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Plenarprotokoll 14/17

Deutscher

Stenographischer Bericht

17. Sitzung

Bonn, Freitag, den 22. Januar 1999

I n h a l t :

Tagesordnungspunkt 10: Ulla () SPD...... 1165 A, 1166 B Erste Beratung des von den Fraktionen SPD ...... 1167 D SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN CDU/CSU...... 1169 B eingebrachten Entwurfs einesGesetzes zur Neuregelung der geringfügigen Wolfgang Weiermann SPD ...... 1170 D Beschäftigungsverhältnisse (Drucksache Dr. F.D.P...... 1171 B 14/280) ...... 1143 A Margot von Renesse SPD ...... 1171 D in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 6:1171 D Zusatztagesordnungspunkt 5: Aktuelle Stunde betr. Haltung der Bun- Antrag der Fraktion der CDU/CSU desregierung zu dem Urteil des Bundes- verfassungsgerichts vom 19. Januar 1999 Beschäftigung fördern – soziale Siche- zur steuerlichen Behandlung von Kin- rung verbessern – Flexibilisierung er- derbetreuungskosten und Haushalts- halten (Drucksache 14/290)...... 1143 B freibetrag bei Ehepaaren im Zusam- , Bundesminister BMA ...... 1143 C menhang mit der aktuellen Behandlung des Steuerentlastungsgesetzes und seiner Dr. Hermann Kues CDU/CSU...... 1145 D haushalterischen Auswirkungen...... 1173 A (Aachen) SPD ...... 1146 C Dr. Barbara Höll PDS...... 1173 B Dr. Thea Dückert BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Dr. Barbara Hendricks, Parl. Staatssekretärin NEN...... 1148 A BMF...... 1174 B Dr. Irmgard Schwaetzer F.D.P...... 1151 C Hansgeorg Hauser (Rednitzhembach) Dr. Heidi Knake-Werner PDS ...... 1153 C CDU/CSU...... 1175 D Silvia Schmidt (Eisleben) SPD ...... 1155 B Klaus Wolfgang Müller (Kiel) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN...... 1176 D Julius Louven CDU/CSU...... 1157 B Gisela Frick F.D.P...... 1177 D Dr. , Bundesministerin BMFSFJ...... 1159 C Dr. Christine Bergmann, Bundesministerin BMFSFJ...... 1179 A Karl-Josef Laumann CDU/CSU...... 1161 C Hannelore Rönsch (Wiesbaden) CDU/CSU .... 1180 B Dr. Maria Böhmer CDU/CSU...... 1162 A, 1167 B Christine Scheel BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Heinz Schemken CDU/CSU...... 1163 B, 1170 A NEN...... 1181 D Konrad Gilges SPD...... 1163 C, 1164 A Dr. PDS...... 1183 A Dr. Ilja Seifert PDS...... 1164 C Nicolette Kressl SPD ...... 1184 B II Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 17. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1999

Norbert Barthle CDU/CSU...... 1185 B Anlage 1 Lydia Westrich SPD ...... 1186 C Liste der entschuldigten Abgeordneten ...... 1191 A Jochen-Konrad Fromme CDU/CSU ...... 1187 B Ingrid Matthäus-Maier SPD...... 1188 B Anlage 2 Nächste Sitzung ...... 1189 C Amtliche Mitteilungen...... 1192 A Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 17. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1999 1143

(A) (C)

17. Sitzung

Bonn, Freitag, den 22. Januar 1999

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident : Die Sitzung ist er- Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und So- öffnet. zialordnung: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Seit Monaten beherrscht kaum ein sozialpolitisches Ich rufe Tagesordnungspunkt 10 sowie Zusatzpunkt 5 Thema die Debatte so stark wie die Zukunft der sozial- auf: versicherungspflichtigen geringfügigen Beschäftigungs- verhältnisse. 10. Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten (Zuruf von der F.D.P.) Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung der – Es liegt nicht an uns, es liegt an der Materie. – Die geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse Diskussion erfolgt in den Fraktionen und in den Par- – Drucksache 14/280 – teien. Überweisungsvorschlag: (Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Eine einzige Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung (federführend) Katastrophe!) (B) Innenausschuß (D) Sportausschuß – Das ist keine Katastrophe. Eine Katastrophe ist, daß Rechtsausschuß die Diskussion nicht früher erfolgte und daß nicht früher Finanzausschuß Ausschuß für Wirtschaft und Technologie gehandelt wurde. Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Gesundheit (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Ausschuß für Tourismus GRÜNEN und der PDS) Ausschuß für Kultur und Medien Haushaltsausschuß Die Diskussion über dieses Thema ist gerechtfertigt. ZP5 Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU Ich will Ihnen die Problematik an zwei kleinen Beispie- len aufzeigen. Beschäftigung fördern – soziale Sicherung ver- bessern – Flexibilisierung erhalten Erstes Beispiel. Ein Handwerksgeselle steht in einem regulären Beschäftigungsverhältnis. Der Geselle arbeitet – Drucksache 14/290 – 38,5 Stunden in der Woche in einem Tischlerbetrieb und zahlt von seinen 4 000 DM brutto Steuern und Sozialab- Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung (federführend) gaben. Nach Feierabend jobbt er für einen anderen Be- Innenausschuß trieb – bis jetzt sozialabgabenfrei – auf 630-DM-Basis. Sportausschuß Die Pauschalsteuer zahlt möglicherweise der Arbeitge- Rechtsausschuß Finanzausschuß ber. Ausschuß für Wirtschaft und Technologie Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Zuruf von der CDU/CSU: Muß er ja!) Ausschuß für Gesundheit Ausschuß für Tourismus – Nein, das muß der Arbeitgeber nicht. Die Steuerpflicht Ausschuß für Kultur und Medien bei Arbeitgebern ist nicht gegeben. Haushaltsausschuß Dieser Handwerksgeselle mit einem Gesamteinkom- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für men von 4 630 DM muß bis zum heutigen Tag nur für die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. – Ich höre4 000 DM Steuern und Abgaben zahlen. Ein anderer keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Arbeitnehmer, der das gleiche Einkommen mit nur ei- (Dr. [F.D.P.]: Die Regie- nem Job erzielt, ist für das gesamte Einkommen steuer- rung fehlt!) und sozialabgabenpflichtig. Damit subventionieren heute Arbeitnehmer mit ihrem regulären Arbeitsverhält- Ich erteile das Wort Bundesminister Walter Riester. nis die Zweitjobs derjenigen, die noch etwas hinzuver- 1144 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 17. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1999

Bundesminister Walter Riester (A) dienen wollen. Niemand kann behaupten, daß das inhigkeit, für mehr Arbeitsplätze und für mehr Gerechtig- (C) Ordnung ist. Hier klafft eine Gerechtigkeitslücke. keit. Zweites Beispiel. Eine alleinerziehende Frau mit zwei (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Kindern arbeitet in einem geringfügigen Beschäfti- DIE GRÜNEN – Widerspruch bei der F.D.P.) gungsverhältnis. Viel mehr kann sie den Umständen be- Das sind wir den Beschäftigten, der Solidargemeinschaft dingt häufig auch gar nicht tun. Diese Frau, die insge-der Beitragszahler und – das betone ich ganz besonders samt eine Dreifachbelastung zu tragen hat, erhält nach – den Arbeitnehmerinnen im Lande schuldig; jetziger Rechtslage nicht einmal die Chance, für einen Pfennig ihres Verdienstes Rentenansprüche zu erwer- (Zuruf von der CDU/CSU: Das sehen die ben. Auch hier klafft eine Gerechtigkeitslücke. Frauen in Ihrer Fraktion aber anders!) Mit dem heute eingebrachten Entwurf eines Gesetzes denn der Erwerb von Rentenansprüchen bleibt nicht zur Neuregelung der geringfügigen Beschäftigungsver- länger ein Privileg derjenigen, die mit ihrem Einkom- hältnisse werden wir diese Lücken schließen. men über der Geringfügigkeitsgrenze liegen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS (Zuruf von der F.D.P.: Und die Frauen müssen 90/DIE GRÜNEN) zahlen!) Wir haben die Argumente aller Beteiligten, der Wirt-Jede Frau und jeder Mann kann künftig von der ersten schaft, der Gewerkschaft und der Sozialversicherung,verdienten Mark an Rentenansprüche erwerben. genau zur Kenntnis genommen und – wo berechtigt – in (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ den Gesetzentwurf einfließen lassen. In diesem Haus DIE GRÜNEN) dürfte eine große Mehrheit mit mir der Meinung sein, daß wir die geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse Damit tragen wir insbesondere den Bedürfnissen der reformieren müssen. Die Entwicklung ist aus dem Ruder Frauen Rechnung. Sie, die bislang oft in ungeschützten gelaufen. Beschäftigungsverhältnissen beschäftigt waren, können sich endlich eigenständig gegen Invalidität und Alter ab- (Zuruf von der SPD: Sehr wahr!) sichern. Ursprünglich waren die geringfügigen Beschäftigungs- (Walter Hirche [F.D.P.]: Jede private Versi- verhältnisse die Ausnahme. Auftragsspitzen sollten auf- cherung ist günstiger!) gefangen werden; einigen Personengruppen sollte dieDamit schließen wir eine Lücke im Sozialversicherungs- Möglichkeit gegeben werden, sich ein paar Mark dazu- system. (B) zuverdienen. Doch heute ist in vielen Bereichen die (D) Ausnahme zur Regel geworden. Die Möglichkeit, ge- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS ringfügige Beschäftigungsverhältnisse einzugehen, wird 90/DIE GRÜNEN) zunehmend mißbraucht. In Deutschland hat dieZahl der geringfügig Beschäftigten in den vergangenen Jah- Damit bringen wir auch wieder ein Stück mehr Ordnung ren sprunghaft zugenommen. in den Arbeitsmarkt. Künftig sind von der ersten Mark an Beiträge zur Sozialversicherung zu zahlen. Wir stop- Dazu nur ein paar Zahlen: Nach einer Untersuchung pen damit auch die Erosion des Beitragsfundamentes. des Instituts für Sozialforschung und Gesellschaftspoli- Ordnung auf dem Arbeitsmarkt heißt aber auch mehr tik war von 1992 bis 1997 ein Anstieg von 4,5 Millionen Transparenz. Jedes Beschäftigungsverhältnis, ob für 300 auf 5,6 Millionen Personen in geringfügigen Arbeitsver- oder 630 DM im Monat, wird künftig auf der Lohnsteu- hältnissen zu verzeichnen. Das entspricht einer Zunahme erkarte vermerkt. von 24 Prozent in 5 Jahren. Die Zahl der sozialversiche- rungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse ist im glei- (Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]: Das heißt chen Zeitraum um 7 Prozent bzw. um 2 Millionen abge- mehr Bürokratie!) sunken. In manchen Branchen ist der Zuwachs sogar dramatisch. Im Einzelhandel stieg die Zahl der gering- – Nein, das heißt nicht mehr Bürokratie. Das heißt erst- fügig Beschäftigten in 10 Jahren um 157 Prozent, immals die Kontrollmöglichkeit und auch die Verhinde- Gastgewerbe sogar um 172 Prozent. rung von zunehmender Schwarzarbeit. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Diese Zahlen bestätigen: Es geht bei dieser Beschäf- DIE GRÜNEN – Lachen bei der F.D.P.) tigungsform nicht mehr nur um eine sinnvolle Ergän- zung zu den sozialversicherungspflichtigen Beschäfti- Ein Wort aber auch zu den Bedenken in der Wirt- gungsverhältnissen, sondern es geht in weiten Bereichen schaft: Durch den systematischen Mißbrauch der 630- um die konsequenteFlucht aus der Solidargemein- DM-Jobs verschaffen sich Teile der Wirtschaft Wettbe- schaft. Diesen Trend werden wir stoppen. werbsvorteile zu Lasten derer, die Monat für Monat ihre Beiträge für die Sozialversicherung verantwortungsvoll (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS entrichten. Diese Wettbewerbsverzerrung werden wir 90/DIE GRÜNEN) beenden. Unsere Reform der geringfügigen Beschäftigungs- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS verhältnisse ist eine Reform für mehr Wettbewerbsfä- 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 17. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1999 1145

Bundesminister Walter Riester (A) Wir wollen diese Beschäftigungsform wieder zu dem Meine Damen und Herren, unsere Reform ist gut. Sie (C) machen, wozu sie einmal gedacht war. Sie soll nämlich überfordert die Wirtschaft nicht, sie ist sozial ausgewo- die notwendige Flexibilität im Arbeitseinsatz dort ge- gen, und sie sorgt für mehr Beitragsgerechtigkeit. währleisten, wo dies mit normalen Arbeitsverhältnissen nur schwierig möglich wäre. Mittelfristig werden wir (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ daher die Ausweitung der geringfügigen Beschäfti- DIE GRÜNEN) gungsverhältnisse eindämmen. Das gelingt uns, indem Unsere Reform macht ein weiteres Aufsplitten von Ar- wir die Geringfügigkeitsgrenze bei 630 DM einfrieren. beitsverhältnissen unattraktiver und verhindert ein Aus- Ich betone ausdrücklich: Die Bundesregierung willweichen in die Schwarzarbeit. die 630-DM-Jobs nicht abschaffen. (Zuruf von der CDU/CSU: Im Gegenteil!) (Zuruf von der F.D.P.: Ja sicher!) Außerdem bieten wir künftig allen Arbeitnehmerinnen Sie ist sich sehr wohl bewußt, daß sie in einer Vielzahl und Arbeitnehmern, unabhängig von Arbeitszeit und von Wirtschaftsbereichen gebraucht werden. Sie ist sich Einkommen, die Möglichkeit, sich für ihr Alter abzusi- auch bewußt, daß erhebliche Teile der geringfügig Be- chern. schäftigten diese Arbeit ausführen, um sich etwas hinzu- zuverdienen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) Darum hoffe ich auf breite Zustimmung zu diesem Für die Arbeitgeber, die bislang eine Pauschalsteuer Gesetzentwurf von allen, denen an einer wirklichen auf die 630 DM entrichtet haben, ändert sich von derVerbesserung des Status quo gelegen ist. Belastung her nicht viel. Ab 1. April 1999 müssen die Arbeitgeber für geringfügige Beschäftigungsverhältnisse Herzlichen Dank. Pauschalbeiträge von 12 Prozent an die Rentenversi- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ cherung und 10 Prozent an die Krankenversicherung lei- DIE GRÜNEN) sten. Keine Arbeitnehmerin und kein Arbeitnehmer muß befürchten, daß das geringfügige Beschäftigungsver- hältnis nun unrentabel wird. Präsident Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun (Dr. Irmgard Schwaetzer [F.D.P.]: Ach!) der Kollege Hermann Kues, CDU/CSU-Fraktion. Es bleibt bei unserem Versprechen: Wenn die monatli- (B) chen Einkünfte 630 DM nicht übersteigen, bleiben sie (D) steuerfrei. Dr. Hermann Kues (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister Riester, (Dr. Irmgard Schwaetzer [F.D.P.]: Aber wer Ihre Rede paßte zu allem möglichen, nur nicht zu dem hat das denn? – Walter Hirche [F.D.P.]: Das Gesetzentwurf, den Sie vorgelegt haben. ist doch sowieso so!) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) – Das ist nicht sowieso so, denn bisher waren sie nicht steuerfrei. Ich fange einmal mit einer konkreten Zahl an. Sie ha- ben tatsächlich die Unverfrorenheit besessen, hier von Bei verheirateten Arbeitnehmerinnen und Arbeit- 4,5 bis 5,6 Millionen 630-DM-Arbeitsverhältnissen zu nehmern bleibt es auch dann bei der Steuerfreiheit, sprechen. Wenn Sie sich Ihren Gesetzentwurf ansehen, wenn der andere Ehegatte eigene Einkünfte erzielt. Da- können Sie feststellen, daß Sie dort von 2,5 Millionen mit wollen wir die Funktion der 630-DM-Jobs geringfügigen als Beschäftigungsverhältnissen ausgehen. Brücke in den Arbeitsmarkt stärken. (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Hört! (Julius Louven [CDU/CDU]: Heiße Luft! – Hört!) Unruhe bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Angesichts dieses Zahlenwerks wird deutlich: In Ihrem – Vielleicht können Sie einmal zuhören, dann könnenkonkreten Gesetzentwurf legen Sie das schon nicht mehr Sie anschließend besser argumentieren. zugrunde, womit Sie hier Propaganda machen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) DIE GRÜNEN) Sie sollten den Frauen auch ganz konkret sagen, was Nach einer Untersuchung des DIW in Berlin hatten es für sie bedeutet, wenn dies Gesetz würde. Eine Frau, 28 Prozent aller Frauen in Westdeutschland, die im Jahr die ein Jahr lang in einem 630-DM-Arbeitsverhältnis tä- 1991 geringfügig beschäftigt waren, fünf Jahre spätertig ist, erwirbt einenRentenanspruch von schlappen einen sozialversicherungspflichtigen Job. 7 DM. Sie müßte 150 Jahre weiterarbeiten, um über- (Ina Lenke [F.D.P.]: Na, also!) haupt auf ein Niveau zu kommen, das dem Sozial- hilfeniveau entspricht. Das zeigt doch die Qualität des- Fast ein Drittel aller geringfügig beschäftigten Frauensen, was Sie hier vorgelegt haben. hat also den Sprung in ein reguläres Arbeitsverhältnis geschafft. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) 1146 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 17. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1999

Dr. Hermann Kues (A) Das, was sich in den letzten Wochen in der Koalition heißt, rund 2 Milliarden DM werden zusätzlich einge-(C) bei diesem Thema abgespielt hat, spottet jeder Beschrei- nommen. Damit wird eines klar: Sie wollen sich zu La- bung. sten der Bürgerinnen und Bürger bereichern, um Ihre Politik zu kaschieren. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Abg. Ulla Schmidt [Aachen] [SPD] und Abg. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) [PDS] melden sich zu Zwischenfra- Diejenigen unter Ihnen – das paßt zu Ihnen, Frau gen) Schmidt –, die sich ehrlich engagiert und geglaubt ha- ben, es gehe bei der Diskussion über die 630-Mark-Jobs Präsident Wolfgang Thierse: Herr Kollege Kues, wirklich um eine bessere Alterssicherung der Frauen, gestatten Sie eine Zwischenfrage? stehen doch wie begossene Pudel da. Wenn man Ihren Gesetzentwurf genau betrachtet, dann ist festzustellen, daß der Vorschlag so neu wie ein alter Hut ist, den Sie Dr. Hermann Kues (CDU/CSU): Im Prinzip gerne. lediglich gewendet haben – statt Steuern jetzt Abgaben – Ich möchte aber zunächst einmal einige Gedanken aus- und den Sie vor allem den Frauen andrehen wollen, wo- führen. bei Sie dann noch behaupten, er stehe ihnen gut. Das ist virtuelle Politik à la Bundeskanzler Gerhard Schröder. Man sagt, man müsse etwas tun. Man will aber nichts tun, und wenn man etwas tut, tut man es so, Präsident Wolfgang Thierse: Herr Kollege Kues, gestatten Sie jetzt eine Zwischenfrage der Kollegin daß die Menschen das am besten überhaupt nicht mer- Schmidt? ken. Ich biete Ihnen jede Wette an, daß dies nicht der letzte Vorschlag ist, den Sie gemacht haben. Man mußte seine Rede, Herr Minister Riester, geradezu am Nach- Dr. Hermann Kues (CDU/CSU): Jetzt gestatte ich richtenticker entwerfen, um mitzubekommen, was sich eine Zwischenfrage. in den letzten Stunden alles geändert hat. So ist nämlich die Wirklichkeit. Ulla Schmidt (Aachen) (SPD): Herr Kollege Kues, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) sind Sie mit mir der Meinung, daß Rentenansprüche von Ihr Gesetzentwurf ist ein Armutszeugnis dieser Re- Frauen nicht nur in geringfügiger Beschäftigung – also gierung. die knapp 7 DM pro Monat – erworben werden können, sondern daß für die Frauen durch unsere Option eine (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und große Chance eröffnet wird (B) der F.D.P. – Ernst Schwanhold [SPD]: Jetzt (D) wird es aber platt!) (Zuruf von der CDU/CSU: Das glauben Sie doch selber nicht!) – Ich sage Ihnen gleich, weshalb das nicht platt ist. – Wir stimmen in der Ablehnung fast nahtlos mit prak-– Sie sollten zuhören; ich glaube es, sonst würde ich es tisch allen Gewerkschaften der Dienstleistungsbranche – nicht sagen; Sie kennen mich doch lange genug –, weil ob ÖTV, ob DAG, ob HBV, ob Postgewerkschaft oder im Erwerbsleben einer Frau eine geringfügige Beschäf- IG Medien – überein. Ich finde, es ist eine interessante tigung oft zu anderen Beschäftigungen hinzukommt, und Entwicklung, wenn CDU/CSU und Gewerkschaften bei daß mit dieser Option Rentenbiographien geschlossen der Ablehnungsfront „Seit' an Seit' marschieren“. und weitergehende Ansprüche auch im Hinblick auf die Rente langjährig Versicherter, im Hinblick auf die Rente (Lachen bei der SPD und der PDS) nach Mindesteinkommen, Erwerbsunfähigkeitsrenten Wie lautet die Kritik der Gewerkschaften? Erstens.und anderes mehr erworben werden können? Sind Sie Eine wirkliche Mißbrauchsbekämpfung, geschweigeinsofern mit mir der Meinung, daß der Vorteil dieser denn Eindämmung findet nicht statt. Gestern hat FrauRegelung nicht darin besteht, daß die Rentenansprüche Engelen-Kefer sogar gesagt, es komme zu einer Aus-im Alter um 6,78 DM erhöht werden, sondern darin, daß weitung dieser Beschäftigungsverhältnisse. Zweitens. Es ein komplettes Angebot geschaffen wird, also eine Zu- werden im wesentlichen Beiträge in die Sozialkassensammenfügung von Renten bzw. Einzahlungszeiten er- geleitet, um – das sind jetzt meine Worte – die Löcher möglicht wird angesichts dessen, daß Frauen in ihrem einigermaßen zu stopfen, die Sie durch unhaltbare Ver- Erwerbsleben vor der Ehe oft zeitlich voll, während der sprechungen sowohl bei den Krankenkassen als auch in Erziehung der Kinder geringfügig beschäftigt und an- der Rentenkasse aufgerissen haben. schließend wieder in Vollzeit erwerbstätig sind? (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der SPD – Dr. Irmgard Schwaetzer [F.D.P.]: Das ist doch längst geregelt!) Wenn ich nur die Zahlen genauer ansehe – interes- santerweise haben Sie in den letzten Tagen das Zahlen- blatt des Gesetzentwurfes noch einmal geändert –, dann Dr. Hermann Kues (CDU/CSU): Frau Kollegin fällt mir folgendes auf: Sie veranschlagen Steuerminder- Schmidt, wenn man sich Ihre Frage richtig zu Gemüte einnahmen in Höhe von 1,37 Milliarden DM. Dem ste- führt – „Was könnte alles passieren, wenn ...?“ –, dann hen für 1999 – im Jahre 2000 wird dies wieder andersmerkt man schon, wie kompliziert diese ganze Regelung sein – im Bereich der Sozialversicherungen Mehrein-ist. Sie vergessen vor allen Dingen eines: Männer und nahmen in Höhe von 3,4 Milliarden DM gegenüber. Das Frauen erwerben erst dann zusätzliche Rentenansprüche, Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 17. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1999 1147

