SPD]: Danke!) Es sind sage und schreibe gerade einmal 3 Prozent; es Noch ein Wort zur Hofabgabeklausel bei Bauern. sind, genau genommen, in den neuen Bundesländern 2,1 Prozent und in den alten Bundesländern 3,2 Prozent. Vizepräsidentin Claudia Roth: Meine Damen und Herren, von der oftmals und viel be- Ein kurzes Wort. schworenen Altersarmut ist, zumindest wenn man nach diesen Zahlen geht, nicht viel zu erkennen. Matthias W. Birkwald (DIE LINKE): Der Bund übernimmt bereits seit zwei Jahren die Fi- Die Linke bleibt dabei: Die Hofabgabeklausel ist nanzierung dieser Sozialleistung von den Bundesländern. anachronistisch. Sie muss gestrichen werden. Sie wirkt 2013 wurden zunächst 75 Prozent der jährlichen Netto- häufig wie eine Zwangsenteignung: Gibt der Landwirt ausgaben an die Länder erstattet, und seit 2014 trägt der den Hof ab, bekommt er eine Minirente, kann aber nichts Bund 100 Prozent der Kosten der Länder für die Grund- dazuverdienen; gibt er ihn nicht ab, hat er komplett um- sicherung im Alter und bei Erwerbsminderung. Für 2015 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 12673

Jana Schimke (A) haben wir dafür eine Summe von rund 5,9 Milliarden zuschwächen, sondern sie gibt auch den Menschen in (C) Euro im Bundeshaushalt vorgesehen. Meine Damen und Europa die Möglichkeit, vielerorts berufliche Chancen Herren, das ist ein Beispiel von vielen, wie der Bund den zu nutzen. Während wir hierzulande über die höchsten Ländern und den Kommunen hilft, sie finanziell entlastet Beschäftigungszahlen und die geringste Arbeitslosig- und ihnen bei der Bewältigung wichtiger Aufgaben hilft. keit seit langem verfügen, sieht die Situation in vielen Doch der heute diskutierte Gesetzentwurf zur Ände- europäischen Partnerländern ganz anders aus. Nicht nur rung des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch geht noch Spanien oder Griechenland beklagen eine hohe Arbeits- weiter. Die Finanzierungsübernahme des Bundes erfor- losenquote von mehr als 25 Prozent oder eine hohe Ju- derte bisher eine aufwendige Nachweisführung der Län- gendarbeitslosenquote von mehr als 48 Prozent. Auch der über deren Verwendung der Gelder. Diese Nachweis- Kroatien selbst hat enorme Probleme im Hinblick auf und Abrechnungsmodalitäten werden wir jetzt im Sinne den Arbeitsmarkt. Dort liegt die Arbeitslosenquote bei der Länder neu regeln. Wir kehren zu einer vereinfachten 17 Prozent, bei den Jugendlichen sogar bei 43 Prozent. Nachweisführung zurück. 2013 und 2014 haben wir da- Auch da, meine Damen und Herren, setzt Arbeitnehmer- mit schon sehr gute Erfahrungen gemacht. Die Länder freizügigkeit an. Sie sorgt aber auch dafür, dass wir einen müssen künftig nicht mehr, wie bisher, nach den einzel- Teil unserer Standards bei der Ausbildung, im Bereich nen Bedarfen differenzieren. Eine Unterscheidung soll der Weiterbildung oder in verschiedensten Berufsbildern, künftig lediglich nach den unterschiedlichen Leistungs- zum Beispiel im Handwerk, weitergeben können. berechtigten vorgenommen werden. Ich möchte hier an das hohe Ansehen erinnern, das wir Wir schaffen weitere Entlastungen: Wir schaffen für im europäischen Ausland für unser System der dualen Sparer, die gleichzeitig Leistungsempfänger sind, einen Berufsausbildung oder unser – wir alle kennen es – In- jährlichen Freibetrag in Höhe von 26 Euro für Einnah- nungs- und Kammersystem mit einer Vielzahl an zertifi- men aus Kapitalvermögen, also insbesondere für Zins­ zierten Berufen genießen. einnahmen. Einmalige Einnahmen werden künftig erst (Beifall bei der CDU/CSU) im Folgemonat angerechnet, und bedarfsdeckende ein- malige Einnahmen sind in der Regel auf sechs Monate Aus diesem Grund ist die Arbeitnehmerfreizügigkeit zu verteilen. Das bedeutet in der Praxis, dass ein Grund- Kroatiens nicht nur ein Gewinn für Deutschland und für sicherungsempfänger seine Leistung aufgrund einer ein- Kroatien, es ist ein Gewinn für alle Länder der Europäi- maligen zusätzlichen Einnahme künftig nicht mehr ge- schen Union. strichen bekommt. Vielen Dank. Doch der Gesetzentwurf beschränkt sich eben nicht (Beifall bei der CDU/CSU) (B) nur auf sozialpolitische Maßnahmen, er widmet sich (D) auch einem der Vorzüge der Europäischen Union, näm- lich der Arbeitnehmerfreizügigkeit, die nicht nur grenz­ Vizepräsidentin Claudia Roth: überschreitende Mobilität ermöglicht, sondern auch den Vielen Dank, Frau Kollegin Schimke. – Nächster Red- Bedarfen unseres Arbeitsmarktes und insbesondere dem ner in der Debatte: Friedrich Ostendorff für Bündnis 90/ Fachkräftemangel in Deutschland Rechnung trägt. Die Grünen. Vor zwei Jahren ist Kroatien der Europäischen Union beigetreten. Der damals ausgehandelte Beitrittsvertrag Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sah vor, dass kroatische Staatsangehörige für maximal NEN): sieben Jahre im europäischen Ausland arbeiten durften. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sie wer- In der zurückliegenden Zeit gab es dann umfangreiche den es ahnen: Ich werde mich heute für die Grünen zur Erleichterungen für qualifizierte Fachkräfte, für Saison- Hofabgabeklausel der Landwirtschaftlichen Alterskasse kräfte und Auszubildende beim Zugang zum deutschen erklären. Das ist für uns ein ganz entscheidender Punkt. Arbeitsmarkt. Den ersten kleinen Schritt hat die Koalition vollzogen. Viele, meist jüngere Kroaten haben diese Zugangs- Weit war der Weg, eine Lösung ist aber trotzdem nicht in erleichterungen genutzt. In 2014 waren 93 000 Kroaten Sicht. Wir halten es mit Laotse: „Nur wer sein Ziel kennt, in Deutschland sozialversicherungspflichtig beschäftigt. findet den Weg.“ Wir Grünen halten an unserem Ziel fest. Sie arbeiten vor allem in Bereichen, in denen wir einen Der Weg ist kurz und einfach beschrieben: Die Hofabga- immer größeren Fachkräftemangel haben, in denen im- be als Bedingung für die verdiente Rente von Bäuerinnen mer weniger Beschäftigte zur Verfügung stehen, bei- und Bauern, die ihr Leben lang hart gearbeitet und in die spielsweise im verarbeitenden Gewerbe, im Baugewerbe Landwirtschaftliche Alterskasse eingezahlt haben – oft oder auch im Gesundheits- und Sozialwessen. jahrzehntelang –, gehört abgeschafft. Seit dem 1. Juli dieses Jahres besteht die uneinge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schränkte Arbeitnehmerfreizügigkeit. Wir gehen damit und bei der LINKEN) von jährlich etwa 10 000 weiteren kroatischen Arbeits- Die agrarstrukturelle Funktion der Hofabgabever- kräften aus. Sie tragen dazu bei, dass eine Lücke dort ge- pflichtung wurde von der Realität restlos überholt. Wer schlossen wird, wo wir dringend Bedarfe haben. daran festhält, hat nur zwei Dinge im Sinn: eine weitere Meine Damen und Herren, die Arbeitnehmerfreizü- große soziale Ungerechtigkeit und die massive Beför- gigkeit hilft nicht nur, unseren Fachkräftemangel ab- derung des Strukturwandels. – Das soll man dann auch 12674 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015

Friedrich Ostendorff (A) sagen. Dieses Ziel hat man sowieso; deshalb darf man es darstellt. Versicherungspflichtige Selbstständige, die in (C) auch erklären. der gesetzlichen Rentenversicherung sind, können nach Ich bin seit 36 Jahren Pflichtmitglied der Landwirt- Erreichen der Altersgrenze Rente beziehen, obwohl sie schaftlichen Alterskasse. Bei vielen Kolleginnen und ihren Betrieb weiterführen. Kollegen der CDU/CSU kann ich das nicht feststellen. Auch an dieser Gesetzesvorlage haben Sie von der Dort hat man sich auf leisen Sohlen aus dem System ver- Union wieder einmal halbherzig herumgedoktert. Um abschiedet, um jetzt machtvoll für den Erhalt von Dingen nur eine neue Regelung herauszugreifen: die geänderte zu streiten, von denen man selber überhaupt nicht mehr Abgabemöglichkeit vom Ehemann an die jüngere Ehe- betroffen ist. frau. Das wollen Sie nun ändern. Dies ist eigentlich eine (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Ja, so Streichung der Hofabgabeklausel. Warum macht man es sind sie!) so verkappt und nicht durchgängig? Es findet ja sowieso statt. Der Titel wird erhalten, aber der Inhalt restlos aus- 1957 wurde die Hofabgabeklausel eingeführt, um gehöhlt. den damaligen Zustand, den Erbgang auf dem Sterbe- bett, zu beenden. Aber die Welt hat sich weiterentwi- Die meisten Landwirte sind verheiratet. Viele wer- ckelt; die Zustände haben sich verändert. Heute haben den die neue Regelung nutzen, die da lautet: Der Mann nur noch 30 Prozent aller landwirtschaftlichen Betriebe geht mit 65 Jahren aufs Altenteil und bezieht Rente. Sei- eine geregelte Hofnachfolge. Für diese Betriebe ist die ne Frau arbeitet selbstständig weiter. – Bauernschläue Hofabgabeklausel kein Problem. Aber 70 Prozent al- wird das Ganze anreichern; Sie von der CDU/CSU ken- ler landwirtschaftlichen Betriebe haben keine geregelte nen das ja bestens. Von daher wird es zu einer weiteren Hofnachfolge. Diese Landwirte werden gezwungen, ihre Aushöhlung der Hofabgabeklausel kommen, die ihren Höfe abzugeben, um eine Rente zu erhalten, obwohl sie Namen dann nicht mehr verdient. Sie aber können der keine Hofnachfolge haben. Landjugend erzählen: Wir haben für die Hofabgabeklau- Das führt natürlich zu dubiosesten Scheinverträgen. sel gekämpft. – Sie hat zwar keine Bedeutung mehr, da Der Sohn als Lufthansa-Pilot ist dann auf einmal Hoferbe sie umgangen wird; aber formal ist sie noch da. Dies hat im Ostwestfälischen, obwohl er niemals auf dem Hof ist. insbesondere Frau Mortler von der CSU betrieben, weil Dadurch hat man dann aber irgendwie der Form Genüge sie jemand ist, der nicht akzeptiert, dass sich die Welt getan. Mit der Realität hat dies allerdings nichts zu tun. weiterdreht und wir uns mit ihr weiterentwickeln. Das will sie nicht zur Kenntnis nehmen. Aber alle anderen Wer von diesen Landwirten weitermacht, sich also von uns merken das sehr wohl. Hier steht die Union doch entscheidet, auch mit 65 Jahren und mehr seinen land- wieder einmal allein auf weiter Flur. Auch die Bundes- (B) wirtschaftlichen Betrieb weiterzuführen, erhält keine länder haben bei der letzten Ministerkonferenz gezeigt, (D) Rente, obwohl jahrzehntelang Beiträge gezahlt wurden. dass sie mehrheitlich gegen diesen Entwurf sind. Diese himmelschreiende Ungerechtigkeit wollen wir Grünen endlich beenden. Was finden wir in der Bibel dazu? Bei Matthäus, mei- ne Kollegen von der CDU/CSU, heißt es: „Ehre Vater (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und Mutter“ und „Du sollst Deinen Nächsten lieben wie und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten Dich selbst“. Aber auch hier tragen Sie das Christliche der SPD) zu Unrecht in Ihrem Namen. Beenden Sie endlich diesen Wir als Grüne wollen es nicht hinnehmen – das tun wir Krieg mit den Schwächsten! gemeinsam mit den Linken; wir haben ja gerade schon (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Gemeinsamkeiten entdeckt –, dass die Bauern und Bäu- und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten erinnen in ehelicher Gemeinschaft ihren Hof abgeben müssen, um circa 700 Euro Rente im Monat zu erhalten. der SPD) Das ist knapp genug und wird durch oft nur sehr kleine Unsere Alten haben es verdient, ernst genommen zu wer- Pachteinnahmen nur etwas angereichert. Dies führt zu den. Es ist bewundernswert und anerkennenswert, mit einem sehr bescheidenen Lebensabend der Bauern und welcher Beharrlichkeit und Ausdauer der Arbeitskreis Bäuerinnen. für die Abschaffung der Hofabgabeklausel seit Jahren für Andere EU-Länder, wie Österreich, die ein ähnliches dieses Ziel kämpft. System haben, zeigen, dass es ohne Hofabgabepflicht (Beifall der Abg. Dr. Kirsten Tackmann [DIE geht. Dort hat sich das Durchschnittsalter der Bäuerinnen LINKE]) und Bauern nach der Streichung der Hofabgabeklausel nicht verändert. Wir stellen also fest, dass das ein Vorbild Wir Grünen versprechen, ebenso wie die Kolleginnen für Deutschland sein könnte. und Kollegen in den grün regierten Ländern, weiter für die Erreichung dieses Ziels zu streiten. Wir Grünen hät- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ten auch den Vorschlag einer 10-prozentigen Abschlags- und bei der LINKEN) rente ohne Hofabgabe, den Dr. Peter Mehl vom Bundes- Deshalb sind wir mit dem Ausschuss nach Österreich forschungsinstitut gemacht hat, akzeptiert. Hier gilt es, gefahren. Ich frage mich heute aber, warum wir das getan den Streitern Dank zu sagen, die seit Jahren für vernünf- haben, wenn Sie in der Union nicht bereit sind, dazuzu- tige Regelungen streiten, bei CDU/CSU allerdings kein lernen. Sie wissen doch ganz genau, dass die landwirt- Gehör finden. Ich hoffe, dass die SPD als eine Partei, schaftliche Alterssicherung eine Ausnahme im System die immer für die soziale Sicherung in der Landwirt- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 12675

Friedrich Ostendorff (A) schaft gestanden hat, diese Sorgen ernster nimmt und die Löhne und Einkommen der Menschen sorgen, damit sich (C) Hofabgabe endlich abschafft. Altersarmut nicht verfestigt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das al- und bei der LINKEN) leine reicht nicht! – Dr. Wolfgang Strengmann- Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nicht Vizepräsidentin Ulla Schmidt: erst in 20 oder 30 Jahren! Sie müssen sofort Vielen Dank. – Nächster Redner ist der Kollege etwas machen!) Michael Gerdes, SPD-Fraktion. – Lassen Sie mich das vielleicht noch ausführen. – Das (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten setzt voraus, dass Menschen berufliche Perspektiven ha- der CDU/CSU) ben. Michael Gerdes (SPD): Liebe Kolleginnen und Kollegen, da setzt eben auch Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der vor- der Gesetzentwurf an. Er sieht unter anderem Änderun- liegende Gesetzentwurf sieht verschiedenste Neurege- gen im SGB III sowie im Bundesausbildungsförderungs- lungen vor, einen großen Strauß an Themen, wie wir ge- gesetz, BAföG, vor. Konkret geht es hier um die schnel- rade gehört haben. Zur Hofabgabe werde ich jetzt nichts lere Öffnung der ausbildungsbegleitenden Hilfen auch sagen; das macht gleich meine Kollegin Schulte. für Geduldete. Sicherlich kennen Sie dieses Instrument. (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Grundsätzlich geht es darum, jungen Menschen beim NEN]: Dazu ist alles gesagt worden!) Lernen unter die Arme zu greifen, etwa beim Erfassen Bei den Änderungen des Zwölften Buches Sozialge- von fachlichen Inhalten, beim Abbau sprachlicher Defizi- setzbuch geht es vor allem um Verwaltungsvereinfachun- te oder in Form von sozialpädagogischer Hilfe. Sprache gen, einheitliche Begriffe und auch redaktionelle Überar- ist der Zugang zur Gesellschaft und zum Arbeitsmarkt. beitungen. Das ist sinnvoll. Hier gibt es auch keine große Deshalb gehören Sprachkurse zu den ersten Maßnahmen, politische Kontroverse. Interessant ist unter anderem, um Ausbildung zu ermöglichen. dass die statistikbezogene Betrachtung von jährlicher Erfassung auf vierteljährliche Betrachtung zu deutlichen (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Matthias Verbesserungen in den Kommunen führt. Wurden bis- W. Birkwald [DIE LINKE]) her Leistungen und Aufwendungen für Klassenfahrten, Je schneller wir ausbilden und fördern, desto eher Schülerbeförderungen, Mittagsverpflegung, aber auch (B) ergänzende Lernförderung lediglich zum 31. Dezember eröffnen wir Flüchtlingen die Chance auf Teilhabe und (D) erhoben, erfolgt die Erfassung und Abrechnung nun we- Eigenständigkeit. Wir brauchen diese Hilfen mehr denn sentlich zeitnäher im vierteljährlichen Modus. Das führt je. Sie sind eine Chance für die Menschen, die bei uns zu deutlich besserer Haushaltsklarheit. Zuflucht und Perspektiven suchen. Sie sind aber auch Die Änderung der betroffenen Verwaltungsvorschrift eine gute Chance für uns als Einwanderungsland; denn im SGB XII ergibt sich aus der Tatsache, dass der Bund gut ausgebildete Menschen sind unsere Zukunft. Das gilt seit 2014, wie wir gehört haben, die Nettoausgaben der selbstverständlich nicht nur für Flüchtlinge. Wir wollen Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung zu allen ausbildungswilligen Menschen in unserem Land 100 Prozent übernimmt. Wie Sie wissen, war und ist das die gleichen Chancen bieten. wesentliche Ziel der Kostenübernahme die Stärkung der Finanzkraft der Kommunen. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Dabei geht es nicht nur um das Nachholen von Schulab- schlüssen. Es lohnt sich, das Bildungsniveau insgesamt Hier haben wir in den vergangenen Jahren und Monaten zu stärken. Diese Idee sollten wir im Laufe des Gesetz- einiges erreicht. Dennoch ist klar, dass viele Städte und Gemeinden weiterhin unter knappen Kassen leiden. Die gebungsverfahrens diskutieren. aktuelle Flüchtlingssituation erhöht den Druck im Kes- Liebe Kolleginnen und Kollegen, da sich meine Be- sel. trachtung in dieser Rede auf die jetzige, außergewöhnli- Ich möchte an dieser Stelle daran erinnern, dass es che Situation fokussiert hat, erlauben Sie mir noch einen die Sozialdemokraten waren, die an der damaligen Ein- grundsätzlichen Satz: Integration gelingt durch Bildung. führung der Grundsicherung federführend beteiligt wa- Das gilt für diejenigen, die schon immer in unserem Land ren. Aus unserer Sicht ist die Grundsicherung ein erster gelebt haben, gleichermaßen wie für die Menschen, die Schritt gegen unwürdige Armut im Alter. Sie ist eine gute jetzt hinzukommen. Lassen Sie uns diese Chance nutzen. soziale Errungenschaft. Gut ist auch, dass der Bund diese Wir haben heute Morgen gehört: Wir schaffen das. Aber Leistung seit einiger Zeit vollständig zahlt. wir haben heute Morgen auch gehört: Wir machen das. (Beifall bei der SPD) In diesem Sinne herzlichen Dank. Glückauf! Im März 2015 bezogen in Deutschland rund 512 000 Personen Leistungen der Grundsicherung im Al- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ter. Deshalb bleibt es dabei: Wir müssen für ordentliche der CDU/CSU) 12676 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015

(A) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: So hat auch Dr. Mehl vom Thünen-Institut 2013 heraus- (C) Herzlichen Dank. – Für die CDU/CSU-Fraktion gearbeitet, dass nur 6,6 Prozent der landwirtschaftlichen spricht jetzt der Kollege Albert Stegemann. Betriebsleiter in Deutschland älter als 65 Jahre sind. Im EU-Schnitt sind es mehr als viermal so viele, und in (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Italien ist sogar jeder dritte Landwirt über 65 Jahre alt. ordneten der SPD) Die Hofabgabeklausel erzielt also weiterhin die positi- ve agrostrukturelle Wirkung, die bei der Architektur der Albert Stegemann (CDU/CSU): Alterssicherung der Landwirte neben der sozialen Siche- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! rungsfunktion von Anfang an eine ganz erhebliche Rolle Liebe Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Neben gespielt hat. den schon genannten sehr wichtigen Punkten liegt mir (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ein Thema des Gesetzentwurfs besonders am Herzen, NEN]: Ist die Trickserei auch mitgerechnet? welches wir auch im Koalitionsvertrag vereinbart haben, Herr Ostendorff hat das beschrieben!) und zwar die Neugestaltung der Hofabgabeklausel. Gleichwohl fordert eine kleine, aber sehr lautstar- (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ke Gruppe die Abschaffung der Hofabgabeklausel. Sie NEN]: Abschaffung statt Neugestaltung! – begründet das damit, dass sie einen Anspruch auf diese Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE Rente hätte und von der Politik getäuscht würde. Dabei GRÜNEN]: Abschaffung, Albert! Das ist ganz gilt der Grundsatz „Rente nur nach Abgabe der unterneh- einfach!) merischen Verantwortung“ seit nunmehr knapp 60 Jah- Doch was verbirgt sich hinter diesem etwas sperrigen ren. Dieses Vorgehen wurde immer wieder höchstrich- Begriff? Um gesetzliche Regelungen zu verstehen, ist es terlich bestätigt. Die Klausel muss damit jedem Landwirt hin und wieder hilfreich, sich mit deren Entstehung aus- seit Beginn des Berufslebens klar gewesen sein. einanderzusetzen. Übrigens erhalten die Landwirte im Ruhestand im Warum hat man seinerzeit den Rentenbezug der Land- Gegenzug zur Abgabe des Hofes gegenüber den Bei- wirte an die Abgabe des Hofes geknüpft? tragszahlern der gesetzlichen Rentenversicherung je ein- gezahltem Euro eine um rund 10 Prozent höhere Rente. (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE Dies ist gerechtfertigt, weil der Landwirt mit der Hofab- GRÜNEN]: 1957!) gabe neben dem Erreichen der Regelaltersgrenze und der Erfüllung der Mindestwartezeit eine zusätzliche Bedin- Als die Bundesregierung unter Konrad Adenauer 1957 gung erfüllen muss, um in den Rentenbezug zu kommen. das Alterssicherungssystem für Landwirte eingeführt hat, Der Großteil derer, welche die Abschaffung der Hofab- (B) verfolgte sie damit zwei Ziele: Erstens. Ehemalige Land- (D) gabeklausel fordern, will daher schlicht die eigenen Ren- wirte sollten erstmalig im Alter eine im Umlageverfahren tenzahlungen maximieren. Es kann aber nicht Unions- finanzierte Absicherung erhalten. Zweitens. Landwirtsfa- politik sein, eine solche von eigenen Interessen geleitete milien sollten ermuntert werden, die Hofabgabe an die Forderung auf Kosten der Allgemeinheit zu goutieren. nachfolgende Generation zu vollziehen. Daher bekom- Deshalb lehnen wir dies ab. men nur Landwirte eine Rente, die den Hof an in der Re- gel junge Betriebsleiter abgegeben haben. Diese sollen (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Wolfgang dadurch früh unternehmerische Verantwortung überneh- Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- men können. NEN]: Kollege Ostendorff hat einen Vor- schlag gemacht!) Dem Gesetzgeber war also damals wie heute ein strukturelles Problem bewusst: Den Landwirten fällt es Zur Wahrheit gehört aber auch: Es gibt Einzelfälle, hin und wieder äußerst schwer, sich von ihrer Scholle zu bei denen die Hofabgabe schwerfällt. Gerade in struk- trennen. Das ist verständlich; schließlich hat der Land- turschwachen Regionen ist es nicht für jeden Landwirt wirt auf dieser sein Leben lang gewirtschaftet. Allerdings einfach, einen Hofnachfolger zu finden. Betriebsleiter sind landwirtschaftliche Flächen begrenzt und für die mit kleinen Betrieben bewirtschaften den Hof daher oft- landwirtschaftliche Tätigkeit unabdingbar. Zugleich ist mals über die Regelaltersgrenze hinaus. Dann erhalten es für Junglandwirte aber faktisch nicht möglich, ohne sie nach heutiger Rechtslage jedoch keine Zahlung aus landwirtschaftliche Fläche unternehmerisch tätig zu wer- der Alterssicherung der Landwirte, auf die sie gleichwohl den. Ebendiese jungen, engagierten und gut ausgebilde- angewiesen wären. ten Landwirte braucht es aber. Sie haben neue Ideen und Wir halten es für richtig, dass der Renteneintritt auch Impulse, um Fragen des Tierwohls, des Gewässerschut- weiterhin im Grundansatz an die Übergabe des Hofes zes, aber auch Fragen der Akzeptanz in der Gesellschaft geknüpft ist. Die CDU/CSU steht aber an der Seite der zu beantworten. Nicht zuletzt geht es auch um die Wett- Landwirte, für welche diese Regelung eine besondere so- bewerbsfähigkeit der Landwirtschaft insgesamt. ziale Härte bedeutet. Mit der Neugestaltung der Hofab- Sie sehen also: Mit dieser Intention war die Hofabga- gabeklausel wollen wir diesen Landwirten helfen. be von Anfang an Voraussetzung für den Rentenbezug, (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE und sie hat nie an Berechtigung verloren. GRÜNEN]: Sie höhlen sie total aus!) (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE Wie sehen die konkreten Maßnahmen im vorliegen- GRÜNEN]: Doch, hat sie!) den Gesetzentwurf aus, über die wir heute beraten? Wir Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 12677

Albert Stegemann (A) handeln nämlich nicht nur an einer Stelle, sondern gleich Sie sehen also: Mit diesen Vorschlägen werden die so- (C) an mehreren Stellen. Zum Beispiel wurden die Renten- zialen Härten in den Blick genommen und, wie ich finde, zahlungen an den Ehegatten bisher eingestellt, wenn des- gute Lösungen gefunden. Ich bin mir sicher, dass wir, sen Ehepartner die Regelaltersgrenze erreicht, den Hof was dieses Thema anbelangt, zu einer Befriedung bei- aber noch nicht abgegeben hat. tragen können. (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir werden GRÜNEN]: Das betraf die Frauen in der Re- sicherlich auch künftig munter über die Hofabgabeklau- gel! Ihr habt gemerkt: Die Frauen sind gleich- sel diskutieren. Wir müssen aber bei allem, was wir tun, berechtigt!) darauf achten, dass wir das Kind nicht mit dem Bade aus- schütten. Aus eigener Erfahrung weiß ich, wie wichtig Das wollen wir ändern, indem wir den Rentenanspruch es ist, dass Landwirte früh Verantwortung übernehmen des Ehegatten in diesem Fall erhalten. Damit schaffen können. Daher brauchen wir Rahmenbedingungen, mit wir einen Bestandsschutz für die Rente der Ehegatten. denen jungen Menschen Verantwortung übertragen wird (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE und die Landwirten einen guten Ruhestand ermöglichen, GRÜNEN]: Das war eine totale Diskriminie- in dem sie stolz auf ihr Lebenswerk zurückschauen kön- rung der Frauen!) nen, weil sie die ehemals von ihnen bewirtschafteten Flä- chen in guten Händen wissen. – Die jetzt abgeschafft wird. Sehr gut! Vielen Dank. Bisher dürfen Rentner nur wenig durch Weiterbewirt- schaftung hinzuverdienen. Das wollen wir deutlich auf- (Beifall bei der CDU/CSU) stocken, indem künftig mit knapp 8 Hektar viermal so viel Fläche wie bisher weiterbewirtschaftet werden darf. Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Zur Veranschaulichung: Diese Fläche entspricht ungefähr Vielen Dank. – Letzte Rednerin zu diesem Tagesord- der Größe von elf Fußballfeldern. – Damit verbessern wir nungspunkt ist die Kollegin Ursula Schulte, SPD-Frak- die Hinzuverdienstmöglichkeiten der Landwirte. Flanki- tion. erend ändern wir das Krankenversicherungsrecht, damit die Einkünfte aus den Hinzuverdienstmöglichkeiten (Beifall bei der SPD) nicht durch massiv ansteigende Krankenversicherungs- beiträge aufgezehrt werden. Ursula Schulte (SPD): Ein weiterer Punkt: Bisher wurde eine spätere Inan- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen (B) spruchnahme der Rente nicht rentensteigernd gewür- und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir dis- (D) digt. Wir wollen nun eine Regelung aus der gesetzlichen kutieren heute in erster Beratung über den Entwurf ei- Rentenversicherung übernehmen, die eine spätere Inan- nes Gesetzes zur Änderung des Zwölften Buches Sozi- spruchnahme der Rente honoriert. algesetzbuch. In diesem Zusammenhang steht auch die Hofabgabeklausel auf der Tagesordnung. Die Hofabga- (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE beverpflichtung, wie es richtig heißen muss, ist eine der GRÜNEN]: Das ist ein Stück Gerechtigkeit! – Kernvoraussetzungen für den Bezug einer Altersrente in Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- der Landwirtschaft. Die Hofabgabe ist kein Thema, das NEN]: Angleichung an die gesetzliche Ren- vergnügungssteuerpflichtig ist; denn über den Sinn die- tenversicherung!) ser Abgabe lässt sich trefflich streiten. Auch unter den Damit machen wir den nächsten logischen Schritt in Generationen ist man sich längst nicht immer einig. Un- Richtung Flexirente. ser sozialdemokratischer Anspruch lautet: Wer ein Leben lang in die Alterssicherung eingezahlt hat, hat am Ende Bisher gab es nach § 21 Absatz 6 des Gesetzes über auch ein Recht auf Rente. die Alterssicherung der Landwirte eine Regel zur Hofab- gabe, die sogenannte Abgabefiktion durch Ermächtigung (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- zur Veräußerung oder Verpachtung an eine öffentliche ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Stelle. So kompliziert, wie die Regelung klingt, ist sie Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE auch. Folglich wurde diese Möglichkeit bisher kein ein- GRÜNEN]: Ja, so einfach ist das!) ziges Mal genutzt. Sie ist schlicht nicht praktikabel, und Wenn ich mit den vielen Gruppen, die mich aus dem deswegen schaffen wir sie ab. Damit leisten wir auch ei- Westmünsterland – durchaus landwirtschaftlich ge- nen Beitrag zum Bürokratieabbau. prägt – in Berlin besuchen, über die Hofabgabeklausel diskutiere, ernte ich erstaunte Blicke und sehe in viele (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ungläubige Gesichter. Die Menschen können nicht nach- ordneten der SPD) vollziehen, dass der Bezug einer Regelaltersrente in der Ferner soll künftig die Hofabgabe erfolgen können, Landwirtschaft nur dann möglich ist, wenn man sein Un- indem das landwirtschaftliche Unternehmen in eine Ge- ternehmen abgibt. Die Mehrzahl meiner Besucherinnen sellschaft eingebracht wird und der ehemalige Landwirt und Besucher empfindet das als zutiefst ungerecht. dort keine Vertretungsvollmacht hat. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Friedrich Ostendorff [BÜNDNIS 90/DIE des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der GRÜNEN]: Das ist auch überfällig!) Abg. Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]) 12678 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015

Ursula Schulte (A) Damit bin ich bei den Kernfragen, die uns beschäfti- rischen Verfahrens. Wie uns die Erfahrung lehrt, kommt (C) gen sollten, wenn wir über die Hofabgabeverpflichtung kein Gesetz so aus dem Bundestag, wie es eingebracht nachdenken. Wie können wir erstens soziale Härten bei wurde. den älteren Landwirten vermeiden? Wie schaffen wir es zweitens, junge Landwirte in ihrer persönlichen und un- Die SPD will eine moderne Agrarpolitik, verbunden ternehmerischen Entwicklung zu unterstützen? Drittens. mit einer innovativen Sozialpolitik. Vor allen Dingen Wie schaffen wir es, dass die Ehepartner in der Land- wollen wir eine Landwirtschaft, die von der Gesellschaft wirtschaft sozial und vor allem eigenständig abgesichert akzeptiert wird. Dazu ist die Novellierung der Hofabga- werden? Das sind die Fragen, auf die wir in der Großen beklausel ein kleiner Schritt in die richtige Richtung. Die Koalition Antworten geben wollten. Ich denke, dass wir SPD-Fraktion hätte sicherlich mit diesem Gesetzentwurf auch einige Antworten gefunden haben. auch gleich die Abschaffung der Hofabgabeklausel be- schließen können. Wir haben uns 2013 vorgenommen, die Hofabgabe- klausel neu zu gestalten. Immer wieder ist es seit Grün- (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LIN- dung der landwirtschaftlichen Alterssicherung zur No- KEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- vellierung und damit auch zur Aushöhlung dieser Klausel NEN) gekommen. Deswegen sage ich an dieser Stelle, dass ich Aber unser Koalitionspartner hält an der Übergabe des persönlich – ich denke, ich darf das auch im Namen der Hofes bei Renteneintritt fest. Schade, schade, schade! SPD-Fraktion sagen – die Hofabgabeklausel für nicht Aber ich bin mir sicher: Was nicht ist, kann noch werden. mehr zeitgemäß halte. Danke, dass Sie mir zugehört haben. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie Wie sehen nun die geplanten Veränderungen bei der bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE Hofabgabeverpflichtung aus? In der Koalition haben GRÜNEN – Friedrich Ostendorff [BÜND- wir miteinander vereinbart, den rentenunschädlichen NIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir hätten euch aber Rückbehalt auf 99 Prozent der Mindestgröße anzuheben. unterstützt!) Somit kann der Landwirt neben seiner Rente eine land- wirtschaftliche Fläche unterhalb der zur Versicherungs- Vizepräsidentin Ulla Schmidt: pflicht führenden Mindestgröße behalten. Das sind im- Vielen Dank. – Damit sind wir am Ende der Ausspra- merhin 8 Hektar, wie Sie gerade ausgeführt haben, Herr che angelangt. Stegemann. Flankiert wird diese Maßnahme durch eine (B) Änderung im Recht der Krankenversicherung. Bezieher Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs (D) einer Rente sollen pflichtversichert bleiben können, so- auf Drucksache 18/6284 an die in der Tagesordnung auf- fern sie unterhalb dieser betrieblichen Mindestgröße lie- geführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Ich sehe, Sie sind gen. Wir haben auch eine Anpassung der Alterssicherung damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so be- für Landwirte an die Regelung der gesetzlichen Renten- schlossen. versicherung miteinander verabredet. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 sowie den Zu- Ganz wichtig: Wir haben die rentenrechtliche Stellung satzpunkt 3 auf: der Ehegatten verbessert; denn die derzeitige Rechtslage 13. Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- führt doch zu einer eklatanten Benachteiligung der Ehe- richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz, partner. Um Ihnen ein Beispiel zu nennen: Eine jüngere Bau und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu Fiktivlandwirtin – das ist die Ehefrau eines Landwirts dem Antrag der Abgeordneten Nicole Gohlke, ohne eigene Flächen – wird nach dem Gesetz, dessen Caren Lay, Diana Golze, weiterer Abgeordneter Entwurf vorliegt, zukünftig auch dann einen Rentenan- spruch haben, wenn ihr Ehemann trotz Erreichens der und der Fraktion DIE LINKE Regelaltersgrenze den Betrieb nicht abgibt. Damit haben Wohnungsnot, Mietsteigerungen und Mietwu- wir, wie ich finde, eine entscheidende Verbesserung für cher in Hochschulstädten bekämpfen die Bäuerinnen erreicht. Drucksachen 18/2870, 18/4512 (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Kirsten ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Christian Tackmann [DIE LINKE]) Kühn (Tübingen), Kai Gehring, Sven-Christian Kindler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Die eben genannten drei Punkte – die Erhöhung der BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Rückbehaltsfläche, die Honorierung verkürzter Renten- laufzeiten und die Verbesserung der Absicherung der Bund-Länder-Aktionsplan „Studentisches Ehepartner – sind die zentralen Bestandteile des nun Wohnen, Integration und soziale Infrastruk- vorliegenden Gesetzentwurfs. Ergänzung erfahren diese tur“ auflegen Punkte durch die Tatsache, dass der landwirtschaftliche Drucksache 18/6336 Unternehmer seinen Betrieb nun einfacher in eine neue Gesellschaft überführen kann. Sicherlich bleiben bei dem Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für heute vorliegenden Gesetzentwurf noch viele Wünsche die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei- offen. Aber wir stehen erst am Anfang des parlamenta- nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 12679

Vizepräsidentin Ulla Schmidt (A) Ich bitte, die Plätze einzunehmen und die Gespräche Wir haben im Rahmen der BAföG-Reform den Zu- (C) zu beenden. schuss deutlich erhöht, Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat für die Bun- (Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Das ist keine desregierung der Parlamentarische Staatssekretär Florian BAföG-Reform!) Pronold. um den Wohnraum von Studierenden zu finanzieren. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Wir haben vor wenigen Monaten in diesem Haus die Wohngeldreform beschlossen. Über 40 Prozent steigen Florian Pronold, Parl. Staatssekretär bei der Bundes- die Ausgaben des Bundes für das Wohngeld. Auch das ministerin für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsi- kommt Studierenden zugute. cherheit: (Beifall bei der SPD) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Wir haben die Mittel für die soziale Wohnraumförde- Kollegen! Wir diskutieren über zwei Anträge der Oppo- rung verdoppelt. Das ist eigentlich Aufgabe der Länder, sition, in denen etwas gefordert wird, was wir als Große so wie die Bereitstellung von Wohnraum für Studierende Koalition bereits umsetzen. eigentlich auch Aufgabe der Länder wäre. Wir unterstüt- zen jetzt die Bestrebungen der Länder, indem wir nicht (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) nur 500 Millionen Euro im Jahr, sondern 1 Milliarde Wie immer bei Anträgen der Opposition ist es so, dass Euro pro Jahr für soziale Wohnraumförderung ausgeben. ungefähr das Doppelte von dem gefordert wird, was wir (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten machen. Da denke ich zum Beispiel an die soziale Wohn- der CDU/CSU) raumförderung. Ich kann mich erinnern, dass vor einem Angespannte Wohnungsmärkte bekommen wir nicht Jahr die Opposition gefordert hat, wir müssten die so- in den Griff, indem wir nur den mietrechtlichen Schutz ziale Wohnraumförderung mindestens verdoppeln. Jetzt, verbessern. Wir bekommen sie nur dann in den Griff, da wir sie verdoppeln, reicht das nicht aus, und sie muss wenn wir zusätzlichen bezahlbaren Wohnraum vor Ort mindestens versechsfacht werden. So ist das Geschäft schaffen. Deswegen ist es richtig, dass wir neben der der Opposition. Förderung des sozialen Wohnungsbaus auch die Liegen- schaften des Bundes verbilligt abgeben; denn so kann Die SPD-Bundestagsfraktion wie die Große Koaliti- soziale Wohnraumförderung auch von den Kommunen, on hat auf das Thema „bezahlbares Wohnen“ einen gro- von Genossenschaften und von Baugesellschaften vor (B) ßen Schwerpunkt gelegt. Wir haben das nicht nur in den Ort geleistet werden. (D) Koalitionsvertrag geschrieben, sondern wir haben auch gehandelt. Dies kommt insbesondere den Studierenden (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) in den Hochschulstädten zugute. Mittlerweile sind die Das führt dazu, dass es zu einer Entspannung auf den Wohnungsmärkte in 40 von etwa 80 Hochschulstädten Wohnungsmärkten kommt. angespannt, wodurch dringender Handlungsbedarf be- Wir wollen zusätzlich steuerliche Anreize schaffen, steht. Auch Studierende müssen bezahlbaren Wohnraum um neben der öffentlich geförderten Wohnraumfürsorge vorfinden, und wir leisten dazu einen großen Beitrag. die Bereitstellung von Wohnraum durch Private zu för- dern, insbesondere in angespannten Wohnungsmärkten, (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) und zwar über verbesserte Abschreibungsmöglichkeiten, Wir haben die Mietpreisbremse umgesetzt, damit mehr bezahlbarer Wohnraum entsteht. Auch das ist wichtig für die Studierenden. (Beifall bei der SPD) Wir haben als Große Koalition beschlossen, dass die dazu führt, dass bei Wiedervermietung die Mieten wir, obwohl der Bund für die soziale Wohnraumförde- nicht mehr in dem Maße wie zuvor ansteigen. rung nicht mehr zuständig ist, etwas machen, was den Studierenden ganz besonders zugutekommt. Wir werden (Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Das ist ja eine nämlich in Modellvorhaben für experimentelles Bauen Schimäre!) 120 Millionen Euro ausgeben, um neue Konzepte aus- Wir haben umgesetzt, dass ein marktwirtschaftliches zuprobieren, die eine Leuchtturmfunktion für den stu- Prinzip wieder gilt, nämlich: Wer bestellt, bezahlt auch. dentischen Wohnungsbau in der ganzen Republik haben sollen. Ich war gerade mit dem Kollegen Mindrup in (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Berlin unterwegs, um mir ein Projekt zur Planung von der CDU/CSU) Mikrowohnungen anzuschauen. Auch in anderen euro- päischen Städten kann man besichtigen, wie heute mit Die Maklergebühr war ein Ärgernis für viele Studieren- intelligenten Lösungen auf formal geringem Wohnraum de, die das Zweieinhalbfache der Monatsmiete zahlen von vielleicht nur 16 Quadratmetern ganz tolle Wohnsi- mussten, wenn sie sich selber eine Wohnung gesucht ha- tuationen geschaffen werden. So kann man Studierenden ben und so abgezockt worden sind. Das ist seit Sommer und Auszubildenden bezahlbares Wohnen ermöglichen. dieses Jahres vorbei. Wir wollen neues nachhaltiges Bauen ausprobieren. (Beifall bei der SPD) Wer weiß denn, ob in 15 Jahren die Studierendenzah- 12680 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015

Parl. Staatssekretär Florian Pronold (A) len noch so hoch sind? Warum soll man Gebäude nicht bleme von Studierenden, eine Wohnung, und zwar eine (C) so gestalten, dass sie künftig auch anderweitig nutzbar bezahlbare Wohnung, zu finden. Ehrlich gesagt, durch sind? Wenn wir an den Zuzug von Flüchtlingen denken: besonders großen Tatendrang ist die Regierung eigent- Warum sollen Wohnraumgrößen nicht verändert werden? lich nicht aufgefallen. Warum soll eine Durchmischung von Wohnraum nicht (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN sowie schon jetzt eingeplant werden? des Abg. Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten GRÜNEN]) der CDU/CSU) Aber ich kann Ihnen versprechen: Die Linke und die ge- Wir reden in Umweltdebatten immer davon, dass wir samte Opposition werden dafür sorgen, dass dieses The- das 30-Hektar-Ziel einhalten sollen. Was heißt das in der ma zu Semesterbeginn immer wieder auf der Tagesord- konkreten Umsetzung des Vorhabens, mehr Wohnraum nung steht. zu schaffen? Das heißt doch, dass die Städte nicht mehr (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- in die Breite, sondern in die Höhe wachsen müssen. In- NIS 90/DIE GRÜNEN – Ulli Nissen [SPD]: telligente und nachhaltige Nachverdichtung, das ist eine Wir auch!) der Aufgaben, die wir in unserem Modellvorhaben für experimentelles Bauen für Studierende und Auszubil- Die neuesten Zahlen zu diesem Semester sind noch dende einfordern. schlimmer als die letzten. Mittlerweile zahlen Studieren- de in München für ein WG-Zimmer weit über 500 Euro. Ich denke nur an die Universität Regensburg, an der Die Zahl der Hochschulstandorte mit einem sogenannten ich in den 70er-Jahren studiert habe, ein Flachbau. Das angespannten Wohnungsmarkt ist im letzten Jahr noch führt mich zu einer anderen Idee: Würde man zum Bei- einmal angewachsen. Das heißt, die Studierenden wer- spiel darauf in Holzbauweise Studierendenwohnungen den auch in diesem Herbst wieder in Turnhallen, Zelten schaffen, oder Containern unterkommen müssen. Wenn hier nicht (Ulli Nissen [SPD]: Super Idee!) bald etwas passiert, werden die Studierenden nicht mehr über die Runden kommen, selbst wenn sie das BAföG dann könnten die Studierenden in der Früh auch länger zweimal beantragen könnten. schlafen. Es wäre mir sehr entgegengekommen und hätte meine Noten nachhaltig verbessert, Zwar wurde jetzt von der Großen Koalition das Pro- gramm „Modellvorhaben nachhaltiges Wohnen für Stu- (Heiterkeit und Beifall bei der SPD) denten und Auszubildende“ ins Leben gerufen – Sie ha- wenn ich eine solche Möglichkeit zu meinen Universi- ben es gerade erwähnt –; aber das wird dem Bedarf nicht (B) tätszeiten gehabt hätte. Unabhängig davon gibt es direkt einmal im Ansatz gerecht. Es hat auch bis jetzt, ehrlich (D) neben der Universität riesige Parkplätze. Warum sollte gesagt, noch nicht ein einziges zusätzliches Zimmer ge- dort nicht in Holzständerbauweise neuer Wohnraum schaffen. Das ist schlicht fahrlässig; denn in der nächsten geschaffen werden? Die Parkplätze blieben erhalten. Zeit kann sich die Wohnsituation noch einmal zuspitzen. Trotzdem gäbe es eine intelligente Nachverdichtung, die Wir alle wissen, wie viele Menschen gerade aus Not und übrigens auch dazu führt, dass studentischer Wohnraum Elend bei uns ankommen. billiger wird. Der Boden gehört ja schon der öffentlichen Es ist höchste Zeit, dass nicht nur die Hochschulen Hand. Man hätte 20 bis 25 Prozent weniger Baukosten. konsequent für die jungen Zugewanderten geöffnet wer- Gegenstand des Modellvorhabens ist auch, besonders den, sondern dass auch die soziale Infrastruktur so auf günstiges, aber hochwertiges Bauen zu fördern. Vordermann gebracht wird, dass junge Menschen, egal (Beifall bei Abgeordneten der SPD) ob aus Deutschland, aus Syrien oder Albanien, auch in München oder Köln studieren können und nicht an unbe- Wir schaffen Leuchtturmprojekte für den studenti- zahlbaren Mietkosten scheitern. schen Wohnungsbau der Zukunft. 120 Millionen Euro werden wir dafür in die Hand nehmen. Das ist wirklich (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- ein gutes Zeichen. In der SPD, in der Großen Koalition NIS 90/DIE GRÜNEN) ist das Thema „bezahlbares Wohnen auch für Studieren- Es braucht ein ganzes Bündel an Maßnahmen, um die de“ in den besten Händen. Situation nicht nur für Studierende, sondern auch für die (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Mieterinnen und Mieter allgemein zu verbessern, damit der CDU/CSU) die Studierenden, die ja für ihr Studium oft mehrfach um- ziehen müssen, nicht auch noch die ohnehin angespannte Situation auf dem allgemeinen Mietmarkt verschärfen, Vizepräsidentin Ulla Schmidt: weil der Vermieter die Miete bei jeder Neuvermietung Vielen Dank. – Als Nächstes spricht die Kollegin noch einmal erhöht. Das ist das eigentliche Problem. Da Nicole Gohlke, Fraktion Die Linke. greift Ihre sogenannte Mietpreisbremse, die Sie gerade (Beifall bei der LINKEN) angesprochen haben, eben nicht. Die Linke schlägt ein Bund-Länder-Programm Nicole Gohlke (DIE LINKE): vor, um innerhalb der nächsten vier Jahre 45 000 neue Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Wir Wohnheimplätze in Trägerschaft der Studentenwerke reden heute nicht zum ersten Mal über die großen Pro- fertigzustellen und um endlich wieder eine bundesweite Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 12681

Nicole Gohlke (A) Versorgungsquote von 15 Prozent der Studierenden mit Trotzdem ist es wichtig, dass wir darüber sprechen. Die (C) Wohnheimplätzen zu gewährleisten. Situation am Wohnungsmarkt ist an einigen Studienorten schwierig. Um das zu erkennen, haben wir Ihren Antrag (Beifall bei der LINKEN) nicht gebraucht. Solche öffentlich geförderten Maßnahmen hätten üb- (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: rigens auch enorme Entspannungseffekte auf den allge- Sprechen Sie doch zum Grünen-Antrag! Der meinen Miet- und Wohnungsmarkt. Der hat das wirklich ist doch toller! – Heiterkeit bei der CDU/ mehr als nötig, weil die Große Koalition offensichtlich CSU – Gegenruf des Abg. Christian Haase keine adäquate Antwort darauf hat, dass die Zahl der So- [CDU/CSU]: Das ist sehr subjektiv!) zialwohnungen Jahr für Jahr um Zehntausende zusam- menschrumpft, weil öffentlich geförderte Wohnungen Eine Wohnung am Studienort und eine gesicherte Stu- aus der Sozialbindung herausfallen und dann profitorien- dienfinanzierung sind Voraussetzungen für die Aufnah- me eines Studiums. tiert und zu deutlich höheren Preisen vermietet werden. Diesem Problem ist nicht ohne einen Neustart des sozi- (Zuruf von der SPD: Gesundes Selbstbewusst- alen Wohnungsbaus aus öffentlichen Mitteln und ohne sein bei den Kolleginnen und Kollegen!) eine Mietpreisbremse, die diesen Namen auch verdient, – Ja. – Wir wissen, dass die Lage angespannt ist. Gerade die endlich Schluss macht mit Mieterhöhungen bei Neu- dort, wo das bereits der Fall ist, wird sie durch den Zu- vermietungen, beizukommen. strom der Flüchtlinge noch angespannter. Die Große Ko- (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- alition arbeitet sehr erfolgreich an diesem Problem. Das NIS 90/DIE GRÜNEN) Wohnen hat für uns eine ganz besondere Schlüsselrolle. Die Linke will – das wiederhole ich gerne so lange, bis Meine Damen und Herren, wir haben im letzten Jahr es auch bei der Regierung ankommt –, vieles umgesetzt. Ich möchte gar nicht mehr im Detail auf die Einzelheiten eingehen, wir haben das oft genug (Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das hier im Plenum debattiert. Ich erinnere nur an die Erhö- kann dauern!) hung des BAföG-Regelsatzes. Der Wohnkostenanteil da- rin ist überproportional erhöht worden. dass die Wohnkostenpauschale im BAföG wenigstens an die durchschnittlichen Mietkosten und dann dynamisch (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und an die Steigerungsraten angepasst wird. Ich finde, es ist der SPD – Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Ja, wirklich peinlich, sich derart wie die Bundesregierung der liegt nun im Schnitt ungefähr 100 Euro unter dem, was Studenten an Miete zahlen!) (B) für eine BAföG-Erhöhung abzufeiern, die schon weit un- (D) ter dem Bedarf liegt, noch bevor sie überhaupt in Kraft Ich erinnere an die Einführung des Bestellerprinzips im tritt. Mietrecht. Das erspart den Studenten bares Geld, da sie (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- in aller Regel keine Maklercourtage mehr zu tragen ha- NIS 90/DIE GRÜNEN) ben. Kolleginnen und Kollegen, verantwortlich ist man be- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und kanntermaßen nicht nur für das, was man tut, sondern der SPD) auch für das, was man nicht tut. Fangen Sie endlich an, Ich erinnere auch an die Einführung der Mietpreisbrem- zu handeln, und lassen Sie nicht auch noch die Wahl des se. Aber so, wie die Linken und auch die Grünen sie for- Studienorts zu einer sozialen Frage werden! dern, nämlich auch für Neubauten, wäre sie kontrapro- duktiv, da sie dann zur Investitionsbremse würde. Vielen Dank. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN) Meine sehr geehrten Damen und Herren, obwohl die Zuständigkeit für die Wohnraumförderung bei den Ländern liegt, übernimmt die unionsgeführte Bundesre- Vizepräsidentin Ulla Schmidt: gierung hier Verantwortung. Mit dem Programm „Mo- Vielen Dank. – Für die CDU/CSU-Fraktion spricht dellvorhaben nachhaltiges Wohnen für Studenten und jetzt die Kollegin Sylvia Jörrißen. Auszubildende“ werden 120 Millionen Euro für inno- (Beifall bei der CDU/CSU) vative und neue Konzepte bereitgestellt. Wir wissen, es muss jetzt schnell und unkompliziert Wohnraum ge- schaffen werden. Sylvia Jörrißen (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und (Marie-Luise Dött [CDU/CSU]: Genau!) Herren! Vor ziemlich exakt einem Jahr, am 17. Oktober Deshalb liegt der Förderschwerpunkt bei Konzepten mit 2014, haben wir den Antrag der Linken in erster Lesung einer verkürzten Bauzeit, bei Konzepten mit einer flexib- beraten. Wir sprechen also heute über etwas, was eigent- len Nutzbarkeit und bei Konzepten, die eine Einbindung lich gar nicht mehr aktuell ist. in das städtische Umfeld ermöglichen; (Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Wir können (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Zahlen draufsatteln! Das ist kein Problem!) ordneten der SPD) 12682 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015

Sylvia Jörrißen (A) denn dort, wo Wohnraum knapp ist, sind auch Grund und Christian Kühn (Tübingen) (BÜNDNIS 90/DIE (C) Boden knapp. Unser Staatssekretär hat gerade vieles zu GRÜNEN): dem Programm gesagt. Lieber Herr Pronold, ich vertraue Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! ganz darauf, dass Sie dieses Programm jetzt auch schnell Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Besucherinnen an den Start bringen. und Besucher auf der Tribüne! Herr Pronold, ich fand es wirklich sehr amüsant, Ihre Aufzählung dessen, was die- (Ulli Nissen [SPD]: Da können Sie sicher se Regierung alles macht, zu hören; aber der Mieterbund sein!) hat heute eine Pressemitteilung herausgegeben und ge- Wir wissen auch, liebe Kolleginnen und Kollegen, sagt: Die Politik in Deutschland befindet sich angesichts dass dieses Programm allein nicht reicht. Deshalb ha- der angespannten Lage auf den Wohnungsmärkten im ben wir die Mittel für die soziale Wohnraumförderung, Schlaf. – Ich sage Ihnen: Diese Regierung befindet sich immer noch im Schlaf. Ich werde es in der Rede nach- die wir den Ländern zur Verfügung stellen, für die Jah- weisen. re 2016 bis 2019 auf über 1 Milliarde Euro aufgestockt und damit rund verdoppelt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Ihr Antrag verkennt unser föderales System. Auch wir wünschen uns eine zweckgebundene Verwendung dieser Diese Regierung befindet sich im Schlaf und braucht Mittel. jemanden, der sie aufweckt. Ich sage Ihnen: Diese Debat- te hier hat sie ein Stück weit aufgeweckt. Deswegen ist (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- es gut, dass diese Debatte beantragt worden ist und dass ordneten der SPD) wir sie auch führen. Das ist in der Vergangenheit in vielen Ländern nicht (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN erfolgt. Die Länder haben dies nunmehr zugesagt und sowie bei Abgeordneten der LINKEN) wollen endlich ihrer Verantwortung nachkommen. Wir Wir haben eine brutal angespannte Wohnungsmarktsi- müssen ein strenges Auge darauf richten, dass dies tat- tuation in den Hochschulstädten. In meiner Heimatstadt sächlich auch so umgesetzt wird. Tübingen sind die Mieten in sieben Jahren um 22 Pro- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und zent gestiegen. Gleichzeitig ist deutschlandweit die Stu- der SPD) dierendenzahl um 700 000 gestiegen. (Dr. Martin Rosemann [SPD]: Sag das mal Lassen Sie mich auf einen letzten Punkt zu sprechen dem grünen OB!) (B) kommen, und zwar den Umgang mit den bundeseigenen (D) Liegenschaften. Wir lassen unsere Städte und Kommu- Diese Aufgabe können eben die Universitätsstädte selber nen nicht im Regen stehen. Im Nachtragshaushalt ist ver- nicht mehr stemmen. einbart, dass die BImA solche Liegenschaften, die für die (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Schaffung von sozialem oder studentischem Wohnraum SES 90/DIE GRÜNEN) genutzt werden, zu vergünstigten Konditionen an die Kommunen abgibt. Für Umplanungen von leerstehenden Deswegen braucht es Bundesmittel. Deswegen war es so wichtig, dass wir bereits letztes Jahr ein Bundespro- Kasernen gibt es bereits heute erfolgreiche Beispiele, so gramm für Wohnungsbau thematisiert haben. Dadurch in meinem Heimatland Nordrhein-Westfalen in der Stu- sind Sie überhaupt erst auf die Idee gekommen, ein Pro- dentenstadt Münster mit der York-Kaserne und der Ox- gramm aufzulegen. Wir als Opposition empfinden es als ford-Kaserne. einen großen Erfolg, dass Sie 120 Millionen Euro für ein Meine Damen und Herren, die Herausforderungen im Wohnheimprogramm in Deutschland lockergemacht ha- Bereich des studentischen Wohnens und der Schaffung ben. bezahlbaren Wohnraums allgemein können nur gemein- (Klaus Mindrup [SPD]: Wir auch!) sam geschultert werden. Wir alle sind verpflichtet, an Es fehlen aber immer noch 25 000 Wohnheimplätze. dieser Aufgabe mitzuwirken: der Bund, die Länder, die Deswegen reicht es nicht, was Sie hier machen. Es reicht Kommunen, aber auch private Investoren. auch nicht aus, die soziale Wohnraumförderung auf (Volkmar Vogel (Kleinsaara) [CDU/CSU]: 1 Milliarde Euro zu erhöhen. Der Städte- und Gemein- Sehr richtig!) debund selbst sagt, dass wir 2 Milliarden Euro brauchen, der Mieterbund auch. Wenn ich das, was Frau Barbara Hierfür müssen noch zusätzliche Anreize geschaffen Hendricks heute Mittag gesagt hat, richtig verstanden werden, zum Beispiel steuerliche. habe, dann ist es ja wohl so, dass sie selbst nicht glaubt, Danke schön. dass die derzeitigen Mittel für die historische Herausfor- derung, vor der wir auf den Wohnungsmärkten stehen, (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) ausreicht. Deswegen: Stimmen Sie unserem Antrag zu! Da stehen nämlich 2 Milliarden Euro drin. Dann bekom- Vizepräsidentin Ulla Schmidt: men wir die Lage auch besser in den Griff. Vielen Dank. – Als Nächstes spricht Christian Kühn, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Bündnis 90/Die Grünen. sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 12683

Christian Kühn (Tübingen) (A) Frau Jörrißen, die Mietpreisbremse, für die Sie sich che Abschreibungen“ oder „steuerliche Anreize“ drin, (C) hier jetzt loben, haben Sie von der Union verzögert und sondern da steht nur noch „Anreize“ drin. am Ende durchlöchert, und sie kam viel zu spät. Wenn (Ulli Nissen [SPD]: Das ist umschrieben! – wir sie ein Jahr vorher bekommen hätten, wenn Sie sie in Zuruf von der LINKEN: Aha!) den ersten 100 Tagen der Regierungszeit umgesetzt hät- ten, wären wir heute schon ein deutliches Stück weiter. Ich bin mir nicht sicher, ob Sie das wirklich hinbekom- men, was Sie hier versprechen. Ich finde, man sollte nur (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Dinge versprechen, die man am Ende auch wirklich hal- Das Gleiche gilt für die Liegenschaftspolitik. Warum ten kann. ist es denn erst heute möglich, dass bei Vorliegen des Kri- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – teriums „sozialer Wohnungsbau“ Bundesliegenschaften Michael Groß [SPD]: Das machen wir!) verbilligt abgegeben werden können? Das liegt doch da- ran, dass sich die Union jahrelang bei dem Thema Bun- Zum Schluss will ich sagen: Die Hochschulstädte sind ein Brennglas für die wohnungspolitische Entwicklung desliegenschaften gesperrt hat und es erst jetzt möglich in Deutschland. Wir sehen ja, wie die Wohnungsmärk- gemacht hat. Wenn wir das früher gemacht hätten, hätten te aus dem Ruder geraten sind. Die Instrumente, die wir wir in den letzten Jahren deutlich mehr Wohnheimplät- heute alle miteinander versprechen, reichen nicht aus. ze, aber auch mehr sozialen Wohnungsbau in die Städte gebracht. Es ist ein Skandal, dass Sie das so lange ver- (Klaus Mindrup [SPD]: Völlig richtig!) hindert haben. Wir brauchen eine neue Systematik, wir brauchen eine (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN neue Idee. Ich glaube, dass wir alle miteinander über sowie bei Abgeordneten der LINKEN) eine neue Wohnungsgemeinnützigkeit sprechen sollten und diese möglichst in dieser Legislaturperiode umset- Dazu, dass Sie sich hier für die Erhöhung des BAföG zen sollten. Wir stehen nämlich vor einer historischen loben, ist zu sagen: Es ist eine Erhöhung, aber es ist eine Aufgabe. Erhöhung, die nicht reicht, und sie ist auch nicht intelli- gent. Danke schön. (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN NEN]: Und sie kommt erst nächstes Jahr!) sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Letztlich haben Sie nämlich bei der BAföG-Mietkosten- (B) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: (D) pauschale keine regionale Staffelung eingeführt. Beim Vielen Dank. – Jetzt hat Yvonne Magwas, CDU/ Wohngeld gibt es eine Staffelung, beim BAföG nicht. CSU-Fraktion, das Wort. Das passt systematisch nicht zusammen. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Yvonne Magwas (CDU/CSU): Es handelt sich eben nicht um eine zielgenaue Antwort Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und auf die Situation der Studierenden in den Hochschulstäd- Kollegen! Mit dieser Debatte greifen wir erneut ein ak- ten. Ich fordere Sie auf: Ändern Sie das! Es ist nämlich tuelles Thema auf. Wir wissen, Anfang der Woche hat wohnungspolitisch höchst problematisch, was Sie da ma- in vielen Bundesländern das Wintersemester begonnen. chen. Das heißt auch, dass immer mehr junge Menschen in den Unistädten eine Unterkunft benötigen. Besonders beliebt (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sind Hamburg, Berlin, München. sowie bei Abgeordneten der LINKEN) (Michaela Engelmeier [SPD]: !) Ganz toll finde ich an dieser GroKo, dass Sie sich für Dinge loben, die Sie noch gar nicht gemacht haben, Das verschärft die Situation auf den dort ohnehin ange- spannten Wohnungsmärkten noch weiter. (Zuruf von der CDU/CSU: So gut sind wir!) Das Thema „bezahlbarer Wohnraum“ ist uns nicht nur für die Sie noch nicht einmal einen Haushaltsbeschluss hinreichend bekannt, wir reagieren bereits seit Beginn haben, für die Sie sozusagen höchstens der Presse der Legislaturperiode darauf. Natürlich sind besonders Sprechblasen geben. Studierende auf bezahlbaren Wohnraum angewiesen. (Ulli Nissen [SPD]: Was? Sprechblasen?) Doch es wäre zu kurz gegriffen, wenn wir uns nur auf das Wohnen von Studierenden konzentrieren würden; Das betrifft beispielsweise die steuerliche Förderung und denn wir alle wissen: Junge Familien, Rentner oder auch die AfA. Ich sage Ihnen: Das werden Sie nicht hinkrie- Flüchtlinge benötigen bezahlbaren Wohnraum. gen. – Und Sie kriegen das deswegen nicht hin, weil Sie sich mit Ihrem Finanzministerium gar nicht einig sind. (Zuruf von der LINKEN: Ach was!) Deswegen steht auch in dem gemeinsamen Beschluss Deshalb gibt es auch das Bündnis für bezahlbares Woh- von Ministerpräsidenten und Kanzlerin nicht „steuerli- nen und Bauen, und wir freuen uns schon, lieber Florian 12684 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015

Yvonne Magwas (A) Pronold, auf die ersten Ergebnisse, die in den nächsten Wir als Union hätten uns gewünscht, dass die Länder (C) Wochen präsentiert werden sollen. künftig jährlich Bericht ablegen müssen, ob sie das Geld auch tatsächlich zweckgebunden einsetzen. (Christian Kühn (Tübingen) [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Wir auch! Wir sind ein- (Ulli Nissen [SPD]: Frau Magwas, da können mal gespannt, was da wirklich kommt! Wir wir doch gemeinsam was dran ändern!) glauben nämlich, da kommt nicht wirklich – Frau Nissen, wir bleiben dran, und wir appellieren auch etwas raus! – Gegenruf des Abgeordneten ein weiteres Mal an die Länder, die Mittel endlich zielge- Klaus Mindrup [SPD]: Mehr Optimismus, richtet dafür aufzuwenden. Christian!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ordneten der SPD) Diese sind sicherlich vielschichtiger als das, was die Lin- ken und die Grünen uns anbieten, Meine Damen und Herren, anders als die Linken sind wir uns darüber im Klaren, dass staatliche Wohnraum- (Christian Haase [CDU/CSU]: Noch sind sie förderung allein den Bedarf nicht decken kann. Darüber nicht regierungsfähig!) waren sich gestern im Übrigen auch die Experten im nämlich den Wohnungsneubau vor allem staatlich zu fi- Fachgespräch zu den Herausforderungen auf dem Woh- nungsmarkt einig, und zwar vom Mieterbund bis hin zum nanzieren und staatlich zu steuern. Damit bestätigen Sie BFW. Die Ministerpräsidentenkonferenz hat beschlos- erneut, meine Damen und Herren von den Linken, dass sen, dass es dringend Anreize für private Investitionen Sie kein Verhältnis zum Steuergeld und zu generationen- in den Wohnungsbau geben muss. Steuerliche Anreize gerechter Politik haben. wären in der derzeitigen Situation ein starkes Zeichen. (Beifall bei der CDU/CSU – Steffi Lemke (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber die ordneten der SPD) Union! – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE Die Bundesregierung muss deshalb mit allen beteiligten GRÜNEN]: Lieber obdachlose Studierende Ressorts den Beschluss nun auch endlich umsetzen. Un- als eine schwarze Null! Das ist unglaublich!) sere Unterstützung haben sie dafür. Zukunftsgerichtete Politik sieht für uns anders aus. (Marie-Luise Dött [CDU/CSU]: Genau!) (Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Wie denn? – Mit anderen Forderungen, meine Damen und Herren von den Linken, schießen Sie deutlich über das Ziel hi- (B) Gegenruf der Abg. Marie-Luise Dött [CDU/ (D) CSU]: Vor allen Dingen optimistisch!) naus, zum Beispiel mit der flächendeckenden Mietpreis- bremse. Wir haben sie so ausgestaltet, dass zum einen Wir wollen unseren Kindern Chancen statt Schulden ver- Mieter entlastet werden, zum anderen aber auch der Bau erben. von neuen Wohnungen ermöglicht und in den Bau von neuen Wohnungen investiert wird. (Beifall bei der CDU/CSU) (Volkmar Vogel (Kleinsaara) [CDU/CSU]: Seit der Föderalismusreform tragen die Länder die Die flächendeckende Mitpreisbremse hat zum Verantwortung für die soziale Wohnraumförderung. Das Untergang der DDR beitragen!) wollten sie auch so. Denn wir wissen: Der beste Mieterschutz, egal ob für (Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Wenn es nicht Flüchtlinge, für Studierende oder auch für junge Famili- klappt, ist es blöd, nicht?) en, ist immer noch der Bau von neuen Wohnungen. Damit sind auch die Länder für die Bereitstellung von (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ausreichend bezahlbarem Wohnraum, also auch für die ordneten der SPD) Studierenden, zuständig. Aber die Länder müssen die Sie dagegen, meine Damen und Herren von den Linken, übertragene Verantwortung auch übernehmen, und sie fordern eine Investitionsbremse. So ist es. müssen die ihnen übertragene Verantwortung auch wirk- Daher kann man abschließend wieder einmal sagen: lich ernst nehmen. Aber mit Ausnahme von ein oder zwei ein typischer Antrag der Opposition; denn Sie müssen Positivbeispielen ist das leider nicht der Fall. Die Län- die Milliardenforderungen ja auch nicht umsetzen. Wir der verwenden die Mittel nicht, wie wir uns das wün- dagegen stehen für eine ausgewogene und nachhaltige schen, und nicht, wie sie es müssten. Die Verdoppelung Wohnungs- und Finanzpolitik. Aus diesem Grund lehnen der sozialen Wohnraumförderung auf 1 Milliarde Euro wir den Antrag der Linken heute auch ab. pro Jahr, die wir heute Morgen beschlossen haben, war – Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. meine Vorredner haben das schon öfter gesagt – ein (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Meilenstein. Das ist ein starkes Zeichen für die soziale ordneten der SPD) Wohnraumförderung. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Vizepräsidentin Ulla Schmidt: ordneten der SPD) Vielen Dank. – Damit beenden wir die Aussprache. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 12685

Vizepräsidentin Ulla Schmidt (A) Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für (C) ses für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre hierzu zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. „Wohnungsnot, Mietsteigerungen und Mietwucher in Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Monika Hochschulstädten bekämpfen“. Der Ausschuss empfiehlt Lazar, Bündnis 90/Die Grünen. in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/4512, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksa- (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): che 18/2870 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlus- Monika Lazar sempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen Die Aussage unseres Antrages ist eigentlich ganz ein- fach: Sport und Wohnen sollen in räumlicher Nähe mitei- der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Fraktion nander vereinbar sein. Die Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Zusatzpunkt 3. Abstimmung über den Antrag der Frak- Leider ist das unter den gegebenen Bedingungen in ei- tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/6336 nigen Regionen Deutschlands nicht so einfach möglich; mit dem Titel „Bund-Länder-Aktionsplan ‚Studenti- denn die Rechtslage in Bezug auf die Lärmschutzverord- sches Wohnen, Integration und soziale Infrastruktur‘ nung bei Sportstätten ist veraltet, uneinheitlich und un- auflegen“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt deutlich. Das Ergebnis sind verfallene Sportplätze oder dagegen? – Wer enthält sich? – Der Antrag ist mit den Sportanlagen, die zu weit außerhalb liegen. Der DOSB Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen beziffert den Investitionsstau bei Sportstätten im Breiten- von Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion und Spitzensport auf 42 Milliarden Euro. Dabei ist es Die Linke abgelehnt. nicht so, dass hier keiner handeln will. Selbst wenn Kom- munen die Mittel aufbringen könnten, um die Sportanla- Ich rufe Tagesordnungspunkt 10 auf: gen auf Vordermann zu bringen, müssen sie befürchten, Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- die Standorte gleich ganz zu verlieren. Am Ende also gibt es entweder moderne Sportplätze in Randlage oder we- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umset- nig genutzte ältere Sportanlagen vor der eigenen Haustür. zung der EU-Mobilitäts-Richtlinie Beispiel Altanlagenbonus: Wenn sich ein Sportver- Drucksache 18/6283 ein eine Sanierung seiner Sportstätte wünscht, die auch Überweisungsvorschlag: neuesten Umweltstandards genügt, dann läuft er Gefahr, (B) Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) dass die Genehmigung für den gesamten Betrieb auf den (D) Finanzausschuss Prüfstand kommt. Das ist in mehrerlei Hinsicht absurd. Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt sollen zu Protokoll gegeben werden. – Ich sehe, Sie sind damit Derzeit befinden wir uns in einer Grauzone. Es ist nie einverstanden. 1) sicher, ab wann ein Umbau zum Wegfall des Bestands- schutzes führt. Wir fordern deshalb eine bundesweite Re- Dann kommen wir zur Überweisung. Interfraktionell gelung, die endlich Klarheit schafft und es erlaubt, öko- wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Druck- logische Verträglichkeit auch in der Stadt sicherzustellen. sache 18/6283 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es von Ihrer Seite dazu Ein weiterer Punkt ist die Privilegierung von Kinder- anderweitige Vorschläge? – Ich sehe, das ist nicht der lärm. Wir erinnern uns: In der letzten Wahlperiode haben Fall. Dann ist so beschlossen. wir erst klargestellt, dass Kinder natürlich den ganzen Tag auf dem Spielplatz spielen können. Aber warum soll- Ich rufe Zusatzpunkt 4 auf: te das bei Sportplätzen anders sein? Wir sind uns doch Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter alle einig: Kinder und Jugendliche brauchen Bewegung, Meiwald, Monika Lazar, Christian Kühn (Tü- sie sollen Sport treiben und sich austoben dürfen. bingen), weiterer Abgeordneter und der Fraktion (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Leider sieht die Wirklichkeit anders aus. Das Ro- Sport und Alltag verbinden – Lärmschutzre- bert-Koch-Institut hat in einer 2014 erschienenen Studie geln für Sportanlagen den heutigen Anforde- herausgestellt, dass zwar gut drei Viertel aller Kinder und rungen anpassen Jugendlichen regelmäßig Sport treiben und sich ausrei- chend bewegen, gleichzeitig aber sind nach den aktuell Drucksache 18/4329 vorliegenden Zahlen 1,9 Millionen Kinder zwischen 3 Überweisungsvorschlag: und 17 Jahren in Deutschland übergewichtig. Das ent- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktor­ spricht 15 Prozent. sicherheit (f) Sportausschuss Ich sage nicht, dass das an der Lärmschutzverordnung Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend liegt, aber wir sollten frühzeitig an den Stellschrauben drehen. Die Lärmschutzverordnung ist eine solche Stell- 1) 8 Anlage schraube. Wenn es keinen geeigneten Sportplatz vor der 12686 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015

Monika Lazar (A) Tür gibt, dann gibt es auch weniger Anreiz, vor die Tür würde, wenn das Ministerium alsbald seine eigenen Vor- (C) zu gehen und Sport zu treiben. stellungen einbringen würde. Natürlich gibt es zwei Seiten der Medaille. Die An- (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Sehr rich- wohnerinnen und Anwohner haben selbstverständlich tig! – Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE ein Recht auf Ruhe. Daher lautet unsere Forderung nicht GRÜNEN]: Dann sind Sie also doch noch einfach „Sport frei, und der Rest schert uns nicht“. Man nicht so weit! – Markus Kurth [BÜNDNIS 90/ muss schon unterscheiden, ob der Sportlärm von Kindern DIE GRÜNEN]: Was machen wir denn? An- und Jugendlichen kommt, die ihre Freizeit aktiv gestalten treiber sind wir! – Gegenruf von der CDU/ wollen, oder von den Sportereignissen mit einem weitaus CSU: Seid doch nicht so aggressiv! Ein biss- höheren Zuschaueraufkommen. Anlagen, in denen sol- chen friedlich!) che Veranstaltungen stattfinden, sollen gegebenenfalls zu – Ob Anschieber oder Antreiber, werden wir sehen. den genehmigungsbedürftigen Anlagen gezählt werden. (Volkmar Vogel (Kleinsaara) [CDU/CSU]: Für alle Beteiligten ist es zudem sinnvoll, einheitli- Karsten, alles richtig gemacht!) che Prüfmethoden zu wählen. Auch dies ist bisher nicht geregelt. Das Bundesumweltministerium hatte bereits – Ja, genau. Anfang des Jahres im Sportausschuss angekündigt, dass Ich wundere mich ein bisschen über die Bereitschaft hier etwas geändert werden soll. Bis heute ist noch nichts der Grünen, die in diesem Antrag zum Ausdruck kommt, passiert. Warum beseitigen Sie nicht diesen Flickentep- Umweltstandards im Sinne eines Interessenausgleichs zu pich kommunaler Einzelregelungen und schaffen eine reduzieren, indem sie sagen: Wir müssen die Interessen verlässliche gesetzliche Grundlage, die den heutigen Be- zusammenbringen. – Bei anderen Themen würde ich mir dürfnissen und Anforderungen entspricht? bei den Grünen auch ein bisschen mehr Flexibilität wün- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) schen. Das kenne ich sonst nicht von Ihnen. Ich denke an solche Dinge wie die Forderung von Teilen der Grünen, Unser Antrag soll eine Anregung sein, damit wir noch eine halbe Stunde Lärm im Jahr zu verbieten, nämlich in dieser Wahlperiode endlich einer Lösung näher kom- das Silvesterfeuerwerk, men. Ich denke, das ist in unser aller Interesse. (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Danke schön. NEN]: Was haben Sie denn für Argumente?) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (B) und zwar wegen des Lärms, aber nicht wegen der Luft- (D) verschmutzung; das wäre ja vielleicht ein Argument ge- Vizepräsidentin Ulla Schmidt: wesen. Vielen Dank. – Für die CDU/CSU spricht jetzt der (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Kollege Karsten Möring. NEN]: Sie haben zehn Minuten Redezeit, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) mehr als wir!) – Ja nun! Es gibt ein paar Dinge, die ich gerne in den Karsten Möring (CDU/CSU): zehn Minuten unterbringen möchte. Passen Sie auf! Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol- (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- legen! Sehr geehrte Vertreter der Vereine, die hier im NIS 90/DIE GRÜNEN]: Man muss nicht zehn Raum sein mögen! Lassen Sie mich mit einem Kompli- Minuten reden! Man kann auch kürzer! – Ge- ment an die Grünen beginnen: genruf des Abg. Volkmar Vogel (Kleinsaara) (Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: [CDU/CSU]: Das müsst ihr aushalten!) Oh!) Sport und Lärm sind leider eine untrennbare Einheit, Die Grünen verstehen es immer wieder, auf einen fah- liebe Kolleginnen und Kollegen. Das Plopp-Plopp auf renden Zug aufzuspringen und damit den Eindruck zu dem Tennisplatz, die knallenden Skateboards, der Torju- erwecken, sie hätten ihn angeschoben oder säßen gar in bel – Musik für die einen, nämlich diejenigen, die dabei der Lokomotive. sind, Lärm für die anderen, nämlich diejenigen, die nicht dabei sind. (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ihr vergiftetes Lob können Sie behalten!) (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Torjubel ist Musik für alle! – Gegenruf der Abg. Ulli Das ist auch bei diesem Antrag der Fall. Nissen [SPD]: Das hängt davon ab! Wenn ihr (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- bei der Eintracht einen reinkriegt, dann nicht NEN]: Ein Glück! Wenn wir Sie nicht hätten!) mehr!) Denn wir wissen ja alle, dass der Diskussionsprozess, der – Selten für den Gegner, lieber Herr Schatzmeister des dem zugrunde liegt, schon seit einiger Zeit anhält. Ich DFB. Das dürfte unterschiedlich wahrgenommen wer- will allerdings nicht verschweigen, dass ich mich freuen den. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 12687

Karsten Möring (A) Gleichwohl: Als Mitglied des kürzlich hier gegründe- genannte Altanlagenbonus. Was verbirgt sich dahinter? (C) ten Bundestagsfanclubs des 1. FC-Köln „Koalition Rut- Dahinter verbirgt sich die Notwendigkeit oder Nichtnot- Wiess“ wendigkeit eines neuen Genehmigungsverfahrens bei der Modernisierung oder Erweiterung eines bisherigen (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Sportplatzes. In der Praxis zeigt sich, dass die Verwal- NEN]: Schleichwerbung!) tungen die Sache sehr unterschiedlich handhaben, und – um das bei dieser Gelegenheit zu betonen – habe ich das ist unbefriedigend. Eine sehr unterschiedliche Hand- großes Verständnis für die Sporttreibenden und die Verei- habung hat nämlich auch zur Folge, dass die Verwaltun- ne. Auch als Leiter einer Schule mit einem benachbarten gen aus dem Bedürfnis heraus, möglichst keine Fehler Sportplatz am Rand eines Wohngebiets weiß ich, wovon zu machen, sehr restriktiv mit diesem Thema umgehen. ich rede. Aber auch als Umweltpolitiker sage ich: Ge- Da gibt es Beispiele, die belegen, dass die Umwandlung rade weil der Sport trotz seines Lärms und mit seinem eines Ascheplatzes zu einem Kunstrasenplatz zum An- Lärm so bedeutend ist – Beispiele hat meine Vorrednerin lass genommen wird, ein neues Genehmigungsverfahren genannt; ich brauche sie nicht zu wiederholen –, wollen durchzuführen. wir den Interessen des Sports so weit wie möglich, bis zu (Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Ja, das kann den Grenzen des Zulässigen – um es mal so zu sagen –, ja wohl nicht sein!) entgegenkommen. Das ist sinnlos. Was wollen wir erreichen? Natürlich wollen wir errei- chen, dass das, was wir beim Kinderlärm in Bezug auf Die Anwendung der alten Regelung in Bezug auf den Kitas und Spielplätze beschlossen haben, auch für Sport- Altanlagenbonus macht auf jeden Fall immer dann Sinn, anlagen gilt. Das ist eigentlich eine Selbstverständlich- wenn Art und Umfang der Belastung, die von diesem keit. Im Bereich des Jugendlichensports wollen wir die Sportplatz in Form von Lärm oder Ähnlichem ausgehen, Regelungen so weit wie möglich fassen. Wir kommen da im Großen und Ganzen gleich bleiben. Wenn es grund- wahrscheinlich in eine rechtliche Grauzone – das muss sätzliche oder erhebliche Änderungen gibt, dann muss man prüfen –, aber die Zielsetzung, die wir verfolgen, man über neue Genehmigungsverfahren nachdenken. ist, den Sport von Jugendlichen so weit wie möglich zu Aber ohne erhebliche Änderungen ist das nicht notwen- privilegieren. Unter Umständen muss man da zu diffe- dig. renzierten Regelungen kommen, was Spielzeiten angeht. Weil die Verwaltung hier solche Probleme hat, sind Das werden wir sehen, wenn wir uns mit den Details be- wir für eine Klarstellung: Was ist beispielsweise unter ei- fassen. ner erheblichen Änderung zu verstehen? Was wird durch (B) (Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Wann liegt den Altanlagenbonus begünstigt und was nicht? Das gilt (D) das Gesetz denn vor?) dann auch umgekehrt für den Fall, dass man eine neue Genehmigung benötigt. Dann wissen alle Beteiligten, Wir sind auch der Meinung, dass die Kommunen und woran sie sind. Sie können sich darauf einstellen und die Länder Spielräume brauchen für Regelungen, die den überlegen, ob sie eine Erweiterung oder Veränderung lokalen und regionalen Verhältnissen besser angepasst vornehmen wollen. Das gilt beispielsweise auch, wenn sind als das, was wir von hier aus im Rahmen einer bun- Umbauten zu einer deutlich veränderten oder erhöhten deseinheitlichen Regelung machen. Wenn das nicht so Lärmbelastung führen, zum Beispiel für die Einrichtung wäre, brauchten wir die Lärmschutzverordnung für die von Skateranlagen auf bestehenden Sportplätzen; denn Sportanlagen überhaupt nicht. Aber wir haben sie, und deren Lärmimmission ist von anderer Güte und Quali- wir brauchen sie auch. tät. Das geht in Wohngebieten in der Tat wahrscheinlich Die Sportanlagenlärmschutzverordnung ist eine Er- nicht. folgsgeschichte; denn mit ihrer Einführung 1991 kam es Das zweite Problemfeld ist die sogenannte heranrü- zu einer deutlichen Verringerung der Konflikte. Heute ckende Bebauung. Hierbei muss ich vielfach den Kom- gibt es vielleicht hundert oder ein paar mehr Problemfäl- munalverwaltungen und den Bauplanungsbehörden den le zwischen Vereinen und Nutzern; demgegenüber stehen Vorwurf machen, dass sie dabei nicht sorgfältig vorge- einige tausend Fälle, in denen es keine Probleme gibt. hen. Wir haben im Bundes-Immissionsschutzgesetz einen Aufgrund dieser Verordnung ist eine Befriedung entstan- Leitgedanken formuliert, der für alle Planungsbehörden den. Deswegen sage ich: Die Verordnung ist insgesamt verbindlich ist – dieser Leitgedanke steht in § 1, Zweck ein Erfolg, auch wenn sie jetzt in einigen Punkten ohne des Gesetzes –: „dem Entstehen schädlicher Umweltein- Zweifel angepasst werden muss. wirkungen vorzubeugen“. Zum Entstehen schädlicher (Beifall bei der CDU/CSU) Umwelteinwirkungen gehören auch Lärmemissionen, die wir bei Sportplätzen in der Regel haben. Das heißt: In diesem Zusammenhang freue ich mich über die Vor- Wenn eine Kommunalbehörde eine heranrückende Be- schläge, die der DOSB und der DFB gemacht haben. Wir bauung plant, die die Lärmemissionen nicht berücksich- werden ihnen wahrscheinlich nicht in allen Punkten fol- tigt, dann ist der Bebauungsplan rechtswidrig. Aber die gen können, aber ihre Anregung war wichtig. So konnten Krux in dieser Situation ist, dass ein solcher rechtswid- wir einige Punkte zusammenstellen, mit denen wir uns riger Bebauungsplan nur in der Phase der Offenlegung, befassen müssen. also solange er noch nicht rechtsgültig ist, angegriffen Ich will zwei Bereiche herausgreifen, in denen es zur- werden kann; in der Regel weiß das kein Vereinsmitglied, zeit große Probleme gibt. Das eine Problem ist der so- kein Nutzer eines Sportplatzes. In dem Moment, in dem 12688 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015

Karsten Möring (A) der Bebauungsplan rechtskräftig wird, hat der Anlieger stellen, wie es die Linke schon in der letzten Legislatur- (C) Anspruch auf die Einhaltung der Grenzwerte. Hier haben periode tat. wir eine Umkehrung der Situation. Es gibt eine Fülle von Klagen oder juristischen Auseinandersetzungen, die man (Beifall bei der LINKEN) einem ehrenamtlichen Vereinsmitglied und dem Kassen- Klar ist: Unsere Jugend bewegt sich zu wenig, und wart des Vereins nun wirklich nicht zumuten kann; das große Teile der Bevölkerung treiben zu wenig Sport. muss klargestellt werden. Die Verantwortung tragen die Und wann haben Schülerinnen und Schüler, Auszubil- Planungsbehörden. dende oder Berufstätige richtig Zeit für Freizeit- und Ich habe bei einem Besuch in Düsseldorf – auch als Breitensport? Am Wochenende. Aber dagegen steht die Kölner darf man das – 18. Bundesimmissionsschutzverordnung, die mit ih- ren Lärmgrenzwerten Sportveranstaltungen und Spiele, (Michaela Engelmeier [SPD]: Na, na! Aber selbst einfaches Sporttreiben wegen der für Sportanlagen nicht oft!) unverständlich niedrigen Grenzwerte erschwert und ge- mit einer Reihe von Vertretern von Sportvereinen vor Ort rade sonntags in enge Zeitfenster – von 9 bis 13 Uhr und gesprochen, die mir solche Fälle geschildert haben. Ich von 15 bis 20 Uhr – gezwängt hat. Im Winterhalbjahr muss ehrlich sagen: Ich war entsetzt darüber, was einfach sind die möglichen Nutzungszeiten auf nicht extra be- grob fahrlässig falsch gemacht worden ist. leuchteten Anlagen real noch viel kürzer. Es kommt hinzu, dass Konflikte, die danach auftreten, Wie schon 2010 schlagen wir vor, dass für den Ju- von den Kommunalverwaltungen in der Regel auf Kos- gend- und Freizeitsport die erlaubten Lärmgrenzwerte in ten der Vereine gelöst werden, indem sie sagen: Ihr müsst sogenannten reinen Wohngebieten auf 55 Dezibel ange- euren Betrieb einschränken, damit an der Stelle XY we- hoben werden. niger Lärmbelastung herrscht. (Beifall bei der LINKEN) Das alles müssen wir ändern. Wir wollen mit der Än- derung ein gedeihliches Miteinander von Wohnen und Das ist übrigens der heutige Grenzwert in allgemeinen Sport in unseren Städten und Gemeinden erreichen. Wohngebieten. Weiterhin fordern wir, dass dieser Grenz­ wert tagsüber ohne Mittagsabsenkung gilt. Als Techniker (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- kann ich Dezibelgrenzwerte einschätzen. Wissen Sie, NEN]: Wann kommt denn der Vorschlag?) was 55 Dezibel bedeuten? Ein ruhiger Bach murmelt mit Daran muss sich die neue gesetzliche Regelung messen 50 Dezibel im Wald. Ein Fernseher auf Zimmerlautstärke (B) lassen. Ich freue mich auf eine gemeinsame Kraftan- verursacht 60 Dezibel, so wie auch ein Gespräch am Kaf- (D) strengung, mit der wir das erreichen. Ich lade jeden ein, feetisch. Pkws dürfen mit 59 Dezibel durch reine Wohn- mitzuwirken. Wir werden im Ausschuss noch intensiver gebiete rauschen, und Militärjets dürfen mit 90 Dezibel darüber reden. darüber hinwegdonnern. Hunde dürfen bellen, das ist ja Zwei Sekunden Zeitüberschreitung verzeihen Sie mir ihre Natur – übrigens lauter als 50 Dezibel. Frösche muss bitte. – Danke schön. man bis 55 Dezibel ertragen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ordneten der SPD) NEN]: Was macht man dann?) Selbst wenn sie mit 70 Dezibel quaken, dürfen sie meist Vizepräsidentin Ulla Schmidt: bleiben; denn das entspricht ihrer Natur. Das wird gerne verziehen. Wenn nur alle anderen auch so pünktlich wären wie Sie! (Beifall bei der LINKEN) Als Nächster hat jetzt der Kollege Ralph Lenkert, Welchen sinnvollen Grund gibt es angesichts dessen für Fraktion Die Linke, das Wort. Grenzen von 50 oder gar 45 Dezibel für Sportanlagen und Freizeitsport? (Beifall bei der LINKEN) (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ralph Lenkert (DIE LINKE): NEN]: Keinen!) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geehrte Kolleginnen Sorgen wir für mehr Akzeptanz für Menschen, egal ob und Kollegen! Heute geht es um Lärmschutz, ganz emo- es um Ballspiele, neue Trendsportarten oder Wettkämpfe tional darum, mit Freude und Elan am Sonntag mit und geht. ohne Bälle Sport zu treiben, so wie Sie und ich es ma- chen, oder bei Sportveranstaltungen zu jubeln, was ich (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- eher tue. neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Da die Koalition hinsichtlich der Sportstättenlärmver- Liebe Kolleginnen und Kollegen, folgen Sie den Anre- ordnung nicht aus der Hüfte kommt, wie den Antworten gungen der Grünen und den Vorschlägen der Linken. auf die Fragen meiner Kollegin Kunert zu entnehmen Wir sind für wohnortnahe Sportanlagen. Dann werden war, danke ich den Grünen dafür, dass sie einen Antrag Jugendliche öfter zum Sportplatz gehen. Gemeinsamer zur Anhebung der Geräuschgrenzwerte für Sportanlagen Sport hilft unserer Gesundheit und unserem sozialen Zu- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 12689

Ralph Lenkert (A) sammenhalt. Es wäre doch schön, wenn wir mehr solche Stellvertretend für viele Vereine, die hier eine tolle Ar- (C) Geräusche zulassen würden, oder? beit leisten, möchte ich die SG Bornheim Grün-Weiß aus meinem Frankfurter Wahlkreis nennen. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN) (Volkmar Vogel (Kleinsaara) [CDU/CSU]: Wir schließen uns dem Gruß an!) Gesetze sollten sich am Leben orientieren. Im No- Der Verein kümmert sich unter anderem um 20 unbe- vember 2011 änderte der Bundestag einstimmig das Bun- gleitete minderjährige Flüchtlinge. Diese helfen am des-Immissionsschutzgesetz, damit sich Kinder herum- kommenden Samstag bei der Organisation und Durch- tollend entwickeln können, damit nie wieder ein Gericht führung der Feier zum 70-jährigen Jubiläum. Liebe SG fröhliches Kinderlachen als Lärmstörung unterbindet. Bornheim, Gratulation zum 70. Jubiläum und danke für Setzen wir uns zusammen, diskutieren wir im Ausschuss, eure großartige Arbeit! treiben wir das Ministerium, und wenn Sie von der Koa- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) lition es wollen, dann finden wir wie 2011 eine gemeinsa- me Lösung, damit Schilder wie „Sportplatz sonntags von – Da könnt ihr Grünen und Linken auch ruhig mitklat- 13 bis 15 Uhr geschlossen“ auf dem Müll landen. schen. Also, ein Dank an die SG Bornheim bitte auch von euch! Eine Änderung der 18. Bundesimmissionsschutz- (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- verordnung hilft Jugendlichen, Sportlern, Vereinen und NEN]: Gruß an Roter Stern !) Kommunen, auf rechtssicherer Basis ihre Arbeit und un- sere Freizeit zu organisieren. Dann fliegen mehr Bälle Sport soll integrieren und nicht spalten. Deshalb ist es aus Spaß als Flaschen aus Frust. Um Ihnen die Angst zu wichtig, dass ein fairer Ausgleich zwischen den Interes- sen des Sports und der Wohnbevölkerung gefunden wird. nehmen: Auch bei erlaubten 55 Dezibel dürfen Sportle- Zum Sportlärm gibt es verschiedenste Diskussionsbeiträ- rinnen und Sportler noch immer nicht so viel Lärm ver- ge – das ist schon erwähnt worden –, unter anderem vom ursachen wie Ihre vielgeliebten Pkws. Deutschen Städtetag, vom DFB und vom DOSB. Als Be- Vielen Dank. richterstatterin zu diesem Themenbereich führe ich seit Monaten viele Gespräche mit Verbänden und Betroffe- (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- nen. Ich möchte zwei Punkte ansprechen, die mir wich- NIS 90/DIE GRÜNEN) tig sind und die schon Entspannung – oder noch besser: Ruhe – bringen könnten. (B) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Die Sportanlagenlärmschutzverordnung, kurz SAL- (D) Vielen Dank. – Für die SPD-Fraktion hat jetzt Ulli VO, von 1991 regelt die Vorgaben für Sportvereine. Nissen das Wort. Seitdem hat sich einiges in den Städten und in unserer Lebenswirklichkeit verändert. Ein Ansatzpunkt ist, den (Beifall bei der SPD) Altanlagenbonus zu konkretisieren. Auf Sportanlagen, die es bereits vor Inkrafttreten der SALVO gab, darf es Ulli Nissen (SPD): lauter sein als auf neueren. Unklar ist aber, was passiert, Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Ralph wenn ein Verein seine Anlage zum Beispiel durch einen Kunstrasen modernisiert. Verliert er dadurch seinen Bo- Lenkert, ich habe bei mir im Garten wütende Eichhörn- nus? Hier müssen wir wirklich für Klarheit sorgen. chen, die pöbeln, wenn ich meine Haselnüsse selber pflü- cke. Ich weiß nicht, wie viele Dezibel es bei ihnen sind. Es ist vorhin schon angesprochen worden: Nord- Aber ich finde, das ist letztlich auch ein tolles Geräusch. rhein-Westfalen zum Beispiel hat gute Auslegungs- hinweise vorgelegt, die meiner Meinung nach von uns (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD) aufgegriffen werden könnten. Denn damit erhalten Sport- vereine endlich Klarheit und Sicherheit darüber, welche Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen Modernisierungen und Änderungen an einer Sportanlage und Kollegen! Wir alle kennen die Probleme, die mit eben nicht zum Verlust des Bonus führen. Für sinnvoll wachsenden Städten verbunden sind. Immer mehr Men- halte ich auch, das Kinderlärmprivileg, das bisher nur für schen leben auf gleichem Raum. Das bedeutet neben Kitas und Kindergärten gilt, auf den Vereinssport auszu- steigenden Mieten auch Nachverdichtung und engeres weiten. Sport von Kindern auf Sportplätzen sollte nicht Zusammenwohnen. Das birgt Konfliktpotenzial. Viele als Lärm gelten. Sportvereine beklagen sich, dass sie wegen Beschwer- Jetzt komme ich zu den Ruhezeiten. In Frankfurt set- den von Anwohnern keine ausreichenden Trainings- und ze ich mich wegen des Fluglärms schon lange für ein Spielzeiten mehr anbieten können. Für uns alle ist klar: Nachtflugverbot von 22 bis 6 Uhr morgens ein. Da kann Sport und Bewegung sind gut für die Gesundheit, für ich auch bei anderen Lärmquellen nicht sagen: Das ist in das persönliche Wohlbefinden, aber auch wichtig für das Ordnung. – Ich halte eine Abendruhe ab 22 Uhr grund- soziale Miteinander, und Sport hat ein großes Integrati- sätzlich für richtig. Allerdings bin ich flexibel bei den onspotenzial. Gemeinsamer Sport bringt Menschen zu- Mittagszeiten, gerade auch am Wochenende. einander. Gerade in der jetzigen Situation ist die Arbeit, Wer in der Stadt wohnt, der weiß, dass es dort nicht die Sportvereine für die Integration leisten, sehr wichtig. überall leise ist, und wer den Sportplatz schon sieht, 12690 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015

Ulli Nissen (A) wenn er sich eine Wohnung mietet, der kann sich danach Die Interessen des Sports sind in immissionsschutz- (C) nicht beschweren, dass dort auch tatsächlich Sport be- rechtlichen Konfliktlagen angemessen zu berück- trieben wird. sichtigen. Deshalb werden wir auch eine Änderung der einschlägigen gesetzlichen Bestimmungen prü- (Matthias Schmidt (Berlin) [SPD]: Das fen. stimmt!) Die rechtliche Lage ist komplex und leider nicht be- Ich kann mich wirklich immer zutiefst darüber ärgern, sonders anwenderfreundlich. Es bestehen zivilrechtliche wenn sich Menschen beschweren, obwohl sie vorher al- Regelungen im BGB, öffentlich-rechtliche Vorschriften les gesehen haben. wie das Bundes-Immissionsschutzgesetz, die sogenannte Ich danke den Grünen für den Antrag. Sportanlagenlärmschutzverordnung und die Lärmschutz- verordnungen der Länder. Wann welche Gesetze zur An- (Beifall des Abg. Christian Kühn (Tübingen) wendung kommen und ob es Bundes- oder Ländersache [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) ist, hängt vom Einzelfall ab und kann nicht pauschal be- Wir werden das im Interesse der Sportlerinnen und urteilt werden. Sportler und auch aller anderen sicherlich gemeinschaft- Genau das ist das Problem, liebe Monika, warum euer lich auf einen guten Weg bringen. Antrag hier ein bisschen zu kurz greift und uns in die Danke schön. Pflicht nimmt, einen konkreteren vorzulegen, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE NEN]: Ihr könnt es noch besser machen!) GRÜNEN) und das werden wir tun.

Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Wir werden das Bundes-Immissionsschutzgesetz Vielen Dank. – Als Letzte spricht jetzt Michaela ergänzen und die Sportanlagenlärmschutzverordnung Engelmeier, SPD-Fraktion, zu diesem Tagesordnungs- sport- und kinderfreundlich weiterentwickeln – und das punkt. konkreter als in eurem Antrag, damit die Maßnahmen zü- giger umgesetzt werden können. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Wir wollen den Sportlärm von Kindern und Jugend- lichen mit Kinderlärm gleichsetzen, also den Lärm von Michaela Engelmeier (SPD): Kindern und Jugendlichen auf Sportanlagen privilegie- (B) Vielen Dank. – Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe ren. Die Geräuscheinwirkungen durch Kinder und Ju- (D) Kolleginnen! Liebe Kollegen! Meine sehr verehrten Da- gendliche, die auf Sportanlagen aktiv sind, sollen nicht men und Herren! Das Thema Lärm ist seit vielen Jahren als schädliche Umwelteinflüsse eingestuft werden. ein Dauerbrenner im Sport. (Beifall bei der SPD und der LINKEN) In den letzten Jahren kam es vermehrt zu Einschrän- kungen des Betriebes von Sportanlagen, nachdem sich Wir wollen die Zeiten modern gestalten und die Spiel- Nachbarn und Anwohner gegen den Lärm, der von Sport- zeiten im Sportbetrieb flexibilisieren. Ruhe- und Spiel- anlagen ausgeht, gerichtlich zur Wehr gesetzt hatten und zeiten auf Sportanlagen sollen mit Blick auf die geänder- damit zum Teil auch erfolgreich waren. Das führte dazu, ten Sport- und Freizeitgewohnheiten angepasst werden. dass manche Sportanlagen nur noch sehr eingeschränkt Wir wollen die Altanlagen schützen und einen Bonus nutzbar sind, die Kinder dauernd ermahnt werden, beim für Altanlagen schaffen. Der Schutz für eine Sportanla- Jubel über Tore nicht zu laut zu sein, und vieles mehr. Für ge, die vor 1991 gebaut wurde, bleibt erhalten, wenn Än- viele Sportvereine, Eltern und Kinder ist das eine absurde derungen oder Modernisierungen, wie zum Beispiel die Situation. Umwandlung in einen Kunstrasenplatz, keine wesentli- Allerdings kann man auch keine einseitige Zuschrei- chen Änderungen darstellen. bung von Recht und Unrecht vornehmen. Im Gegenteil: Ich möchte gerne mit einem Zitat von Kurt Tucholsky Hier steht Recht gegen Recht. schließen, das auch den Sport betrifft: Daher hat unsere Koalition dieses Thema auch im Ko- Im Übrigen ist der Mensch ein Lebewesen, das alitionsvertrag verankert. Wir haben uns für gute Rah- klopft, schlechte Musik macht und seinen Hund bel- menbedingungen im Sport ausgesprochen und die Prü- len lässt. Manchmal gibt er auch Ruhe, aber dann fung der Immissionsregelungen vereinbart. Im Wortlaut ist er tot. heißt es: (Heiterkeit im ganzen Hause – Beifall bei der Wir machen uns dafür stark, dass eine attraktive, SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeord- ausgewogene und bedarfsorientierte Infrastruktur neten der LINKEN) für den Spitzen-, Leistungs- und Breitensport erhal- ten bleibt. Vizepräsidentin Ulla Schmidt: (Matthias Schmidt (Berlin) [SPD]: Eine gute Vielen Dank. – Damit sind wir am Schluss der Aus- Vereinbarung!) sprache angelangt. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 12691

Vizepräsidentin Ulla Schmidt (A) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf rüst, unser Grundgesetz, unsere Grundsätze und unsere (C) Drucksache 18/4329 an die in der Tagesordnung aufge- Gesellschaftsordnung zu berücksichtigen und zu achten führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Ich sehe hier kei- haben. nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU Ich rufe die Tagesordnungspunkte 14 a und 14 b auf: sowie des Abg. Dr. Johannes Fechner [SPD]) a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bun- – Danke sehr. – Zu dieser Grundordnung in Deutsch- desregierung eingebrachten Entwurfs eines land und zu unserem Wertegerüst gehört, niemanden zu Gesetzes zur Bereinigung des Rechts der diskriminieren. Dazu gehört: Frauen und Männer sind Lebenspartner gleichberechtigt. Es kann nicht sein, dass man einer Frau nicht die Hand gibt. Zu diesem Grundgerüst gehört, dass Drucksache 18/5901 in diesem Land, nicht nur durch die Entscheidung des – Zweite und dritte Beratung des von den Abge- Deutschen Bundestags und die Entscheidung der ent- ordneten Volker Beck (Köln), Ulle Schauws, sprechenden Gerichte, Männer mit Männern und Frauen Luise Amtsberg, weiteren Abgeordneten und mit Frauen zusammenleben dürfen und können und ein der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Teil unserer Gesellschaft sind. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten abschließenden Beendigung der verfas- der CDU/CSU) sungswidrigen Diskriminierung eingetra- gener Lebenspartnerschaften Deshalb, verehrte Kolleginnen und Kollegen, halte ich es für fast überflüssig, in einer solchen Diskussion Drucksache 18/3031 zu fragen: Warum brauchen wir dann noch ein Gesetz, Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- wenn wir von den Flüchtlingen in unserem Land verlan- ses für Recht und Verbraucherschutz (6. Aus- gen, dass sie sich an unsere Rechtsordnung halten, dass schuss) niemand diskriminiert werden darf? Warum müssen wir in Deutschland dann noch ein Gesetz auf den Weg brin- Drucksache 18/6227 gen, mit dem wir Diskriminierungen in diesem Lande b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- aufheben? Wir müssen es machen, weil in diesem Land richts des Ausschusses für Recht und Verbrau- die Ehe zwischen Menschen gleichen Geschlechts immer cherschutz (6. Ausschuss) zu dem Antrag der Ab- noch nicht die Rechtsstellung hat, die sie eigentlich ha- geordneten Harald Petzold (Havelland), Sigrid ben sollte. (B) Hupach, Jan Korte, weiterer Abgeordneter und Gestern sagte Volker Kauder einen schönen Satz frei (D) der Fraktion DIE LINKE nach Kurt Schumacher: Politik beginnt als Erstes mit Ehe für gleichgeschlechtliche Paare – dem Erkennen der Wirklichkeit. – Die Wirklichkeit in Der Entschließung des Bundesrates folgen diesem Land ist eine andere als die, die für uns vorgese- hen ist. Die Wirklichkeit heißt: Männer leben mit Män- Drucksachen 18/5205, 18/6379 nern, Frauen leben mit Frauen. Schwule und Lesben ha- Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt ben in diesem Land die gleichen Rechte und können sie ein Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die auch in Anspruch nehmen. Grünen vor. Außerdem hat die Fraktion Bündnis 90/Die Deshalb, meine sehr verehrten Damen und Herren, Grünen einen Änderungsantrag zu ihrem Gesetzentwurf liegt nunmehr zu Recht der Entwurf eines Gesetzes zur eingebracht. Bereinigung des Rechts der Lebenspartner als ein wich- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für tiger, aber, wie ich sage, nicht letzter und endgültiger die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre dazu Schritt zur zweiten und dritten Beratung in diesem Hause keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. vor. Er hat den langen Kampf – Martin Luther King wür- de ihn als langen Weg bezeichnen – von der Verschärfung Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege der Vorschriften gegen Homosexuelle im Jahr 1935 über Dr. Karl-Heinz Brunner, SPD-Fraktion. die unsäglichen Bestätigungen durch deutsche Parlamen- te und das deutsche Verfassungsgericht im Jahre 1959, (Beifall bei der SPD) dann über die Änderungen 1969 bis hin zum Lebenspart- nerschaftsgesetz 2001 und zur Bereinigung des Rechts Dr. Karl-Heinz Brunner (SPD): geführt. Verehrte Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen! In diesen Tagen sprechen wir in Deutschland Ich sage: Heute ist ein guter Tag, aber noch nicht der fast ausschließlich über die Frauen und Männer, die als letzte Tag in diesem Kampf. Deshalb, liebe Kolleginnen Flüchtlinge zu uns nach Deutschland kommen. Wir sa- und Kollegen, bitte ich Sie alle in diesem Haus an dieser gen ganz selbstverständlich – das ist auch richtig so –, Stelle um Zustimmung zu dem Entwurf eines Gesetzes dass Menschen, die aus Ländern kommen, in denen sie zur Bereinigung des Rechts der Lebenspartner. unterdrückt, missachtet, verfolgt, diskriminiert werden, Gleichzeitig bitte ich die lieben Kolleginnen und Kol- in Deutschland einen Anspruch auf Schutz haben. Wir legen der Union: Geben Sie sich einen Ruck! Anerkennen sagen gleichzeitig, und zwar mit voller Überzeugung, Sie die Wirklichkeit in diesem Land, sodass wir bei den dass diese Menschen in Deutschland unser Wertege- dann anstehenden Beratungen über die Gesetzentwürfe 12692 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015

Dr. Karl-Heinz Brunner (A) des Bundesrates, der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, gelegt, den Sie leider ablehnen wollen. Darin sind all die (C) der Linken und wie sie so alle vorliegen, Beispiele, die bereinigt werden müssten, aufgeführt. (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Die Große Koalition versucht seit der öffentlichen NEN]: Es liegen genug Vorschläge vor!) Anhörung zu den Gesetzentwürfen der Linken, vom Bündnis 90/Die Grünen und der Bundesregierung, ihre zu einem vernünftigen Ergebnis für die Menschen dieses flügellahme Argumentation mit dem Hilfsargument zu Landes kommen. stützen, die Anhörung habe ergeben, dass eine Grundge- In diesem Sinne: Vielen Dank. setzänderung notwendig sei, um die Ehe für alle öffnen zu können. (Beifall bei der SPD) (Dr. Johannes Fechner [SPD]: Wer sagt das? – Dr. Volker Ullrich [CDU/CSU]: Genau so ist Vizepräsidentin Ulla Schmidt: es! – Volker Beck (Köln) [BÜNDNIS 90/DIE Vielen Dank. – Als Nächstes spricht der Kollege GRÜNEN]: Mit der Wirklichkeit haben es die Harald Petzold, Fraktion Die Linke. Kollegen nicht so!) (Beifall bei der LINKEN) – Ja, genau so. Sehen Sie? – Dabei haben Sie es in der Anhörung selbst erleben können: Es waren sieben Sach- Harald Petzold (Havelland) (DIE LINKE): verständige, von denen vier verneint haben, dass eine Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen Grundgesetzänderung nötig ist. und Kollegen! Lieber Karl-Heinz Brunner, ich schätze (Dr. Sabine Sütterlin-Waack [CDU/CSU]: deine Redebeiträge zu diesem Thema immer sehr, Aber drei haben es bestätigt!) (Dr. Johannes Fechner [SPD]: Die sind auch Zwei haben sich explizit dafür ausgesprochen, und die gut!) dritte hat gesagt, sie könne es sich vorstellen. Wenn ich aber du kannst es drehen und wenden, wie du willst: Der die Grundrechenarten richtig verstanden habe, ist vier Entwurf eines Gesetzes zur Bereinigung des Rechts der immer noch mehr als drei. Ich wäre der SPD dankbar, wenn sie dafür sorgen würde, dass die Koalitionspartne- Lebenspartner, den wir heute in zweiter und dritter Le- rin nicht auch noch die Unwahrheit verbreitet. sung beraten, verlässt leider den Deutschen Bundestag genauso schlecht, wie er hineingegangen ist. Dabei war (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. es eigentlich ein bekannter Sozialdemokrat, der festge- Volker Beck (Köln) [BÜNDNIS 90/DIE stellt hat, dass kein Gesetz das Parlament so verlässt, wie GRÜNEN]) (B) (D) es hineingekommen ist. Diesen Anspruch habt ihr leider Für mich war an der Anhörung am bemerkenswer- nicht eingelöst. Dabei hätte es so viel zu ändern gegeben. testen, dass das SPD-geführte Justizministerium einen (Beifall bei der LINKEN) alten Gesetzentwurf aus der Schublade gezaubert hat, mit dem schon die liberale Justizministerin Leutheusser-­ Ich will nur zwei Beispiele nennen. Das gemeinsame Schnarrenberger 2012 gescheitert ist, und dass es nur um Adoptionsrecht ist völlig aus dem Gesetzentwurf ausge- redaktionelle Änderungen in gerade einmal 32 Gesetzen klammert worden. Damit bleibt es dabei, dass Paare in ging. Es hat mir niemand geglaubt, als ich es angesprochen gleichgeschlechtlichen Partnerschaften nicht gemeinsam habe: Wohlgemerkt, es gibt derzeit noch etwa 150 Rege- Kinder adoptieren können. Das ist und bleibt meiner lungen in über 50 Gesetzen und Verordnungen, in denen Ansicht nach eine klare Diskriminierung von gleichge- die Gleichstellung noch nicht vollzogen worden ist. schlechtlichen Paaren. Deswegen hat der Bundesrat in seiner Stellungnahme (Beifall des Abg. Volker Beck (Köln) zum Gesetzentwurf zur Bereinigung des Rechts der Le- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) benspartner geschrieben – ich finde, das ist konsequent –: Dazu kann die Linke nur Nein sagen. Der Bundesrat hält den Gesetzentwurf jedoch nicht für ausreichend, da er die Gleichstellung gleichge- (Beifall bei der LINKEN) schlechtlicher Paare in wesentlichen Rechtsgebie- Dass Sie nicht einmal den Versuch unternehmen, lie- ten, wie dem Adoptionsrecht, ausspart. be Kolleginnen und Kollegen von der SPD-Fraktion, auf Solange Sie auf das Deckblatt des Gesetzentwurfs un- die Koalitionspartnerin mehr Druck auszuüben, finde ich ter der Rubrik „Alternativen“ schreiben: „Keine“, kann angesichts Ihres Wahlversprechens von „100 Prozent ich deshalb nur sagen – und ich sage Ihnen das immer Gleichstellung nur mit uns“ beschämend. Das ist Betrug wieder, solange dies so ist –: Das ist eine Lüge. Denn es an Ihren Wählerinnen und Wählern. gibt Alternativen. Es liegen inzwischen drei Gesetzent- (Beifall bei der LINKEN – Volker Beck würfe vor: einer der Linken, einer vom Bündnis 90/Die (Köln) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und Grünen und seit September auch einer des Bundesrates. zwar 100 Prozent!) Deswegen legen wir Ihnen heute erneut unseren Antrag vor, wenigstens die Entschließung des Bundesrates um- Auch die Ehe wird Paaren in eingetragenen Le- zusetzen und endlich die rechtliche und öffentliche Dis- benspartnerschaften nach wie vor nicht offenstehen. kriminierung von gleichgeschlechtlichen Partnerschaften Bündnis 90/Die Grünen haben einen Gesetzentwurf vor- zu beenden. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 12693

Harald Petzold (Havelland) (A) Vielen Dank. schlechtliche Paare ohne Grundgesetzänderung zulässig (C) wäre. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Ist sie auch! – Harald Petzold (Havelland) [DIE LIN- Vizepräsidentin Ulla Schmidt: KE]: Ist sie auch!) Vielen Dank. – Für die CDU/CSU-Fraktion spricht Wir sind davon überzeugt, lieber Kollege Petzold, dass jetzt die Kollegin Dr. Sabine Sütterlin-Waack. dies falsch ist. (Beifall bei der CDU/CSU) (Harald Petzold (Havelland) [DIE LINKE]: Sie sind selbst davon überzeugt, dass es so Dr. Sabine Sütterlin-Waack (CDU/CSU): ist!) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Die entscheidende Frage hier lautet: Steht der verfas- Wir befassen uns heute abschließend mit zwei Gesetzent- sungsrechtliche Begriff der Ehe in Artikel 6 Absatz 1 würfen und einem Antrag. Die drei Drucksachen haben Grundgesetz diesem Gesetzentwurf entgegen? Der ge- eine wesentliche Gemeinsamkeit: das Ziel, rechtliche nannte Grundrechtsartikel stellt Ehe und Familie unter Ungleichheiten zwischen Ehe und eingetragener Le- den besonderen Schutz der staatlichen Ordnung. benspartnerschaft zu beseitigen. Ich sage ganz bewusst „Ziel“, weil ich überzeugt bin, dass wir auch in der CDU (Harald Petzold (Havelland) [DIE LINKE]: noch nicht am Ende der Debatte angekommen sind. Genau! Das ist alles!) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Dabei kann nicht bestritten werden, dass die Väter und Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Mütter der Verfassung unter Ehe die Verbindung zwi- NEN]: Hört! Hört!) schen Mann und Frau verstanden haben. Wir haben, wie es sich in einer Volkspartei gehört, ein (Harald Petzold (Havelland) [DIE LINKE]: breites Meinungsspektrum. Es sind nicht nur redaktionel- Die kannten nichts anderes!) le Änderungen, die der Gesetzentwurf der Bundesregie- – Genau! – Eine andere Form des Zusammenlebens war rung vorsieht. Es findet eine umfassende Anpassung des zu jener Zeit nicht vorstellbar. Dieses Eheverständnis Zivilrechts, des Sozialrechts und des Verfahrensrechts aber wurde vom Bundesverfassungsgericht in mehreren statt. Allerdings wurde die Frage der gemeinschaftlichen Entscheidungen bestätigt. Adoption – das wird hier niemanden überraschen – aus- geklammert. (Volker Beck (Köln) [BÜNDNIS 90/DIE (B) GRÜNEN]: Wenn damals die Apartheid ge- (D) Ich betone abermals: Dort, wo im Vergleich zum golten hätte, wäre es auch nicht möglich ge- Gesetzentwurf der Grünen keine entsprechenden Re- wesen, dass Schwarze und Weiße heiraten, gelungen stehen, sind diese nicht ausgelassen worden, oder was soll der Stuss?) um Ungleichbehandlungen bewusst aufrechtzuerhalten, sondern weil sie teilweise auf andere Art und Weise re- In seinem Urteil von 2002 definierte es die Ehe im Sinne guliert wurden. Das geschah teils durch Wegfall, teils des Grundgesetzes als – ich zitiere – „die Vereinigung ei- durch grundlegende Überarbeitung der entsprechenden nes Mannes mit einer Frau zu einer auf Dauer angelegten Gesetze. Lebensgemeinschaft“. Dem Antrag der Linken und der Initiative des Bun- (Harald Petzold (Havelland) [DIE LINKE]: desrates folgend wäre ein Bereinigungsgesetz gar nicht Das ist 13 Jahre alt!) nötig. In der Folgezeit hat das Bundesverfassungsgericht (Beifall des Abg. Harald Petzold (Havelland) schrittweise in einer Mehrzahl von Urteilen die Le- [DIE LINKE]) benspartnerschaft an die Ehe angeglichen. Von seinem Eheverständnis aber ist es nicht abgerückt. Mit der Initiative wird nämlich vorgeschlagen, die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare zu öffnen. (Beifall bei der CDU/CSU – Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Noch nicht!) (Beifall des Abg. Harald Petzold (Havelland) [DIE LINKE]) Sogar in seiner jüngsten Entscheidung zum Ehegatten­ splitting im Jahre 2013 wurde die Gleichgeschlechtlich- Dazu soll eine einfachgesetzliche Regelung im Bürgerli- keit der Lebenspartner als Unterschied zur Ehe erwähnt. chen Gesetzbuch gefunden werden, sodass die Ehe nicht nur von Personen verschiedenen, sondern auch von Per- Meine Damen und Herren, ich habe bereits erwähnt, sonen gleichen Geschlechts geschlossen werden kann. dass das Grundgesetz die Ehe unter den besonderen Schutz des Staates stellt. Diese Institutsgarantie gewähr- (Harald Petzold (Havelland) [DIE LINKE]: leistet neben dem Bestand der Ehe auch – und das ist ent- Genau so ist es! – Ulli Nissen [SPD]: Sehr scheidend – ihre wesentlichen unantastbaren Strukturen, gute Idee!) wozu die verschiedengeschlechtliche Verbindung zählt. Die Initiative, meine Kolleginnen und Kollegen – hö- Vor diesem Hintergrund sind wir als Gesetzgeber bei der ren Sie einmal zu! –, setzt aber eine wichtige Prämisse rechtlichen Ausgestaltung der Ehe an die verfassungs- voraus, nämlich dass die Öffnung der Ehe für gleichge- rechtlich gesicherten Strukturprinzipien der Ehe gebun- 12694 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015

Dr. Sabine Sütterlin-Waack (A) den. Über diese Grenze können wir uns nicht einfach hin- Als Amerika die Bill of Rights in seine Verfassung ge- (C) wegsetzen, indem wir die Ehe im BGB neu definieren. schrieben hat, war man selbstverständlich der Auffas- sung, dass das für Weiße gilt, aber nicht für Schwarze, Auch wenn wir das Leitbild der Ehe als eine Verbin- weil die keine Menschen sind. Als das Grundgesetz vom dung zwischen Mann und Frau achten, verkennen wir nicht die gesellschaftliche Wirklichkeit. Während früher Parlamentarischen Rat verabschiedet wurde, war man homosexuellen Paaren die gesellschaftliche Anerken- der Auffassung, dass Homosexualität strafbar ist. Wenn nung versagt war, erfahren sie heute die gebotene Ak- es strafbar ist, können gleichgeschlechtliche Paare na- zeptanz. türlich nicht auf einem Standesamt eine Ehe schließen; das wäre widersinnig. Aber das alles waren falsche, men- (Volker Beck (Köln) [BÜNDNIS 90/DIE schenrechtswidrige Rechtszustände. GRÜNEN]: „Anerkennung versagt war“? Die kamen in den Knast!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Gleichgeschlechtliche Partnerschaften gehören inzwi- schen zur gesellschaftlichen Realität und Normalität. Diese haben wir überwunden. Deshalb muss man die Be- Gleichgeschlechtliche Partner übernehmen genauso wie griffe der Verfassung hier in einem neuen Licht lesen. in einer Ehe dauerhaft die Verantwortung für den Partner. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Sie sind einander zu Fürsorge und Unterstützung ver- SES 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN) pflichtet. Da bin ich schon erstaunt, dass Sie offensichtlich immer Aber, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, die noch in den 50er-Jahren geistig stehen geblieben sind gesellschaftliche Akzeptanz rechtfertigt nicht ohne Wei- und nicht akzeptieren, dass Homosexuelle die gleichen teres die Änderung des Ehebegriffs. Menschenrechte haben wie Heterosexuelle. (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Hätten Sie doch vor dem Aber aufgehört!) SES 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN) Mit der Initiative des Bundesrates macht man es sich zu Damit sind wir beim Kern der Debatte. Dass es Ih- einfach. Es geht hier um grundlegende Werte unserer nen in der Koalition letztendlich um eine Fortsetzung der Verfassung, die durch das einfache Recht nicht geändert Schikanierung geht, sieht man an dem vorliegenden Ge- werden können. Wir sind der Meinung: Nur eine Ver- setzentwurf. fassungsänderung mit einer Zweidrittelmehrheit beider Kammern kann das Eheverständnis neu definieren. (Dr. Sabine Sütterlin-Waack [CDU/CSU]: (B) Das ist doch Quatsch! – Dr. Johannes Fechner (D) Vielen Dank. [SPD]: Völliger Quatsch!) (Beifall bei der CDU/CSU) Sie, meine Damen und Herren von der SPD, haben ver- sprochen: 100 Prozent Gleichstellung nur mit uns! Sie Vizepräsidentin Ulla Schmidt: haben es sogar geschafft, in den Koalitionsvertrag aufzu- Vielen Dank. – Volker Beck ist der nächste Redner für nehmen, dass Lebenspartnerschaft und Ehe gleichgestellt Bündnis 90/Die Grünen. werden sollen. Bloß, warum haben Sie das dann nicht in den Gesetzentwurf geschrieben? Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Ich muss ja sagen: Da ich die Debatten zu diesem The- SES 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN) ma in diesem Haus schon eine Weile führe, dachte ich: Ich kann mich nicht mehr aufregen, und ich erlebe nichts Wir haben Ihnen einen Gesetzentwurf vorgelegt, der vor- Neues mehr. Frau Sütterlin-Waack, Sie haben mich heute sieht, dass man, wenn man nicht den Schritt zur Öffnung Abend überrascht. Das mit dem Ehebegriff im Grundge- der Ehe geht, wenigstens gleiche Rechte von Lebenspart- setz war ja nun samt und sonders Stuss. nerschaft und Ehe vorsieht. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Sie können die Differenzen auch nicht so recht be- Dr. Johannes Fechner [SPD]: Es geht auch gründen. Wir haben in einer Kleinen Anfrage mit 50 Fra- eine Nummer kleiner!) gen versucht, herauszufinden, was der Sinn der verschie- denen Unterschiede ist. Teil der verfassungsrechtlichen Texte, auf die sich die Vereinigten Staaten, Frankreich oder Deutschland beru- (Ulli Nissen [SPD]: Kleine Anfrage mit fen, ist doch, dass sie in einer bestimmten historischen 50 Fragen!) Situation geschrieben wurden, wie zum Beispiel die Dabei kam heraus: Bei manchen Sachen finden Sie das französische Déclaration des Droits de l‘Homme. Da- Recht nicht so aktuell und halten es eigentlich für reno- mals war man der Auffassung, dass selbstverständlich vierungs- und bereinigungsbedürftig. Dann wundert man diese Menschenrechte nicht für Frauen gelten. Sie gelten sich, warum das nicht im Bereinigungsgesetz gemacht heute für Frauen, ohne dass der Verfassungstext geändert wird. Bei anderen Sachen kündigen Sie an, darüber woll- wurde. ten Sie – nach zwei Jahren Koalition – jetzt doch noch (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einmal nachdenken; beim Sprengstoffgesetz und beim sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Bundesvertriebenengesetz plane man etwas. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 12695

Volker Beck (Köln) (A) Dass das Herumdoktern am Lebenspartnerschaftsge- Alexander Hoffmann (CDU/CSU): (C) setz keinen Sinn mehr hat, sieht man an Ihrer Antwort Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geschätzte Kollegin- auf die Fragen nach dem Staatsbürgerschaftsrecht und nen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und der Niederlassungserlaubnis. Da sagen Sie nämlich, was Herren! Ich glaube, man kann schon sagen, dass die Ge- Ihnen bei der Lebenspartnerschaft dauernd passiert: schichte der Gleichstellung heute ein neues Kapitel be- kommt. Wir gehen einen richtigen und wichtigen Schritt. Bei der fehlenden Einbeziehung von Lebenspart- Ich habe schon beim letzten Mal vorangestellt: Wir sind nerschaften in § 51 Absatz 10 Satz 2 des Aufent- uns doch im Prinzip und vom Ergebnis her einig: Nie- haltsgesetzes handelt es sich um ein redaktionelles mand soll aufgrund seiner sexuellen Orientierung diskri- Versehen. Dieses wird bei nächster Gelegenheit kor- miniert werden. rigiert. (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Die Gelegenheit wäre heute. Das haben Sie aber nicht NEN]: Warum ist das dann so schwer?) gemacht. Gerade in diesen Tagen finde ich es wichtig, dass die- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ses Signal auch nach außen geht, und bei der LINKEN) (Volker Beck (Köln) [BÜNDNIS 90/DIE Wenn Sie die Gelegenheit beim Schopfe ergreifen GRÜNEN]: Dann machen Sie es doch we- wollen, dann legen Sie Ihren Gesetzentwurf zu den Ak- nigstens, um die Muslime zu ärgern!) ten und stimmen wenigstens unserem zu. Machen Sie in diesen Tagen, da Tausende unser Land als Zufluchts- Schluss mit der Diskriminierung! land aufsuchen. Aber ich möchte an dieser Stelle schon Wir haben hier häufig über die Adoptionsfrage gestrit- davor warnen, dass wir dieses Signal mit einer eher kon- ten. Bei dieser Frage geht es eigentlich auch nur noch ditionierten Diskussion verwässern; denn das schwächt um eine Schikane. Selbstverständlich können Schwule das Signal nur ab. und Lesben in Lebenspartnerschaften über Einzeladop- (Harald Petzold (Havelland) [DIE LINKE]: tion und dann über Sukzessivadoption gemeinsame Ad- Was soll denn das jetzt?) optiveltern werden. Warum in zwei Schritten mit zwei Ich glaube, man kann heute schon sagen, dass wir Verwaltungsverfahren und zwei Gutachten? Das alles trotz aller Diskussion die Geschichte der Gleichstellung kostet Geld und Zeit und ist zum Nachteil der Kinder, die gemeinsam in diesem Land gestaltet haben – ohnehin in solchen Lebenspartnerschaften aufwachsen werden. (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (B) NEN]: Na ja! Die einen mehr, die anderen we- (D) (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- niger! – Volker Beck (Köln) [BÜNDNIS 90/ SES 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN) DIE GRÜNEN]: Sie haben alles abgelehnt Das alles geschieht nur, um eine symbolische Diskrimi- und in Karlsruhe bekämpft, aber sonst waren Sie irgendwie dabei!) nierung aufrechtzuerhalten. Das hält vor der Verfassung nicht stand. Ich finde es nicht anständig, dass Sie daran mit unterschiedlichen Positionen, mit gesellschaftspoli- festhalten wollen. tischen Prozessen und auch mit innerparteilichen Orien- tierungsphasen. Aber das werden Sie einer großen Volks- (Beifall des Abg. Kai Gehring [BÜND- partei wie der CDU einfach zugestehen müssen, einer NIS 90/DIE GRÜNEN]) Partei, die für sich in Anspruch nimmt, die unterschied- Liebe Sozialdemokraten, beim Griechenland-Hilfspa- lichsten Strömungen zu vereinen. ket haben 60 Abgeordnete nicht mit der Koalition und Ich behaupte heute: Der Erfolg gibt uns recht. Den der Kanzlerin gestimmt. Machen Sie nun einmal genau- Erfolg sollten wir nicht an der Bezeichnung messen, son- so viel Dampf, und zeigen Sie Mut! Stimmen Sie heute dern an Inhalten. unserem Gesetzentwurf zu! Dann haben wir wenigstens (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: beim Lebenspartnerschaftsgesetz die gleichen Rechte, Gerade in den Umfragen sieht man das!) und Sie können sich darauf berufen, dass Sie nur die Vor- gabe des Koalitionsvertrages umgesetzt haben, die die Das sage ich ganz bewusst in einer Zeit, in der die Dis- anderen nicht umsetzen wollten. kussion in eine neue Richtung kommt, in der argumen- tiert wird, wir müssten die Ehe für alle öffnen, weil wir (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nur durch eine Öffnung der Ehe eine hundertprozentige und bei der LINKEN – Elfi Scho-Antwerpes Gleichstellung erreichen würden. [SPD]: Ich fühle mich gar nicht angesprochen bei der männlichen Form! Diskriminierung!) (Harald Petzold (Havelland) [DIE LINKE]: Das ist auch so!)