Dr. Hermann Kues (A) wenn sie selbst vorher zusätzlich einzahlen. Und Sie Ich glaube, daß Sie einfach mit unserer Grundphilo-(C) sollten auch die Summe nennen: Wenn es um ein Be-sophie vom Sozialstaat wenig anfangen können. Die schäftigungsverhältnis geht, bei dem die Bezahlung un- nämlich besteht darin, daß große Risiken staatsfern soli- ter 300 DM liegt, dann muß ein Mindestsatz von 58,60 darisch abgesichert werden müssen und die Leistungen DM – 19,5 Prozent von 300 DM – eingezahlt werden. den Beiträgen entsprechen. Damit können Sie nichts an- Das heißt: Wenn ich Geld mitbringe, erwerbe ich einen fangen. Heute morgen habe ich ein Interview mit Ihnen, zusätzlichen Rentenanspruch. Das war im gesamten Sy- Herr Riester, im Deutschlandradio gehört. Sie haben ge- stem auch bisher schon möglich. sagt, die vorgesehene Regelungen bringe nur Vorteile. Ich behaupte einmal: Sozialpolitische Lösungen, die nur (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – mit Vorteilen verbunden sind, gibt es nicht. Es gibt nur Widerspruch bei der SPD) sozialpolitisch gerechte Lösungen, und diese müssen Noch einmal: Wer Geld mitbringt, der kann bei der von Strukturen so verändern, daß das angestrebte Ziel er- Ihnen vorgesehenen Regelung irgendwann eine mini-reicht wird. male Rente bekommen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Ich habe mein Beispiel eben auf die Summe von 300 DM bezogen. Bei einer Frau, die 100 DM im Monat verdient, muß der Arbeitgeber 12 DM zahlen, und sie Präsident Wolfgang Thierse: Herr Kollege Kues, muß den Rest, nämlich 46,50 DM, tragen. Damit erwirbt gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Seifert sie, auf das Jahr gerechnet, einen Rentenanspruch von von der PDS-Fraktion? 7 DM monatlich. Das ist das Ergebnis Ihres Entwurfs. Ich finde, das ist im Grunde genommen keine Lösung. Dr. Hermann Kues (CDU/CSU): Nein, das möchte (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) ich im Moment nicht. Der Minister hat oft das Wort „gerecht“ gebraucht. (Dr. Ilja Seifert [PDS]: Haben Sie Angst vor Ich wundere mich eigentlich nicht, daß Sie eine büro- meiner Frage?) kratische Lösung vorschlagen. Es paßt in mein Bild von Ihnen, daß eine komplizierte Regelung herausgekom- Ich verstehe deshalb sehr wohl, daß prominente Par- men ist. Aber daß Sie geringverdienende Frauen mit die- teifreunde von Ihnen – aus den Gewerkschaften, Ren- tenexperten, aber auch Verfassungsrechtler – händerin- ser Regelung schamlos zur Kasse bitten, ist nach meiner gend Nachbesserungen fordern, noch heute morgen. festen Überzeugung nicht nur dreist, sondern – soviel zu dem Wort „gerecht“ – in hohem Maße ungerecht. Und wenn es nicht Ihre Parteifreunde wären, dann wür- den sie nicht nur von „Nachbesserungen“ reden. Das ist (B) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) in diesem Fall reine Höflichkeit. Sie kommen Ihrem(D) selbstgesteckten Ziel, die Arbeitslosigkeit zu bekämp- Man könnte sich auch grundsätzlicher damit beschäf- fen, keinen Schritt näher. tigen. Dann stellte man fest, daß es von ganz besonderer Güte ist, wie Sie das seit hundert Jahren gewachsene Ein wichtiges Ziel allerdings würden Sie erreichen, Versicherungsprinzip, das Paritätsprinzip , in der So- wenn dieser Entwurf tatsächlich so in das Gesetzblatt zialversicherung umgehen. An sich muß gelten: Werkäme. Denn mit der geplanten Regelung – vielleicht ist einzahlt, bekommt dann, wenn der Versicherungsfallauch das, wenn auch nicht ursprünglich, Ihre Absicht eintritt, Leistungen entsprechend seinen Einzahlungen. gewesen – wird sich die Zahl der Erwerbstätigen erhö- Bei Ihrer Regelung bekommt man dann noch längsthen und das Verhältnis von Arbeitslosen zu Erwerbstäti- nicht etwas heraus, ganz zu schweigen davon, daß dergen vermindern. Nach überschlägigen Berechnungen eine Arbeitnehmer Rentenbeiträge in Höhe von 9,75könnte sich die Arbeitslosenquote dadurch sogar um ei- Prozent zahlen muß – nämlich die Hälfte des regelmäßi- nen Prozentpunkt vermindern. Ich sage aber jetzt schon: gen Beitrags von 19 Prozent –, um Ansprüche zu erwer- Das werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen. ben, während bei dem anderen schon 7,5 Prozent rei- chen. Daß dies nicht zusammenpaßt, ist ein Grund dafür, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) daß führende Verfassungsrechtler sagen: Vermutlich ist Das sind im Endeffekt statistische Tricks. Auch der das Gesetz in der jetzt vorgelegten Form auch verfas-Kollege Merz hat gestern gesagt: Wir werden uns genau sungswidrig. ansehen, wie sich die Zahl der Erwerbstätigen vor die- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) sem Hintergrund verändert. Wenn Sie wirklich etwas bewegen wollten – dazu bräuchten Sie aber Mut –, dann Noch einmal zum Versicherungsprinzip. Wer 7,5 Pro- müßten Sie ein Konzept für den gesamten Niedriglohn- zent einzahlt, der hat, wie ich versucht habe, deutlich zu bereich vorlegen. Es verhält sich doch heute so, daß es machen, zwar nur bescheidene Rentenansprüche; aber jenseits der 630-Mark-Mauer eine Beschäftigungsfalle im Verhältnis zur nur geringen Eigenleistung hat er be- gibt, die bewirkt, daß sich Teilzeitbeschäftigung nicht achtliche Ansprüche auf Invaliditätsrente und Rehabili- lohnt, daß derjenige, der 640 DM verdient, außerordent- tationsleistungen, also Kuren. Das alles ist ungerechtlich hohe Sozialabgaben hat. Für einen Arbeitnehmer, und im Endeffekt unsozial. der zwischen 800 und 900 DM verdient, lohnt sich eine (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Teilzeitbeschäftigung nicht. Diese geradezu prohibitive Dr. [CDU/CSU]: Die Rech- Abgabenschwelle müßte beseitigt werden. Das setzt aber nung geht nicht auf!) ein in sich schlüssiges Gesamtkonzept voraus, und das 1148 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 17. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1999

Dr. Hermann Kues (A) setzt vor allen Dingen auch voraus, daß Sie den Mut ha- plaziert. Mindestens 6 Millionen Menschen, vor allen(C) ben, diese Dinge anzupacken. Dingen Frauen, arbeiten in diesen geringfügigen Be- schäftigungsverhältnissen. Es ist selbstverständlich, daß (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) auf Grund der sehr unterschiedlichen Lebenssituationen Ich fasse zusammen: Ihr Gesetzentwurf paßt im Hin- natürlich sehr unterschiedliche Erwartungen und Anfor- blick auf das Problem vorn und hinten nicht – wie einderungen an unser Gesetzesvorhaben gerichtet werden; Konfirmationsanzug nach 20 Jahren. Ihr Gesetzentwurf das erfahren wir in vielen Briefen und Anrufen. Es gibt ist in hohem Maße sozial ungerecht; er bringt einen Bü- viele Unternehmerinnen und Unternehmer in diesem rokratisierungsschub mit sich. Ihr Gesetzentwurf bietet Land, die natürlich versuchen, die jetzige Lösung bei keinerlei Hilfe für diejenigen Arbeitslosen, die im Nied- den geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen zu ver- riglohnbereich tätig werden wollen, und zwar so, daßteidigen. sich Arbeit für sie auch wirklich lohnt. Es gibt viele Grüne, viele SPDlerinnen und SPDler Vielen Dank. und viele Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter, aber insbesondere Frauenpolitikerinnen und -politiker (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) quer durch die Reihen, die erwarten, daß die sozial un- gesicherten Arbeitsverhältnisse kurz und schmerzlos ab- geschafft werden. Präsident Wolfgang Thierse: Das Wort hat Kolle- gin Thea Dückert, Bündnis 90/Die Grünen. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der PDS) Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Meine Damen und Herren, genau zwischen diesen Guten Morgen! Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Polen – damit umreiße ich das Feld – befinden wir uns Kollegen! Lieber Herr Dr. Kues, ich muß eingangs eini- in einer sehr engagierten Diskussion. ge Bemerkungen zu Ihrer Rede machen. Ich freue mich (Aribert Wolf [CDU/CSU]: Im Bermuda- schon darüber, daß Sie meinen, daß unsere Gesundheits- Dreieck befinden Sie sich!) reform möglicherweise dazu führen kann, daß es dem- nächst Arbeitnehmerinnen geben wird, die 150 JahreDas Engagement möchte ich Ihnen von der CDU nicht lang berufstätig gewesen sein werden. Ich glaube aller- absprechen, aber genau in dieser Auseinandersetzung dings, Herr Dr. Kues, daß diese Ihre Einschätzung etwas schwingen Sie sich mit Ihrem Antrag zum Moralapostel an der Realität vorbeigeht. auf. Das steht Ihnen nicht zu. (Walter Hirche [F.D.P.]: Vielleicht haben Sie (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES (B) nicht zugehört!) 90/DIE GRÜNEN und der SPD) (D) An der Realität gehen auch andere Wahrnehmungen Sie fordern ein Konzept gegen den Mißbrauch, den vorbei, die Sie hier vorgetragen haben. Sie sprachen da- Sie in den letzten Jahren zu verantworten hatten. von, daß wir Löcher in die Sozialkassen gerissen hätten (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES und wir sie nun stopfen wollten. Ich muß Sie dann doch 90/DIE GRÜNEN und der SPD) noch daran erinnern – Ihr Gedächtnis scheint kurz zu sein –, daß Sie von der CDU/CSU und F.D.P. es waren, Ich glaube – das ist auch in der Rede von Herrn Dr. die in den letzten Jahren genügend Zeit hatten, genauKues deutlich geworden –, daß Sie dieses Konzept nur solche Löcher zu reißen. deshalb fordern können, weil Sie unseres nicht verstan- den haben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN PDS) sowie bei Abgeordneten der SPD – Lachen bei der CDU/CSU und der F.D.P. – Aribert Wolf Wir hingegen haben es in nur drei Monaten zuwege ge- [CDU/CSU]: Verstehen Sie es selber? – Dr. bracht, mit der ökologisch-sozialen Steuerreform Irmgard Schwaetzer [F.D.P.]: Wenn wir Ihre (Lachen bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Ideologie nicht teilen, sind wir noch lange nicht dumm!) – ja, meine Damen und Herren – ein Reformprojekt auf den Weg zu bringen, mit dem wir in der Lage sein wer- Ich will Ihnen das an zwei Punkten, die Sie vorgetragen den, die Rentenversicherungsbeiträge sogar um 0,8 Pro- haben, exemplarisch vorführen: zent zu senken. Sie behaupten, den Arbeitnehmerinnen und Arbeit- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS nehmern würde mit diesem Gesetz „schamlos“ – ich zi- 90/DIE GRÜNEN – Dr. Irmgard Schwaetzer tiere Sie – in die Taschen gegriffen. Das ist schlichtweg [F.D.P.]: Das müssen Sie erst einmal bei sich eine Lüge. selber beschließen!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Das ist die Realität, und daß die Sie aufregt, kann ich und bei der SPD) allerdings gut verstehen. Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zahlen keine Sie haben recht: Mit diesem Gesetz haben wir unsmüde Mark. Die Arbeitgeber werden – das ist ein Fort- wirklich mitten in ein gesellschaftliches Spannungsfeld schritt – von der ersten Mark an bei jedem Beschäfti- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 17. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1999 1149

Dr. Thea Dückert (A) gungsverhältnis in die Sozialkassen zahlen. Das ist die auf diesem Arbeitsmarkt ein wenig mehr ins Licht brin- (C) Realität. gen. Wir werden die Möglichkeit haben, die Entwick- lung zu beurteilen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Sie wissen offenbar auch nicht, was Sie gut und schlecht finden. Auf der einen Seite beklagen Sie, der Meine Damen und Herren, die Zahl der geringfügi- freiwillige Mindestbeitrag für den Erwerb eines Renten- gen Beschäftigungsverhältnisse ist in den letzten Jah- anspruchs sei zu hoch. Drei Minuten später sagen Sie, ren wirklich exorbitant gestiegen. Sie haben vorhin die die Leistungen, die erworben werden können, nämlich Zahlen vom Minister gehört: etwa sechs Millionen. Die Reha-Maßnahmen, BU- und EU-Renten, seien zu hoch. CDU behauptet heute in ihrem Antrag immer noch, daß Wie wollen Sie es denn gern haben, Herr Dr. Kues? So diese Jobs eingerichtet worden wären, um im Mittel- jedenfalls geht es nicht. stand die Auftragsspitzen abzufedern. Das mag am An- fang so gewesen sein. Aber die Zeit hat Sie überholt, Realität ist, daß Sie in den letzten Jahren dem Druck und Sie haben das zugelassen. Die Zahlen, die real vor- der Wirtschaft, übrigens auch dem Druck der F.D.P.,liegen, zeigen doch ganz eindeutig: Es kann hier über- selbstverständlich nachgegeben haben und der grenzen- haupt nicht mehr ums Abfedern von Auftragsspitzen ge- losen Ausweitung der Billigjobs Tor und Tür geöffnet hen. Wir haben Betriebe, in denen die Minijobs nicht die haben. Deswegen sind wir in diese Situation gekommen. Ausnahme, sondern die Regel sind. Wir wollen tatsächlich versuchen, denMißbrauch (Dr. Heinrich L. Kolb [F.D.P.]:Sie machen sie einzudämmen. Ich glaube, daß wir mit diesem Gesetz für alle kaputt!) einen guten Schritt vorankommen, den Mißbrauch ein- Wir haben nichts gegen Auftragsspitzen im Mittelstand; zudämmen, den Arbeitnehmerinnen eine freiwillige Op- die müssen abgefedert werden, überhaupt keine Frage. tion auf einen Rentenanspruch zu eröffnen und die So- Aber wir haben eindeutig etwas dagegen, daß Arbeitge- zialkassen zu stabilisieren. Diesen Weg wollen und wer- berinnen und Arbeitgeber sich immer mehr aus der Soli- den wir mit unserem Gesetz gehen. Ich glaube, meinedarität des Sozialstaates verabschieden können. Damen und Herren von der CDU, Herr Blüm hätte si- cher Tränen in die Augen bekommen, wenn er so ein (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Angebot erhalten hätte. Ihnen ist das jedoch in den letz- und bei der SPD) ten Jahren nicht einmal im Traum eingefallen. Die vorliegenden Zahlen belegen: Es hat diese Um- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wandlung von Normalarbeitsverhältnissen in geringfü- gige Beschäftigungsverhältnisse stattgefunden. Das hat (B) und bei der SPD – Wolfgang Meckelburg (D) [CDU/CSU]: Er hätte bitterlich geweint!) zu Ausfällen in der Sozialversicherung in Milliardenhö- he und zu dem geführt, was gerade Sie beispielsweise Das große Ziel, zum Beispiel die Billigjobs mit einem von der F.D.P. nicht gut finden können: daß Arbeitgebe- Federstrich abzuschaffen oder in normale Arbeitsver-rinnen und Arbeitgeber, die diese Beschäftigungsver- hältnisse zu überführen, schaffen wir nicht. Aber trotz hältnisse nicht einrichten wollen, zum Beispiel bei den all dieser Wünsche und vieler Kritik, die vorgetragenGebäudereinigern, bei den Handelsketten, gezwungen wird, müssen wir eines deutlich feststellen: Es gibt mit sind, das zu tun, weil sie sonst einen Wettbewerbsnach- diesem Gesetz eindeutige Verbesserungen gegenüberteil hätten. Das ist eine Situation, die wir nicht akzeptie- dem ursprünglichen, dem jetzigen Zustand. ren können. Wir werden die Sozialversicherung mit diesen Bei- Wir haben Verbesserungen erzielt. Ich habe das gera- trägen stabilisieren. Das ist der erste Punkt. Wir werden de angesprochen. Wir haben die Beitragspflicht ab der die Möglichkeit für einen freiwilligen Rentenanspruch ersten Mark für den Arbeitgeber in diesem Gesetz vor- für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den klein- gesehen. Da kommen Sie und viele andere daher und sten Arbeitsverhältnissen eröffnen. Das ist ein Fort-sprechen von einer schnöden Bereicherung der Sozial- schritt. kassen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Walter Hirche [F.D.P.]: Richtig!) und bei der SPD) – „Richtig!“ rufen Sie jetzt auch noch dazwischen; Die Nebenjobs werden steuerpflichtig werden, das heißt, (Walter Hirche [F.D.P.]: Jede private Versi- auch hier schaffen wir eine Steuerungerechtigkeit ab. Es cherung bietet bessere Konditionen fürs Al- wird auch so sein, daß die Grenze der Geringfügigkeit ter!) auf 630 DM festgelegt wird; sie wird gedeckelt. Den Aufwuchs, den Sie in den letzten Jahren zugelassen ha- ich sage gleich etwas dazu – und davon, daß hier Gelder ben, wird es nicht mehr geben. von der einen in die andere Tasche gesteckt werden, und das wäre es dann. Nein, meine Damen und Herren, um- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gekehrt wird ein Schuh daraus. Die finanzielle Basis der und bei der SPD) Sozialkassen ist bedroht, und dazu haben Sie in den letzten Jahren Ihren Beitrag geleistet. Die Mitbestimmungsrechte in den Betrieben werden er- weitert. Wir werden mit der Meldepflicht, mit der Ein- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN tragung auf die Lohnsteuerkarte endlich die Grauzone und bei der SPD) 1150 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 17. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1999

Dr. Thea Dückert (A) Die Stabilität der sozialen Sicherungssysteme ist aber Form der Schwarzarbeit, die an dieser Stelle beendet(C) nun einmal an Erwerbsarbeit gebunden. Die Solidarge- wird. meinschaft braucht eben genau diese Beiträge, um dem sozialstaatlichen Auftrag der Sicherung gegen Lebensri- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN siken überhaupt nachkommen zu können. und bei der SPD – Wolfgang Zöller [CDU/ CSU]: Dazu gehören immer zwei!) Frau Schwaetzer, ich finde es sehr entlarvend für die F.D.P., wenn Sie bei der notwendigen Stabilisierung des Genau da gehören Vollzeitarbeitsplätze hin. Sozialsystems von einem Abkassiermodell sprechen. Auch die Entdynamisierung ist eine Maßnahme, die (Walter Hirche [F.D.P.]: Wenn es doch Ausweitung der geringfügigen Beschäftigungsverhält- stimmt!) nisse einzudämmen. Eine andere Maßnahme, den Miß- brauch dieser Beschäftigungsverhältnisse zu verhindern, – „Wenn es doch stimmt!“ rufen Sie auch noch dazwi- sind die erweiterten Mitbestimmungsrechte der Betriebs- schen. Ich sage Ihnen: Genau daran wird Ihre Haltungräte. Das allein wird nicht reichen; das weiß ich auch. gegenüber den sozialen Sicherungssystemen deutlich;Aber wir sind auf dem richtigen Weg. daran wird deutlich, daß Sie sich auf eine Klientel be- Meine Damen und Herren von der CDU, Sie werfen ziehen, die dicke Taschen hat und eher in die Privatver- uns vor – und haben das hier eben wieder getan –, daß sicherung geht. dem Beitrag, den die Arbeitgeber an die Krankenversi- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN cherung zahlen, angeblich keine Gegenleistung gegen- und bei der SPD – Walter Hirche [F.D.P.]: übersteht. Das ist doch Unsinn!) (Zustimmung bei der CDU/CSU und der Wir machen hier eine Politik für eine andere Klientel, F.D.P.) nämlich für kleine Einkommen und für Frauen. – Das ist richtig: Es erfolgt keine direkte Gegenleistung. (Walter Hirche [F.D.P.]: Das Gegenteil!) (Zurufe von der CDU/CSU und der F.D.P.: Meine Damen und Herren, ich verstehe, daß die Wirt- Na also!) schaft sich über dieses Gesetz ärgert, jedenfalls viele,– Hören Sie doch zu! – Aber in diesem Bereich gibt es und zwar diejenigen, die die Pauschalsteuer auf die Ar- schon Gegenleistungen. Diejenigen, die in solchen Be- beitnehmerinnen und Arbeitnehmer abgewälzt haben.schäftigungsverhältnissen sind – das gilt auch für alle Diejenigen, die abgewälzt haben, haben jetzt in der Tat anderen –, bekommen schon heute Sachleistungen aus (B) höhere Ausgaben. Das ist klar. Aber ich sage Ihnender Krankenversicherung, das volle Paket. Anders ist(D) auch: Ich kann überhaupt keine Trauer darüber empfin- jetzt nur, daß die Leistungen, die vorher über Mitversi- den, daß diejenigen auf der Arbeitgeberseite, die sichcherung kostenlos zu erlangen waren, nun mit einem aus der Verantwortung gestohlen haben, jetzt in die Ver- Beitrag belegt werden. antwortung gezwungen werden. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) und bei der SPD) Wenn man behauptet, es gebe da keine Gegenleistung, Das wird nebenbei auch dazu führen, daß viele Beschäf- ist das schlichtweg falsch. Ich denke, unser Vorschlag tigte gerade im tariflich abgesicherten Bereich nach die- ist eine faire Lösung. Man kann da noch weitergehen; ser Reform möglicherweise höhere Einkommen haben das ist wahr. werden oder aber ihre Arbeitszeit verkürzen können. Die Rentenversicherung ist anders strukturiert. Hier Ich habe eingangs gesagt: Wir versuchen – undkönnen die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer tat- kommen dabei auch voran –, den Mißbrauch zu be-sächlich eine Option bekommen. Natürlich müssen sie kämpfen. Auf diesem unübersichtlichen Markt ist daseinen Mindestbeitrag zahlen; das ist bei jeder Versiche- aber ungeheuer schwer. Mit dem Eintrag auf die Lohn- rung so. Für den Erwerb des Rentenanspruchs muß ein steuerkarte und der Meldung bei den Sozialkassen wer- Mindestbeitrag von 300 DM gezahlt werden. den wir überhaupt erst einen Überblick über diese Ver- hältnisse bekommen. Diese Option ist besonders für Frauen mit ganz be- stimmten Erwerbsbiographien interessant, nämlich für Es wird uns auch möglich sein, verschleierte Doppel- diejenigen, die – das ist für gebrochene Erwerbsbiogra- beschäftigung aufzudecken, zum Beispiel wenn sichphien normal – schon an anderer Stelle Rentenbeiträge einzelne nicht gemeldet haben. Wir werden auch ganz gezahlt, aber noch keine Rentenansprüche erworben ha- moderne Formen der Schwarzarbeit aufdecken können, ben, weil die Mindestzeiten der Beitragszahlung nicht die Sie, Frau Schwaetzer, ja eindämmen wollen. Fraueingehalten wurden. Diese Frauen haben sicherlich ein Schwaetzer, die modernen Formen der Schwarzarbeitgroßes Interesse daran – und auch die Möglichkeit –, in bestehen doch darin, daß Arbeitgeber einen Beschäftig- diese Rentenversicherung einzusteigen. ten für einen 630-Mark-Job anmelden, ihn aber voll ar- beiten lassen und schwarz entlohnen oder Arbeitslohn an (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN fiktive Beschäftigte auszahlen. Das ist eine moderne und bei der SPD) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 17. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1999 1151