Vizepräsidentin Ulla Schmidt: Dann werden verschiedene Länder genannt, 20 sind es Vielen Dank. – Nächster Redner ist Alexander mittlerweile an der Zahl, und es wird – das empfinde ich als problematisch – der Eindruck erweckt, als wären die- Hoffmann, CDU/CSU-Fraktion. se Länder mustergültig und hätten eine hundertprozenti- (Beifall bei der CDU/CSU) ge Gleichstellung. Schauen wir uns diese Länder an. Ich 12696 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015

Alexander Hoffmann (A) erinnere an meine These: Der Erfolg der Gleichstellung formuliert, und ich habe auf diese Frage keine Antwort (C) wird sich an Inhalten festmachen und nicht an Bezeich- bekommen. nungen. Bei genauerem Hinsehen stellen wir zum Bei- (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: spiel fest, dass in den USA, wo 2015 der Supreme Court Womöglich lag es an der Frage!) die Ehe für alle geöffnet hat, über die Hälfte der Bundes- staaten noch heute keinerlei Antidiskriminierungsgesetze Ich nehme im Übrigen auch nicht wahr, dass sich für Homosexuelle im Arbeitsbereich haben. die Bedeutung der Ehe gewandelt hat und dass es eine Entkoppelung von Ehe und Elternschaft gegeben hat. (Volker Beck (Köln) [BÜNDNIS 90/DIE 70 Prozent der Kinder wachsen in Ehen auf. GRÜNEN]: Wissen Sie, dass Sie dagegen waren in Deutschland und dass Rot-Grün das Insofern, meine Damen, meine Herren, möchte ich am gegen Sie durchgesetzt hat?) Ende für eine Versachlichung der Debatte werben. Ich möchte auch für Zustimmung werben. Wir machen einen Schauen wir nach Mexiko, wo die Ehe für alle im großen Schritt; wir machen einen richtigen Schritt. Jahr 2006 eingeführt wurde. Aktuelle Umfragen zeigen, dass 63 Prozent der Bevölkerung nach wie vor Homose- Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. xuelle nicht akzeptieren. Ganz dramatisch ist es in Brasi- lien. Seit 2013 gibt es dort in allen Bundesstaaten die Ehe (Beifall bei der CDU/CSU) für alle. Im Jahr 2002 gab es dort tragische 126 Morde an Homosexuellen. Brasilien ist noch heute an der Spitze Vizepräsidentin Ulla Schmidt: der Länder, in denen es die meiste Gewalt gegen Homo- Nächste Rednerin ist Susann Rüthrich, SPD-Fraktion. sexuelle gibt. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Deswegen ist für mich die Quintessenz daraus: Der der CDU/CSU) Erfolg der Gleichstellung macht sich nicht an der Be- zeichnung fest. Susann Rüthrich (SPD): Es ist auch nicht so, wie immer argumentiert wird, dass Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und aus Artikel 6 Grundgesetz zwingend die Öffnung der Ehe Kollegen! Ich habe zwei Kinder. Ich erziehe sie gemein- folgen würde. Artikel 6 schützt die Ehe als Keimzelle der sam mit meinem Mann. Wir sind nicht verheiratet. Wir Gesellschaft, aber eben auch als Ursprung des Lebens. können uns frei entscheiden. Wir könnten jederzeit ver- heiratet sein. Das unterscheidet uns von anderen Paaren, (Dr. Karl-Heinz Brunner [SPD]: Das steht die in genau derselben Situation sind, bei denen ebenfalls aber nicht im Grundgesetz! – Harald Petzold Kinder leben oder leben könnten, die das ganz norma- (B) (Havelland) [DIE LINKE]: Das steht aber le Leben miteinander teilen, die heiraten wollen, es aber (D) nicht in Artikel 6!) nicht können, weil es zwei Männer oder zwei Frauen Artikel 6 schützt die Familie als sozialen Rückzugsort sind. der gegenseitigen Solidarität. Es ist vollkommen richtig: Für mein Familienleben würde es nicht den gerings- Eine Familie können auch gleichgeschlechtliche Partner ten Unterschied machen, wenn nebenan zwei Männer gründen. Ich erlebe das selbst in meinem Umfeld, und oder zwei Frauen als verheiratetes Paar leben. Ganz im ich sage Ihnen: Das sind tolle Eltern, und die können das. Gegenteil: Niemand büßte etwas ein. Wenn die Ehe die Aber es gibt eben diesen einen Unterschied: Ursprung Keimzelle der Gesellschaft sein soll, wenn Familien mit des Lebens kann eine gleichgeschlechtliche Partner- Kindern da sind und wenn wir Familien stärken wollen, schaft nicht sein. was hindert uns dann daran, allen Menschen die Stabilität (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- einer Ehe zu gewähren, NEN]: Was meinen Sie denn mit „Ursprung (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem des Lebens“?) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Deswegen sagt das Bundesverfassungsgericht auch – auch den Kindern, die bei gleichgeschlechtlichen Paaren die Entscheidung ist vorhin schon von der Kollegin leben? Sütterlin-Waack zitiert worden –, dass die Ehe als Ins- titution eben Mann und Frau vorbehalten ist. Aus dieser Wir regeln heute die weitere Angleichung der Le- Argumentation erschließt sich, dass eine Grundgesetzän- benspartnerschaften an die Ehe. Das ist gut; aber es ist derung erforderlich wäre. Das sieht im Übrigen – das ist noch nicht das Ende des Weges. Es sind Gesetzentwürfe heute noch überhaupt nicht angeklungen – auch das Bun- in der Diskussion, die die Ehe für gleichgeschlechtliche desjustizministerium so. Paare öffnen wollen. Mit deren Annahme könnten wir uns die Debatte um die Angleichung von Ehe und Le- (Volker Beck (Köln) [BÜNDNIS 90/DIE benspartnerschaft ersparen. GRÜNEN]: Der Bundesjustizminister hat das dementiert! Das war doch der Herr Lange, der (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des alles unterschreibt, ohne zu lesen!) Abg. Harald Petzold (Havelland) [DIE LIN- KE]) Herr Kollege Petzold, auch ich war in der Anhörung, und ich wollte konkret wissen, aufgrund welcher Punk- Aber gut, es stehen Bedenken im Raum. Diese Beden- te wir die Ehe für alle brauchen, weil sonst die Gleich- ken muss ich nicht teilen. Aber es geht mir doch entschie- stellung nicht gelingt. Ich habe diese Frage ausdrücklich den gegen den Strich, wenn etwa mit dem Kindeswohl Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 12697

Susann Rüthrich (A) gegen die Öffnung der Ehe und damit des Adoptions- stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Wer stimmt (C) rechts argumentiert wird. dagegen? – Der Entschließungsantrag ist mit den Stim- men der CDU/CSU- und der SPD-Fraktion gegen die (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem Stimmen der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bünd- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) nis 90/Die Grünen abgelehnt. Denn es ist auch heute so: Eine Adoption findet immer Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion am Kindeswohl orientiert statt. Nicht die Eltern suchen Bündnis 90/Die Grünen zur abschließenden Beendigung sich ihr Wunschkind aus. Die künftigen Eltern haben kei- der verfassungswidrigen Diskriminierung eingetragener nen Anspruch auf ein Kind. Es gibt viel mehr adoptions- Lebenspartnerschaften. Der Ausschuss für Recht und willige Eltern als Kinder, die adoptiert werden können. Verbraucherschutz empfiehlt unter Buchstabe b seiner Natürlich prüfen die Jugendämter, welches Elternpaar Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/6227, den Ge- für das Kind das beste und das geeignetste ist. Warum setzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf sollen das nicht zwei sorgende Frauen oder Männer sein? Drucksache 18/3031 abzulehnen. Es ist doch bereits jetzt so, dass Kinder in den ver- Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Bünd- schiedensten Konstellationen leben: bei Mama oder nis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/6365 vor, über den Papa, bei Mama und Papa, bei zwei Mamas, bei zwei Pa- wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für diesen Änderungs- pas. Das Entscheidende ist eben nicht die Konstellation, antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der sondern die Fürsorge, die Liebe und die sichere Bindung, Änderungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitions- die diese Kinder bei ihren Eltern erfahren. fraktionen gegen die Stimmen der Opposition abgelehnt. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf zu- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) stimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt da- Ich hoffe, dass wir die Bedenken bald überwinden kön- gegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist in nen. zweiter Beratung mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich gehöre nicht zu und der Fraktion Die Linke abgelehnt. Damit entfällt denen, die in den Debatten zu diesem Thema schon 15- nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung. mal gesprochen haben. Ich habe eine Bitte: Lassen Sie uns diese Debatte noch zweimal führen: zur ersten Le- (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sung des entsprechenden Gesetzentwurfes zur Öffnung NEN]: Schade eigentlich!) der Ehe und dann zu seiner Verabschiedung. Und dann Tagesordnungspunkt 14 b. Beschlussempfehlung des ist gut. (B) Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz zu dem (D) Vielen Dank. Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Ehe für gleichgeschlechtliche Paare – Der Entschließung des (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem Bundesrates folgen“. Der Ausschuss empfiehlt in sei- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/6379, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/5205 Vizepräsidentin Ulla Schmidt: abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- Vielen Dank. – Damit sind wir am Ende der Ausspra- lung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die che angekommen. Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koaliti- Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- onsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition ange- desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur nommen. Bereinigung des Rechts der Lebenspartner. Der Aus- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf: schuss für Recht und Verbraucherschutz empfiehlt unter Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa- regierung eingebrachten Entwurfs eines Geset- che 18/6227, den Gesetzentwurf der Bundesregierung zes zur Bekämpfung der Korruption auf Drucksache 18/5901 anzunehmen. Ich bitte dieje- nigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um Drucksache 18/4350 das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung ses für Recht und Verbraucherschutz (6. Aus- mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die schuss) Stimmen der Opposition angenommen. Drucksache 18/6389 Dritte Beratung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei- Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz- entwurf ist in dritter Beratung mit dem gleichen Stim- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege menverhältnis wie zuvor angenommen. Dirk Wiese, SPD-Fraktion. Abstimmung über den Entschließungsantrag von (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/6366. Wer der CDU/CSU) 12698 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015

(A) Dirk Wiese (SPD): Strafgesetzbuch – ein Verweis auf den mit dem Gesetz- (C) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und entwurf neu geschaffenen § 335 a StGB „Ausländische Kollegen! Der in Deutschland durch Korruption entstan- und internationale Bedienstete“ aufgenommen werden. dene Schaden belief sich nach einer Studie der Johannes Dadurch wird sichergestellt, dass auch die Bestechlich- Kepler Universität Linz im Jahr 2012 auf rund 250 Milli- keit und Bestechung von Bediensteten und Richtern aus- arden Euro. 250 Milliarden Euro sind – veranschaulicht – ländischer und internationaler Behörden und Gerichte, ungefähr so viel wie das Bruttoinlandsprodukt der Bun- soweit sich die Tat auf eine künftige Diensthandlung desländer Hessen oder Niedersachsen. oder künftige richterliche Handlung bezieht, als Vortat der Geldwäsche erfasst wird. Damit wird auch den Vor- Das zeigt – auch wenn wir es gerne anders hätten –: gaben des Strafrechtsübereinkommens gegen Korrupti- Deutschland ist alles andere als frei von Korruption. Das on des Europarats und des Zusatzprotokolls entsprochen untermauert auch der Korruptionsindex CPI, Corruption und die Ratifizierung ermöglicht, so wie dies außer uns Perceptions Index, 2014 von Transparency International. übrigens mittlerweile alle EU-Mitgliedstaaten und fast Deutschland liegt dort nach wie vor nur auf Platz 12. Ich alle Mitgliedstaaten des Europarats getan haben. glaube, wir alle in diesem Hohen Hause sind da einer Meinung: Mit diesem Platz dürfen wir uns nicht zufrie- Zusammenfassend heißt das: Wir setzen neue Maßstä- dengeben. be bei der Korruptionsbekämpfung und beenden damit den Stillstand, der in der letzten Legislaturperiode im Das zeigt auch: Korruption ist keine Randerschei- Korruptionsstrafrecht herrschte. nung. Sie betrifft nahezu alle Bereiche im privaten und im öffentlichen Sektor. Sie muss mit einem langen Atem Lassen sich mich kurz noch einmal ein paar Worte bekämpft werden, und manchmal muss man dabei auch zum Kernstück des Gesetzentwurfs sagen, der Erweite- dicke Bretter bohren. Meine Kolleginnen und Kollegen rung des Straftatbestands der Bestechlichkeit und Beste- von der SPD-Bundestagsfraktion und ich kennen das chung im geschäftlichen Verkehr. Bei der Bestechung im sehr gut. Wir mussten in diesem Hohen Hause lange da- geschäftlichen Verkehr wird nicht ein Amtsträger besto- für streiten, dass die Abgeordnetenbestechung endlich chen, sondern ein Angestellter oder Beauftragter eines strafrechtlich vernünftig geregelt wurde. Unternehmens. Strafbar ist dies nach geltender Rechts- lage nur, wenn mit der Bestechung eine unlautere Bevor- (Beifall bei der SPD) zugung im Wettbewerb erkauft werden soll. Vielzitiertes Korruption macht heute auch vor staatlichen Grenzen Beispiel ist hier der Einkäufer eines Unternehmens, der nicht mehr Halt. In einer weltweit verflochtenen Wirt- von einem Zulieferer ein Bestechungsgeld erhält und schaft mit einer engen Zusammenarbeit vieler Staaten dafür im Gegenzug diesem Zulieferer und nicht einem (B) auf dem Weltmarkt sind Korruptionstaten auch und gera- günstigeren Konkurrenten den Zuschlag erteilt. Mangelt (D) de über Grenzen hinweg vermehrt an der Tagesordnung. es jedoch an einer Wettbewerbsverzerrung, scheidet eine Korruptionsstrafbarkeit derzeit aus. Korruption gefährdet den freien und internationalen Wettbewerb und das Vertrauen in die staatlichen und in- (Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: ternationalen Organisationen. Deshalb ist die effektive Zu Recht!) Bekämpfung grenzüberschreitender Korruption für uns Dieser Umstand ist erstens rechtspolitisch nicht hin- von höchster Priorität. Die rot-schwarze Bundesregie- nehmbar, und zweitens entspricht er auch nicht den Vor- rung unterstützt deshalb die Schaffung internationaler gaben des EU-Rahmenbeschlusses. Dieser verlangt eine Rechtsinstrumente, um der Korruption entschieden ent- ausdrückliche Strafbarkeit nach dem Geschäftsherren- gegenzutreten. Denn nur so, also indem wir Korruption modell. Ein Beispiel ist der Qualitätsprüfer eines Unter- im Keim ersticken und als Staatengemeinschaft gemein- nehmens, der sich vom Zulieferer bestechen lässt und sam und koordiniert vorgehen, können wir möglichst fai- deshalb die fehlerhafte Ware nicht bemängelt. Deshalb re Wettbewerbsbedingungen für alle auf dem Weltmarkt ändern wir hier die Strafbarkeit und schließen somit die- schaffen. Damit steigern wir dann auch den Arbeits- se Regelungslücke. schutz und verbessern die Beschäftigungsbedingungen für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Bei der Neufassung des § 299 des Strafgesetzbuches zeigte auch das Struck’sche Gesetz seine volle Wirkung: Liebe Kolleginnen und Kollegen, durch den heute vor- Der Gesetzentwurf der Bundesregierung wurde ergänzt liegenden Gesetzentwurf werden gleich mehrere interna- und zum Teil neu gefasst, um insbesondere den Beden- tionale Vorgaben umgesetzt. Zum einen sieht der Entwurf ken und der Kritik aus der Sachverständigenanhörung eine Ausweitung der Strafbarkeit der Bestechlichkeit und Rechnung zu tragen. An dieser Stelle noch einmal Dank Bestechung im geschäftlichen Verkehr – § 299 des Straf- an den Kollegen Grindel! Ich denke, hier haben wir die gesetzbuches – vor, die nach dem EU-Rahmenbeschluss Sachverständigenanhörung gut ausgewertet und das gut zur Bekämpfung der Bestechung im privaten Sektor von in den Änderungsantrag eingebracht. 2003 erforderlich ist. (Beifall des Abg. Dr. Volker Ullrich [CDU/ Zum anderen werden zur Umsetzung des Strafrechts- CSU]) übereinkommens des Europarats über Korruption die Strafbarkeit wegen Bestechlichkeit und Bestechung auf Wir haben dabei zum einen klargestellt, dass der ausländische, europäische und internationale Amtsträ- bestochene Angestellte seine Pflichten verletzen muss, ger erweitert und das Strafanwendungsrecht angepasst. indem er eine Handlung vornimmt oder unterlässt. Da- So wird in den Straftatbestand der Geldwäsche – § 261 durch wird verdeutlicht, dass die bloße Annahme eines Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 12699

Dirk Wiese (A) Vorteils und ein darin liegender Compliance-Verstoß für Also so blöd ist, glaube ich, keiner hier im Hause. Aber (C) die Strafbarkeit nicht ausreichen, sondern die tatsächli- das nur mal am Rande. che Pflichtverletzung durch eine darüber hinausgehende Jetzt geht es um die EU-Richtlinie, deren Umsetzung Handlung oder Unterlassung erfolgen muss. schon länger überfällig ist. Immerhin, jetzt soll es so weit Zum anderen soll die Strafbarkeit erfordern, dass die sein. Gut, es hat etwas Positives – das hat auch schon Tat ohne Einwilligung des Unternehmens erfolgt. Die mein Kollege Frank Tempel bei der ersten Lesung hier Regelung soll die Rechtssicherheit insbesondere für An- im Plenarsaal festgestellt –, dass in dem Entwurf Rege- gestellte und Beauftragte erhöhen, indem sie verdeut- lungen des EU-Bestechungsgesetzes und des Gesetzes licht, dass bei einem transparenten und vom Unterneh- zur Bekämpfung internationaler Bestechung vom Ne- men gebilligten Verhalten kein Risiko einer Strafbarkeit benstrafrecht ins Strafgesetzbuch übertragen werden. nach § 299 StGB besteht. Aber – das ist auch schon angesprochen worden – die Erweiterung der Strafvorschrift des § 299 StGB durch Zusätzlich haben wir in Umsetzung des Koalitionsver- Einführung des Geschäftsherrenmodells geht zu weit. So trags die Strafbarkeit der Selbstgeldwäsche entsprechend geht es gegenwärtig im Rahmen des § 299 noch um den den Vorgaben der Financial Action Task Force erweitert. Wettbewerbsschutz und nur mittelbar um Vermögensin- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) teressen von Wettbewerbern oder Geschäftsherren. Konkret heißt das hier: Wenn ein Vortatbeteiligter einen Das Beispiel mit dem Materialprüfer, das Sie genannt aus seiner eigenen Straftat herrührenden Gegenstand in haben, hinkt ja ein bisschen. Dabei geht es ja darum, dass den Verkehr bringt und dabei dessen rechtswidrige Her- jemand etwas unternimmt bzw. unterlässt, indem er etwa kunft verschleiert, gilt der bisher bestehende umfassen- für die Firma schlechteres Material einkauft. Da ent- de persönliche Strafausschließungsgrund in § 261 StGB steht ja auch ein Schaden. Aber dass ein solcher Schaden nicht mehr. entsteht, ist nach dem neuen Modell ja gar nicht mehr notwendig. Das geschützte Rechtsgut wird jetzt so geän- Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie sehen: Wir le- dert, dass es nicht mehr auf einen Vermögensnachteil an- gen einen durchdachten Gesetzentwurf vor, der sich als kommt, sondern es reicht aus, dass ein Angestellter eines geeignetes Mittel zur Bekämpfung der Korruption in Unternehmens einen Vorteil für sich oder einen Dritten Deutschland erweisen wird. annimmt und dass er in Bezug auf die Dienstleistungen seine Pflichten gegenüber dem Unternehmen verletzt. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Das klingt jetzt ein bisschen kompliziert. Ich will das (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) einmal an einem Beispiel verdeutlichen: (B) Ein Catering-Unternehmen bekommt den Auftrag, für (D) Vizepräsidentin Ulla Schmidt: die Vereinsfeier eines Fußballvereins Essen zu liefern. Vielen Dank. – Das Wort hat jetzt der Kollege Jörn Laut Arbeitsvertrag müssen die Mitarbeiter ihre Dienst- Wunderlich, Fraktion Die Linke. kleidung mit dem Emblem der Firma tragen. Jetzt kom- men sie da an, bauen die Tabletts mit den Schnittchen (Beifall bei der LINKEN) auf, und da sagt der Veranstalter: Passt einmal auf, wenn ihr unsere Fußballtrikots anzieht, dann bekommt ihr für Jörn Wunderlich (DIE LINKE): das nächste Heimspiel Freikarten. – Dann sagen die: Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Klasse, das machen wir. – Damit machen sie sich straf- Nun ist er endlich abschlussreif, der Gesetzentwurf zur bar, weil sie nämlich gegen die Vorschriften des Unter- Bekämpfung der Korruption. Wir hatten schon in der vor- nehmens verstoßen, und das ganz unabhängig davon, ob letzten Legislatur einen fast gleichlautenden Gesetzent- der Fußballverein anschließend sagt: So ein toller Laden, wurf. Der ist leider gescheitert. Dann war die Legislatur da bestellen wir immer wieder. – Also selbst dann, wenn vorbei. Woran lag es? Weil da eine Regelung zur Abge- es einen Vermögensvorteil für den Unternehmer gibt, ordnetenbestechung mit enthalten war. Das wollte – jetzt würden sich die Mitarbeiter strafbar machen. hätte ich fast gesagt: der schwarze Block – der schwarze Unterliegen sie der Versuchung, droht ihnen Freiheits- Teil der rot-schwarzen Regierung natürlich nicht. – Gut. strafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe, In der darauffolgenden Legislatur, unter Schwarz- (Volker Beck (Köln) [BÜNDNIS 90/DIE Gelb, war das Thema natürlich völlig vom Tisch. GRÜNEN]: Essen ist gefährlicher, als man Jetzt, Herr Wiese, muss ich einmal sagen: Der 2014 denkt!) erlassene § 108 e zur Abgeordnetenbestechung ist eine aber das alles ins Gutdünken des Arbeitgebers gestellt, Lachnummer. Jeder Richter freut sich darüber, weil der weil es sich ja um ein Antragsdelikt handelt. Ich glaube keine Arbeit macht; denn aufgrund dieses Paragrafen nicht, dass die Staatsanwaltschaft da ein besonderes In- können nur saudumme Abgeordnete bestraft werden. teresse an Strafverfolgung bejahen würde. Es hängt eben Er greift ja nur, wenn etwas auf Weisung oder Auftrag vom Strafantrag des Auftraggebers ab. Das heißt, hier geschieht. Nur dann, wenn einer hingeht und sagt: „Ein wird alles in die Entscheidungsgewalt der Unternehmen Lobbyist hat mir 10 000 Euro gegeben. Dafür stimme verlagert, ob eine Tat strafrechtlich zu belangen ist oder ich jetzt entsprechend ab“, macht er sich strafbar. Wenn nicht. Das ist einfach zu unbestimmt. Da kann sich jetzt er aber sagt: „Ich habe mir die Argumente noch einmal jeder sein eigenes Beispiel ausdenken. Es gibt tausend durchgelesen und sie mir zu eigen gemacht“, dann nicht. Möglichkeiten, wie man das ausgestalten kann. Das ist 12700 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015

Jörn Wunderlich (A) nach Artikel 103 Grundgesetz zu unbestimmt, und das ist ten eines Unternehmens hätte also für den Angestellten (C) nicht nachvollziehbar. strafrechtliche Konsequenzen haben können. Whistleblower-Schutz fehlt im Gesetz in Gänze; und Dagegen ist zu Recht argumentiert worden, dass es damit wird eine wesentliche Vorgabe aus dem Straf- nicht sein darf, dass ein Privater, also der Unternehmer, rechtsübereinkommen des Europarates nicht umgesetzt, die Reichweite einer Strafvorschrift bestimmt. Der poten- die sich aus Artikel 22 und 33 des Übereinkommens er- zielle Bestecher kann den Pflichtenkreis des Angestellten gibt. Whistleblower sind aber unbedingt vor Strafverfol- auch möglicherweise gar nicht hinreichend kennen. Un- gung zu schützen; denn gerade im Bereich Korruption in ternehmen – auch das ist in der öffentlichen Anhörung Wirtschaft und Politik sind wir im Grunde auf Whistle­ angesprochen worden – könnten zudem veranlasst sein, blower angewiesen. ihre Compliance-Vorschriften erheblich zusammenzu- streichen, um sich nicht quasi selbst solche Korruptions- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- fälle im Haus zu schaffen, die dann zu Problemen bei der neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Teilnahme an öffentlichen Ausschreibungen führen. Diese müssen geschützt werden, um nachteilige Folgen Die Koalitionsfraktionen haben im Hinblick auf die für sie abzuwenden. Anregungen in der öffentlichen Anhörung deshalb – das Außerdem ist hier wieder – das muss man auch ein- Kompliment für die gute Zusammenarbeit gebe ich gerne mal feststellen – eine riesige Chance vertan worden, Kor- an Kollege Wiese zurück – zwei gravierende Verände- ruption in den eigenen Reihen zu verhindern. Ein drin- rungen am Gesetzentwurf der Bundesregierung vorge- gend notwendiges, verpflichtendes Lobbyregister fehlt nommen. Nach dem jetzt neuen § 299 Strafgesetzbuch auch. Das ist erkennbar auch nicht gewollt, wobei ein reicht die reine Pflichtverletzung für die Begründung der solches Register – das muss ich sagen – möglicherweise Strafbarkeit nicht mehr aus, sondern es muss eine Hand- die Abgasskandale bei VW transparenter gemacht hätte lung oder Unterlassung hinzutreten, die über die reine und wir vielleicht heute schon wüssten, wer von der Re- Pflichtverletzung hinausgeht. Das bedeutet: Die bloße gierung diese Schweinereien gedeckt hat. Annahme des Vorteils oder das reine Verschweigen einer Zuwendung gegenüber dem Geschäftsherrn reicht nicht Schönen Dank. aus, sondern es muss ein darüber hinausgehendes Verhal- (Beifall bei der LINKEN – Widerspruch bei ten des Vorteilsnehmers erfolgen. Abgeordneten der CDU/CSU – Alexander Mit Blick auf eine Kritik der Kollegin Keul im Aus- Hoffmann [CDU/CSU]: Das war ja ein müder schuss will ich auch auf unsere Begründung des Ände- Abgang! Ganz müder Abgang!) rungsantrages hinweisen, in der es ausdrücklich heißt: (B) (D) Vizepräsidentin : Ein Vorteil, dessen Annahme eine Pflichtverletzung begründet, ist nicht zugleich Gegenleistung für die- Als nächster Redner hat Reinhard Grindel von der se Pflichtverletzung. CDU/CSU das Wort. Nochmals: Es muss vielmehr im Rahmen der Unrechts- (Beifall bei der CDU/CSU) vereinbarung zu einer im Interesse des Vorteilsgebers lie- genden gesonderten Gegenleistung des Vorteilsnehmers Reinhard Grindel (CDU/CSU): kommen. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Kernpunkt des Gesetzes zur Bekämpfung der Korruption Wir brauchen also eine Unrechtsvereinbarung, und sollte nach dem Regierungsentwurf die Einführung des wir brauchen eine korrespondierende Handlung oder Un- Geschäftsherrenmodells sein. Dagegen haben sich im terlassung. Damit wird im Hinblick auf den alten § 299 Schrifttum und auch in unserer öffentlichen Anhörung Strafgesetzbuch, der ja tatbestandsmäßig erhalten bleibt, erhebliche Bedenken ergeben – mit beachtlichen Argu- und im Hinblick auf die Untreue nach § 266 Strafgesetz- menten. buch der Anwendungsbereich des Geschäftsherrenmo- dells erheblich eingeschränkt, und das ist auch gut so. (Beifall des Abg. Volker Beck (Köln) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) (Beifall bei der CDU/CSU) Nun wissen wir, dass solche Änderungen des Straf- Rechtsgut des § 299 Strafgesetzbuch war bisher der rechts immer auch geeignet sind, für Unsicherheiten in Schutz des lauteren Wettbewerbs. Bestraft wird danach, der Rechtsanwendung zu sorgen. Deshalb haben wir wer sich einen Vorteil dafür verschafft, dass er einen an- aus Klarstellungsgründen eine weitere Ergänzung des deren im Wettbewerb in unlauterer Weise bevorzugt, also Regierungsentwurfs vorgenommen: In Zukunft kann klassischerweise, wie Kollege Wiese das angesprochen ein Angestellter den Tatbestand der Bestechlichkeit im hat, bei Ausschreibungen. geschäftlichen Verkehr nur verwirklichen, wenn er dies Mit dem neuen § 299 Strafgesetzbuch sollte es nun um ohne Einwilligung des Unternehmens tut. Wir machen den Schutz der Vermögensinteressen des Unternehmens deutlich, dass bei einem transparenten und vom Unter- gehen. Es sollte auch ein Angestellter bestraft werden, nehmen gebilligten Verhalten kein Risiko einer Strafbar- wenn er beim Bezug von Waren und Dienstleistungen ei- keit besteht. Das entspricht auch dem Verfahren in vielen, nen Vorteil dafür fordert, sich versprechen lässt oder an- vor allem größeren Unternehmen, wo man der Compli- nimmt, da er seine Pflicht gegenüber dem Unternehmen ance- oder Personalabteilung oder seinem Vorgesetzten verletzt. Der reine Verstoß gegen Compliance-Vorschrif- eine Einladung oder ein Geschenk anzeigt und sich die Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 12701

Reinhard Grindel (A) Annahme dann genehmigen lässt. Einer nachträglichen verursacht, kann außerdem wegen Untreue nach § 266 (C) Genehmigung bedarf es übrigens nicht, weil es sich hier StGB bestraft werden. Damit sind alle in Betracht kom- ohnehin um ein Antragsdelikt handelt. menden Rechtsgüter in diesem Zusammenhang ausrei- chend geschützt. Nun ist von der Opposition im Ausschuss und auch heute wieder hier im Plenum gefragt worden: Warum Künftig soll aber die Verletzung von arbeitsvertrag- verzichtet ihr nicht ganz auf das Geschäftsherrenmodell? lichen Pflichten strafbar sein, unabhängig von einem Wer meine Rede aus der ersten Lesung nachgelesen hat, Vermögensschaden oder einer Wettbewerbsverzerrung. der weiß, dass ich für diese Argumentation eine gewisse Schutzgut soll laut Ihrer Gesetzesbegründung das Inte- Offenheit zeige. Aber wir mussten bei den Ausschussbe- resse des Geschäftsherrn an der loyalen und unbeein- ratungen zur Kenntnis nehmen, dass die Bundesregierung flussten Erfüllung der Pflichten durch seine Angestellten eindringlich darauf verwiesen hat, dass wir aus Anlass sein. Das ist doch aber eine zivilrechtliche Angelegenheit der Übernahme von EU-Richtlinien und Beschlüssen des zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer und kein straf- Europarats um diesen gesetzgeberischen Schritt nicht rechtliches Schutzgut. herumkommen, wenn wir uns nicht einem Vertragsver- letzungsverfahren aussetzen wollen. Auf die Richtigkeit (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dieser Aussage vertrauen wir, wenngleich auch dies in und bei der LINKEN) unserer Anhörung vereinzelt anders beurteilt worden ist. Wenn ich mich einer Weisung meines Arbeitgebers Alles in allem – das will ich festhalten – haben wir den widersetze, muss ich als Arbeitnehmer mit einer Ab- Tatbestand aber so klargestellt und auf den strafwürdigen mahnung rechnen, aber doch nicht mit Gefängnis. Hinzu Kern reduziert, dass er für die Praxis handhabbar ist und kommt: Ob das Interesse des Geschäftsherrn schutzwür- keine Verunsicherungen mit sich bringt. dig ist oder nicht, hängt doch wohl ganz von der Pflicht im Einzelnen ab. Wir wissen doch gar nicht, was das für Am Ende, liebe Kolleginnen und Kollegen, noch ein Pflichten sind und ob die im Sinne des Allgemeinwohls Gedanke: Antikorruptionsgesetze, Compliance-Kodex, liegen. In einem Arbeitsvertrag kann ich alles Mögliche Good-Governance-Vorschriften – alles gut und schön. vereinbaren. Die Compliance-Regelungen von VW gelten bis heu- te unter Experten als absolut vorbildlich. Im Endeffekt Ein Chef verlangt von seinem Arbeitnehmer, er soll kommt es deshalb nicht allein auf gute Vorschriften an, die Waren nur an Leute mit rot-grünen Armbändern ver- sondern auf gute Menschen, die sich im Wirtschaftsver- kaufen. Dann kommt jemand und sagt: Ich gebe dir ei- kehr im Zweifel am Grundsatz ausrichten: Das tut man nen aus, wenn du mir die Ware verkaufst, auch wenn ich nicht. Und wo es zu wenige dieser guten Menschen gibt, nur ein schwarzes Armband habe. – Das ist künftig eine (B) können wir noch so viele gute Gesetze machen und wer- Straftat. Was ist denn das für ein Unfug! (D) den Fehlverhalten trotzdem nicht verhindern. Es ist unsere Aufgabe, als Gesetzgeber festzulegen, Herzlichen Dank. was strafbar ist und was nicht. Das erfordert schon das Bestimmtheitsgebot des Artikels 103 Grundgesetz. Sie (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) dürfen das gar nicht an Privatpersonen delegieren. Ich halte das für verfassungswidrig. Dazu werden wir auch Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: nicht durch europarechtliche Vorgaben verpflichtet, wie Als nächste Rednerin hat Katja Keul von der Fraktion Sie es in Ihrer Gesetzesbegründung behaupten. Bündnis 90/Die Grünen das Wort. Das Geschäftsherrenmodell steht in keiner Richtlinie, sondern lediglich in einem Rahmenbeschluss aus dem Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Jahr 2003. Deutschland hatte dieser Erklärung damals Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! nur zugestimmt, soweit der Geltungsbereich auf Fälle der Liebe Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Hut Wettbewerbsverzerrung beschränkt sei. Dieser Vorbehalt ab, Herr Grindel: Problem erkannt, aber mit dem Ände- sollte ab 2005 für fünf Jahre, also bis 2010, gelten. Bis rungsantrag leider nicht behoben. dahin wollte der Rat überprüfen, ob die Geltungsdauer (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) dieser Erklärung verlängert werden kann. Das hat er aber nicht getan. Stattdessen wurden Rahmenbeschlüsse als Sie wollen heute ein Gesetz verabschieden, mit dem legislatives EU-Instrument mit dem Lissabon-Vertrag Sie es künftig Arbeitgebern überlassen, festzulegen, was von 2009 ganz abgeschafft. in diesem Land strafbar ist oder nicht. Nichts anderes ist die Einführung des sogenannten Geschäftsherrenmo- Damit trat auch Artikel 83 AEUV in Kraft, wonach dells. eine Angleichung des Strafrechts hohen Hürden unter- liegt, und das zu Recht. Mitgliedstaaten dürfen danach Bislang ist nach § 299 StGB strafbar, wer sich als die Notbremse ziehen, wenn grundlegende Aspekte des Angestellter eines Unternehmens bestechen lässt, um an- nationalen Strafrechts betroffen sind. Das wäre auch in dere in unlauterer Weise zu bevorteilen, und damit den diesem Fall eindeutig das Beste gewesen, statt einmal Wettbewerb verzerrt. Gleiches gilt für den Bestechenden. wieder neue Straftatbestände zu schaffen, die keiner Geschütztes Rechtsgut ist dabei der freie Wettbewerb so- braucht. wie die Vermögensinteressen der Mitbewerber und des Geschäftsherrn. Wer seinem Geschäftsherrn durch ein (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN solches Verhalten auch noch einen Vermögensnachteil und bei der LINKEN) 12702 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015

Katja Keul (A) Da wird es auch nicht besser, dass Sie jetzt im Wege Das, Frau Kollegin Keul, ist ein wichtiger Schritt bei der (C) des Änderungsantrages auch noch die sogenannte Selbst- Bekämpfung der organisierten Kriminalität. Ich bitte, das geldwäsche unter Strafe stellen. Sie wollen jetzt den nicht gering zu achten. Dieb, der das geklaute Geld ausgibt, noch einmal ge- (Beifall bei der CDU/CSU) sondert wegen Geldwäsche bestrafen, wenn er dabei die Herkunft des Geldes aus dem Diebstahl verschleiert. Auch die Organisation für wirtschaftliche Zusammen- Wozu das gut sein soll, erschließt sich mir nicht. In Kurz- arbeit und Entwicklung, OECD, mit ihrer Untergruppie- form heißt das Gesetz jetzt: Wer die Herkunft verschlei- rung Financial Action Task Force hat in mehreren Be- ert, macht sich strafbar, es sei denn, er ist der Täter, es sei richten dringend angemahnt, die Selbstgeldwäsche in denn, er verschleiert die Herkunft. Mit Rechtsklarheit hat Deutschland endlich unter Strafe zu stellen. Ich bin in das wohl wenig zu tun. diesem Zusammenhang auch unserem Bundesfinanzmi- nister Wolfgang Schäuble sehr dankbar, Wenn Sie wirklich etwas gegen Korruption machen wollen, dann führen Sie endlich einen Whistleblower-­ (Volker Beck (Köln) [BÜNDNIS 90/DIE Schutz ein, damit kriminelle Netzwerke aufgedeckt und GRÜNEN]: Der versteht ja was vom Thema!) ermittelt werden können. der bereits im Jahre 2014 dringend angemahnt hat, diese (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Strafbarkeitslücke zu schließen. Wir schließen Sie heu- und bei der LINKEN) te und unternehmen damit einen weiteren Schritt, der uns davor bewahrt, in ein Überwachungsverfahren der Fazit: Das Geschäftsherrenmodell ist unsinnig und OECD zu geraten oder international auf den Finanzmärk- verfassungswidrig und wird von uns abgelehnt. ten Reputation zu verlieren. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU – Volker Beck (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Köln) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie und bei der LINKEN) ist das bei Geldkoffern?) Wir werden, meine Damen und Herren, in den nächs- Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: ten Monaten in diesem Hohen Hause auch die 4. EU- Als letzter Redner in dieser Debatte hat Dr. Ullrich Anti-­Geldwäsche-Richtlinie besprechen und sie einer von der CDU/CSU-Fraktion das Wort. Umsetzung zuführen. Hier werden weitere Vorschriften umzusetzen sein. (Beifall bei der CDU/CSU) Es ist schwer verständlich, weshalb Banken den Straf- (B) verfolgungsbehörden Transaktionen von Geldbeträgen (D) Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU): ab etwa 15 000 Euro melden müssen, aber es für Spiel- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und kasinos und andere Einrichtungen bislang keine korre- Herren! Wir beschließen heute das Gesetz zur Bekämp- spondierenden Vorschriften gibt. Auch das werden wir fung der Korruption und unternehmen damit einen ändern. wichtigen Schritt bei der Bekämpfung der Wirtschafts- kriminalität. Korruption ist ein schleichendes Gift, das Unser Augenmerk richtet sich darauf, kriminelle nicht nur monetäre Schäden anrichtet, sondern auch das Strukturen zu bekämpfen, indem wir der Spur des Geldes Vertrauen und das Fundament unserer Wirtschafts- und folgen. Wettbewerbsordnung untergräbt. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Im Vordergrund dieses Gesetzes steht der Kampf ge- ordneten der SPD) gen die organisierte Kriminalität. Ein wesentliches Ele- Heute, meine Damen und Herren, liegt ein sehr ausge- ment bei der Bekämpfung der organisierten Kriminalität wogener, intensiv abgestimmter und guter Gesetzesvor- ist der Kampf gegen Geldwäsche. Man kann zu Recht schlag vor. zugespitzt formulieren: Folgen Sie dem Geld, und entde- cken Sie damit die kriminellen Strukturen! – Wir wollen (Volker Beck (Köln) [BÜNDNIS 90/DIE und werden diese kriminellen Strukturen bekämpfen. GRÜNEN]: Anders kennen wir das von dieser Koalition überhaupt nicht!) (Beifall bei der CDU/CSU) Ich kann Ihnen empfehlen, diesen Gesetzesvorschlag an- Ein wichtiger Schritt ist die Einführung der Strafbar- zunehmen. keit der sogenannten Selbstgeldwäsche. Es ist bislang so, dass der Täter bei einer Vortat einen persönlichen Vielen Dank. Strafausschließungsgrund hat, wenn er das Delikt der (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Geldwäsche begeht. Es darf allerdings keine Rolle spie- ordneten der SPD) len, ob das Geld, das durch die Vortat erlangt worden ist, durch Dritte oder durch den Täter selbst in den Verkehr Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: gebracht wird. Das In-den-Verkehr-Bringen des Geldes Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe die aus der Vortat allein erfüllt den Unrechtsgehalt und schä- Aussprache. digt unsere Wirtschaftsordnung. Deswegen hat die Geld- wäsche einen eigenen Unrechtsgehalt, und deswegen Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den von müssen und dürfen wir zukünftig den Vortäter bestrafen. der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Ge- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 12703

Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn (A) setzes zur Bekämpfung der Korruption. Der Ausschuss setzentwurf in dritter Lesung angenommen worden mit (C) für Recht und Verbraucherschutz empfiehlt in seiner Be- den Stimmen der Koalition und der Fraktion Bündnis 90/ schlussempfehlung auf Drucksache 18/6389, den Gesetz- Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke. entwurf der Bundesregierung auf Drucksache 18/4350 Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf: in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte dieje- nigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung – Zweite und dritte Beratung des von der Bun- zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt desregierung eingebrachten Entwurfs eines dagegen? – Enthält sich jemand? – Das ist nicht der Fall. Ersten Gesetzes zur Änderung des Energie- Dann ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit den verbrauchskennzeichnungsgesetzes Stimmen der Koalition und gegen die Stimmen der Op- Drucksachen 18/5925, 18/6292 position angenommen worden. Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- Dritte Beratung schusses für Wirtschaft und Energie (9. Aus- und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem schuss) Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Drucksache 18/6383 Wer stimmt dagegen? – Enthält sich jemand? – Dann ist der Gesetzentwurf mit den Stimmen der Koalition gegen – Bericht des Haushaltsausschusses (8. Aus- die Stimmen der Opposition angenommen worden. schuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf: Drucksache 18/6388 Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- Der Gesetzentwurf beinhaltet in der Fassung der Be- regierung eingebrachten Entwurfs eines Geset- schlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und zes zur Änderung des Unterhaltsrechts und Energie auch Änderungen weiterer Bestimmungen des des Unterhaltsverfahrensrechts Energiewirtschaftsrechts. Drucksachen 18/5918, 18/6287 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. Gibt es dazu ses für Recht und Verbraucherschutz (6. Aus- Widerspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so schuss) beschlossen. Drucksache 18/6380 Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat Dr. Nina Scheer von der SPD-Fraktion das Wort. (B) Die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt sollen zu (D) Protokoll gegeben werden. – Ich sehe, Sie sind damit (Beifall bei der SPD sowie des Abg. einverstanden. Dann geschieht das auch so.1) Dr. Heinz Riesenhuber [CDU/CSU])

Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- Dr. Nina Scheer (SPD): desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes Sehr verehrte Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen zur Änderung des Unterhaltsrechts und des Unterhalts- und Kollegen! Wir haben heute über das Energiever- verfahrensrechts. Der Gesetzentwurf beinhaltet in der brauchskennzeichnungsgesetz zu beraten und abzustim- Fassung der Beschlussempfehlung des Ausschusses für men. Damit wird ein Vorhaben aus dem NAPE umge- Recht und Verbraucherschutz auch Änderungen der Zi- setzt, mit dem in einer vereinfachten Form dargestellt vilprozessordnung und kostenrechtlicher Vorschriften. werden soll, wie effizient eine Heizungsanlage ist. Wir kommen zur Abstimmung über diesen Gesetz- Wir haben zurzeit recht überschaubare Modernisie- entwurf einschließlich der genannten Änderungen. Der rungs- und Austauschraten im Gebäudebereich; die Aus- Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz empfiehlt in tauschrate von Heizungsanlagen in Gebäuden beträgt seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/6380, zurzeit 3 Prozent. Jetzt ist die Idee gewesen – und das den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf den Druck- ist verbrieft in diesem Gesetzentwurf –, dass man durch sachen 18/5918 und 18/6287 in der Ausschussfassung das Aufbringen eines Aufklebers mit der berühmten Ska- anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzent- wurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um la und einer entsprechenden Buchstabennummerierung das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält schon auf den ersten Blick ganz leicht erkennen kann, sich? – Dann ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung wie effizient bzw. wie ineffizient eine Heizungsanlage ist; mit den Stimmen der Koalition und der Fraktion Bünd- denn bei einem Durchschnittsalter einer Heizungsanlage nis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke von 17 Jahren ist es opportun, den einen oder anderen angenommen worden. Hauseigentümer oder die eine oder andere Hauseigentü- merin darauf hinzuweisen, dass die Anlage nicht mehr so Dritte Beratung effizient ist und ausgetauscht werden sollte. und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Die Skalen kennt man schon von den Elektrogeräten. Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer Ich denke, sie sind einfach zu überschauen und inzwi- stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist der Ge- schen so bekannt, dass man erwarten kann, dass schon beim ersten Blick auf die Skala der gewünschte Effekt 1) 9 Anlage erzielt wird. 12704 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015

Dr. Nina Scheer (A) Man kann davon ausgehen, dass durch dieses Instru- mer durchaus den Eindruck erwecken, dass die Anlage (C) ment die Austauschrate – der Anstieg ist zwar überschau- auch effizient ist. Dieser Eindruck könnte entstehen. bar, aber immerhin – auf 3,7 Prozent im Jahr erhöht wird. Man könnte glauben: Okay, mit meiner Heizungsanlage ist alles in Ordnung. – Wenn der Schornsteinfeger mit (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: 3,7 Prozent?) dem Label allerdings die Botschaft überbringt: „Ihre Heizungsanlage ist zwar für sich genommen in Ordnung, – Ja, auf 3,7 Prozent. aber völlig ineffizient“, dann hat der Schornsteinfeger (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- noch eine andere Botschaft im Gepäck. Vor allem sug- NEN]: Ich finde, die Zahl ist immer noch sehr geriert er nicht, dass alles in Ordnung sei. Die bis heute klein!) möglicherweise existierende kontraproduktive Wirkung wird damit also durchbrochen. Ich finde, auch das ist ein In Anbetracht des Aufwandes, der damit in Zusammen- gewisser Charme dieses Gesetzentwurfs. hang steht – es handelt sich dabei, wie gesagt, nur um das Aufbringen eines Aufklebers und das Überreichen von Damit habe ich diesen Gesetzentwurf zur Genüge vor- Informationsbroschüren durch den Schornsteinfeger –, gestellt. Ich finde, das ist ein wenn auch überschaubarer, ist das eigentlich ein ganz beträchtlicher Effekt. Die kos- so doch nützlicher Schritt im Konzert der Maßnahmen tenfreie Erstinformation, die dem Eigentümer übergeben zur Effizienzsteigerung, die wir brauchen und noch zu wird, und die ergänzenden Informationen über Investiti- gestalten haben. Insofern bin ich guten Mutes, dass die- onszuschüsse und weiter gehende Energieberatungsmög- ser Gesetzentwurf seinen Weg gehen wird. lichkeiten sind frei Haus. Vielen Dank. Es gab allerdings schon einige Kritik an dem Geset- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten zesvorhaben. Unter anderem haben einige Vertreter be- der CDU/CSU) mängelt, dass der Fokus allein auf die Heizungsanlage gerichtet wird; das sei nicht hinreichend. Gesagt wurde auch, dass die Mieter möglicherweise vernachlässigt Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: würden; man müsse auch sie einbeziehen. Dazu möchte Vielen Dank. – Als nächste Rednerin hat Eva Bulling- ich Folgendes sagen: Auf den ersten Blick kann man sa- Schröter das Wort. gen, dass sich das charmant anhört. Man denkt spontan: (Beifall bei der LINKEN) Ja, vielleicht ist das zu kurz gegriffen. – Auf den zweiten Blick würde ich das aber verneinen; denn dieses Label (DIE LINKE): soll nur einen Anstoß geben. Die Information ist an den Eva Bulling-Schröter (B) Eigentümer zu richten und nicht unbedingt an den Mie- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (D) ter. Das Label könnte dem Mieter nämlich suggerieren, Etiketten auf Heizungen zu kleben, ist zunächst einmal dass alles in Ordnung ist. Es könnte aber sein, dass mit richtig. Wir wollen damit den Hauseigentümern einen den Fenstern und der sonstigen Dämmung im Haus nicht Denkanstoß geben. Die Menschen sollen ihre Heizung alles in Ordnung ist. Dann würde diese Information den energetisch einordnen können. So weit, so gut. Dies kann Mieter unter Umständen fehlleiten. Das Label auf der einen Anstoß zu einer dringenden weiterführenden Ener- Heizungsanlage und die begleitenden Informationen sol- gieberatung geben, muss es aber nicht. Damit das alles len eine Anstoßwirkung haben. Das ist Sinn und Zweck aber kein Etikettenschwindel wird, braucht es in diesem der Sache. Bereich Energiesparen und Effizienz mehr; das wissen Sie auch alle. Vor allem braucht es endlich mehr Mut, Im Vergleich zum vorherigen Entwurf kam es zu einer meine Herren, für die Erneuerbare-Energien-Wärme- Veränderung. Man hat sich darauf verständigt, die unters- wende. ten beiden Kategorien der Skala zu streichen, weil es nur sehr wenige Anlagen gibt, die darunter fallen. Durch den (Beifall bei der LINKEN – Dr. Joachim Fortfall der untersten beiden Kategorien landen – das ist Pfeiffer [CDU/CSU]: Keine Diskriminie- der Effekt – viel mehr Heizungsanlagen mit einem relativ rung!) schlechten Standard in der nunmehr untersten Kategorie – Ich traue Ihnen Mut zu; das ist doch keine Diskrimi- der Skala. Aufgrund dieser Tatsache erreicht man durch nierung. dieses Label eine noch größere Anstoßwirkung. (Heiterkeit bei Abgeordneten der LINKEN) (Unruhe bei der CDU/CSU) Hier müssen die Mittel des Marktanreizprogramms er- – Übrigens würde ich mich freuen, wenn wir hier ein höht und verstetigt werden. Es ist schwer, Heizungsla- bisschen mehr Aufmerksamkeit hätten. Für uns alle ist bels als kleinen Schritt in die richtige Richtung zu wür- das eine späte Stunde. digen, weil dies gleichzeitig ein Licht darauf wirft, wie (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ viele Schritte noch vor uns liegen und wie sehr die Bun- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der desregierung hier stolpert. LINKEN) Nun ist seit dem NAPE, dem Nationalen Aktionsplan Ich möchte noch etwas zu dem Signal sagen, das der Energieeffizienz, fast ein Jahr ins Land gegangen. Die Schornsteinfeger aussendet. Bisher ist es so: Wenn der Aufbruchstimmung ist verflogen. Wir warten weiterhin Schornsteinfeger dem Eigentümer sagt, dass die Hei- voller Ungeduld auf all die Ankündigungen wie etwa die zung völlig in Ordnung ist, kann das bei dem Eigentü- „Energieeffizienzstrategie Gebäude“ oder ein Energieef- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 12705

Eva Bulling-Schröter (A) fizienzgesetz. Wann kommen denn die Vorschläge, wie Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: (C) man die Instrumente DENEFF und Erneuerbare-Energi- Als nächster Redner spricht Hansjörg Durz von der en-Wärmegesetz sinnvoll zusammenführt und ganzheit- CDU/CSU-Fraktion. liche Ansätze bei der energetischen Sanierung gesetzlich besser verankert? Darüber wird ja diskutiert. Inzwischen (Beifall bei der CDU/CSU) geht die Debatte aber weiter, und sie wird lauter. Hansjörg Durz (CDU/CSU): Die Spatzen pfeifen es schon von den Dächern: Sie Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen haben ein neues Effizienzpaket geschnürt, um die den und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Kohlekraftwerken erlassenen CO2-Schulden über den Im vergangenen Dezember hat das Kabinett den Natio- Effizienzbereich zu stemmen – zusätzlich zum NAPE; nalen Aktionsplan Energieeffizienz beschlossen und da- denn irgendwie muss es ja kompensiert werden. Dafür mit die Themen Energieeffizienz und Energieeinsparung stellen Sie 1,3 Milliarden Euro zusätzlich zur Verfü- deutlich stärker in den Fokus gerückt. Fördern und For- gung. Ich sage es einmal so: Das ist kein Pappenstiel. dern, Kommunikation und Beratung – mit dem NAPE Aber schauen wir uns die Maßnahmen an, die Sie damit verfügen wir über einen Maßnahmenkatalog, mit dem planen: Dabei geht es zum Beispiel um den Austausch wir die von uns gesteckten Ziele im Bereich des Klima- von älteren Pumpen und eine Heizungsoptimierung. Aus schutzes erreichen. unserer Sicht ist das eine klassische Ersatzhandlung: Sie tun das eine, weil Sie das andere nicht zustande bringen. (Dr. Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein! Damit allein erreichen Sie Sie sollten noch entschlossener Anreize für den Wech- sie nicht! – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/ sel auf die Nutzung erneuerbarer Energien im Wärme- DIE GRÜNEN]: Es könnte ruhig ein bisschen bereich setzen und beim KWK-Ziel nicht nachgeben. mehr sein!) Im Vergleich dazu ist der Austausch der Pumpen eine Minimalmaßnahme. Sie kann zwar in der Breite wirken – Das sehen wir dann. und spart Strom, sie kann aber gleichzeitig Chancen ver- Durch die Zusammenschau der unterschiedlichsten bauen. Denn wenn die Hauseigentümer das Gefühl ha- Maßnahmen ist er zudem hilfreich, um sich im weiten ben: „Jetzt habe ich schon etwas getan, und das relativ Feld der Energieeffizienz zurechtzufinden. Er zeigt auf, preiswert“, dann werden sie überlegen, ob sie sich noch wo Potenziale liegen und wie diese gehoben werden kön- eine neue Heizung kaufen; das wurde ja vorhin schon an- nen. gesprochen. Folglich fassen sie die Heizung dann eben Es ist gut, dass das Thema Effizienz durch den NAPE eine Weile nicht mehr an. Notwendig wäre aber eine um- stärker in den Fokus gerückt ist. Genau dieser Fokus ist fassendere Sicht, die die ernsthafte Prüfung einer Um- (B) auch notwendig, um der Energieeffizienz auch in der Öf- (D) stellung auf die Nutzung erneuerbarer Energien im Wär- fentlichkeit zu dem Stellenwert zu verhelfen, den sie als mebereich einschließt. zweite Säule der verdient. Die Leute bejahen die Energiewende; das ist mein Ge- (Beifall bei der CDU/CSU) fühl, und das hört man immer wieder. Aber im Energie- bereich kommt nur wenig voran. Ich frage mich: Warum Nach einer entsprechenden Vorbereitungsphase be- ist das so, und wie kann man das forcieren? Auch wenn finden wir uns nun mitten in der Umsetzung des NAPE. sich die Öl- und Gaspreise nicht so entwickelt haben, Eine Vielzahl von Maßnahmen wurde bereits umgesetzt. wie es angenommen wurde: Ich denke schon, dass viele Dazu zählen zum Beispiel die Weiterentwicklung der Leute bereit wären, hier etwas zu tun. Auch Sie müssen Energieberatung, die Verstetigung und Aufstockung des noch etwas tun. Die Konzepte sollten sich aber nicht auf CO2-Gebäudesanierungsprogramms, die Fortentwick- die einzelnen Eigentümer konzentrieren. Vielmehr brau- lung des Marktanreizprogramms und die Umsetzung des chen wir Quartierslösungen. Wir müssen noch viel mehr Artikels 8 der EU-Energieeffizienz-Richtlinie. darüber reden, wie das geht und wie man hier vorwärts- (Dr. Julia Verlinden [BÜNDNIS 90/DIE kommt. Das gibt die gesetzliche Lage aber leider nicht GRÜNEN]: Nein, da gibt es gerade ein Ver- her. Da müssen Sie nachbessern. tragsverletzungsverfahren!) (Beifall bei der LINKEN) Frau Bulling-Schröter, das sind nur ein paar Maßnah- Wenn der Anteil der erneuerbaren Energien im Wärmebe- men, und uns liegt ja auch ein Zeitplan vor, bis wann reich von derzeit 10 Prozent auf 14 Prozent im Jahr 2020 die weiteren Maßnahmen umgesetzt werden sollen. Sie steigen soll, ist noch viel mehr Anstrengung erforderlich. sehen also: Hier ist sehr viel im Fluss. Das müssen wir gemeinsam angehen. Mit der heutigen Verabschiedung der Änderung des Im Übrigen: Ich habe einmal nachgesehen, wann bei Energieverbrauchskennzeichnungsgesetzes fügen wir meiner Heizung zu Hause das Etikett aufgeklebt werden unserer Strategie einen weiteren Baustein hinzu. muss: 2026. Das ist noch lange hin. Wir sprechen häufig davon, welch hohen Anteil der Ich danke Ihnen. Gebäudebestand mit knapp 40 Prozent für den Gesamt­ energieverbrauch in Deutschland hat. Dabei liefert die (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- Heizung wiederum den größten Beitrag innerhalb des NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne- Gebäudes. Deshalb halte ich es auch für äußerst positiv, ten der SPD) dass wir heute die Gelegenheit haben, über genau eine 12706 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015

Hansjörg Durz (A) solche Maßnahme zu diskutieren, die exakt diesen Be- zungsanlagen um 20 Prozent pro Jahr zu erhöhen. Das ist (C) reich adressiert. Ich bin froh darüber, dass wir im Be- also wirklich ein nicht ganz unwesentlicher Schritt. reich der Energieeffizienz über eine konkrete Maßnah- Sehr geehrte Damen und Herren, für notwendige me diskutieren, die exemplarisch genau für die Art und Informationen zu sorgen, ist ein Schritt. Mit dem Hei- Weise steht, wie wir uns als Union die Steigerung der zungslabel haben wir eine hervorragende Möglichkeit, Energieeffizienz vorstellen. Wir wollen die Potenziale den Verbraucher direkt zu sensibilisieren. Doch damit nicht durch Zwang, sondern auf freiwilliger Basis heben: ist zunächst nur der erste Schritt getan. Der zweite muss durch Information und Anreize. folgen, nämlich die Sanierung anzureizen. Dazu ist die (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. konkrete Ausgestaltung der Förderung von zentraler Be- Bernd Westphal [SPD]) deutung. Mit dem Nationalen Effizienzlabel für Heizungsaltan- Die Fördermittel im Bereich der Energieeffizienz wur- lagen gehen wir genau diesen Weg, indem wir den Ver- den enorm aufgestockt. Wir nehmen in den kommenden braucher in den Mittelpunkt stellen. Für die Verbraucher fünf Jahren, wenn man die Maßnahmen zusammenzählt, soll mehr Transparenz entstehen, und sie sollen anhand insgesamt etwa 8 Milliarden Euro in die Hand – eine objektiver Kriterien selber entscheiden können. Genau so ganz beträchtliche Summe –, um ein ganzes Bündel an wollen und werden wir zum Austausch motivieren. Maßnahmen im Bereich Energieeffizienz umzusetzen. Fest steht: Das Potenzial zur Effizienzsteigerung im Speziell im Bereich Heizung zählen dazu beispielsweise Bereich der Heizungsanlagen von Wohngebäuden ist rie- der Pumpentausch in Gebäuden, mit dem insbesondere sig. 70 Prozent der Heizgeräte in Deutschland werden als durch den Einbau von modernen und hocheffizienten nicht effizient eingestuft. Ein Grund dafür ist das Durch- Pumpen Energieeinsparungen von 70 bis 80 Prozent er- schnittsalter; wir haben es vorhin schon gehört. Es liegt reicht werden können; oder das Programm zur Förderung bei den Geräten bei etwa 17,6 Jahren. Ein Drittel ist sogar der Heizungsoptimierung, mit dem bestehende Anlagen älter als 20 Jahre. optimal eingestellt und somit ohne große Baumaßnah- men Effizienzsteigerungen erreicht werden; oder das Unser erklärtes Ziel ist es, die Sanierungsrate signi- Marktanreizprogramm, mit dem das Heizen mit erneu- fikant zu erhöhen. Deshalb werden mit Start zum 1. Ja- erbaren Energien gefördert wird, das bereits zum 1. April nuar 2016 Heizkessel von Heizungsinstallateuren, Ge- dieses Jahres modifiziert wurde und seitdem wieder sehr bäudeenergieberatern oder Schornsteinfegern mit einem gut nachgefragt wird. Aufkleber versehen, mit dessen Hilfe der Verbraucher über die Effizienz der Anlage informiert wird – und das Die Information und die Förderinstrumente helfen uns ohne Kosten für den Verbraucher. nicht nur, die Klimaziele zu erreichen, sondern werden (B) auch einen Beitrag zur Steigerung der Wettbewerbs- (D) Gekennzeichnet werden in einem ersten Schritt jene fähigkeit der deutschen Wirtschaft leisten und sind ein Anlagen, die älter als Baujahr 1986 sind. In den folgen- enormes Konjunkturprogramm, also insgesamt eine sehr den Jahren werden sukzessive auch jüngere Altersklassen sinnvolle Maßnahme. in das Verfahren einbezogen, bis schließlich nach einem stetigen Prozess im Jahr 2023, also nach acht Jahren, alle (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- knapp 13 Millionen Anlagen erfasst sind, die dann älter ordneten der SPD) als 15 Jahre sind. Gleichzeitig mit dem Energieverbrauchskennzeich- Der Aufkleber soll den Verbraucher über den Effi- nungsgesetz treffen wir auch eine Entscheidung im Be- zienzstatus seines Heizkessels informieren und damit reich Energieleitungsbau. Künftig wird der Turnus des verdeutlichen, inwieweit aus Effizienzgesichtspunkten Netzentwicklungsplans neu gefasst und von einem jährli- Handlungsbedarf besteht. Gleichzeitig erhält der Besit- chen auf einen zweijährigen Zyklus umgestellt. Dadurch zer Informationen über Heizungschecks, Vor-Ort-Bera- wird der Prozess insgesamt schlanker, besser strukturiert tungsmöglichkeiten und mögliche Förderprogramme. und verständlicher. Damit die Regelung bereits für den nächsten NEP greift und der neue Turnus bereits 2016 Im Übrigen setzt der Aufkleber auf dem bestehenden angewendet werden kann, muss die Änderung noch in EU-weiten Effizienzlabel für neue Heizkessel auf, das diesem Jahr in Kraft treten. Deshalb bitte ich Sie insge- seit September 2015 gilt. Das Label ist dem Verbraucher samt um Zustimmung. außerdem bereits von Konsumgütern bestens bekannt. Damit erreichen wir einen hohen Wiedererkennungswert. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Mit dem engen Bezug zu dem EU-Etikett für Neugeräte (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) stellen wir außerdem eine Vergleichbarkeit von Altgerä- ten und Neugeräten für den Verbraucher sicher. Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: Mit unserer Beschlussempfehlung schlagen wir zu- Vielen Dank. – Als letzte Rednerin in dieser Debatte dem vor – auch das ist bereits angeklungen –, die bis- hat Dr. Julia Verlinden von der Fraktion Bündnis 90/Die herigen Effizienzklassen F und G zu streichen, da sie für Grünen das Wort. die Heizungsanlagen in Deutschland quasi keine Rolle spielen werden. Dr. Julia Verlinden (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Nach einer wissenschaftlichen Untersuchung ist das Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Heizungslabel dazu geeignet, die Austauschrate von Hei- Damen und Herren! Wir sprechen heute, fast ein Jahr Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 12707

Dr. Julia Verlinden (A) nachdem der Nationale Aktionsplan Energieeffizienz die alten Heizungen viel zu viel Energie verbrauchen, (C) verabschiedet wurde, über eine sogenannte Sofortmaß- ist den Vermietern egal. Denn die Heizkosten zahlen die nahme, die hier zur Umsetzung steht. Das, finde ich, ist Mieterinnen und Mieter, und diese erfahren nicht ein- sehr amüsant. mal – wir haben es gerade gehört –, ob ihr Vermieter eine In dieser Sofortmaßnahme, nämlich in dem vorge- völlig ineffiziente und veraltete Heizungsanlage im Kel- legten Gesetzentwurf, steht, dass die Bundesregierung ler stehen hat. mit diesem Aufkleber für Heizungen das Ziel verfolge, Der Bundesrat hatte vorgeschlagen, das Instrument dass sich die „Inanspruchnahme einer weiter gehenden zu verbessern, indem man hier mehr Transparenz für die Energieberatung“ erhöhe und dass sich die Motivation Mieter herstellt. Aber dem wollte die Bundesregierung der Verbraucher erhöhe, um alte, ineffiziente Heizgeräte nicht folgen. Das finde ich äußerst bedauerlich. auszutauschen. – Ja, Anreize zum Austausch von alten Heizungen fordern wir Grüne ja schon lange, um den (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Energieverbrauch zu verringern und um natürlich auch NEN]: Warum auch?) das Klima zu schützen. Auch eine bessere Verschränkung des neuen Instru- Schauen wir uns einmal genauer an, was die Bundes- ments mit der existierenden regierung hier vorlegt. Die Schornsteinfeger sollen je haben Sie leider nicht umgesetzt. Denn die Energieein- nach Energieeffizienzkategorie ein Label auf die- Hei sparverordnung – Herr Durz hat sehr viel von Freiwil- zung im Keller kleben. Und sie sollen die Verbrauche- ligkeit gesprochen; ich weiß nicht, ob er die Energieein- rinnen und Verbraucher auf weiterführende Beratungsan- sparverordnung kennt – sieht bereits seit längerem eine gebote aufmerksam machen. – Das war’s. Das ist doch Austauschpflicht für Heizkessel vor, die älter als 30 Jahre nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Diese Maßnahme sind. entspricht nicht den notwendigen Klimaschutz- und Ich glaube nicht, dass es Ihnen mit der Modernisie- Energieeinsparbemühungen in Gebäuden und wird den rung des Heizungsbestands so ernst ist wie uns Grünen. vorhandenen Energieeffizienzpotenzialen auch nicht an- Denn wir Grünen wollen einen wirksamen Instrumenten- nähernd gerecht. mix für die Gebäudesanierung. Dazu gehört aus unserer (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Sicht vor allem eine massive Förderung von Quartierssa- nierungen dort, wo viele einkommensschwache Haushal- Im Vergleich zum Jahr 2008 will die Bundesregie- te zur Miete wohnen. Denn wir wollen nicht, dass diese rung bis 2020 insgesamt 20 Prozent Energie einsparen. Geschafft sind bisher genau 6,4 Prozent. Es bleiben also Menschen den stetig steigenden Heizkosten quasi ausge- liefert sind. Und für Hauseigentümer und -eigentümerin- (B) gerade einmal noch fünf Jahre Zeit. Die Bundesregierung (D) muss hier ganz schön flott noch sehr viel in Bewegung nen eignet sich eine ausführliche, qualitativ hochwertige setzen, um diese Menge Energie einzusparen. Der Grund Beratung wie ein individueller Gebäudesanierungsfahr- dafür ist nicht nur, dass sie es sich selbst vorgenom- plan deutlich besser zur Planung der Erneuerung der Hei- men hat. Vielmehr steckt die Bundesregierung mitten zungsanlage als ein Aufkleber. in einem EU-Vertragsverletzungsverfahren, weil sie die Kommen Sie endlich in die Puschen! EU-Energieeffizienz-Richtlinie bisher nicht zufrieden- stellend umgesetzt hat. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Eva Bulling-Schröter [DIE (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU) LINKE]) – Ich weiß nicht, was Sie daran so lustig finden. Das wird Es wäre doch beschämend, wenn wir beim Thema Ge- für die Bundesregierung ziemlich teuer. bäudesanierung weiter nur in kleinen Tippelschritten (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – vorankommen. Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Wir schaf- Vielen Dank. fen es!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Im Zweifel können das ziemlich hohe Strafzahlungen werden. Aber gut, Sie erklären dann den Steuerzahlern, dass Sie eben nicht nur die Energiewende riskieren, son- Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn: dern eben auch die Strafzahlungen vor dem EuGH. Vielen Dank. – Damit schließe ich die Aussprache. Es ist echt tragisch, wie schwer Sie sich mit einer ver- Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- nünftigen Energieeffizienzpolitik tun. Wenn dieser bunte desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Ände- Heizungsaufkleber seine prognostizierte Wirkung er- rung des Energieverbrauchskennzeichnungsgesetzes. zielt – das muss sich erst noch zeigen –, dann trägt dieses Der Ausschuss für Wirtschaft und Energie empfiehlt in Instrument mit sage und schreibe – aufgepasst! – 0,3 Pro- seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/6383, zent zum Einsparziel bei. Das ist zwar besser als nichts, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf den Druck- aber zu einer wirksamen Energieeffizienzpolitik, die den sachen 18/5925 und 18/6292 in der Ausschussfassung Klimaschutz wirklich ernst nimmt, gehören weitere po- anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzent- litische Maßnahmen. Denn durch die Etikettierung der wurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um Heizkessel werden insbesondere Vermieter überhaupt das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält keinen Anreiz haben, alte Kessel auszutauschen. Dass sich? – Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung 12708 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015

Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn (A) mit den Stimmen der Koalition bei Enthaltung der Oppo- Die Reden sollen auch hier zu Protokoll gegeben (C) sition angenommen worden. werden. – Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.2) Wir kommen zur Dann kommen wir jetzt gleich zur Abstimmung. Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktor- dritten Beratung sicherheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Drucksache 18/6233, den Gesetzentwurf der Bundesre- Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – gierung auf Drucksache 18/5759 in der Ausschussfas- Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz- sung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetz- entwurf ist damit mit den Stimmen der Koalition bei Ent- entwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält haltung der Opposition angenommen worden. sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf: mit den Stimmen der Koalition und der Fraktion Bünd- nis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- angenommen worden. regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Umwelt-Rechtsbehelfsge- Dritte Beratung setzes zur Umsetzung des Urteils des Europä- und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem ischen Gerichtshofs vom 7. November 2013 in Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – der Rechtssache C-72/12 Wer stimmt dagegen? – Enthält sich jemand? – Der Ge- setzentwurf ist damit mit den Stimmen der Koalition und Drucksachen 18/5927, 18/6288 der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- Fraktion Die Linke angenommen worden. ses für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsi- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf: cherheit (16. Ausschuss) Zweite und dritte Beratung des von den Frak- Drucksache 18/6385 tionen der CDU/CSU und SPD eingebrachten Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden. – Ich Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung des sehe, Sie sind damit einverstanden.1) Bundeszentralregistergesetzes Dann kommen wir zur Abstimmung. Der Ausschuss Drucksache 18/6186 für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- (B) empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa- ses für Recht und Verbraucherschutz (6. Aus- (D) che 18/6385, den Gesetzentwurf der Bundesregierung schuss) auf Drucksachen 18/5927 und 18/6288 in der Ausschuss- Drucksache 18/6390 fassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Ge- setzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, Auch hier sollen die Reden zu Protokoll gegeben 3) um das Handzeichen. – Stimmt jemand dagegen? – Ent- werden. – Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. hält sich jemand? – Dann ist der Gesetzentwurf in zwei- Dann kommen wir gleich zur Abstimmung. Der Aus- ter Beratung einstimmig angenommen worden. schuss für Recht und Verbraucherschutz empfiehlt in sei- ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/6390, den Wir kommen zur Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD dritten Beratung auf Drucksache 18/6186 anzunehmen. Ich bitte dieje- nigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung Stimmt jemand dagegen? – Enthält sich jemand? – Der mit den Stimmen der Koalition bei Enthaltung der Oppo- Gesetzentwurf ist damit einstimmig angenommen wor- sition angenommen. den. Das passiert ja auch nicht so häufig. Dritte Beratung Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf: und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – regierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Wer stimmt dagegen? – Gibt es jemanden, der sich ent- Gesetzes zur Änderung des Batteriegesetzes hält? – Der Gesetzentwurf ist damit mit den Stimmen der Koalition bei Enthaltung der Opposition angenommen. Drucksache 18/5759 Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf: Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- ses für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsi- Zweite Beratung und Schlussabstimmung des cherheit (16. Ausschuss) von der Bundesregierung eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom Drucksache 18/6233 2) Anlage 11 1) Anlage 10 3) Anlage 12 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 12709

Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn (A) 3. Dezember 2014 zur Änderung des Ab- Die Reden sollen auch hier zu Protokoll gegeben (C) kommens vom 30. März 2011 zwischen der werden. – Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.2) Bundesrepublik Deutschland und Irland zur Hier wird interfraktionell die Überweisung des Ge- Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur setzentwurfes auf Drucksache 18/6164 an die in der Verhinderung der Steuerverkürzung auf dem Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Gibt es anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Vermögen Dann ist die Überweisung so beschlossen. Drucksache 18/5579 Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 24: Beschlussempfehlung und Bericht des Finanz- Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- ausschusses (7. Ausschuss) gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umset- Drucksache 18/6369 Buchstabe a zung der aufsichts- und berufsrechtlichen Re- gelungen der Richtlinie 2014/56/EU sowie zur Auch hier sollen die Reden zu Protokoll gegeben Ausführung der entsprechenden Vorgaben werden. – Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.1) der Verordnung (EU) Nr. 537/2014 im Hin- Damit kommen wir zur Abstimmung. Der Finanzaus- blick auf die Abschlussprüfung bei Unterneh- schuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussemp- men von öffentlichem Interesse (Abschluss- fehlung auf Drucksache 18/6369, den Gesetzentwurf der prüferaufsichtsreformgesetz – APAReG) Bundesregierung auf Drucksache 18/5579 anzunehmen. Drucksache 18/6282 Zweite Beratung Überweisungsvorschlag: und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Ausschuss für Wirtschaft und Energie (f) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Haushaltsausschuss gemäß § 96 der GO Wer stimmt dagegen? – Gibt es jemanden, der sich ent- hält? – Das ist nicht der Fall. Damit ist der Gesetzentwurf Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden. – Ich 3) mit den Stimmen der Koalition bei Gegenstimmen der sehe, dass Sie damit einverstanden sind. Opposition angenommen worden. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- Über die Buchstaben b und c der Beschlussempfeh- wurfs auf Drucksache 18/6282 an die in der Tagesord- lung wurde bereits unter Tagesordnungspunkt 31 b abge- nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es stimmt. Es gibt – weil es Verwunderung gab – nur eine anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann zweite Lesung, da es sich um ein Vertragsgesetz handelt. ist die Überweisung so beschlossen. (B) (D) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf: Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes- Änderung des Lebensmittelspezialitätengeset- tages auf morgen, Freitag, den 16. Oktober 2015, 9 Uhr, zes ein. Drucksache 18/6164 Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend. Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft (f) (Schluss: 21.55 Uhr) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz

2) Anlage 14 1) Anlage 13 3) Anlage 15

Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 12711

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1 und Stephan Kühn (alle BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN) zu der namentlichen Abstimmung über den Liste der entschuldigten Abgeordneten von den Fraktionen der CDU/CSU und SPD einge- brachten Entwurf eines Asylverfahrensbeschleuni- gungsgesetzes (Tagesordnungspunkt 5 a) entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich Immer mehr Menschen verlassen weltweit aus größter Not ihre Heimat und flüchten. Sie fliehen vor Amtsberg, Luise BÜNDNIS 90/ 15.10.2015 Gewalt, Terror, Krieg und Verfolgung. Den Menschen, DIE GRÜNEN die nach Europa und Deutschland fliehen, wollen wir mit offenen Armen begegnen. Sie haben ein Recht auf Becker, Dirk SPD 15.10.2015 Schutz und ein menschenwürdiges Leben. Wir sind einerseits erschüttert über die gewalttäti- Fabritius, Dr. Bernd CDU/CSU 15.10.2015 gen Übergriffe auf Geflüchtete in Deutschland. Im- mer wieder brennen geplante oder bereits bewohnte Feiler, Uwe CDU/CSU 15.10.2015 Flüchtlingsunterkünfte. Bereits jetzt gab es dieses Jahr über 500 Angriffe auf Unterkünfte. Andererseits Gambke, Dr. Thomas BÜNDNIS 90/ 15.10.2015 freuen wir uns über die große Willkommenskultur, die DIE GRÜNEN wir auf Bahnhöfen, in den Erstaufnahmeeinrichtun- gen und in den Städten und Gemeinden erleben. Viele Gleicke, Iris SPD 15.10.2015 zehntausend Menschen leisten tagtäglich ehrenamtlich unglaublich viel für eine gelebte Willkommenskultur Gysi, Dr. Gregor DIE LINKE 15.10.2015 in Deutschland. Sie zeigen immer und immer wie- der aufs Neue ihre Solidarität mit den Geflüchteten. Hasselfeldt, Gerda CDU/CSU 15.10.2015 Diesen Menschen gilt unser Dank und unsere Aner- kennung. Es wäre jetzt Aufgabe der Bundesregierung, Henke, Rudolf CDU/CSU 15.10.2015 sich dieser Hilfsbereitschaft mit deutlichen Verbesse- rungen im Asylrecht anzuschließen. Irlstorfer, Erich CDU/CSU 15.10.2015 (B) Der vorliegende Gesetzentwurf enthält notwendi- (D) Kolbe, Daniela SPD 15.10.2015 ge finanzielle Zusagen des Bundes, der sich künftig dauerhaft, strukturell und dynamisch an den Kosten Mihalic, Irene BÜNDNIS 90/ 15.10.2015 der Flüchtlingsaufnahme beteiligt und darüber hinaus DIE GRÜNEN weitere finanzielle Mittel zur Verfügung stellt.- Ver nünftig ist auch, dass der Bau von Unterkünften für Nord, Thomas DIE LINKE 15.10.2015 Flüchtlinge durch Änderung der baurechtlichen Stan- dards flexibilisiert wird, auch wenn sich diese Stan- dardsenkung nicht verstetigen und auf andere Berei- Pfeiffer, Sibylle CDU/CSU 15.10.2015 che ausgeweitet werden darf. Wir erkennen auch an, dass Staatsangehörige der Westbalkanstaaten unter Pilger, Detlev SPD 15.10.2015 engen Voraussetzungen einen Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt erhalten können. Dies ist allerdings mit Schlecht, Michael DIE LINKE 15.10.2015 seinen Einschränkungen alles andere als ein Einstieg in ein Einwanderungsgesetz ist, sondern eine gering- Weinberg, Harald DIE LINKE 15.10.2015 fügige, allenfalls symbolische Teilliberalisierung des bestehenden Systems, die zudem nur bis 2020 befristet Wicklein, Andrea SPD 15.10.2015 ist. Wolff (Wolmirstedt), SPD 15.10.2015 Dem stehen die härtesten Asylrechtsverschärfun- Waltraud gen seit 20 Jahren gegenüber. Diese Verschärfungen lehnen wir ab. Wir wollen sie als Abgeordnete des Zdebel, Hubertus DIE LINKE 15.10.2015 Deutschen Bundestages nicht durch Beschluss dem Bundesrat zur Annahme vorlegen. Wir hatten auf ih- ren Inhalt im parlamentarischen Verfahren keinerlei Anlage 2 Einfluss. Die Verantwortung für diese zum Teil verfas- Erklärung nach § 31 GO sungs- und europarechtswidrigen Verschärfungen des Flüchtlingsrechts trägt allein die Koalitionsmehrheit, der Abgeordneten Volker Beck (Köln), Sven- die sie zum Preis für die dringend notwendige Finan- Christian Kindler, Peter Meiwald, Monika Lazar, zierung der Flüchtlingsaufnahme erklärt hat. Der Ge- Julia Verlinden, Jürgen Trittin, Corinna Rüffer setzentwurf geht bei den Verschärfungen sogar über 12712 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015

(A) die Vereinbarungen der Ministerpräsidentenkonferenz duktiv. Der Druck der Kommunen auf die Landesre- (C) hinaus. gierungen, die Höchstdauer auszuschöpfen, wird al- lein schon aus finanziellen Erwägungen enorm sein. Das Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz ist eine Geflüchteten wird selbst dann der Auszug aus den Mogelpackung. Es enthält zahlreiche Abschreckungs- Erstaufnahmeeinrichtungen verboten, wenn sie selbst und Ausgrenzungsvorschriften, aber nicht eine ein- privaten Wohnraum zu günstigeren Kosten oder gar zige Maßnahme, die geeignet wäre, Asylverfahren eine kostenlose Unterkunft bei Freunden oder Ver- tatsächlich zu beschleunigen. Die Koalition hat sich wandten finden. Betroffen sind davon auch Flüchtlin- geweigert, eine Regelung zur pauschalen Anerken- ge mit sogenannter „guter Bleibeperspektive“. Mit der nung von Flüchtlingen aus Syrien, Eritrea, Irak und Verpflichtung zum Verbleib in den Erstaufnahmeein- vorzuschlagen. Sie hat keine Altfallregelung richtungen gehen die Residenzpflicht, ein absolutes für langandauernde Verfahren entworfen. Und sie hat Arbeitsverbot und in etlichen Bundesländern auch der die grüne Forderung nach einer Aufhebung der obli- Ausschluss von der Schulpflicht einher. Das Sachleis- gatorischen Widerrufsprüfung gemäß § 73 Absatz 2a tungsprinzip wird zwingend für den notwendigen Be- AsylVfG zurückgewiesen. darf, einschließlich Ernährung und Kleidung, und als Stattdessen werden nun auch Albanien, Kosovo Soll-Bestimmung für den notwendigen persönlichen und Montenegro in die Liste sogenannter sicherer Bedarf, wie zum Beispiel Zigaretten oder Fahrkarten Herkunftsstaaten aufgenommen. Die Bestimmung sodass der Staat immer weiß, wer sich wo befindet. von Bosnien-Herzegowina, Mazedonien, Serbien, Se- Diese Regelung produziert sozialen Sprengstoff, Kon- negal und Ghana zu sicheren Herkunftsstaaten wird flikte und Verelendung in den Erstaufnahmeeinrich- bestätigt, obwohl Roma, LGBTTI und Journalistinnen tungen, was Gewalt und Kriminalität befördern wird. in den Staaten des Westbalkans weiterhin Verfolgung Damit schafft man keine Akzeptanz in der Bevölke- droht und einvernehmliche gleichgeschlechtliche rung – im Gegenteil. Handlungen unter Erwachsenen im Senegal und Gha- Wir haben uns immer für die Abschaffung des Asyl- na immer noch unter Strafe stehen. Auch die allge- bewerberleistungsgesetzes eingesetzt. Mit dem vor- meine Sicherheitslage in den Westbalkanstaaten gibt liegenden Gesetzespaket wird das Asylbewerberleis- weiterhin Anlass zur Sorge. Der Bundestag hat erst im tungsgesetz massiv verschärft. Verfassungswidrig ist Sommer 2015 den KFOR-Einsatz der Bundeswehr im die Herabsenkung von Leistungen unterhalb des so- Kosovo verlängert, weil das Land noch immer instabil ziokulturellen Existenzminimums durch die pauscha- ist. le Leistungsanspruchseinschränkung für bestimmte Für die Geflüchteten aus diesen Staaten ist dieses Gruppen. Das kann mit den Vorgaben des Bundesver- (B) Gesetz ein schwerer Angriff auf das Prinzip der Ein- fassungsgerichts nicht in Einklang gebracht werden. (D) zelfallprüfung, einem Grundpfeiler des Asylrechts. Aus der Menschenwürde folgt nämlich, dass das ein- Die Anträge der Geflüchteten werden zwar formal heitliche, das physische und soziokulturelle Existenz- noch einzeln geprüft, doch drängt sich eine ablehnende minimum in jedem Fall und zu jeder Zeit zu gewähr- Entscheidung faktisch auf. Das Bundesverfassungsge- leisten ist. Die Menschenwürde ist migrationspolitisch richt hat in diesem Zusammenhang unmissverständ- nicht relativierbar. lich festgestellt, dass ein Staat nicht zum sicheren Her- Eine bundesweite Gesundheitskarte wird es durch kunftsstaat bestimmt werden kann, solange dort auch diesen Gesetzentwurf auch künftig nicht geben. Wie nur Angehörige einer einzigen Gruppe verfolgt werden bisher dürfen die Länder sie ausstellen, sie muss aber (2 BvR 1507 und 1508/93). Der UNHCR, die EKD fortan den Vermerk enthalten, dass sie nur zu Leis- und die Deutsche Bischofskonferenz haben in ihren tungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz be- Stellungnahmen zum Gesetzentwurf der Bundesregie- rechtigt. Damit wird das erfolgreiche Modell 3 von rung gerügt, dieser missachte insoweit die Vorgaben Bremen, Hamburg und NRW in Frage gestellt. Ge- der Richtlinie 2013/32/EU (Verfahrensrichtlinie). flüchtete bleiben Patienten zweiter Klasse, die sich mit Neben die bisherigen Beschränkungen der Rechts- einer Notversorgung zu begnügen haben. schutzmöglichkeiten für Flüchtlinge aus sogenannten Völlig unverhältnismäßig und kontraproduktiv sind sicheren Herkunftsstaaten treten mit diesem Gesetz- das Verbot der Ankündigung von Abschiebungen, die entwurf nun weitere massive Einschränkungen ihrer Beschränkung der Befassung der Härtefallkommissio- sozialen und wirtschaftlichen Rechte: Sie werden nen auf Fälle, in denen kein Rückführungstermin fest- dauerhaft und unbegrenzt verpflichtet, in den Erst- steht, und die Verschärfung der Schleuserstrafbarkeit, aufnahmeeinrichtungen zu verbleiben. Mit der daraus statt die illegale Einreise zu entkriminalisieren und da- folgenden Ausweitung der Residenzpflicht, des abso- durch die Strafverfolgungsbehörden zu entlasten. Die- luten Arbeitsverbotes und der Sachleistungsprinzips se Regelungen werden den Erfolg bestehender freiwil- werden flüchtlingspolitische Erfolge des letzten Jahres liger Rückführungsprogramme torpedieren und einen zurückgedreht. In mehreren Bundesländern dürfte für enormen Kosten- und Personalaufwand verursachen. Kinder und Jugendliche in diesen Einrichtungen die Bei den Winterabschiebungsstopps wird der Hand- Schulpflicht entfallen. lungsspielraum der Landesregierungen bei Abschie- Wir halten auch die Verpflichtung zum Verbleib in bungsstopps ohne Not eingeschränkt. Die vorüber- den Erstaufnahmeeinrichtungen bis zu sechs Monaten gehende Ermächtigung zur Ausübung der Heilkunde integrations- und flüchtlingspolitisch für kontrapro- durch Asylsuchende ohne ärztliche Approbation, die Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 12713

(A) allerdings für ihre Tätigkeit nicht vergütet werden dür- dass nun durch zähe und lange Verhandlungen der Bun- (C) fen, sehen wir genauso kritisch wie die Bundesärzte- desländer einige lang überfällige und vielfach geforderte kammer. Darin liegt ein doppelter Gleichheitsverstoß: Maßnahmen umgesetzt werden. An erster Stelle steht da- Manche ausländischen Ärzte dürfen dann – anders als bei die strukturelle und dauerhafte Beteiligung des Bun- Deutsche – ohne Approbation ihren Beruf ausüben, al- des an den Kosten der Aufnahme und Unterbringung der lerdings nur bestimmte ausländische Patienten behan- Flüchtlinge. Insgesamt sollen Länder und Kommunen deln, denen dadurch faktisch der Zugang zu dem Re- um mehr als 4 Milliarden Euro entlastet werden. Zudem gelsystem der Gesundheitsversorgung droht verwehrt werden Mittel zur Verfügung gestellt, die für unbeglei- zu werden. tete minderjährige Flüchtlinge und für den Ausbau der Kinderbetreuung eingesetzt werden. Ein erster Schritt ist Die Verbesserungen beim Zugang zu den Integra- auch, dass der Bund die Mittel für die soziale Wohnraum- tionskursen sind weitestgehend folgenlos, weil der förderung um 500 Millionen Euro auf eine Milliarde in Kreis der Berechtigten restriktiv und teilweise vage den nächsten vier Jahren erhöht. Diese Summe ist eine formuliert ist und lediglich ein nachrangiger Zugang erste Finanzspritze. Wichtig ist auch, dass der Bund den statt eines Teilnahmeanspruchs geschaffen wird. Zugang zu Maßnahmen der Arbeitsmarktförderung und Letztlich wird diese angebliche Verbesserung an den zu Integrationskursen für viele Flüchtlinge verbessert. schon jetzt fehlenden Kursplätzen scheitern oder dar- Mit all diesen Maßnahmen übernimmt der Bund endlich an, dass die Kurszulassung nach den Regelungen der Verantwortung. Verordnung zum Asylverfahrensbeschleunigungsge- setz auf drei Monate befristet wird, was faktisch eine Das Verhandlungsergebnis zwischen Bundesregierung Kursteilnahme vereitelt. und Bundesländern ist aber auch ein bitterer Kompro- miss. Denn er enthält eine Reihe von Gesetzesverschär- Als mindestens problematisch bewerten wir auch fungen, die mit einer menschenrechtsorientierten Flücht- die Ermöglichung der Ernennung von Beamten als lingspolitik nicht in Einklang zu bringen sind und zudem Richter auf Zeit bei den Verwaltungsgerichten sowie widersinnige Integrationshemmnisse aufbauen. Dazu Betrauung von Richtern auf Probe als Einzelrichter zählen insbesondere die verlängerte Verpflichtung von mit Asylangelegenheiten, trotz fortbestehender Be- Asylsuchenden zum Verbleib in Erstaufnahmeeinrich- schränkungen bei der Zulassung von Rechtsmitteln. tungen, Anspruchseinschränkungen im Asylbewerber- Rechtssicherheit kann nicht durch die Beschränkung leistungsgesetz und die Ausweitung der Liste angeblich von Rechtschutzmöglichkeiten hergestellt werden. „sicherer Herkunftsstaaten“. Diese Gesetzesverschär­ So lange die Berufung in Asylsachen so selten zuge- fungen werden wir bei Einzelabstimmungen namentlich lassen wird, so lange wird sich auch eine einheitliche ablehnen. Rechtsprechung, die dringend notwendig wäre, nicht (B) herausbilden können. Am Ende müssen wir uns aber auch zum Gesamtpa- (D) ket verhalten, und diese Entscheidung fällt uns extrem Selbst wenn die geringen Spielräume, die den Län- schwer. Zustimmen können wir dem Gesetzentwurf dern noch bleiben, von Bundesländern mit grüner Re- aufgrund der Verschärfungen auf keinen Fall. Den Ge- gierungsbeteiligung genutzt werden: In Ländern wie setzentwurf können wir aber auch nicht ablehnen, denn Bayern und Sachsen wird keine Regelung zugunsten als langjährige Kommunalpolitikerinnen und Kommu- der Geflüchteten ausgelegt. nalpolitiker wissen wir, wie sehr die Kommunen auf die Trotz der lange überfälligen finanziellen Zusagen finanzielle Unterstützung des Bundes angewiesen sind. für Länder und Kommunen können wir in der Summe Aus diesen Gründen werden wir uns bei der Abstimmung angesichts dieser massiven Verschlechterungen und über das Gesamtpaket zwangsläufig enthalten. Asylrechtseinschränkungen für Geflüchtete nur zu Namentlich abgelehnt haben wir die Leistungskür- dem Schluss kommen, dieses Gesetz abzulehnen. zungen unter das Niveau des soziokulturellen Existenz- minimums, die folglich nur Leistungen für Ernährung, Unterkunft (inklusive Heizung) sowie Körper- und Ge- Anlage 3 sundheitspflege enthalten. Das ist nicht akzeptabel, denn alle Menschen, die hier leben, haben ein Anrecht auf die Erklärung nach § 31 GO gleichen Leistungen. Deshalb sind wir auch der Mei- der Abgeordneten Beate Müller-Gemmeke, Maria nung, dass diese Leistungseinschränkungen verfassungs- Klein-Schmeink und Dr. Harald Terpe (alle rechtlich mehr als fragwürdig sind. Auch die geforderte BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zu der namentlichen Umwandung der Geldleistungen für den persönlichen Abstimmung über den von den Fraktionen der Bedarf in Sachleistungen ist weder humanitär noch so- CDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurf eines zialpolitisch vertretbar. Sie überfrachten zudem die Auf- Asylverfahrensbeschleunigungsgesetzes (Tages- nahmeeinrichtungen mit noch mehr Bürokratie. ordnungspunkt 5 a) Ablehnen werden wir auch, dass Albanien, Kosovo Die Bundesregierung hatte lange Zeit die wachsenden und Montenegro in die Liste der sogenannten sicheren Flüchtlingszahlen ignoriert und keine ausreichenden Vor- Herkunftsstaaten aufgenommen werden. Für uns ist das kehrungen getroffen, weder beim Bundesamt für Migra- ein Angriff auf das Prinzip der Einzelfallprüfung, einen tion und Flüchtlinge noch bei der Aufnahme und Versor- Grundpfeiler des Asylrechts. Das trifft insbesondere die gung von Flüchtlingen. Länder und Kommunen wurden Roma, denn sie werden in den Staaten des Westbalkans allein gelassen. Von daher begrüßen wir es ausdrücklich, weiterhin diskriminiert. Und schlussendlich hat der Bun- 12714 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015

(A) destag erst im Sommer den KFOR-Einsatz der Bundes- Anlage 4 (C) wehr im Kosovo verlängert, weil das Land noch immer Erklärung nach § 31 GO instabil ist. der Abgeordneten Dr. Lars Castellucci und Für die Flüchtlinge aus sogenannten sicheren Her- Dr. ­Dorothea Schlegel (beide SPD) zu der nament- kunftsstaaten gibt es zudem weitere Einschränkungen lichen Abstimmung über den von den Fraktionen ihrer sozialen und wirtschaftlichen Rechte. Sie werden der CDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurf dauerhaft und unbegrenzt verpflichtet, in den Erstauf- eines Asylverfahrensbeschleunigungsgesetzes (Ta- nahmeeinrichtungen zu verbleiben. Mit der daraus fol- gesordnungspunkt 5 a) genden Ausweitung der Residenzpflicht, des absoluten Das vorliegende Gesetz ist ein tragfähiger Kompro- Arbeitsverbotes und des Sachleistungsprinzips werden miss, der unser Asylsystem insgesamt verbessern wird. flüchtlingspolitische Erfolge des letzten Jahres zurück- Es enthält jedoch auch die Ausweitung der Liste sicherer gedreht. In mehreren Bundesländern dürfte für Kinder Herkunftsstaaten gemäß Artikel 16 Absatz 3 Grundge- und Jugendliche in diesen Einrichtungen die Schulpflicht setz. Dieser Regelung kann ich nur als Teil des vorlie- entfallen. Auch Flüchtlinge mit sogenannter „guter Blei- genden Gesamtpakets zustimmen. Als für sich stehende beperspektive“ können zukünftig bis zu sechs Monate in Änderung müssten wir sie ablehnen. Erstaufnahmeeinrichtungen verbleiben. Diese Regelung Das Grundrecht auf Asyl wird nicht dadurch besser, produziert sozialen Sprengstoff, Konflikte und Verelen- dass wir es einschränken. Im Parlamentarischen Rat gab dung in den Erstaufnahmeeinrichtungen. Damit entsteht es 1948 heftige Diskussionen um die Aufnahme eines keine Akzeptanz in der Bevölkerung – im Gegenteil. Grundrechts auf Asyl. Aus den Erfahrungen deutscher Deshalb werden wir auch diese Verschärfungen nament- Flüchtlinge, unter ihnen , sollte eine Leh- lich ablehnen. re gezogen werden: Nie wieder Abhängigkeit vom guten Willen eines Grenzbeamten, sondern ein Rechtsanspruch. Wir kritisieren auch die Beschränkung der Befas- Es ist schon sehr bemerkenswert, dass ein Land, das am sung der Härtefallkommissionen auf Fälle, in denen kein Boden lag, einen Satz in das Grundgesetz geschrieben Rückführungstermin feststeht. Vor allem aber bleibt auch hat, dass jeder Mensch hier ein Recht auf Asyl hat, der die gesundheitliche Versorgung von Flüchtlingen recht- politisch verfolgt wird. Es ist noch bemerkenswerter, lich weiterhin auf die dringend erforderliche und nicht dass die 28 Mitgliedstaaten der Europäischen Union über aufschiebbare Behandlung bei akuter Erkrankung be- das Asylrecht für politisch Verfolgte hinausgegangen schränkt. Das widerspricht nicht nur dem humanitären sind und sich auf gemeinsame Normen für den Schutz (B) Gebot auf eine angemessene gesundheitliche Versor- von Flüchtlingen geeinigt haben. Vor diesem Hinter- (D) gung, es führt häufig auch zu nachfolgenden bedeutend grund haben wir die Debatte zu führen. aufwendigeren Behandlungen und höheren Kosten. Ge- Nach dem Asylverfahrensgesetz handelt es sich bei flüchtete bleiben somit Patienten zweiter Klasse, die sich den sicheren Herkunftsstaaten um solche Staaten, bei mit einer Notversorgung zu begnügen haben. Die Opti- denen aufgrund der allgemeinen politischen Verhältnisse on, in den Bundesländern mit den Krankenkassen eine die gesetzliche Vermutung besteht, dass dort weder poli- Gesundheitskarte für Flüchtlinge zu vereinbaren, wurde tische Verfolgung noch unmenschliche oder erniedrigen- rechtlich nicht entsprechend den Vereinbarungen mit de Bestrafung oder Behandlung stattfindet. Diese -Ver den Ministerpräsidenten geregelt. Es ist weder eindeutig mutung besteht, solange ein Mensch aus einem solchen absehbar, ob die bestehenden Vereinbarungen zur Ge- Staat nicht glaubhaft Tatsachen vorträgt, die die Annah- sundheitskarte für Flüchtlinge in Bremen, Hamburg und me begründen, dass er entgegen dieser Vermutung doch NRW Bestand haben. Es bleibt auch unklar, ob vergleich- verfolgt wird. Als sichere Herkunftsstaaten gelten die bare Rahmenvereinbarungen in den anderen Bundeslän- Mitgliedstaaten der Europäischen Union und die in An- dern in Zukunft möglich sind. Darüber hinaus soll auf lage II des Asylverfahrensgesetzes bezeichneten Staaten. der Karte vermerkt werden, dass es sich um Flüchtlinge Das Recht, Schutz in Deutschland zu suchen, besteht handelt. Das ist diskriminierend und verlagert eine hoch- auch für Menschen aus sicheren Herkunftsstaaten. Im problematische Entscheidung über eine eingeschränkte Falle eines Asylantrages einer Person aus einem sicheren Behandlung in die Arztpraxis. Herkunftsstaat ist der Antrag im ordentlichen Asylver- fahren zu bearbeiten. Die Verlängerung der Liste siche- Ein letzter Gedanke ist uns abschließend noch wich- rer Herkunftsstaaten hat auf die Asylantragszahlen somit tig. Statt tragfähige Lösungen vorzuschlagen, werden keinen Einfluss. Die Einstufung von Albanien, Kosovo immer wieder von Regierungsmitgliedern oder von Mit- und Montenegro als sichere Herkunftsstaaten wird Men- gliedern der sie tragenden Parteien, insbesondere von der schen aus diesen Staaten nicht davon abhalten, einen CSU, populistische und völlig abstruse Debatten vom Asylantrag in Deutschland zu stellen. Diese Idee ist kei- Zaun gebrochen. Das lenkt von den wirklichen Proble- ne Lösung für die aktuellen Herausforderungen, sondern men ab. Vor allem kann dies die gelebte Solidarität der reine Symbolpolitik. Das zeigt die Erfahrung: Bevölkerung erschüttern und gleichzeitig all jene, die Serbien, Mazedonien und Bosnien und Herzegowina Unterkünfte für Geflüchtete in Brand stecken, bestärken. gelten seit November 2014 als sichere Herkunftsstaaten. Das sehen wir mit großer Sorge, und das geht uns auch Trotzdem wurden bis September 2015 rund 24 700 Asyl- unter die Haut. anträge aus EjR Mazedonien und Serbien gestellt. Ein Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 12715

(A) positiver Effekt ist somit nicht erkennbar. Im Gegenteil: Anlage 5 (C) Im Vergleich zum Vorjahreszeitraum sind die Antrags- Erklärung nach § 31 GO zahlen aus EjR Mazedonien und Serbien sogar deutlich gestiegen (um 84,8 Prozent bzw. um 28,8 Prozent). der Abgeordneten Uwe Kekeritz und Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (beide BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Auch wird die Verfahrensdauer für Anträge von Men- NEN) zu der namentlichen Abstimmung über den schen aus sicheren Herkunftsstaaten kaum beeinflusst. von den Fraktionen der CDU/CSU und SPD einge- Daten des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge brachten Entwurf eines Asylverfahrensbeschleuni- zeigen, dass die Verfahren für Anträge von Menschen gungsgesetzes (Tagesordnungspunkt 5 a) aus Albanien und Montenegro durchschnittlich deutlich kürzer sind (1,8 bzw. 3,1 Monate) als die Verfahren von Der vorliegende Gesetzentwurf enthält notwendige Menschen aus den sicheren Herkunftsstaaten Serbien finanzielle Zusagen des Bundes, der sich künftig dau- (4,2 Monate) sowie Bosnien und Herzegowina (4,4 Mo- erhaft, strukturell und dynamisch an den Kosten der Flüchtlingsaufnahme beteiligt und darüber hinaus wei- nate). Das zeigt, dass eine erstrebenswerte Verkürzung tere finanzielle Mittel zur Verfügung stellt. Vernünftig der Asylverfahren auch ohne das Mittel der sicheren Her- ist auch, dass der Bau von Unterkünften für Flüchtlinge kunftsstaaten möglich ist. durch Änderung der baurechtlichen Standards flexibili- Positive Effekte sind also nicht zu erkennen. Negative siert wird, auch wenn sich diese Standardsenkung nicht Effekte sind zu befürchten: verstetigen und auf andere Bereiche ausgeweitet werden darf. Wir erkennen auch an, dass Staatsangehörige der Erstens kann die Einstufung eines Staates als sicher­ Westbalkanstaaten, wenn auch unter engen Vorausset- er Herkunftsstaat die Beurteilung des Antrages eines zungen, einen Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt er- Schutzsuchenden aus diesem Staat negativ beeinflussen. halten können, was mit seinen Einschränkungen jedoch Es ist mindestens zu erwarten, dass die Sachbearbeitung alles andere als ein Einstieg in ein Einwanderungsgesetz des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge in dem ist, sondern eine geringfügige, allenfalls symbolische Wissen, dass ein Mensch aus einem sicheren Herkunfts- Teilliberalisierung des bestehenden Systems, die zudem staat kommt, den Antrag anders beurteilt als den Antrag nur bis 2020 befristet ist. eines aus einem anderen Staat kommenden Menschen. Dadurch besteht die Gefahr, dass tatsächliche Schutz- Trotz dieser positiven Aspekte können wir dem Ge- gründe nicht erkannt werden könnten. Es ist doch er- setzespaket nicht zustimmen. Schon der Titel ist eine Mogelpackung. Das Gesetz enthält zahlreiche Abschre- staunlich, dass die Schutzquote für Menschen zum Bei- ckungs- und Ausgrenzungsvorschriften, aber nicht eine spiel aus dem Kosovo in Frankreich im Jahr 2014 knapp (B) einzige Maßnahme, die geeignet wäre, Asylverfahren (D) 19 Prozent betrug, während in Deutschland lediglich tatsächlich zu beschleunigen. Die Koalition hat sich ge- knapp ein halbes Prozent der Menschen aus dem Kosovo weigert, eine Regelung zur pauschalen Anerkennung von Schutz erhielt. Auch in vielen anderen Staaten der Euro- Flüchtlingen aus Syrien, Eritrea, Irak und Somalia vorzu- päischen Union und der Schweiz sind die Schutzquoten schlagen. Sie hat keine Altfallregelung für langandauern- für Flüchtlinge aus Staaten des westlichen Balkans weit de Verfahren entworfen. Und sie hat die Forderung nach höher als in Deutschland. einer Aufhebung der obligatorischen Widerrufsprüfung Zweitens ist die Einstufung der Staaten des westlichen gemäß § 73 Absatz 2 a AsylVfG zurückgewiesen. Balkans ein falsches Signal an diese Staaten. Die Euro- Statt tragfähige Lösungen vorzuschlagen, werden päische Union gerät in den Beitrittsverhandlungen in den immer wieder von Regierungsmitgliedern oder von Mit- Themenbereichen Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und gliedern der sie tragenden Parteien, vor allem von der Grundrechteschutz in die Defensive, wenn sie diesen CSU, populistische und völlig abstruse Debatten vom Staaten einen Persilschein als sichere Herkunftsstaaten Zaun gebrochen, die von den wirklichen Problemen ab- ausstellt. lenken und dazu führen können, dass die gelebte Solida- rität der Bevölkerung untergraben wird und Verbrecher, Drittens erweckt die andauernde Diskussion über si- die Unterkünfte für Geflüchtete in Brand stecken, sich chere Herkunftsstaaten den Anschein, dieses Mittel sei bestärkt fühlen. Diesen Geist atmet zum Teil auch das eine einfache und schnelle Lösung. Die Menschen in Asylverfahrensvereinfachungsgesetz. Das sehen wir mit Deutschland erwarten wirksame und nachhaltige Lö- großer Sorge. sungen. Am nachhaltigsten wäre die Beseitigung der Fluchtursachen. Nachhaltig wäre ein solidarisches Asyl- Die mit dem Gesetz eingeführte Dreiklassenunter- system der Europäischen Union. Nachhaltig wäre auch teilung von AsylbewerberInnen, Flüchtlingen aus soge- ein widerstandsfähiges und effizientes Asylsystem in nannten sicheren Herkunftsstaaten, solchen mit „guter Deutschland. Leider bindet die Diskussion über sichere Bleibeperspektive“ und dem Rest, lehnen wir ab. Schi- Herkunftsstaaten wichtige Ressourcen, um diese Themen kanen wie zusätzliche Leistungskürzungen und eine voranzutreiben. Die Ausweitung der Liste der sicheren Umwandlung der Geldleistungen für den persönlichen Herkunftsländer ist keine Antwort auf die drängenden Bedarf in Sachleistungen sind nicht nur humanitär, men- Fragen von Migration und Flucht. schenrechtlich und sozialpolitisch unvertretbar, sie wir- ken in der gegenwärtigen Situation auch als geistiger Aus diesen Gründen können wir dem Gesetzentwurf Brandsatz und überfrachten, statt zu entlasten, die Auf- nur mit Verweis auf diese Erklärung zustimmen. nahmeeinrichtungen mit Bürokratie. 12716 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015

(A) Schon die bestehenden Leistungseinschränkungen Die gesundheitliche Versorgung von Flüchtlingen (C) für Geflüchtete im Asylbewerberleistungsgesetz und bei bleibt rechtlich weiterhin auf die dringend erforderliche den Gesundheitsleistungen sind für uns in keiner Weise und nicht aufschiebbare Behandlung bei akuter Erkran- akzeptabel. Und gehören abgeschafft. Alle Menschen, kung beschränkt. Das widerspricht nicht nur dem huma- die hier leben, haben in unseren Augen ein Anrecht auf nitären Gebot auf eine angemessene gesundheitliche Ver- die gleichen Leistungen. Leistungseinschränkungen und sorgung, es führt häufig auch zu einer Chronifizierung -ausschlüsse, sei es bei der Grundsicherung oder bei den und nachfolgenden bedeutend aufwendigeren Behand- Gesundheitsleistungen, fördern nur die Entstehung von lungen und, wie Studien zeigen, zu höheren Kosten. Ge- Elendsquartieren, ausbeuterischer Schwarzarbeit, und sie flüchtete bleiben somit Patienten dritter Klasse, die sich produzieren, gerade im Gesundheitsbereich, Folgekos- mit einer Notversorgung zu begnügen haben. Die Opti- ten, die sehr teuer werden können. on, in den Bundesländern mit den Krankenkassen eine Zudem sind wir der Überzeugung, dass die Leistungs- Gesundheitskarte für Flüchtlinge zu vereinbaren, wurde einschränkungen verfassungsrechtlich mehr als frag- rechtlich nicht entsprechend den Vereinbarungen mit würdig sind. Darin haben uns auch die Stellungnahmen den Ministerpräsidenten geregelt. Es ist weder eindeutig der evangelischen und katholischen Kirche und weiterer absehbar, ob die bestehenden Vereinbarungen zur Ge- Sachverständiger in der Anhörung zu dem vorliegenden sundheitskarte für Flüchtlinge in Bremen, Hamburg und Gesetz bestärkt. So sollen mit den Leistungskürzungen NRW Bestand haben, die in weiten Teilen eine Versor- und der Umwandlung von Geld- in Sachleistungen laut gung vorsieht, die der gesetzlich Versicherter entspricht. dem Gesetzentwurf „Fehlanreize“ beseitigt werden. Dies Es bleibt auch unklar, ob vergleichbare Rahmenver- sind in unseren Augen migrationspolitische Erwägungen, einbarungen in den anderen Bundesländern in Zukunft die vom Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil zum möglich sind. Darüber hinaus soll auf der Karte vermerkt Asylbewerberleistungsgesetz vom 15.08.2012 als mögli- werden, dass es sich um einen Flüchtling handelt. Das ist cher Grund für Leistungseinschränkungen ausgeschlos- diskriminierend und verlagert eine hochproblematische sen wurden (Randnummer 121). Entscheidung über eine eingeschränkte Behandlung in die Arztpraxis. Hinzu kommt, dass ein Flickenteppich Wir sind auch der Auffassung, dass jegliche Leistungs- von Regelungen entstehen wird, der für die Flüchtlinge kürzungen unter das Niveau des soziokulturellen Exis- bei einem Ortswechsel problematisch und für die Kran- tenzminimums und damit folglich erst recht Leistungen, kenkassen aufwendig ist. Notwendig wäre bundesein- die nicht einmal das physische Existenzminimum absi- heitlich die Einbeziehung der Geflüchteten in die gesetz- chern, sondern nur Leistungen für Ernährung, Unterkunft liche Krankenversicherung, wie dies für Flüchtlinge ab (inklusive Heizung) sowie Körper- und Gesundheitspfle- 15 Monaten bereits heute gilt. Die Kosten sollten durch (B) (D) ge enthalten, verfassungsrechtlich nicht zu halten sind. den Bund getragen werden. Und humanitär sowieso nicht. Das Bundesverfassungs- gericht hat zwar in dem oben genannten Urteil bei einem In die Liste sogenannter sicherer Herkunftsstaaten „nur kurzen“ Aufenthalt einen „möglicherweise spezi- werden nun auch Albanien, Kosovo und Montenegro fisch niedrige(ren) Bedarf“ (Randnummer 119) als bei aufgenommen. Die Bestimmung von Bosnien-Herzego- längerfristig Aufenthaltsberechtigten nicht in jedem Fall wina, Mazedonien, Serbien, Senegal und Ghana zu si- ausgeschlossen, jedoch würde das Gericht nach unserer cheren Herkunftsstaaten wird bestätigt, obwohl Roma, Kenntnis empirische Belege für den niedrigeren Bedarf LGBTTI und JournalistInnen in den Staaten des West- verlangen. Zudem eröffnet der Gesetzentwurf auch de balkans weiterhin Verfolgung droht und einvernehmliche facto Leistungskürzungen bei mehr als nur kurzen Auf- gleichgeschlechtliche Handlungen unter Erwachsenen enthalten, schon allein, weil die Leistungskürzungen bei im Senegal und Ghana immer noch unter Strafe stehen. Vorliegen der entsprechenden Voraussetzungen immer Auch die allgemeine Sicherheitslage in den Westbalkan- wieder verlängert werden sollen. staaten gibt weiterhin Anlass zur Sorge. Der Bundestag hat erst im Sommer 2015 den KFOR-Einsatz der Bun- Das Gleiche gilt für die Möglichkeit der Erbringung deswehr im Kosovo verlängert, weil das Land noch im- der Leistungen zur sozialen und kulturellen Teilhabe in mer instabil ist. Form von Sachleistungen oder Wertgutscheinen statt fi- nanzieller Leistungen. Sachleistungen und Wertgutschei- Für die Geflüchteten aus diesen Staaten ist dieses ne verhindern gerade, dass individuell unterschiedlich Gesetz ein schwerer Angriff auf das Prinzip der Einzel- hohe existenzielle Bedarfe von den Leistungsbeziehen- fallprüfung, einen Grundpfeiler des Asylrechts. Die An- den im Rahmen einer pauschalierten Leistung ausgegli- träge der Geflüchteten werden zwar formal noch einzeln chen werden können. Deshalb gehen wir auch hier weder geprüft, doch drängt sich eine ablehnende Entscheidung von verfassungsrechtlich haltbaren noch humanitär hin- faktisch auf. Das Bundesverfassungsgericht hat in diesem nehmbaren Leistungsunterdeckungen unter das soziokul- Zusammenhang unmissverständlich festgestellt, dass ein turelle Existenzminimum aus. Völlig abstrus erscheint Staat nicht zum sicheren Herkunftsstaat bestimmt werden uns auch, dass infolge der Änderungsanträge nun zwar kann, solange dort auch nur Angehörige einer einzigen die Möglichkeit der Erbringung von Sachleistungen in Gruppe verfolgt werden (2 BvR 1507 und 1508/93). Der Aufnahmeeinrichtungen daran geknüpft wird, dass nur UNHCR, die EKD und die Deutsche Bischofskonferenz­ ein vertretbarer Verwaltungsaufwand vorliegt, eine sol- haben in ihren Stellungnahmen insoweit die Missachtung che Prüfung jedoch in Gemeinschaftsunterkünften nicht der Vorgaben der Richtlinie 2013/32/EU (Verfahrens- notwendig ist. richtlinie) gerügt. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 12717

(A) Neben die bisherigen Beschränkungen der Rechts- Die Verbesserungen beim Zugang zu den Integrations- (C) schutzmöglichkeiten für Flüchtlinge aus sogenannten kursen sind weitestgehend folgenlos, weil der Kreis der sicheren Herkunftsstaaten treten nun weitere massive Berechtigten restriktiv und teilweise vage formuliert ist Einschränkungen ihrer sozialen und wirtschaftlichen und lediglich ein nachrangiger Zugang statt eines Teil- Rechte: Sie werden dauerhaft und unbegrenzt verpflich- nahmeanspruchs geschaffen wird. Letztlich wird diese tet, in den Erstaufnahmeeinrichtungen zu verbleiben. Mit angebliche Verbesserung an den schon jetzt fehlenden der daraus folgenden Ausweitung der Residenzpflicht, Kursplätzen scheitern oder daran, dass die Kurszulas- des absoluten Arbeitsverbotes und des Sachleistungs- sung nach den Regelungen der Verordnung zum Asylver- prinzips werden flüchtlingspolitische Erfolge des letzten fahrensbeschleunigungsgesetz auf drei Monate befristet Jahres zurückgedreht. In mehreren Bundesländern dürfte wird, was faktisch eine Kursteilnahme vereitelt. für Kinder und Jugendliche in diesen Einrichtungen die Als mindestens problematisch bewerten wir auch die Schulpflicht entfallen. Ermöglichung der Ernennung von Beamten als Richter Wir halten auch die Verpflichtung zum Verbleib in den auf Zeit bei den Verwaltungsgerichten sowie Betrauung Erstaufnahmeeinrichtungen bis zu sechs Monaten inte- von Richtern auf Probe als Einzelrichter mit Asylange- grations- und flüchtlingspolitisch für kontraproduktiv. legenheiten, trotz fortbestehender Beschränkungen bei Der Druck der Kommunen auf die Landesregierungen, der Zulassung von Rechtsmitteln. Rechtssicherheit kann die Höchstdauer auszuschöpfen, wird allein schon aus nicht durch die Beschränkung von Rechtschutzmöglich- finanziellen Erwägungen enorm sein. Geflüchteten wird keiten hergestellt werden. Solange die Berufung in Asyl- selbst dann der Auszug aus der Erstaufnahmeeinrichtung sachen so selten zugelassen wird, so lange wird sich auch verboten, wenn sie selbst privaten Wohnraum zu güns- eine einheitliche Rechtsprechung, die dringend notwen- tigeren Kosten oder gar eine kostenlose Unterkunft bei dig wäre, nicht herausbilden können. Freunden oder Verwandten finden. Betroffen sind davon Wir setzen uns weiterhin für eine gerechte und solida- auch Flüchtlinge mit sogenannter „guter Bleibeperspek- rische Lastenteilung innerhalb der EU, für gleichberech- tive“. tigte Mindestsicherungs- und Gesundheitsleistungen für Mit der Verpflichtung zum Verbleib in den Erstauf- Geflüchtete in Deutschland ein. Das Asylbewerberleis- nahmeeinrichtungen gehen die Residenzpflicht, ein ab- tungsgesetz gehört abgeschafft und eine echte Gesund- solutes Arbeitsverbot und in etlichen Bundesländern heitskarte für Geflüchtete eingeführt. auch der Ausschluss von der Schulpflicht einher. Das Die Herausforderungen, die mit den zu uns Geflüch- Sachleistungsprinzip wird zwingend für den notwendi- teten verbunden sind, müssen endlich angenommen wer- gen Bedarf, einschließlich Ernährung und Kleidung, und den. Wenn die Bundesregierung weiterhin zögert, steuern (B) als Soll-Bestimmung für den notwendigen persönlichen wir im kommenden Winter auf eine humanitäre Krise in (D) Bedarf, wie zum Beispiel Fahrkarten – sodass der Staat Deutschland zu. Die Bundesregierung muss dringendst immer weiß, wer sich wo befindet – oder Zigaretten. Die- Maßnahmen ergreifen, um den Ländern und Kommunen se Regelung produziert sozialen Sprengstoff, Konflikte zu ermöglichen, schnellstens Erstgesundheitsversorgun- und Verelendung in den Erstaufnahmeeinrichtungen, was gen und Impfungen bei allen Geflüchteten durchzuführen Gewalt und Kriminalität befördern wird. Damit schafft und dafür zu sorgen, dass die Kommunen noch vor dem man keine Akzeptanz in der Bevölkerung – im Gegenteil. Winter ausreichend Unterkünfte für Obdachlose, Ge- Völlig unverhältnismäßig und kontraproduktiv sind flüchtete und andere zur Verfügung stellen können. das Verbot der Ankündigung von Abschiebungen, die Beschränkung der Befassung der Härtefallkommissio- nen auf Fälle, in denen kein Rückführungstermin fest- Anlage 6 steht, und die Verschärfung der Schleuserstrafbarkeit, Erklärungen nach § 31 GO statt die illegale Einreise zu entkriminalisieren und da- durch die Strafverfolgungsbehörden zu entlasten. Diese zu der namentlichen Abstimmung über den von Regelungen werden den Erfolg bestehender freiwilliger den Fraktionen der CDU/CSU und SPD einge- Rückführungsprogramme torpedieren und einen enor- brachten Entwurf eines Asylverfahrensbeschleuni- men Kosten- und Personalaufwand verursachen. Bei den gungsgesetzes (Tagesordnungspunkt 5 a) Winterabschiebungsstopps wird der Handlungsspielraum der Landesregierungen bei Abschiebungsstopps ohne Klaus Brähmig (CDU/CSU): Im Rahmen der na- Not eingeschränkt. Die vorübergehende Ermächtigung mentlichen Abstimmung am 15. Oktober 2015 werde ich zur Ausübung der Heilkunde durch Asylsuchende ohne dem oben genannten Entwurf eines Asylverfahrensbe- ärztliche Approbation, die allerdings für ihre Tätigkeit schleunigungsgesetzes zustimmen. Mit allem Nachdruck nicht vergütet werden dürfen, sehen wir genauso kritisch weise ich aber darauf hin, dass meiner Überzeugung nach wie die Bundesärztekammer. Darin liegt ein doppelter dieses Maßnahmenpaket nur ein erster – wenn auch sehr Gleichheitsverstoß: Manche ausländischen Ärzte dürfen wichtiger – Schritt sein kann, um die teilweise verhee- dann – anders als Deutsche – ohne Approbation ihren renden Auswirkungen der Flüchtlingsströme in unserem Beruf ausüben, allerdings nur bestimmte ausländische Land besser zu bewältigen. Zugleich rufe ich die Bundes- Patienten behandeln, denen dadurch faktisch der Zugang regierung auf, den Weg der Restriktion von illegaler und zu dem Regelsystem der Gesundheitsversorgung droht, ungesteuerter Zuwanderung beherzt weiterzugehen, um verwehrt zu werden. den sozialen Frieden und die politische Statik Deutsch- 12718 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015

(A) lands nicht zu gefährden. Eine ungesteuerte Zuwande- Erstens. Derzeit sind nach Schätzungen des UNHCR (C) rung, die sich nicht an den politischen, wirtschaftlichen 60 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht. Dies ist und sozialen Interessen unseres Landes orientiert und das die höchste Zahl, die jemals von UNHCR verzeichnet Sicherheitsbedürfnis unserer Bevölkerung weitgehend wurde, und sie wächst weiterhin rasant. In der Bundesre- ignoriert, muss unweigerlich scheitern. publik werden in diesem Jahr schätzungsweise 1 Million Geflüchtete erwartet. In dieser globalen Flüchtlingskrise Marco Bülow (SPD): In einigen wesentlichen Punk- sehe ich sowohl die Europäische Union als auch die Bun- ten des Gesetzentwurfs sehe ich, auch aus menschen- desrepublik Deutschland in der Verantwortung für eine rechtspolitischer Sicht, deutliche Verbesserungen: Um solidarische und humane Asylpolitik. Hierzu erachte ich Fluchtursachen in Herkunftsländern zu bekämpfen, wer- eine Modernisierung des Asylrechts als erforderlich, im den die entsprechenden Mittel aufgestockt. Um die Kom- Sinne beispielsweise legaler Wege nach Europa für Asyl- munen und Länder zu entlasten, wird ab 2016 eine Pau- suchende und im Sinne einer menschenrechtsbasierten schale von monatlich 670 Euro pro Asylsuchendem für Asylpraxis in der Europäischen Union und der Bundes- die Dauer des Verfahrens und im Falle einer Ablehnung republik Deutschland. Hierzu zählen für mich ebenfalls einen Monat darüber hinaus eingeführt. Zusätzlich betei- Maßnahmen wie die, einen Zweckwechsel für Asylsu- ligt sich der Bund an der Versorgung von unbegleiteten chende zu ermöglichen. Als Sozialdemokrat lehne ich minderjährigen Flüchtlingen mit zusätzlichen Mitteln in grundsätzlich Verschärfungen ab, die einer menschen- Höhe von 350 Millionen Euro. rechtsbasierten Asylpraxis entgegenstehen. Derzeit sind nach Schätzungen des UNHCR 60 Mil- Zweitens. In unter anderem folgenden wesentli- lionen Menschen weltweit auf der Flucht. Dies ist die chen Punkten sehe ich deutliche Verbesserungen: Um höchste Zahl, die jemals vom UNHCR verzeichnet wur- Fluchtursachen in Herkunftsländern zu bekämpfen, wer- de, und sie wächst weiterhin rasant. In der Bundesrepu- den die entsprechenden Mittel aufgestockt. Um die Kom- blik werden in diesem Jahr schätzungsweise 1 Million munen und Länder zu entlasten, wird ab 2016 eine Pau- Geflüchtete erwartet. In dieser globalen Flüchtlingskri- schale von monatlich 670 Euro pro Asylsuchendem für se sehe ich sowohl die Europäische Union als auch die die Dauer des Verfahrens und im Falle einer Ablehnung Bundesrepublik Deutschland in der Verantwortung für einen Monat darüber hinaus vorgesehen. Zusätzlich be- eine solidarische und humane Asylpolitik. Hierzu erachte teiligt sich der Bund an der Versorgung von unbegleiteten ich eine Modernisierung des Asylrechts als erforderlich. minderjährigen Flüchtlingen mit zusätzlichen Mitteln in Im Sinne beispielsweise legaler Wege für Asylsuchende Höhe von 350 Millionen Euro. nach Europa und im Sinne einer menschenrechtsbasierten Asylpraxis in der Europäischen Union und der Bundes- Drittens. Hingegen verschlechtert der vorliegende (B) republik Deutschland. Hierzu zählen für mich ebenfalls Gesetzentwurf die Situation von Geflüchteten. Unter (D) Maßnahmen, wie einen Zweckwechsel für Asylsuchende anderem folgende Neuregelungen sind für mich aus zu ermöglichen. Als Sozialdemokrat lehne ich grundsätz- menschenrechtlichen Erwägungen heraus und aus dem lich Verschärfungen ab, die einer menschenrechtsbasier- Anspruch heraus, dass Flucht nach Deutschland mög- ten Asylpraxis entgegenstehen. lich sein muss, nicht zustimmungsfähig: Die Ausweitung der sicheren Herkunftsstaaten ist nicht sachgerecht und Andere Neuregelungen sind für mich, ebenfalls aus widerspricht dem Prinzip des deutschen Asylrechts auf menschenrechtspolitischer Sicht, aber auch aus dem An- Einzelfallprüfung. Die Abschiebungen ohne Vorankün- spruch heraus, dass Flucht nach Deutschland möglich digung sind inhuman und unverhältnismäßig. Die Ein- sein muss, nicht zustimmungsfähig. Die Ausweitung schränkungen der Arbeit der Härtefallkommission sind der sicheren Herkunftsstaaten ist nicht sachgerecht und unverhältnismäßig. Ebenfalls sind die unbegründeten widerspricht dem Prinzip des deutschen Asylrechts auf Leistungskürzungen inhuman und scheinen mir nicht Einzelfallprüfung. Die Abschiebungen ohne Vorankün- verfassungskonform. digung sind inhuman und unverhältnismäßig. Die Ein- schränkungen der Arbeit der Härtefallkommission sind ebenfalls unverhältnismäßig. Unbegründete Leistungs- Dr. Ute Finckh-Krämer (SPD): In einigen wesent- kürzungen und Absenkung der Leistungen für die, die lichen Punkten des Gesetzentwurfs sehe ich, auch aus keine positive Bleibeperspektive haben, sind inhuman, menschenrechtspolitischer Sicht, deutliche Verbesse- und darüber hinaus erscheinen sie mir nicht verfassungs- rungen: Um Fluchtursachen in Herkunftsländern zu be- konform. kämpfen, werden die entsprechenden Mittel aufgestockt. Um die Kommunen und Länder zu entlasten, wird ab Da ein Gesetzentwurf, der oben genannte kritische 2016 eine Pauschale von monatlich 670 Euro pro Asyl- Punkte enthält, für mich nicht zustimmungsfähig ist, ent- suchendem für die Dauer des Verfahrens und im Falle halte ich mich der Stimme. einer Ablehnung einen Monat darüber hinaus eingeführt. Zusätzlich beteiligt sich der Bund an der Versorgung von Dr. Karamba Diaby (SPD): Bei Abstimmungen mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen mit zusätzli- erheblicher Reichweite oder auch bei Gewissensfragen chen Mitteln in Höhe von 350 Millionen Euro. nehme ich für mich das Recht eines jeden Abgeordne- Andere Neuregelungen sind für mich, ebenfalls aus ten nach Artikel 38 (1) des Grundgesetzes in Anspruch. menschenrechtspolitischer Sicht, aber auch aus dem An- In Abwägung der getroffenen Verbesserungen und Ver- spruch heraus, dass Flucht nach Deutschland möglich schärfungen des Asylverfahrensbeschleunigungsgeset- sein muss, nicht zustimmungsfähig. Die Ausweitung zes stimme ich mit Enthaltung. der sicheren Herkunftsstaaten ist nicht sachgerecht und Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 12719

(A) widerspricht dem Prinzip des deutschen Asylrechts auf Die Ausweitung von sicheren Herkunftsstaaten auf (C) Einzelfallprüfung. Die Abschiebungen ohne Vorankün- weitere Länder des Westbalkans lehne ich ab. Die Bun- digung sind inhuman und unverhältnismäßig. Die Ein- desregierung ignoriert hier, dass diese Länder durch schränkungen der Arbeit der Härtefallkommission sind vielfache Diskriminierungen und Gewalt zum Beispiel ebenfalls unverhältnismäßig. Unbegründete Leistungs- gegenüber Roma nicht als sicher gelten können. Die kürzungen und Absenkung der Leistungen für die, die niedrige Anerkennungsquote in Deutschland von Flücht- keine positive Bleibeperspektive haben, sind inhuman, lingen aus diesen Ländern kann nicht als Rechtfertigung und darüber hinaus erscheinen sie mir nicht verfassungs- dienen, diese Länder ohne weitere Argumente als sicher konform. einzustufen. Da ein Gesetzentwurf, der oben genannte kritische Die Verlängerung des Aufenthaltes in Erstaufnahme- Punkte enthält, für mich nicht zustimmungsfähig ist, einrichtungen wurde von der Großen Koalition in die- enthalte ich mich in der Gesamtabstimmung und bei sem Jahr auf drei Monate verkürzt. Dass diese Regelung den Einzelabstimmungen zu den genannten Punkten der wieder zurückgenommen werden soll, ist falsch. Auf- Stimme. grund der Zustände in den Einrichtungen ist ein längerer Aufenthalt inakzeptabel. Zudem stehen die dort geltende Hilde Mattheis (SPD): Zweifelsohne ist die politi- Residenzpflicht und das Arbeitsverbot einer schnellen In- sche Bewältigung des großen Zustroms an Flüchtlingen tegration entgegen. aus verschiedenen Teilen der Welt eine der größten Her- Geldleistungen für Asylbewerber dienen der Deckung ausforderungen für die Bundesrepublik. des täglichen Bedarfs. Sie sind kein Taschengeld, und Es ist Aufgabe der Bundesregierung, auch durch sie sind ganz sicher kein Anreiz für eine Flucht nach kurzfristige, schnelle und unbürokratische Hilfe, dafür Deutschland. Diese so weit wie möglich in Sachleis- zu sorgen, dass Gemeinden, Bundesländer und andere tungen umzuwandeln, wie es der Gesetzesentwurf vor- staatliche Institutionen die Aufnahme und Versorgung schlägt, ist unpraktisch, mit einem hohen bürokratischen von Flüchtlingen gewährleisten können, wenn sie dazu Aufwand verbunden und möglicherweise nicht verfas- finanziell oder strukturell nicht (mehr) in der Lage sind. sungskonform. Der vorliegende Gesetzesentwurf erfüllt dieses Ziel Keine dieser Regelungen ist in irgendeiner Art und nur zum Teil. Es ist sehr zu begrüßen, dass Maßnahmen Weise geeignet, Kommunen und Bundesländer zu entlas- zur medizinischen Versorgung und zur Integration von ten, Flüchtlinge besser zu versorgen, unterzubringen oder Flüchtlingen ergriffen werden. zu integrieren, Fluchtursachen zu bekämpfen und damit Angesichts der hygienischen Mängel – insbesondere sinnvoll den Zustrom von Flüchtlingen zu begrenzen. (B) in Erstaufnahmeeinrichtungen und der Gefahr von ei- Diese Regelungen werden die Situation nicht verbessern, (D) ner schnellen Ausbreitung von Krankheiten – sind die sondern noch verschlechtern. vorgeschlagenen Verbesserungen zum Impfschutz sehr Daher kann ich dem vorliegenden Gesetzesentwurf wichtig. Sie werden dazu beitragen, den Impfschutz trotz der erreichten Verbesserungen durch die SPD nicht für Flüchtlinge deutlich zu erhöhen. Ebenso sinnvoll zustimmen. ist es, dass Geflüchtete, die in ihren Heimatländern als Ärzte tätig waren, hier die Möglichkeit erhalten, weiter Klaus Mindrup (SPD): Weltweit sind 60 Millionen die medizinische Behandlung zu übernehmen. So kann Menschen auf der Flucht vor Krieg, Terror und Verfol- einem drohenden Ärztemangel entgegengewirkt wer- gung und es kommen viele schutzsuchende Menschen den. Besonders wichtig ist für die SPD die Einführung nach Europa, insbesondere auch nach Deutschland. Wir der elektronischen Gesundheitskarte für Flüchtlinge, wollen unserer humanitären Verantwortung gerecht wer- die eine sinnlose Bürokratie vermeidet und den Zugang den und möglichst vielen Personen Schutz und Sicherheit zu medizinischer Versorgung entscheidend verbessert. bieten. Das stellt den Bund, die Länder und Kommunen Umso bedauerlicher ist es, dass es nicht gelungen ist, und die gesamte Gesellschaft vor große Herausforderun- dieses Instrument bundesweit einzuführen, sondern ei- gen. nige Bundesländer bereits angekündigt haben, dass sie Selbstverständlich müssen wir als langfristige Maß- die Gesundheitskarte aus ideologischen Gründen nicht nahmen Fluchtursachen bekämpfen und Krisenregi- einführen werden. onen stabilisieren, deutlich mehr Geld in die Hand Auch der verbessere Zugang zur Sprachförderung ist nehmen, um die betroffenen Nachbarländer mit ihren zu begrüßen. Kenntnisse in der deutschen Sprache sind Flüchtlingscamps zu unterstützen. Dazu brauchen wir der Schlüssel, um eine spätere schnelle Integration in die auch eine gemeinsame Asyl- und Flüchtlingspolitik der Schule oder auf dem Arbeitsmarkt zu gewährleisten. Europä­ischen Union. Wir sind zudem gefordert, in der momentanen Situation kurzfristige Lösungen zur Schaf- Dem gegenüber stehen die Einschränkungen des fung einer nachhaltigen Infrastruktur für Flüchtlinge und Asylrechts, die vor allem auf Druck der CDU/CSU ins ihre Integration in unser Land zu finden. Auf dem Flücht- Gesetz geschrieben wurden. Dabei ist insbesondere die lingsgipfel im Bundeskanzleramt am 24. September wur- nochmalige Ausweitung von sogenannten sicheren Her- de ein umfassendes Maßnahmenpaket beschlossen, das kunftsstaaten, die Verlängerung des Aufenthaltes in Erst- heute im Bundestag verabschiedet wird. aufnahmeeinrichtungen bis zu sechs Monate und den Vorrang von Sach- gegenüber Geldleistungen in Erstauf- Das Asylpaket ist ein wichtiger Schritt, um die Auf- nahmeeinrichtungen zu nennen. nahme, menschenwürdige Unterbringung, Versorgung 12720 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015