Dr. Thea Dückert (A) Das ist ein Vorteil. Den können sie wählen. Sie können den besteuert. Wenn ich das alles zusammennehme, muß (C) sich einen Einstieg in eine wirklich eigenständige Absi- ich das Fazit ziehen: Gar nicht schlecht, Herr Specht. cherung eröffnen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ich weiß, daß viele lieber eine Pflichtversicherung und bei der SPD) hätten. Ich weiß aber auch, daß diese Pflichtversiche- rung für viele Frauen nicht günstig wäre, und zwar dann, wenn es in Zukunft möglicherweise zu einer Senkung Präsident Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun die der Ansprüche käme, die sie sich schon erarbeitet haben. Kollegin Irmgard Schwaetzer, F.D.P.-Fraktion. Das ist natürlich ein schwieriges Feld. Deswegen denke ich, daß dieser erste Schritt, diese freiwillige Option für Dr. Irmgard Schwaetzer (F.D.P.): Herr Präsident! Frauen, in diese Arbeitsverhältnisse zu gehen, sinnvoll Liebe Kolleginnen und Kollegen! Einige von Ihnen ha- ist. Damit erreichen sie in der Tat einen geringen An-ben es selber zugegeben, daß sie in der Steuer- und So- stieg ihres Anspruchs auf Altersrente. zialpolitik einen Fehlstart hingelegt haben. Einige haben Aber das ist, wie Sie schon richtig gesagt haben, nicht auch dazu gesagt, daß sie jetzt einmal eine Denkpause der zentrale Punkt. Der zentrale Punkt ist, daß es einnehmen wollten. Leider – das zeigen die vorliegenden Vollpaket mit Rente, Reha-Leistungen sowie BU- und Seiten – haben Sie diese Denkpause für die 630-Mark- EU-Leistungen gibt. Das ist ein gutes Angebot. Verträge nur dazu genutzt, Regelungen vorzuschlagen, die aufs höchste verfassungsrechtlich bedenklich sind, Sie wissen aber auch, daß die spannende und kontro- sozialpolitisch nicht zu den Effekten führen, die Sie da- verse Diskussion in der letzten Zeit insbesondere um die mit im Auge haben, und arbeitsmarktpolitisch ausge- Steuerfrage ging. Wir haben besonders in diese Steuer- sprochen negativ wirken. frage unser Herzblut hineingesteckt, weil uns von An- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- fang an die Ankündigung, daß die Nebenjobs nicht ver- ten der CDU/CSU) steuert werden sollen, überhaupt nicht gepaßt hat, und zwar aus Steuergerechtigkeitsgründen. Wir haben an Sie haben einen Gesetzentwurf zusammengeschu- dieser Stelle erreicht, daß die Nebenjobs besteuert wer- stert, der in seiner Widersprüchlichkeit und Kompli- den. Es wird so sein, daß Arbeitsverhältnisse zusam-ziertheit wirklich nicht zu überbieten ist. mengezählt werden. Es wird so sein, daß kleine Arbeits- verhältnisse, also eine Vielzahl von Nebenjobs, zusam- (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) mengezählt werden. Wir erreichen damit, daß all dieje- Es gibt 57 Druckseiten – das muß man sich einmal vor- nigen dann – wo immer sie auch arbeiten –, wenn sie in stellen – für die Regulierung der geringfügigen Be- (B) der Summe ihrer Arbeitsverhältnisse die Grenze der Be- schäftigung. Das ist wirklich eine Höchstleistung. Sie(D) steuerbarkeit überschreiten, besteuert werden. Ne-wird zu nichts anderem führen als zu mehr Schwarzar- benjobs werden besteuert. Das war in der Debatte vom beit und nichts sonst. letzten Herbst hier noch anders angekündigt wor- den. Wir sehen es als einen großen grünen Erfolg an, (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- an dieser Stelle eine Ungerechtigkeit verhindert zu ha- ten der CDU/CSU) ben. Es beginnt schon mit demFestschreiben der Versi- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN cherungsfreigrenze. Verbal wollen Sie Arbeitnehmern sowie bei Abgeordneten der SPD) und Betrieben die notwendige Flexibilität erhalten. Das hat schließlich Ihr Kanzler versprochen. Herr Riester hat Dennoch, meine Damen und Herren: Auch wenn wir es heute morgen wiederholt. Aber tatsächlich frieren Sie erfolgreich in diesem Punkt waren, muß man feststellen, diese Flexibilität ein. Das ist nichts anderes als der Tod daß die Regelung zur Besteuerung einen Schönheits-auf Raten für den sich schon heute in einem engen fehler hat. Sie hat den Schönheitsfehler – das sage ichRahmen bewegenden Rest an individueller Gestaltung hier ganz deutlich; da konnten wir uns auch nicht durch- auf dem Arbeitsmarkt. – Nein, Sie können diese Be- setzen –, daß Ehefrauen ihr Einkommen aus geringfügi- schäftigungsverhältnisse nicht abschaffen. Aber Sie gen Beschäftigungsverhältnissen bis 630 DM nicht der würgen sie ab. Das ist auch so gewollt; denn das ist der Besteuerung zuführen müssen. Ihr Einkommen wirdKompromiß zwischen den Versprechen Ihres Kanzlers nicht der gemeinsamen Besteuerung mit dem Ehepartner und der Ideologie von Rotgrün. zugerechnet. Das empfinden wir als Ungerechtigkeit. Das empfinden wir auch als ungut gegenüber anderen (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- Personengruppen, zum Beispiel gegenüber Alleinerzie- ten der CDU/CSU) henden. Aber ich sage auch: Wir konnten uns hier nicht Sie vernichten weitere Arbeitsplätze; denn mit der durchsetzen. Aber es ist eine Aufforderung an uns, dafür Zusammenlegung von Haupt- und Nebenbeschäfti- zu sorgen, daß zum Beispiel das Ehegattensplitting ab- gung und der Abschaffung der individuellen Freigrenze geschafft wird. wird natürlich das Arbeitsverhältnis auch für den Ar- beitgeber teurer. Alles in allem: Es gibt Schattenseiten, aber die guten Seiten des Gesetzentwurfs überwiegen. Die Sozialkas- Daß es Ihnen, meine Damen und Herren, nur um sen werden gestärkt; der Mißbrauch wird eingeschränkt; schlichtes Abkassieren geht, das zeigt doch – Frau Dük- die Rentenoption wird eröffnet, und die Nebenjobs wer- kert, da müssen Sie irgend etwas nicht richtig mitbe- 1152 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 17. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1999

Dr. Irmgard Schwaetzer (A) kommen haben –, daß Sie Beiträge von den Arbeitge-Beitragszahler diese zusätzlichen Ansprüche bezahlen(C) bern erheben, aber die Arbeitnehmer im Regelfall kei- müssen. nerlei zusätzliche Ansprüche haben. Auch im Betriebsverfassungsrecht schrecken Sie (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- nicht vor Verfassungsverstößen zurück. Sie haben zwar ten der CDU/CSU) mühsam eingesehen, daß Sie die ungeliebten 630-DM- Verträge nicht verbieten können. Dem steht ja schließ- Da können Sie auch nicht mit Ihrer etwas schiefen Ar- lich das Grundrecht auf Berufsfreiheit entgegen. Des- gumentation kommen, sie seien über die Familienmit- halb verbietet Ihnen Art. 12 des Grundgesetzes aber versicherung krankenversichert. Bei den Beamten kas- auch, den Abschluß dieser Verträge durch die Hintertür sieren Sie genauso ab, und die erhalten nichts aus derdes Betriebsverfassungsgesetzes zu erschweren. Der Ar- gesetzlichen Krankenversicherung. In der Rentenversi- beitgeber entscheidet auf Grund seiner unternehmeri- cherung entstehen regelmäßig keine Ansprüche. Genau- schen Entscheidungsfreiheit, die von der Verfassung her sowenig wie die ausschließlich geringfügig Beschäftig- mitbestimmungsfrei ist – das wissen Sie ganz genau –, ten, für die Sie Pauschalbeiträge einführen, die vom Ar- in welchem Umfang er solche Verträge anbietet. Der beitgeber zu zahlen sind, bekommen diejenigen, die eine Arbeitnehmer entscheidet auf Grund seiner Vertrags- Nebenbeschäftigung haben, eine Gegenleistung für diese freiheit – in gleicher Weise verfassungsrechtlich ge- Beiträge. schützt –, ob er ein solches Angebot annimmt. Ein Veto- Ich muß schon sagen: Im Abkassieren haben Sie inrecht des Betriebsrats ist deshalb mit Art. 12 des Grund- den ersten 100 Tagen Ihrer Regierung schon beachtliche gesetzes nicht zu vereinbaren. Kreativität entwickelt. (Beifall bei der F.D.P. – Widerspruch bei der (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) SPD) Sie winken da jetzt so ab. Ich bin ganz sicher, daß Ih- Darauf muß man ja erst einmal kommen. Ich versuche, nen das die Sachverständigen bei der Anhörung noch mir vorzustellen, was Sie uns gesagt hätten, wenn wir in sagen werden. Und wir werden ganz bestimmt gerade der vergangenen Legislaturperiode an irgendeiner Stelle darüber bei den Ausschußberatungen noch zu reden ha- eine solche Regelung vorgeschlagen hätten. ben. Ich hoffe zumindest, daß Sie dieses Mal mit uns ei- (Beifall bei der F.D.P.) ne sachliche Debatte dazu führen und es nicht so wie bei dem letzten Gesetzentwurf machen, wo auf unsere Fra- Meine Damen und Herren, Frauenverbände und Ge- gen von Ihrer Fraktion nicht einmal geantwortet wurde, werkschaften haben Sie damit auch auf die Palme ge-geschweige denn irgendein Beitrag zur Auflösung von bracht. Wenn ich mir heute morgen die Fraktion derWidersprüchlichkeiten geliefert wurde. Ich bitte darum, (B) Grünen anschaue, frage ich mich, warum eigentlich kei- auf unsere Fragen doch ein wenig mehr Antwort zu ge- (D) ne Frauenpolitikerin redet und warum sich die Begeiste- ben. rung für die Rede der Kollegin Dückert, die sich ja wirklich große Mühe gegeben hat, sehr in Grenzen hielt. Kommen wir zum Steuerrecht. Sie wollen schließ- Das zeigt doch schon, daß Sie mit den vorliegenden Re- lich das Wort Ihres Kanzlers einhalten und die 630-DM- gelungen selber nicht im reinen sind. Verträge von der Lohnsteuer ausnehmen. Dies muß mißlingen. Ihr Entwurf zeigt das auch. Es ist wirklich Sie sind lautstark ausgezogen, denSozialversiche- Krampf, was Sie dazu in Ihren Gesetzentwurf hineinge- rungsschutz zu verbessern. Dabei wirkt das schlechte schrieben haben. In Ihrer Ausschlußklausel steht: Wenn Gewissen richtig menschlich, das Sie bei Ihrem Pau-zu den 630 DM weitere Einkünfte kommen, gleichgültig schalbeitrag plagt; denn nichts anderes hat dazu geführt, in welcher Höhe und woher, fällt die Lohnsteuerfreiheit daß Sie die Optionsmöglichkeit erfunden haben. Die be- wieder weg. schränkt sich nun allerdings auf die Rentenversicherung, bei der man dann für 58,60 DM im Monat den Anspruch Schauen wir uns doch einmal an, welche Einkünfte auf die Kur, auf die Invalidenversorgung und auf diedas sein können: Zinseinnahmen aus Bausparverträgen – spätere Berechnung der Rente nach Mindesteinkommen Lohnsteuerfreiheit weg; Einnahmen aus Vermietung und erwerben kann. Wir geben zu, daß Sie mit dem Schlie- Verpachtung des selbstgenutzten Eigenheims – Lohn- ßen von möglichen Beitragslücken einen richtigen Punkt steuerfreiheit weg. Für diesen Teil des Gesetzentwurfes zu fassen versucht haben. Aber was sagen Sie eigentlich trägt niemand sonst die politische Verantwortung als Ihr der Krankenschwester, die Monat für Monat eine große Spitzenmann, der SPD-Vorsitzende und Finanzminister Leistung erbringen muß, um einen solchen Versiche-. rungsschutz zu bekommen? Ist das wirklich gerecht? Das Nächste ist nun wirklich ein tolles Stück – ich Entspricht das Ihren Vorstellungen von Gerechtigkeitbin deswegen ganz sicher, daß Sie sich auch das noch gegenüber den Krankenschwestern und denjenigen, die einmal anschauen müssen –: Nach Ihrem Vorschlag sich sehr mühsam durchs Leben schlagen müssen? Ich bleibt die verheiratete Arbeitnehmerin mit einem 630- kann mir das nicht vorstellen. DM-Vertrag ohne eigenes Haus, ohne Bausparvertrag – (Beifall bei der F.D.P.) für diese Arbeitnehmerin leistet im übrigen der Ehe- mann Unterhalt – lohnsteuerfrei. Die geschiedene Ar- Im übrigen gehe ich davon aus, daß Sie nicht damitbeitnehmerin, der der Exehemann wegen Kindererzie- rechnen, später die Veränderungen in der gesetzlichen hung Unterhalt zahlen muß, hat dadurch weitere Ein- Rentenversicherung vornehmen zu müssen, wenn diekünfte. Sie wird mit ihren 630 DM lohnsteuerpflichtig. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 17. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1999 1153

Dr. Irmgard Schwaetzer (A) Halten Sie das eigentlich für gerecht? Halten Sie das für Diese Briefflut hat die Opposition nun wirklich nicht(C) eine von irgend jemandem überhaupt noch nachvoll-verdient. ziehbare Regelung? (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- (Dr. [F.D.P.]: Anschei- ten der CDU/CSU – Konrad Gilges [SPD]: nend!) Höchstens vom CGB und vom Beamtenbund!) Stellen Sie sich vor, meine Partei hätte eine solche Eine Anhörung zu Ihrem Meisterwerk werden wir Ih- Klausel vorgeschlagen. Sie hätten uns sofort die Privile- nen natürlich nicht ersparen. Über die Bewertung durch gierung der Millionärsgattin und die Bestrafung der Ar- unabhängige Sachverständige sollten Sie sich keine Illu- beiterfrau unterstellt. sionen machen. Deswegen appelliere ich schon heute an Sie: Entwickeln Sie die Fähigkeit zur Selbstkritik! (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Ich danke Ihnen. Aber Sie wischen das alles mit einer Handbewegung so (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- weg. Diese Regelungen werden die von Ihnen so gelobte ten der CDU/CSU) Steuerfreiheit zu einem Märchen werden lassen. (Beifall bei der F.D.P.) Präsident Wolfgang Thierse: Das Wort hat Kolle- Dies wird keine Brücke zurück in den Arbeitsmarkt für gin Knake-Werner, PDS-Fraktion. Frauen nach der Erziehungsphase. Denn wer sollte sol- che Arbeitsplätze noch anbieten? Außer einem Großbe- (PDS): Herr Präsident! trieb verfügt wirklich niemand über die personellen Ka- Dr. Heidi Knake-Werner Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Kollegin pazitäten, um Ihre komplizierten Regelungen umzuset- Schwaetzer, mit der Fähigkeit zur Selbstkritik ist das ja zen. Sie führen die Frauen hinters Licht. immer so eine Sache. Ich hätte mir in den letzten 16 Jah- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) ren auch einmal eine so engagierte Rede von Ihnen ge- wünscht, wie Sie sie jetzt als Vertreterin einer Opposi- Sie sind in dieser Legislaturperiode mit dem Willen tionspartei vortragen. Wenn Sie hier gegen das Abkas- und dem Versprechen angetreten, Ordnung auf dem Ar- sieren wettern, dann haben Sie wohl schon wieder ver- beitsmarkt zu schaffen. Aber Ordnung um welchengessen, wo Sie in den letzten Jahren hingelangt haben Preis? Um den Preis der Todregulierung des letzten biß- und bei wem Sie in die Taschen gegriffen haben. chen Flexibilität, das es bis heute überhaupt noch gege- ben hat. (Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten (B) der SPD) (D) (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- ten der CDU/CSU) Liebe Kolleginnen und Kollegen, „Tendenz steigend“ war seit vielen Jahren die Prognose für die Entwicklung Sie haben so eine Art unglückliche Liebe zu dem Be- geringfügiger Beschäftigung. Was einstmals als Aus- griff der Ordnung auf dem Arbeitsmarkt. Sie kennennahme gedacht war, ist zur Regel geworden. Wer hier Flexibilität und Transparenz nur in den Reden Ihres Ar- Mißbrauch betrieben hat, ist ziemlich eindeutig: Das wa- beitsministers, aber nicht wirklich in Ihren Regeln. ren die Arbeitgeber, die immer hemmungsloser und schamloser sowie zum Teil mißbräuchlich die Möglich- (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) keit versicherungsfreier Beschäftigungsverhältnisse ge- Ziehen Sie deshalb die notwendige Konsequenz, undnutzt haben. Auch das will ich wegen des Kurzzeitge- verzichten Sie auf dieses Gesetz! Es ist nicht frauen-dächtnisses der alten Bundesregierung sagen: Sie haben freundlich, es führt in die Schwarzarbeit, und deswegen dabei nicht selten Schmiere gestanden. ist es überflüssig. Ich will nur ein Gesetz nennen, das dazu beigetragen hat, daß Zehntausende versicherungspflichtige in versi- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- cherungsfreie Beschäftigungsverhältnisse umgewandelt ten der CDU/CSU) wurden: Das war das Ladenschlußgesetz, das zu einer Auch Ihre eigenen Wähler würden Ihnen den Ab-unsäglichen und völlig überflüssigen Ausweitung der schied von diesem Gesetz sicherlich danken. Sie schik- Ladenöffnungszeiten geführt hat. ken nämlich Kopien der Protestschreiben, die an Sie ge- (Beifall bei Abgeordneten der PDS) hen, auch an uns. Nachdem Sie die Handelsvertreter und die übrigen Selbständigen schon bisher mit Ihren Ge-Sie hat bewirkt, daß heute in manchen Drogeriemärkten setzgebungskünsten auf die Palme gebracht haben, krie- und -ketten bis zu 70 Prozent der Beschäftigten in ge- gen wir jetzt auch noch die Briefe all derer aus den Ge- ringfügigen Beschäftigungsverhältnissen, das heißt: ver- werkschaften, die diese Ihre Regelungen nicht habensicherungsfrei, arbeiten. wollen. Nun liegt der Gesetzentwurf der neuen Regierung (Konrad Gilges [SPD]: Das kann ich mir nicht vor. Nach dem peinlichen Schnellschuß des Bundes- vorstellen, daß anständige Gewerkschafter Ih- kanzlers vom November ist Ihnen leider weder sozial- nen einen Brief schreiben! Nein, das glaube politisch noch frauenpolitisch der große Wurf gelungen. ich nicht!) Ich denke, Sie haben kaum eines der im Zusammenhang 1154 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 17. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1999

Dr. Heidi Knake-Werner (A) mit geringfügiger Beschäftigung anstehenden Probleme greife ich nicht. Hier sollten Sie wirklich konsequent(C) gelöst. Ich finde, daß hier – das bedauere ich sehr – eine sein. wichtige Chance zu grundlegenden Veränderungen ver- In der Tat ist der Grund für Ihr Vorgehen bezüglich tan worden ist. Es ist Ihnen weder gelungen, die Soli- der Krankenversicherung, das Solidarprinzip durch die dargemeinschaft insgesamt zu stärken, noch ist es Ihnen Beiträge der Arbeitgeber weiter zu stärken. Sie halten gelungen, auf die Lebenssituation der Frauen wirklich damit an der Vorstellung fest, daß Frauen grundsätzlich einzugehen. durch zweite Hand versichert sind, ein Prinzip, von dem Wir von der Linken hier im Hause waren uns doch in man sich aus frauenpolitischer Sicht endlich verabschie- den letzten Jahren völlig einig darin, daß geringfügige den muß. Beschäftigung ein Problem ist, das vor allen Dingen (Beifall bei der PDS) Frauen betrifft, da ihnen Arbeitsverhältnisse zugemutet werden, die keinen sozialen Schutz bieten, bei denen sie Ein Drittes – das ist mir besonders wichtig –: keine dem Heuern und Feuern ausgesetzt sind und mit demBeiträge zur Arbeitslosenversicherung. Das ist für Druck der Altersarmut leben müssen. Das wollten wir mich völlig unverständlich, weil damit die geringfügig verändern. Nach unseren Vorstellungen sollte diesenBeschäftigten weiterhin von arbeitspolitischen Maß- Frauen mehr soziale und arbeitsrechtliche Sicherheit ge- nahmen ausgeschlossen werden, von Fortbildung und geben werden. Dafür haben wir ja übrigens auch ge-Umschulung. Hier wäre eine Brücke zum Wiederein- meinsam in Bündnissen mit Gewerkschafterinnen und stieg in den Arbeitsmarkt gegeben und auch die Chance Vertreterinnen der Kirchen, mit dem Frauenrat und an- auf existenzsichernde Beschäftigung in der Zukunft. deren gestritten. Dieses sollte der Kernpunkt einer neuen gesetzlichen Regelung sein. Deshalb haben auch wir von (Beifall bei der PDS) der PDS schon sehr frühzeitig gefordert, daß jede be- Insgesamt glaube ich, daß, was die frauenpolitische zahlte Arbeitsstunde versicherungspflichtig gemachtSeite angeht, in diesem Gesetzentwurf eine Menge von wird, für sie also Beiträge in die Sozialkassen zu zahlen Leerstellen bleibt. Ich glaube, es gibt noch viel zu tun. sind. Nun zur Steuerseite. Sie wollen die geringfügige Be- Wenn diese Beiträge von den Arbeitgebern nun in die schäftigung grundsätzlich steuerfrei stellen, wenn dies Sozialkassen gezahlt werden, dann ist das ein guterdie einzige Einnahmequelle ist; das finde ich gut. Au- Schritt. Wenn daraus aber keine Leistungen resultieren, ßerdem wollen Sie die Einkünfte aus Nebenjobs besteu- dann ist dieser Schritt doch viel zu kurz und halbherzig ern; auch das halte ich für gut und längst überfällig. und verstößt außerdem gegen den Gleichheitsgrundsatz. Ich weiß nicht, wie Sie damit zum Beispiel vor dem Frau Dückert, bei Ehefrauen, egal wie hoch die Ein- (B) Bundesverfassungsgericht bestehen wollen. künfte ihrer Männer sind, soll das Einkommen aus der(D) geringfügigen Beschäftigung steuerfrei bleiben. Ich fin- Eines muß man deutlich sagen: Angesichts des von de dies richtig, und zwar deshalb, weil dies endlich nicht mir gerade beschriebenen vorrangigen Ziels, geringfügi- mehr das Klischee der Ehefrau als Zuverdienerin bedient ge Beschäftigung im Interesse von Frauen zu regeln,und weil damit ein Schritt dahin gemacht wird, die tra- sind wir damit keinen Schritt vorangekommen. ditionellen Rollenmuster aufzubrechen. Natürlich weiß ich, daß dies dazu führen kann, daß einige Frauen dann (Beifall bei der PDS) ein nettes Taschengeld haben werden. Für die allermei- Natürlich ist es richtig, daß mit dem vorgelegten Ge- sten Frauen aber wird dies ein Schritt zu mehr Eigen- setzentwurf durch die Beitragspflicht zur Renten- und ständigkeit und Unabhängigkeit sein. Das müssen wir Krankenversicherung die Flucht der Arbeitgeber aus fördern; wir unterstützen dies. Dazu gehört aber auch, dem sozialen Sicherungssystem endlich eingedämmtdaß Sie sich zur Lösung des Problems des Ehegatten- wird und die Chance besteht, die Finanzgrundlagen der splittings – erst dann ist dies konsequent – durchringen. Sozialkassen zu stabilisieren. Das erfreut mein Herz als (Beifall bei der PDS) Sozialpolitikerin. Für mich aber bleibt die zentrale Fra- ge: Was haben die betroffenen Frauen von diesem Ge- Die gleiche Bezahlung von geringfügiger Beschäfti- setz? gung in Ost und West endlich durchgesetzt zu haben halten wir unter dem Gesichtspunkt der Gleichstellung Es ist ein bißchen haarspalterisch, Frau Dückert,der Frauen für richtig. Wir unterstützen dies; denn es wenn hier gesagt wird, diese Frauen müßten gar nichts war den Frauen in Ostdeutschlandnicht mehr zu er- bezahlen. Das ist doch Unsinn. Wenn sie Leistungen ha- klären – sie empfanden es als Demütigung –, warum sie ben wollen, dann müssen sie auch bezahlen, und zwar 100 DM weniger bekommen sollten. einen Beitrag in Höhe von knapp 50 DM. Und ich muß schon sagen: Bei 630 DM Einkommen sind 50 DM ein- Aber unter beschäftigungspolitischen Aspekten ist es fach unzumutbar. Ich kann nicht verstehen, warum Sie in der Tat ein riesengroßes Problem. Durch die geringe- diesen Schritt nicht konsequent vollziehen. Wenn Sieren Tarifeinkommen in Ostdeutschland entsteht nämlich schon die paritätische Finanzierung des Sozialsystems die Situation, daß sich viele Frauen, die heute teilzeit- an dieser Stelle durchbrechen, warum tun Sie das dann oder noch vollzeitbeschäftigt sind, überlegen werden, ob nicht komplett? Warum zahlen die Arbeitgeber nicht,sie nicht mehr Geld in der Tasche haben, wenn sie auf wie es im Gesetzentwurf der Gruppe der PDS aus dereine geringfügige Beschäftigung ausweichen. Darin liegt letzten Legislaturperiode enthalten war, bis zur Höhefür die Arbeitgeber die Chance, daß die Akzeptanz der des Existenzminimums beide Beitragsanteile? Das be- geringfügigen Beschäftigung erhöht wird. Das ist eine Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 17. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1999 1155

Dr. Heidi Knake-Werner (A) fatale Entwicklung für die Frauen und für die Sozialkas- Ich werde es Ihnen als Neue einfach machen, meine(C) sen. Rede zu verfolgen und zu verstehen. Für die Arbeitgeber ist es im wesentlichen ein Null- Mit unserem Gesetzentwurf legen wir zu einem wei- summenspiel. Die einzige Änderung für sie ist, daß sie teren, seit Jahren nicht gelösten Problem ein Reform- in Zukunft die Pauschalsteuer, wie sie es in der Ver- programm vor. Der Bundesminister für Arbeit hat schon gangenheit nicht selten gemacht haben, nun nicht mehr darauf hingewiesen: Innerhalb von fünf Jahren hat sich auf die abhängig Beschäftigten abwälzen können. Die die Zahl der geringfügig Beschäftigten um 1,1 Millionen Versicherungsbeiträge müssen sie tatsächlich zahlen. erhöht. Die Zahl der sozialversicherungspflichtig Be- Aber trotzdem bringt den Arbeitgebern diese Rege- schäftigten ist aber um 2 Millionen zurückgegangen. lung erhebliche Vorteile. Geringfügige Beschäftigung ist 16 Jahre lang war die alte Regierung nicht in der La- immer noch billiger als sozialversicherungspflichtigege, diesen Mißstand auf dem Arbeitsmarkt aufzugreifen Beschäftigung. Viele Leistungen, die auch den gering- und zu beseitigen. fügig Beschäftigten auf Grund tarifvertraglicher und ge- setzlicher Regelungen zustehen, werden ihnen die Ar- (Beifall bei der SPD) beitgeber weiterhin vorenthalten können. Das gilt zum Wenn ich an die F.D.P. denke, glaube ich, daß einige Beispiel für die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, für von Ihnen das auch gar nicht wollten. das Urlaubsgeld, für das Weihnachtsgeld und natürlich auch für den Kündigungsschutz. Das finde ich bedauer- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten lich. Die Arbeitgeber werden jede Chance nutzen, diese des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Vorteile in Anspruch zu nehmen. Daher glaube ich, daß PDS) sie sich nur zum Schein beklagen. In Wirklichkeit ist es Sicherlich ist dies ein Grund, warum Sie jetzt dort sit- die Lösung, die ihnen am meisten entgegenkommt. zen, wo Sie sitzen, nämlich auf der Oppositionsbank. Zum Schluß noch eine Bemerkung. Gerade im Jahr Unser Gesetz ist ein weiterer Baustein in unserem der deutschen EU-Ratspräsidentschaft hätte die Bundes- Bemühen, die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen und die regierung mit einem beherzteren Gesetzentwurf zur Ein- versicherungspflichtigen Arbeitsplätze zu erhalten; denn dämmung geringfügiger Beschäftigung durchaus Punkte was eine Ausnahme von der Regel sein sollte, entwik- sammeln können. Auch diese Chance hat sie leider ver- kelte sich zu einer Ursache für den Wegfall von sozial- paßt. Die Bundesrepublik Deutschland ist inzwischenversicherungspflichtigen Arbeitsplätzen. neben Großbritannien das einzige Land in Europa, das sich noch diese Art von versicherungsfreier Beschäfti- Von den geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen gung in diesen Größenordnungen leistet. Dies nur zusind in allererster Linie Frauen betroffen. Der Anteil ge- (B) dem immer wieder bemühten Argument von der Wett- ringfügig beschäftigter Frauenin Westdeutschland (D) bewerbsfähigkeit. hat in den letzten zehn Jahren um 74 Prozent und in Ostdeutschland in den letzten fünf Jahren um 75 Pro- Die Vorsitzende des Deutschen Juristinnenbundes,zent zugenommen. Allein in Sachsen-Anhalt – von dort Professor Ursula Nelles, stellt fest: Dieses Gesetz istkomme ich – sind 84 Prozent der geringfügig Beschäf- nicht nur ein frauenpolitisches Ärgernis, sondern auch tigten Frauen. Ähnlich sieht es in den anderen ostdeut- ein Verstoß gegen daseuropäische Gleichbehand- schen Ländern aus. Auch in den westdeutschen Ländern lungsrecht. Ich denke, sie hat recht. Liebe Kolleginnen liegen die Zahlen noch bei über 70 Prozent. – das sage ich ganz bewußt –, es ist noch Zeit, uns ge- meinsam darauf zu besinnen, solche Peinlichkeiten in Frauen wollen arbeiten, wollen nicht ausgegrenzt der Zukunft zu vermeiden. werden und möchten auch gehört werden. Sie möchten aber nicht nur in diesen Billigjobformen beschäftigt Danke schön. sein. Sie wollen vor allen Dingen – das möchte ich noch (Beifall bei der PDS) einmal klarstellen – Vollzeitjobs haben. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS Präsident Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun die 90/DIE GRÜNEN) Kollegin Silvia Schmidt, SPD-Fraktion. Der eine oder andere behauptet ja, Frauen möchten die „drei Ks“ in Anspruch nehmen. Ich glaube, das ist Silvia Schmidt (Eisleben) (SPD): Sehr geehrter Herr nicht so. Nur 7 Prozent aller geringfügig beschäftigten Präsident! Meine Damen und Herren! Als Neue muß ich Frauen üben diese Tätigkeit länger als 10 Jahre aus. gleich am Anfang feststellen: Die Opposition hört nicht 20 Prozent sehen darin eine Chance für denberuflichen richtig zu und kann auch nicht richtig addieren. Wiedereinstieg. 22 Prozent dieser Frauen fehlt einfach (Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Das kommt die berufliche Alternative. Die meisten von ihnen sind ganz auf Ihre Rede an! – Dr. Wolfgang jedoch auf dieses Einkommen angewiesen, und damit Schäuble [CDU/CSU]: Probieren Sie es ein- sind sie auch erpreßbar. mal!) Mit unserem Gesetz wird klargestellt: Auch 630-DM- Jobs sind Arbeitsverhältnisse, für die Regeln gelten – Das ist sehr schön, Herr Schäuble. Ich danke Ihnen müssen. Diese Regeln bestehen ja auch schon, wie rich- schon im voraus. tig erkannt wurde. Geringfügig Beschäftigte haben An- (Beifall bei der SPD) spruch auf Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, bezahlten 1156 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 17. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1999

Silvia Schmidt (Eisleben) (A) Urlaub, Kündigungsschutz und andere Arbeitnehmer- Unser Gesetz ist zugleich auch ein wichtiges Instru- (C) rechte. Aber – das ist das Neue – künftig müssen diement zum Erhalt von Arbeitsplätzen. Wir erwarten, daß Arbeitgeber darauf hinweisen und die Beschäftigtendamit die zunehmende Zahl der geringfügigen Beschäf- über ihre Rechte informieren; denn sonst werden sie re- tigungsverhältnisse zu Lasten von Voll- und Teilzeitar- greßpflichtig gemacht. Das war bis jetzt nicht der Fall. beitsplätzen eingedämmt wird. Besonders in Ost- deutschland wurden aus sogenannten Kostenersparnis- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gründen – das müßte besonders die F.D.P. wissen – Ar- DIE GRÜNEN) beitsverhältnisse in geringfügige Beschäftigungsverhält- Eine der für mich wichtigsten Änderungen – das muß nisse umgewandelt. Zudem sind mehrere tausend Ar- ich wirklich einmal klarstellen; denn das, was hierbeitsplätze verlorengegangen. Jetzt läuft auch noch das manchmal dazu gesagt wird, finde ich schon eigenartig – ABM-Wahlgeschenk aus. Ich möchte da aus meinem betrifft die Rentenversicherung: Frauen und Männern Wahlkreis Sangerhausen/Mansfelder Land eine Zahl wird die Möglichkeit eingeräumt, durch Zuzahlung innennen: Wir sind jetzt wieder bei 24,1 Prozent Arbeits- die Rentenversicherung, und zwar in Höhe von 7,5 Pro- losen. Wahlversprechungen sollten gehalten werden, zent, einen Rentenanspruch zu erwerben. aber Sie konnten es nicht. Herr Dr. Kues, hören Sie bitte noch einmal zu: Na- Die erhebliche Umwandlung in geringfügige Be- türlich ist uns bewußt, daß 6,78 DM Rente im Monat für schäftigungsverhältnisse ist mit eine Folge der Um- ein Jahr Arbeit bei einem Monatseinkommen von 630strukturierung der Wirtschaft in den neuen Ländern und DM nicht viel ist. Allerdings beträgt der Eigenanteilhängt natürlich auch mit der Strukturverschiebung hin auch nur 47,25 DM. Jetzt könnten Sie natürlich wieder zum Dienstleistungsgewerbe zusammen. Das mag mit etwas einwerfen. Aber dann müßte ich Ihnen sagen, daß eine Erklärung sein. Nichtsdestotrotz sind Arbeitslosen- Sie – Sie hatten ja am 19. Januar einen Gesetzentwurfzahlen von bis zu 25 und 30 Prozent in vielen Regionen eingebracht – die Ziffer 5 Ihres eigenen Gesetzentwurfes der neuen Länder alarmierend. Dort können wir keine wahrscheinlich nicht kennen bzw. überflogen haben.geringfügige Beschäftigung brauchen, sondern dort be- Darin heißt es, daß Sie die gesetzliche Rentenversiche- nötigen wir Teilzeit- und Vollzeitarbeitsplätze. rung auf die geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse Wir rechnen damit, daß unser Gesetz die Ausweitung ausdehnen wollen. Genau dies geschieht mit den 6,78des Mißbrauchs der 630-DM-Jobs eindämmen wird; DM, die wir als Option einführen. Ich verstehe daher die denn die Arbeitgeber müssen künftig steuerfrei gezahlte Diskussion nicht. Löhne auf den Lohnsteuerkarten der geringfügig Be- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ schäftigten eintragen. Dadurch wird eine bessere Kon- DIE GRÜNEN) trolle möglich. (B) (D) Trotz der vielleicht geringen Höhe des erworbenen Hat ein Arbeitnehmer mehrere solcher Jobs, werden Rentenanspruchs ist dies ein wichtiger Schritt. Vor al- sie auf der Lohnsteuerkarte zusammengerechnet, ent- lem werden damit die Lücken in der Rentenbiographie sprechend behandelt und nach den allgemeinen steuerli- geschlossen. Das ist gerade für Frauen, die nach derchen und sozialversicherungsrechtlichen Bestimmungen Wende oft aus der Beschäftigung herausgefallen sind, abgewogen. So verlieren sie ein Stückchen an Attrakti- sich in der Sozialhilfe befinden und keinen Rentenan-vität, und Angebot und Nachfrage sinken. Zugleich wird spruch in dieser Zeit erwerben, wichtig. Ich bitte also, dafür gesorgt, daß die Arbeitsstunden für den Arbeitge- darüber nachzudenken – auch die liebe PDS. ber nicht mehr unterschiedliche Kosten verursachen. Zudem sollte man sich nicht nur auf die absoluten Außerdem wird mit unserem Gesetz ein weiteres Ziel Zahlen konzentrieren. Wir müssen auch sehen, daßder Bundesregierung erreicht, nämlich der Erosion der durch den Erwerb von Rentenansprüchen damit zusam- Finanzgrundlagen der beitragsfinanzierten Sozialversi- menhängende Ansprüche geschaffen werden: volle Be- cherungen entgegenzuwirken. Die Aufsplittung von so- rücksichtigung bei den Wartezeiten, Entgeltpunktbe-zialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnissen in ge- rechnung, Rehabilitation – ganz wichtig –, Rente nach ringfügige Beschäftigungsverhältnisse hat beiden Sozi- Mindesteinkommen, Schutz vor Berufsunfähigkeit alversicherungssystemen Milliardenbeträge entzogen. und Erwerbsunfähigkeit, vorgezogene Altersgrenzen. Unser Gesetzentwurf wird dazu führen, daß diesen Ver- sicherungssystemen noch in diesem Jahr 3,4 Milliarden Alles zusammen trägt dazu bei, daß die sozial- und DM zugeführt werden. arbeitsrechtliche Lage der geringfügig Beschäftigten verbessert wird; denn oft werden sie ja als Ausputzer (Beifall bei der SPD – Dr. Irmgard Schwaetzer und intelligenzgeminderte Menschen dargestellt, die [F.D.P.]: Das hätten Sie gern!) keine Ahnung von dem haben, was sie eigentlich ma-– Das wird so sein, Frau Schwaetzer. chen. Diese Diskriminierung dürfen wir nicht unbeachtet lassen. Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, lassen (Beifall bei der SPD) Sie mich in diesem Zusammenhang fragen: Welche Wirklichkeit nehmen Sie eigentlich noch wahr, wenn Für mich gehen Frauen aus dieser Gesetzgebung so- Sie der Meinung sind – ich zitiere aus dem von Ihnen zial gestärkt hervor. Die bisher häufig zu beobachtende vorliegenden Antrag –: Ausnutzung der geringfügig Beschäftigten, die auf die- sen Verdienst angewiesen sind, wird gestoppt. Schutz- Aufgrund des enormen Kostendrucks, dem sich rechte werden ihnen nicht länger vorenthalten. viele Unternehmen und Selbständige gegenüberse- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 17. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1999 1157

Sylvia Schmidt (Eisleben) (A) hen, besteht die Gefahr, daß künftig zunehmend so- so unmöglich, daß Sie heute davon nichts mehr wissen(C) zialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhält- wollen. nisse in geringfügige Beschäftigungsverhältnisse (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – umgewandelt werden und damit die Finanzgrund- lage der sozialen Sicherungssysteme erodiert. Konrad Gilges [SPD]: Man kann ja schlauer werden, Herr Louven!) Richtig, meine Damen und Herren von der Opposi- Wir in der alten Koalition, Herr Gilges, waren uns tion, aber diese Tendenz besteht schon seit Jahren, und immerhin einig. Dies haben wir am 11. Dezember 1997 Sie haben 16 Jahre lang nicht gehandelt. Was soll das al- in einer Entschließung zum Ausdruck gebracht, in der es so? hieß: (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Für schutzwürdige Personen muß ein ausreichender des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Versicherungsschutz sichergestellt werden. Da kann ich wirklich nur noch sagen: Wer zu spätGenau dies war immer Ihr Anliegen. Ich könnte Ihnen kommt, den bestraft der Wähler. jetzt eine ganze Reihe entsprechender Zitate zum Bei- spiel von Frau Buntenbach, Zum Schluß möchte ich nochmals betonen: Unser Gesetzentwurf ist ein erheblicher sozialpolitischer Fort- (Dr. Irmgard Schwaetzer [F.D.P.]: Richtig, schritt. Nicht alle wünschenswerten Forderungen wer- Frau Buntenbach habe ich heute überhaupt den erfüllt. Das kann aber bei der Komplexität dieses nicht gesehen!) Themas auch nicht gewährleistet werden. Wichtig fürvon Frau Onur, von den Kolleginnen Lotz und Schmidt die SPD-Fraktion ist: Geringfügige Beschäftigungenund von vorlesen, der uns in seiner werden zu ordentlichen Arbeitsverhältnissen entwickelt, bekannt liebenswürdigen Art seinerzeit vorwarf, wir sei- die den Arbeitnehmern ihre Rechte zusichern. en Sozialbanausen, weil wir diese Menschen ohne Ver- Ich danke Ihnen. sicherungsschutz ließen. (Zurufe von der SPD: Das wart ihr doch (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten auch!) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich könnte jetzt Zitate von Ihnen nennen, die den Umfang von 14 DIN-A4-Seiten erreichen würden, in Präsident Wolfgang Thierse: Dies war die erste denen Sie gefordert haben, was auch wir sagten: Rede der Kollegin Schmidt. Meine herzliche Gratula- Für schutzwürdige Personen muß ein ausreichender (B) tion. (D) Versicherungsschutz sichergestellt werden. (Beifall) (Zuruf von der SPD: Warum habt ihr es dann Nun hat das Wort der Kollege Julius Louven, nicht gemacht?) CDU/CSU-Fraktion. , inzwischen Parlamentarischer Staatsse- kretär beim Arbeitsminister, hat am 1. Oktober 1997 hier in einer Rede anläßlich einer Debatte zu diesem Julius Louven (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Problembereich mit der Aussage begonnen, „das Motto sehr verehrten Damen und Herren! Am 19. November Mittendrin und trotzdem draußen“ beschreibe das Pro- letzten Jahres hat von diesem Pult aus mit tragender blem sehr genau. So Gerd Andres. Er führte weiterhin Stimme und gequältem Gesicht der Bundeskanzler eine aus: dritte Variante zur Lösung der 630-Mark-Verträge vor- getragen. Ich habe ihm damals geantwortet und gesagt, Jedes dieser Beschäftigungsverhältnisse muß sozi- ihm sei sein telegenes Lächeln inzwischen vergangen, alversicherungspflichtig sein. Das ist die richtige weil er sich wohl nicht vorstellen konnte, wie schwierig Logik in unserem System. die Problemlösung in diesem Bereich ist. Er rief uns zu: Wäre der Bundeskanzler heute hier, dann würde ich Warum stopfen Sie dieses Loch nicht? Warum tun ihm sagen: Mit der Variante vier machen Sie sich nun Sie nichts? restlos lächerlich. (Zuruf von der SPD: Machen wir doch!) (Beifall bei der CDU/CSU) Daraufhin habe ich genau heute vor einem Jahr ein Wenn Sie, Herr Minister, und die Redner der Regie- Papier dazu vorgelegt, wie ich mir die Lösung des Pro- rungskoalition meinen, wir hätten dieses Problem nicht blems vorstellen könne. Ich habe mich dabei auch auf gelöst, so ist dies richtig. die Einlassungen von Gerd Andres bezogen. Für mich waren fünf Punkte wichtig. Ich habe sie am 19. Novem- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) ber 1998 genannt. Ich will sie heute wiederholen: Aber Sie haben ja in der letzten Legislaturperiode zu Erstens. Der flexible Zugriff auf Arbeitnehmer, die ad diesem Bereich einen Gesetzentwurf vorgelegt, den Sie hoc bereit sind, auch zu unpopulären Arbeitszeiten tätig heute am liebsten totschweigen würden. Denn der war zu werden, muß möglich bleiben. 1158 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 17. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1999