(A) und Integration von geflüchteten Menschen zu gestalten. tischen Erwägungen , dass eine Zweiklassenbehandlung (C) Um Fluchtursachen in Herkunftsländern zu bekämpfen, von Flüchtlingen zu Konflikten führen wird. werden die entsprechenden Mittel aufgestockt. Schattenseiten des Asylverfahrensbeschleunigungsge- Der Bund beteiligt sich ab 2016 dauerhaft und struk- setzes turell an den Kosten der Unterbringung und Versorgung 1. Erweiterung der Liste von sicheren Drittstaaten von Flüchtlingen mit einer Pauschale von monatlich 670 Euro pro Asylbewerber für die Dauer des Verfahrens. Laut Gesetzesentwurf werden folgende „sichere Dies war ein Vorschlag des Regierenden Bürgermeisters Herkunftsländer“ genannt: Albanien, Bosnien und Her- von Berlin. Michael Müller, der sich in den Verhandlun- zegowina, Ghana, Kosovo, Mazedonien, Montenegro, gen durchsetzen konnte. Auch beteiligt sich der Bund Senegal und Serbien. Damit werden Albanien, Kosovo an der Versorgung von unbegleiteten minderjährigen und Montenegro erstmals zu sicheren Herkunftsstaaten Flüchtlingen zusätzlich mit 350 Millionen jährlich und erklärt. Diese Erweiterung geht über den geltenden Koa- stellt u. a. 500 Millionen Euro jährlich für den sozialen litionsvertrag hinaus. Das Grundrecht auf Asyl ist jedoch Wohnungsbau und 900 Millionen frei werdende Mittel ein individuelles Recht, das zwingend die Einzelfall- aus dem gestoppten Betreuungsgeld für bessere Kin- prüfung vorsieht. Das Konzept der sicheren Drittsaaten derbetreuung bereit. Für ein Sonderprogramm des Bun- entkernt dieses Grundrecht. Das jeweilige Asylverfahren desfreiwilligendienstes in der Flüchtlingsarbeit werden wird in der Praxis lediglich um 10 Minuten beschleunigt. 10 000 neue Stellen geschaffen. Auch aus den erst in diesem Jahr als „sicher“ deklarier- ten Drittstaaten ist die Anzahl der Erstanträge dieses Jahr Darüber hinaus eröffnet das Asylpaket auch Perspek- weiter gestiegen (aus Serbien bis 30.9.15: 14 390 im Ver- tiven für Perspektiven für AsylbewerberInnen, bei denen gleich zu 2014: 17 172; Mazedonien bis 30.9.15: 7 385 ein dauerhafter Aufenthalt zu erwarten ist, unter anderem im Vergleich zu 2014: 5 614). Im europäischen Vergleich durch die Aufstockung der Mittel für Sprachkurse, die wurden nach Angaben von Pro Asyl 2014 in Frankreich frühe Öffnung der Integrationskurse und Regelungen zur 20 Prozent in Belgien 18 Prozent Schutzsuchenden aus frühzeitigen Arbeitsmarktintegration. Außerdem sieht dem „sicheren Herkunftsland“ Bosnien und Herzegowi- der Gesetzentwurf Erleichterungen im Bau planungs- na anerkannt. recht für Flüchtlingsunterkünfte vor sowie eine deutliche Problematisch ist zudem, dass trotz der Verfolgung Verbesserung der Gesundheitsversorgung von Asylbe- aufgrund der sexuellen Orientierung weiter an der ge- werberInnen. setzlichen Einstufung von Ghana und Senegal als „si- Die SPD‑Bundestagsfraktion hat sich an vielen Stel- cheren Herkunftsstaaten“ festgehalten wird, obwohl dort einvernehmliche homosexuellen Beziehungen unter Er- (B) len dafür eingesetzt, dass der ursprüngliche Entwurf ent- (D) schärft werden konnte. Viele Verschärfungen des Asyl- wachsenen unter Strafe stehen. rechts konnten wir heraus verhandeln. Das erkenne ich Situation im Kosovo an. Rund 700 deutsche Soldaten leisten derzeit Dienst im Der Gesetzentwurf enthält allerdings eine Reihe von Kosovo im Rahmen des KVOR‑Einsatzes mit dem Auf- Regelungen, die ich sehr kritisch sehe. trag, ein sicheres Umfeld im Kosovo aufzubauen und zu Für mich ist klar: Es darf keine Abstriche am Grund- erhalten, einschließlich öffentlicher Sicherheit und Ord- recht auf Asyl geben. Maßnahmen, von denen bereits bei nung. Es ist schwer vermittelbar, dass ein Land, in dem die Bundeswehr die öffentliche Sicherheit und Ordnung der Verabschiedung des Gesetzes klar ist, dass sie zu ei- gewährleisten muss, als sicherer Drittstaat eingestuft ner positiven Bewältigung der aktuellen Herausforderun- werden kann. gen nicht nur nicht beitragen, sondern finsterste Abschre- ckungs- und Abschottungspolitik sind, lehne ich auf das Am Beispiel Kosovo lässt sich aber zugleich auch Schärfste ab. Das ist nicht das Deutschland, das ist nicht zeigen, wie ohne eine Einstufung als „sicherer Dritt- das Europa, welches ich mir für unsere Kinder und für staat“ eine Lösung erreicht werden kann. Nachdem An- uns selbst wünsche. Ich befinde mich mit meiner Kritik fang 2015 sehr viele Asylanträge von KosovarInnen ge- auch in bester Gesellschaft: mit dem Rat für Migration, stellt wurden, hatten sich mehrere Bundesländer und der mit den katholischen Bischöfen, Wohlfahrtsverbänden, Bund verständigt, die Anträge beschleunigt zu bearbei- Frauen- und Menschenrechtsorganisationen, der Bun- ten und vor Ort Aufklärungsarbeit zu leisten. Innerhalb desärztekammer. von vier Wochen wurden über 50 Prozent der Anträge entschieden. Die Maßnahmen zeigten schnell Wirkung – Insbesondere bei den Regelungen zur Gesundheitsver- denn die Zahlen der Erstanträge gingen schnell zurück. sorgung von Flüchtlingen führt die Blockadehaltung der Im Januar stand der Kosovo noch auf Platz zwei der Her- Union nicht nur zu einer Zweiklassen-Gesundheitsver- kunftsländer, im September nur noch an neunter Stelle. sorgung sondern auch noch zu einem Flickenteppich – je nach Bundesland mit unterschiedlichem Zugang zu Ge- Das Oberste Verwaltungsgericht in Frankreich hat in sundheitsleistungen für Flüchtlinge. einem Urteil vom 10. Oktober 2014 entschieden, dass Kosovo von der Liste der sicheren Herkunftsstaaten in Die Unterscheidung in Flüchtlinge mit guter Blei- Frankreich zu streichen ist. In dem Urteil stellt das Ge- beperspektive und solche ohne ist problematisch. Und richt fest, dass ein Staat, dessen Institutionen noch in zwar nicht nur vor dem Hintergrund , dass das Asylrecht weiten Teilen von der Unterstützung internationaler Or- eine Individualprüfung vorsieht, sondern auch aus prak- ganisationen und Missionen abhängig seien, nicht die Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 12721

(A) Voraussetzungen erfülle. Insbesondere führe die unsiche- Todesängste wegen unseres Gesundheitssystems auf sich (C) re politische und soziale Situation im Kosovo dazu, dass nehmen. einige Bevölkerungsgruppen keinen effektiven Schutz Derzeit ist das Verfahren äußerst kompliziert: Kran- vor gewalttätigen Übergriffen finden könnten. ke Flüchtlinge müssen bei jeder Erkrankung erst zum Die verbreitete gesellschaftliche Diskriminierung von Sozial­amt, wo – nach zumeist langen Wartezeiten – me- Minderheiten unter Einschluss der Roma wird sowohl in dizinische Laien über jeden Arztbesuch entscheiden. der Gesetzesbegründung als auch in vielen Stellungnah- Diese entscheiden, ob eine akute Erkrankung, ob ein men zum Gesetzentwurf zu Recht problematisiert. Schmerzzustand vorliegt, der ärztlich behandelt werden darf. Erst nach Erhalt des sogenannten „Grünen Schein“ Vor dem Kosovokrieg lebten ca. 150 000 Roma, ist ein Arztbesuch möglich. Die ÄrztInnen schicken dem ­Ashkali und sogenannte ÄgypterInnen im Kosovo. Heu- Amt die Rechnung, dieses bezahlt diese – nach Prüfung – te sind es nur noch ca. 50 000. Ausgrenzung herrscht auf direkt. So wird in den ohnehin oftmals überforderten So- dem Arbeitsmarkt, beim Zugang zur Gesundheitsversor- zialämtern ein großer bürokratischer Aufwand geschaf- gung, zur Schulbildung und zum Wohnraum. Von zent- fen. Eine bundesweite Regelung hätte alle Kommunen raler Bedeutung ist die Ausgrenzung der Roma bei der entlastet. Die jetzt getroffene Regelung führt zu einem medizinischen Versorgung. Das BAMF sowie die Ge- Flickenteppich in Deutschland. Eine Einigung war ledig- richte haben die meisten positiven Bescheide bezüglich lich hinsichtlich der Ermächtigung für die Bundesländer Abschiebeschutz aufgrund gravierender Erkrankungen möglich. Diese können die gesetzlichen Krankenkassen der Flüchtlinge und deren Nichtbehandlung im Kosovo verpflichten, gegen Kostenerstattung die Krankenbe- gefällt. handlungen zu übernehmen. Der AOK‑Bundesverband In der Schweiz erhielten nach Angaben von Pro Asyl macht in seiner Stellungnahme deutlich, dass eine Leis- 2014 rund 37 Prozent der serbischen und 40 Prozent tungsgewährung ohne Gesundheitskarte zu zusätzlichem kosovarischen AntragstellerInnen einen Schutzstatus. Bürokratieaufwand führt, den die Krankenkassen nur Finnland gewährte 43 Prozent der Flüchtlinge aus dem unter Einsatz erheblicher personeller und sächlicher Res- Kosovo Schutz. sourcen bewältigen können. Eine Leistungsgewährung über von der Krankenkasse auszugebende Behandlungs- Situation in Albanien scheine in Papierform wäre angesichts der aktuellen Der Deutsche Anwaltsverein mahnt an, dass ge- E‑Health-Gesetzgebung ein Rückfall in die Steinzeit, schlechtsspezifische Verfolgung, insbesondere sexua- mahnt der AOK‑Bundesverband an. lisierte Gewalt, seitens der Bundesregierung nicht hin- Eine elektronische Gesundheitskarte ist sowohl in reichend untersucht wurde. Bezüglich Albanien wird Stadt- als auch Flächenstaaten möglich: Hamburg und (B) ausdrücklich von diskriminierenden Bräuchen für junge (D) Bremen machen es uns bereits seit Langem vor, Nord- Mädchen berichtet, allerdings eine staatliche Billigung rhein-Westfalen wird es uns ab Anfang 2016 zeigen. Vom nicht erkannt. Darauf kommt es aber gemäß Artikel 6 Einsatz der elektronischen Gesundheitskarte (eGK) wür- der Qualifikationsrichtlinie der EU (RL/EU 2011/95) den hingegen alle Beteiligten profitieren: Flüchtlinge, nicht an. Bezüglich Kosovo und Montenegro wurde ge- Ärztinnen und Kommunen. Zudem kämen die Synergie- schlechtsspezifische Verfolgung gar nicht untersucht. effekte besser zum Tragen, wenn der Einsatz der Gesund- In Großbritannien wurden nach Angaben von Pro Asyl heitskarte bundesweit erfolgen würde. im Jahr 2014 18 Prozent der albanischen Asylsuchenden Dem Entwurf zufolge soll die elektronische Gesund- als schutzbedürftig eingestuft. heitskarte eine Angabe über den besonderen Status des Situation in Montenegro Karteninhabers und damit über das begrenzte Leis- tungsspektrum nach den §§ 4 und 6 des Asylbewerber- Nach Angaben des LSVD wurde beispielsweise in leistungsgesetzes enthalten. Dies durfte die Aufrüstung Montenegro das Zentrum für Lesben, Schwule, Bi­ der EDV‑Systeme, sowohl bei den Kassen als auch bei sexuelle, Transgender und Intersexuelle in der Haupt- den Vertragsärzten und -psychotherapeuten, mit den stadt Podgorica laut allein im ver- entsprechenden Kosten erforderlich machen. Des Weite- gangenen Jahr 26‑mal angegriffen. ren ist den Ärzten eine Prüfung, ob eine Leistung dem 2. Flickenteppich statt Gesundheitskarte Versorgungsanspruch nach §§ 4, 6 AsylbLG unterfällt, nicht zuzumuten. Auch die Bundesärztekammer hält es Eine flächendeckende Einführung der elektronischen für höchst fragwürdig, den Asylbegehrenden einen nur Gesundheitskarte ist aufgrund der Blockadehaltung von beschränkten Leistungsanspruch nach Asylbewerberleis- CDU/CSU nicht gelungen. Auch die Beschränkung der tungsgesetz zu gewähren. Behandlungen auf „akute Erkrankungen und Schmerz- zustände“ konnte nicht gelockert werden. Das bedeu- Auch gemäß der UN‑Kinderrechtskonvention müssen tet nicht nur eine Zweiklassen-Gesundheitsversorgung, alle Kinder (also minderjährige Flüchtlinge bis 18 Jahre), sondern führt auch noch zu einem je nach Bundesland die sich bei uns in Deutschland aufhalten, mittels Kran- unterschiedlichen Zugang zu Gesundheitsleistungen für kenkassenkarte vollen Zugang zur Gesundheitsversor- Flüchtlinge. In der Union haben sich diejenigen durchge- gung gemäß allen Büchern des SGB erhalten, und zwar setzt, die glauben, der Zugang zu unserem Gesundheits- unabhängig von der Asylgewährung und vom Stand ihres wesen sei das „falsche Signal“. Sie glauben völlig an der Verfahrens. Dies betrifft insbesondere die derzeit nicht Realität vorbei, dass Menschen Tausende Kilometer und gewährleistete Versorgung chronisch kranker und behin- 12722 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015

(A) derter Flüchtlingskinder sowie die Versorgung von Kin- eine Studie des Familienministeriums zu „Lebenssitua- (C) dern mit psychischen Störungen und Traumata. tion, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutsch- 3. Verbleib von Menschen aus so genannten sicheren land“ Hinweise: 79 Prozent der stichprobenartig befrag- Drittstaaten bis zur Abschiebung in Erstaufnahmeein- ten weiblichen Flüchtlinge gaben an, in Deutschland richtungen psychischer Gewalt ausgesetzt zu sein, 51 Prozent spra- chen von körperlicher, 25 Prozent von sexueller Gewalt. Für Asylsuchende aus sogenannten „sicheren Her- Gerade hat das Deutsche Institut für Menschenrechte die kunftsländern“ wird eine unbegrenzte Unterbringung weitere Studie „Effektiver Schutz vor geschlechtsspezi- in Erstaufnahmeeinrichtungen angeordnet (bis zur Ent- fischer Gewalt – auch in Flüchtlingsunterkünften“ veröf- scheidung über Ausreise oder Abschiebung). Generell fentlicht. Hier wird der mangelhafte Schutz von Frauen soll die Verpflichtung, in Erstaufnahmeeinrichtungen zu angeprangert, die nach Deutschland geflohen sind. wohnen, auf sechs Monate verlängert werden können. Damit geht eine Verlängerung der Residenzpflicht und 5. Einschränkung der Grundleistungen nach dem des Arbeitsverbots einher. Das UNHCR hält die Ausdeh- Asylbewerberleistungsgesetz nung der Verpflichtung, in einer Erstaufnahmeeinrich- Das Gesetz sieht Leistungsreduzierungen für Men- tung zu wohnen, auf 6 Monate für problematisch. schen vor, über deren Asylrecht oder Ausreisepflicht In der Realität sind die Unterkünfte in den Erstauf- noch nicht entschieden wurde, außerdem für vollziehbar nahmeeinrichtungen überfüllt, häufig nicht winterfest, ausreisepflichtige AusländerInnen, denen keine Duldung und die Belegung auf engstem Raum ist auf Dauer nicht gewährt wurde oder deren Duldung abgelaufen ist. zumutbar. Die Unterbringungssituation – in Tragluft- hallen, Industriegebäuden, Zeltstädten – befördert die Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat in seiner psychische Belastung, soziale Ausgrenzung und Stigma- Entscheidung vom Juli 2012 klargestellt, dass das Men- tisierung der Menschen. Darunter leiden insbesondere schenrecht auf Sicherung eines menschenwürdigen Exis- Familien mit Kindern und alleinstehende Frauen. Gerade tenzminimums allen Menschen unabhängig von ihrem aus Frauenperspektive habe ich große Bedenken gegen Aufenthaltsstatus zukommt. Die Höhe existenzsichern- diese Regelung. der Leistungen darf sich ausschließlich am Bedarf, nicht aber an migrationspolitischen Überlegungen orientieren. Erst im letzten Jahr wurden für die Gruppe der Asyl- „Die in Art. 1 Abs. 1 GG garantierte Menschenwürde ist bewerberInnen im Rahmen des Rechtsstellungsverbesse- migrationspolitisch nicht zu relativieren“ hat das Bun- rungsgesetzes wesentliche Erleichterungen geschaffen, desverfassungsgericht in seiner Entscheidung von 2012 die jetzt wieder abgeschafft werden. ausdrücklich festgestellt. (B) Ein Zweiklassensystem bei der Aufnahme von Asyl- (D) 6. Einführung von Sachleistungen in den Erstaufnah- suchenden darf es nicht geben. Es ist diskriminierend und mit rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht vereinbar – meeinrichtungen denn ob ein Asylantrag berechtigt ist oder nicht, steht erst Gemäß § 3 Absatz 1 und 2 AsylbLG sollen die Be- am Ende eines Asylverfahrens fest und darf nicht vor- hörden den Asylsuchenden künftig jegliches Bargeld, das weggenommen werden. heißt das „Taschengeld“ zur Deckung ihres soziokultu- Die Arbeiterwohlfahrt befürchtet zudem, dass durch rellen Teilhabebedarfs an der Gesellschaft und zur Pflege die drei geplanten großen Verteilzentren für Flüchtlinge zwischenmenschlicher Beziehungen – Telefon, Fahrgeld, die Ressentiments in der Bevölkerung deutlich ansteigen Anwalt, Kommunikation, Bildung, Kultur usw. – unter könnten (geplant sind die Verteilzentren in Selchow am Hinweis auf die Substitution dieses Bedarfs durch Sach- Flughafen BER, Lüneburger Heide und bei Heidelberg). leistungen in den EAEs und GUs dauerhaft teilweise Dieses einerseits, weil die geplante große Anzahl von oder vollständig streichen können. Menschen in Unterkünften für die einheimische Bevöl- Die neue Sollvorschrift für die Rückkehr zum Sach- kerung beängstigend sein könnte und es rechtsgerichte- leistungsprinzip ist ein großer Schritt zurück in die ten Gruppen einfacher macht, Ängste zu schüren, und an- 90er‑Jahre. Die mühsam errungenen Fortschritte im letz- dererseits, da Regionen für die Großunterkünfte gewählt ten Jahr werden damit zunichte gemacht. wurden, die nur schwierig den Kontakt zur Bevölkerung ermöglichen werden. Gerade dieser bewusst hergestellte Die Anwendung des Sachleistungsprinzips bedeutet Kontakt zwischen den Menschen auf der Flucht und den nicht nur einen höheren Verwaltungsaufwand, sondern Einheimischen hat sich aber bewährt als wirkungsvolle erschwert auch eine selbstständige Lebensführung und Maßnahme zum sozialen Zusammenhalt und zur Will- gesellschaftliche Teilhabe. Stattdessen sollen die Asylsu- kommenskultur. chenden künftig für den persönlichen Bedarf „Sachleis- 4. Negierung des Gender-Aspektes tungen“ beantragen, also für jede Sim-Karte, Briefmar- ke oder Fahrkarte zum Arzt, für jeden Besuch bei einer Für sehr problematisch halte ich die völlige Negie- Beratungsstelle oder Anwalt usw. erst einen begründeten rung des Gender-Aspektes und damit der geschlechts- Antrag bei der Leitung der Erstaufnahmeeinrichtung spezifischen Notlagen bis hin zur sexuellen Gewalt ge- stellen müssen. gen Frauen und Mädchen auf der Flucht bzw. in unseren Erstaufnahmeeinrichtungen. Dieses Regierungsverhalten Im Ergebnis ist absehbar, dass bundesweit der Betrag widerspricht der Istanbul-Konvention. Dabei kennt die je nach politischer Couleur festgesetzt, gekürzt oder ge- Bundesregierung diese Notlagen: Schon 2004 lieferte strichen werden wird. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 12723

(A) 7. Abschiebungen ohne Vorankündigung – de facto und Integration von geflüchteten Menschen zu gestalten. (C) Abschaffung der Härtefallkommissionen Um Fluchtursachen in Herkunftsländern zu bekämpfen, Mit dem Verbot der Ankündigung einer Abschiebung werden die entsprechenden Mittel aufgestockt. Der Bund wird die Arbeit der Härtefallkommissionen de facto ab- beteiligt sich ab 2016 dauerhaft und strukturell an den geschafft. Dabei hat sich das Härtefallkommissionsver- Kosten der Unterbringung und Versorgung von Flücht- fahren trotz erheblicher anfänglicher Bedenken einiger lingen mit einer Pauschale von monatlich 670 Euro pro Bundesländer in den meisten Bundesländern bewährt. Es Asylbewerber für die Dauer des Verfahrens. Dies war ein hat sich herausgestellt, dass das Verfahren in vielen hu- Vorschlag des Regierenden Bürgermeisters von Berlin, manitären Fällen, in denen eine Aufenthaltsbeendigung Michael Müller, der sich in den Verhandlungen durch- als nicht mehr vertretbar erschien, zu einer vernünftigen setzen konnte. Auch beteiligt sich der Bund an der Ver- Lösung führen konnte. sorgung von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen zusätzlich mit 350 Millionen Euro jährlich und stellt un- 8. Beschäftigungsverbot für Personen aus sicheren ter anderem 500 Millionen Euro für den sozialen Woh- Drittstaaten nungsbau und 900 Millionen Euro frei werdende Mittel Ein generelles Arbeitsverbot für AusländerInnen soll aus dem gestoppten Betreuungsgeld für bessere Kin- verhängt werden, wenn sie sich in das Inland begeben derbetreuung bereit. Für ein Sonderprogramm des Bun- haben, um Leistungen nach dem Asylbewerberleistungs- desfreiwilligendienstes in der Flüchtlingsarbeit werden gesetz zu erlangen, aufenthaltsbeendende Maßnahmen 10 000 neue Stellen geschaffen. aus Gründen, die sie selbst zu vertreten haben , nicht Darüber hinaus eröffnet das Asylpaket auch Perspek- vollzogen werden können oder sie Staatsangehörige ei- tiven für AsylbewerberInnen, bei denen ein dauerhafter nes sicheren Herkunftsstaates nach § 29 a des Asylge- Aufenthalt zu erwarten ist, unter anderem durch die Auf- setzes sind und ein nach dem 31. August 2015 gestellter stockung der Mittel für Sprachkurse, die frühe Öffnung Asylantrag abgelehnt wurde. Das geplante gesetzliche der Integrationskurse und Regelungen zur frühzeitigen Arbeitsverbot für Geduldete, die das Abschiebehindernis selbst zu vertreten haben, wird kontraproduktiv wirken. Arbeitsmarktintegration. Außerdem sieht der Gesetzent- für Schwarzarbeit, illegale Beschäftigung und Ausbeu- wurf Erleichterungen im Bauplanungsrecht für Flücht- tungsverhältnisse. lingsunterkünfte vor sowie eine deutliche Verbesserung der Gesundheitsversorgung von AsylbewerberInnen. Aus Artikel 15 Absatz 1 Asyl-Aufnahme-Richtlinie 2013/33/EU ergibt sich, dass spätestens neun Monate Der Gesetzentwurf enthält allerdings eine Reihe von nach der Stellung des Asylantrags ein Arbeitsmarktzu- Regelungen, die nicht auf meine Zustimmung treffen. gang zu gewähren ist. Dies gilt auch für Asylbewerberin- Die SPD‑Bundestagsfraktion hat sich an vielen Stellen (B) (D) nen aus sicheren Herkunftsstaaten, solange das BAMF dafür eingesetzt, dass der ursprüngliche Entwurf an ei- noch nicht über den Antrag entschieden hat. nigen Punkten entschärft werden konnte. Viele Verschär- fungen des Asylrechts konnten wir herausverhandeln. Trotz der genannten kritischen Punkte komme ich Das erkenne ich an. zum Ergebnis, dass ich dem Gesetzentwurf zustimme, da die positiven Punkte überwiegen. Ich werde mich für die Für mich ist klar: Es darf keine Abstriche am Grund- Korrektur der negativen Punkte einsetzen. recht auf Asyl geben. Maßnahmen, von denen bereits bei der Verabschiedung des Gesetzes klar ist, dass sie zu ei- Mechthild Rawert (SPD): Weltweit sind 60 Mil- ner positiven Bewältigung der aktuellen Herausforderun- lionen Menschen auf der Flucht vor Krieg, Terror und gen nicht nur nicht beitragen, sondern finsterste Abschre- Verfolgung, und es kommen viele schutzsuchende Men- ckungs- und Abschottungspolitik sind, lehne ich auf das schen nach Europa, insbesondere auch nach Deutsch- Schärfste ab. Das ist nicht das Deutschland, das ist nicht land. Wir wollen unserer humanitären Verantwortung das Europa, welches ich mir für unsere Kinder und für gerecht werden und möglichst vielen Personen Schutz uns selbst wünsche. Ich befinde mich mit meiner Kritik und Sicherheit bieten. Das stellt den Bund, die Länder auch in bester Gesellschaft: mit dem Rat für Migration, und Kommunen und die gesamte Gesellschaft vor gro- mit den katholischen Bischöfen, Wohlfahrtsverbänden, ße Herausforderungen. Selbstverständlich müssen wir Frauen- und Menschenrechtsorganisationen, der Bun- als langfristige Maßnahmen Fluchtursachen bekämpfen desärztekammer. und Krisenregionen stabilisieren, deutlich mehr Geld in Insbesondere bei den Regelungen zur Gesundheits- die Hand nehmen, um die betroffenen Nachbarländer mit versorgung von Flüchtlingen führt die Blockadehaltung ihren Flüchtlingscamps zu unterstützen. Dazu brauchen der Union nicht nur zu einer Zweiklassen-Gesundheits- wir auch eine gemeinsame Asyl- und Flüchtlingspolitik versorgung, sondern auch noch zu einem Flickentep- der Europäischen Union. Wir sind zudem gefordert, in pich – je nach Bundesland mit unterschiedlichem Zugang der momentanen Situation kurzfristige Lösungen zur zu Gesundheitsleistungen für Flüchtlinge. Schaffung einer nachhaltigen Infrastruktur für Flüchtlin- ge und ihre Integration in unser Land zu finden. Auf dem Die Unterscheidung in Flüchtlinge mit guter Blei- Flüchtlingsgipfel im Bundeskanzleramt am 24. Septem- beperspektive und solche ohne ist problematisch. Und ber wurde ein umfassendes Maßnahmenpaket beschlos- zwar nicht nur vor dem Hintergrund, dass das Asylrecht sen, das heute im Bundestag verabschiedet wird. eine Individualprüfung vorsieht, sondern auch aus prak- Das Asylpaket ist ein wichtiger Schritt, um die Auf- tischen Erwägungen, dass eine Zweiklassenbehandlung nahme, menschenwürdige Unterbringung, Versorgung von Flüchtlingen zu Konflikten führen wird. 12724 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015

(A) Schattenseiten des Asylverfahrensbeschleunigungsge- einige Bevölkerungsgruppen keinen effektiven Schutz (C) setzes vor gewalttätigen Übergriffen finden könnten. 1. Erweiterung der Liste von sicheren Drittstaaten Die verbreitete gesellschaftliche Diskriminierung von Minderheiten unter Einschluss der Roma wird sowohl in Laut Gesetzesentwurf werden folgende „sichere der Gesetzesbegründung als auch in vielen Stellungnah- Herkunftsländer“ genannt: Albanien, Bosnien und Her- men zum Gesetzentwurf zu Recht problematisiert. zegowina, Ghana, Kosovo, Mazedonien, Montenegro, Senegal und Serbien. Damit werden Albanien, Kosovo Vor dem Kosovokrieg lebten ca. 150 000 Roma, As- und Montenegro erstmals zu sicheren Herkunftsstaaten hkali und sogenannte ÄgypterInnen im Kosovo. Heute erklärt. Diese Erweiterung geht über den geltenden Koa- sind es nur noch ca. 50 000. Ausgrenzung herrscht auf litionsvertrag hinaus. Das Grundrecht auf Asyl ist jedoch dem Arbeitsmarkt, beim Zugang zur Gesundheitsversor- ein individuelles Recht, das zwingend die Einzelfall- gung, zur Schulbildung und zum Wohnraum. Von zent- prüfung vorsieht. Das Konzept der sicheren Drittsaaten raler Bedeutung ist die Ausgrenzung der Roma bei der entkernt dieses Grundrecht. Das jeweilige Asylverfahren medizinischen Versorgung. Das BAMF sowie die Ge- wird in der Praxis lediglich um 10 Minuten beschleunigt. richte haben die meisten positiven Bescheide bezüglich Auch aus den erst in diesem Jahr als „sicher“ deklarier- Abschiebeschutz aufgrund gravierender Erkrankungen ten Drittstaaten ist die Anzahl der Erstanträge dieses Jahr der Flüchtlinge und deren Nichtbehandlung im Kosovo weiter gestiegen (aus Serbien bis 30. September 2015: gefällt. 14 390 im Vergleich zu 2014: 17 172; Mazedonien bis 30. September 2015: 7 385 im Vergleich zu 2014: 5 614). In der Schweiz erhielten nach Angaben von Pro Asyl Im europäischen Vergleich wurden nach Angaben von 2014 rund 37 Prozent der serbischen und 40 Prozent der Pro Asyl 2014 in Frankreich 20 Prozent und in Belgien kosovarischen AntragstellerInnen einen Schutzstatus. 18 Prozent der Schutzsuchenden aus dem „sicheren Her- Finnland gewährte 43 Prozent der Flüchtlinge aus dem kunftsland“ Bosnien und Herzegowina anerkannt. Kosovo Schutz. Problematisch ist zudem, dass trotz der Verfolgung Situation in Albanien aufgrund der sexuellen Orientierung weiter an der ge- Der Deutsche Anwaltsverein mahnt an, dass ge- setzlichen Einstufung von Ghana und Senegal als „si- schlechtsspezifische Verfolgung, insbesondere sexua- cheren Herkunftsstaaten“ festgehalten wird, obwohl dort lisierte Gewalt, seitens der Bundesregierung nicht hin- einvernehmliche homosexuellen Beziehungen unter Er- reichend untersucht wurde. Bezüglich Albanien wird wachsenen unter Strafe stehen. ausdrücklich von diskriminierenden Bräuchen für junge Situation im Kosovo Mädchen berichtet, allerdings eine staatliche Billigung (B) nicht erkannt. Darauf kommt es aber gemäß Artikel 6 (D) Rund 700 deutsche Soldaten leisten derzeit Dienst im der Qualifikationsrichtlinie der EU (RL/EU 2011/95) Kosovo im Rahmen des KVOR‑Einsatzes mit dem Auf- nicht an. Bezüglich Kosovo und Montenegro wurde ge- trag, ein sicheres Umfeld im Kosovo aufzubauen und zu schlechtsspezifische Verfolgung gar nicht untersucht. erhalten, einschließlich öffentlicher Sicherheit und Ord- nung. Es ist schwer vermittelbar, dass ein Land, in dem In Großbritannien wurden nach Angaben von Pro Asyl die Bundeswehr die öffentliche Sicherheit und Ordnung im Jahr 2014 18 Prozent der albanischen Asylsuchenden gewährleisten muss, als sicherer Drittstaat eingestuft als schutzbedürftig eingestuft. werden kann. Situation in Montenegro Am Beispiel Kosovo lässt sich aber zugleich auch Nach Angaben des LSVD wurde beispielsweise in zeigen, wie ohne eine Einstufung als „sicherer Dritt- Montenegro das Zentrum für Lesben, Schwule, Bise- staat“ eine Lösung erreicht werden kann. Nachdem An- xuelle, Transgender und Intersexuelle in der Hauptstadt fang 2015 sehr viele Asylanträge von KosovarInnen ge- Podgorica laut Amnesty International allein im vergan- stellt wurden, hatten sich mehrere Bundesländer und der genen Jahr 26‑mal angegriffen. Bund verständigt, die Anträge beschleunigt zu bearbei- ten und vor Ort Aufklärungsarbeit zu leisten. Innerhalb 2. Flickenteppich statt Gesundheitskarte von vier Wochen wurden über 50 Prozent der Anträge Eine flächendeckende Einführung der elektronischen entschieden. Die Maßnahmen zeigten schnell Wirkung – Gesundheitskarte ist aufgrund der Blockadehaltung von denn die Zahlen der Erstanträge gingen schnell zurück. CDU/CSU nicht gelungen. Auch die Beschränkung der Im Januar stand der Kosovo noch auf Platz zwei der Her- Behandlungen auf „akute Erkrankungen und Schmerz- kunftsländer, im September nur noch an neunter Stelle. zustände“ konnte nicht gelockert werden. Das bedeu- Das Oberste Verwaltungsgericht in Frankreich hat in tet nicht nur eine Zweiklassen-Gesundheitsversorgung, einem Urteil vom 10. Oktober 2014 entschieden, dass sondern führt auch noch zu einem je nach Bundesland Kosovo von der Liste der sicheren Herkunftsstaaten in unterschiedlichen Zugang zu Gesundheitsleistungen für Frankreich zu streichen ist. In dem Urteil stellt das Ge- Flüchtlinge. In der Union haben sich diejenigen durchge- richt fest, dass ein Staat, dessen Institutionen noch in setzt, die glauben, der Zugang zu unserem Gesundheits- weiten Teilen von der Unterstützung internationaler Or- wesen sei das „falsche Signal“. Sie glauben völlig an der ganisationen und Missionen abhängig seien, nicht die Realität vorbei, dass Menschen Tausende Kilometer und Voraussetzungen erfülle. Insbesondere führe die unsiche- Todesängste wegen unseres Gesundheitssystems auf sich re politische und soziale Situation im Kosovo dazu, dass nehmen. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 12725

(A) Derzeit ist das Verfahren äußerst kompliziert: Kran- 3. Verbleib von Menschen aus so genannten sicheren (C) ke Flüchtlinge müssen bei jeder Erkrankung erst zum Drittstaaten bis zur Abschiebung in Erstaufnahmeein- Sozial­amt, wo – nach zumeist langen Wartezeiten – me- richtungen dizinische Laien über jeden Arztbesuch entscheiden. Für Asylsuchende aus sogenannten „sicheren Her- Diese entscheiden, ob eine akute Erkrankung, ob ein kunftsländern“ wird eine unbegrenzte Unterbringung Schmerzzustand vorliegt, der ärztlich behandelt werden in Erstaufnahmeeinrichtungen angeordnet (bis zur Ent- darf. Erst nach Erhalt des sogenannten „Grünen Schein“ scheidung über Ausreise oder Abschiebung). Generell ist ein Arztbesuch möglich. Die ÄrztInnen schicken dem soll die Verpflichtung, in Erstaufnahmeeinrichtungen zu Amt die Rechnung, dieses bezahlt diese – nach Prüfung – wohnen, auf sechs Monate verlängert werden können. direkt. So wird in den ohnehin oftmals überforderten So- Damit geht eine Verlängerung der Residenzpflicht und zialämtern ein großer bürokratischer Aufwand geschaf- des Arbeitsverbots einher. Das UNHCR hält die Ausdeh- fen. Eine bundesweite Regelung hätte alle Kommunen nung der Verpflichtung, in einer Erstaufnahmeeinrich- entlastet. Die jetzt getroffene Regelung führt zu einem tung zu wohnen, auf 6 Monate für problematisch. Flickenteppich in Deutschland. Eine Einigung war ledig- lich hinsichtlich der Ermächtigung für die Bundesländer In der Realität sind die Unterkünfte in den Erstauf- möglich. Diese können die gesetzlichen Krankenkassen nahmeeinrichtungen überfüllt, häufig nicht winterfest, verpflichten, gegen Kostenerstattung die Krankenbe- und die Belegung auf engstem Raum ist auf Dauer nicht handlungen zu übernehmen. Der AOK‑Bundesverband zumutbar. Die Unterbringungssituation in –Traglufthal- macht in seiner Stellungnahme deutlich, dass eine Leis- len, Industriegebäuden, Zeltstädten – befördert die psy- tungsgewährung ohne Gesundheitskarte zu zusätzlichem chische Belastung, soziale Ausgrenzung und Stigmati- Bürokratieaufwand führt, den die Krankenkassen nur sierung der Menschen. Darunter leiden insbesondere unter Einsatz erheblicher personeller und sächlicher Res- Familien mit Kindern und alleinstehende Frauen. Gerade sourcen bewältigen können. Eine Leistungsgewährung aus Frauenperspektive habe ich große Bedenken gegen über von der Krankenkasse auszugebende Behandlungs- diese Regelung. scheine in Papierform wäre angesichts der aktuellen Erst im letzten Jahr wurden für die Gruppe der Asyl- E‑Health-Gesetzgebung ein Rückfall in die Steinzeit, bewerberInnen im Rahmen des Rechtsstellungsverbesse- mahnt der AOK‑Bundesverband an. rungsgesetzes wesentliche Erleichterungen geschaffen, die jetzt wieder abgeschafft werden. Eine elektronische Gesundheitskarte ist sowohl in Stadt- als auch Flächenstaaten möglich: Hamburg und Ein Zwei lassen ystem bei der Aufnahme von Asyl- Bremen machen es uns bereits seit Langem vor, Nord- suchenden darf es nicht geben. Es ist diskriminierend (B) rhein-Westfalen wird es uns ab Anfang 2016 zeigen. Vom und mit rechtsstaatlichenk s Grundsätzen nicht vereinbar – (D) Einsatz der elektronischen Gesundheitskarte (eGK) wür- denn ob ein Asylantrag berechtigt ist oder nicht, steht erst den hingegen alle Beteiligten profitieren: Flüchtlinge, am Ende eines Asylverfahrens fest und darf nicht vor- ÄrztInnen und Kommunen. Zudem kämen die Synergie- weggenommen werden. effekte besser zum Tragen, wenn der Einsatz der Gesund- Die Arbeiterwohlfahrt befürchtet zudem, dass durch heitskarte bundesweit erfolgen würde. die drei geplanten großen Verteilzentren für Flüchtlinge Dem Entwurf zufolge soll die elektronische Gesund- die Ressentiments in der Bevölkerung deutlich ansteigen heitskarte eine Angabe über den besonderen Status des könnten (geplant sind die Verteilzentren in Selchow am Karteninhabers und damit über das begrenzte Leis- Flughafen BER, Lüneburger Heide und bei Heidelberg). tungsspektrum nach den §§ 4 und 6 des Asylbewerber- Dieses einerseits, weil die geplante große Anzahl von leistungsgesetzes enthalten. Dies dürfte die Aufrüstung Menschen in Unterkünften für die einheimische Bevöl- der EDV‑Systeme, sowohl bei den Kassen als auch bei kerung beängstigend sein könnte und es rechtsgerichte- den Vertragsärzten und -psychotherapeuten, mit den ten Gruppen einfacher macht, Ängste zu schüren, und an- entsprechenden Kosten erforderlich machen. Des Weite- dererseits, da Regionen für die Großunterkünfte gewählt ren ist den Ärzten eine Prüfung, ob eine Leistung dem wurden, die nur schwierig den Kontakt zur Bevölkerung Versorgungsanspruch nach §§ 4, 6 AsylbLG unterfällt, ermöglichen werden. Gerade dieser bewusst hergestellte nicht zuzumuten. Auch die Bundesärztekammer hält es Kontakt zwischen den Menschen auf der Flucht und den für höchst fragwürdig, den Asylbegehrenden einen nur Einheimischen hat sich aber bewährt als wirkungsvolle beschränkten Leistungsanspruch nach Asylbewerberleis- Maßnahme zum sozialen Zusammenhalt und zur Will- tungsgesetz zu gewähren. kommenskultur. Auch gemäß der UN‑Kinderrechtskonvention müssen 4. Negierung des Gender-Aspektes alle Kinder (also minderjährige Flüchtlinge bis 18 Jahre), Für sehr problematisch halte ich die völlige Negie- die sich bei uns in Deutschland aufhalten, mittels Kran- rung des Gender-Aspektes und damit der geschlechts- kenkassenkarte vollen Zugang zur Gesundheitsversor- spezifischen Notlagen bis hin zur sexuellen Gewalt ge- gung gemäß allen Büchern des SGB erhalten, und zwar gen Frauen und Mädchen auf der Flucht bzw. in unseren unabhängig von der Asylgewährung und vom Stand ihres Erstaufnahmeeinrichtungen. Dieses Regierungsverhalten Verfahrens. Dies betrifft insbesondere die derzeit nicht widerspricht der Istanbul-Konvention. Dabei kennt die gewährleistete Versorgung chronisch kranker und behin- Bundesregierung diese Notlagen: Schon 2004 lieferte derter Flüchtlingskinder sowie die Versorgung von Kin- eine Studie des Familienministeriums zu „Lebenssitua- dern mit psychischen Störungen und Traumata. tion, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutsch- 12726 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015

(A) land“ Hinweise: 79 Prozent der stichprobenartig befrag- Mit dem Verbot der Ankündigung einer Abschiebung (C) ten weiblichen Flüchtlinge gaben an, in Deutschland wird die Arbeit der Härtefallkommissionen de facto ab- psychischer Gewalt ausgesetzt zu sein, 51 Prozent spra- geschafft. Dabei hat sich das Härtefallkommissionsver- chen von körperlicher, 25 Prozent von sexueller Gewalt. fahren trotz erheblicher anfänglicher Bedenken einiger Gerade hat das Deutsche Institut für Menschenrechte die Bundesländer in den meisten Bundesländern bewährt. Es weitere Studie „Effektiver Schutz vor geschlechtsspezi- hat sich herausgestellt, dass das Verfahren in vielen hu- fischer Gewalt – auch in Flüchtlingsunterkünften“ veröf- manitären Fällen, in denen eine Aufenthaltsbeendigung fentlicht. Hier wird der mangelhafte Schutz von Frauen als nicht mehr vertretbar erschien, zu einer vernünftigen angeprangert, die nach Deutschland geflohen sind. Lösung führen konnte. 5. Einschränkung der Grundleistungen nach dem 8. Beschäftigungsverbot für Personen aus sicheren Asylbewerberleistungsgesetz Drittstaaten Das Gesetz sieht Leistungsreduzierungen für Men- Ein generelles Arbeitsverbot für AusländerInnen soll schen vor, über deren Asylrecht oder Ausreisepflicht verhängt werden, wenn sie sich in das Inland begeben noch nicht entschieden wurde, außerdem für vollziehbar haben, um Leistungen nach dem Asylbewerberleistungs- ausreisepflichtige AusländerInnen, denen keine Duldung gesetz zu erlangen, aufenthaltsbeendende Maßnahmen gewährt wurde oder deren Duldung abgelaufen ist. aus Gründen, die sie selbst zu vertreten haben, nicht vollzogen werden können oder sie Staatsangehörige ei- Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat in seiner nes sicheren Herkunftsstaates nach § 29 a des Asylge- Entscheidung vom Juli 2012 klargestellt, dass das Men- setzes sind und ein nach dem 31. August 2015 gestellter schenrecht auf Sicherung eines menschenwürdigen Exis- Asylantrag abgelehnt wurde. Das geplante gesetzliche tenzminimums allen Menschen unabhängig von ihrem Arbeitsverbot für Geduldete, die das Abschiebehindernis Aufenthaltsstatus zukommt. Die Höhe existenzsichern- selbst zu vertreten haben, wird kontraproduktiv wirken der Leistungen darf sich ausschließlich am Bedarf, nicht und fördert Schwarzarbeit, illegale Beschäftigung und aber an migrationspolitischen Überlegungen orientieren. Ausbeutungsverhältnisse. „Die in Art. 1 Abs. 1 GG garantierte Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren“ hat das Bun- Aus Artikel 15 Absatz 1 Asyl-Aufnahme-Richtlinie desverfassungsgericht in seiner Entscheidung von 2012 2013/33/EU ergibt sich, dass spätestens neun Monate ausdrücklich festgestellt. nach der Stellung des Asylantrags ein Arbeitsmarktzu- gang zu gewähren ist. Dies gilt auch für AsylbewerberIn- 6. Einführung von Sachleistungen in den Erstaufnah- nen aus sicheren Herkunftsstaaten, solange das BAMF meeinrichtungen (B) noch nicht über den Antrag entschieden hat. (D) Gemäß § 3 Absatz 1 und 2 AsylbLG sollen die Be- Aus diesen Gründen werde ich mit Enthaltung abstim- hörden den Asylsuchenden künftig jegliches Bargeld, men. d.h. das „Taschengeld“ zur Deckung ihres soziokulturel- len Teilhabebedarfs an der Gesellschaft und zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen – Telefon, Fahrgeld, Christoph Strässer (SPD): In einigen wesentlichen Anwalt, Kommunikation, Bildung, Kultur usw. – unter Punkten des Gesetzentwurfs sehe ich, auch aus men- Hinweis auf die Substitution dieses Bedarfs durch Sach- schenrechtspolitischer Sicht, deutliche Verbesserungen: leistungen in den EAEs und GUs dauerhaft teilweise Um Fluchtursachen in Herkunftsländern zu bekämpfen, oder vollständig streichen können. werden die entsprechenden Mittel aufgestockt. Um die Kommunen und Länder zu entlasten, wird ab 2016 eine Die neue Sollvorschrift für die Rückkehr zum Sach- Pauschale von monatlich 670 Euro pro Asylsuchendem leistungsprinzip ist ein großer Schritt zurück in die für die Dauer des Verfahrens und im Falle einer Ableh- 90er‑Jahre. Die mühsam errungenen Fortschritte im letz- nung einen Monat darüber hinaus eingeführt. Zusätzlich ten Jahr werden damit zunichte gemacht. beteiligt sich der Bund an der Versorgung von unbeglei- Die Anwendung des Sachleistungsprinzips bedeutet teten minderjährigen Flüchtlingen mit zusätzlichen Mit- nicht nur einen höheren Verwaltungsaufwand, sondern teln in der Höhe von 350 Millionen Euro. erschwert auch eine selbstständige Lebensführung und Andere Neuregelungen sind für mich, ebenfalls aus gesellschaftliche Teilhabe. Stattdessen sollen die Asylsu- menschenrechtspolitischer Sicht, aber auch aus dem An- chenden künftig für den persönlichen Bedarf „Sachleis- spruch heraus, dass Flucht nach Deutschland möglich tungen“ beantragen, also für jede Sim Karte, Briefmar- sein muss, nicht zustimmungsfähig. Die Ausweitung ke oder Fahrkarte zum Arzt, für jeden Besuch bei einer der sicheren Herkunftsstaaten ist nicht sachgerecht und Beratungsstelle oder Anwalt usw. erst einen‐ begründeten widerspricht dem Prinzip des deutschen Asylrechts auf Antrag bei der Leitung der Erstaufnahmeeinrichtung Einzelfallprüfung. Die Abschiebungen ohne Vorankün- stellen müssen. digung sind inhuman und unverhältnismäßig. Die Ein- schränkungen der Arbeit der Härtefallkommission sind Im Ergebnis ist absehbar, dass bundesweit der Betrag ebenfalls unverhältnismäßig. Unbegründete Leistungs- je nach politischer Couleur festgesetzt, gekürzt oder ge- kürzungen und Absenkung der Leistungen für die, die strichen werden wird. keine positive Bleibeperspektive haben, sind inhuman, 7. Abschiebungen ohne Vorankündigung – de facto und darüber hinaus erscheinen sie mir nicht verfassungs- Abschaffung der Härtefallkommissionen konform. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 12727

(A) Da ein Gesetzentwurf, der oben genannte kritische liche Finanzierung benötigen. Dieser wichtigen finanzi- (C) Punkte enthält, für mich nicht zustimmungsfähig ist, ent- ellen Unterstützung, die im Gesetz immerhin enthalten halte ich mich der Stimme. ist, kann und möchte ich keine Absage erteilen. Deshalb habe ich in den namentlichen Einzelabstimmungen so- Beate Walter-Rosenheimer (BÜNDNIS 90/DIE wohl die Erweiterung der sogenannten „sicheren Her- GRÜNEN): Bei der heutigen Abstimmung über das Asyl- kunftsstaaten“, die Leistungskürzungen beziehungsweise verfahrensbeschleunigungsgesetz habe ich mich enthal- die Rückkehr zum Sachleistungsprinzip im Asylbewer- ten. Warum? berleistungsgesetz als auch die Verlängerung der Ver- Die Entscheidung ist mir nicht leichtgefallen, denn bleibsdauer in der Erstaufnahme abgelehnt. Meine aus- viele Kommunen – gerade in Bayern – stehen seit Mona- drückliche Zustimmung konnte ich schließlich nur der ten unter einer enormen finanziellen Belastung. Das hat finanziellen Entlastung für Länder und Kommunen ge- nun auch die Bundesregierung erkannt und möchte mit ben, die Beachtliches leisten und Unterstützung dringend dem Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz die Voraus- benötigen. setzungen schaffen, dass sich der Bund dauerhaft, struk- turell und dynamisch an den Kosten der Flüchtlingsauf- Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): nahme beteiligt. Der Zustrom von Flüchtlingen und Asylbewerbern zeigt, dass Kriege auch außerhalb von Europa unmittelbaren Das ist das Gute am Gesetzentwurf der Bundesre- Einfluss auf uns in Deutschland haben. Wir können das gierung – und das will ich ganz deutlich anerkennen. In nicht mehr verdrängen. Darum wäre es am sinnvollsten, der aktuellen Situation ist zügiges und wohlüberlegtes die Fluchtursachen, nämlich die Kriege und Bürgerkrie- Handeln wichtiger denn je. Der Winter steht vor der Tür, ge im Nahen Osten oder in Afrika, zu befrieden. So weit Menschen in Not brauchen ein Dach über dem Kopf und ist die Weltgemeinschaft leider noch nicht. Gerade das möglichst schnelle Teilhabe an Gesellschaft, Bildung Verhalten im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen zeigt, und Arbeitsmarkt. All das kostet Geld. An dieser gesamt- allen Sonntagsreden zum 70‑jährigen Bestehen der Ver- gesellschaftlichen Aufgabe wird sich der Bund nun ange- einten Nationen zum Trotz, dass die Welt noch nicht mit messen beteiligen. einer Stimme spricht. Allerdings enthält das Gesetzespaket zahlreiche Deutschland hat eine historische Pflicht nach dem asylrechtliche Verschärfungen, die mit einer menschen- zweiten Weltkrieg wahrgenommen und ein sinnvolles rechtsorientierten Flüchtlingspolitik nicht in Einklang zu Asylrecht als Grundrecht in die Verfassung aufgenom- bringen sind. Dazu zählen insbesondere die verlängerte men. Denn gerade die Geschichte hat uns in Deutsch- Verpflichtung von Asylsuchenden zum Verbleib in Erst- land sehr deutlich gezeigt, dass Verfolgte Schutzräume (B) aufnahmeeinrichtungen, Anspruchseinschränkungen im brauchen. Viele Menschen kommen zu uns, weil das (D) Asylbewerberleistungsgesetz und die Ausweitung der Leben in ihrer Heimat unmöglich geworden ist. Sie su- Liste angeblich „sicherer Herkunftsstaaten“. chen Schutz und wir haben ihnen zu helfen – nicht nur nach dem Grundgesetz, sondern vor allem auch als mit- Keine dieser vorgesehenen Regelungen entlastet das fühlende Menschen. In den letzten Monaten ist die Zahl Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) oder der Schutzsuchenden sprunghaft angestiegen – die Grün- trägt zur beschleunigten Bearbeitung von Asylanträgen de und Ursachen kennen wir dagegen schon seit vielen bei. Die Reduzierung der weiterhin viel zu langen Be- Jahren. Viel früher hätte die Bundesregierung sich darauf arbeitungszeiten – von oftmals mehreren Jahren – sind vorbereiten können und müssen. Jahrelang hat sie zuge- jedoch der Dreh- und Angelpunkt auch für eine wirksame schaut, wie die Situation in Italien und Griechenland im- Entlastung der Länder und Kommunen. mer unerträglicher wurde. Unternommen hat sie dagegen Das Gesetz beschleunigt also kein Verfahren, es ver- nichts. langsamt. Das muss man ganz klar so sagen. Die Bundesregierung verweigert sich weiter prakti- Und ich sage auch: Es widerspricht meinem Men- kablen Regelungen für eine legale Zuwanderung. Damit schenbild und meiner Überzeugung als grüne Abge- bleibt den vielen Flüchtenden keine andere Möglich- ordnete, dass Menschen über Monate in engen Erstauf- keit, als sich eigenständig und ohne jede Kontrolle und nahmeeinrichtungen zusammengepfercht sein sollen, Lenkungsmöglichkeit auf den Weg zu uns zu machen. wo Gewalt und Konflikte viel schneller entstehen und Deswegen sind wir jetzt in dieser chaotischen Situati- Menschen nicht zur Ruhe kommen, die genau das am on und haben damit Länder, Kreise und Kommunen an allermeisten brauchen. Zudem steht jetzt der Winter vor die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit gebracht. Weil die der Tür. Ich will – und dafür stehe ich ein – dass wir Bundesregierung jahrelang die Probleme ignoriert hat, ist Menschen, die vor Gewalt, Krieg, Hunger und Men- sie jetzt gezwungen, im Eilverfahren Lösungen zu erar- schenrechtsverletzungen fliehen, ein positives Ankom- beiten. men in unserem Land ermöglichen. Ich unterstütze kein Das heutige Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz Gesetzespaket, das widersinnige Integrationshemmnisse wird sehr viele Probleme nicht lösen können. In dieser aufbaut und Menschen in gute und schlechte Flüchtlinge Eile und angesichts der akuten Schwierigkeiten wird es unterscheidet. keine grundlegende und langfristig tragfähige Lösung Deshalb kann ich ausdrücklich nicht zustimmen. Ich sein. Wir werden mit sehr großer Wahrscheinlichkeit möchte das Gesetzespaket aber auch nicht vollständig schon in kurzer Zeit über weitere Maßnahmen sprechen. ablehnen, da die Kommunen jetzt schnelle und verläss- Trotz all dieser Punkte müssen wir jetzt etwas tun. Wir 12728 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015

(A) haben – weil es die Bundesregierung so eklatant ver- Eine Enthaltung ist keine neutrale Position, sondern (C) säumt hat – jetzt keine Zeit, um gründlich und in Ruhe sie heißt, dass man zu einer bestimmten Frage keine Hal- ein Einwanderungsgesetz für die geordnete Zuwande- tung hat. Ich habe aber eine Haltung zu diesem Thema, rung oder eine Neuordnung der Finanzbeziehungen zwi- und die ist eindeutig: Wir dürfen die handelnden Men- schen Bund, Ländern und Kommunen anzugehen. schen vor Ort, von der Zivilgesellschaft und in den Ver- waltungen, nicht mehr alleinlassen. Darum werde ich So, wie es jetzt in Kreisen und Kommunen aussieht, dem Kompromiss, auf den sich auch die grün mitregier- kann es nicht weitergehen. Wir können nicht dauerhaft ten Länder geeinigt haben, zustimmen. auf Freiwilligenhilfe angewiesen sein. Wir müssen jetzt Unterkünfte schaffen, in denen Menschen auch im Win- ter vernünftig leben können. Wir müssen Kreise und Kommunen finanziell unterstützen, damit die Hilfe für Anlage 7 Flüchtlinge nicht zulasten von anderen wichtigen kom- Erklärung munalen Aufgaben geht. des Abgeordneten Michael Grosse-Brömer (CDU/ Das Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz ist ein CSU) als Berichterstatter zu der Beschlussempfeh- Kompromiss, der zwischen Bund und Ländern ausgehan- lung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grund- delt wurde. Es liegt in der Natur eines Kompromisses, gesetzes (Vermittlungsausschuss) zu dem Dritten dass er Teile enthält, die mir nicht gefallen und die ich ei- Gesetz zur Änderung des Regionalisierungsgeset- gentlich ablehne. Die Ausweitung der Liste sicherer Her- zes (Zusatztagesordnungspunkt 6) kunftsstaaten ist Symbolpolitik, welche Asylverfahren nur minimal verkürzen wird. Eine Entlastung der Ämter Als Berichterstatter des Bundestages zu den abschlie- wird damit kaum erreicht, sie werden weiter am Limit ar- ßenden Verhandlungen des Vermittlungsausschusses am beiten müssen. Auch die Verlängerung der Verweildauer 14. Oktober 2015 mache ich darauf aufmerksam, dass die in einer Erstaufnahmeeinrichtung wird kaum etwas brin- Bundesregierung eine Protokollerklärung abgegeben hat. gen, weil dahinter die Hoffnung steckt, die Flucht nach Diese gebe ich nachfolgend zur Kenntnis: Deutschland unattraktiver zu machen. Wer viel Geld be- zahlt, Haus und Hof verlässt und sich teilweise zu Fuß Protokollerklärung der Bundesregierung zum Dritten Tausende Kilometer auf den Weg macht, für den ist es Gesetz zur Änderung des Regionalisierungsgesetzes unbedeutend, ob er drei oder sechs Monate in solch ei- Die Bundesregierung gibt aus Anlass der Beschluss- ner Einrichtung verbringen muss. Die Verlängerung der fassung des Vermittlungsausschusses zum Dritten Gesetz Verweildauer wird die Probleme eher verschärfen, weil zur Änderung des Regionalisierungsgesetzes folgende Menschen aus unterschiedlichen Kulturen und mit völ- (B) Zusagen: (D) lig verschiedenen Perspektiven auf engstem Raum für lange Zeit miteinander auskommen müssen. Auch der 1. zu Nummer 2 (Artikel 2 Nummer 1, § 5 Absatz 4 Schwenk von Geld auf Sachleistungen wird die Arbeit RegG) der Helfer vor Ort vor allem erschweren. Es ist einfacher Die Bundesregierung wird unverzüglich die Länder und günstiger, Geld auszuzahlen, als bei einem individu- einladen, um die Rechtsverordnung gemein-sam zu ellen Bedürfnis auf die Unterstützung von Helfern ange- erarbeiten. Grundlage für die Gespräche zwischen wiesen zu sein. All diese Aspekte finde ich fragwürdig, Bund und Ländern ist der Beschluss der Bespre- weil sie Probleme nicht lösen können. Dennoch sind sie chung der Bundeskanzlerin mit den Regierungsche- Teil des Kompromisses. Jeder der heute über das Asyl- finnen und Regierungschefs der Länder zur Asyl- verfahrensbeschleunigungsgesetz abstimmt, weiß, dass und Flüchtlingspolitik am 24. September 2015. sich daran nichts mehr ändern wird. Es besteht Einigkeit, dass diese Rechtsverordnung ab dem 01. Januar 2016 gelten soll. Die Landesregierungen stehen in der Pflicht, ihre Kreise und Kommunen mit den dringend benötigten fi- 2. zu Nummer 2 (Artikel 2 Nummer 1, § 5 Absatz 5 nanziellen Mitteln des Bundes zu unterstützen. Sie kön- RegG) nen sich nicht einfach nur die Teile des Kompromisses Die Bundesregierung verpflichtet sich, im Rahmen auswählen, die ihnen gefallen. Stimmen sie dem Kom- des in Vorbereitung befindlichen Gesetzentwurfs promiss nicht zu, gibt es auch kein Geld. Es gibt nur die- zur Eisenbahnregulierung sicherzustellen, dass das sen Kompromiss oder gar nichts. So einfach und bitter Volumen der jährlichen länderspezifischen Steige- ist die politische Realität, der ich mich nicht verweigern rung der Infrastrukturentgelte den Anstieg nach § 5 kann. Die grün getragene Landesregierung in Schles- Absatz 3 RegG nicht übersteigt. wig-Holstein hat sich auf diesen Kompromiss mit all sei- nen Zumutungen geeinigt, weil sie die Not vor Ort kennt. Deswegen stehe auch ich dazu. Anlage 8 Würde ich den Kompromiss ablehnen, würde ich Zu Protokoll gegebene Reden Kreise, Kommunen und die dort helfende Zivilgesell- schaft im bürokratischen Regen stehen lassen. Das ist für zur Beratung des von der Bundesregierung einge- mich nicht zu rechtfertigen, weil wir das Staatsversagen brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung auf den höchsten Ebenen weiter auf die Zivilgesellschaft der EU-Mobilitäts-Richtlinie (Tagesordnungs- abwälzen würden. punkt 10) Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 12729

(A) Matthäus Strebl (CDU/CSU): Im Koalitionsver- damit, dass sich jüngere Beschäftigte mit ihrer Altersvor- (C) trag haben wir vereinbart, dass „wir die betriebliche Al- sorge verstärkt auseinandersetzen. tersvorsorge stärken“ werden. Mit der Umsetzung der Bei den Kleinstanwartschaften erfolgt eine Eins-zu- EU-Mobilitätsrichtlinie in deutsches Recht machen wir Eins-Umsetzung der Richtlinie. Nach heutiger Gesetzes- damit den Anfang. Im Gegensatz zu früheren Jahren ist lage bedarf der Arbeitgeber nicht der Zustimmung des es in der heutigen Arbeitswelt selbstverständlich, dass Arbeitnehmers, wenn er Kleinstanwartschaften abfinden Beschäftigte in ihrem Erwerbsleben den Arbeitgeber möchte. Durch die Ergänzung des Betriebsrentengeset- wechseln. Nicht zuletzt durch die Globalisierung nimmt zes ändern sich bei grenzüberschreitenden Arbeitgeber- auch der grenzüberschreitende Arbeitgeberwechsel stetig wechsel nun die Ansprüche der Beschäftigten, siehe § 3 zu. Das elementare Recht auf Arbeitnehmerfreizügigkeit Absatz 2 Betriebsrentengesetz. Ab Inkrafttreten der Än- innerhalb der EU wird durch die neuen Regelungen der derungen im Jahre 2018 bedarf es nun der Zustimmung betrieblichen Altersvorsorge für die Beschäftigten geför- des Arbeitnehmers, wenn der Arbeitgeber Anwartschaf- dert. Wir wollen gute Bedingungen für die Beschäftigten ten abfinden will. Um jedoch auch die Interessen des Ar- in Deutschland nicht nur für die Zeit ihres Erwerbslebens, beitgebers nicht zu vernachlässigen und unnötigen jah- sondern auch für die Zeit danach schaffen. Dazu gehört relangen Verwaltungsaufwand zu vermeiden, muss der auch, dass jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer Arbeitnehmer eine Frist von drei Monaten wahren. wissen sollte, dass die betriebliche und private Vorsorge wichtige Säulen der Alterssicherung sind. Natürlich wollen wir auch verhindern, dass für die Ar- Die wichtigsten Bestandteile bei der deutschen Umset- beitgeber, besonders die kleinen und mittelständischen zung der EU-Richtlinie sind: Die Herabsetzung des Un- Unternehmen, überflüssige Bürokratie und Ausgaben verfallbarkeitsalters des Beschäftigten bei Anwartschaf- entstehen. Deshalb haben wir uns für eine Umsetzungs- ten von 26 auf 21 Jahre. Die Unverfallbarkeitsfrist, ab frist bis 2018 entschieden. Bundesministerin Andrea der Betriebsrenten bei einem Arbeitgeberwechsel nicht Nahles hat es bereits im Juli dieses Jahres umschrieben: mehr verfallen, wird von fünf auf drei Jahre abgesenkt. Es handelt sich um eine schonende Umsetzung. Die- „Ruhende“ Betriebsanwartschaften von Beschäftigten, se schonende Umsetzung ermöglicht den Unternehmen die nicht mehr bei dem Arbeitgeber tätig sind, müssen ausreichend Zeit, ihre Organisation an die neuen gesetz- genauso wie aktive Anwartschaften behandelt werden. lichen Umstellungen anzupassen. Der Auskunftsanspruch der Arbeitnehmerinnen und Ar- Die Kernaussage lautet: Mit der Umsetzung der beitnehmer wird gestärkt. EU-Mobilitäts-Richtlinie schaffen wir bessere Bedin- Diese Erneuerungen gelten sowohl für Beschäftigte, gungen für die Alterssicherung von Beschäftigten. Ich die innerhalb Deutschlands ihren Arbeitgeber wechseln, bin zuversichtlich, dass weitere Schritte zur Stärkung der (B) (D) als auch für den EU-grenzüberschreitenden Arbeitge- betrieblichen Altersvorsorge folgen werden. berwechsel. Es sollte für einen Beschäftigten, der von Bayern nach Baden-Württemberg den Arbeitgeber wech- Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): Die be- selt, nichts anderes gelten als bei einem Wechsel von triebliche Altersvorsorge hat sich traditionell seit ihrer Deutschland nach Österreich. Begründung im vorletzten Jahrhundert auf freiwilliges Engagement der Arbeitgeber gestützt. Im Rahmen der Im Ergebnis geht der deutsche Gesetzentwurf über die Rentenreform 2001 erhielt die BAV zusammen mit der Eins-zu-Eins-Umsetzung der Richtlinie hinaus. Damit privaten Altersvorsorge eine wichtige Funktion: Die auf nutzen wir bewusst die Spielräume einer Richtlinie. kapitalgedeckter Finanzierung beruhenden Systeme soll- Lassen Sie mich auf einige Detailfragen eingehen. ten als zweite und dritte Säule der Alterssicherung den Der Auskunftsanspruch: Jeder Beschäftigte sollte wis- demografisch bedingten Rückgang des Leistungsniveaus sen, was seine Anwartschaft beinhaltet. Transparenz und in der umlagefinanzierten gesetzlichen Rentenversiche- eine gewisse Planungssicherheit ermöglichen es dem Ar- rung als erster Säule ausgleichen. beitnehmer, seine Altersvorsorge auf mehrere Säulen zu Hierfür wurde der BAV mit der Entgeltumwandlung verteilen. ein Finanzierungsinstrument an die Hand gegeben, das Ich begrüße es, dass der Arbeitnehmer zukünftig kein nun auch die Arbeitnehmer strukturell einbezog. Die „berechtigtes Interesse“ mehr vorweisen muss, um mehr Einführung der Entgeltumwandlung im Jahr 1974 hat die Informationen über seine betriebliche Altersvorsorge zu Akzente in der betrieblichen Altersversorgung verscho- ben. Mit der Einführung des Rechtsanspruchs auf Entgel- erhalten. Damit beseitigen wir ein weiteres Hindernis der tumwandlung 2001 wurde die BAV weiter gestärkt. Laut Verbreitung der betrieblichen Altersvorsorge. Der Ar- Alterssicherungsbericht 2012 wird die BAV in 28 Pro- beitgeber kann die Auskunft in Textform, im Sinne des zent der Fälle ausschließlich vom Arbeitnehmer finan- § 126 b Bürgerliches Gesetzbuch also auch per E-Mail ziert, während dieses in 44 Prozent der Fälle gemeinsam erfüllen. durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer geschieht. Diese Möglichkeit wird für Erleichterungen in vielen Knapp 60 Prozent aller sozialversicherungspflich- Unternehmen sorgen. tig Beschäftigten verfügen heute über eine aktive Be- Mit der Herabsetzung des Lebensalters für den Erhalt triebsrentenanwartschaft. Nach einer Phase des rapiden der Anwartschaften und der Unverfallbarkeitsfristen ver- Anstiegs unmittelbar nach der Rentenreform 2001 ver- hindern wir, dass zukünftig jüngere Arbeitnehmer ihre langsamt sich das Wachstum allerdings seit 2009. Man erworbenen Anwartschaften verlieren. Auch fördern wir muss genau hinschauen; denn die Zahlen geben nicht die 12730 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015