Julius Louven (A) Zweitens. Die Arbeitsverhältnisse dürfen sich nicht (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – (C) wesentlich verteuern – weder für die Arbeitnehmer noch Dr. Uwe Küster [SPD]: 16 Jahre haben Sie für die Arbeitgeber. nichts gemacht, und jetzt kommen Ihnen die Tränen! Krokodilstränen sind das!) Drittens. Der Einstieg in eine normaleTeilzeitbe- schäftigung, die jetzt an der sogenannten 630-Mark- Auch die steuerlichen Regelungen schreien zum Mauer endet, muß mit einer Neuregelung erleichtertHimmel; die Kollegin Schwaetzer hat dies deutlich ge- werden. macht. Sie haben doch genügend Verfassungsrechtler in Ihren Reihen, um zu erkennen, daß diese Regelungen Viertens. Wir müssen alles vermeiden, was Arbeit- nicht haltbar sind. Und man sieht es den gequälten Ge- nehmer und Arbeitgeber in die Illegalität treibt. sichtsausdrücken der Kolleginnen und Kollegen hier ja Fünftens. Wir brauchen Regelungen, die einfach und auch an. handhabbar sind. (Lachen des Abg. Dr. Uwe Küster [SPD]) (Leyla Onur [SPD]: Wunderbar! Danke Im übrigen wundere ich mich darüber, daß sich all die, schön!) von denen ich Kritisches zitieren könnte – auch von Ih- Im Ausschuß hat Gerd Andres im Januar dieses Jah- nen, Frau Onur –, heute so ruhig verhalten. res erklärt, daß man sich auf dieser Basis, also auf der (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Basis meines Papiers, sofort einigen könne. Sogar die Deutsche Angestellten-Gewerkschaft hat sich positiv Es ist schon eigenartig. Sie schreiben in die Begrün- geäußert, Lutz Freitag sogar fast überschwenglich. dung zum Gesetzentwurf – das muß man sich wirklich auf der Zunge zergehen lassen –: In der Aktuellen Stunde vom 19. November des letz- ten Jahres hat Ihr Fraktionsvorsitzender Struck auf Bei verheirateten Arbeitnehmerinnen und Arbeit- Grund meiner Einlassungen gesagt, daß er es begrüße, nehmer bleibt es auch dann bei der Steuerfreiheit, daß wir uns in der CDU/CSU von der F.D.P. freige- wenn der andere Ehegatte eigene Einkünfte erzielt. schwommen hätten, und er darauf vertraue, auf Grund Bei anderen wird einfach zusammengerechnet. meiner fünf Punkte eine Regelung mit breiter Mehrheit im Bundestag beschließen zu können. Diesen Sachverhalt garnieren Sie mit der Klammer- bemerkung „Brücke zur Rückkehr in das Arbeitsleben“. Nun, meine Damen und Herren von der SPD und dem Herr Minister – Sie haben das auch erwähnt –, erläutern Bündnis 90/Die Grünen, Ihr Gesetzentwurf: Er ist ein Sie doch einmal, worin die „Brücke zur Rückkehr in das absoluter Flop, Herr Minister. Arbeitsleben“ hier besteht! (B) (Beifall bei der CDU/CSU) (D) (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Lauter Nicht nur – o Graus –, daß er 57 Seiten umfaßt. Er ist Sprüche! – Birgit Schnieber-Jastram [CDU/ vielmehr auch inhaltlich eine Katastrophe. Lieber Gerd CSU]: Gute Frage!) Andres, lieber Minister Riester, beide sind Sie führend Eine Brücke zur Rückkehr in normale Beschäftigungs- in Gewerkschaften tätig gewesen. Mit Ihren Gewerk- verhältnisse gibt es nur – dies ist meine feste Überzeu- schaften, den Kirchen, den Frauenverbänden und vielen gung –, wenn wir die 630-Mark-Mauer, wo die gering- anderen haben Sie immer den Standpunkt vertreten, die fügige Beschäftigung derzeit endet, überwinden. Dazu hier beschäftigten Menschen bräuchten eine soziale Ab- habe ich Vorschläge gemacht. sicherung. Nun legen Sie einen solchen Gesetzentwurf vor. Schämen Sie sich nicht, Herr Minister? Darüber hinaus muß man sich einmal anschauen, wie Sie von der Regierungskoalition dies alles kontrollieren (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) wollen, welche bürokratischen Regeln Sie installieren. Sie sprechen hier davon, dies sei sozial ausgewogen. Angesichts dessen tun mir insbesondere die Arbeitgeber Sagen Sie doch einmal nach draußen, was daran sozial bei den kleinen und mittelständischen Betriebe leid, die ausgewogen ist! dem ausgesetzt sind – typisch SPD! (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: (Beifall bei der CDU/CSU) Murks!) Selbst die Gemeinden müssen Sie – es ist nicht zu glau- Ich frage mich auch, wo der Aufschrei der von mirben – verpflichten, kontrollierend tätig zu werden. angesprochenen Verbände bleibt. Sie müssen diesen Mit dem Art. 10 dieses Gesetzes ändern Sie das Be- wohl eine Schlaftablette verpaßt haben. Anders kann ich triebsverfassungsgesetz dahin gehend, daß sie den Be- mir deren Verhalten – die Tatsache, daß sie ruhig sind – triebsräten in dieser Frage ein Mitspracherecht geben. nicht erklären. Wenn das Verhältnis von sozialversicherungspflichtigen Die Arbeitgeber haben künftig Sozialversicherungs- Arbeitsverhältnissen und solchen mit einer geringfügi- beiträge zu zahlen;Leistungsansprüche können die gen Beschäftigung unausgewogen ist, kann derBe- betroffenen Arbeitnehmer aber nur durch zusätzlichetriebsrat seine Zustimmung verweigern. Was heißt freiwillige Beiträge erwerben. Meine Damen und Her- denn „unausgewogen“? Das ist ein unbestimmter ren, dies ist doch nun wirklich ein Witz! Ich habe mirRechtsbegriff. Wenn man sich nicht einigt, sollen die nie vorstellen können, daß deutsche Sozialdemokraten Arbeitsgerichte die Frage der Unausgewogenheit ent- so einen Nonsens vorlegen können. scheiden. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 17. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1999 1159

Julius Louven (A) Nun stellen Sie sich das einmal in der Praxis vor: Ein Verlieren Sie, meine Damen und Herren, nicht Ihr(C) Großgastronom mit 30 Beschäftigten hat an einem Wo- Gesicht und Ihre Glaubwürdigkeit! Ziehen Sie diesen chenende eine große Gesellschaft zu bewirten. Er kann Murks zurück! dies nur mit zusätzlich 20 oder 30 geringfügig Beschäf- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- tigten bewältigen. Der Gastronom muß dafür den Be- ordneten der F.D.P.) triebsrat fragen. Der Betriebsrat sagt nein. Dann müßte der Gastronom zum Arbeitsgericht, um klären zu lassen, Ihre Regierungserklärung haben Sie überschrieben mit: was in diesem Fall „ausgewogen“ heißt. Bis entschieden Weil wir Deutschlands Kraft vertrauen. – Ich denke, die ist, ist die Veranstaltung natürlich vorbei bzw. sie hatDeutschen vertrauten auf Ihre Vernunft – bisher aller- gar nicht stattgefunden. dings in vielen Punkten vergeblich. (Heinz Schemken [CDU/CSU]: Der Kaffee ist (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- kalt!) ordneten der F.D.P.) Der Betriebsfrieden ist gestört, die mittelständige Wirt- schaft geschädigt. So wollen Sie den Mittelstand för- Präsident Wolfgang Thierse: Das Wort hat Bun- dern! desministerin Christine Bergmann. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Geschmunzelt habe ich auch bei dem Art. 16 dieses Dr. Christine Bergmann, Bundesministerin für Fa- Gesetzes. Er besagt, daß die Bundesregierung bis zum milie, Senioren, Frauen und Jugend: Herr Präsident! 31. März 2003 über die Auswirkungen dieses Gesetzes Meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordnete! berichten muß. Dieses Datum wurde sicher aus wohler- Ich habe die Debatte um die nichtversicherungspflich- wogenen Gründen gewählt: nach der nächsten Bundes- tigen Beschäftigungsverhältnisse über viele Jahre mit- tagswahl. verfolgt, auch als Arbeitssenatorin. Während wir die Debatte geführt haben, während über viele Jahre, zum Ziel Ihres Gesetzentwurfes ist – so heißt es unterTeil auch von Ihnen, Kritik an dieser Form der nichtver- Spiegelstrich fünf der Zielbeschreibung – „mittelfristig sicherungspflichtigen Beschäftigung geäußert wurde, hat die Ausweitung dieser Beschäftigungsverhältnisse ein- die Zahl dieser Beschäftigungsverhältnisse stark zuge- zudämmen“. Das Gegenteil wird der Fall sein. Unternommen. Die Zahlen haben wir gehört. Von ihnen hat es Spiegelstrich sechs führen Sie als Ziel an, „Ausweichre- in den letzten Jahren immer mehr gegeben, und ohne aktionen in den Bereich der Schwarzarbeit ... zu verhin- Not sind ordentliche Arbeitsverhältnisse richtiggehend dern“. Das Gegenteil wird der Fall sein. atomisiert worden. Sie haben die ganze Zeit zugeschaut, (B) und wir wären schon zufrieden gewesen, wenn da ein-(D) Meine sehr verehrten Damen und Herren von denmal ein Gesetzesentwurf von Ihnen auf den Tisch ge- Regierungsfraktionen, Ihre Parteifreundin Heide Simo- kommen wäre, auch wenn es nur Stückwerk gewesen nis, die schleswig-holsteinische Ministerpräsidentin, hat wäre, wenn wenigstens ein Schritt in die richtige Rich- sich im „Handelsblatt“ in dieser Woche von dem Ge-tung gegangen worden wäre. setzentwurf distanziert. Sie bezeichnet ihn als mehr als unglücklich. Der rheinland-pfälzische Arbeitsminister (Beifall bei der SPD und der PDS sowie bei – ebenfalls Ihr Parteifreund – äußerte Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE sich ähnlich scharf. GRÜNEN) Die Arbeitgeber, die zunächst nach den Äußerungen Insofern dürfen Sie hier nicht von „Armutszeugnis“ re- des Bundeskanzlers vom 19. November nicht unzufrie- den. Es ist ein Armutszeugnis für Sie, daß es so weit den waren, weil eine Verteuerung dieser Arbeitsverhält- kommen konnte und daß wir jetzt dastehen und sagen nisse für sie nicht erfolgte, sind inzwischen besorgt, we- müssen: Es gibt 5 bis 6 Millionen solcher Beschäfti- gen der Kompliziertheit des Gesetzes sogar entsetzt. Das gungsverhältnisse. Wir müssen jetzt fragen: Wie schaf- Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung spricht von fen wir es, daß wir die unterschiedlichen Interessen in Stückwerk, und die Gewerkschaften schweigen, weil sie einem vernünftigen Gesetzentwurf bündeln? wohl schweigen müssen. Hier wird immer die Realität ein wenig schöngeredet. (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Verle- Wieviel Schwarzarbeit um diese nichtversicherungs- gen!) pflichtigen Beschäftigungsverhältnisse herum entstan- den ist, das müßten Sie, Frau Schwaetzer, doch sehr ge- Dies alles darf Sie doch nicht unberührt lassen, meinenau wissen. Damen und Herren. Ich stelle mir vor, wir hätten ein solches Gesetz vorgelegt. Welches Szenario hätten Sie (Dr. Irmgard Schwaetzer [F.D.P.]: Das wird dann wohl veranstaltet? noch mehr! Da können Sie ganz ruhig sein!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Es wird ein solches Beschäftigungsverhältnis eingerich- ordneten der F.D.P. – Dr. Wolfgang Schäuble tet, und weitere Tätigkeiten im Umfeld dieses Beschäf- [CDU/CSU]: Das ist wohl wahr! – Dr. Uwe tigungsverhältnisses werden mehr und mehr durch Küster [SPD]: Helfen Sie uns doch! Nur zu!) Schwarzarbeit abgedeckt. Das konnte geschehen, weil es 1160 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 17. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1999

Bundesministerin Dr. Christine Bergmann (A) keine Möglichkeit des Nachweises und der Kontrolledadurch, daß wir das Melde- und entsprechende Kon-(C) gab. trollverfahren eingeführt haben. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Wer arbeitet eigentlich in den nichtversicherungs- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der pflichtigen Beschäftigungsverhältnissen? Es waren 1997 PDS) knapp 40 Prozent Haushaltsführende – so heißt das so schön –, also Frauen, es waren rund 13 Prozent Schüler Ich bin der Auffassung, daß wir auf Grund des jetzt und Studenten und etwa 11 Prozent Rentner. eingeführten Nachweises – jedes dieser Beschäftigungs- verhältnisse muß auf derSteuerkarte nachgewiesen Nun möchte ich aus frauenpolitischer Sicht einige werden – Punkte aufgreifen, die mir sehr am Herzen liegen und die auch die Abgeordneten bewegen. Zu mir sind in den (Dr. Irmgard Schwaetzer [F.D.P.]: Ja, glauben letzten Jahren viele Frauen gekommen, die sagten: Ich Sie denn, die lassen sich eine Steuerkarte ge- will entweder eine volle Arbeitsstelle oder wenigstens ben?) eine ordentlich abgesicherte Teilzeitstelle, aber ich be- überhaupt erst wissen, was hier los ist, und wir die Ent- komme sie nicht; ich bekomme nur 620- oder 520-DM- wicklung verfolgen können. Ich kann Ihnen auch ver-Jobs angeboten, und zwar nicht nur im Handel, sondern sprechen: Wir werden sehr genau hinschauen, wie sich auch in den Apotheken, in den Arztpraxen und anders- dieser Bereich in den nächsten Jahren entwickeln wird. wo. So erging es den Frauen, obwohl sie etwas ganz an- Wir sind flexibel; wir werden mit Sicherheit, wenn sich deres wollten. das eine oder andere nicht bewährt, auch bereit sein, Wir wissen, daß die Pauschalsteuer in großem Um- Änderungen vorzunehmen. Das ist doch gar keine Frage. fang auf die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ab- Aber wir müssen doch erst einmal den richtigen Einstieg gedrückt wurde. Das merken wir jetzt auch an den Re- hinbekommen, indem wir sagen: Was gibt es denn inaktionen der Arbeitgeber auf unsere Regelung, daß Bei- diesem Land? Was passiert da? In welchen Bereichenträge in die sozialen Sicherungssysteme gezahlt werden können wir schnell für eine Regelung sorgen? sollen. Diese Möglichkeit des Abwälzens haben Arbeit- Denn auf Grund dieses Zuwachses der nichtversiche- geber nun nicht mehr, es ist jetzt also sehr viel weniger rungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse gab es die attraktiv, in die nichtversicherungspflichtigen Beschäfti- allseits beklagte Erosion der sozialen Sicherungssyste- gungsverhältnisse auszuweichen. Ich denke, daß Frauen, me. Wir können uns auf der einen Seite nicht hinstellen weil die Attraktivität für geringfügige Beschäftigung für und darüber klagen, daß es immer weniger Beitragszah- die Arbeitgeber wegfällt, nun bessere Chancen haben, ler gibt, wenn wir auf der anderen Seite hinnehmen, daß mittelfristig ordentliche Teilzeitarbeit oder eine Voll- zeitarbeit zu bekommen. (B) sich Millionen aus diesen Sicherungssystemen völlig le- (D) gal verabschieden können. Ich denke, daß wir mit dem Mein nächster Punkt bezieht sich auf die sozialen Si- jetzt vorliegenden Gesetzesentwurf dem einen starken cherungssysteme. Ich möchte auf das ThemaRenten- Riegel vorschieben werden. Deswegen bin ich froh, daß versicherung eingehen. Es ist wirklich abenteuerlich, wir nun endlich einen solchen Gesetzentwurf auf demwas dazu von der einen oder anderen Seite gesagt wur- Tisch haben. de. Das paßt auch nicht unbedingt zusammen. (Beifall bei der SPD) Wir haben die Option für die Arbeitnehmerinnen und Es geht darum, der Erosion unsererSozialversiche- Arbeitnehmer geschaffen, sich mit eigenen Rentenbei- rungssysteme entgegenzusteuern. Das wurde ja von ei- trägen Anwartschaften zu erwerben und Rentenbiogra- nigen beklagt und mit dem Wort „Zwangsabgabe“ kriti- phien zu schließen. Ich sage das noch einmal; man kann siert. Aber ich denke, wir alle kennen die Situation unse- es nämlich nicht oft genug sagen; denn es scheint offen- rer sozialen Kassen und wissen, daß es dringend not-sichtlich noch nicht angekommen zu sein. Es geht nicht wendig ist, daß in diesem Bereich etwas passiert, daßnur um die 7 DM, die es mehr an Rente gibt. wir eine Versicherungspflicht einführen. (Dr. Irmgard Schwaetzer [F.D.P.]: Das ist Ih- (Dr. Irmgard Schwaetzer [F.D.P.]: Aber sagen nen auch erst jetzt eingefallen!) Sie doch einmal etwas zu Leistung ohne Ge- Es geht vor allen Dingen darum, daß vollwertige genleistung!) Pflichtbeitragszeiten, also die volle Berücksichtigung – Darauf komme ich noch. bei der Wartezeit, bei der Rente nach Mindesteinkom- men, bei Rehabilitation und bei Erwerbsunfähigkeit und Wir eröffnen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern vorgezogener Altersgrenze, erreicht werden. die Möglichkeit, mit freiwilligen Beiträgen Rentenan- sprüche in der gesetzlichen Rentenversicherung zu er- Ich betrachte das nicht als unsozial oder ungerecht. werben. Das ist wirklich sehr zu begrüßen. Ich halte das im höchsten Grad für die Frauen für wich- tig. Ich hoffe – ich bitte parteiübergreifend alle darum, (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das kann je- daß wir den Frauen diese Option nahebringen –, daß der! – Freiwillige Beiträge!) viele Frauen von dieser Option Gebrauch machen. Vor- gesehen haben wir – das verteufeln Sie als ein Stück Bü- – Nicht in dieser Form. Auch dazu sage ich noch etwas. rokratie – auch die Pflicht zur Beratung der Arbeitgeber Ich bin davon überzeugt, daß wir mit diesen Arbeits- über diese Möglichkeiten und gleichzeitig die Belehrung verhältnissen den Mißbrauch stoppen werden, und zwar darüber, welche Rechte geringfügig Beschäftigte über- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 17. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1999 1161

Bundesministerin Dr. Christine Bergmann (A) haupt haben, nämlich das Recht auf Lohnfortzahlung im Präsident Wolfgang Thierse: Nein, es ist eine(C) Krankheitsfall und das Recht auf Urlaub. Das war vielen Zwischenfrage vom Kollegen Laumann angemeldet. bisher unbekannt und wurde auch nicht unbedingt pro- pagiert. Dr. Christine Bergmann, Bundesministerin für Fa- (Julius Louven [CDU/CSU]: Das gab es aber milie, Senioren, Frauen und Jugend: Ja, Herr Laumann, schon vorher!) bitte. – Ja, das gab es. Ich habe nicht gesagt, daß es das nicht Karl-Josef Laumann (CDU/CSU): Frau Ministerin, gab. Es war aber vielen bisher unbekannt, und jetzt gibt Sie sprachen gerade davon, daß Sie es für richtig halten, es die Pflicht der Belehrung. Verbunden mit der Option daß der 630-DM-Vertrag einer Ehefrau nicht besteuert des Erwerbs von Rentenanwartschaften kann das, denke wird. Da möchte ich Sie fragen: Halten Sie das für ge- ich, für Frauen in diesem Bereich sehr hilfreich sein. recht? Wenn ein Rechtsanwalt oder Zahnarzt seine Frau (Dr. Irmgard Schwaetzer [F.D.P.]: Machen Sie für 630 DM beschäftigt, kann er diese 630 DM von sei- da Extrakurse für Hausfrauen?) ner Steuer absetzen; aber das Einkommen dieser Frau wird nicht steuerpflichtig. Halten Sie das gegenüber dem – In der Regel pflegen Arbeitgeber mit ihren Arbeit-Facharbeiter, der abends kellnern geht und sich 400 DM nehmern beim Einstellungsgespräch zu reden. Jetzt ste- dazuverdient und das dann voll versteuern muß, wirklich hen dabei diese Dinge auf der Tagesordnung, das istfür gerecht? doch so. (Beifall bei der CDU/CSU) Ich halte es für sehr wichtig, daß dieNebenbeschäf- tigungen voll angerechnet werden. Das heißt, wir wer- Dr. Christine Bergmann, Bundesministerin für Fa- den jetzt mehr sozialversicherungspflichtige Beschäfti- milie, Senioren, Frauen und Jugend: Ich will noch ein- gung haben. Für uns ist das keine Frage der Statistik. mal deutlich machen, was ich gesagt habe. Ich kenne (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Nur!) alle diese Beispiele. Ich habe keine Schwierigkeiten da- mit, daß das Einkommen von Frauen als eigenes Ein- – Das ist Ihre alte Denke, die hier durchkommt. kommen behandelt wird. Daß Mißbrauch von mir in keiner Form toleriert wird, ist eine andere Frage. Aber (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS Arbeitseinkommen von Frauen, ordentlich erworben, 90/DIE GRÜNEN) sind eigenständige Arbeitseinkommen. Es geht uns schlichtweg darum, eine Gerechtigkeits- (Beifall bei der SPD und der PDS – Zurufe lücke zu schließen, weil es niemandem zu vermitteln ist, (B) von der CDU/CSU: Antworten! – Weitere Zu- (D) daß bestimmte Anteile des Erwerbseinkommens von der rufe von der CDU/CSU) Versicherungspflicht und der Besteuerung ausgenom- men sind. – Ja, mit Arbeit erworben. Ich sage auch ganz klar: Nicht alle frauenpolitischen Präsident Wolfgang Thierse: Eine weitere Zwi- Punkte sind erfüllt worden. Es sind durchaus noch Wün- schenfrage – – sche offen. Es gibt, wie wir wissen, eine ganze Menge Diskussionen. Es ist auch nicht so, daß die Briefe nicht bei uns landen würden. Es ist auch nicht so, daß mit Dr. Christine Bergmann, Bundesministerin für Fa- Gewerkschaften nicht darüber diskutiert würde; die re- milie, Senioren, Frauen und Jugend: Ich möchte jetzt den nicht nur mit Ihnen, sondern genauso mit uns. Ein zum Schluß kommen. Redeverbot gibt es da sowieso nicht. (Lachen bei der CDU/CSU) Aber ich habe keine Schwierigkeiten mit der Nicht- – Wir wollen doch diese Debatte jetzt nicht weiterfüh- besteuerung des Einkommens der Ehefrau, weil ich den- ren. Ich kenne doch Ihre Beispiele. ke: Na prima, endlich wird dieses Einkommen als eige- nes Einkommen gewertet. Das kann doch eigentlich (Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Die Bei- auch nicht schaden. spiele bringen Sie in Verlegenheit! Das ist wohl wahr!) (Beifall bei der SPD und der PDS) – Nein, das bringt mich nicht in Verlegenheit. Ich denke, daß wir sehr genau hingucken werden, was (Dr. Irmgard Schwaetzer [F.D.P.]: Das zeigt in der nächsten Zeit passiert. Entwickeln sich diese Be- nur, daß das nicht zu regeln ist!) schäftigungsverhältnisse so, wie wir das mittelfristig wollen? Dieser Blick wird überhaupt erst möglich – – – Das zeigt nicht, daß das nicht zu regeln ist. Ich habe nur meine Meinung über Arbeitseinkommen von Frauen mitgeteilt. Das wird doch wohl noch legitim sein. Das ist Präsident Wolfgang Thierse: Frau Ministerin – – eine Meinung, mit der wir uns sicher noch befassen werden. Dr. Christine Bergmann, Bundesministerin für Fa- (Beifall bei der SPD und der PDS – Hans- milie, Senioren, Frauen und Jugend: Ich komme zum Peter Repnik [CDU/CSU]: Es wird nachge- Schluß. bessert, heißt das!) 1162 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 17. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1999

Bundesministerin Dr. Christine Bergmann (A) Ich meine, daß der Gesetzentwurf den richtigen Weg tellgrenze bei der geringfügigen Beschäftigung ausge-(C) vorgibt. Er stoppt die Aushöhlung sozialversicherungs- sprochen hat. Der damalige Fraktionsvorsitzende Schar- pflichtiger Beschäftigungsverhältnisse. Er stabilisiert die ping hat die bestehenden Regelungen als frauenfeindlich sozialen Sicherungssysteme. Er stoppt den Mißbrauch; bezeichnet und gefordert: Gebt den Frauen ordentliche wir haben die Meldepflicht für alle und die Kontrolle. Er Teilzeitarbeitsplätze. – Was ist diese Aussage jetzt noch bietet insbesondere Frauen die Möglichkeit, über frei- wert? Nichts. Was ist mit der Absenkung der Geringfü- willige Beiträge Ansprüche in der Rentenversicherung gigkeitsgrenze? Nicht einmal um eine müde Mark sen- zu erwerben. Er belastet Arbeitnehmer und Arbeitgeber ken Sie diese Grenze ab. Nichts geschieht an dieser nicht ungebührlich hoch. Er vermeidet Ausweichreak- Stelle. Im Gegenteil: In den neuen Bundesländern erhö- tionen in die Schwarzarbeit. hen Sie die Geringfügigkeitsgrenze. Es ist das erste Mal, daß geringfügige Beschäftigung amtlich ausgeweitet Es ist immer eine schwierige Gratwanderung zwi-wird. schen den unterschiedlichen Interessenlagen, zwischen zu hoher Belastung der Beschäftigungsverhältnisse auf (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- der einen Seite und Aushöhlung unseres Sozialversiche- ordneten der F.D.P.) rungssystems auf der anderen Seite. Ich bin davon über- Frauen wurde im Wahlkampf vorgegaukelt, daß SPD zeugt, daß wir das gemeistert haben. Wir werden die und Grüne ihre Interessen vehement vertreten würden. weitere Entwicklung sehr genau im Auge behalten. Aber hier zeigt sich: Das ist alles nur heiße Luft. Bei Danke. diesem Gesetzentwurf geht es nämlich nicht um die Verbesserung der Situation der 3,3 Millionen Frauen in (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten geringfügiger Beschäftigung – mitnichten. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS) Bundeskanzler Schröder selbst hat in der berühmten Aktuellen Stunde am 19. November 1998, als er inner- halb von zehn Tagen seinen dritten Vorschlag vorstellte, Präsident Wolfgang Thierse: Das Wort hat Kolle- drei Zielsetzungen genannt. An keiner Stelle – ich beto- gin Maria Böhmer, CDU/CSU-Fraktion. ne: an keiner Stelle! – war dort die Rede davon, daß die soziale Sicherung der Arbeitnehmerinnen und Arbeit- Dr. Maria Böhmer (CDU/CSU): Herr Präsident! nehmer verbessert werden soll. Dieses zentrale Ziel ist Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Frau Ministe- bei ihm offensichtlich unter den Tisch gefallen. rin Bergmann! Diese Regelung zu verteidigen ist wahr- (Beifall bei der CDU/CSU) lich ein schwerer Job für eine Frauenministerin. Dagegen zieht sich wie ein roter Faden durch diese (B) (D) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- sogenannte Reform die Grundlinie der neuen Regierung, ordneten der F.D.P.) nämlich immer neue Finanzquellen zu Lasten der Ar- Wenn Sie hier sagen, Sie seien auf dem richtigen Weg, beitnehmer und der Arbeitgeber zu erschließen, statt die bessere Chancen für Vollzeit und reguläre Teilzeit zudringend gebotenen Reform- und Sparmaßnahmen in schaffen, dann sage ich: Sie sind hier auf einem Holz- Angriff zu nehmen. weg. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Zweifellos muß man die Lage der Sozialkassen sehr der F.D.P.) ernst nehmen. Sie haben in diesem Gesetz keinen Riegel, mit dem Sie (Zurufe des Abg. Konrad Gilges [SPD]) der Aufsplitterung von regulärer Beschäftigung wirklich wehren können. Da machen Sie sich etwas vor. Ich rate – Wenn Sie hier so schreien, dann stellen Sie auch eine Ihnen in der Tat: Beobachten Sie die Auswirkungen die- Frage! Dann können wir miteinander diskutieren. ses Gesetzes! Es wird zu mehr geringfügiger Beschäfti- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) gung führen und die reguläre Beschäftigung weiter ab- senken. Die Erosion der sozialen Sicherungssysteme, das heißt die Flucht aus diesen Sicherungssystemen, müssen Hieran wird deutlich: Selbst in den ersten hundert wir sehr ernst nehmen. Wir haben eine Antwort gege- Tagen, in denen die neue Regierung im Amt ist, sind die ben, indem wir in der letzten Legislaturperiode Refor- Wahlversprechen gegenüber den Frauen nicht einmal men im Rentenbereich durchgesetzt haben. Aber Sie das Papier wert, auf dem sie geschrieben sind. hatten nichts Eiligeres zu tun, als dieseRentenreform (Beifall bei der CDU/CSU) zurückzunehmen, ohne ein eigenes Konzept vorzulegen. SPD und Grüne hatten in Deutschland gemeinsam (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- mit dem DGB ein Frauenbündnis initiiert – mittendrin ordneten der F.D.P.) und trotzdem draußen. Da sind Sie für die bessere so- Sie haben damit dafür gesorgt, daß sich die Finanzsitua- ziale Sicherung der Frauen eingetreten und dafür, den tion in diesem Bereich deutlich verschlechtert. Mißbrauch bei der geringfügigen Beschäftigung zu be- kämpfen. Ich erinnere mich noch gut, daß sich die Kol- Rechnen wir es einmal nach. Der VDR sagt: Für die legin Onur – sie ist jetzt nicht mehr hier – noch im April Jahre 1999 und 2000 kostet allein die Aussetzung vergangenen Jahres mit großer Vehemenz für die Baga- des demographischen Faktors 4,3 Milliarden DM. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 17. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1999 1163

Dr. Maria Böhmer (A) Schauen wir jetzt einmal auf die Einnahmen, die Sie auf Konrad Gilges (SPD): Es geht mir ganz gut. Ich ha- (C) Grund der Neuregelung der geringfügigen Beschäfti-be einen sehr niedrigen Blutdruck, Herr Schemken, der gung erwarten; Sie haben es ausgeführt. Sie hoffen auf zwischen 65 und 90 liegt. Deshalb tut es mir gut, wenn 4,75 Milliarden DM in zwei Jahren. Wir können hier al- ich mich morgens ein bißchen aufrege. Das möchte ich so eine einfache Gegenrechnung machen. Durch Ihren nur nebenbei erwähnen. mangelnden Mut, Ihre geringe Bereitschaft zu Struktur- Aber ich wollte ganz konkret etwas fragen: Frau reformen in der Rentenversicherung werden diese Mehreinnahmen sofort wieder aufgefressen werden. Kollegin, Sie haben gesagt, es gebe keinen Belastungs- unterschied bei der Steuer. Das ist schlicht und einfach (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- falsch, was Sie sagen. Es ist zwar richtig, ordneten der F.D.P.) (Lachen bei der CDU/CSU) Es nützt nichts, an Symptomen zu kurieren. Sie müs- – warten Sie doch einmal ab! –, daß 20 Prozent Pau- sen den Mut zu einer Reformpolitik haben, statt restau- schalbesteuerung per Gesetz erhoben werden. Aber die rative Politik zu betreiben. tatsächliche Besteuerung lag bei 22,8 Prozent. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- (Zuruf von der CDU/CSU) ordneten der F.D.P.) – Es freut mich, daß der Kollege zuhört. Er versteht ja Was leistet dieser Gesetzentwurf eigentlich? Von der etwas davon. ersten Mark an, heißt es, sollen Beiträge zur Sozialversi- cherung erhoben werden. Das ist eigentlich eine frohe Die Arbeitgeber sparen 0,8 Prozent ein; das ist die Botschaft. Konkret bedeutet das aber: statt der bisherTatsache. Deshalb ist Ihre Rechnerei schlicht und ein- 20prozentigen Pauschalbesteuerung jetzt 10 Prozent in fach falsch. Ich bitte Sie darum, auch einmal zur Kennt- die Krankenversicherung, 12 Prozent in die Rentenver- nis zu nehmen, daß die tatsächliche Belastung – ich sage sicherung. das noch einmal – bei 22,8 Prozent liegt. (Zurufe des Abg. Konrad Gilges [SPD]) (Widerspruch bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Aber aus diesen Beiträgen folgen keine Leistungen. Das Die zukünftige Belastung liegt bei 22 Prozent. Das ist ist der zentrale Mangel an Ihrem Gesetz. eine Einsparung von 0,8 Prozent. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Zur zweiten Frage, die ich Ihnen stellen muß ordneten der F.D.P. – Dr. Irmgard Schwaetzer [F.D.P.]: Einer der vielen Mängel! – Zuruf des (Lachen bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (B) Abg. Konrad Gilges [SPD]) (D) – das ist die eigentliche Frage –: Arbeitnehmer und Ar- – Wollen Sie, Herr Gilges, endlich einmal etwas fragen, beitgeber – das haben Sie eben behauptet – würden zu- oder wollen Sie immer nur schreien? sätzlich belastet. Tatsächlich gibt es keine Mehrbela- stung; vielmehr findet nur eine Umschichtung statt. Sa- (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das ist unser gen Sie doch einmal im Detail, welche zusätzlichen Niederschreier!) finanziellen Belastungen für den Arbeitgeber entstehen! Ich habe gerade eben vorgerechnet, daß es Einsparungen gibt. Welche zusätzlichen Belastungen entstehen denn Präsident Wolfgang Thierse: Eine Zwischenfrage, für den Arbeitnehmer? bitte, Herr Schemken.

Dr. Maria Böhmer (CDU/CSU): Herr Gilges, zu- Heinz Schemken (CDU/CSU): Frau Kollegin, sind nächst darf ich einmal feststellen: Ich finde es schon Sie mit mir der Meinung, daß sich Herr Gilges viel zu- bemerkenswert, wie Sie sich jetzt für die Arbeitgeber viel aufregt? stark machen. Das habe ich bei Ihnen noch nie erlebt. (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ordneten der F.D.P.) Dr. Maria Böhmer (CDU/CSU): Lieber HerrWenn Sie nicht so geschrien und mir statt dessen auf- Schemken, in der Tat muß man sagen: Wer so lautmerksam zugehört hätten, dann hätten Sie gemerkt: Es schreit, hat wahrscheinlich nicht viel zu bieten. ging mir an dieser Stelle zum einen deutlich um die Auswirkungen auf die Finanzlage der Rentenversiche- (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der F.D.P.) rungen. Dazu habe ich gesagt, daß Sie hier fast ein Null- summenspiel betreiben, wenn Sie auf der einen Seite Präsident Wolfgang Thierse: Gestatten Sie eine Reformen zurücknehmen und damit Mehrbelastungen Zwischenfrage des Kollegen Gilges? schaffen, während Sie auf der anderen Seite wieder neue Finanzquellen erschließen müssen.

Dr. Maria Böhmer (CDU/CSU): Ja, nachdem er ge- Zum anderen muß ich Ihnen sagen: Mir geht es hier schrien hat, soll er jetzt auch fragen. um die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die näm- 1164 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 17. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1999

Dr. Maria Böhmer (A) lich nichts von diesem Beitrag haben, den der Arbeitge- Ihnen dürfte doch, da Sie noch länger als ich diesem(C) ber jetzt zahlt. Ausschuß angehören, sehr bewußt sein, auf welchen Prinzipien unser Sozialversicherungssystem beruht. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ordneten der F.D.P.) (V o r s i t z : Vizepräsident ) Es gibt doch einen Bruch im Bereich der Sozialversi- Bei unserem Sozialversicherungssystem ist von emi- cherung, wenn hier Beiträge gezahlt werden und daraus nenter Bedeutung, daß, wer Beiträge leistet, auch An- keine Leistungen erfolgen. Sie müßten aufstehen in die- spruch auf Leistung hat. So wollen wir es auch für die sem Parlament und sich mit Vehemenz gegen eine sol- Zukunft halten. che Regelung aussprechen. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ordneten der F.D.P.) Vizepräsident Rudolf Seiters: Frau Kollegin Böhmer, gestatten Sie eine weitere Zusatzfrage des Ab- Präsident Wolfgang Thierse: Frau Kollegin, ge- geordneten Seifert? statten Sie noch eine Nachfrage des Kollegen Gilges? Dr. Maria Böhmer (CDU/CSU): Bitte. Dr. Maria Böhmer (CDU/CSU): Ja, bitte. Dr. Ilja Seifert (PDS): Ich möchte auf Ihre Antwort auf die vorhergehende Frage zurückkommen. Wollen Konrad Gilges (SPD): Ich wollte Sie, Frau Kollegin, Sie allen Ernstes sagen, daß es für die Arbeitnehmerin- nur fragen, ob es Ihnen bekannt ist, daß der Arbeitneh- nen und Arbeitnehmer nichts ist, wenn sie Ansprüche mer – das war in der Vergangenheit so – keinen An- auf Reha-Leistungen sowieEU- und BU-Ansprüche spruch auf die Beitragszahlungen der Arbeitgeber hat. erwerben können? Sie sagten eben, sie bekämen nichts Die alte Bundesregierung hat in den 80er Jahren zumheraus. In Anbetracht dessen, daß sie bisher bei gering- Beispiel ein Gesetz vorgelegt, nach dem türkische fügigen Beschäftigungen nichts dergleichen hatten, ist Arbeitnehmer Versicherungsbeiträge ausgezahlt beka- das jetzt doch ganz schön viel. men, nachdem sie in die Türkei zurückgekehrt waren. Sie bekamen aber nur diejenigen Versicherungsbeiträge (Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Das kön- ausgezahlt, die sie selber eingezahlt hatten, während Sie nen Sie doch heute auch schon!) damals die Beiträge der Arbeitgeber eingespart bzw. in der Rentenkasse belassen haben. Das war immer so und Ich habe ansonsten nicht viel Grund, diesen Gesetzent- (B) wurf zu verteidigen. Aber an diesem Punkt kann man(D) soll nach meiner Meinung auch so bleiben. Das ist auch doch nicht sagen, das sei nichts. richtig. Aber Sie stellen jetzt neue Grundsatzprinzipien in der Sozialversicherung auf, mit denen Sie – wenn Sie (Zustimmung bei der SPD) sie durchhalten – in Ihrer eigenen Fraktion große Pro- bleme bekommen. Dr. Maria Böhmer (CDU/CSU): Herr Kollege, ich bin Ihnen dankbar, daß Sie diese Frage gestellt haben; Präsident Wolfgang Thierse: Herr Kollege, Ihre das gibt mir Gelegenheit zur Klarstellung. Wenn mit Frage! diesem neuen Gesetz eine Einladung ausgesprochen wird, freiwillig den Rentenbeitrag mit eigenen Beiträgen um 7,5 Prozent aufzustocken, um dann Leistungen zu Konrad Gilges (SPD): Ich habe ja gefragt, ob ihr das erhalten, dann werde ich jeder Frau und jedem Mann in bekannt ist. geringfügiger Beschäftigung raten, dieses Geld lieber ins Sparschwein zu stecken, statt später so kümmerliche (Heiterkeit und Beifall bei der SPD) Rentenleistungen herauszubekommen, wie wir es eben gehört haben. Dr. Maria Böhmer (CDU/CSU): Herr Gilges, ich (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) habe gerade den Präsidenten gebeten, die Uhr anzuhal- Auch wenn Sie eben Reha, Berufs- und Erwerbsunfä- ten. Wenn man die Debatte jetzt so lebhaft führt – das higkeit erwähnt haben, kann ich nur sagen: Suchen Sie macht mir auch Spaß –, dann sollte das aber nicht auf diejenigen im Lande, die bereit sind, diesen Beitrag in die Redezeit angerechnet werden, Herr Präsident. die Rentenversicherung zu zahlen. Ich habe gerade im Lieber Herr Gilges, Sie sind lange genug im Aus-Fernsehen etliche Interviews gesehen, in denen Frauen schuß für Arbeit und Soziales. Deshalb wundere ichdas strikt zurückgewiesen haben, weil sie wissen, daß mich darüber, wie Sie so an der Sache vorbeireden kön- sie an dieser Stelle verschaukelt werden. nen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Vizepräsident Rudolf Seiters: Gestatten Sie eine ordneten der F.D.P.) weitere Zwischenfrage der Kollegin Schmidt? Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 17. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1999 1165

(A) Dr. Maria Böhmer (CDU/CSU): Ja, bitte. – Da Sie die Sozialversicherung kennen, gehe ich davon (C) aus, daß Sie es interpretieren können. Ulla Schmidt (Aachen) (SPD): Frau Kollegin Böh- Ich möchte mit Überlegungen fortfahren, die den Ge- mer, jetzt drängt sich mir doch eine Frage auf, die ichsetzentwurf betreffen. Ich will noch einmal ganz deut- stellen möchte. Im Antrag der CDU/CSU steht unterlich machen: Diese Neuregelung läßt all die Millionen Punkt 5, daß die geringfügig Beschäftigten in die So-von Frauen, die 630-DM-Jobs haben, im Bereich der so- zialversicherung, vor allen Dingen in die Rentenversi- zialen Sicherung außen vor. Das ist für den Deutschen cherung, einbezogen werden sollten. Können Sie mirFrauenrat mit seinen 11 Millionen Mitgliedern und für einmal sagen, wie hoch nach Ihrem Konzept die Beiträ- die DGB-Frauen mit ihren immerhin 2,6 Millionen Mit- ge sein sollen und welche Leistungen jemand erhält, der gliedern, die sich alle an dem Frauenbündnis beteiligt für 500 DM beschäftigt ist und dementsprechend abhaben, um für bessere soziale Sicherung zu kämpfen, ein 1. April 19,5 Prozent in die Rentenversicherung einzah- Schlag ins Gesicht. len müßte? (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Dr. Maria Böhmer (CDU/CSU): Liebe Frau Die Frauen stehen mit ihrer Kritik nicht allein: DGB, Schmidt, wir haben immer das Prinzip der HälftigkeitDAG und Juristinnenbund – die Frauen haben breite gehabt und sind sogar mit Blick auf Arbeitnehmerinnen Unterstützung. Sie haben sie auch aus den Reihen der mit geringfügiger Beschäftigung, als es um die Arbeits- SPD selbst. Mein Kollege Louven hat eben auf die kriti- plätze im Privathaushalt und den Arbeitsscheck ging, ei- schen Äußerungen des rheinland-pfälzischen Sozialmi- nen Schritt weitergegangen. Wir haben dort nämlichnisters Gerster hingewiesen. Mit Recht kritisiert er die vorgesehen gehabt, die Frauen mit ihrem geringen Ver- verfassungsrechtliche Bedenklichkeit dieser Neurege- dienst nicht zusätzlich zu belasten. Um ihnen aber dielung. Wenn ich die Äußerungen von Heide Simonis lese, Möglichkeit zu geben, daß sie ihre Rentenansprüchedie den Entwurf für kontraproduktiv hält, dann kann ich langsam aufstocken können, sollte der Arbeitgeber beide nur sagen: Es stimmt. Beitragsanteile bezahlen. Das halte ich an der Stelle für Ich wundere mich, daß ich heute keine derjenigen eine durchaus vernünftige Regelung. Frauen von seiten der Grünen im Parlament sehe, die Jetzt lassen Sie mich aber noch etwas antworten: Es immer für eine Änderung im Bereich der geringfügigen macht mich betroffen – wir haben so lange bei diesem Beschäftigung eingetreten sind. Sie sind angesichts die- Thema gekämpft; dabei standen Sie in vorderster Reihe ser Neuregelung offensichtlich verstummt. Es tut mir der SPD –, daß ich jetzt registrieren muß, wie sehr Sie fast leid, das miterleben zu müssen; denn der Gesetz- diese Neuregelung verteidigen, wie sehr Sie auf einmal entwurf enthält ein völlig antiquiertes Frauenbild. Mit (B) für die Beibehaltung der geringfügigen Beschäftigung dem Gesetz wird erneut die Rolle der zuverdienenden(D) plädieren und sagen, das ermögliche den Frauen, nach Ehefrau festgeschrieben, die die eigene soziale Absiche- der Familienzeit wieder in den Beruf zurückzukehren. rung lediglich durch eine Option erwerben kann und an- Liebe Frau Schmidt, das ist nicht der Fall. Sehen Siesonsten auf die Rente des Ehemanns verwiesen wird. doch bitte, was sich hier abspielt. Es wird ein neuer Bil- Das kann nicht die neue Zeit sein. liglohnsektor etabliert, und Sie drängen die Frauen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und durch diese Neuregelung in solche Beschäftigungsver- der F.D.P.) hältnisse, weil ihnen keine andere Beschäftigung mehr angeboten werden wird. Wenn Sie behaupten, hiermit werde der Aufsplittung von Beschäftigungsverhältnissen ein Riegel vorgescho- (Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der ben, dann entgegne ich dem: Glauben Sie ernsthaft, daß SPD: Was stellen Sie sich jetzt vor? Wie lautet nur ein Arbeitgeber angesichts der Neuregelung ernst- denn die Antwort auf die Frage?) lich gehindert würde, weiterhin mit geringfügigen Be- schäftigungsverhältnissen zu kalkulieren und Vollzeitar- Vizepräsident Rudolf Seiters: Die Kollegin Böh- beitsplätze aufzusplitten? Ich meine, nein. Auch die Re- mer bittet darum, jetzt im Gesamtzusammenhang fort- gelung im Betriebsverfassungsgesetz wird dafür kein fahren zu können, nachdem sie einige Zwischenfragen Hemmschuh sein. Sie werden sehen: Leider werden in zugelassen hat. Dieser Bitte müssen wir entsprechen. diesem Bereich mehr statt weniger Arbeitsplätze entste- hen. Frau Böhmer, Sie haben das Wort. Das schlimme ist: Die Chancen, daß wirklich reguläre Teilzeitarbeitsplätze entstehen, werden erheblich gerin- Dr. Maria Böhmer (CDU/CSU): Ich füge gern das ger werden. Genau das ist der Bereich, in dem wir Inno- hinzu, was ich eben zu den Privathaushalten gesagt ha- vationen gebraucht hätten. Sie ignorieren diesen Be- be: Das war für dieses Segment eine Lösung, die wir ge- reich. funden haben; ansonsten bleiben wir bei den Prinzipien, die die Sozialversicherung bietet. Wir würden dort ge- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) nauso handeln, wie wir es in anderen Bereichen eben- In der Tat, der Juristinnenbund hat recht, wenn er von falls tun. einem frauenpolitischen Ärgernis spricht. Ich sage: Hier (Zuruf der Abg. Ulla Schmidt [Aachen] eröffnet sich eine neue Diskriminierung für Frauen; [SPD]) denn der Billiglohnsektor wird für Frauen in diesem 1166 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 17. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1999