(A) erheblichen Verbreitungsunterschiede nach Betriebsgrö- die Kapitalrücklagen überdies vollkommen überflüssig (C) ßen, Branchen und Einkommen wieder. Ein deutliches gewesen. Mit einem Antrag in diesem Hause haben wir Gefälle zeigt die Statistik bereits zwischen Großbetrie- vor rund drei Jahren auf die Problematik aufmerksam ge- ben, die eine fast hundertprozentige Durchdringung auf- macht. Es war nicht die leichteste Übung, die Pläne zu weisen, und KMU. Bei Unternehmen mit mindestens verhindern. Denn wir mussten die Mehrheit der EU-Mit- 500 Mitarbeitern liegt der Anteil der Beschäftigten mit gliedstaaten, die keine BAV kennen, für deren Besonder- einer BAV bei über 70 Prozent, bei Unternehmen zwi- heiten sensibilisieren. schen 50 und 200 Beschäftigten immerhin noch bei circa 50 Prozent. Bei kleineren Betrieben sinkt der Anteil kon- Im Ergebnis konnte also Schaden von der BAV ab- tinuierlich ab. gewehrt werden. Mit der Umsetzung der EUMobilitäts-­ Richtlinie wird die BAV für Arbeitnehmer jetzt interes- Zugleich deutet vieles darauf hin, dass gerade bei santer, weil zum Beispiel das Risiko gemindert wird, im geringeren Einkommen die dort eigentlich besonders Falle des Arbeitnehmerwechsels Ansprüche zu verlieren, nötige zusätzliche Absicherung durch BAV und auch ohne dass die Unternehmen überfordert werden. Das al- die private Vorsorge nicht hinreichend ist. Die Statisti- les reicht aber noch nicht aus, um die angestrebte Absi- ken zeigen: Je niedriger das Einkommen, desto geringer cherungsbreite zu erreichen. Weitere Schritte sind – wie die Absicherungsquote. Wenn aber der Ausgleich des dargestellt – erforderlich. sinkenden Niveaus in der GRV durch die zusätzlichen Säulen nicht funktioniert, wäre eine zentrale Prämisse Es gibt auf dem Markt eine Vielzahl guter Ideen, des Rentenkonzeptes nicht erfüllt und dessen politische die sich im Ergebnis alle auch positiv auf die Angebo- Legitimation erschüttert. Erforderlich sind deshalb neue te im Rahmen der BAV auswirken würden. Ich kenne und zielgerichtete Impulse für die BAV jetzt, wie sie auch Forderungskataloge, deren Umsetzung problemlos mit im Koalitionsvertrag vereinbart sind: 15 Milliarden Euro oder mehr zu Buche schlagen wür- den. Die Kunst liegt aber auch in diesem Fall darin, einen Die Alterssicherung steht im demografischen Wan- realistischen Finanzierungsrahmen möglichst effizient del stabiler, wenn sie sich auf mehrere starke Säulen einzusetzen. Mitnahmeeffekte, eine Fokussierung auf stützt. Deswegen werden wir die betriebliche Al- Zielgruppen mit einem bereits überdurchschnittlichen tersvorsorge stärken. Sie muss auch für Mitarbei- Absicherungsgrad oder gar Doppelförderungen gilt es terinnen und Mitarbeiter von Klein- und Mittelbe- zu vermeiden. Wir begrüßen in diesem Zusammenhang trieben selbstverständlich werden. Daher wollen wir die Vergabe eines wissenschaftlichen Gutachtens „Opti- die Voraussetzungen schaffen, damit die Betriebs- mierung der staatlichen Förderung der betrieblichen Al- renten auch in kleinen Unternehmen hohe Verbrei- tersversorgung“ durch das BMF und erhoffen uns durch tung finden. Hierzu werden wir prüfen, inwieweit (B) dieses wertvolle Hinweise, wie wir die gesteckten Ziele (D) mögliche Hemmnisse bei den kleinen und mittleren erreichen können. Unternehmen abgebaut werden können. Wir werden auch im europäischen Kontext darauf achten, dass Im Mittelpunkt der anstehenden Weiterentwicklung die guten Rahmenbedingungen für die betriebliche der BAV muss stehen, dass wieder mehr Arbeitnehmerin- Altersvorsorge erhalten bleiben. nen und Arbeitnehmer zu der Überzeugung gelangen, dass sich die betriebliche Altersvorsorge lohnt. Dafür Unter den beschriebenen Voraussetzungen wäre es ge- wird es nicht reichen, Geld in die Hand zu nehmen. Der radezu fatal gewesen, wenn frühere Pläne der EU-Kom- Anspruch auf Entgeltumwandlung ist ja da. die Arbeit- mission aus dem Jahr 2005 für eine Portabilitätsrichtli- nehmer greifen aber oft nicht zu. nie realisiert worden wären. Über die jetzt gefundenen Regelungen deutlich hinausgehende Erstattungs- und Zugleich müssen auch Gegebenheiten beseitigt wer- Mitnahmemöglichkeiten von Anwartschaften wie die den, die den Unternehmen das Leben schwermachen – Möglichkeit der Übertragung des Kapitals auf ein neu- ausgerechnet denen, die bereit sind, sich besonders für es Rentensystem oder andere Altersversorgungsmodelle, die BAV zu engagieren. Hier wäre eine der Realität näher die Verpflichtung von Unternehmen zur Anpassung von kommende steuerliche Erfassung von Pensionsrückstel- Betriebsrentenanwartschaften ausgeschiedener Arbeit- lungen ein wichtiger Schritt. Die Vorschriften zur Bi- nehmer bis hin zur Anwendung der Richtlinie auch auf lanzierung belasten die Unternehmen gerade in der ak- Altzusagen hatten wegen des großen Umsetzungsauf- tuellen Niedrigzinsphase erheblich. Es ist ein wichtiges wandes zum Erlahmen vieler betrieblicher Initiativen Signal, dass der Bundesminister der Finanzen in dieser geführt. Woche angekündigt hat, dieses Problem in den Griff zu bekommen. Im Zusammenhang mit Überlegungen zum „Weiß- buch Rente“ drohte vor drei Jahren weiteres Ungemach. Diese hatten die Akteure in der BAV aufgeschreckt. Die Ralf Kapschack (SPD): Entwurf eines Gesetzes zur ursprünglich geplante Übertragung der für Banken und Umsetzung der EU-MobilitätsRichtlinie­ – das hört sich Versicherungen sinnvollen Kapitaldeckungsvorschriften nicht unbedingt an wie der Titel eines Krimis. Aber es auf die betriebliche Altersvorsorge hatte nach der Über- ist wie bei manchen guten Büchern: Vom Titel darf man zeugung von Experten die betriebliche Altersvorsorge sich nicht abschrecken lassen. Es geht um ein hochspan- überfordert und zu einer Erosion der zweiten Säule der nendes Thema: um die Altersversorgung von Arbeitneh- Alterssicherung geführt. Unter dem Gesichtspunkt, dass merinnen und Arbeitnehmern. Unternehmen und Pensionssicherungsverein bereits für Auch wenn sich die öffentliche Aufmerksamkeit zur- die Einlagen haften, waren solche Anforderungen an zeit auf andere Themen konzentriert: Die Frage der Al- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 12731

(A) tersversorgung in unserem Land ist eine der Fragen, die die Frau des Firmeninhabers, des Klempnermeisters oder (C) viele Menschen umtreibt. Da erwarten sie Antworten. Tischlers, die die Lohnabrechnungen macht, sich nicht Wir reden heute über die betriebliche Altersversorgung. auch noch um betriebliche Altersversorgung kümmern Sie hat in Deutschland lange Tradition. Bei BASF etwa will und kann. Aber daran darf eine zusätzliche Absiche- ist sie älter als die gesetzliche Rentenversicherung. Eine rung der Beschäftigten im Alter gerade auch im Hand- Stärkung und größere Verbreitung der betrieblichen Al- werk nicht scheitern. tersvorsorge ist für uns eine wünschenswerte Ergänzung Auch für Mittel- und Kleinbetriebe muss betriebliche der gesetzlichen Rentenversicherung. Da müssen wir ei- Altersversorgung selbstverständlich werden. Das hat sich niges tun. Dazu dient in gewissem Umfang auch dieser die Koalition auf die Fahne geschrieben. Wenn kleine Gesetzentwurf. Betriebe damit überfordert sind, muss es nach unserer Wesentlicher Inhalt des vorliegenden Entwurfs ist die Ansicht Branchenlösungen geben, die vor allem kleinen Verringerung der Fristen, die dazu führen, dass Ansprü- Unternehmen Risiko und Organisationsaufwand abneh- che an betriebliche Altersversorgung unverfallbar wer- men. Gleichzeitig können solche Einrichtungen durch den. Das kommt vor allem jungen und mobilen Arbeits- die entsprechende Größe Kostenvorteile beim Vertrieb, kräften zugute. bei Verwaltungskosten und bei möglichen Anlagen rea- lisieren. Das Arbeitsministerium hat dazu ja erste Ideen Zweiter Punkt: die Wahrung von Anwartschaften, entwickelt. wenn der Arbeitgeber gewechselt wird. Dabei sollen die ruhenden Ansprüche ausgeschiedener Arbeitnehmerin- Um Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer stärker zu nen und Arbeitnehmer nicht schlechter behandelt wer- motivieren, eine betriebliche Altersversorgung aufzu- den als die Ansprüche derjenigen, die im Unternehmen bauen, braucht es nach unserer Meinung aber auch an bleiben. Das ist gut so, zeigt aber gleichzeitig, dass es anderer Stelle Veränderungen. Heute muss jedem Be- oft nicht ohne Weiteres möglich ist, den erworbenen An- schäftigten auf Nachfrage ein Angebot zur betrieblichen spruch auf eine betriebliche Altersversorgung mitzuneh- Entgeltumwandlung gemacht werden. Die SPD will, men. Auch da gibt es Handlungsbedarf. dass in Zukunft jedes Unternehmen eine entsprechende Möglichkeit anbietet, wenn die Arbeitnehmerin, der Ar- Dritter Punkt des Gesetzentwurfs ist die Regelung beitnehmer nicht selbst darauf verzichtet. Die Erfahrung über Abfindungen in Nachbarländern zeigt, dass eine solche Opt-out-Rege- Der vierte und letzte Punkt ist die Informationspflicht lung zu einer deutlich besseren Verbreitung führt. Herr der Arbeitgeber oder Versorgungsträger darüber, wie Weiß, sie haben ja am Dienstag erzählt, dass sich die Ansprüche erworbenen werden, wie hoch sie sind und CDU auf ihrem Parteitag 2005 auch für eine Opt-out­ (B) wie sich ein Ende des Arbeitsverhältnisses auswirkt. Die Regelung ausgesprochen hat. Also, dann lassen sie uns (D) meisten Arbeitgeber informieren schon heute, aber offen- doch da einmal etwas machen. Wir helfen gerne dabei, bar nicht alle in ausreichender Form. Deshalb ist es gut, gute Beschlüsse der CDU umzusetzen. dies klar, eindeutig und zum Nutzen der Arbeitnehmerin- Attraktive Altersversorgung wird in Zukunft sicher- nen und Arbeitnehmer zu regeln. lich auch ein Argument sein, um Arbeitskräfte zu binden Die EU-Richtlinie will die Mobilität von Arbeitneh- oder neue zu gewinnen. Deshalb ist das für Unternehmen merinnen und Arbeitnehmern zwischen den Mitglied- nicht nur ein Kostenfaktor. Um betriebliche Altersver- staaten erleichtern. Die Bundesregierung schlägt vor, die sorgung für Beschäftigte lukrativer zu machen, sollten Vorgaben in das Betriebsrentengesetz so zu übernehmen, die Ersparnisse der Arbeitgeber bei der Entgeltumwand- dass sie für alle gelten, auch beim Wechsel des Arbeits- lung eingebaut werden, in erster Linie, um die Leistung platzes im Inland. Das ist richtig so. zu erhöhen. Aber vielleicht kann man ja auch darüber nachdenken, diese Mittel als Kompensation für die heute Die Diskussion bietet die Gelegenheit, sich einmal gültige Regelung zu nutzen, dass auf Betriebsrenten der anzuschauen, wie es aussieht mit der betrieblichen Al- volle Krankenkassenbeitrag zu zahlen ist. tersversorgung in Deutschland. Die betriebliche und ta- rifvertraglich abgesicherte Altersversorgung ist aus Sicht Die Anrechnung auf die Grundsicherung ist eine Hür- der SPD die beste Form der privaten und zugleich kollek- de für Geringverdiener, sich mit betrieblicher Altersver- tiven Altersversorgung. Wir wollen sie stärken und durch sorgung zu beschäftigen. Wenn das Geld bei Rentenein- die Erleichterung der Allgemeinverbindlichkeit auch in tritt weg ist, warum soll man dann sparen? Hier müssen Regionen und Branchen in Deutschland durchsetzen, in Anreize geschaffen werden. Denn gerade Geringverdie- denen sie derzeit aufgrund der geringen Tarifbindung ner brauchen eine zusätzliche Absicherung im Alter. Ge- noch viel zu wenig genutzt wird. rade sie müssen auch Zugang zu betrieblicher Altersver- sorgung haben. Die bisherige staatliche Förderung muss Nach letzten Untersuchungen haben etwa 60 Prozent deshalb auf den Prüfstand. der Beschäftigten Anspruch auf eine betriebliche Al- tersversorgung. Keine Überraschung ist, dass dies nach Es gibt also jede Menge offener Fragen. Ich freue mich Branchen und Betriebsgrößen sehr stark variiert. In Be- auf die Ausschussberatung des Gesetzentwurfs. Das ist trieben mit mehr als 1 000 Beschäftigten gibt es nahezu dann das nächste Kapital dieser spannenden Geschichte. für alle ein Angebot. Im Handwerk aber, mit einer durch- schnittlichen Betriebsgröße von neun Beschäftigten, Matthias W. Birkwald (DIE LINKE): Sieben Millio- profitiert nur jeder Zehnte von betrieblicher Altersver- nen EU-Bürgerinnen und Bürger arbeiteten 2013 nicht in sorgung. Ich kann mir gut vorstellen, dass zum Beispiel ihrem eigenen Land. 1,1 Millionen Beschäftigte pendel- 12732 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015

(A) ten nicht von Köln nach Bonn oder nach Berlin, sondern Herr Weiß, das ist eine bemerkenswerte Einsicht. Ich (C) über Grenzen hinweg. 1,2 Millionen Menschen werden prophezeie Ihnen: von ihrem Chef befristet ins Aus­land entsandt. Europa Weder die richtige Mobilitäts-Richtlinie noch ihr jetzt ist in Bewegung, und das ist gut so. Deshalb begrüßen schon bei Arbeitgebern und Gewerkschaften durchge- wir jeden Schritt, der es diesen Pionierinnen und Pionie- fallenes Sozialpartnermodell Betriebsrente werden die ren in Europa erleichtert, sich frei zu bewegen, in einem betriebliche Altersversorgung so attraktiv machen, dass anderen Land oder auch grenzüberschreitend zu arbeiten die Lücke, die Sie durch die Senkung des Rentenniveaus und damit die Idee Europa Tag ein Tag aus mit Leben zu in die gesetzliche Rente gerissen haben, ausgeglichen erfüllen. werden wird, ganz zu schweigen vom Totalausfall der Bei der Frage von Rentenanwartschaften ist es oft be- Riesterrente. Das Drei-Säulen-Modell ist gescheitert. sonders schwierig, sie über die Grenzen hinweg mitzu- Stärken Sie endlich die gesetzliche Rente, und heben Sie nehmen und am Ende die unterschiedlichen Rentenpunk- das Rentenniveaus wieder auf 53 Prozent an! te, die man mal hier und mal dort gesammelt hat, auch ausgezahlt zu bekommen. Bei Betriebsrenten ist es oft Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ohne noch schwieriger. Ich danke hier vor allem dem Europäi- Frage: Die Betriebsrente ist längst mehr als ein perso- schen Gewerkschaftsbund, der sich dieses Themas schon nalpolitisches Instrument zur Mitarbeiterbindung. Sie vor zehn Jahren angenommen­ hat, in einer Zeit, als man übernimmt immer mehr auch eine sozialpolitische Funk- unter Freizügigkeit noch neoliberal verstand, dass sich tion. Allerdings gilt das nur für einen ausgewählten Per- Konzerne, ohne Steuern zu zahlen, mit Dumpinglöhnen sonenkreis. Gerade Frauen, Geringverdienerinnen und und ohne Sozialstandards im Ausland niederlassen kön- Geringverdiener, Beschäftigte in kleinen und mittleren nen sollten. Es begann dann eine lange Geschichte des Unternehmen und in vielen Branchen, beispielsweise im Widerstands der Arbeitgeber, aber auch von Mitglied- Gastgewerbe oder im Gesundheitswesen, sind heute oft staaten, die alles tun wollten, um ein Recht auf die Über- von der betrieblichen Altersversorgung ausgeschlossen. tragbarkeit von Betriebsrenten zu verhindern. Im Bundessozialministerium hat man dieses Problem Noch 2007 stimmte die Große Koalition aus Deutsch- offensichtlich erkannt. Das ist durchaus erfreulich. Na- land gegen den Richtlinienentwurf. Sieben dürre Jahre türlich wollen auch wir die betriebliche Altersversorgung später, im vergangen Jahr, war es dann endlich soweit: weiter fördern und zur Verbreiterung beitragen. Nur: Be- Die Mobilitätsrichtlinie erleichtert die Übertragung von triebsrenten sind – entgegen der Vorstellung der Bundes- Betriebsrenten von einem Job zum nächsten. Betriebs- regierung – kein rentenpolitisches Allheilmittel. rentenanwartschaften bleiben bei einem Arbeitgeber- Wir sehen es im Koalitionsvertrag und auch in den (B) wechsel grundsätzlich erhalten. Das alles gilt auch bei jüngsten Aussagen von Andrea Nahles: Die Betriebsrente (D) einem Arbeitgeberwechsel im Inland. Betriebsrenten soll es in Zukunft richten. Sie setzt alles auf eine Karte, gelten jetzt nach drei und nicht mehr nach fünf Beschäf- letztlich aber doch auf das falsche Pferd. In Zukunft müs- tigungsjahren als unverfallbar und garantiert. Für diese se nach dem Willen der Bundesregierung in erster Linie Garantie wird auch das Mindestalter der Beschäftigten die betriebliche Altersversorgung das Absinken des Ren- von 25 auf 21 Jahre gesenkt. Kleinstanwartschaften tenniveaus ausgleichen. Dies aber könnte in der Theorie dürfen nicht mehr ohne Zustimmung der Beschäftigten nur dann gelingen, wenn tatsächlich jede Arbeitnehmerin abgefunden werden. Dies gilt allerdings nicht bei einem und jeder Arbeitnehmer in Ost und West, in Rostock, in Wechsel innerhalb Deutschlands. Außerdem wurden die Leipzig oder in Dortmund, in jeder Branche und in jedem Informationsrechte der Beschäftigten über ihre Betriebs- Betrieb, ob groß oder klein, Zugang zu einem Betriebs- rentenansprüche gestärkt. rentenangebot erhält und dieses auch annimmt. Dahin Das alles begrüßen wir. wäre es noch ein weiter Weg. Das hat die Bundesregierung eins zu eins und schnell Wer also die umfassende und alle einbeziehende Si- umgesetzt. Gut so! cherungsfunktion des Alterssicherungssystems bewahren will, muss realistischer Weise alle drei Säulen der Alters- Aber lassen Sie mich zum Schluss dieses Gesetzes- sicherung in den Blick nehmen und besonders die gesetz- vorhaben noch in den größeren Kontext einordnen! liche Rente stärken. László Andor hatte 2014 als amtierender EU-Sozial- Es braucht vor diesem Hintergrund schon beson- kommissar, die Mobilitätsrichtlinie begrüßt, da europa- ders wirksame rentenpolitische Scheuklappen, um, wie weit die Arbeitskräfte immer stärker auf Zusatzrenten die Koalition, die beiden anderen Säulen ganz aus dem und Zusatzpensionen angewiesen seien. Auch Herr Kol- Blickfeld verschwinden zu lassen. lege Weiß von der Union hat jüngst im Handelsblatt ge- warnt: Die in ihrer bisherigen Form gescheiterte Riester-Ren- te? Die Bundesregierung ignoriert sie und all die offen- Der Handlungsdruck sei immens ... Seit 2009 stag- kundigen Probleme. Wenn überhaupt: Mehr als kosme- niert die Verbreitung der bAV. tische verbraucherpolitische Maßnahmen sind bei der dritten Säule von der Koalition bis zur Bundestagswahl Wenn das so bleibt, müssen wir eines Tages feststel- nicht zu erwarten. len, dass das Drei-Säulen-Modell der Altersversor- gung aus im Niveau sinkender gesetzlicher Rente, Die Entwicklung des Rentenniveaus, besonders nach Betriebs-und Riester-Rente gescheitert ist. 2030? Dazu hört man von Andrea Nahles nicht mehr als Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 12733

(A) betretenes Schweigen. Dabei war es gerade die gefor- tiker die Gelegenheit habe, mich an der Diskussion zu (C) derte private Altersvorsorge, die die Leistungseinschrän- beteiligen. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf der kungen bei der gesetzlichen Rente ausgleichen und damit Bundesregierung zur Änderung des Unterhaltsrechts und auch rechtfertigen sollte. Die Bundesregierung hat keine des Unterhaltsverfahrensrechts haben wir die rechtlichen Antworten auf die offensichtlichen Probleme der ersten Grundlagen im Hinblick auf den Mindestunterhalt, das und der dritten Säule. vereinfachte Verfahren im Kinderunterhaltsgesetz und Umso beschämender ist es, dass selbst auch bei der die Regelungen im Auslandsunterhaltsgesetz überarbei- groß angekündigten Betriebsrentenreform keinerlei Fort- tet und angepasst. schritte zu vermelden sind. Die Nahles-Rente, das „Neue Erstens. Schaffung einer neuen Bezugsgröße für den Sozialpartnermodell Betriebsrente“, droht – ironischer- Mindestunterhalt von Kindern weise – gerade am massiven Widerstand der Sozialpart- Wir haben uns innerhalb der Koalition zum einen dar- ner zu scheitern. Zwei Entwürfe des Sozialministeriums auf verständigt, eine neue Bezugsgröße für den Mindest- sind bereits durchgefallen. Selbst ein Minimalkonsens unterhalt von Kindern zu schaffen. Der in § 1612 a BGB zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften steht in den geregelte Mindestunterhalt soll sich künftig nicht mehr Sternen. Davon abgesehen erscheint der bisherige Vor- an den steuerrechtlich geprägten Kinderfreibetrag anleh- schlag des BMAS, zum Beispiel zu gemeinsamen Ein- nen, sondern das steuerfrei zu stellende sächliche Exis- richtungen …, wenig geeignet, um tatsächlich eine fast tenzminimum minderjähriger Kinder soll Anknüpfungs- vollständige Verbreitung der Betriebsrente erreichen zu punkt für die künftige Berechnung sein (§ 1612 a Satz 2 können. Würden Sie sich ehrlich machen, müssten wir BGB). Zwar orientieren sich die derzeit noch geltenden eigentlich über eine gesetzliche Lösung diskutieren, Regelungen auch am entsprechenden Existenzmini- also etwa über eine mit jedem Arbeitsvertrag automa- mumssatz, allerdings ist es diesbezüglich zu Abweichun- tisch verbundene Betriebsrente mit einer Opt-out-Opti- gen zwischen der Höhe des Mindestunterhalts und des on für die Beschäftigten. Vielleicht mangelt es Ihnen an Existenzminimums minderjähriger Kinder gekommen, Mumm, einen solchen Vorschlag gegen die Sozialpartner die wir mit der im vorliegenden Entwurf vorgeschlage- durchzusetzen. nen Regelung nunmehr ausräumen. Seit der Unterhalts- Dass wir angesichts der verfahrenen und peinlichen rechtsreform aus dem Jahr 2008 war der Mindestunter- Blockadesituation bei der Nahles-Rente überhaupt über halt zentraler Anknüpfungspunkt zur Bestimmung des Betriebsrenten diskutieren, ist allein der Europäischen Unterhalts für minderjährige Kinder. Union zu verdanken. Wir begrüßen, dass die Bundesre- Der Umfang und die Höhe des Existenzminimums gierung über die Europäische Mobilitäts-Richtlinie nach von Kindern werden künftig alle zwei Jahre auf Basis (B) jahrelanger Verzögerung angehalten wird, endlich zu des Existenzminimumsberichts der Bundesregierung im (D) handeln. Rahmen einer Rechtsverordnung –erstmals am 1. Janu- Die Richtlinie erleichtert es vielen Arbeitnehmerinnen ar 2016 –durch das Bundesministerium für Justiz und und Arbeitnehmer, betrieblich für das Alter vorzusorgen. Verbraucherschutz festgelegt. Durch diesen regelmäßi- Gerade Jüngere werden davon profitieren, dass sie auch gen Anpassungszyklus stellen wir sicher, dass nachtei- schon Anfang 20 wirksame Versorgungsanwartschaften lige Folgen für Familien durch eine verzögerte Anpas- aufbauen können, auch dann, wenn sie ihren Arbeitsplatz sung oder eine Unterschreitung des Steuerfreibetrages/ innerhalb der Europäischen Union wechseln. Ebenso Mindestunterhaltes unterhalb des sächlichen Existenz- sind die im Gesetzentwurf vorgesehene Dynamisierung minimums künftig vermieden werden und es zu einer der Anwartschaften von ehemaligen Beschäftigten sowie schnelleren Anpassung des Mindestunterhalts für min- die Verkürzung der Unverfallbarkeitsfristen von fünf auf derjährige Kinder kommt. Situationen wie die in diesem drei Jahre ein Schritt in die richtige Richtung. Jahr, wo die Freibetragsanhebung zu Beginn des Jahres Letztlich ist aber auch klar: Zu mehr, als die europä- nicht rechtzeitig erfolgt ist und der Mindestunterhalt für ische Minimalforderung umzusetzen, scheint die Koali- die Kinder in der ersten Jahreshälfte das Existenzmini- tion nicht fähig. Was das für die konfliktträchtige Ausei- mum nicht voll gedeckt hatte, werden durch die neue Re- nandersetzung um die Nahles-Rente bedeutet, kann sich gelung in Zukunft vermieden. jeder ausmalen. Zweitens. Neuordnung des vereinfachten Verfahrens beim Kindesunterhalt: Neben dem regulären Unterhaltsverfahren besteht die Anlage 9 Möglichkeit, zur Existenzsicherung vom Unterhaltsver- Zu Protokoll gegebene Reden pflichteten beim Familiengericht im Rahmen des soge- nannten vereinfachten Verfahrens nach §§ 249 – 260 des zur Beratung des von der Bundesregierung einge- Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen und in brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit des Unterhaltsrechts und des Unterhaltsverfah- (FamFG) noch schneller, benutzerfreundlicher und effi- rensrechts (Tagesordnungspunkt 17) zienter Unterhalt für ein minderjähriges Kind vollstre- ckungsfähig festsetzen zu lassen. Das vereinfachte Ver- Paul Lehrieder (CDU/CSU): Ich freue mich, dass fahren nach den §§ 249 ff. FamFG hat sich nach seiner ich zur heutigen Debatte zum Unterhaltsrecht nicht nur Einführung durch das Gesetz zur Vereinheitlichung des als Jurist, sondern insbesondere auch als Familienpoli- Unterhaltsrechts minderjähriger Kinder aus dem Jahr 12734 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015

(A) 1998 als ein zügiges und einfaches Unterhaltsfestset- Ferner enthält der Gesetzentwurf der Bundesregierung (C) zungsverfahren zur Existenzsicherung minderjähriger in Bezug auf das Auslandsunterhaltsgesetz (AUG) – wel- Kinder etabliert und auch bewährt. Um ein Beispiel zu ches die grenzüberschreitende Geltendmachung von nennen: Im Jahr 2013 sind von fast 76 000 erledigten Unterhaltsansprüchen regelt – einige Anpassungen, die Kindesunterhaltsverfahren knapp 28 000 – also etwa infolge einer Entscheidung des EuGH zur örtlichen Zu- 36 Prozent – im vereinfachten Verfahren beantragt wor- ständigkeit der deutschen Familiengerichte in Unter- den. Aus diesen Gründen wollen wir an diesem Verfah- haltssachen notwendig geworden sind. ren auch grundsätzlich festhalten und lediglich in einigen Zudem führen wir eine gesetzliche Gebührenregelung Bereichen noch passgenau nachjustieren. für die Einreichung einer Schutzschrift zum elektroni- Insbesondere die nach der Kindesunterhalt-Formular- schen Schutzschriftenregister ein. verordnung (KindUFV) vorgeschriebene Benutzung ei- Ich denke, dass es uns mit dem vorliegenden Gesetze- nes bundeseinheitlichen Formulars zur Beantragung des sentwurf nicht nur gelungen ist, das Unterhaltsverfahren Unterhalts hat sich in der Praxis als zu kompliziert und zu entbürokratisieren, praxistauglicher und anwender- anwenderunfreundlich erwiesen. Unserer Intention, dem freundlicher zu gestalten, sondern – und das sage ich ge- Kind schnellstmöglich die dringend benötigte finanzielle rade als Familienpolitiker – Regelungen Eingang in das Unterstützung so schnell und so unkompliziert wie mög- Unterhaltsrecht gefunden haben, die dem Kindeswohl lich zur Verfügung zu stellen, konnten wir mit diesem noch besser entsprechen und den betroffenen Familien Verfahren nicht immer nachkommen. Diesbezügliche zu Gute kommen. Daher bitte ich Sie um Zustimmung zu Anträge und Einwendungen waren bislang stets formu- diesem Gesetzentwurf. largebunden. Aus der Praxis hat sich jedoch gezeigt, dass die Antragsteller zum überwiegenden Teil Behörden sind Dr. Sabine Sütterlin-Waack (CDU/CSU): In ab- (Jugendamt, örtliche Sozialbehörden), die im Rahmen schließender Beratung debattieren wir heute den Gesetz- der Beistandschaft und in Fällen des Anspruchsüber- entwurf der Bundesregierung, in dem es hauptsächlich gangs nach dem Unterhaltsvorschussgesetz das Ver- um Änderungen im Unterhaltsrecht und im Unterhalts- fahren nutzen und für die kein Formularzwang besteht verfahrensrecht sowie um einige kleine marginale Ände- (§ 1 II KindUFV). Sie stehen Elternteilen als Antrags- rungen in der ZPO geht. Wir haben es hier im Unterhalts- gegner gegenüber, die hingegen stets zur Verwendung recht nicht mit dem von manchen geforderten großen des sogenannten Einwendungsformulars verpflichtet Wurf zu tun, dennoch beschließen wir wichtige Dinge. sind. Gerade aber für den (nicht anwaltlich vertretenen) Im vorliegenden Gesetzentwurf geht es im Wesentlichen Antragsgegner gestaltete es sich im Rahmen dieses Ver- um zwei Punkte: (B) fahrens schwierig, seine Einwendungen zu erheben und Erstens um den Mindestunterhalt für minderjährige (D) seine Rechte geltend zu machen. Kinder, also um das Geld, welches Kinder von Ihren Auch im Hinblick auf die Verfahren mit Auslandsbe- Eltern nach der Trennung oder Scheidung erhalten. Ein zug hat sich das vereinfachte Verfahren, insbesondere Elternteil leistet in der Regel den Unterhalt in Form von in Bezug auf den Übersetzungsaufwand der Formulare, Betreuung, der andere zahlt. Das sind zurzeit für die ebenfalls als nicht praxistauglich erwiesen. Kleinsten bis 5 Jahre 236 Euro, für die 6- bis 11-Jähri- gen 284 Euro, für die 12- bis 17-Jährigen 348 Euro und Im Rahmen der Beantragung des Kindesunterhaltes im für Jugendliche ab 18 Jahren 320 Euro, immer ohne das vereinfachten Verfahren wollen wir durch entsprechen- Kindergeld. de Änderungen im Bereich des Kindesunterhaltsgeset- zes, der Kinderunterhalts- Formularverordnung und des Wie errechnet man nun diesen Mindestunterhalt? Der Gesetzes über Gerichtskosten in Familiensachen dafür Mindestunterhalt richtet sich aktuell noch nach dem dop- Sorge tragen, dass sich das Verfahren nunmehr effizien- pelten Freibetrag für das sachliche Existenzminimum ei- ter und benutzerfreundlicher gestaltet. Aus diesem Grund nes Kindes, dem sogenannten Kinderfreibetrag. Derzeit soll unter anderem im FamFG der sogenannte „Formu- ist der Mindestunterhalt also vom Einkommenssteuerge- larzwang“ entfallen, Regelungen zu den Einwendungen setz abhängig. Dies wurde von der Praxis vielfach kri- des Antragsgegners und zum Übergang in das streitige tisiert. Die Anknüpfung an das Einkommensteuergesetz Verfahren geändert werden. hat aufgrund verschiedener steuerlicher Verhältnisse der beteiligten Eltern zu Abweichungen des Mindestunter- Der Bundesrat hat sich im Hinblick auf die Abschaf- halts vom Existenzminimum geführt. Der Gesetzentwurf fung des verpflichtend zu nutzenden Einwendungsfor- will nun den Mindestunterhalt an das sachliche Existenz- mulars und dem damit einhergehenden geringeren Über- minimum minderjähriger Kinder anknüpfen, und zwar setzungsaufwand dafür ausgesprochen, die Verfahren mit unabhängig von den steuerlichen Verhältnissen der El- Auslandsbezug nicht aus dem Anwendungsbereich für tern. Alle zwei Jahre wird dann die Höhe des Mindest- das vereinfachte Verfahren herauszunehmen. unterhalts per Verordnung des BMJV auf Grundlage des Den Forderungen des Bundesrates tragen wir mit un- Existenzminimumberichts der Bundesregierung festge- legt, beginnend mit dem 1. Januar 2016. Die Änderung serem diesbezüglichen Änderungsantrag nunmehr Rech- soll eine Unterdeckung des sachlichen Existenzmini- nung – das vereinfachte Verfahren soll auch in Auslands- mums, wie in der Vergangenheit vorgekommen, verhin- fällen weiter angewandt werden können. dern. Also, meine Damen und Herren, eine gute Rege- Drittens. Änderung des Auslandsunterhaltsgesetzes lung im Sinne der Kinder. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 12735

(A) Zweitens ändert der Gesetzentwurf das sogenannte und darum sollte es uns bei unserer Arbeit ja immer ge- (C) vereinfachte Verfahren zur Festsetzung der Unterhalts- hen. Ich bitte daher um Ihre Zustimmung. ansprüche minderjähriger Kinder. Im Prinzip hat sich dieses Verfahren bewährt. Dies belegen auch die entspre- Sonja Stetten (SPD): Trennt sich ein Paar, geht es chenden Zahlen. Es ist auch sinnvoll, dass Gläubiger von bei den Streitigkeiten, die vor Gericht ausgetragen wer- Kindesunterhaltsansprüchen diese leichter geltend ma- den, fast immer ums Geld oder um die Kinder. Egal wie chen können als im streitigen Verfahren und damit das die Streitigkeiten ausgehen, die gemeinsamen Kinder ha- Existenzminimum minderjähriger Kinder schneller und ben darunter am meisten zu leiden. einfacher gesichert wird. Das Unterhaltsrecht regelt theoretisch sehr genau die Der 20. Deutsche Familiengerichtstag hat am 20. Sep- finanziellen Ansprüche der Kinder im Fall einer Tren- tember 2013 Vorschläge zur Fortentwicklung des Verfah- nung der Eltern. Mit dem Mindestunterhalt soll sicherge- rens vorgelegt, die weitgehend im vorliegenden Gesetz- stellt werden, dass der Lebensbedarf des Kindes gedeckt entwurf umgesetzt wurden. Der Begriff des vereinfachten wird. Dass die Eltern hier in der Verantwortung stehen Verfahrens ist vielleicht etwas irreführend. Es gilt als und dazu verpflichtet sind, den Lebensbedarf ihrer Kin- kompliziert und stark formalisiert. Deshalb ist eine Fort- der finanziell abzusichern, sollte eine Selbstverständlich- entwicklung nötig. In der anwaltlichen Praxis kommt das keit sein. Ist es aber leider oft nicht! Verfahren kaum vor. Ich habe es in meiner familienan- waltlichen Tätigkeit sehr selten verwendet. Es hat sich Wir wissen aus der Praxis, dass es genügend Fälle gezeigt, dass das vereinfachte Verfahren auf Seiten des gibt, in denen ein Elternteil versucht, sich vor den Un- Antragstellers von lediglich einer relativen kleinen An- terhaltszahlungen zu drücken. Zum Beispiel indem das zahl normaler Menschen, der Gesetzentwurf spricht von eigene Einkommen klein gerechnet oder die Zahlungen Naturalbeteiligten, genutzt wird. Ganz im Gegensatz zu einfach nicht getätigt werden. den Behörden und Ämtern, diese benutzen das formali- Die dem Kind zustehenden Unterhaltsansprüche müs- sierte Verfahren gern zur Durchsetzung von Rückforde- sen ermittelt und festgelegt werden, um dann durchge- rungsansprüchen im Rahmen des Unterhaltsvorschusses. setzt werden zu können. Das ist alles nicht immer ganz Rechtliche Laien als Antragsteller taten sich mit den einfach. Damit es zumindest etwas einfacher wird, brin- wenig anwenderfreundlichen Formularen schwer. Mit gen wir heute einige Änderungen auf dem Gebiet des rechtlich geschulten und erfahrenen Behördenmitarbei- Unterhalts- und des Unterhaltsverfahrensrechts auf den tern auf der Antragsgegnerseite blieb von der viel zitier- Weg. ten Waffengleichheit im Verfahren nicht viel übrig. Die Nicht nur die Familienrechtler waren zunächst ein- (B) im vorliegenden Gesetzentwurf vorgesehenen Ände- mal sehr froh, als das Vereinfachte Unterhaltsverfahren (D) rungen machen das Verfahren praktikabler, leichter zu- 1998 eingeführt wurde. Allerdings war die Enttäuschung gänglich und effizienter. Hervorzuheben ist hierbei die dann wiederum ebenfalls sehr groß, als man die Flut geplante Abschaffung des Formularzwangs bei Einwen- von auszufüllenden Anträgen und Einwendungen auf dungen des Antragsgegners dem Schreibtisch hatte. Für die Jugendämter mag dies Im Änderungsantrag sind nun die Einzelheiten zur tatsachlich eine „Vereinfachung“ gewesen sein. Für die Vorlagepflicht von Unterlagen, die die Erfüllung des Anwälte und vor allem aber auch die jeweiligen Unter- Anspruchs nachweisen sollen, verändert worden. Dabei haltsgläubiger war es das nicht. Aus dem Vereinfachten sind meines Erachtens die Anforderungen der Praxis Unterhaltsverfahren wurde ein „erschwertes“ und oft ge- gut umgesetzt worden. Weiterhin war zunächst geplant, nug wegen der formalen Zwänge sogar ein „verschlepp- Verfahren mit Auslandbezug wegen hoher Kosten und tes“ Unterhaltsverfahren. hohen Zeitaufwands vom Verfahren auszunehmen. Nach der Stellungnahme des Bundesrates bleibt alles beim Al- Die Praxis, sprich, Richter, Anwalte und Jugendämter, ten. Auch Auslandsverfahren können im vereinfachten aber vor allem auch betroffene Elternteile, werden daher Verfahren geltend gemacht werden. In der Praxis werden die geplanten Änderungen mit Sicherheit begrüßen. fast alle Kinderunterhaltsverfahren mit Auslandsbezug In dem geplanten Gesetz geht es allerdings nicht nur im vereinfachten Verfahren erledigt. Das sollten wir so um das vereinfachte Unterhaltsverfahren. Auch der Min- beibehalten. destunterhalt wird künftig auf andere Füße gestellt. Nicht mit Bezug zum Unterhaltsrecht wurde im Än- Es ist gut, dass der Mindestunterhalt zukünftig nicht derungsantrag außerdem eine kleine Änderung in der mehr am einkommensteuerrechtlichen Existenzmini- ZPO auf den ursprünglichen Gesetzentwurf aufgesattelt. mum, sondern am sachlichen Existenzminimum min- Diese setzt die gerichtliche Gebühr für das Schutzschrif- derjähriger Kinder ausgerichtet wird. Die Höhe des tenregister in Höhe von 83 Euro fest. Der Bundesrat hat Mindestunterhalts soll in einer vom Ministerium zu er- sich darauf verständigt, dass das Land Hessen das Regis- lassenden Rechtsverordnung festgelegt werden. Entspre- ter führen soll. Es dient dazu, Schutzschriften – das sind chend dem Rhythmus der Existenzminimumberichte der vorsorglich eingereichte Schriftsätze in Erwartung eines Bundesregierung ist vorgesehen, den Mindestunterhalt Antrags auf Erlass einer einstweiligen Verfügung – auf- für minderjährige Kinder alle zwei Jahre anzupassen. Die zunehmen. formale Anknüpfung an die steuerrechtlichen Kinderfrei- Also, in der Form des Änderungsantrags ist eine deut- beträge hat in der Praxis zu sozialen Ungerechtigkeiten liche Verbesserung der rechtlichen Lage zu erkennen, geführt. So lag der Betrag nach dem Existenzminimum- 12736 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015

(A) bericht 2014 um 6 Euro über dem geltenden Mindestun- se zu geben. Und er kann das rechtliche Handwerkszeug (C) terhalt. dahingehend andern, dass es an die realen Lebensverhält- nisse in unserer modernen Gesellschaft angepasst wird. Mit der Befugnis zur Rechtsverordnung knüpft man an die bis 2007 geltende Tradition der früheren „Regel- Deshalb setze ich mich dafür ein, dass wir eine ge- satzverordnung“ an. rechte und vor allem familienfreundliche Gesetzgebung schaffen. Das kommt unseren Kindern zugute und also Ich möchte die heutige familienrechtliche Debatte unserer Zukunft. dazu nutzen, noch etwas zum Thema moderne Familien- bilder und Umsetzung entsprechender Modelle zu sagen. Jörn Wunderlich (DIE LINKE): Grundsätzlich ist Junge Eltern wollen heute immer öfter viel Zeit mit eine Änderung im Unterhaltsrecht zu begrüßen. Die Bun- ihren Kindern verbringen. Die Elternzeit wird auch von desregierung lässt hier aber eine gute Möglichkeit für jungen Vätern gerne und immer öfter in Anspruch ge- eine größere Reform verstreichen. Es steht außer Frage, nommen. Und umgekehrt wollen junge Mütter ihre be- dass eine Anhebung des sächlichen Existenzminimums ruflichen Ziele nicht mehr für die Familie aus den Augen und damit zugleich eine Anpassung der Düsseldorfer Ta- verlieren. Die Zeiten, in denen der Vater lediglich gezahlt belle überfällig ist. Allerdings bleibt der Entwurf hinter und sich die Mutter um die gemeinsamen Kinder geküm- den Erwartungen an mehr Transparenz und Konsistenz mert hat, sind weitestgehend vorbei. Die Zeiten haben der Regelung zurück. sich geändert, haben sich zum Glück geändert. Schön ist, dass das vereinfachte Verfahren anwen- Die Kinder halten sich heute immer häufiger, auch derfreundlicher gestaltet werden soll und ein Ausgleich nach Trennungen, anteilig bei beiden Elternteilen auf. des vorhandenen Ungleichgewichts zwischen Behörden (kein Formularzwang) und natürlichen Personen (jetzt Unsere heutige Rechtspraxis trägt diesen veränderten auch ohne Formularzwang bei Geltendmachung von Ein- Lebenswirklichkeiten nicht Rechnung, jedenfalls nicht wendungen) angestrebt wird. ausreichend. Unsere Unterhalts-, Umgangs- und Sorge- rechte stammen noch aus einer Zeit, in der klassische Problematisch ist aber beim Artikel 2 des vorliegen- Rollenmuster galten. Das heißt: Das Recht hinkt den Re- den Gesetzes (§§ 249 ff. FamFG-E) beim Unterhalts- alitäten hinterher. Deshalb müssen wir gemeinsam über- vorschuss die fehlende Unterrichtung des betreuenden legen, wie wir hier Abhilfe schaffen können. Elternteils (in der Regel noch immer die Mutter) über den Anspruchsübergang und die Geltendmachung der Innerhalb der SPD-Bundestagsfraktion wird das The- Ansprüche durch das Jugendamt mit der Konsequenz, ma derzeit im Austausch mit Fachleuten intensiv disku- dass es zu einer mehrfachen Rechtsverfolgung und im (B) tiert. ungünstigsten Fall auch zur doppelten und unterschiedli- (D) Was wir heute auf jeden Fall sagen können, weil wir chen Titulierung kommen kann. Von daher hätten Infor- es aus der Praxis wissen, ist, dass sich schon heute vie- mations- und Anzeigepflichten normiert werden können, le Eltern für eine hälftige Betreuung und Versorgung der um derartig mögliche Kollisionen zu vermeiden. Kinder entscheiden. Und dabei liegen die Vorteile ja klar Und auch durch die Anknüpfung des Mindestun- auf der Hand: terhalts an das sächliche Existenzminimum nach dem Beide Elternteile verbringen Zeit mit den Kindern. Existenzminimumsbericht der Bundesregierung ergibt sich das Problem, dass dieser ans SGB anknüpft und die Die Kinder haben bei Vater und Mutter ein Zuhause. dortigen Bedarfe zugrunde gelegt werden, die mitunter Sie erleben Alltag, Freizeit und Ferien mit beiden Eltern- zu niedrig angesetzt sind, weil pauschalisiert, und den teilen. Es gibt also kein Tauziehen um den Nachwuchs, realen Existenzbedarf nicht abbilden. Hier hätte grund- der alle Seiten belastet. legend über die Bedarfe neu entschieden werden müssen. Es gibt kein Elternteil, bei dem die Kinder lediglich Im Übrigen heißt das auch, dass der Mindestunterhalt „zu Besuch“ sind. nie höher liegen kann, als das nach dem Existenzmini- Vater und Mutter tragen gemeinsam Verantwortung. mumbericht errechnete sächliche Existenzminimum für Kinder, selbst wenn die steuerlichen Kinderfreibeträge Es liegt an unseren zunehmend flexiblen Arbeitszei- wieder darüber lägen. ten, dass es für Familien immer mehr Möglichkeiten gibt, dieses Modell zu leben. Allerdings sind unterhaltsrechtli- Dies würde eine Verschlechterung für unterhaltsbe- che, steuer- und sozialrechtliche Fragen noch überhaupt rechtigte Kinder gegenüber der geltenden Rechtslage nicht geklärt. Jedenfalls kann es nicht sein, dass der gut- darstellen. So war das beispielsweise 2012 der Fall. Der verdienende Elternteil durch das Wechselmodell in Gän- Steuerfreibetrag betrug 4 368 Euro, das sächliche Exis- ze von seiner Unterhaltspflicht befreit wird. Denn dann tenzminimum 4 272 Euro. Also 96 Euro unter dem Steu- sind die Kinder die Leidtragenden. Und uns geht es ja vor erbetrag. Das heißt, dass monatlich 8 Euro weniger ge- allem um das Wohl des Kindes. Hier müssen wir für die zahlt worden wären, wenn das jetzt vorliegende Gesetz Gerichte und Jugendämter, aber auch für die Jobcenter bereits gegolten hätte. Der VAMV hat in seiner Stellung- und Familienkassen verbindliche Regelungen schaffen. nahme vom Juli 2015 dieses Beispiel für 2012 ausführ- lich vorgerechnet. Natürlich bleibt die Frage über die Betreuung der gemeinsamen Kinder eine höchst individuelle Entschei- Diese mögliche Schlechterstellung hätte mit einem dung. Was der Gesetzgeber aber leisten kann, ist, Impul- einfachen Satz als Ergänzung im Gesetz verhindert wer- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 12737

(A) den können. Beispiele dafür sind in den Stellungnahmen jemals für sich beansprucht. Je ärmer das Kind, desto (C) der beteiligten Verbände genannt. mehr Behörden beschäftigen sich mit seinem Bedarf. Nach meiner Berechnung würden wir uns und die Kin- Außerdem stellt die Rechtsverordnung des BMJ nicht der in diesem Land erheblich besser stellen, wenn wir all sicher, dass das durch den Existenzminimumbericht be- die zerstückelten Teilleistungen abschaffen und stattdes- kanntgegebene sächliche Existenzminimum für Kinder sen eine Kindergrundsicherung in Höhe des sächlichen zeitnah in das Unterhaltsrecht weitergereicht wird. Existenzminimums an alle auszahlen. Was wäre das für Insgesamt ist festzustellen, dass das Unterhaltsrecht eine Entlastung für Jugendämter, Jobcenter, Sozialämter, insgesamt neu zu überdenken ist und dabei die Schnitt- Finanzämter und Familienkassen! Der steuerliche Kin- stellen zum Steuer­ und Sozialrecht mit in den Blick ge- derfreibetrag könnte ebenso entfallen wie der Kinderre- nommen werden müssen. Dazu gehört auch ein Überden- gelsatz bei Hartz IV. Die Mangelfallberechnungen würde ken der Düsseldorfer Tabelle. Dazu ist jedoch ein großer niemand vermissen! Auch die Familiengerichte würden Gesamtentwurf vonnöten. Die Bundesregierung bleibt entlastet, weil Kindesunterhalt überhaupt nur noch ober- aber mit diesem Entwurf auf halben Weg stehen. halb des Mindestbedarfes geltend gemacht würde. Der halbe Weg, deshalb auch nur ein halbes Ja von Nehmen Sie also diesen Vorschlag mit, und denken der Linken. Von daher werden wir uns bei diesem Gesetz Sie einmal über einen wirklich großen Wurf nach. Ihrer enthalten. Fehlerkorrektur im Kleinen stimmen wir heute trotzdem zu. Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Mit dem vorliegenden Gesetz soll der Mindestunterhalt in § 1612 a BGB künftig direkt an das sächliche Existenz- Anlage 10 minimum des Kindes angeknüpft werden – ohne Umweg über den steuerlichen Kinderfreibetrag. Das vermeidet Zu Protokoll gegebene Reden Divergenzen zulasten der Kinder durch zeitliche Ver- Zur Beratung des von der Bundesregierung einge- zögerungen bei der Anpassung. Künftig soll also das brachten Entwurfs eines Gesetzes zu Änderung des Justizministerium beginnend mit dem 1. Januar 2016, Umwelt-Rechtsbefehlsgesetzes zur Umsetzung des alle zwei Jahre den Mindestunterhalt durch Rechtsver- Urteils des Europäischen Gerichtshofs vom 7. No- ordnung festlegen. Dagegen ist nichts einzuwenden. Sie vember 2013 in der Rechtssache C-72/12 (Tages- wollen darüber hinaus mit Ihrem Gesetz das vereinfach- ordnungspunkt 19) te Verfahren vereinfachen. Auch das ist eine gute Idee. Der Formularzwang für die Einwendungen gegen die (CDU/CSU): Wir sprechen heu- (B) Festsetzung und Titulierung war und ist eine Zumutung Oliver Grundmann (D) te über wichtige Änderungen im Umwelt-Rechtsbehelfs- und führt zu oft zu fehlerhaften Unterhaltstiteln. Die gesetz. Was ist der Hintergrund? Abschaffung des Formularzwanges ist daher berechtigt. Entgegen dem ursprünglichen Vorschlag soll das verein- Mit Urteil vom 7. November hat der Europäische fachte Verfahren jetzt doch weiter zulässig sein, wenn Gerichtshof die Klagerechte von Gemeinden und Pri- der Antragsgegner im Ausland wohnt. Das ist in der Tat vatpersonen sowie von anerkannten Umweltverbänden besser, weil am Ende dem Kind das jeweils effizientere erweitert. Dieses Recht wollen wir mit dem vorliegenden Verfahren zur Wahl stehen sollte, und die inländischen Gesetzentwurf in nationale Gesetzgebung überführen. Gerichte am Wohnort des Kindes ohnehin zuständig sind. Gemeinden und Privatpersonen, die von den Ergeb- Nicht hilfreich ist allerdings die neue Möglichkeit nissen einer Umweltverträglichkeitsprüfung betroffen von Teilfestsetzungen bei entsprechender Verpflich- sind, sollen künftig unter bestimmten Voraussetzungen tungserklärung des Unterhaltschuldners. Das macht das einen Rechtsbehelf einlegen können. Bei fehlerhaften anschließende streitige Verfahren über den Restbetrag Umweltverträglichkeitsprüfungen wird zwischen abso- intransparenter und fehleranfälliger. Besser wäre es ge- luten und relativen Verfahrensfehlern unterschieden und wesen, im streitigen Verfahren immer den vollständigen die unterschiedlichen Fehlerfolgen klarstellend geregelt. Unterhaltsanspruch zum Streitgegenstand zu machen. Die dritte große Änderung ist die Beweislastumkehr bei Am Ende bleibt dieser kleine Makel allerdings nicht das gerügten und offensichtlichen Fehlern der Umweltver- einzig Unbefriedigende im Rahmen des Kindesunter- träglichkeitsprüfung. Bislang musste durch einen Kläger halts. nachgewiesen werden, dass die Entscheidung über das Vorhaben ohne fehlerhafte UVP voraussichtlich anders So stellt sich zum Beispiel die grundlegende Frage, ausgefallen wäre. In Zukunft muss der Vorhabenträger warum eigentlich sozialrechtliches, steuerrechtliches und beweisen, dass trotz des beanstandeten Fehlers die Ent- unterhaltsrechtliches Existenzminimum eines Kindes scheidung gerade nicht anders ausgefallen wäre. ständig auseinanderfallen. Könnte man nicht einmal über eine unbürokratischere und einheitlichere Absicherung Das Ziel dieser Gesetzgebung ist es, die Verfahrens- von Kindern in diesem Land nachdenken? rechte von Bürgerinnen, Bürgern, Gemeinden und aner- kannten Umweltvereinigungen zu stärken. Und das ist Nachdem ich zehn Jahre lang als Fachanwältin für uns mit diesem Gesetzentwurf gelungen. Familienrecht Unterhalt berechnet und eingeklagt hatte, musste ich feststellen, dass die Beantragung, die Anrech- Jedoch wird „Altrip“ nicht die letzte Novellierung nung, die Rückübertragung, die Vollstreckung oder Auf- des Umwelt-Rechtsbehelfsgesetzes gewesen sein. Ge- rechnung mehr Aufwand verursachte, als das Kind selber mäß Beschluss der 5. Vertragsstaatenkonferenz zur 12738 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015

(A) Aarhus-Konvention sind wir dazu aufgefordert, eine unserem Land schuldig. Und dies ist bei diesem Gesetz- (C) Anpassung des Umwelt-Rechtsbehelfsgesetzes auch entwurf gelungen. Deshalb bitte ich um Ihre Zustim- dahingehend vorzunehmen, dass Umweltverbänden die mung. Möglichkeit eingeräumt wird, inhaltliche und verfah- rensrechtliche Fehler zu rügen, unabhängig davon, ob Dr. Matthias Miersch (SPD): Wir debattieren heute die verletzte Vorschrift dem Umweltschutz dient. Und wieder einmal über eine Änderung des Umweltrechts- weiterhin sind wir aufgefordert, einen effektiven Zugang behelfsgesetzes. Eine Änderung, die notwendig gewor- anerkannter Umweltverbände zu den nationalen Gerich- den ist, weil erneut – bereits zum zweiten Mal – gegen ten zu gewährleisten. Die Bundesregierung wird auch europäisches Recht verstoßen wurde. Bemerkenswert dieser Aufgabe verantwortungsvoll nachkommen. Und ist dabei, dass bei der 1. Novelle zur Heilung des einge- dennoch müssen wir wachsam bleiben. Umweltverbände schränkten Zugangs zu Gerichten, im sogenannten „Tri- erlangen durch diese Gesetzesvorhaben umfassende Kla- anel-Urteil“, gleich aufs Neue andere EU-rechtswidrige gerechte, die weitreichende Folgen haben können. Paragrafen in die Novelle eingebaut wurden. Ich bin ein Mann der Praxis. Ich war Geschäftsfüh- Dies führte zur zweiten Verurteilung vor dem Europä- rer eines mittelständischen Unternehmens und blicke auf ischen Gerichtshof (EuGH) – dem sog. „Altrip-Urteil“ – eine langjährige Erfahrung in der Kommunalpolitik zu- und zu dem nun vorliegenden Gesetzentwurf, den wir rück. Aus eigener Erfahrung sage ich Ihnen: Für eine In- heute in zweiter und dritter Lesung debattieren. vestitionsentscheidung ist nicht vorrangig die Anzahl an Für das Umweltrechtsbehelfsgesetz, das knapp neun Klagen von Bedeutung, sondern die politische Wirkung, Jahre alt ist, sind die zweimaligen Verurteilungen vor die das Klagerecht entfalten kann. Umso wichtiger ist dem EuGH ein einsamer Rekord –- auf den man aller- es, dass wir bei den anstehenden Novellierungsvorhaben dings nicht stolz sein sollte. ökologische Gegebenheiten und ökonomische Erforder- nisse in Einklang bringen. An dieser Stelle sollte man nicht verschweigen, dass es leider immer mal wieder vorkommt, dass EU-rechts- Deutschland steht vor großen und wichtigen Heraus- widrige Gesetze im Deutschen Bundestag verabschiedet forderungen: Wir befinden uns in einem grundlegenden werden, die nach einer Verurteilung durch den EuGH Umbau unserer Energieversorgung. Wichtige Infrastruk- wieder korrigiert werden müssen. Dies kann daran liegen, turprojekte wie der Leitungsausbau sollten nicht durch dass die europäische Richtlinie nicht eindeutig formuliert ausufernde Bürokratie verzögert werden. Wir dürfen den wurde oder dass es im Umsetzungsgesetz auslegungsfä- zahlreichen Investoren in unserem Land – die große In- hige Formulierungen gibt, die die EU-Kommission zu frastrukturprojekte schultern wollen, die uns voranbrin- genaueren Prüfungen veranlassen und letztendlich zur (B) gen wollen, die ihren Teil dazu leisten, dass es uns wirt- Klageerhebung vor dem EuGH führen. (D) schaftlich so gut geht, dass unser Konjunkturmotor läuft und dass es bei uns weiter vorwärts geht – keine weiteren Beim Umweltrechtsbehelfsgesetz ist dies jedoch Steine in Weg legen. eindeutig nicht der Fall. Die Anhörungen, die im parla- mentarischen Verfahren zu den Gesetzentwürfen durch- Manch Kritiker sieht die aufgezeigten Entwicklungen geführt wurden, haben sehr deutlich gezeigt, dass alle im Umweltklagerecht vielleicht als weiteren Beleg für vorgelegten Gesetzentwürfe an verschiedenen Stellen eine ausufernde Umweltbürokratie, die durch ständige als EU-rechtswidrig eingestuft wurden. Dies waren zum Änderungen und eine kontinuierliche Fortentwicklung Beispiel massive Bedenken wegen der Einschränkung der Rechtsprechung den Weg durch den Dschungel der der Beteiligungsrechte von anerkannten Umweltverbän- Bürokratie noch langsamer macht. den und von Einzelpersonen sowie wegen Einschränkun- Das muss man sehr differenziert bewerten: Mit dem gen im Rechtsschutz. vorliegenden Gesetzentwurf schaffen wir Rechtssicher- Man kann also nicht von einem Versehen ausgehen, heit, wo vorher keine war. Und diese Rechtssicherheit denn die Aarhus-Konvention und die sie umsetzenden schafft Planungssicherheit. Die Eröffnung wirksamer Richtlinien sind eindeutig formuliert. Rechtsbehelfsmöglichkeiten für Einzelpersonen und Um- weltverbände ergänzt und komplettiert die bestehenden Vielmehr spielte die „gefühlte Angst vor dem Bürger Beteiligungsrechte in Planungs- und Zulassungsverfah- und den Umweltverbänden“ eine Rolle, die vermeintlich ren. Insbesondere auch Kommunalpolitiker werden darin mit ihren Einwendungen die Verfahren verzögern und eine Stärkung für die kommunale Familie, eine Stärkung ggf. neue Prüfungen und Umplanungen verursachen und für die kommunale Selbstverwaltung sehen. Gleichwohl das Vorhaben insgesamt verteuern. So versucht man, mit sage ich auch hier: Es gibt auch Planungsvorhaben, die gesetzlichen Regelungen die Bürger und Verbände mög- von Seiten der Kommunen zu verantworten sind. Und so lichst weit aus den Verfahren herauszuhalten. Dies ist laufen letztlich auch die Kommunen Gefahr, angreifbarer ein deutlicher ein Rückschritt in der Beteiligungskultur zu werden. Daran sieht man, wie kompliziert die Sachla- Deutschlands und wird nicht von Erfolg gekrönt sein. ge ist – in diesem sensiblen Feld der Umweltpolitik. So widerspricht dies auch den neuen Tendenzen und Formaten einer umfassenden Bürgerbeteiligung wie wir Wir als CDU/CSU-Fraktion wollen hier eine Politik sie zum Beispiel in der Endlager-Kommission praktizie- machen, die einen fairen Ausgleich schafft, die Ökologie ren! und Ökonomie verbindet. Wir wollen Verfahrensverein- fachungen. Wir wollen Klarheit und Rechtsstaatlichkeit, Ich bin fest davon überzeugt, dass es zielführend ist, denn das sind wir den Menschen, den Unternehmen und den Sachverstand von Verbänden und Bürgerinnen und Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 12739

(A) Bürgern ernst zu nehmen, sich andere Lösungen vor- zwischen großen Projekten und Investitionen und den (C) stellen zu lassen und Alternativen zu prüfen. Denn es ist Interessen von Mensch und Umwelt, und deshalb muss längst erwiesen, dass eine frühzeitige und umfängliche jede Umweltverträglichkeitsprüfung sachlich richtig und Beteiligung der Zivilgesellschaft nicht zwingend zu einer mit größter Sorgfalt erfolgen. Sie muss sich selbstver- Verzögerung eines Vorhabens führen muss. ständlich an die vorgegebenen Regularien und Verfahren halten und muss bei Verstoß gegen die Regeln anfechtbar Dankenswerterweise wird das Bundesumweltministe- sein. Die Umweltverträglichkeitsprüfung ist keine for- rium demnächst den Entwurf eines völlig überarbeiteten male Hürde, auch wenn diverse Projektplaner dies gern Umweltrechtsgesetzes vorlegen, das neu strukturiert und so sehen. vor allem die durch die Aarhus-Konvention vorgegebe- ne umfassende Beteiligung an Planungs- und Genehmi- Für Akzeptanz in der Gesellschaft muss gewährleistet gungsverfahren ernst nehmen wird. sein und bleiben, dass eine Umweltverträglichkeitsprü- fung auch zwingend zum Abbruch von Projekten führen Ich hoffe sehr, dass dann die unendliche Geschichte kann, wenn Schäden für Mensch und Umwelt den ge- der Verurteilungen der Bundesrepublik Deutschland vor sellschaftlichen Nutzen übersteigen. Die Linke begrüßt dem Europäischen Gerichtshof wegen der unzureichen- daher die grundsätzliche Klarstellung durch den Europäi- den Umsetzung völker- und europarechtlicher Vorgaben schen Gerichtshof, und wir stimmen der Klarstellung des bei der Beteiligung von Umweltverbänden und natürli- Gesetzentwurfs zu. chen Personen an Planungs- und Genehmigungsverfah- ren ein Ende finden wird. Peter Meiwald (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Lan- ge bevor die Regierung tätig wurde, um die Urteile des Ralph Lenkert (DIE LINKE): Da braucht es ein Ur- Europäischen Gerichtshof umzusetzen, hatte die Grüne teil des obersten europäischen Gerichtshofes, um klarzu- Bundestagsfraktion das Problem benannt und bereits im stellen, dass nicht nur gegen eine fehlende Umweltver- November 2011 einen eigenen Gesetzesentwurf, Druck- träglichkeitsprüfung geklagt werden darf, sondern auch sachennummer 17/7888 vorgelegt, um die fehlerhafte gegen eine fehlerhafte. Auch wenn es hier im Fall Altrip Umsetzung des Europäischen Rechts in Deutschland zu unter anderem um Unklarheiten über eine Übergangsfrist beseitigen. ging, ist die Umweltverträglichkeitsprüfung auch damals Der damals vorgelegte Gesetzentwurf der Grünen hat- nichts Neues gewesen. te für den § 4 Absatz 1, der heute von Ihnen zur Änderung Dass solche Urteile notwendig sind, zeigt klar auf, mit vorliegt, bereits vor vier Jahren einen Vorschlag gemacht, welcher ideologischen Missachtung mit dem Mittel der der fast identisch mit dem nun von vorgeschlagenem ist. Umweltverträglichkeitsprüfung zeitweise umgegangen Auch bei der letzten Änderung des Umwelt-Rechtsbe- (B) wird. Die Umweltverträglichkeitsprüfung und vor allem helfsgesetzes im Jahr 2012 hatten wir in einem Antrag (D) auch der bessere Gerichtszugang für Betroffene wurden den nun hier geänderten § 4 Absatz 1 kritisiert. Mit wel- aus gutem Grund eingeführt: Damit Infrastrukturprojekte cher Begründung hat die letzte Koalition eigentlich un- nicht aufs Geradewohl in die Landschaft gesetzt werden, sere guten Vorschläge abgelehnt, wenn Sie sie jetzt fast wie es gerade am billigsten ist und Planern und Inves- ebenso einbringen? Das erschließt sich mir nicht. toren am besten passt. Es gibt unzählige Beispiele über die nachhaltige Zerstörung von Natur- und Lebensraum Für mich ist klar: Der letzten Bundesregierung fehlte im Interesse von Wirtschafts- und Infrastrukturprojekten. der Wille, die Vorgaben zu den Klagerechten von Ver- Wer auf der A4 von Thüringen nach Hessen fährt, über- bänden korrekt umzusetzen. Es scheint mir, dass es der quert die versalzene Werra und erblickt auf der linken jetzigen Koalition wieder ähnlich geht, da lediglich an Seite die wohl noch Jahrtausende bestehenden riesigen Details gearbeitet wird. Die eigentlich notwendige große Mahnmale des Kalibergbaus. Oder denken wir an Stau- Novelle wird aber weiter auf die lange Bank geschoben. fen: Dort quillt eine ganze Stadt auf und stürzt langsam Wovor haben Sie eigentlich Angst? Denn mit dem Zu- ein, weil man bei den Bohrungen für Geothermie ein gang zum Klageweg wird für Bürgerinnen und Bürger Gipslager angebohrt hat. oder Verbände lediglich die Möglichkeit eingeräumt, begangene Rechtsfehler zu heilen, wenn solche in den Nicht für ein sicheres Stromsystem wird derzeit in Planungsverfahren erfolgt sind, also eine Verletzung der Deutschland der Übertragungsnetzausbau vorangetrie- Rechte erfolgte, welche wir hier im Parlament aus gu- ben, sondern für den freien europäischen Strommarkt. ten Gründen beschlossen haben. Warum wollen Sie dies Deshalb wird technisch völlig überdimensioniert ge- nicht zulassen? Ist es denn so schlimm, wenn von uns plant. Man stelle sich vor, eine so umstrittene Leitung beschlossenes Recht notfalls in Gerichten durchgesetzt wie die Suedlink könnte mit einer fehlerhaften Umwelt- wird? Oder haben Sie Angst, dass die NGOs mit diesem verträglichkeitsprüfung trotzdem den Planfeststellungs- Recht, gegen fehlerhafte Entscheidungen vor Ort gege- beschluss erhalten, juristisch nicht anfechtbar. Das wäre benenfalls klagen zu können, Schindluder treiben? so, wie wenn ein Betrüger trotz Nachweis des Betruges seine Beute weiter behalten darf. Ich will nicht erleben, Dazu möchte ich gerne auf eine Studie verweisen von Professor Dr. Martin Führ, Professor für Öffentliches wie die Bürgerinitiativen darauf reagieren würden. Recht an der Hochschule . Seine Erkenntnisse Es kann also nicht zu viel verlangt sein, bei großen wurden unter anderem in der Neuen Zeitschrift für Ver- Eingriffen in die Natur die Risiken und Nutzen für die waltungsrecht besprochen, in einem Aufsatz mit dem Ti- Gesellschaft vorher sorgfältig abzuwägen. Dafür gibt es tel „Verbandsklage nach UmwRG – empirische Befunde die Umweltverträglichkeitsprüfung als Minimalkonsens und rechtliche Bewertung“. Von 2006 bis 2012 wurden 12740 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015

(A) insgesamt 58 Rechtsbehelfs-Verfahren festgestellt. Also kehr gebracht werden, die mehr als 0,0005 Gewichtspro- (C) zehn Verfahren pro Jahr in der gesamten Bundesrepu- zent Quecksilber enthalten. blik – bei über 775 Verfahren mit Umweltverträglich- Zweitens: Bei Gerätebatterien, die in schnurlosen keitsprüfung im Jahr! Von einer Klageflut kann hier also Elektrowerkzeugen eingesetzt werden, wird der maxima- überhaupt keine Rede sein. Verbände und Bürgerinnen le Cadmiumgehalt auf 0,002 Prozent begrenzt. Auch dies scheinen mit diesen Rechten sehr behutsam umzugehen. ist eine Verschärfung. Sie gilt ab dem 1. Januar 2017. Im Schwerpunkt richten sich die Rechtsbehelfe ge- Durch diese Neuregelungen entsteht ein Nutzen für gen immissionsschutzrechtliche Genehmigungen sowie Mensch und Umwelt. Es werden weniger Schadstof- nachträgliche Anordnungen. Von den 58 identifizierten fe eingesetzt. Somit werden Gefahren und Risiken für Verfahren sind 37 abgeschlossen. Eine Erfolgsbewertung Mensch und Umwelt während der Nutzungsphase, aber dieser Verfahren ergab, dass der eingelegte Rechtsbehelf auch in der späteren Verwertungsphase vermieden. in 18 Fällen in vollem Umfang oder teilweise zulässig und begründet war. Daraus ergibt sich eine prozessuale Der Batteriebereich hat durchaus eine große Bedeu- Erfolgsquote von 48,6 Prozent der Fälle. tung. Denn der Einsatz und die Anzahl mobiler elekt- ronischer Geräte nehmen zu. 215 Jahre nach Erfindung Ergo: In nahezu der Hälfte der bisherigen Rechts- der Batterie sind Batterien in vielen Bereichen heute behelfsverfahren wurde erst durch die Klage geltendes nicht wegzudenken. Allein in Deutschland werden allein Recht durchgesetzt. Der Anteil erfolgreicher Verfahren 1,28 Milliarden Knopfzellen pro Jahr hergestellt. liegt deutlich über der Erfolgsquote sonstiger verwal- tungsrechtlicher Rechtsbehelfe. Sie bewegt sich sogar Die Kosten, die mit der Verschärfung einhergehen, noch oberhalb der Quote von circa 40 Prozent, die für sind überschaubar: Die Knopfzellen verteuern sich da- die naturschutzrechtliche Verbandsklage ermittelt wurde. durch um rund einen halben Cent pro Stück. Das zeigt: Hier wird sehr verantwortungsbewusst von Diese neuen scharfen Grenzwerte sind möglich, weil Seiten der Klägerinnen und Kläger mit dem Recht um- technologische Innovation stattgefunden hat. Es ist er- gegangen. neut ein Beispiel dafür, wie technologische Innovation Höchste Zeit, dass Sie die entsprechenden Änderun- ermöglicht, Umwelt und Wirtschaft vernünftig miteinan- gen vornehmen. Ebenso drängt es, die angekündigte der in Einklang zu bringen. umfassende Reform des UmweltRechtsbehelfsgesetzes Mit der Änderung des Batteriegesetzes setzen wir eine endlich vorzunehmen, die Sie in dem Gesetzentwurf ja europäische Richtlinie um. Das heißt, die strengen Gren- auch ankündigen. zwerte gelten in der ganzen Europäischen Union. Auch (B) das ist eine gute und wichtige Nachricht. (D) Im parlamentarischen Verfahren haben wir noch eine Anlage 11 wichtige Klarstellung vorgenommen: Bereits in Verkehr Zu Protokoll gegebene Reden gebrachte Geräte mit Batterien, die Quecksilber und Cadmium oberhalb der zulässigen Höchstkonzentration zur Beratung des von der Bundesregierung ein- enthalten, dürfen noch abverkauft werden, und zwar trotz gebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur der neuen Verkehrsverbote. Änderung des Batteriegesetzes (Tagesordnungs- punkt 20) Mit dem heutigen Gesetz wird auch die Verbraucher- freundlichkeit an kommunalen Sammelstellen erhöht: Öffentlich-rechtliche Entsorgungsträger werden zur kos- Dr. Thomas Gebhart (CDU/CSU): Es muss uns in tenlosen Rücknahme von Altbatterien aus Elektro- und Zukunft – noch besser als heute – gelingen, Abfälle zu Elektronikaltgeräten verpflichtet. Diese verpflichtende vermeiden, und wenn Abfälle entstehen, diese als Res- Rücknahme gilt für jene Batterien, die der Verbraucher sourcen zu begreifen. Es muss uns in Zukunft noch bes- laut Elektrogesetz an den kommunalen Sammelstellen ser als heute gelingen, die Stoffkreisläufe zu schließen. von Elektroaltgeräten zu trennen hat. Wir müssen den Weg zu einer echten Kreislaufwirtschaft weitergehen. Das ist gut für die Umwelt, das schont Öffentlich-rechtliche Entsorgungsträger können alle Ressourcen, und das ist in wirtschaftlicher Hinsicht eine anderen Batterien freiwillig zurücknehmen und damit Chance. Ich sage daher: Es wird mehr und mehr zu ei- einen weiteren Beitrag zur Erreichung steigender Sam- ner Notwendigkeit. Das heißt auch, dass wir dort, wo es melquoten leisten. Die durch Kommunen gesammelten möglich ist, gefährliche Stoffe aus den Stoffkreisläufen Batterien werden an das gemeinsame Rücknahmesystem heraushalten. übergeben. Mit dem Batteriegesetz, das wir heute verabschieden, Mit dem Gesetz, das wir heute verabschieden, wird gehen wir einen ganz konkreten Schritt in diese Rich- zudem geregelt, dass ein Vertreiber, der Fahrzeugbatte- tung. Worum geht es? Im Kern geht es um zwei Dinge. rien per Fernkommunikation anbietet, Pfand erstatten Erstens: Die Verwendung von Quecksilber wird ein- muss, wenn die Rückgabe von Altbatterien nachgewie- geschränkt. Bisher durften Knopfzellen einen noch rela- sen wurde. tiv hohen Quecksilbergehalt aufweisen. Diese Ausnahme Ich bin davon überzeugt, dass das neue Gesetz ver- wird es künftig nicht mehr geben. Der Grenzwert wird nünftig ist und positive Wirkungen entfalten wird. Ich nun verschärft. Es dürfen keine Knopfzellen mehr in Ver- möchte es aber auch nicht versäumen, an die Bürgerinnen Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. 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(A) und Bürger zu appellieren, ihre alten Batterien zurückzu- funktioniert. Betrachten wir mal die drei Sammelgrup- (C) geben. Im Jahr 2014 wurden in Deutschland 44 Prozent pen Geräte-Altbatterien, Fahrzeug-Altbatterien und In- der Batterien gesammelt. Um die vorgegebene Mindest- dustrie-Altbatterien: Im Jahr 2013 haben, nach Zahlen sammelquote von 45 Prozent für das kommende Jahr zu des Umweltbundesamtes, die Rücknahmesysteme für erreichen, sind also Anstrengungen notwendig. Es lohnt Geräte-Altbatterien 18 714 Tonnen Geräte-Altbatteri- sich: Denn alte Batterien enthalten wichtige Wertstoffe. en – wiederaufladbare und nicht wiederaufladbare – in die stoffliche Verwertung gegeben. Damit wurde eine Michael Thews (SPD): Wir debattieren hier heute Verwertungsquote von 100 Prozent erreicht. Und was über eine Novelle des Batteriegesetzes. Aus meiner Sicht fast noch wichtiger ist, diese Batterien wurden auch ist das Batteriegesetz eine Erfolgsgeschichte. Es ist am hochwertig verwertet. Von diesen 18 714 Tonnen konn- 1. Dezember 2009 in Kraft getreten und hat die bis da- ten nämlich 12 000 Tonnen Sekundärrohstoff und zwar hin geltende Batterieverordnung ersetzt. Damals wurden insbesondere Zink, Stahl, Ferromangan und Blei zurück- erstmals verbindliche Sammelziele für Geräte-Altbatte- gewonnen werden. rien festgelegt. Im Batteriegesetz gilt dabei, wie schon Auch das Recycling der Fahrzeug-Altbatterien funk- in der Batterieverordnung, grundsätzlich das Prinzip der tioniert gut. 163 401 Tonnen wurden 2013 in die stoffli- Herstellerverantwortung. Das heißt in diesem Fall, die che Verwertung gegeben, das sind 8 Prozent mehr als im Hersteller sind organisatorisch und finanziell verantwort- Vorjahr. Die Verwertungsquote stieg hier von 98 Prozent lich für das Sammeln und das Recycling der Altbatterien auf 99 Prozent. und Altakkumulatoren. Die Hersteller gründeten damals, gemeinsam mit dem Zentralverband der Elektrotech- Von den gesammelten Industrie-Altbatterien gelangte nik- und Elektronikindustrie die „Stiftung Gemeinsames im Jahr 2013 eine Masse von 44 275 Tonnen Blei-Säu- Rücknahmesystem Batterien“ – kurz GRS Batterien. re-Altbatterien in den stofflichen Verwertungsprozess. Als non-profit-Unternehmen übernimmt die Stiftung die 2012 waren es noch 30 736 Tonnen. Die Verwertungs- Herstellerverantwortung für über 2 500 Batterieherstel- quote erreichte in 2013 und 2012 jeweils 96 Prozent. ler und -importeure. Innerhalb weniger Jahre wurde ein Das heißt, dass in Deutschland fast alle gesammelten funktionierendes Rücknahmesystem aufgebaut und eine Geräte-Altbatterien zu den Verwertern gelangen und dort sehr hohe Verwertungsquote, heute rund 100 Prozent, auch hochwertig recycelt werden. erreicht. Die Stiftung GRS Batterien wurde auch auf- grund dieses Erfolges vom Bundesumweltministerium Natürlich sind Verbesserungen und Anpassungen im- als Rücknahmesystem anerkannt. Die bereits kurz nach mer notwendig, so wie die hier vorgenommenen sinnvoll Inkrafttreten der Batterieverordnung eintretende Steige- und notwendig sind. (B) rung der Sammlung von Altbatterien ist insbesondere Neu in der jetzt vorliegenden Novelle ist, dass die (D) auch den Kommunen zu verdanken. 2014 stammte jede Wertstoffhöfe der öffentlich-rechtlichen Entsorger, die vierte gesammelte Altbatterie aus kommunalen Sammel- bisher auf freiwilliger Basis zurückgenommen haben, stellen. verpflichtet werden, Batterien und Akkus zurückzuneh- Wir alle kennen dies, die Sammelboxen für Altbatte- men. Allerdings nur die, die die Nutzer, wenn sie ihre rien in Büchereien, Rathäusern und anderen öffentlichen alten Elektrogeräte auf den Wertstoffhöfen abgeben, von Einrichtungen. Dies waren die Anfänge der Sammlung diesen trennen müssen. Eine sinnvolle Änderung, weil von Altbatterien. Zusätzlich zu den Sammelstellen in öf- sie verbraucherfreundlich ist, denn so kann der Verbrau- fentlichen Einrichtungen und im Gewerbe kommen noch cher sein Elektrogerät und seine Batterie am gleichen die gesetzlich vorgeschriebenen Sammelboxen in den Ort abgeben. Gute Sammelquoten können nur entstehen, Verkaufsstellen des Handels. Von diesen Sammelstellen wenn die Sammlung verbraucherfreundlich ist. holt die Stiftung GRS die Altbatterien ab und verwertet Die zweite wichtige Änderung ist die weitere Ein- sie. Dazu wurden Vereinbarungen, meist auf freiwilliger schränkung der Verwendung der Umweltgifte Cadmi- Basis, mit Kommunen, Handel und Gewerbe getroffen. um und Quecksilber in Batterien. Gerade Quecksilber Dies dichte Sammelnetz ist ein Grund dafür, dass die ist ein gefährliches Nervengift. Schon kleinste Mengen Sammelquote von 45 Prozent ab 2016 nach Angaben des können das ungeborene Baby im Mutterleib schädi- Rücknahmesystems bereits 2014 übertroffen wurde. Ich gen. Es gibt ein grundsätzliches Verbot, Batterien, die meine allerdings, dass bei der Sammelquote noch ein- mehr als 0,0005 Gewichtprozent Quecksilber enthalten, deutig Luft nach oben ist. in Verkehr zu bringen. Die bisher geltende Ausnahme In diesem Abfallstrom funktionieren Vereinbarun- für Knopfzellen wird aufgehoben und ab 2016 wird das gen – im Gegensatz zu den häufigen Auseinanderset- Verwendungsverbot von Cadmium (über 0,002 Gewicht- zungen bei Verpackungsabfällen – zwischen Herstellern, sprozent) auch auf Gerätebatterien und -akkumulatoren Handel und Kommunen besser als in anderen Abfallbe- von schnurlosen Elektrowerkzeugen erstreckt. reichen. Der Grund dafür liegt meiner Ansicht nach in Was allerdings – wie schon erwähnt – noch verbes- der Organisationsart. Ein einziges, nichtprofitorientiertes serungswürdig ist, sind die Sammelergebnisse. Weniger Rücknahmesystem verhindert unnötigen Verwaltungs- als 50 Prozent der in Verkehr gebrachten Gerätebatterien aufwand, Reibungsverluste und vereinfacht die Möglich- finden den Weg zurück zu den Sammelstellen. Hier müs- keit zu freiwilligen Vereinbarungen. sen wir besser werden. So wie wir es uns nicht leisten Das Batteriegesetz ist auch deshalb eine Erfolgs- können, dass nicht mehr funktionsfähige Handys in den geschichte, weil das Recycling der Batterien sehr gut Schubladen zuhause verstauben, so müssen wir es auch 12742 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015

(A) erreichen, dass die Endnutzer ihre alten Batterien und ter den kritischen Metallen – bei primärseitiger vollstän- (C) Akkus aus den Schubladen und Schränken holen, und diger Importabhängigkeit und immer wieder der Frage vor allen Dingen nicht mehr in die Restmülltonne werfen. nach der politischen Stabilität der Herkunftsländer. Wir Das ist auch eine Frage der Information und Motivation. können es uns schlicht nicht leisten, Lithium wegzuwer- Wir dürfen nicht nachlassen, die Verbraucherinnen und fen. Gleiches gilt für Nickel und Kobalt. Verbraucher, die in Deutschland ein ausgeprägtes Be- wusstsein für dieses Thema haben, über die Sammlung, Mit einer Sammelquote von knapp über 40 Prozent Trennung und Verwertung von Abfällen zu informieren. liegt Deutschland im EU‑Vergleich gar nicht schlecht. Gerade auch so positive Recyclingzahlen wie im Fall der Wir sollten uns aber gerade im Hinblick auf Ressour- Altbatterien und –akkus tragen dazu bei zu motivieren. cenknappheit und Schwermetallausbringung in die Um- Ohne die Mitwirkung der Bürgerinnen und Bürger kom- welt nicht damit begnügen, dass andere schlechter sind. men wir beim Thema Kreislaufwirtschaft nicht weiter, Ja, in anderen Ländern ist die Sammelquote viel geringer. deshalb ist mir dieser Punkt auch besonders wichtig. Aber es gibt eben auch bessere. In der Schweiz werden 70 Prozent der Altbatterien wieder eingesammelt. Dort Wir müssen uns immer wieder vor Augen halten, dass fordert das Bundesamt für Umwelt, BAFU, sogar eine sich der weltweite Primärmaterialeinsatz in den letz- Quote von 80 Prozent. Warum ist das in Deutschland ten 30 Jahren mehr als verdoppelt hat. Er ist von circa nicht möglich? In der Schweiz ist es über die Einführung 36 Milliarden Tonnen 1980 auf 78 Milliarden Tonnen einer Recyclingabgabe auf Batterien und durch den Bat- 2011 angestiegen. Würden wir unsere heutigen Kon- tery-Man gelungen, den Rücklauf erheblich zu erhöhen. summuster beibehalten, würden wir nach Schätzungen Ob es nun in Deutschland unbedingt ein Battery-Man der UNEP im Jahr 2050 mehr als 140 Milliarden Ton- sein muss, sei mal dahingestellt. nen Mineralien, Erze, fossile Brennstoffe und Biomasse verbrauchen. Dieser Entwicklung müssen wir durch die Aber es wäre generell eine Aufgabe für das Umwelt- Vervollständigung der Kreislaufwirtschaft durch Recy- ministerium, mehr Aufklärung und Werbung zu leisten cling und verstärkten Einsatz von Sekundärrohstoffen und dafür zu sorgen, dass die Grenzwerte bei Schwerme- entgegen arbeiten. tallen eingehalten werden. Im Übrigen gibt es eine ganz einfache und unkompli- Ralph Lenkert (DIE LINKE): In Deutschland wer- zierte Methode, wie wir die Quote drastisch erhöhen kön- den jährlich über 80 000 Tonnen Batterien verkauft. nen: Führen wir ein Pfandsystem auf alle Batterietypen Ebenfalls jährlich werden aber nur 40 Prozent der Alt- ein, wie es bei KfZ-Batterien ja bereits praktiziert wird. batterien zum Recyceln zurückgegeben und gesammelt. Da dieser Entwurf Chancen vergibt, aber wenigstens Das bedeutet, dass Jahr für Jahr fast 50 000 Tonnen Alt- nichts verschlechtert, enthält sich die Linke. (B) (D) batterien in der Natur oder in Müllverbrennungsanlagen enden. Dieses ökologische Desaster der Ressourcenver- Peter Meiwald (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das geudung entspricht sogar den gesetzlichen Vorgaben, die Gesetz setzt eine Novelle des europäischen Rechts in eine Sammelquote von 40 Prozent vorsehen, 45 Prozent deutsches Recht um. Das ist aus unserer Sicht in Ord- ab 2016. nung, aber weder umweltpolitisch richtungsweisend Der vorliegende Gesetzentwurf ist nichts weiter als noch etwas, wofür man sich groß loben sollte, sondern ein formaler, verwalterischer Akt. Die Ausnahmen für die Erledigung einer reinen Pflichtaufgabe. Quecksilbergehalt bei Knopfzellen werden abgeschafft, Unser Eindruck geht immer mehr dahin, dass vor- ebenso die Ausnahmen für Cadmiumgehalt bei Batterien ausschauende Umweltpolitik unter dieser Regierung gar in schnurlosen Elektrowerkzeugen. Das ist eine Eins-zu- nicht mehr stattfindet. Was von der Europäischen Union Eins-Umsetzung der europäischen Vorgaben. Dagegen kommt, wird von Ihnen murrend und viel zu spät umge- ist natürlich nichts zu sagen. Viel wichtiger als die Pflege setzt, und bloß nicht mehr als das, worauf man sich in solcher Gesetzeswerke wäre es aber, die Einhaltung der Europa bereits zwischen allen Mitgliedstaaten geeinigt Grenzwerte, die sie vorgeben, konsequent zu überwa- hatte, obwohl die europäischen Verträge ganz klar sagen, chen. Das Umweltbundesamt kommt in Studien regelmä- dass die Mitgliedstaaten für einen vorsorgenden Umwelt- ßig zu dem Schluss, dass die Hälfte der Zink-Kohle-Bat- schutz über die Anforderungen in Europa hinausgehen terien einen zu hohen Cadmiumgehalt hat. Bei anderen können. Batterietypen waren nicht so viele Modelle betroffen, aber dennoch gibt es durchweg Batterien mit zu hohen Das ist sicherlich nicht überall sinnvoll, aber hier und Schwermetallwerten in den Läden zu kaufen. Das war da könnte die Große Koalition doch mal Impulse setzen, im Jahr 2006 so, und das war vor zwei Jahren immer die belegen, dass Umweltschutz in Deutschland nach noch so. Wozu haben wir dieses Gesetz eigentlich, wenn wie vor wichtig ist. Es ist doch hinlänglich bekannt, dass die Regeln, die dort aufgestellt werden, nicht überwacht hohe Umweltanforderungen Innovationen in der Wirt- werden und bei Verstößen keine harten Sanktionierungen schaft voranbringen. Der Schutz der natürlichen Umwelt folgen? darf nicht hinter wirtschaftlichen Zielen hinterherhinken, denn eine intakte Umwelt ist das Fundament jeden wirt- Wir hätten uns gewünscht, dass die Bundesregierung schaftlichen Handelns. ein wenig mehr Elan zeigt, wenn sie das Batteriegesetz umschreibt. Ganz im Sinne des Deutschen Ressourcenef- Die Novelle der Batterierichtlinie wurde bereits am fizienzprogramms muss viel mehr Batteriemüll wieder 20. November 2013 von den Mitgliedstaaten der EU be- eingesammelt werden. Das Programm führt Lithium un- schlossen. Da haben Sie sich ganz schön Zeit gelassen Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 12743

(A) bei den an und für sich unstrittigen Änderungen, die Sie cherheitsbehörden geradezu zwingend. Dem stehen auch (C) hier vornehmen. keine datenschutzrechtlichen Bedenken gegenüber, weil alle Daten, die sich nicht auf den Betreffenden beziehen, Die Verwendung von giftigem Cadmium und Queck- nach erfolgter Identifizierung von der ersuchenden Stel- silber in Batterien und Akkumulatoren wird einge- le unverzüglich zu löschen sind, und zwar von Gesetzes schränkt. Das ist gut so und angesichts der Gefährlichkeit wegen, und wenn eine Identifizierung gar nicht möglich dieser Stoffe sicherlich angezeigt. Aber warum haben Sie hierfür bis heute benötigt? Das Verbot von Quecksilber war, dann sind alle Daten zu löschen. Insoweit nehmen in Knopfzellen hätte man sicher auch rascher vornehmen wir heute eine Einschränkung des Zugriffs auf den Ähn- können. Was wir Grüne von Ihnen fordern, ist klar: Eine lichenservice vor, die durchaus in einiger Zeit schon wie- bessere Umweltgesetzgebung, die die Regeln für alle so der aufgehoben werden könnte, um bei der Ermittlung verbindlich machen, dass wir aufhören unsere Umwelt von Tatverdächtigen in Zukunft erfolgreicher zu sein. zu zerstören. Alles, was wir von Ihnen bekommen, sind verspätete EU Umsetzungen und Programme oder Akti- Alexander Hoffmann (CDU/CSU): Oft ist davon die onspläne, die auf Freiwilligkeit setzen, aber weder ver- Rede, dass sich Politik und Sicherheitsbehörden in einem bindliche Regeln für alle setzen, noch wirkliche Anreize Spannungsfeld zwischen Sicherheit und Freiheit befin- bieten. Von selber wird da sichtlich nichts besser wer- den – insbesondere beim Thema Datenschutz. Es wird den. Gehen Sie die wirklich wichtigen Baustellen endlich nur scheinbar zu einer Gratwanderung, wenn wir Gesetze konkret an. beschließen oder ändern, die den Datenschutz tangieren. Datenschutz ist zu Recht ein hohes Gut, zu dem wir uns klar bekennen. Anlage 12 Wenn wir morgen im Deutschen Bundestag die Wie- dereinführung der Vorratsdatenspeicherung beschließen, Zu Protokoll gegebene Reden dann tun wir dies, um den ermittelnden Behörden die zur Beratung des von den Fraktionen der CDU/ notwendigen Möglichkeiten zu geben, Verbrechen zu be- CSU und SPD eingebrachten Entwurfs eines ... Ge- kämpfen und möglichst gleich zu verhindern. setzes zur Änderung des Bundeszentralregisterge- Die Ermittler und alle Experten – übrigens unabhängig setzes (Tagesordnungspunkt 21) von der Parteizugehörigkeit – sind sich einig: Sie brau- chen zur Strafverfolgung, als Instrument der Aufklärung Reinhard Grindel (CDU/CSU): Mit dem vorliegen- und Prävention dringend die Vorratsdatenspeicherung. den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Bundes- Dann können sie unter anderem ganze Kinderpornogra- (B) zentralregistergesetzes soll die Nutzung des sogenannten fie-Ringe ausheben. (D) Ähnlichenservices gesetzlich neu geregelt werden. Bei Der Fall Edathy hat deutlich gezeigt, wie Fälle die- diesem Ähnlichenservice geht es darum, dass die Regis- ser Art aufgrund des hohen Ermittlungsaufwands und terbehörde bis zu 20 Datensätze zu Personen mit ähnli- der schweren Beweislage oftmals in der Praxis enden. chen Personalien übermittelt, wenn sie eine Mitteilung Es kann nicht sein, dass Ermittlungserfolge gerade im oder ein Ersuchen einem bestimmten Datensatz nicht Bereich der Kinderpornografie davon abhängig sind, eindeutig zuordnen kann und dadurch eine Identitätsfest- welcher Telekommunikationsanbieter Verbindungsdaten stellung durch die ersuchende Stelle nicht möglich war. überhaupt und, wenn ja, wie lange speichert. Eine solche Regelung sieht die Strafprozessordnung für das staatsanwaltschaftliche Verfahrensregister vor Mindestspeicherfristen von Verbindungsdaten sind und soll nun auf das Bundeszentralregister ausgeweitet natürlich kein Allheilmittel. Damit werden sich nicht alle werden. Dieses war schon vor der Sommerpause mit schweren Straftaten verhindern und aufklären lassen – dem Gesetz zur Verbesserung der Zusammenarbeit im leider! Aber dieses Ziel wird leider durch gar keine Er- Bereich des Verfassungsschutzes geschehen. Allerdings mittlungsmethode zu 100 Prozent erreicht. Die Speiche- war damals ein Zugriff auf diesen Ähnlichenservice nur rung von Verbindungsdaten ist jedoch zur Entdeckung für das Bundesamt für Verfassungsschutz, den Bundes- von kriminellen Netzwerken schlichtweg notwendig und nachrichtendienst und den Militärischen Abschirmdienst dient der Aufklärung von schwersten Straftaten. Sie ist beabsichtigt. Die damals gewählte Formulierung hat je- ein Instrument von vielen – aber es wäre unverantwort- doch dazu geführt, dass jede zum Zugriff auf das Bun- lich, komplett darauf zu verzichten. deszentralregister berechtigte Stelle nach Inkrafttreten Ähnlich wie bei der Speicherung von Verbindungsda- des Gesetzes zur Inanspruchnahme des Ähnlichenservice ten verhält es sich auch mit dem sogenannten Ähnlichen- befugt gewesen wäre. service im Bundeszentralregister. Dabei handelt es sich Dieses Versehen soll jetzt korrigiert werden. Inso- um ein Vorgehen bei Abfragen, bei denen zum Beispiel fern stellt das Änderungsgesetz eine Einschränkung des Unklarheit über den genauen Vornamen einer Person be- im Juli verabschiedeten Gesetzes dar. Ich will aber aus- steht. Bundesnachrichtendienst, Verfassungsschutz und drücklich betonen, dass ich es sehr begrüße, dass die Bun- der Militärische Abschirmdienst können demnach, falls desregierung zumindest prüfen will, ob sich nicht eine die Registerbehörde einer Mitteilung oder einem Ersu- Ausdehnung der zugriffsberechtigten Stellen auf weitere chen keinen eindeutigen Datensatz zuordnen kann, bis zu Sicherheitsbehörden – etwa auf die Kriminalpolizei – an- 20 Datensätze zu Personen mit sehr ähnlichen Personali- bietet. Angesichts der wachsenden Zahl ausländischer en zur Identitätsfeststellung übermittelt bekommen. Und Tatverdächtiger scheint die Ausdehnung auf andere Si- auch hier befinden wir uns im Spannungsfeld zwischen 12744 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015

(A) der Freiheit des Einzelnen und der Sicherheit der Allge- Die heute erfolgende Beschränkung auf die Nachrich- (C) meinheit. Es muss eine Möglichkeit geschaffen werden, tendienste stellt eine sinnvolle Einschränkung dar. Aus die Abfrage so zu gestalten, dass naheliegende Ermitt- Gründen des Datenschutzes muss der Ähnlichenservice lungserfolge doch noch erzielt werden können. Gleich- restriktiv ausgestaltet werden. zeitig muss ein verbindlicher Rahmen dafür geschaffen werden, dass die Datenschutzinteressen des Einzelnen Jan Korte (DIE LINKE): Der Gesetzentwurf, den nicht in unverhältnismäßiger Art und Weise tangiert wer- die Bundesregierung hier heute vorlegt, wird für mehr den. Datenschutz sorgen. Das klingt erstmal positiver, als es Ich freue mich sehr, dass dies mit dem vorliegenden ist: Denn mit Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Entwurf gelungen ist. Bundeszentralregistergesetzes soll ein Datenleck ge- stopft werden, welches die Bundesregierung gerade erst Denn weil uns der Datenschutz so ein hohes Gut ist, mit dem vor kurzem verabschiedeten „Gesetz zur Ver- beschränken wir durch das vorliegende Gesetz den Be- besserung der Zusammenarbeit im Bereich des Verfas- reich der Behörden, die die „Ähnlichendatensätze“ abfra- sungsschutzes“ aufgerissen hatte. gen dürfen, auf bestimmte Behörden. Die Eingrenzung Ein Ziel dieses Gesetzes war die Einführung des so- dieses Berechtigtenkreises auf den Bundesnachrichten- genannten Ähnlichenservice im Bundeszentralregister. dienst, den Verfassungsschutz und den Militärischen Bislang besteht dieser Service im zentralen staatsanwalt- Abschirmdienst wird genau dieser sachgerechten Grund- schaftlichen Verfahrensregister beim Bundesamt für Jus- rechtsabwägung gerecht. Denn so ist sichergestellt, dass tiz. Abfrageberechtigt sind die Strafverfolgungsbehör- der Ähnlichenservice nur zur Verfolgung von Straftaten den. Das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV), der von herausragender Bedeutung in Anspruch genommen werden darf. Bundesnachrichtendienst (BND) und der Militärische Abschirmdienst (MAD) dürfen ebenfalls eingeschränkt Ich denke, dass dies sachgerecht ist, wenn man be- Daten wie Personendaten und aktenführende Stelle ab- denkt, dass auch das Kriterium der Ähnlichkeit der fragen. Lässt sich eine Anfrage nicht eindeutig einem Datensätze und die Mengenbegrenzung auf maximal Datensatz zuordnen, werden zunächst zu 20, dann zu 20 Sätze eine regulierende Einschränkung darstellt. 50 ähnlichen Namen Datensätze übermittelt. Diese müs- Benjamin Franklin soll einmal gesagt haben: „Wer die sen von der empfangenden Stelle geprüft und gelöscht Freiheit aufgibt, um Sicherheit zu gewinnen, der wird am werden, wenn sich die eigentlich gesuchte Person darun- Ende beides verlieren.“ Ich denke, wir haben mit vor- ter nicht befindet. liegendem Gesetzentwurf eine kluge und ausgewogene Das Bundeszentralregister, in dem alle strafrechtlichen Lösung gefunden. (B) Verurteilungen der Menschen in Deutschland gespeichert (D) Deshalb werbe ich um Ihre Zustimmung. werden, sieht einen solchen Ähnlichenservice bislang nicht vor. Mitarbeiter der Registerbehörden versuchen bei fehlerhaften, unvollständigen oder zweifelhaften Da- Dr. Johannes Fechner (SPD): Vor der Sommerpau- ten durch Rückfragen bei der abfragenden Behörde den se haben wir im Rahmen der Neuregelungen zur verbes- tatsächlich gesuchten Datensatz zu finden oder gegebe- serten Zusammenarbeit der Verfassungsschutzbehörden nenfalls zu korrigieren. Mit einer Änderung des Bun- den so genannten Ähnlichenservice für das Bundeszen- deszentralregistergesetzes im Rahmen der Verfassungs- tralregister beschlossen. Das bedeutet, dass die Register- schutzreform wurde der Ähnlichenservice nun auch dort behörde, die ein an sie gerichtetes Ersuchen namentlich eingeführt. Dabei haben Sie von der Koalition allerdings nicht eindeutig zuordnen kann, der um Auskunft bitten- vergessen, diesen Service auf die Geheimdienste zu be- den Behörde zur Identitätsfeststellung bis zu 20 Daten- grenzen. Das nenne ich mal schlampige Gesetzgebung. sätze zu Personen mit ähnlichem Namen übermittelt. Eine Der Rechtsausschuss des Bundesrates hat das zum Glück solche Regelung macht Sinn. Denn ansonsten besteht die gemerkt und deshalb empfohlen, diese Änderung ganz zu Gefahr, dass der Erhalt wichtiger Information an einem streichen, was wir sehr begrüßt hätten. Hilfsweise sollte Tippfehler oder der falschen Schreibweise des Namens nach dem Willen des Bundesrates zumindest eine ent- scheitert. Allerdings ist die Regelung weitreichend, denn sprechende Beschränkung auf die Dienste vorgenommen es werden auch Daten von unbeteiligten Personen über- werden. Dieser Empfehlung kommt die Bundesregierung mittelt, nur weil diese einen ähnlichen Namen haben. mit ihrem Gesetzentwurf nun nach. Andernfalls wären Mit dem heute zu beratenden Gesetzentwurf der sämtliche für das Bundeszentralregister abfrageberech- Koalitionsfraktionen zur Änderung des Bundeszentral- tigten Stellen bis hin zur Jagdbehörde befugt, den neuen registergesetzes begrenzen wir deshalb den Kreis der Ähnlichenservice im Bundeszentralregister in Anspruch auskunftsberechtigten Behörden deutlich. Auskunft in zu nehmen. Form des Ähnlichenservice dürfen danach nur Verfas- sungsschutzbehörden, Bundesnachrichtendienst und der Die Schlamperei setzt sich allerdings auch in diesem Militärische Abschirmdienst erhalten. Zudem soll die Gesetzentwurf fort. Da wird behauptet, es handele sich Einführung des Ähnlichenservice erst zu einem späteren um lediglich 20 „ähnliche“ Datensätze, die übermittelt Zeitpunkt, nämlich am 30. April 2018, erfolgen. Hinter- werden könnten. Da haben Sie über die komplizierte Ver- grund des späteren Inkrafttretens ist, dass das zuständige weisungstechnik im Gesetz offenbar selber die Orientie- Bundesamt für Justiz mehr Zeit benötigt, um die tech- rung verloren. Denn findet sich in den 20 Datensätzen nischen Voraussetzungen für den Ähnlichenservice im nicht die gesuchte Person, können 50 weitere Ähnlichen- Bereich des Bundeszentralregisters zu schaffen. treffer angefordert werden! Das heißt, die Geheimdiens- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 12745

(A) te erhalten 70 persönliche Angaben zu Bürgerinnen und tie und Bürgerrechten wurde im Wesentlichen durch die (C) Bürgern, die rein gar nichts mit irgendwelchen verfas- Große Koalition bis heute ignoriert. sungsfeindlichen Bestrebungen zu tun haben müssen. Der erste parlamentarische Untersuchungsausschuss Und hier ist doch aus der Erfahrung der Vergangenheit der 18. Wahlperiode gräbt praktisch jede Sitzungswo- wirklich Vorsicht geboten: Denn ob die eigentlich über- che neue Erkenntnisse über klar rechtswidrige Vorgänge, flüssigerweise übermittelten Datensätze dann am Ende insbesondere bezüglich der Aktivität des Bundesnach- tatsächlich gelöscht werden oder nicht doch Eingang in richtendienstes, aus, vergangene Woche etwa die offen irgendwelche Selektorenlisten finden oder zu anderen rechtswidrigen Praktiken des BND bei den gemeinsam nachrichtendienstlichen Eingriffen führen, kann nicht mit dem US‑Militärdienst erfolgten Befragungen von sicher ausgeschlossen werden. Ich erinnere hier an die Asylbewerbern auf deutschem Boden, die unter ande- Entführungen von Khaled el‑Masri und Murat Kurnaz, rem der Erlangung von Daten zur Ziellokalisierung von die auch nur irgendwie verwechselt wurden. US‑Drohnen dienten. Obwohl also der Zugang zu erheblich mehr Daten Auch hier, mehr als zwei Jahre nach den ersten Snow- ermöglicht wird, wird das Datenschutzniveau auf dem den-Veröffentlichungen, sind bis heute keinerlei gesetzli- bisherigen Umfang belassen. Nur jede zehnte Abfrage che Reformen für eine Verbesserung der demokratischen muss protokolliert werden, und das wird auch nur stich- Kontrolle der Dienste und für die Bürgerinnen und Bür- probenartig untersucht. Für die Löschung überflüssig ger in Sicht, um deren Grundrechte es im Kern bei diesen übermittelter Daten besteht gleich gar keine Protokollie- Geheimdienstskandalen geht. Im Gegenteil: Befugnisse rungspflicht. Dass hier die Kontrolle erheblich gestärkt wurden und werden weiter ausgebaut und gar die On- werden müsste, sieht man schon an der bisherigen Praxis line-Massenüberwachung durch Stellenaufstockungen der Geheimdienste: Aus einer aktuellen Antwort auf eine in einem verfassungsrechtlich hochumstrittenen Feld, in Kleine Anfrage meiner Fraktion geht hervor, dass allein dem zukünftig ohne ausreichende Rechtsgrundlage agiert das Bundesamt für Verfassungsschutz jährlich 1 200 wird, in fragwürdiger Weise ermöglicht. Darüber hinaus bis 1 700 Ersuchen um Auskunft aus dem staatsanwalt- schaftlichen Verfahrensregister stellt. Für den MAD und wurde der Einsatz von rechtsextremen und nicht rechts- den BND gibt es noch nicht einmal Angaben dazu. Bei extremen V‑Leuten endgültig gesetzlich legitimiert – Nutzung des Ähnlichenservice kommt man da schnell und zu allem sogar versucht, dass der Öffentlichkeit als auf Zehntausende Datensätze pro Jahr, die den Diensten das Gegenteil, nämlich als Einhegung, zu verkaufen. ohne Prüfung der Erforderlichkeit Jahr für Jahr übermit- Mit größter Verwunderung mussten wir zur Kennt- telt werden könnten. nis nehmen, dass die Große Koalition insgesamt einen (B) Richtig wäre deshalb gewesen, die systemfremde von den genannten Skandalen völlig unbeirrten Kurs (D) Einführung des Ähnlichenservice im Bundeszentralre- des Ausbaus von Kompetenzen und Befugnissen der gistergesetz wieder komplett zu streichen. Dass er nun Geheimdienste verfolgt. Für den BND kam das in ei- wenigstens auf die Geheimdienste beschränkt wird, für ner 300 Millionen Euro Finanzspritze zum Ausdruck, die dieses Instrument ja eigentlich nur geschaffen wer- mit der unter anderem ausgerechnet der Ausbau der den sollte, ist nicht mal ein schwacher Trost. Es zeigt die geheimdienstlichen Telekommunikationsüberwachung schlampige Gesetzgebungsarbeit der Bundesregierung finanziert werden soll. Für das Bundesamt für Verfas- und das Fehlen jeder Sensibilität im Hinblick auf den sungsschutz wurde dies deutlich, als kürzlich ein um- Datenschutz und seine zentralen Grundsätze wie Daten- fangreiches Artikelgesetz zur Reform des Bundesamtes sparsamkeit und Erforderlichkeit der Datenübermittlung. durch den Bundestag bugsiert wurde, das nicht mehr und nicht weniger als eine deutliche Aufwertung des Dienstes Ohne die jetzt vorgeschlagene Änderung der Bundes- mit sich bringt – mehr Mittel, mehr Personal und zu- regierung bliebe es allerdings dabei, dass außer den Ge- sätzliche Befugnisse. Als Grüne haben wir dagegen vo- heimdiensten auch weiterhin alle möglichen Behörden tiert. Wir wollen insbesondere den Inlandsgeheimdienst auf den Ähnlichenservice zugreifen können. Bei allen auf dem Prüfstand sehen, ihn von Grund auf reformieren grundsätzlichen Bedenken wird sich Die Linke daher und seine Befugnisse auf das bürgerrechtlich Gebotene enthalten. einschränken.

Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Schon im damaligen Entwurf für die Reform des Bun- NEN): Bei den Geheimdiensten, also im Geschäftsbe- desverfassungsschutzes wollten Sie, werte Kolleginnen reich des Bundeskanzleramts, brennt nun schon seit und Kollegen der Großen Koalition, auch das Bundes- einigen Jahren die Hütte lichterloh. Der erste NSU‑Un- zentralregister aufbohren. Nun haben wir sicherlich Pro- tersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages bleme im Bereich der Geheimdienste, denen wir weitaus brachte unter anderem katastrophale Zustände im Ver- größere Bedeutung für die Grundrechte der Bürgerinnen hältnis der Dienste zueinander zutage, die trotz hunderter und Bürger zumessen sollten. Doch auch der uns heute Spitzel eine dreiköpfige rechtsextreme Mordbande mit zur Abstimmung vorgelegte Ähnlichenservice wirft ein zahlreichen Unterstützerinnen und Unterstützern nicht gravierendes rechtsstaatliches Problem auf: Er betrifft zu stoppen vermochten. Derartig chaotische Verhältnisse die geheimdienstliche Erfassung von Informationen und konterkarieren die wirksame Erfüllung der Aufgaben der Daten über Personen, denen ganz überwiegend und de- Dienste ganz offenkundig. Der vom Ausschuss heraus- finitiv nichts vorgeworfen werden kann. Sie haben nur gearbeitete hohe Reformbedarf im Sinne von Demokra- eine Ähnlichkeit mit Jemandem. 12746 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015

(A) Der bis heute allein für das zentrale staatsanwaltliche dar. Für diese grundrechtsrelevante Erstreckung ist die (C) Verfahrensregister bestehende, euphemistisch sogenann- Bundesregierung darlegungspflichtig. te Ähnlichenservice soll nun auf das Bundeszentralre- Die nunmehr erfolgte Beschränkung ausgerechnet auf gister ausgeweitet werden. Beim Ähnlichenservice, kon- die Geheimdienste wird ebenfalls in der Sache nicht näher kret geregelt in § 8 der ZStVBetrV, wird es anfragenden Staatsanwaltschaften aus der gesamten Bundesrepublik erläutert. Das ist für einen so grundrechtsintensiven Be- ermöglicht, sich in Fällen nicht eindeutig zuordenbarer reich wie die Geheimdienste erst recht nicht hinnehmbar. oder unvollständiger Datensätze für Zwecke der Iden- Zudem stellt sich die Frage, ob es nach dem sogenannten titätsprüfung bis zu 20 Datensätze von unter ähnlichen Doppeltürenmodell des Bundesverfassungsgerichts nicht Identifizierungsdaten gespeicherten Daten übersenden zu zusätzlich einer hinreichend konkreten und bestimmba- lassen. Diese Datensätze müssen, soweit sie Nichttreffer ren Regelung zur Inanspruchnahme durch die Dienste in darstellen, wegen der eindeutigen Zweckbindung unmit- den einschlägigen Geheimdienstgesetzen bedarf. Denn telbar nach Durchsicht gelöscht werden. die von Ihrem Gesetz und den arkanen Verweisungsket- ten in Anspruch genommenen Bestimmungen des BZRG Zugriffsberechtigt sein sollten nach Ihrem damali- und der StPO betreffen automatisierte Übermittlungen, gen Entwurf alle in § 41 BZRG genannten Behörden, während die Erhebungsnormen des BND und des BfV ein weiter Kranz. Ihre Idee, derart unter dem Radar der allein von Einzelersuchen handeln. öffentlich diskutierten Reformen auch noch die Zugriffs- möglichkeiten der Geheimdienste auf amtliche Regis- Auch hier gilt: Für das Gros der Datenübermittlungen ter zu erweitern, ging leider schief. Der Bundesrat hat fehlt es an jeglicher datenschutzrechtlicher Erforderlich- völlig zu Recht dagegen interveniert. Die Reform wurde keit, da es sich – für alle Beteiligten bekannt – nur um zunächst von den Ländern kassiert. Leider wollten die ähnliche, aber nicht genaue Datensätze handelt. Schon Länder den Ähnlichenservice jedoch nicht insgesamt das Verfahren der Auswahl der Ähnlichendaten durch die stoppen, sondern gaben sich mit einer Beschränkung auf für das Bundeszentralregister zuständige Stelle wirft des- BND, MAD und BfV zufrieden. halb bislang ungeregelt gebliebene datenschutzrechtliche Fragen auf. Der vorgelegte Entwurf dampft damit – auf Druck des Bundesrates – der Sache nach eine Vorschrift wieder ein, Wir meinen: Ähnlichendaten ausgerechnet in der die bereits in dem Artikelgesetz zur unsäglichen Reform Hand von Geheimdiensten bergen ein besonderes Risiko des Bundesverfassungsschutzgesetzes aufgekommen für die Betroffenen: Gerade der erste parlamentarische war. Untersuchungsausschuss hat aufgezeigt, in welchem Umfang die Dienste insbesondere von BND und BfV mit Die gesetzliche Erweiterung der Zugriffsmöglichkei- Hilfe von formalen Suchbegriffen, also Telekommunika- (B) ten auf die Datenbestände des Bundeszentralregisters (D) tionsmerkmalen, Rasterfahndungen auf Leitungen und stellt einen erheblichen Eingriff in die Grundrechte der in Medien durchführen. Ähnlichendaten sind eine Ver- dort gespeicherten Personen dar. Nach der Rechtspre- suchung, diese Daten in die bestehenden Systeme einzu- chung des Bundesverfassungsgerichts muss gerade für die in Strafverfahren verwickelten Personen und deren spielen und – entgegen der gesetzlich vorgeschriebenen Informationen, auch und gerade nach Beendigung ihrer Zweckbindung auf Identitätsfeststellung – auf mögliche Strafverfahren, ein besonderes Schutzniveau für Infor- Treffer in den Datenbanken hin zu überprüfen. Nach der mationen zu ihren strafrechtlichen Verurteilungen beste- Rechtslage wäre dies aufgrund der eindeutigen Zweck- hen, um dem grundrechtlich anerkannten sozialen Reha- bindung allein zur Identifizierung eines unklaren Daten- bilitationsinteresse Rechnung zu tragen. satzes zwar unzulässig, aber im Bereich der Signal In- telligence etwa des BND wurde in den zurückliegenden Der bisherige Ähnlichenservice blieb innerhalb der 15 Jahren in vielerlei Hinsicht offenkundig rechtswidrig staatsanwaltlichen Verfahren und beschränkte sich auf gehandelt oder die bestehenden Rechtsvorschriften krea- Ermittlungsverfahren. Es handelt sich dabei um einen tiv zu eigenen Gunsten ausgelegt. bedeutsamen Eingriff in die Grundrechte der davon Betroffenen, weil es in der Mehrzahl völlig unbeschol- Unser Fazit zum heute vorgelegten Gesetzesvorschlag tene Personen durch Übermittlung von deren Daten an lautet deshalb: Der bisher allein für die Staatsanwalt- die Staatsanwaltschaften mit dem Risiko belastet, unge- schaften im Rahmen von Ermittlungsverfahren bestehen- rechtfertigt in ein – weiteres – Ermittlungsverfahren zu de Ähnlichenservice ist ohnehin datenrechtlich höchst geraten. Schon bislang musste dieses Verfahren der Da- fragwürdig, weil er Informationen von Unbescholtenen tenübermittlung Unbescholtener deshalb als höchst be- in laufende Ermittlungen hereingibt. Seine Ausweitung denklich bewertet werden, das allenfalls mit Blick auf die auf das BZRG – ausgerechnet auf die Geheimdienste – Vorläufigkeit des Ermittlungsverfahrens, der möglichen ist nicht nur in der Sache fahrlässig, sondern rechtlich Entlastungsfunktion für einzelne Tatverdächtige und auf- höchst fragwürdig. Wir haben deshalb diese Erweiterung grund des nicht abschließenden Charakters gerechtfertigt geheimdienstlicher Zugriffe auf das Bundeszentralregis- war. tergesetz bereits im Rahmen der Reform des Bundesver- fassungsschutzgesetzes kritisiert und abgelehnt. Die Erweiterung des Verfahrens auf das Bundeszent- ralregistergesetz stellt eine von der Bundesregierung in Wir enthalten uns heute allein deshalb, weil die einen der Sache nicht näher – auch nicht empirisch – darge- noch gravierenderen Eingriff darstellende Regelung aus legte Erstreckung auf einen umfänglichen und besonde- dem damaligen Verfahren, also die Erstreckung des Ähn- rem gesetzlichen Schutz unterfallenden Datenbestand lichenservice auf alle in § 41 BZRG genannten Behör- Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 12747

(A) den, von Ihnen wieder – wenn auch nicht freiwillig – nes Unternehmens sachgerecht aufgeteilt werden, noch (C) aufgenommen wurde. konnten Gewinnverlagerungen begegnet werden. Mit der Änderung des Artikel 7 im neuen Abkommen wird jetzt die Möglichkeit geschaffen, aufgrund eines international anerkannten Fremdvergleichs die zutreffende Gewinn- Anlage 13 aufteilung zwischen Betriebsstätte und Gesamtunterneh- Zu Protokoll gegebene Reden men zu erreichen. Damit können Besteuerungslücken ge- schlossen werden und Besteuerungskonflikte vermieden Zur Beratung und Schlussabstimmung des von werden. der Bunderegierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 3. Dezember 2014 Im neuen DBA werden allerdings Lebensversiche- zur Änderung des Abkommens vom 30. März 2011 rungsgeschäfte, die vor dem 1. Januar 2001 abgeschlos- zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Ir- sen wurden, aufgrund der irischen Rechtslage zur steuer- land zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und lichen Behandlung von Altverträgen in diesem Bereich zur Verhinderung der Steuerverkürzung auf dem unverändert nach den alten Vorschriften erfasst. Große Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Ver- Auswirkungen wird dies allerdings kaum entfalten, weil mögen (Tagesordnungspunkt 22) der Umfang eher unwesentlich ist. Neben der Änderung des Artikel 7 werden noch klei- Philipp Graf Lerchenfeld (CDU/CSU): Das vorlie- nere Änderungen erfasst wie die Vertragsstaatendefiniti- gende Änderungsprotokoll soll hinsichtlich der Besteue- on der Bundesrepublik und die Aktualisierung der unter rung von Unternehmensgewinnen die Aktualisierung des das Abkommen fallenden irischen Steuern. Artikel 7 des Musterabkommens für den Bereich Steuern Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist aber vom Einkommen und vom Vermögen der OECD auch im auch, dass Irland inzwischen nationale Maßnahmen Doppelbesteuerungsabkommen mit der Republik Irland ergriffen hat, um das Modell des sogenannten „double nachvollziehen. Irish“ für die Zukunft zu schließen. Mit dieser Gestaltung Das Musterabkommen der OECD, dessen Artikel 7 konnten amerikanische Gesellschaften ihre Gewinne fast seit 2010 neu gefasst wurde, sieht jetzt den sogenannten steuerfrei über irische Tochtergesellschaften verlagern. „Authorized OECD Approach – AOA“ für die Auftei- lung der Gewinne zwischen einer Betriebsstätte und dem Das ist zwar nicht unmittelbar ein Ausfluss dieses Ab- Unternehmen vor, zu dem sie gehört. Damit wird einer kommens, aber es zeigt, dass die Bemühungen der Bun- Vereinheitlichung der internationalen Betriebsstättenbe- desregierung zur Verhinderung von Gestaltungsmöglich- (B) steuerung Rechnung getragen. Grundsätzlich sind dabei keiten mit Auslandsbezug Früchte tragen. (D) zwei Arten von Betriebsstätten zu unterscheiden; zum Das Gesetz ist unproblematisch, aktualisiert ein DBA einen feste Geschäftseinrichtungen, über die das Unter- und passt es an die aktuelle Abkommenspolitik der Bun- nehmen eine gewisse Verfügungsmacht hat, und zum an- desrepublik an. Deshalb bitte ich um Zustimmung zu die- deren den abhängigen Vertreter mit der Vollmacht zum sem Gesetz. Abschluss von Verträgen für den Geschäftsherren. Für die angemessene Aufteilung der Gewinne zwi- Dr. Frank Steffel (CDU/CSU): Wir haben nicht sehr schen dem Unternehmen und der Betriebsstätte kann oft die Gelegenheit, im Plenum über den Abschluss von man wiederum zwei Ansätze wählen. Doppelbesteuerungsabkommen zu debattieren. Insofern freue ich mich, dass die Revision des Abkommens mit Sieht man die Betriebsstätte als Einheit, die nur mit Irland uns jetzt Anlass bietet, dieses Thema einmal öf- einer eingeschränkten Selbstständigkeit ausgestattet ist, fentlich zu diskutieren. dann wird sie als Teil des Gesamtunternehmens defi- niert. Der Fremdvergleich ist bei dieser Auffassung nur Doppelbesteuerungsabkommen sind für die exportori­ eingeschränkt für Warentransaktionen vorgesehen, und entierte deutsche Wirtschaft von immenser Bedeutung. logischerweise kann auch die Betriebsstätte dann keinen Mit jedem zusätzlichen Abkommen schaffen wir Rechts- Gewinn machen, wenn das Gesamtunternehmen einen und Planungssicherheit in Steuerangelegenheiten, im Verlust macht. Übrigen nicht ausschließlich für Unternehmen, sondern auch für Arbeitnehmer, Rentner und Studenten, die sich Demgegenüber steht die Auffassung der uneinge- für längere Zeit im Ausland aufhalten. Jedes Abkommen schränkten Anwendung des Fremdvergleichs. Das bedeu- fördert und vertieft die wirtschaftlichen Beziehungen zu tet, dass auf alle Transaktionen innerhalb des Einheitsun- diesen Staaten. Wir gewährleisten mit ihnen aber vor al- ternehmens der Fremdvergleich Anwendung findet und lem eine wirksamere und zutreffendere Steuererhebung, damit letztlich auch die Betriebsstätte einen Gewinn aus- indem wir sowohl die doppelte Besteuerung als auch die weisen kann, selbst wenn das Gesamtunternehmen einen mindestens ebenso unerwünschte doppelte Nicht-Be- Verlust macht. Die Betriebsstätte wird damit ähnlich wie steuerung verhindern. ein Tochterunternehmen behandelt. Dieser zweite Ansatz Mit insgesamt 85 Staaten hat die Bundesrepublik der Betriebsstättenbesteuerung wird dem neuen Artikel 7 Deutschland derzeit Abkommen auf dem Gebiet der des OECD Musterabkommen zugrunde gelegt. Einkommen und Vermögen, bei Erbschaften und Schen- Mit dem im alten DBA Irland enthaltenen Artikel 7 kungen und zum Austausch von Steuerinformationen, konnten weder die grenzüberschreitenden Gewinne ei- abgeschlossen. Weitere 59 Abkommen befinden sich im 12748 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015

(A) Verhandlungsstadium, bzw. sind bereits unterschrieben, rungen bereits umgesetzt haben, jetzt auch international (C) aber noch nicht in Kraft getreten. Zunächst möchte ich als probates Mittel anerkannt und in den Aktionsplan an dieser Stelle einmal hervorheben, dass die Schlagzahl aufgenommen wurden. Auch dies ist ein Erfolg dieser der Revision von bestehenden oder des Neuabschlusses Bundesregierung. von Doppelbesteuerungsabkommen in den letzten Jahren Wir aktualisieren heute im Doppelbesteuerungsab- deutlich zugenommen hat. In der Amtszeit von Wolfgang kommen mit Irland im Wesentlichen den Abschnitt über Schäuble wurden bereits mehr als doppelt so viele Ab- kommen geschlossen wie jeweils zuvor von seinen bei- Unternehmensgewinne. Ersetzt wird das bisherige quo- den Amtsvorgängern. Für dieses im ureigenen Interesse tale System durch den auf OECD-Ebene vereinbarten der Bundesrepublik stehende Engagement gebührt unser Fremdvergleichsgrundsatz, den sogenannten Authorised aller Dank und Anerkennung vor allem dem Bundesfi- OECD Approach. Deutschland hat an der Ausarbeitung nanzminister, aber auch den Mitarbeiterinnen und Mit- dieses Standards entscheidend mitgewirkt, und es ist gut arbeitern im Bundesfinanzministerium und im Auswär- und richtig, dass in dieser entscheidenden Frage der Un- tigen Amt. ternehmensgewinne eine internationale Einigung über deren Zuordnung zu einer Betriebsstätte erzielt werden Wir debattieren hier im Deutschen Bundestag aus gu- konnte. Es ist daher nur konsequent, diesen Standard ten Gründen Fälle von Steuerhinterziehung, bei denen auch in der Praxis umzusetzen, und das werden wir heute Vermögenswerte im Ausland vor den deutschen Behör- tun. Ich habe daher wenig Verständnis für die vonseiten den versteckt werden. Vor diesem Hintergrund ist die der Grünen und Linken im Finanzausschuss geäußerte zunehmende Zahl von Abkommen zum Informations- Kritik an dieser Vereinbarung. Wie sollen wir denn von austausch – allein 14 von 31 seit 2010 – ein wichtiger anderen Staaten Vertragstreue und die Einhaltung inter- Baustein, diesen Machenschaften ein Ende zu bereiten. nationaler Regeln fordern, wenn wir selbst nicht mit gu- Vor ziemlich genau einem Jahr gelang Finanzminister tem Beispiel vorangehen? Zudem irren Sie sich, wenn Schäuble das Meisterstück, bei einer Steuerkonferenz in Sie glauben, die alte Regelung wäre besser für das deut- Berlin mit über 50 Staaten den automatischen Informati- sche Steueraufkommen und die Verhinderung von Ge- onsaustausch zu vereinbaren. Darunter befinden sich be- winnerlagerungen in das Niedrigsteuerland Irland. Wenn kannte Steueroasen wie die Bermudas und die Cayman Sie sich einmal mit Fachleuten unterhalten, werden Sie Islands, aber auch zur Steuervermeidung gern genutzte schnell feststellen, dass dem nicht so ist. europäische Staaten wie Liechtenstein, Luxemburg und die Schweiz. Steuerhinterziehung wird dadurch weitest- Von der Opposition kam darüber hinaus Kritik an gehend unmöglich, und das ist der Erfolg dieser Bundes- der Tatsache, dass in diesem Abkommen mit Irland die regierung und von Wolfgang Schäuble ganz persönlich. Doppelbesteuerung durch die Freistellungsmethode ver- (B) hindert werden soll, die im Übrigen ergänzt wird durch (D) Doch nicht nur das Verstecken privater Vermögens- Klauseln zum Umschalten auf die Anrechnungsmethode. werte im Ausland ist ein Problem. Gerade international Sie haben vorgeschlagen, stattdessen generell auf die An- operierende Konzerne haben kreative Wege gefunden, rechnungsmethode umzuschwenken, wenn möglich in ihre eigene Steuerlast auf ein Minimum zu reduzieren. sämtlichen Abkommen weltweit. Ich kann nur eindring- Die Bundesregierung hat dieses Problem seit Jahren im lich davor warnen, diesen Weg tatsächlich zu gehen. Für Blick und auch entsprechende Abwehrmaßnahmen er- unsere auf Export ausgerichtete deutsche Wirtschaft ist griffen. Erinnern möchte ich an dieser Stelle an die Zins- es von elementarer Bedeutung, auf ausländischen Märk- schranke, Regelungen zur Funktionsverlagerung, die ten mit den dortigen Wettbewerbern zu gleichen Bedin- Hinzurechnungsbesteuerung und weitere Maßnahmen, gungen konkurrieren zu können. Dies ist nur durch die die 2008 im Zuge der Unternehmenssteuerreform auf Freistellungsmethode gewährleistet und Grundbedin- den Weg gebracht wurden. Dazu kommen „treaty overri- gung für die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unterneh- de“-Maßnahmen als Reaktion auf „treaty shopping“-Ak- men im Ausland. Ein genereller Wechsel zur Anrech- tivitäten und Umschaltklauseln von der Freistellungs- auf nungsmethode wird nicht, wie von Ihnen behauptet, das die Anrechnungsmethode für den Fall, das in dem ande- Steueraufkommen in Deutschland erhöhen, sondern den ren Staat keine oder eine deutlich zu geringe Besteuerung Wirtschaftsstandort insgesamt deutlich schwächen. stattfindet. Doch wir leben in einer globalisierten Welt. Die besten nationalen Gesetze nützen nichts, wenn inter- Wir sehen also heute am Beispiel des Doppelbesteu- national nicht an einem Strang gezogen wird. Und auch erungsabkommens mit Irland sehr plastisch, dass die hier übernimmt die Bundesrepublik Deutschland eine Bundesregierung konzentriert daran arbeitet, Steuerhin- Führungsrolle. Der 2012 auf OECD-Ebene unter dem terziehung, Gewinnverlagerung und schädliche Gestal- Kürzel BEPS initiierte Prozess zur Verhinderung von tungsmaßnahmen einzudämmen. Darüber hinaus ist sie Gewinnverlagerungs- und Steuervermeidungsstrategien äußerst erfolgreich darin, verbindliche Standards auf wurde von der Bundesregierung maßgeblich vorangetrie- internationaler Ebene zu vereinbaren. Wir haben unsere ben. In der vergangenen Woche wurde der Abschlussbe- Hausaufgaben gemacht. Jetzt kommt es darauf an, dass richt mit seinem 15‑Punkte-Aktionsplan der Öffentlich- auch internationale Partner, aber aus meiner Sicht vor keit vorgestellt und von der Fachwelt auf breiter Basis allem unsere europäischen Partner, diesen Weg konse- gelobt. Jetzt geht es darum, dass dieser Aktionsplan in quent verfolgen, anstatt ein Unterbietungswettrennen um den 34 OECD‑Mitgliedstaaten und den über 80 assozi- den geringsten Steuersatz zu veranstalten. Auch diesen ierten Staaten möglichst ungeschmälert umgesetzt wird. Gesprächen wird sich unser Bundesfinanzminister nicht Bemerkenswert dabei ist, dass einige der Maßnahmen, verschließen, und ich wünsche ihm und seinen Mitarbei- die wir national zur Verhinderung von Gewinnverlage- tern dabei allen erdenklichen Erfolg. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 12749