Dr. Maria Böhmer (A) Land zementiert. Sie machen geringfügige Beschäfti-handenen Reformen aufbauen und diese weiterentwik- (C) gung durch diesen Gesetzentwurf hoffähig. keln können. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Die heutige Situation wird, wie schon oft gesagt wur- Zuruf von der SPD: Was haben Sie denn ge- de, von unterschiedlichen Interessenlagen bestimmt. tan?) (Karl-Josef Laumann [CDU/CSU]: Was haben Ich will einen letzten Punkt ansprechen, weil es be- Sie im Wahlkampf gesagt, und was machen zeichnend ist, daß von seiten der SPD ein Beschäfti- Sie jetzt? – Gegenruf von der SPD: Hören Sie gungssektor wieder einmal völlig auf die Seite gescho- doch einmal zu!) ben wird. Ich meine damit die Arbeitsplätze im Privat- – Lassen Sie mich einmal ausreden; ich habe Sie eben haushalt. Dieser Gesetzentwurf geht an den Bedürfnis- auch ausreden lassen. – Auf der einen Seite haben wir sen der Arbeit im Privathaushalt vollkommen vorbei;die Situation, daß die Realeinkommen der Familien sin- denn wir sind dort mit Kleinstarbeitsverhältnissen kon- ken. Das führt leider dazu, das die 630 DM, die in die- frontiert. Wie wollen Sie es schaffen, daß diejenigensen Jobs verdient werden können, ganz dringend als zu- Frauen, die drei oder vier Stunden arbeiten, bei einersätzliches Einkommen benötigt werden, um die Kosten Festschreibung der Grenze auf 630 DM jemals diezu bezahlen, die für Kindererziehung und andere Dinge Chance auf eine ordentliche Teilzeitarbeit haben? entstehen. Auf der anderen Seite existiert zwar eine Pau- Dann steht noch die Drohung im Raum, daß Sie die schalbesteuerung auf der Arbeitgeberseite, aber Sie wis- von uns durchgeführten Reformen – steuerliche Anreize, sen doch so gut wie ich – denn auch Sie haben all die Haushaltsscheckverfahren, Dienstleistungszentren – zu- Briefe erhalten –, daß 80 Prozent der Arbeitgeber die rücknehmen. Ich habe zwei Anfragen an die Bundesre- 20 Prozent nicht selber gezahlt haben, sondern sie auf gierung gestellt. Die Antworten waren dürftig und ent- ihre Beschäftigten abgewälzt haben. larvend. Wenn Sie diese Reformen zurücknehmen – ich Wir haben jetzt eine Regelung vorgeschlagen – ich sage das hier in aller Deutlichkeit – führt das zu einerbitte Sie angesichts der vielfältigen Situationen, die zu klaren Arbeitsplatzvernichtung im Bereich der privaten berücksichtigen sind, zur Kenntnis zu nehmen, daß wir Haushalte. Davor kann ich Sie nur warnen. Schritt für Schritt vorgehen müssen –, gemäß der der (Beifall bei der CDU/CSU) Bertrag, der derzeit pauschal gezahlt werden muß – das waren einschließlich Kirchensteuer und Solidarzuschlag Wir brauchen eine Weiterentwicklung des Haushalts-22,8 Prozent –, in die Sozialkassen eingezahlt werden scheckverfahrens und geeignete steuerliche Rahmenbe- soll. dingungen für Dienstleistungszentren. Das würde wei- (Dr. Irmgard Schwaetzer [F.D.P.]: Lesen kön- (B) terführen und den Millionen Frauen und all den Famili- (D) en helfen, die mit diesem Bereich zu tun haben. nen wir selbst!) Außerdem dürfen die Arbeitgeber diese Abgaben nicht (Beifall bei der CDU/CSU) mehr auf die Beschäftigten abwälzen, sondern sie müs- Mein Fazit: Ein Gesetz, das die Billigjobs fest-sen sie tatsächlich selbst bezahlen. Das ist ein Fort- schreibt, die Aufsplittung regulärer Arbeitsverhältnisse schritt. in geringfügige Beschäftigungsverhältnisse nicht stoppt, Weiterhin wollen wir, daß 12 Prozent in die Renten- die Arbeitsplätze in Privathaushalten außen vor läßt und versicherung eingezahlt werden. Die Beschäftigten – das die soziale Sicherung der Frauen nicht verbessert, istsind vor allen Dingen die Frauen – erhalten mit einer kein Fortschritt, sondern ein Rückschritt. Ein solchesZuzahlung von 7,5 Prozent die Option, ihreRentenbio- Gesetz ist sozial ungerecht. Das werden wir nicht mit- graphien zu vervollständigen. Es geht doch nicht um machen. die 7,5 Prozent; das wissen doch auch Sie. Wenn wir (Beifall bei der CDU/CSU) von den 500 DM, die jemand verdient, 19,5 Prozent nehmen, dann kommt es auf das gleiche heraus, ob die- ser Satz hälftig gezahlt wird oder 12 Prozent plus 7,5 Vizepräsident Rudolf Seiters: Zu einer Kurzinter- Prozent gezahlt werden. Aber durch die 19,5 Prozent vention gebe ich das Wort der Kollegin Ulla Schmidt,wird es möglich, Rentenanwartschaften zu erwerben SPD-Fraktion. bzw. zu erhöhen. Wir versuchen dadurch, einen Weg für Frauen zu finden, denen die Anwartschaften fehlen und (Dr. Irmgard Schwaetzer [F.D.P.]: Nimm doch die, obwohl sie jahrelang in die Rentenversicherung ein- die ordentliche Redezeit!) gezahlt haben, noch nicht einmal einen Anspruch auf Altersrente erworben haben. Jetzt können sie diesen An- spruch erwerben. Ich halte das für einen Fortschritt. Ulla Schmidt (Aachen) (SPD): Ich unterhalte mich eben so gerne mit Ihnen. – (Dr. Irmgard Schwaetzer [F.D.P.]: Das hat deine Kollegin schon alles erzählt!) Frau Kollegin Böhmer, wir kennen uns lange genug und arbeiten lange genug an diesem Thema. Ich wäre ja froh, wenn Sie in den letzten Jahren wirklich Reformen Vizepräsident Rudolf Seiters: Frau Kollegin in dieser Frage auf den Weg gebracht hätten. Das hätte Schmidt, ich muß darauf hinweisen, daß es sich um eine es uns nämlich einfacher gemacht: Wir hätten auf vor- Kurzintervention handelt. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 17. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1999 1167

Anette Kramme (A) Ulla Schmidt (Aachen) (SPD): Ich gehe auf dieDas als einen Einstieg, als einen Schritt in die richtige(C) Punkte ein. Richtung zu bezeichnen ist schon mehr als kühn. Wir haben in der letzten Legislaturperiode – das ist Vizepräsident Rudolf Seiters: Es tut mir leid, dann im Hause bekannt – heftig um Regelungen im Bereich muß Ihre Fraktion das anders regeln. Ich gebe Ihnender Geringfügigkeit gerungen. Aber wir wollten ver- noch die Gelegenheit zu einem Abschlußwort. nünftige Regelungen, nicht solche Scheinlösungen wie die Ihren.

Ulla Schmidt (Aachen) (SPD): Ich gehe dann noch (Zurufe von der SPD) auf die Dienstleistungsagenturen ein. Eine Regelung für – Vielleicht könnten Sie etwas aufmerksam sein. Dienstleistungsagenturen und für die Beschäftigung in privaten Haushalten muß jetzt folgen, Sie sind an Ihren eigenen Worten und an den Kriteri- en, die Sie in der letzten Legislaturperiode aufgestellt (Zurufe von der CDU/CSU und der F.D.P.) haben, zu messen; das ist der entscheidende Punkt: Von weil wir wollen, daß mit diesem Gesetz – da haben Sie diesen Kriterien und diesen Worten ist nichts, aber auch völlig recht – von der ersten Stunde an eine unbürokrati- gar nichts übriggeblieben. sche Handhabung der Versicherungspflicht für den pri- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) vaten Haushalt einhergeht. Beschämend finde ich, daß der Arbeitgeberbeitrag (Dr. Irmgard Schwaetzer [F.D.P.]: Warum zur Sozialversicherung jetzt als die Lösung für die so- hälst du keine ordentliche Rede?) ziale Sicherung der Frauen bezeichnet wird. Das ist er nicht. Zum einen gibt es auch heute schon die Möglich- Wir werden das so durchführen. Im Gegensatz dazu ha- keit, freiwillige Beiträge zu leisten. So viel Neues ist al- ben Sie eine steuerliche Absetzbarkeit nur den Familien so nicht daran. Zum anderen muß ganz klar gesagt wer- ermöglicht, die ihren Angestellten mehr als 620 DM den: Das, was dabei herauskommt, sind Minilösungen. zahlten. Deshalb verstehe ich jede Frau, die das nicht in An- (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dr. spruch nimmt. Irmgard Schwaetzer [F.D.P.]: Das ist doch al- Wir sind uns darüber einig, daß es letztendlich nicht les Quatsch!) darum geht, 7 DM mehr Rente zu bekommen. Es geht vielmehr um die Chance, mehr reguläre Teilzeitstellen Vizepräsident Rudolf Seiters: Ich gebe das Wort für Frauen zu schaffen. Das wird aber durch die Fest- (B) der Kollegin Anette Kramme, SPD-Fraktion. schreibung der Geringfügigkeitsgrenze auf 630 DM – im (D) Osten wird diese Grenze sogar noch von 530 DM auf (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Sie müssen 630 DM angehoben – verhindert. Sie müssen sich ein- Frau Böhme wenigstens die Gelegenheit zur mal vorstellen, wie viele Frauen in denneuen Bundes- Anwort geben! – Dr. Irmgard Schwaetzer ländern durch die neue gesetzliche Regelung seitens der [F.D.P.]: Frau Böhme hat zumindest noch das Bundesregierung nun auf einen Schlag ihre bisherige so- Recht zu antworten!) zialversicherungsrechtliche Absicherung verlieren; sie – Entschuldigung, Frau Kollegin Kramme, ich habefallen aus der Arbeitslosenversicherung heraus. nicht gesehen, daß sich Frau Kollegin Böhmer zu einer (Zurufe von der SPD: Das stimmt doch gar Antwort auf die Kurzintervention gemeldet hat. nicht!) Dazu haben Sie das Recht, Frau Böhmer. Ich gebeWer dort nämlich bisher für ein Einkommen zwischen Ihnen das Wort. 530 DM und 630 DM gearbeitet hat, wird jetzt durch die Anhebung der Grenze auf 630 DM von dieser Absiche- rung ausgeschlossen. Das finde ich schon bemerkens- Dr. Maria Böhmer (CDU/CSU): Herzlichen Dank, wert. Herr Präsident. Das Ergebnis wird daher weniger reguläre Teilzeitar- Liebe Frau Schmidt, ich muß sagen: Aus jedem Ihrer beit sein; denn Teilzeitarbeit wird in einem Korridor bis Worte spricht das schlechte Gewissen gegenüber der 1 400 DM absolut unattraktiv. Sie sollten etwas anderes vorliegenden Regelung. Ich kann mir gut vorstellen, wie auf den Tisch legen, über das man vernünftig reden es in Ihrem Inneren aussieht. kann. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der CDU/CSU) Diese Regelung zu unterschreiben erfordert schon viel Überwindung. So etwas hätte keine und keiner von uns Vizepräsident Rudolf Seiters: Nun gebe ich im unterschrieben. zweiten Anlauf der Kollegin Anette Kramme, SPD- Fraktion, das Wort. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Lachen bei der SPD – Konrad Gilges [SPD]: Sie haben doch etwas ganz anderes unter- Anette Kramme (SPD): Sehr geehrter Herr Präsi- schrieben!) dent! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Sehr geehrte 1168 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 17. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1999

Anette Kramme (A) Frau Böhmer! Die Vergangenheit wird häufig durch den Zweitens. Deshalb lassen wir es auch nicht länger zu, (C) Weichzeichner wahrgenommen. Sie, die alte Bundesre- daß es neben einer Hauptbeschäftigung ein geringfügi- gierung, haben einen Koloß, ein Ungetüm auf dem Ar- ges Arbeitsverhältnis ohne Sozialversicherungs- und beitsmarkt gefüttert, gehegt und wuchern lassen. Dieses Steuerpflicht gibt. Haupt- und Nebenbeschäftigungen Ungetüm ist das 630-DM-Arbeitsverhältnis. werden addiert, so daß vollumfänglich alle Abgaben an- Eine ganz einfache Tatsache ist ursächlich für diefallen. Es ist nämlich nicht einsichtig, daß eine zusätzli- Wucherung: Das 630-DM-Arbeitsverhältnis ist im Ver- che Arbeitsleistung auf der Basis eines geringfügigen gleich zum Normalarbeitsverhältnis ungerechtfertigt be- Arbeitsverhältnisses bei den Sozialabgaben und bei der günstigt. Die Pauschalsteuer wird im Regelfall auf die Steuer im Verhältnis beispielsweise zur Mehrarbeit fi- Beschäftigten überwälzt. Sozialversicherungsabgaben nanziell begünstigt wird. sind nicht zu zahlen. Es handelt sich um Billigjobs. Drittens. In diesem Zusammenhang steht auch die Die Marginalität dieser Arbeitsverhältnisse bewirkt dauerhafte Festschreibung der Geringfügigkeitsgrenze selber noch einmal zusätzliche Benachteiligungen: Ar- auf 630 DM. Es ist eine seit Jahren erhobene Forderung beitnehmern und Arbeitnehmerinnen werden die ihnen der SPD, die Geringfügigkeitsgrenze nicht länger anzu- zustehenden Rechte wie die Lohnfortzahlung und dasheben. Urlaubsentgelt vorenthalten. Die volkswirtschaftlichen Viertens. Damit sind die Maßnahmen zur Eindäm- und individuellen Wirkungen sind katastrophal: Diemung des Mißbrauchs der 630-DM-Jobs noch nicht er- 630-DM-Jobs beinhalten die Erosion der Finanzgrund- schöpft. Wir geben den Betriebsräten ein gewichtiges lagen der Sozialversicherung. Den Beschäftigten wird und bedeutsames Instrumentarium an die Hand.Be- ein ausreichender sozialer und arbeitsrechtlicher Schutz triebsräte müssen nicht mehr länger zuschauen, wie vorenthalten. Der Mißbrauch ist der Weggefährte derkontinuierlich Vollzeitarbeitsplätze in geringfügige Ar- bisherigen Regelung. beitsplätze umgewandelt werden. Betriebsräte können (Beifall bei Abgeordneten der SPD) künftig nach § 99 des Betriebsverfassungsgesetzes die Die Dimension des Problems im Jahre 1999 machtZustimmung zur Einstellung von Arbeitskräften auf Neuregelungen nicht einfach. 6 Millionen Arbeitsver- 630-DM-Basis verweigern, wenn im Betrieb „kein aus- hältnisse von heute auf morgen der vollen Steuer- und gewogenes Verhältnis von Arbeitsverhältnissen mit ei- Sozialversicherungspflicht zuzuführen würde massive ner geringfügigen Beschäftigung ... und sonstigen Ar- Einschränkungen für viele Arbeitnehmerfamilien be-beitsverhältnissen gewährleistet ist“. deuten. Dabei ist zu berücksichtigen: Eine große Zahl (Beifall bei der SPD) der geringfügigen Arbeitsverhältnisse sieht schlechthin unakzeptable Bruttolöhne vor. Wir haben dennoch einen Eine generelle Quotierungsregelung lehnen wir ab, da (B) angemessenen Weg gefunden. sie nur den Status quo in einzelnen Branchen festschrei- (D) ben könnte. Es wäre im übrigen zu befürchten, daß viele Wir werden ein weiteres WahlkampfversprechenUnternehmen diese Maximalquote als Zielquote verste- einlösen. Wir haben den Kündigungsschutz und diehen und die geringfügige Beschäftigung aufstocken Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle wiederhergestellt. würden. § 99 des Betriebsverfassungsgesetzes ermög- Wir haben die Scheinselbständigkeit bekämpft und da- licht eine sachnahe Einigung zwischen den Betriebs- mit fast 1 Million Menschen eine neue Perspektive inpartnern. der Sozialversicherung gegeben. Jetzt gehen wir an die Umsetzung des zugesagten Versprechens, die 630-DM- Fünftens. Wir werden es nicht länger zulassen, daß Arbeitsverhältnisse in die Sozialversicherungspflicht zu- geringfügig Beschäftigte an einem Tag sie selbst, am rückzuführen. Die rotgrüne Koalition handelt gemäß ih- nächsten Tag der Bruder und am übernächsten Tag die ren Ankündigungen. Oma sind. Wir holen die 630-DM-Arbeitsverhältnisse aus der Anonymität zurück. Alle geringfügigen Be- Das Gesetz der Koalition wird dem Ungetüm der un- schäftigungsverhältnisse sind der Sozialversicherung gesicherten 630-DM-Beschäftigung endgültig den Kopf von den Arbeitgebern zu melden und vor allen Dingen abschlagen. Ich nenne hierzu fünf Punkte: auf der Lohnsteuerkarte zu vermerken. Erstens. Unser Ziel war es, daß es keineZwei- Klassen-Jobs mehr gibt. 630-DM-Jobs besitzen nicht (Beifall bei der SPD) länger eine finanzielle Attraktivität für die Unterneh-Die Gemeinde teilt dem Finanzamt die Zahl der mit men. Durch die zwingend festgelegten Arbeitgeberbei- Steuerklasse VI ausgestellten Lohnsteuerkarten mit. Es träge zur Renten- und Krankenversicherung in Höhe von besteht die Auskunftspflicht der Sozialversicherung. 22 Prozent wird das geringfügige Arbeitsverhältnis dem Normalarbeitsverhältnis weitgehend gleichgestellt. Wir Liebe Kolleginnen und Kollegen, erstmals seit Ein- gehen davon aus, daß durch diese Regelung eine weitere führung der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse Zerstückelung von Arbeitsplätzen verhindert wird. Wir schaffen wir neuen sozialen Schutz. gehen weiter davon aus, daß wieder mehr Arbeitsplätze (Lachen bei der CDU/CSU) mit höherer Stundenzahl angeboten werden. Erstmals können Frauen, die in geringfügigen Arbeits- (Beifall bei der SPD – Ernst Hinsken verhältnissen beschäftigt sind, für die Versicherungs- [CDU/CSU]: Das glauben Sie doch wohl sel- pflicht in derRentenversicherung optieren. Es wird ber nicht!) nicht mehr so sein, daß Frauen ihr Leben lang arbeiten – Doch! und keine Rente erhalten. Wie war es denn bisher? Es Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 17. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1999 1169

Anette Kramme (A) gab viele Frauen, die immer zum Familieneinkommen Erster Akt. Auf dem Innovationskongreß, (C) beitragen mußten, ihr Leben lang gearbeitet und den- noch keine eigenen Rentenansprüche erworben haben. (Dr. Irmgard Schwaetzer [F.D.P.]: Dem soge- Darüber hinaus gibt es Hunderttausende von Frauen, die nannten!) auf Grund ihrer Familienleistungen keine hinreichenden dem Wahlkongreß der SPD, der im Jahr 1997 die Beitragszeiten erwerben konnten. Diesen Frauen geben Grundlagen für den Wahlkampf der jetzigen Regie- wir mit der neuen 630-DM-Regelung durch die freiwil- rungspartei setzte, schlug Gerhard Schröder vor, die lige Zuzahlung die Chance, einen eigenständigen Ren- Zahl der 630-DM-Jobs auf höchstens 10 Prozent in ei- tenanspruch zu erwerben. Wir geben den Frauen damit nem Unternehmen zu begrenzen – Quotierungslösung. auch ein Stück Würde zurück, die Sie von der CDU/CSU diesen Frauen vorenthalten haben. Zweiter Akt. Am 10. November 1998 erklärte Ger- hard Schröder hier in diesem Hause in nichts Geringe- (Beifall bei der SPD) rem als der Regierungserklärung, dem großen Programm Künftig erlangen Frauen den vollständigen Schutz der der Regierung für die nächsten vier Jahre, das in einem Rentenversicherung, und das zu einem geringen, redu- besonders feierlichen Rahmen vorgestellt wurde: Die zierten Beitragssatz. Das heißt, Sie können Rehabilitati- Grenze für geringfügige Beschäftigung wird auf 300 onsmaßnahmen, die Rente wegen Berufs- und Erwerbs- DM abgesenkt. Das war ein Schwenk um 180 Grad. unfähigkeit und vorgezogene Altersrenten beziehen. Die Dritter Akt: Nur wenige Tage später, in der denkwür- Rentenberechnung erfolgt gegebenenfalls nach Mindest- digen Aktuellen Stunde am 19. November, änderte der einkommen. Bundeskanzler erneut seine Meinung und schlug vor, die Erstmals werden geringfügig Beschäftigte mit demGeringfügigkeitsgrenze nicht auf 300 DM abzusenken. neuen Nachweisgesetz Anspruch auf Dokumentation ih- Statt dessen sollte die Pauschalsteuer entfallen und rer Arbeitsbedingungen haben. Nach dem Nachweisge- durch eine Sozialversicherungspflicht ersetzt werden. setz muß der Arbeitgeber sie auch auf die Versiche-Lautstark verkündete der Bundeskanzler – ich zitiere –: rungsmöglichkeit bei der Rentenversicherung hinweisen. Diese Arbeitsverhältnisse bleiben steuerfrei, und Der Gesetzentwurf ist auch für die Sozialversiche- zwar unabhängig von weiteren Einkünften. rung richtig: Die künftigen Mehreinnahmen der gesetz- lichen Rentenversicherung werden auf 2,85 Milliarden Heute, keine zwei Monate später, liegt ein Gesetz- DM geschätzt, die der gesetzlichen Krankenversiche-entwurf vor, der diese früheren Ankündigungen wieder rung auf 2,25 Milliarden DM. auf den Kopf stellt. Hat nämlich ein Arbeitnehmer einen 630-DM-Job nebenbei, so sind die Einkünfte eben nicht Abschließend folgendes: Die Bundesregierung wird (B) steuerfrei, und der Arbeitgeber zahlt dennoch 10 Prozent (D) dem Parlament bis zum 31. März 2003 über die Auswir- an die gesetzliche Krankenversicherung und 12 Prozent kungen dieses Gesetzes auf den Arbeitsmarkt, die Sozi- an die gesetzliche Rentenversicherung. alversicherung und die öffentlichen Finanzen berichten. Wir werden uns nicht scheuen, erforderlichenfalls wei- Im Klartext heißt das: die vierte Lösung innerhalb tergehende Schritte in die Wege zu leiten. kürzester Zeit, und viele der Geringverdiener werden nach dieser Lösung Steuern zahlen müssen. Da kommt (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten auf viele eine böse Überraschung und ein böses Erwa- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – chen zu. Das wird vor allem beispielsweise diejenigen Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das wird drin- treffen, die in der Früh Zeitungen austragen. Sie werden, gend notwendig sein!) wenn sie noch einen zweiten Verdienst haben, spüren, daß ihnen dann nur mehr ganz wenig in der Kasse bleibt. Das ist der typische Fall, der dann wahrscheinlich in die Vizepräsident Rudolf Seiters: Das war die erste Schwarzarbeit gehen wird. Rede der Kollegin Anette Kramme. Ich möchte ihr dazu im Namen des Hauses gratulieren. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall) Das, was die Bundesregierung hier geboten hat, ist Ich gebe das Wort dem Kollegen Johannes Sing-ein Zickzackkurs, der einer völligen Desorientierung hammer, CDU/CSU-Fraktion. entspricht. Man kann das nur so bezeichnen: Das heißt nicht regieren, sondern lavieren. Das ist das Prinzip Ih- res Handelns. Johannes Singhammer (CDU/CSU): Herr Präsi- dent! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Noch nie war (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) das Wort eines Bundeskanzlers so wenig wert wie das Das einzige, worauf sich die Menschen in unserem Land von Gerhard Schröder in der Diskussion um die 630-bei diesen ständigen Wechseln der Aussagen noch ver- DM-Jobs. lassen können, ist der Satz: Es gilt das gebrochene Wort. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Dem Durcheinander in der Verfahrensweise ent- ordneten der F.D.P.) spricht das Durcheinander in den jetzt neu angebotenen Eine neue Art des Regierens hat begonnen: Kanzler-Lösungswegen. Eine innere Systematik ist nicht mehr worte mit eingebautem Verfallsdatum. erkennbar, Widersprüche liegen offen zutage. 1170 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 17. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1999