(A) Lothar Binding (Heidelberg) (SPD): Doppelbe- die genauen – in der Praxis angewandten – Kriterien bzw. (C) steuerungsabkommen haben für die internationalen Parameter, nach denen die pauschale Aufteilung erfolge. Wirtschaftsbeziehungen und für die Steuererhebung Auf Basis des von der OECD entwickelten Ansatzes der Staaten eine immense Bedeutung. Es handelt sich kann künftig nicht nur eine international einheitliche, um völkerrechtliche Verträge zwischen zwei Staaten, in sondern auch eine zielgenauere Gewinnermittlung erfol- denen geregelt wird, in welchem Umfang das Besteue- gen. Deutschland erhält somit bessere Möglichkeiten, die rungsrecht einem Staat, für die in einem der beiden Ver- Gewinne deutscher Betriebsstätten ausländischer Unter- tragsstaaten erzielten Einkünfte, zusteht. Bisher sollten nehmen zu korrigieren und seine Besteuerungsrechte zu Doppelbesteuerungsabkommen vor allem verhindern, wahren. dass Steuerpflichtige, die in beiden Staaten Einkünfte erzielen, in beiden Staaten – also doppelt – besteuert Wie schon angedeutet: Die Annahme, dass die bisher werden. Die aggressive Steuerplanung multinationaler teilweise angewandten indirekten Gewinnaufteilungsme- Konzerne, die die mangelnde Abstimmung zwischen den thoden, die auch nach dem alten DBA mit Irland zuläs- nationalen Steuersysteme zu ihrem Vorteil ausnutzen, hat sig waren, besser als die Gewinnaufteilung nach Fremd- aber die Aufmerksamkeit auf einen weiteren Zweck der vergleichsgrundsätzen zur Eindämmung aggressiver Doppelbesteuerungsabkommen gelenkt: die Verhinde- Steuerplanung geeignet seien, trifft nach Auffassung der rung der doppelten Nichtbesteuerung von Einkünften. Fachleute in der Finanzverwaltung nicht zu. Dies ist auf Schwierigkeiten bei der Ermittlung des Gesamtgewinns Die heute zur Debatte stehenden Änderungen des eines Unternehmens, der Festlegung eines zutreffenden Doppelbesteuerungsabkommens zwischen Deutsch- pauschalen Aufteilungsmaßstabes und der Berücksichti- land und Irland sind gerade aufgrund der vorgesehenen gung von Verlusten anderer Unternehmensteile zurückzu- Änderungen bei der Besteuerung grenzüberschreitend führen. In der Vergangenheit boten die indirekten Gewin- tätiger Unternehmen interessant. Im Schwerpunkt geht naufteilungsmethoden offensichtlich keinen wirksamen es um die Anpassung der Regelungen zur Besteuerung Schutz vor den Steuergestaltungen der Unternehmen. Ich von Betriebsstätten an den sogenannten „Authorized habe die Erwartung, dass das geänderte Doppelbesteue- OECD-Approach“. Bei Betriebsstätten handelt es sich rungsabkommen mit Irland aufgrund der Anwendung des um rechtlich unselbständige Geschäftseinrichtungen, die Authorized OECD-Approaches zu einer besseren gren- ein deutsches Unternehmen im Ausland unterhält oder züberschreitende Aufteilung von Besteuerungsgrundla- um solche Geschäftseinrichtungen, die ein im Ausland gen zwischen Betriebsstätten und den Mutter-Unterneh- ansässiges Unternehmen in Deutschland betreibt. Bisher men führen wird. Deshalb stimmen wir dem – Achtung: gibt es eine weitgehend uneinheitliche Praxis der inter- „Gesetzes zu dem Protokoll vom 3. Dezember 2014 zur nationalen Betriebsstättenbesteuerung. Teilweise werden Änderung des Abkommens vom 30. März 2011 zwischen (B) (D) indirekte Gewinnaufteilungsmethoden angewandt, die der Bundesrepublik Deutschland und Irland zur Vermei- die Zuordnung von Einkünften nach pauschalen Schlüs- dung der Doppelbesteuerung und zur Verhinderung der seln vorsehen. Steuerverkürzung auf dem Gebiet der Steuern vom Ein- Nach dem „Authorized OECD-Approach“ wird eine kommen und vom Vermögen“ auch zu. Betriebsstätte für die grenzüberschreitende Gewinnauf- teilung zwischen ihr und dem Unternehmen, zu dem sie Richard Pitterle (DIE LINKE): Wie schön wäre es gehört, wie ein eigenständiges Unternehmen behandelt. doch, wenn hehren Worten auch einmal handfeste Taten Um dies zu ermöglichen, muss für die rechtlich unselb- folgen würden. Alle paar Wochen gelobt der Bundesfi- ständige Betriebsstätte eine steuerliche Nebenrechnung nanzminister, dass man für mehr Steuergerechtigkeit sor- erstellt werden, die inhaltlich der Bilanz eines eigenstän- gen werde, dass man Steuerumgehung bekämpfen werde, digen Unternehmens entspricht. Dazu wir in einem ersten dass man es großen internationalen Konzernen wie Ap- Schritt festgestellt, welche Funktionen die Betriebsstätte ple, Google und Konsorten bald unmöglich mache, ihre im Verhältnis zum restlichen Unternehmen durch ihr Gewinne ins Ausland zu verlagern, und dass man sie auf Personal tatsächlich ausübt. Davon ausgehend werden diesem Wege endlich dazu bringe, hierzulande die ihrem Vermögenswerte, Chancen bzw. Risiken sowie das dafür Gewinn tatsächlich angemessenen Steuern zu zahlen. erforderliche Eigenkapital zugeordnet. In einem zwei- Nur leider, leider, Sie ahnen es schon: Es folgen keine ten Schritt werden für Geschäftsfälle zwischen einem handfesten Taten. Die Beteuerungen der Bundesregie- Unternehmen und seiner rechtlich unselbständigen Be- rung sind mal wieder nichts als heiße Luft. Schlimmer triebsstätte grundsätzlich schuldrechtliche Beziehungen noch, Sie, meine Damen und Herren von der Bundesre- unterstellt. Auf diese anzunehmenden schuldrechtlichen gierung, machen mit dem hier vorgelegten Gesetzent- Beziehungen sind dann die Grundsätze der OECD-Ver- wurf sogar eher das Gegenteil und erleichtern Steuerum- rechnungspreisrichtlinien anzuwenden, die dem Fremd- gehung. Das lässt die Linke ihnen so nicht durchgehen. vergleichsgrundsatz entsprechen. Für die Geschäftsfälle Folgendes haben Sie vor: Mit dem Gesetzentwurf mit andern Teilen des Unternehmens werden Fremdprei- streichen Sie eine ganz bestimmte Regelung im Doppel- se unterstellt, die zwischen fremden Dritten vereinbart besteuerungsabkommen zwischen der Republik Irland worden wären. Der Betriebsstätte werden somit die Ge- und Deutschland. Bisher gab es nach Artikel 7 Absatz 4 winne zugerechnet, die sie erzielen würde, wenn sie ein des Abkommens die Möglichkeit, den Gewinn einer be- selbständiges Unternehmen wäre. Dieses Verfahren halte stimmten Betriebsstätte durch Aufteilung der Gesamtge- ich für besser, als die bisherige indirekte pauschale Auf- winne eines Unternehmens zu ermitteln. Im Klartext heißt teilung – wenn wir ehrlich sind, kennen wir nicht einmal das Folgendes: Macht ein Unternehmen hierzulande gro- 12750 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015

(A) ßen Reibach, zahlt dafür hier aber kaum Steuern, weil der wird. Statt über das Konstrukt des Double Irish, also über (C) Hauptsitz in Irland ist, so kann man den in Deutschland zwei irische Tochterunternehmen, Gewinne nahezu un- anfallenden Gewinn aus dem Gesamtgewinn des Unter- versteuert in wirkliche Steuersümpfe wie die Cayman-Is- nehmens herausrechnen und hier besteuern. Das wäre lands zu schaffen, dürfen internationale Konzerne also nur gerecht, denn Steuern müssen dort gezahlt werden, mit Rabatten auf geistiges Eigentum rechnen. Das ist wo die Wertschöpfung stattfindet. kaum besser und ebenfalls sehr gestaltungsanfällig. Auch diese Konstrukte lehnen wir als Fraktion vehement ab. Also, meine Damen und Herren von der Bundesre- gierung, wieso streichen Sie diese Regelung? Sie spielen Aber mit Apple und Google haben die amerikanischen Apple und Co. in die Karten und das sehenden Auges. Konzerne die Geschenke Irlands dankend angenommen, Mit der Bekämpfung von Steuerumgehung hat das nichts die bei der Praxis der legalen Steuervermeidung als ne- zu tun. gatives Musterbeispiel dienen können, und sie stehen bei weitem nicht alleine da. Durch die Änderung des Ihr Verweis darauf, dass Sie mit dem heutigen Ge- bestehenden Artikel 7 im Doppelbesteuerungsabkom- setz das Doppelbesteuerungsabkommen an den neuesten men der Bundesrepublik mit Irland und die damit ver- OECD-Standard anpassen, ist keine Entschuldigung und bundene Anpassung des Artikels an das 2010 reformierte schon gar keine Verbesserung. Zwar soll auch der neue OECD-Musterabkommen gibt die Bundesregierung eine OECD-Standard auf dem Papier der Verhinderung von Steuerumgehung dienen, Sie lassen dabei aber einfach Möglichkeit aus der Hand, diesen Praktiken der interna- unter den Tisch fallen, dass der neue Standard innerhalb tionalen Steuervermeidung Einhalt zu gebieten. der Staatengemeinschaft hoch umstritten ist und teil- Auch wenn die Bundesregierung sich auf die Imple- weise sogar die Befürchtung besteht, dass er zusätzliche mentierung internationaler Standards beruft, so muss ich Möglichkeiten zur Gewinnverschiebung zwischen Staa- mit meiner Fraktion hier feststellen, dass dieser interna- ten und somit zur Steuerumgehung bietet. tionale Standard an der Stelle eine Verschlechterung zum Auch an einer anderen Stelle machen Sie, meine Da- Status quo darstellt. Ich kann das sehr anschaulich ma- men und Herren von der Bundesregierung einen leider chen an einem Passus, der aus dem bisher gültigen Ab- alles andere als kompetenten Eindruck: Auf eine Anfrage kommen gestrichen werden soll – ich zitiere –: „Soweit der Kolleginnen und Kollegen von den Grünen erklären es in einem Vertragsstaat üblich ist, die einer Betriebs- Sie, dass Ihre Streichung der bisherigen Regelung nicht stätte zuzurechnenden Gewinne durch Aufteilung der dazu führen würde, dass Deutschland künftig ein Instru­ Gesamtgewinne des Unternehmens auf seine einzelnen ment zur effektiven Besteuerung internationaler Kon- Teile zu ermitteln, schließt Absatz 2 nicht aus, dass dieser zerne fehlt. In derselben Anfrage erklären Sie aber auch, Vertragsstaat die zu besteuernden Gewinne nach der übli- (B) dass Sie überhaupt nicht wissen, ob und in wie vielen chen Aufteilung ermittelt; die Gewinnaufteilung muss je- (D) Fällen die bisherige Regelung jemals angewandt wurde. doch derart sein, dass das Ergebnis mit den Grundsätzen Das ist schon ein starkes Stück. Sie geben offen zu, keine dieses Artikels übereinstimmt.“ Statt wie bisher Gewinn- Kenntnis von der möglicherweise sehr guten Wirksam- aufteilung, also Unitary Taxation, als Grundlage der Be- keit einer Regelung zur Bekämpfung der Steuerumge- steuerung für Betriebsstätten zu nutzen, wird das Fremd- hung zu haben, schaffen Sie aber einfach ab. vergleichsprinzip in dem Doppelbesteuerungsabkommen mit Irland implementiert, und das ist sehr viel anfälliger So macht man keine seriöse Steuerpolitik. Die Lin- für schädliche Steuervermeidungsmethoden. ke wird dem Gesetzentwurf nicht zustimmen, denn im Gegensatz zur Bundesregierung nehmen wir den Kampf Die Bundesregierung und die Große Koalition neh- gegen Steuerumgehung ernst. Wenn Großkonzerne wie men also deutschen Steuerbehörden aktiv ein Mittel, Apple und Co. hierzulande satte Gewinne einfahren, mit denen sie negative Steuergestaltungen verhindern dann müssen diese auch besteuert werden. Alles andere könnten. Die Reden der Minister Schäuble und Gabriel geht zulasten der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler aus für den Kampf gegen internationale Steuervermeidung der Mitte der Gesellschaft, und das ist mit der Linken sind damit reine Sonntagsreden und als Schönfärberei nicht zu machen! entlarvt. Die Bundesregierung muss sich an ihrem Han- deln messen lassen, und hier versagt sie. Wir lehnen die geplante Änderung am Doppelbesteuerungsabkommen Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sie ver- mit Irland ab. passen es mit der übereilten Anpassung des Doppelbe- steuerungsabkommens mit Irland, ein Zeichen gegen die Praxis internationaler Konzerne zu setzen, die in Europa Steuersonderregime nutzen, um ihre Steuerlast so weit es Anlage 14 geht zu senken. Zu Protokoll gegebene Reden Gerade Irland hat in der Vergangenheit durch Steu- ergeschenke versucht, internationale Unternehmen an- zur Beratung des von der Bundesregierung einge- zusiedeln. Zwar ist das Ende der schädlichsten Steu- brachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Än- erpraktik vielleicht in der gesamten EU besiegelt. Der derung des Lebensmittelspezialitätengesetzes (Ta- sogenannte Double Irish wurde 2014 von der irischen gesordnungspunkt 23) Regierung abgeschafft. Aber es gibt Übergangsregelun- gen bis ins nächste Jahrzehnt, und es wurde bereits ange- Alois Rainer (CDU/CSU): Mit der vorliegenden kündigt, dass Irland stattdessen eine Patentbox schaffen Gesetzesänderung zum Ersten Gesetz zur Änderung des Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 12751

(A) Lebensmittelspezialitätengesetzes gehen wir auf die Ver- Weiter soll der neue Begriff „Bergerzeugnis“ einge- (C) ordnungen 1151/2012 des Europäischen Parlaments und führt werden. Mit Verwendung dieser Qualitätsangabe des Europäischen Rates vom 21. November 2012 ein. Im dürfen nur Erzeugnisse verwendet werden, bei denen Einzelnen sind die Qualität und die Vielfalt der Erzeu- sowohl Rohstoffe als auch Futter für die Nutztiere über- gung in der Landwirtschaft, der Fischerei und der Aqua- wiegend aus Berggebieten stammen. Und im Falle von kulturen der Europäischen Union in ihrer jeweiligen Art Verarbeitungserzeugnissen muss auch die Verarbeitung und Stärke zu erhalten und der Wettbewerbsvorteil der in Berggebieten erfolgen. Union weiter auszubauen. Ein weiterer Punkt ist, dass die Verbraucherinnen Carola Stauche (CDU/CSU): Heute beraten wir in und Verbraucher insbesondere in Deutschland zum ei- erster Lesung den Gesetzentwurf der Bundesregierung nen über die Qualität von Produkten informiert werden zur Änderung des Lebensmittelspezialitätengesetzes. möchten und zum anderen zunehmend Qualitätserzeug- Dabei geht es darum, das bestehende nationale Recht an nisse sowie traditionelle Erzeugnisse verlangen. Dadurch novelliertes EU-Recht anzupassen. Denn in der EU-Ver- entsteht eine Nachfrage nach Agrarerzeugnissen oder Le- ordnung Nummer 1151/2012 über Qualitätsregelungen bensmitteln mit bestimmbaren besonderen Merkmalen, für Agrarerzeugnisse und Lebensmittel wurde das Recht insbesondere solchen, die eine Verbindung zu ihrem geo- der traditionellen Spezialitäten neu geregelt und die be- grafischen Ursprungs aufweisen. stehende Verordnung aus dem Jahre 2006 aufgehoben. Entsprechend wurden auch die Umsetzung und Durch- Erzeuger können nur dann weiterhin hochwertige Pro- führung auf EU-Ebene neu geregelt. dukte und Qualitätserzeugnisse herstellen, wenn sie da- für entsprechend und angemessen entlohnt werden. Des- Es handelt sich bei dieser Rechtsanpassung zu den halb ist gerade mit Blick auf „Labellisierung“ im Markt garantiert traditionellen Spezialitäten jedoch nicht etwa wichtig, dass die Erzeugnisse auf dem Markt sachgemäß um Schutzvorschriften für Allgäuer Emmentaler oder kenntlich gemacht werden. Käufer und Verbraucher soll- Thüringer Rostbratwurst. Diese sind nämlich über die ten sich im Rahmen eines fairen Wettbewerbs über die Herkunftsangaben „geschützte Ursprungsbezeichnung“ Merkmale ihres Erzeugnisses informieren können. und „geschützte geografische Angabe“ abgesichert. Im vorliegenden Entwurf geht es hingegen vor allem um die Ein wesentliches Ziel des Gesetzes ist, die Erzeuger „garantiert traditionellen Spezialitäten“. Dieses Quali- von Agrarerzeugnissen und Lebensmitteln dabei zu un- tätssiegel ergibt sich aus der traditionellen Zusammen- terstützen, Käufer und Verbraucher über die Produktei- setzung bzw. dem traditionellem Herstellungsverfahren genschaften und Bewirtschaftungsmerkmale dieser eines Produktes und ist nicht an eine bestimmte Region Erzeugnisse und Lebensmittel zu unterrichten. So sind oder einen bestimmten Ort gebunden. Der heute dis- (B) Schwäbische Spätzle, Nürnberger Lebkuchen, Allgäuer kutierte Gesetzentwurf befasst sich vor allem mit dem (D) Emmentaler oder Thüringer Rostbratwurst nicht nur weit Antrags- und Einspruchsverfahren und dem Verbot der über die Grenzen Deutschlands hinaus bekannt, sie sind widerrechtlichen Nutzung eines geschützten Namens. In darüber hinaus auch besonders geschützt. Deutschland haben wir jedoch bisher kein Produkt, das Geografische Angaben und Ursprungsbezeichnun- nach diesem EU-Standard geschützt ist, da bei uns aus- gen sowie auch garantiert traditionelle Spezialitäten schließlich die geografischen Herkunftsangaben genutzt für landwirtschaftliche Erzeugnisse und Lebensmittel werden. können durch EU-Recht geschützt werden. Die EU-Gü- Wichtiger ist daher die Einführung des neuen Quali- tezeichen „g.U.“ (geschützte Ursprungsbezeichnung), tätsbegriffs „Bergerzeugnis“. Hierin sind klare Regeln „g.g.A.“ (geschützte geografische Angabe) und „g.t.S.“ vorgesehen, wann ein Produkt als „Bergerzeugnis“ ver- (garantiert traditionelle Spezialität) wurden von der EU marktet werden kann. Die wesentliche Produktion muss im Jahre 1992 als System zum Schutz und zur Förderung in Berggebieten stattfinden: Berggebiete in diesem Sin- traditioneller und regionaler Lebensmittelerzeugnisse ne sind nach EU-Definition Gebiete, in denen aufgrund eingeführt. von Höhen- bzw. Hanglage und kurzer Vegetationszeit Der vorgelegte Gesetzentwurf zur Änderung des Le- Landwirtschaft nur unter erschwerten Bedingungen bensmittelspezialitätengesetzes setzt die EU-rechtlichen praktiziert werden kann. In Deutschland gehören mehr Bestimmungen über Qualitätsregelungen in nationales als 400 000 Hektar Fläche zu den benachteiligten Berg- Recht um. Speziell wird das Verfahren für das Güte- gebieten. zeichen „geschützte traditionelle Spezialität – g.t.S.“ Erzeugnisse tierischen Ursprungs können künftig als entsprechend der EU-Vorgaben angepasst, wonach, wie „Bergerzeugnis“ vermarktet werden, wenn die betreffen- gerade geschildert, für den Produktionsprozess entschei- den Tiere mindestens in den letzten beiden Dritteln ihrer dend ist, dass dem traditionellen Rezept oder Herstel- Lebenszeit in den genannten Berggebieten aufgezogen lungsverfahren gefolgt wird. und die Erzeugnisse in Berggebieten verarbeitet werden. Spezielle Regelungen sind vorgesehen für Wandertiere Damit ist es möglich, eine Sanktionierung bei Verstö- und Futtermittel. ßen gegen den Schutzbereich der garantiert traditionel- len Spezialität umzusetzen. Dies ist insbesondere auch Imkereierzeugnisse dürfen als Bergerzeugnis be- dann gegeben, wenn ein Hersteller vor der erstmaligen zeichnet werden, wenn die Bienen Nektar und Pollen Vermarktung das Produkt nicht auf die Einhaltung der ausschließlich in Berggebieten gesammelt haben. Ver- Produktspezifikation hat überprüfen lassen. fütterter Zucker muss nicht aus Berggebieten stammen. 12752 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015

(A) Gegenteiliges wäre auch nicht zu realisieren, da Zucker- Beim Fleisch müssen die Tiere die letzten zwei Drittel (C) produktion in Berggebieten nicht vorhanden ist. ihres Lebens in Berggebieten verbracht haben. Für Wan- derherden gelten Ausnahmen. Der erlaubte Anteil des zu- „Bergerzeugnis“ und „garantiert traditionelle Spezi- gekauften Futters variiert dabei zwischen 40 Prozent bei alität“, „geschützte Ursprungsbezeichnung“ und „ge- Rindern und 75 Prozent bei Schweinen. schützte geografische Spezialität“: All diese Gütesiegel haben den Sinn, gewachsene Traditionen in der Lebens- Verarbeitete Erzeugnisse dürfen „Bergerzeugnis- mittelherstellung zu fördern, traditionelle Qualität zu se“ heißen, sofern nicht mehr als 50 Prozent der Zuta- schützen und Vermarktungsmöglichkeiten zu fördern. ten sowie Kräuter, Gewürze und Zucker außerhalb von Ich bin der Meinung, dass hier ein bewährtes Konzept Berggebieten stammen. Die Verarbeitung von Milch und sinnvoll weiterentwickelt wird und unsere erfolgreiche Fleisch von Berggebieten kann auch in bis zu 30 Kilome- und verdienstvolle Land- und Ernährungswirtschaft auch ter Umgebung der Berggebiete erfolgen. weiterhin nach Kräften unterstützt wird. Es steht außer Frage, dass klar definierte Begrifflich- keiten und unabhängig geprüfte Label den Verbrauche- Elvira Drobinski-Weiß (SPD): Der Qualitätsan- rinnen und Verbrauchern eine wichtige Orientierungshil- spruch von Verbraucherinnen und Verbrauchern bei fri- fe bieten. Gute Beispiele hierfür sind das EU-Biosiegel schen und verarbeiteten Lebensmitteln ist in den letzten oder die „Ohne Gentechnik“-Kennzeichnung. Jahren merklich gestiegen. Immer mehr Menschen wol- len wissen, woher die Produkte stammen, für die sie im Wie wichtig geschützte Angaben zur Herkunft auch Supermarkt ihr Geld ausgeben. Sie wollen wissen, wo für die Landwirtschaft sind, zeigte sich nicht zuletzt in sie erzeugt und wie sie hergestellt wurden. Das gilt für der aktuellen Debatte um die Freihandelsabkommen ausgewiesene Lebensmittelspezialitäten umso mehr. TTIP und CETA mit den USA und Kanada. Das wachsende Informationsbedürfnis der Verbrau- Wenn wir allein auf niedrige Preise setzen, um kon- cherinnen und Verbraucher hat dazu geführt, dass wir es kurrenzfähig zu bleiben, werden wir mit unseren land- heute im Verbraucheralltag mit einer Fülle von Labels wirtschaftlichen Produkten im internationalen Wettbe- und Auszeichnungen zu tun haben. Das Internetportal der werb nicht bestehen können. Es ist die hohe Qualität, die Verbraucherinitiative „Label-Online“ hat in der Katego- Verbraucherinnen und Verbraucher weltweit mit Produk- rie „Essen und Trinken“ inzwischen 160 verschiedene ten europäischer Herkunft verbinden, die die Position Kennzeichnungen gesammelt und bewertet. unserer Landwirtschaft auf dem Weltmarkt stark macht. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wird der La- Bereits 1992 hat die EU mit der Einführung der drei bellandschaft nun eine weitere Produktkennzeichnung EU-Gütesiegel zur geschützten Ursprungsbezeichnung, (B) hinzugefügt: das Qualitätsmerkmal „Bergerzeugnis“. So zur geschützten geografischen Angabe und zur garantiert (D) hat es die EU in ihrer neuen Verordnung über Qualitäts- traditionellen Spezialität diesem Gedanken Rechnung regelungen für Agrarerzeugnisse und Lebensmittel vor- getragen. gesehen. Mit dem Begriff „Bergerzeugnis“ dürfen damit Die Idee, die hinter diesen Gütesiegeln steht, ist so künftig nur noch solche Lebensmittel beworben werden, löblich wie die Idee, einen neuen Qualitätsbegriffs zu die den in der Verordnung gesetzlich definierten Anfor- entwickeln: Die Erzeuger sollen bei der regionalen Ver- derungen entsprechen. marktung ihrer Produkte unterstützt werden. An dem Er- Ich begrüße es außerordentlich, dass die Bergwirt- gebnis könnten wir aber noch ein wenig arbeiten. schaft durch diese neue Regelung die Möglichkeit erhält, Der Erfolg von Herkunftslabeln und Qualitätssiegeln Verbraucherinnen und Verbraucher auf die besondere re- muss sich in der Praxis daran messen lassen, ob die Er- gionale Herkunft ihrer Erzeugnisse hinzuweisen. wartungen, die sie bei Verbraucherinnen und Verbrau- Bergbauern und Verarbeiter in Bergregionen stellen chern erzeugen, der Realität standhalten. Aus Erzeuger- ihre Produkte oft unter beschwerlichen Bedingungen und sicht sind die Glaubwürdigkeit und der Bekanntheitsgrad zu vergleichsweise hohen Produktionskosten her. Mit der ein wichtiger Erfolgsfaktor. Einführung des neuen Qualitätsbegriffs können sie ihre Die EU-Gütezeichen sind indes nur einer kleinen Min- Produkte nun gezielt bewerben und Vermarktungslücken derheit bekannt. Einer Studie der Georg-August-Uni- besser nutzen. versität Göttingen zufolge haben nur 15,7 Prozent der Als Verbraucherpolitikerin ist es mir bei neuen Kenn- Befragten das Siegel zur geschützten geografischen zeichnungen aber immer auch wichtig, dass den Verbrau- Angabe – das meist genutzte unter den drei Siegeln – cherinnen und Verbrauchern bewusst ist, welche Bedeu- überhaupt schon einmal auf einem Lebensmittel be- tung sich hinter dem Begriff tatsächlich verbirgt. Daher merkt. Angaben zur Bedeutung des Zeichens konnten möchte ich die Gelegenheit nutzen, die zentralen Defini- lediglich knapp 12 Prozent der Befragten machen. Das tionskriterien hier wiederzugeben. Gütezeichen zu traditionellen Spezialitäten besitzt in Deutschland scheinbar sogar so wenig Attraktivität, dass Für Eier und Milch darf die Bezeichnung „Berger- es hierzulande bislang für kein Produkt beantragt wurde. zeugnis“ dann genutzt werden, wenn die Tiere, von de- nen sie stammen, in Berggebieten gehalten werden und Auch hinsichtlich ihrer Aussagekraft zeigen die Güte- ihr Futter überwiegend in den Bergen angebaut wurde – siegel Schwächen auf. Über die Hälfte der Verbrauche- bei Legehennen zu mindestens 50 Prozent, bei Milchkü- rinnen und Verbraucher meint, dass für die Thüringer hen zu mindestens 60 Prozent. Rostbratwurst nur Fleisch verarbeitet werden darf, das Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 12753

(A) aus Thüringen kommt. Ebenso unbefriedigend fällt das Tilsiter Käse, dessen blaues Logo ahnen lässt, dass die (C) Ergebnis der Umfrage im Hinblick auf den Schwarz- Milch sonstwo herkommt, aber nicht von der norddeut- wälder Schinken aus. Hier glauben 56 Prozent der Men- schen Küste. Dann gibt es noch die „garantiert traditi- schen, dass das Fleisch für den Schinken von Tieren aus onelle Spezialität“, ein drittes Logo, auch dies in Blau, dem Schwarzwald kommen muss. jedoch schlichter gestaltet. Hierbei wird lediglich ein traditionelles Rezept gekennzeichnet, beispielsweise für Die Zukunft wird zeigen, wie sich der nun zusätzlich Mozzarella. zu den EU-Gütezeichen eingeführte Qualitätsbegriff „Bergerzeugnis“ in der Praxis bewährt und ob er von der Diese Beispiele zeigen die gesetzlich zulässige Ver- Wirtschaft und den Verbraucherinnen und Verbrauchern wirrung. Hinzu kommt die gezielte Werbung mit ähnlich angenommen wird. klingenden, aber ungeschützten Begriffen, um die Ver- braucherinnen und Verbraucher an der Nase herumzufüh- Karin Binder (DIE LINKE): Informationen über die ren. Ich frage Sie: wer hat beim Einkaufen die Zeit und Herkunft von Lebensmitteln sind für die Verbrauche- die Möglichkeit, sich in die Tiefen einer EU-Verordnung rinnen und Verbraucher von hoher Bedeutung. Kundin- einzulesen, bevor er oder sie ins Käseregal greift? nen und Kunden sind gern bereit, 20 Prozent mehr für Neu hinzugekommen ist jetzt der Begriff „Berger- Produkte aus regionaler Erzeugung zu zahlen. Oder sie zeugnis“. So etwas kann sinnvoll sein; denn bestimmte knüpfen bestimmte Erwartungen an Spezialitäten, die Lebensmittel erhalten ihren typischen oder auch beson- aus einer bestimmten Region kommen oder nach tradi- ders intensiven Geschmack eben aus den Bergregionen. tionellem Rezept hergestellt wurden. Verbraucherinnen Doch auch bei diesen Fleisch- und Milchprodukten müs- und Verbraucher wollen damit das regionale Handwerk, sen Verbraucherinnen und Verbraucher Abstriche ma- die Kleinbauern und die Lebensmittelvielfalt stärken und chen: Die meisten Tiere verbringen nur einen Teil ihres eben nicht den Einheitsbrei der Lebensmittel-Industrie. Lebens am Berg, und auch das Viehfutter stammt meist Leider kann das Lebensmittelspezialitätengesetz, das nur anteilig aus der Bergregion. jetzt auf Grund einer entsprechenden EU-Verordnung ge- Aus Sicht der Verbraucherinnen und Verbraucher ist ändert werden soll, diesem Anspruch nicht gerecht wer- diese Änderung des Lebensmittelspezialitätengesetzes den. Es trägt sogar zur Täuschung der Verbraucherinnen kaum ein Gewinn. Auch kleine Landwirtschaftsbetriebe und Verbraucher bei. oder das örtliche Lebensmittelhandwerk werden damit Beispiel Schwarzwälder Schinken: Trotz der Anga- nicht wirklich gestärkt. be „geschützte geografische Angabe“ mit blauem Logo Wir fordern die Bundesregierung auf, sich bei der kommt der Schinken in der Regel nicht aus dem Schwarz- EU dafür einzusetzen, das irreführende blaue Logo der (B) (D) wald. Nur jede zehnte der Schweinekeulen kommt über- vermeintlich „geschützten geografischen Angabe“ abzu- haupt aus Baden-Württemberg. 90 Prozent des Fleisches schaffen. Angaben wie „Regional“ müssen endlich ge- werden möglichst billig auf dem Weltmarkt zusammen- setzlich geschützt werden, so wie es bei „Bio“ längst der gekauft. Das Produkt darf sich dennoch Schwarzwälder Fall ist. Schinken nennen, weil die globalen Schweinekeulen im Ländle geräuchert und verpackt werden. Markus Tressel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ver- Dabei soll das Ziel des Gesetzes im Sinne der EU-Vor- braucherinnen und Verbraucher vertrauen immer stärker gaben sein, „fairen Wettbewerb für Landwirte und Er- auf frische Lebensmittel, die vor ihrer Haustür wachsen, zeuger von Agrarerzeugnissen und Lebensmitteln mit entstehen und verarbeitet werden: Die Nachfrage nach wertsteigernden Merkmalen und Eigenschaften“ sowie regionalen Lebensmitteln steigt stetig. Davon können zuverlässige Informationen für Verbraucherinnen und Betriebe bäuerlicher Landwirtschaft, lokale Verarbeiter, Verbraucher zu gewährleisten. das Lebensmittelhandwerk und Versorger vor Ort profi- tieren. Gleichzeitig erhalten Wertschöpfungsketten vom Ich sage: Wer Schweinekeulen global zusammen- Hof auf unsere Teller die Vielfalt traditioneller Produkte, kauft, um sie im Schwarzwald zu räuchern, nützt weder aber auch Arbeitsplätze auf dem Land. Es ist unsere Auf- den heimischen Landwirten noch einem fairen Wettbe- gabe, hier die richtigen Weichen zu stellen, um diesen werb und damit auch nicht den Verbrauchern. Das ist rei- Trend zu stärken. ne Profitmacherei. Wenn wir im Supermarkt klar erkennen können, wo- Immerhin gibt es das Logo der „geschützten Ur- her unser Essen kommt, können wir Politik mit dem sprungsbezeichnung“, das sich von dem oben genann- Einkaufswagen machen. Denn wenn wir uns für Lebens- ten Logo lediglich in der Farbe unterscheidet. Ich frage mittel aus der Region entscheiden, bleibt unser Geld in mich, wie viele Verbraucherinnen und Verbraucher in der Region. Die europäische Verordnung über Quali- Europa diesen Unterschied kennen. tätsregelungen für Agrarerzeugnisse und Lebensmittel Die geschützte Ursprungsbezeichnung mit dem roten schlägt hier einen ganz richtigen Weg ein: Sie regelt den Logo garantiert, dass die Erzeugung, Verarbeitung und Herkunftsschutz und die Kennzeichnung traditioneller Herstellung eines Erzeugnisses in einem bestimmten Spezialitäten in der EU. geografischen Gebiet nach festgelegten Verfahren erfolgt Falls Sie jetzt kein Siegel vor Augen haben, geht es und sämtliche Produktionsschritte in dem betreffenden Ihnen wie den meisten Menschen in Deutschland. Denn Gebiet erfolgen müssen. Das trifft zum Beispiel auf den die Kennzeichnung „geschützte Ursprungsbezeichnung“, Allgäuer Emmentaler zu. Aber nicht auf einen Holsteiner „geschützte geografische Angabe“ oder auch „garantiert 12754 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015

(A) traditionelle Spezialität“ werden hierzulande kaum ver- esse (Abschlussprüferaufsichtsreformgesetz-APA- (C) wendet. Nur elf Produkte, hauptsächlich Käse, Fleisch ReG) (Tagesordnungspunkt 24) und Wein, sind in Deutschland geschützten Ursprungs. Kein einziges Lebensmittel trägt das Gütezeichen „ga- Dr. Matthias Heider (CDU/CSU): Erstens. Die rantiert traditionelle Spezialität“ – und um genau das EU‑Kommission hat im Jahr 2010 unter dem Eindruck geht es bei der heutigen Anpassung des Lebensmittelspe- der Finanzkrise und im Zusammenhang mit der Finanz- zialitätengesetzes an EU-Recht. marktregulierungsreform ein Grünbuch zur Aufarbeitung Wieso wird denn das europäische Gütezeichen „ga- der Rolle der Abschlussprüfer in der Finanzmarktkrise rantiert traditionelle Spezialität“ in Deutschland nicht erarbeitet. Auf diesem Grünbuch aufbauend hat sie eine verwendet? Zunächst einmal: Weil es niemand kennt. Richtlinie und eine Verordnung vorgeschlagen, die am Den Erzeugern und Produzenten bringt es rein gar nichts, 16. April 2014 durch das Europäische Parlament und den mit einem hierzulande unbekannten Siegel zu werben. Rat erlassen wurden. Die Verbraucherinnen und Verbraucher übersehen es im Zweitens. Ziel dieser Regelungsvorschläge ist eine Supermarkt schlicht und ergreifend. Verbesserung der Qualität der Abschlussprüfungen so- wie eine Steigerung der Aussagekraft des Prüfungser- Aber auch wenn sie das runde gelb-blaue Siegel er- gebnisses. Darüber hinaus soll der wesentlich von großen kennen sollten: Die „geschützte traditionelle Spezialität“ Wirtschaftsprüfungsgesellschaften bediente Markt der hält nicht, was sie verspricht. Sie umfasst nämlich nur Abschlussprüfungen bei Unternehmen von öffentlichem die Zusammensetzung des Produkts, also die Rezeptur, Interesse auch für „kleinere“ Abschlussprüfer geöffnet die Herstellungs- oder Verarbeitungsverfahren – nicht aber den Herkunftsort. So sind zum Beispiel die Pizza werden. Napoletana oder der Serrano-Schinken geschützt, müs- Als CDU/CSU‑Bundestagsfraktion begrüßen wir die- sen aber nicht notwendigerweise aus Italien oder Spanien se Ziele ausdrücklich. Sie stärken den Wettbewerb. Der stammen. Jahresabschluss ist die wichtigste Informationsquelle für Um regionale Wertschöpfung zu stärken, ist aber eine ein Unternehmen. Die Dokumentation der Vermögens-, konsequente und für die Verbraucherinnen und Verbrau- Finanz- und Ertragslage zum Bilanzstichtag ist Basis für cher leicht verständliche Kennzeichnung von Lebensmit- Planungen und künftige Entscheidungen des Unterneh- teln Grundvoraussetzung. Diese Kennzeichnung muss mens und der Anteilseigner. Weiterhin wird das Ergebnis sowohl die Herstellungsweise der Produkte umfassen, des Jahresabschlusses von Banken und anderen Gläubi- also beispielsweise traditionelle handwerkliche Verfah- gern als Kriterium für eine Kreditvergabe herangezogen. ren oder Rezepturen, wie auch die Erzeugung, Produkti- Daher ist es von entscheidender Bedeutung, dass der Jah- (B) (D) on und sogar die Futtermittel. resabschluss ordnungsgemäß geprüft wird. Das Lebensmittelspezialitätengesetz allein kann das Heute geht es um die Umsetzung der aufsichts- und nicht leisten. Hier muss die Bundesregierung endlich tä- berufsrechtlichen Regelungen der EU‑Vorschriften. Dazu tig werden: mit einer bundesweiten Regionalkennzeich- hat das Bundeswirtschaftsministerium das Abschlussprü- nung, die verpflichtend kenntlich macht, was mit dem feraufsichtsreformgesetz, kurz das APAReG, vorgelegt. Werbeslogan „aus der Region“ gemeint ist. Nur so kön- Drittens. Was sind die wichtigsten Inhalte dieses Ge- nen wir nichtssagende Industriesiegel loswerden. setzes? Gleichzeitig brauchen wir bessere Förderung und Be- Die einschneidendste Veränderung durch das APA- ratung, um den vielen Regionalinitiativen den Rücken ReG betrifft wohl die Abschlussprüferaufsichtskommis- zu stärken. Im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe zur sion, kurz APAK. Durch die Einrichtung der APAK im Verbesserung der Agrarstruktur und im Rahmen eines Jahr 2004 wurden Abschlussprüfer, die gesetzlich vorge- Bundesprogrammes Regionalvermarktung müssen wir schriebene Abschlussprüfungen vornehmen, unter eine den Auf- und Ausbau regionaler Wirtschaftskreisläufe letztverantwortliche, berufsstandsunabhängige Aufsicht stärken. Nur so können wir die Vielfalt des traditionellen gestellt. Die Aufsicht soll die Qualität, Unabhängigkeit Essens vor Ort erhalten und kleineren landwirtschaftli- und Integrität des Prüferberufes stärken. chen Betrieben und dem Lebensmittelhandwerk eine Zu- kunft aufzeigen. Diese Ziele hat die APAK in den letzten zehn Jahren erreicht. Die APAK genießt international im Kreise der Aufsichtsbehörden über Abschlussprüfer einen sehr gu- ten Ruf. Bei einem Gespräch in der letzten Woche haben Anlage 15 mir Vertreter der kanadischen Wirtschaftsprüferaufsicht Zu Protokoll gegebene Reden die gute Reputation der APAK bestätigt. zur Beratung des von der Bundesregierung einge- Im Zuge der Reform der Aufsicht durch das APAReG brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung soll die Leistungsfähigkeit der APAK erhalten bleiben. der aufsichts- und berufsrechtlichen Regelungen Aufgrund der EU-Vorschriften muss aber die Struktur der der Richtlinie 2014/56/EU sowie zur Ausführung APAK geändert werden. Bisher handelt es sich bei der der entsprechenden Vorgaben der Verordnung APAK um eine nicht rechtsfähige Personengemeinschaft (EU) Nr. 537/2014 im Hinblick auf die Abschluss- eigener Art. Die EU-Vorschriften sehen im Bereich der prüfung bei Unternehmen von öffentlichem Inter- Inspektionen eine berufsstandsunabhängige Behörde vor. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 12755

(A) Die APAK kann diese Aufgaben aufgrund ihrer sichergestellt sein, dass kleine und mittlere Wirtschafts- (C) Rechtsform daher zukünftig nicht mehr wahrnehmen. prüfungsgesellschaften nicht durch umfassende Quali- Sie wird durch das APAReG aufgelöst. Ihre Aufgaben tätskontrollprüfungen überfordert werden. werden auf die neu zu schaffende Abschlussprüferauf- Drittens die Aufsicht über die Qualitätskontrollprüfer sichtsstelle beim Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhr- durch die APAS. Eine solche Regelung ist in der Richt- kontrolle, kurz APAS, übertragen. linie nicht vorgesehen und kann zu mehr Bürokratie bei Als zweiter zentraler Punkt soll durch das APAReG den Qualitätskontrollprüfern führen. die Selbstverwaltung der Wirtschaftsprüfer in der Wirt- Fünftens. Insgesamt soll durch das APAReG das Ver- schaftsprüferkammer, der WPK, soweit wie möglich er- halten bleiben. Das ist gut. Die berufsständische Selbst- trauen in den wichtigen Berufsstand der Abschlussprüfer verwaltung entlastet den Staat und ist Ausprägung des nach der Finanzkrise weiter gestärkt werden. Der Groß- Selbstverständnisses der Freien Berufe. Wir sehen die teil der Wirtschaftsprüfer prüft sehr gewissenhaft, und Selbstverwaltung als ein wichtiges Element einer frei- das Amt genießt in Deutschland ein hohes Ansehen. heitlichen Ordnungspolitik an. Damit das so bleibt, möchte ich hier aber auch an den Weiterhin soll die präventive Berufsaufsicht neu ge- Berufsstand selbst appellieren: Bitte verlieren Sie sich ordnet werden. Es werden Regelungen zur Abgrenzung nicht in internen Streitigkeiten. Diese können dem ge- und Abstimmung von Inspektionen und Qualitätskontrol- samten Berufsstand und damit auch Ihnen selbst schaden. le geschaffen. Darüber hinaus wird es bezogen auf die Lassen Sie uns das APAReG gemeinsam so abschließen, Ermittlungsergebnisse der Qualitätskontrolle zukünftig dass es die EU‑Ziele ausreichend berücksichtigt und den kein allgemeines Verwertungsverbot mehr für die Be- Berufsstand insgesamt stärkt. rufsaufsicht durch die WPK geben. Wichtig für uns ist eine Eins-zu-Eins Umsetzung der Das APAReG enthält zudem neue bzw. strengere be- Richtlinie, die Gewährleistung einer funktionierenden rufsrechtliche Regelungen, zum Beispiel betreffend das Selbstverwaltung des Berufsstandes und eine mittel- Qualitätssicherungssystem, die Unabhängigkeitsanfor- standsfreundliche Ausgestaltung der Regelungen. Dazu derungen und die Dokumentationspflichten. müssen die Stellschrauben im APAReG an einigen Stel- len nochmals justiert werden. Außerdem werden durch das APAReG die Berufsauf- sicht und das berufsgerichtliche Verfahren neu geregelt. (SPD): Infolge der EU‑Abschlussprü- Die Zuständigkeit der WPK und des BAFA für berufsauf- Matthias Ilgen ferreform aus dem Jahr 2014 muss bis Juni 2016 die ge- sichtliche Maßnahmen wird auf schwere Berufspflicht- änderte Abschlussprüferrichtlinie ins deutsche Recht um- (B) verletzungen erstreckt. Die Rechtsschutzmöglichkeiten (D) der Berufsangehörigen werden ausgeweitet. gesetzt werden. Am 1. Juli 2015 hat die Bundesregierung dazu den Entwurf eines Abschlussprüferaufsichtsreform- Des Weiteren wird das System der Teilnahmebeschei- gesetzes – im Folgenden kurz APAReG – beschlossen. nigung abgeschafft. Das entspricht den Forderungen Dieses müssen wir nun im Bundestag debattieren. Der vieler kleiner und mittlerer Wirtschaftsprüfungsgesell- Entwurf sieht im Prinzip die „Eins zu eins“-Umsetzung schaften. Nach dem Regierungsentwurf soll es durch ein der europäischen Vorgaben vor und zielt darauf ab, die Anzeige- und Registrierungsverfahren ersetzt werden. Selbstverwaltung der Wirtschaftsprüfer weitestgehend Darüber hinaus wird der Kontrollzyklus im Rahmen der zu erhalten. Dennoch stehen erhebliche Umstrukturie- Qualitätskontrolle allgemein und im Rahmen der Ins- rungen bevor. pektionen für Prüferpraxen, die kleine und mittlere Un- Kernelement der Reform ist die Übertragung von ternehmen von öffentlichem Interesse prüfen, auf sechs Aufgaben der Abschlussprüferaufsichtskommission und Jahre verlängert. der Wirtschaftsprüferkammer auf eine neue Abschluss- Schließlich wird für die vereidigten Buchprüfer eine prüferaufsichtsstelle beim Bundesamt für Wirtschaft und verkürzte Prüfung zum Wirtschaftsprüfer eingeführt. Ausfuhrkontrolle. So werden die derzeit national und in- ternational anerkannte Aufsichtstätigkeit der APAK so- Viertens. Ich denke, dass es sich beim APAReG um wie einzelne Aufgaben der Berufsaufsicht der WPK in eine solide Umsetzung der europäischen Vorgaben han- eine eigenständige Abschlussprüferaufsichtsstelle beim delt. Doch nach der Maßgabe: „Es verlässt kein Gesetz Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle über- den Bundestag, wie es hereinkommt“, werden wir uns im führt. parlamentarischen Verfahren einige Punkte noch genauer anschauen. Beispielhaft seien folgende erwähnt: Zwar erfüllt die APAK bereits jetzt die EU‑Anforde- rungen an Qualifikation und Unabhängigkeit von Leitung Erstens die Registrierungspflicht, die im Regierungs- und Mitarbeitern. Sie kann aber die Aufgaben aufgrund entwurf anstatt einer Teilnahmebescheinigung vorge- ihrer Rechtsform und Struktur zukünftig nicht mehr sehen ist. Durch eine solche Registrierungspflicht wird wahrnehmen. Die APAK ist ehrenamtlich tätig, hat keine möglicherweise erneut Bürokratie aufgebaut, die mit Rechtspersönlichkeit und bedient sich zur Erfüllung ihrer der Abschaffung der Teilnahmebescheinigung wegfallen derzeitigen Aufgaben der Mitarbeiter der WPK. Zukünf- sollte. tig ist dies aufgrund der EU‑Vorgaben nicht mehr mög- Zweitens die Intensität der Qualitätskontrollprüfun- lich; die berufsstandsunabhängige Aufsicht muss selbst gen. Es ist für uns wichtig, dass sich diese am Umfang operativ Aufgaben durch eigene Mitarbeiter wahrneh- der Geschäftstätigkeit der Praxen orientiert. Es muss men und Verwaltungsakte erlassen. 12756 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015

(A) Liebe Kolleginnen und Kollegen, durch die Einglie- diffamierenden Auseinandersetzungen innerhalb des Be- (C) derung der APAS als eigenständige Stelle in das BAFA rufstands der Wirtschaftsprüfer mit Sorge. Im Rahmen können bestehende Verwaltungsstrukturen im Sinne der der Rechtsaufsicht über die WPK und die APAK habe Wirtschaftlichkeit genutzt werden. Gleichzeitig werden ich – oft gemeinsam mit meinem Kollegen Dr. Matthias durch die Eigenständigkeit der Stelle die EU‑Anforde- Heider – stets und umfangreich den Dialog mit allen rungen an die Qualifikation und Letztverantwortung der Vertretern des Berufsstands gesucht, insbesondere auch Leitung erfüllt sowie die Sichtbarkeit und der Erhalt mit Verbandsmitgliedern der mittelständischen Wirt- der „Marke“ APAK/APAS als national und internatio- schaftsprüfung. Dabei haben wir bei allen Beteiligten nal hoch anerkannte berufsstandsunabhängige Aufsicht für sachorientierte Lösungen und eine konstruktive, zu- gesichert. Die Kontinuität der bisherigen Aufsicht wird kunftsgerichtete Zusammenarbeit geworben. insbesondere durch eine weitestmögliche gesetzliche Wir erreichen mit diesem Gesetzentwurf, sehr verehr- Übernahme des vorhandenen hochqualifizierten Perso- te Kolleginnen und Kollegen, das Interesse der EU‑Re- nals gewährleistet. form insbesondere auch für die APAS und die WPK zu Ein zweiter wichtiger Bestandteil des APAReG ist der stärken. Für mich steht fest: Eine Schwächung und Be- weitestmögliche Erhalt der beruflichen Selbstverwal- schädigung der Abschlussprüferaufsicht hätte auch eine tung. Die berufliche Selbstverwaltung hat sich bei den Schwächung der Finanzmarktaufsicht zur Folge und Wirtschafsprüfern – wie auch bei anderen Freien Beru- könnte die Finanzmarktstabilität und damit das Vertrauen fen – als effektiv und bürokratiearm erwiesen und damit der Unternehmen, Investoren und internationalen Finanz- bewährt. Bereits in den europäischen Verhandlungen hat märkte in das deutsche Aufsichtssystem gefährden – und sich die Bundesregierung erfolgreich dafür eingesetzt, damit letztendlich dem Wirtschaftsstandort Deutschland dass die Selbstverwaltung des Berufsstandes der Wirt- schaden. Hieran ist uns wirklich nicht gelegen. schaftsprüfer in die staatliche Aufsichtsaufgabe einge- bunden werden kann. Soweit es europarechtlich zulässig Klaus Ernst (DIE LINKE): Uns liegt heute das Ab- ist, wird daher im Wege einer Mitgliedstaatenoption ein schlussprüferaufsichtsreformgesetz, APAReG, zur ersten Teil der Aufgaben – unter der Letztverantwortung der Lesung vor, mit dem europäische Verordnungen für Ab- APAS – auf die bestehende Selbstverwaltung der Wirt- schlussprüfer und Prüfer von Unternehmen von öffentli- schaftsprüfer in der WPK gesetzlich übertragen. chem Interesse, PIE, umgesetzt werden sollen. Nicht zuletzt sieht der Gesetzentwurf – entsprechend Wir halten Reformen in diesem Bereich für überfäl- den europäischen Vorgaben – in zahlreichen Punkten lig. Wir wissen, dass es bei vielen Wirtschaftsprüfern in neue oder strengere berufsrechtliche Regelungen, etwa Deutschland brodelt und es in ihren berufsständischen Organisationen nicht zum Besten steht. Auch halten wir (B) zum Qualitätssicherungs-System, zu den Unabhängig- (D) keitsanforderungen an Abschlussprüfer und zu Doku- die Aufsichtsstrukturen in der heutigen Form für unge- mentationspflichten vor. Zu den Verschärfungen im eignet, die Rechtsaufsicht durch die zuständigen Behör- Berufsrecht gehören die zwingend vorgegebene Sankti- den für vollkommen zahnlose Tiger. Sie werden den Auf- onierung von Berufsgesellschaften, die Veröffentlichung gaben in keinster Weise gerecht. von Sanktionen und die Berücksichtigung von bei der Seit Jahren kommt Kritik aus dem Berufsstand der Qualitätskontrolle festgestellten Berufspflichtverletzun- Wirtschaftsprüfer selbst. Strukturell ist der Prüfermarkt gen im Berufsaufsichts-verfahren. Zulässige Erleichte- hochgradig konzentriert: 90 Prozent der 160 Unterneh- rungen insbesondere im Rahmen der Qualitätskontrolle men aus DAX, MDAX, TecDAX und SDAX werden von und für mittlere und kleinere Prüferpraxen werden zur den großen vier Gesellschaften betreut. Betreut heißt bis Vermeidung übermäßiger bürokratischer Belastungen heute gleichzeitig beraten und geprüft! Das ist keine Fra- umgesetzt. ge der Kompetenz, auch die EU-Kommission drängt seit Der Entwurf enthält darüber hinaus eine Verbesserung Jahren vergeblich auf eine strikte Trennung von Beratung der Qualität der Abschlussprüfung. Die Neuordnung des und Prüfung sowie effektive Kontrolle und Aufsicht. berufsaufsichtlichen Verfahrens soll einer einheitlichen Das APAReG jedoch stellt diese Kardinalfehler nicht und zügigen Sanktionierung von Berufspflichtverstößen ab. Stattdessen werden bestehende Überregulierungen und Ausweitung des gerichtlichen Rechtsschutzes die- im Berufsrecht beibehalten und selbständige Wirtschafts- nen. Zusätzlich wird für die vereidigten Buchprüfer die prüfer und kleine, mittelständische Prüfgesellschaften Möglichkeit einer verkürzten Prüfung zum Wirtschafts- behindert. Für sie werden die Qualifizierungsanforde- prüfer wieder eingeführt. rungen und andere bürokratische Hürden sogar erhöht. Wie in jedem Gesetzgebungsverfahren haben auch Hier zeigt sich konkret, was die immer in Sonntagsreden beim APAReG die interessierten Kreise Gelegenheit zur betonte mittelstandsfreundliche Politik der CDU/CSU im Stellungnahme erhalten und diese in zahlreichen Gesprä- Alltag heißt. Ähnlich trist sieht es bei der SPD aus: Sie versucht nicht einmal, die massiven Ungleichgewichte chen und einem regen Postverkehr gegenüber mir und zwischen den Big 4 und dem Rest abzubauen und die meinen Berichterstatter-Kollegen genutzt. Leider kam es vermachteten Märkte aufzubrechen. Die Große Koaliti- diesbezüglich wiederholt zu inhaltlich falschen und un- on will sich ganz offensichtlich nicht mit PwC, KPMG, sachlichen Beiträgen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, Deloitte und Ernst &Young anlegen. Warum auch? De- das sollten wir nicht so hinnehmen. ren Vertreter haben leichten Zugang in die Ministerien, Genauso wie das BMWi verfolgen wir die andauern- schreiben indirekt an Gesetzen mit oder werden als Be- den und zum Teil äußerst unsachlichen und persönlich rater bestellt. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015 12757

(A) Aber nicht nur in diesem Punkt versagt die Bun- zierungen, hoher bürokratischer Aufwand und der starke (C) desregierung mit dem APAReG. Medienberichte über Bezug auf abzuhakende Checklisten stehen einer ver- Lobbyarbeit und Kungelrunden, wie sie zuletzt das nünftigen unabhängigen Prüfung entgegen. HANDELSBLATT im Zusammenhang von Luxleaks im Wir begrüßen die Integration der Abschlussprüferauf- Juni 2015 beschrieben hat, sind eine Sache. Eine andere sichtskommission, APAK, in das Bundesamt für Wirt- Sache ist die massive Kritik aus dem Berufsstand selbst und die unzureichende Lösung des massiven Streits schaft und Ausfuhrkontrolle, BAFA. Die Beschränkung durch die ministerielle Rechtsaufsicht. Sie wird von vie- der Kontrolle des Bundes auf eine bloße Rechtsaufsicht len Wirtschaftsprüfern längst nicht mehr als unabhängig allerdings widerspricht dem Demokratieprinzip. Zentral Kontrolle und möglicher Mediator wahrgenommen. Da bleibt für uns, die bestehenden Interessenkonflikte trans- hilft es überhaupt nicht weiter, die Problematik als die parent und offen darzulegen und abzustellen. Angelegenheit einer kleinen Krawalltruppe frustrierter Wir können die Kritik vieler Wirtschaftsprüfer ver- Wirtschaftsprüfer abzutun, die mit haltlosen Unterstel- stehen, die uns in den letzten Wochen zum APAReG lungen Stimmung machen will. erreicht hat. Manches teilen wir ausdrücklich, insbe- Denn wie spätestens seit 2007 klar geworden sein sondere bei den berufsständischen Organisationen, sollte, sind trotz bester Prüfberichte und formal korrekter den Kontroll­gremien und vor allem der ministeriellen Bilanzprüfung reihenweise Banken, Versicherungen und Rechtsaufsicht. Die Bundesregierung aber schweigt zu Unternehmen über Nacht insolvent geworden. Die Steu- diesen Problemen. Wir hoffen, dass in der kommenden erzahlerinnen und Steuerzahler mussten für dieses Versa- Anhörung im Wirtschaftsausschuss zum APAReG eini- gen von Wirtschaftsprüfer tief in die Tasche greifen. ge Regeln zurückgenommen werden, sodass kleine und mittelständische Prüfgesellschaften gefördert werden Selbstverständlich trägt der Berufsstand der Wirt- und der Gesetzgeber endlich die wirklichen Probleme schaftsprüfer nicht allein die Schuld an zurückliegenden wahrnimmt und angeht. Bilanzskandalen und der Krise 2007/08. Viele in Wirt- schaft und Politik haben gleichermaßen versagt. Genau (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Zu deshalb muss an vielen unterschiedlichen Stellen mit Dieter Janecek Beginn der Legislatur hat sich diese Koalition lautstark verschiedenen Instrumenten angesetzt werden. Nur so zu dem Ziel des Bürokratieabbaus insbesondere im Hin- kann verhindert werden, dass dies noch einmal geschieht. blick auf die Vorgaben der EU bekannt. Außerdem soll Dafür aber müssen die richtigen Prioritäten gesetzt und gerade die mittelständische Industrie gefördert und von Probleme schonungslos benannt werden. Vorgaben entlastet werden. Mit dem vorgelegten Gesetz- Hier liegt das Grundproblem des vorliegenden APA- entwurf zur Reform der Abschlussprüferaufsicht können (B) ReG. Es sollen zwar die Qualität der Prüfungen und die diese beiden – sehr wichtigen – Ziele nur ansatzweise (D) Kontrolle verbessert werden. Aber wo liegen die Quali- umgesetzt werden. täts- und Kontrollprobleme, und wer wird angesprochen? Gerade kleine und mittlere Wirtschaftsprüferkanzlei- An allen großen Bilanzskandalen sind stets die großen en müssen nach dem Entwurf der Bundesregierung mit Prüfungsgesellschaften mitbeteiligt gewesen. Falsche deutlich mehr Vorgaben rechnen, als sie die EU verlangt. oder zu gute Testate pflastern den Weg bis in die Insol- Von einer Eins-zu-Eins-Umsetzung ist der Koalitionsent- venz! Aktuell wird die Kompetenzfrage auch im VW wurf weit entfernt, obwohl exakt dies im Koalitionsver- Skandal zu stellen sein. Denn auch hier gab es bis vor trag geschrieben steht: „Wir wollen EU‑Vorgaben ‚eins wenige Wochen nur beste Testate der bestellten Prüfge- zu eins‘ umsetzen“, heißt es dort. sellschaft, obwohl auch ihr die Risiken und der mögliche Insbesondere die geplanten Änderungen an der Orga- Betrug lange bekannt gewesen sein dürften. Am Ende nisation der Kammer werfen die Frage auf, warum das werden viele Testate keinen Pfifferling wert sein, und die Bundeswirtschaftsministerium derart in die Struktur der Zeche müssen die Beschäftigten, die Steuerzahler und Kammer eingreift und dort die Machtverhältnisse deut- Kommunen zahlen. lich in Richtung Präsident und Präsidium verschiebt. Der Eine in der Breite schlechte Qualität der Wirtschafts- Kammerpräsident soll nach dem Regierungsentwurf Or- prüfung der klein- und mittelständischen privaten wie öf- ganstellung erhalten, und die Mitglieder des Präsidiums fentlichen Unternehmen gibt es dagegen nicht! Ähnlich für den Beirat der Kammer sollen stimmberechtigt wer- sieht es auch die EU‑Kommission, deren Vorgaben im den. Dadurch ändern sich dort die Mehrheitsverhältnis- APAReG nicht wirklich umgesetzt werden. Man konzen- se der berufspolitischen Lager, und allein deswegen ist triert sich lieber auf die rein formelle Qualität der Prü- dieser Eingriff keine Kleinigkeit. Hier wird im Gesetz- fung und formuliert eine Reform zugunsten der Big 4. gebungsverfahren zu klären sein, ob diese Maßnahmen, die weit über die EU-Vorgaben hinausgehen, zu rechtfer- Es ist für uns nicht schlüssig, warum sich künftig alle tigen sind. Abschlussprüfungen an den Anforderungen von Un- ternehmen von öffentlichem Interesse, PIE, orientieren Damit kommen wir zu einem weiteren wichtigen sollten. Der Aufwand für kleine und mittlere Praxen so- Punkt: Im Laufe des Gesetzgebungsprozesses zur Re- wie die weitere Standardisierung der Prüfung sind un- form der Abschlussprüferaufsicht, aber auch zur Reform verhältnismäßig. Befördert wird damit der weitere Ver- der Wirtschaftsprüferordnung, die parallel läuft, hat sich drängungswettbewerb zugunsten weniger Prüfungs- und herausgestellt, dass die berufspolitischen Lager sehr zer- Beratungsgesellschaften. Das wiederum erschwert die stritten sind. Ein Streitpunkt war und ist noch immer die Qualitätssicherung und deren Kontrolle. Teure Zertifi- Vergütung der Mitglieder der Abschlussprüferaufsichts- 12758 Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015

(A) kommission. Bedingt durch eine hohe Intransparenz und Testate ausgestellt trotz der Risiken, die in bestimmten (C) Vorwürfe der Befangenheit stehen sich hier die Partei- Bankenbilanzen lauerten. en mit deutlich unterschiedlichen Positionen gegenüber. Parallel dazu kann man sich auch fragen, ob bei der Was an dieser Stelle die einzige Lösung sein kann, ist Überprüfung der VW-Bilanzen nicht schon eher auf das mehr Transparenz. Risiko manipulierter oder zumindest überhöhter Abgas- Nach dem Regierungsentwurf ist für die neu einzu- werte hingewiesen hätte werden müssen. Schon 2014 richtende Abschlussprüferaufsichtsstelle, APAS, für gab es erste Hinweise und Ermittlungen seitens der bestimmte Angestellte eine Entlohnung außerhalb des US‑Behörden. Aber diese Fälle zeigen die Bedeutung TVöD vorgesehen, um genug geeignetes Fachpersonal einer funktionierenden Aufsicht, insbesondere über die zu finden. Dies ist im Prinzip nicht anzugreifen, aber es Prüfgesellschaften von Unternehmen mit sogenanntem muss sichergestellt sein, dass sich die Vergütungen im öffentlichem Interesse. Rahmen halten, und dazu bedarf es einer angemessenen Ob die geplanten Veränderungen bei der Qualitäts- parlamentarischen Kontrolle. Dies gilt sowohl für das prüfung kleinerer Prüfgesellschaften sinnvoll sind, muss Gesamtbudget der APAS wie auch für die Vergütung der sich im Laufe des Gesetzgebungsprozesses noch klären. neuen Leitung der APAS. Budget und Gehaltsrahmen Die möglichen Sanktionen sollen ausgeweitet und die der Vorstände müssen für das Parlament, aber auch die Kontrolle verschärft werden. Ob dies unter dem Ge- Öffentlichkeit nachvollziehbar sein und dürfen keinerlei sichtspunkt des Bürokratieabbaus und der Verhältnismä- Geheimhaltung unterliegen. Das Versteckspiel, das das ßigkeit geboten ist, erscheint zumindest zweifelhaft. Bundeswirtschaftsministerium aktuell in Bezug auf die Zweifelhaft ist auch die Angliederung der Aufsicht an Vergütung der Abschlussprüferaufsichtskommission ge- das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle. In zeigt hat, ist kleinkariert und hat nur Vermutungen ins der Vergangenheit hat dieses Amt keinerlei Erfahrung in Kraut schießen lassen, dass die Vergütungen und Ent- der Berufsaufsicht sammeln können, und auch im Sinne schädigungen nicht angemessen sind. Wer etwas ver- der Transparenz erscheint die Schaffung einer eigenstän- steckt, darf sich über Kritik nicht beschweren. digen Behörde sinnvoller. Das Anhängen an das BAFA Ein weiterer Punkt, den ich ansprechen will, ist die scheint mehr die Flucht des Bundeswirtschaftsministe- Qualitätskontrolle der Wirtschaftsprüfung. Diese Quali- riums vor der Verantwortung zu sein und erschwert zu- tätskontrolle und daraus abgeleitet die Qualitätsprüfung dem eine wirksame parlamentarische Kontrolle. Durch für die Abschlussprüfung ist ein entscheidendes Ziel der erstens mehr Transparenz und zweitens der Stärkung der Reform, gerade im Hinblick auf Wirtschaftsprüfungsleis- Kompetenzen des Parlaments und seiner Mitglieder wäre tungen, die angesichts teilweise dramatischen Manage- die neue Aufsicht durchaus ein Fortschritt. Dies ist bisher (B) mentversagens – zu erwähnen ist hier etwa die Insolvenz durch den Regierungsentwurf nicht ersichtlich. (D) der Sächsischen Landesbank – sicher hinterfragt wer- Das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie den müssen. Für die Prüfungen von Unternehmen von ist gefordert, im weiteren Verfahren die offenen Fragen öffentlichem Interesse ist weiterhin die Abschlussprü- zu klären. Auch und besonders vor der Maßgabe, dass feraufsicht zuständig. Hier stellt sich für mich die Fra- es sich um einen gespaltenen Berufsstand mit einer ho- ge: Wie kann wirksamer verhindert werden, dass es zu hen Markt- und Machtkonzentration handelt, wird meine zweifelhaften Prüfergebnissen wie zur Zeit der Finanz- Fraktion genau darauf achten, wie die Reform der Ab- krise kommen kann? Damals wurden uneingeschränkte schlussprüferaufsicht am Ende aussehen wird. Deutscher Bundestag – 18. Wahlperiode – 130. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. Oktober 2015

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