(A) Vizepräsident Rudolf Seiters: Herr Kollege Sing- Die jetzt noch kurzfristig eingeführte Regelung mit(C) hammer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen dem Betriebsrat wird in der Konsequenz eine neue Schemken? Quotenregelung bedeuten, die Sie ganz am Anfang der Debatte, also anläßlich Ihres Innovationskongresses im Jahre 1997, schon einmal angekündigt haben. Johannes Singhammer (CDU/CSU): Sehr gerne. Das einzig wirklich Beschäftigungsfördernde dieser neuen Lösung ist ein Beschäftigungsprogramm für mehr Heinz Schemken (CDU/CSU): Herr Kollege Sing- Bürokratie und Verwaltung. So muß der Arbeitnehmer hammer, ich habe eine Frage zu einem Punkt, der bisher künftig eine Erklärung abgeben, daß er keine weiteren wenig beachtet wurde. Sind Sie mit mir der Meinung,Einkünfte erzielt. Der Arbeitgeber muß diese Belege daß die sozialstaatliche Sicherheit, die darin liegt, daß in zum Lohnkonto nehmen. Zusätzlich hat der Arbeitgeber alle Versicherungen zweiteilig gezahlt wird, einmal vom den steuerfrei gezahlten Arbeitslohn auf der Lohnsteu- Arbeitgeber und einmal vom Arbeitnehmer, ob es in die erkarte oder auf einer Bescheinigung einzutragen. Der Gesundheitskasse, die Rentenkasse, die Arbeitslosenver- Umfang der Prüfungspflicht der zuständigen Finanzäm- sicherung oder – darauf haben wir sehr geachtet – dieter und Sozialbehörden wird immens ausgedehnt. Pflegeversicherung ist, jetzt erstmalig durchbrochen wird und hier ein grundsätzliches Prinzip, nämlich daß Der vorliegende Gesetzentwurf erreicht, wenn Sie beide Seiten Beiträge zahlen und damit für den Arbeit- ehrlich sind, das von Ihnen selbst gesteckte Ziel nicht. nehmer aus seiner Arbeit ein Anspruch entsteht,Die Situation bei den geringfügig Beschäftigten wird gröblich vernachlässigt wird? nicht besser, sondern schlechter. Noch ein wichtiger Punkt: Viele Nachbarschaftshil- Johannes Singhammer (CDU/CSU): Herr Kollege fen gerade im karitativen Bereich führt die neue Rege- Schemken, ich teile Ihre Auffassung. Ich halte es fürlung in Existenzkrisen, weil viele im freiwilligen sozia- sehr bedenklich, daß man das erfolgreicheSozialversi- len Bürgerengagement tätige Nachbarn die Pauschal- cherungssystem, das auf dem Prinzip Leistung und steuer bisher nicht zahlen mußten, jetzt aber ihr Arbeit- Gegenleistung gründet, hier erstmals in systemwidriger geber die Sozialversicherungsbeiträge auf alle Fälle ent- Weise zu sprengen versucht, indem das Prinzip Leistung richten muß. nicht mehr dem Prinzip Gegenleistung entsprechen soll. (Zuruf von der SPD: Ja, richtig!) Ich halte das für eine gravierende Verschlechterung, für einen gefährlichen Eingriff auch in die GrundsätzeBeispielsweise die Arbeitsgemeinschaft ökumenischer unseres bewährten Sozialversicherungssystems. IchNachbarschaftshilfe und Sozialdienste aus München er- klärt, daß diese Neuregelung sie künftig vor unlösbare (B) warne schon heute alle Arbeitnehmer und auch Arbeit- (D) geber, was die Folgen, auch in anderen Systemen, be-finanzielle Probleme stellen wird – mit allen Folgen, die trifft: Wo ist das Ende, wenn man hier einmal anfängt? das in bezug auf die Nachbarschaftshilfe und gerade auf Ich teile alle Befürchtungen, die Sie hier angesprochen die Pflegebedürftigen mit sich bringt. haben. Deshalb mein Rat an Sie: Überarbeiten Sie diesen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Gesetzentwurf. Wenn Sie schon uns, den Wohlfahrts- verbänden, den Gewerkschaften und vielen anderen, Die jetzige Regelung führt zu einer Reihe von absur- nicht glauben, dann sollten Sie wenigstens Ihren eigenen den Konstellationen. Ein Teil ist hier schon angespro-Parteigenossen, zum Beispiel Frau Ministerpräsidentin chen worden. Ich darf noch zwei Beispiele hinzufügen. Simonis oder Herrn Sozialminister Florian Gerster, Der jetzige Entwurf stellt die 630-DM-Jobs hinsichtlich glauben, der erst am Montag im „Handelsblatt“ erklärt des Arbeitnehmerbeitrags besser, weil die geringfügig hat: Das steht auf wackligem Grund. beschäftigten Arbeitnehmer nur 7,5 Prozent zahlen, während ein Familienvater und auch jeder andere Ar- (Zuruf von der CDU/CSU: Recht hat er!) beitnehmer 10 Prozent Beiträge von seinem normalen Das steht nicht nur auf wackligem Grund. Das ist oh- Verdienst entrichten muß. ne jedes Fundament. Mein Rat an Sie: Schubladisieren Sie diesen Entwurf schleunigst. Die Ungerechtigkeiten, die es bei Verheirateten mit sich bringt, wenn ein Ehepartner nur einen 630-DM-Job (Beifall bei der CDU/CSU) hat, sind schon geschildert worden. Das führt dazu, daß beispielsweise die Frau eines Generaldirektors keine Steuern zu zahlen braucht, wenn sie nur einen 630-DM- Vizepräsident Rudolf Seiters: Das Wort hat der Job zusätzlich zum Verdienst des Mannes hat, Kollege Wolfgang Weiermann, SPD-Fraktion. (Zuruf von der SPD: Als Putzfrau!) Wolfgang Weiermann (SPD): Herr Präsident! Mei- während eine alleinerziehende junge Mutter, die aufne Damen! Meine Herren! Unser Gesetzentwurf ist kein mehrere Verdienstquellen angewiesen ist, steuerpflichtig Programm für mehr Bürokratie, wie mein Vorredner ge- wird. Das ist eine grobe Ungerechtigkeit. rade sagte, sondern ein Stück zurück zu Solidität und Anstand eines Sozialstaates. (Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der SPD: Nennen Sie einmal konkrete Zahlen!) (Beifall bei der SPD) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 17. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1999 1171

Wolfgang Weiermann (A) Ich habe wie die meisten in diesem Raum fast dreisenzahlen herunterzukommen, weil Sie es nicht fertig-(C) Stunden aufmerksam zugehört. Ich habe mich gefragt: gebracht haben, 6 Millionen befristete Arbeitsverhältnis- Was hat die Opposition eigentlich in der jetzt laufenden se entsprechend zu ändern, weil Sie es nicht fertigge- Legislaturperiode vor? Ihre Kritik glaubt Ihnen dochbracht haben, die Entwicklung bei der Scheinselbstän- keiner – wenn ich das an dieser Stelle einmal deutlichdigkeit zu stoppen. Überschlägig gerechnet kommt man sagen darf – angesichts dessen, daß Sie – es ist fast eine so auf 12 bis 13 Millionen Menschen, die unter norma- Phrase, wenn man das immer wieder sagen muß; aberlen Arbeitsverhältnissen arbeiten wollen. Im Wege des- Ihr Vorgehen zwingt uns dazu, das zu tun – 16 Jahresen, was wir vorgeschlagen haben, wird nun wieder lang Gelegenheit hatten, die Umstände, über die wirmehr in die Sozialkassen eingezahlt. Wenn sie dabei heute diskutieren, in Ihrem Sinne zu verändern, wenneigene Ansprüche verwirklichen wollen, müssen sie sel- Sie meinen, daß das, was heute vorgelegt worden ist,ber 7,5 Prozent aufbringen. Mir fehlt das Verständnis, nicht vernünftig ist. Sie haben darüber lamentiert undum zu erkennen, inwiefern das unsozial sein soll. diskutiert. Aber Änderungen haben Sie nicht durchge- bracht. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Irmgard Schwaetzer [F.D.P.]: Herr Kollege, Vizepräsident Rudolf Seiters: Gestatten Sie eine wir wollen das auch nicht ändern!) weitere Zusatzfrage der Kollegin Schwaetzer? – Bitte. Wenn ich ausgerechnet von der F.D.P. Kritik höre, muß ich doch sagen – bei aller Freundschaft zumindest Dr. Irmgard Schwaetzer (F.D.P.): Herr Kollege, Sie im Ton, die in diesem Hause zu herrschen hat –: Ich ka- haben ja nicht bestritten, daß dem Einsammeln dieser piere den Begriff „Abkassieren“ aus Ihrem Mund über- Beiträge im Regelfall kein Leistungsanspruch gegen- haupt nicht. Wenn es in diesem Hause bisher eine kalte übersteht. Es ist überhaupt nicht bestritten worden, daß Fraktion gab, dann war es die F.D.P.-Bundestagsfraktion man durch einen sehr geringen Beitrag von 58,60 DM mit ihrer Eiseskälte im Bereich der Sozialpolitik. im Monat eine Fülle von zusätzlichen Leistungen be- kommt. Nur, die Arbeitnehmer in zehn Jahren werden (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten dafür die Rechnung präsentiert bekommen. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Seien Sie Sie haben also nicht bestritten, daß das zum erstenmal vorsichtig! – Dr. Irmgard Schwaetzer [F.D.P.]: in unserer Sozialversicherung auseinanderklafft. Das sind Phrasen, Herr Kollege!) (B) – Das sind keine Phrasen, sondern Argumente, die die- Vizepräsident Rudolf Seiters: Frau Kollegin(D) jenigen, die auf der Tribüne sitzen und zuhören, undSchwaetzer, ich möchte Sie bitten, eine Frage zu stellen. diejenigen, die am Radio und im Fernsehen die Debatten verfolgen, realistisch nachvollziehen können. Sonst wä- Dr. Irmgard Schwaetzer (F.D.P.): Jawohl, Herr ren ja die Union und die F.D.P. noch Regierungspartei- Präsident. – Sie stimmen mir doch zu, daß Sie eben ge- en, nicht die Sozialdemokraten und die Grünen. sagt haben, die Kassen sollten gefüllt werden? Was an- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten deres als Abkassieren ist das? des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Zuruf von der SPD: Sie versteht es nicht!)

Vizepräsident Rudolf Seiters: Herr Kollege Wolfgang Weiermann (SPD): Nachdem sich die Weiermann, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kol- Arbeitgeber dieses Landes, unterstützt von der konser- legin Schwaetzer? – Bitte. vativ-liberalen Regierung der letzten 16 Jahre, aus ihrer sozialpolitischen Verantwortung gestohlen haben, halten Dr. Irmgard Schwaetzer (F.D.P.): Herr Kollege, wir diesen Schritt für unumgänglich. wie sonst, wenn nicht als Abkassieren, könnte man denn (Beifall bei der SPD – Walter Hirche [F.D.P.]: den Tatbestand, den Sie einführen wollen, verstehen? Es Strafaktion ohne Rücksicht auf die Folgen!) werden Beiträge eingesammelt, obwohl für diese im Regelfall keine Leistungen gewährt werden. Das ist wirklich etwas Neues in unserem Sozialversicherungs- Vizepräsident Rudolf Seiters: Herr Kollege Wei- recht. Läßt man die Ideologie einmal beiseite: Was an- ermann, gestatten Sie auch der Kollegin von Renesse deres als Abkassieren ist das? eine Zwischenfrage? – Bitte.

Wolfgang Weiermann (SPD): Die Einführung die- Margot von Renesse (SPD): Herr Kollege, würden ses Systems, so wie wir das vorhaben, schafft in der Tat Sie der Kollegin Schwaetzer, die ja erfreulicherweise die Möglichkeit, die sich in Schwierigkeiten befinden- neu dabei ist in der Sozialpolitik, erläutern, daß dies in den Sozialkassen zu füllen. Aber Sie können nicht sa-keiner Weise neu ist in der Rentenversicherung, sondern gen, hier kassiere man ab. Die Einnahmen durch die Er- daß es dies bereits des öfteren gab bzw. noch heute gibt: hebung dieser Beiträge sind erforderlich, weil Ihre Poli- bei der früher existierenden – und dann mit Recht abge- tik es nicht fertiggebracht hat, von den hohen Arbeitslo- schafften – Heiratserstattung; bei der von der damaligen 1172 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 17. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1999

Margot von Renesse (A) Koalition, nicht von uns, geförderten Rückkehr vonzuhalten. Deswegen werden wir die alte gesetzliche Re- (C) Ausländern, die in die Sozialversicherung eingezahltgelung nicht länger tolerieren. hatten; bei der bis heute bestehenden Möglichkeit, daß (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Beamte, die früher einmal in die Rentenversicherung eingezahlt haben, ihre Beiträge erstattet bekommen? Die alte Regelung widerspricht auch zutiefst dem Grundsatz der Wettbewerbsneutralität auf dem Ar- (Dr. Irmgard Schwaetzer [F.D.P.]: Das ist beitsmarkt. Hier wird eine Ausnahmeregelung zuneh- doch etwas ganz anderes!) mend mißbraucht, um generell Lohnkosten zu sparen Sie alle erhalten lediglich ihren Arbeitnehmerbeitrag zu- und sich ungerechtfertigte Wettbewerbsvorteile zu ver- rück. Der Arbeitgeberanteil ist – würden Sie das bitteschaffen. Diese extreme Wettbewerbsverzerrung geht erläutern – die Konkretisierung der Sozialpflichtigkeit somit zu Lasten der Betriebe mit sozialversicherungs- des Arbeitgebers und erfüllt nicht die Voraussetzungen pflichtig Beschäftigten und damit insbesondere zu La- für eigene Anwartschaften. Die Konten standen damals sten des Mittelstandes. Ich möchte den Mittelständler auf Null, obgleich in diesen Fällen der Arbeitgeberbei- sehen, der nicht schon längst über die Tatsache stöhnt, trag bei den Versicherungen verblieb. daß es keine Wettbewerbsgleichheit mehr gibt. Da Sie, meine Damen und Herren von der F.D.P., immer sagen (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Konrad – zumindest nach außen –, Sie seien für eine Besser- Gilges [SPD]: Richtig! Aber das versteht die stellung des Mittelstandes, Frau Schwaetzer nicht!) (Dr. Irmgard Schwaetzer [F.D.P.]: In der Tat!)

Wolfgang Weiermann (SPD): Frau von Renesse, muß ich Ihnen sagen, Sie können jetzt einen Schritt in ich brauche das nicht zu erläutern. Ich unterstreiche Ihre die richtige Richtung tun und können dem Mittelstand Ausführungen und schließe mich Ihren Worten an. zu einer Wettbewerbsgleichheit verhelfen, die er im ge- genwärtigen System nicht hat. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der SPD – Dr. Irmgard Schwaetzer Ich darf an dieser Stelle deutlich machen, daß die Re- [F.D.P.]: Wie erklären Sie dem Mittelstand die gelung der geringfügigen Arbeitsverhältnisse, die ei- Bürokratie, die er machen muß?) gentlich nur eine Sonderregelung sein sollte, im Laufe der Jahre regelrecht pervertiert worden ist. Es gibt nahe- Die Beseitigung bzw. drastische Einschränkung der zu 6 Millionen solcher ungeschützten Arbeitsverhältnis- sozialversicherungsfreien Beschäftigungsverhältnisse se, und sie können nach unserem Dafürhalten nicht mehr führt nicht zur Abschaffung derTeilzeitarbeit, sondern als Sonderfall gelten. Vielmehr handelt es sich dabei – gerade zu einer Schaffung ordentlicher, sozialverträgli- (B) wie ich eingangs schon sagte – um eineErosion der cher, das Wirtschafts- und Sozialsystem der Bundesre- (D) Sozialversicherung insgesamt. Mittlerweile gibt es eine publik stützender Teilzeitarbeitsplätze. Frau Schwaetzer, Vielzahl von Unternehmen in Deutschland, die sich re- daß dies möglich ist, können Sie am Beispiel der Nie- gelrecht auf die ausschließliche Einstellung von gering- derlande sehen. Dort ist jede regelmäßig geleistete Ar- fügig Beschäftigten spezialisiert haben. Das sind insbe- beitsstunde von der ersten Minute an sozialversichert. sondere die Handelsketten. (Dr. Irmgard Schwaetzer [F.D.P.]: Ja aber, Beitragsfreiheit bis 630 Mark!) Der Deckmantel der Sozialversicherungsfreiheit wird zunehmend auch genutzt, um bestehende arbeits- und ta- In einzelnen Punkten gibt es ja durchaus eine Über- rifrechtliche Regelungen zu umgehen, so der Sachver- einstimmung der Meinungen, nämlich wenn es darum ständige Professor Dr. Bäcker Anfang Dezember 1997 geht, daß die bestehende Gesetzeslage so nicht weiter in der Anhörung zum SPD-Gesetzentwurf. Hier wirdaufrechterhalten werden kann. Ich weiß von Herrn Sozialdumping in großem Umfang betrieben. DabeiSchäuble und Herrn Glos, also von der CDU/CSU- geht es nicht nur darum – das muß an dieser Stelle deut- Fraktion, daß sie des öfteren die gegenwärtige Regelung lich festgehalten werden –, billige Arbeitskräfte zu ha- kritisiert haben. Was uns fehlt, ist in der Tat der mutige ben, im Klartext: Menschen zu Tagelöhnern zu degra- Schritt, diese Kritikpunkte bei der Formulierung eines dieren, sondern auch darum, bestehende Tarifverträge Gesetzes zu berücksichtigen, das Zukunft hat, das funk- und gesetzliche Bestimmungen zu umgehen und ihretioniert und das den Menschen das Gefühl gibt, in dieser Wirksamkeit auf Null zu bringen. Auch dieses Zielunserer Gesellschaft gebraucht zu werden und sozial ab- steckt dahinter. gesichert zu sein. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zuruf Die Sozialversicherungsfreiheit bewirkt – wie wir das von der SPD: Wir machen das!) in unserem bereits erwähnten Antrag festgestellt haben – vielfach eine Subventionierung ungeschützter Arbeits- Wir meinen, daß der Gesetzentwurf klug und maßvoll verhältnisse – das wird auch so gesehen –, die von der ist. Allgemeinheit der beitragszahlenden Arbeitnehmerinnen (Zuruf von der F.D.P.: Weder noch!) und Arbeitnehmer sowie der Betriebe finanziert werden muß. Die DAG spricht in diesem Zusammenhang von Wir möchten Sie bitten, ihn zu unterstützen und ihm Ih- einer staatlichen Subvention in Höhe von rund 42 Pro- re Stimme zu geben. Ich will an dieser Stelle deutlich zent der Personalkosten. Auch diesen Punkt gilt es fest- machen, daß wir mit diesem Gesetzentwurf den Men- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 17. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1999 1173

Wolfgang Weiermann (A) schen in ungeschützten Arbeitsverhältnissen aus dersteuerfrei zu stellen ist. Mit dem Urteil vom 19. Januar(C) Anonymität ihrer Jobs heraushelfen und den regulären wird diese Position untermauert. Das macht noch einmal Arbeitsmarkt und das Wirtschafts- und Sozialsystem der deutlich, daß die materielle Sicherstellung des Exi- Bundesrepublik stärken wollen. Wir ermöglichen denstenzminimums von Kindern keine Manövriermasse für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern damit die Inte- die Politik ist und sein kann. gration in den ordentlichen und sozialverträglichen Ar- (Beifall bei der PDS) beitsmarkt. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. Das Urteil enthält in mehrerlei Beziehung sehr inter- essante Aussagen. Als erstes zur Frage der Kinderbe- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten treuungskosten: Es ist klargestellt, daß die Betreuung des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) von Kindern über den existentiellen Sachbedarf und den erwerbsbedingten Betreuungsbedarf hinaus prinzipiell eine Minderung der steuerlichen Leistungsfähigkeit der Vizepräsident Rudolf Seiters: Meine Damen und Eltern verursacht. Damit hat das Bundesverfassungsge- Herren, ich schließe die Aussprache. Interfraktionellricht einen wesentlichen Denkschritt vollzogen. wird Überweisung der Vorlagen auf Drucksache 14/280 und 14/290 an die in der Tagesordnung aufgeführten Inzwischen wird die Betreuung von Kindern nicht Ausschüsse vorgeschlagen. Der Gesetzentwurf der Ko- mehr ausschließlich in Abhängigkeit von der Berufstä- alitionsfraktionen auf Drucksache 14/280 soll zusätzlich tigkeit gesehen. Das heißt, auch die Damen und Herren an den Innenausschuß, den Sportausschuß, den Aus-im Bundesverfassungsgericht haben die Änderung in der schuß für Tourismus sowie an den Ausschuß für Kultur Realität zur Kenntnis genommen; denn es ist nicht mehr und Medien überwiesen werden. Gibt es anderweitigeso, daß in einer intakten Familie einer, meistens der Va- Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann sind dieter, arbeitet und die Mutter zu Hause ist, um die Kinder Überweisungen so beschlossen. zu betreuen. In diesem Zusammenhang begrüßen wir die Rechtsprechung eindeutig. Ich rufe den Zusatzpunkt 6 auf: Beim Haushaltsfreibetrag ist das schon etwas kompli- Aktuelle Stunde zierter; denn im Steuerrecht wurde der Haushaltsfreibe- trag eingeführt, um Alleinerziehenden einen Ausgleich auf Verlangen der Fraktion der PDS für den ihnen entgangenen Steuervorteil durch das Ehe- gattensplitting, also die Tatsache, daß bei Verheirateten Haltung der Bundesregierung zu dem Urteil durch die gemeinsame steuerliche Veranlagung die des Bundesverfassungsgerichts vom 19. Ja- Steuerbelastung gemindert wird, zu gewähren. Das Ur- nuar 1999 zur steuerlichen Behandlung von teil des Bundesverfassungsgerichts sieht das etwas an- (B) Kinderbetreuungskosten und Haushaltsfrei- (D) ders. betrag bei Ehepaaren im Zusammenhang mit der aktuellen Behandlung des Steuerent-Ich sage hier ganz klar für die PDS: Wir freuen uns lastungsgesetzes und seiner haushälterischen über jede Mark, die auch verheiratete Eltern für ihre Auswirkungen Kinder bekommen. Ich mache aber ganz deutlich, daß darin ein Problem besteht. Wir sind uns alle darüber im Ich eröffne die Aussprache. Ich gebe das Wort für die klaren, daß früher oder später Alleinerziehende klagen antragstellende Fraktion der Kollegin Dr. Barbara Höll. werden, weil sie dann wieder die Gleichbehandlung vom Bundesverfassungsgericht fordern werden. Dr. Barbara Höll (PDS): Herr Präsident! Meine Da- Wir sind deshalb an einem Punkt, wo wir uns als Po- men und Herren! Kinder und Jugendliche sind in derlitikerinnen und Politiker endlich der Frage stellen müs- Bundesrepublik Deutschland zu einem Armutsrisikosen, ob das Einkommensteuerrecht strukturell überhaupt geworden. 3 Millionen Menschen leben von Sozialhilfe, in der Lage ist, die Prinzipien der Besteuerung nach der davon sind rund ein Drittel – 1 Million – Kinder und Ju- Leistungsfähigkeit und der sozialen Gerechtigkeit auf- gendliche. In den letzten Jahren ist es leider nicht gelun- rechtzuerhalten, und ob es möglich ist, auf diese Art und gen, die grundgesetzliche Stellung von Kindern alsWeise das Leben mit Kindern zu erleichtern. Es ist nicht Grundrechtsträgern und eigenständigen Rechtspersön- so. Wir wissen, daß die Frage der Individualbesteuerung lichkeiten fester zu verankern. Wir haben dazu entspre- nun wirklich mit voller Kraft auf der Tagesordnung chende Gesetzentwürfe bereits in den letzten zwei Le- steht. gislaturperioden eingebracht. (Beifall bei der PDS) Wir wissen natürlich, daß es für eine kinderfreundli- che Gesellschaft mehr als der materiellen Sicherstellung Die Individualbesteuerung ermöglicht dann auch, ei- bedarf, aber es ist schon ein trauriges Zeichen, wenn erst nen ganz wesentlichen Schritt nach vorn zu tun auf der Urteile des Bundesverfassungsgerichts die Politik dahin Grundlage der steuerlichen Freistellung des Existenzmi- gehend treiben, daß der Gesetzgeber tätig wird. Ohnenimums von Kindern. Das ist eine positive Anerkennung die Peitsche des Bundesverfassungsgerichts hat sich in des Lebens mit Kindern. Alle Änderungen der letzten den letzten Jahren nur sehr wenig getan. Jahre bezüglich des Haushaltsfreibetrages und der Erhö- hung des Kindergeldes hatten genau für die 1 Million Das Bundesverfassungsgericht hatte klargestellt, daß Kinder und Jugendlichen, die von Sozialhilfe leben und das Existenzminimum von Kindern und Jugendlichendie ich am Anfang meiner Rede erwähnte, keine Aus- 1174 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 17. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1999

Dr. Barbara Höll (A) wirkungen; denn die Sozialhilfe wird immer mit dem1982 trotz seines eindeutigen Auftrages nicht verfas-(C) Kindergeld gegengerechnet. Lassen Sie uns hier einen sungskonform umgesetzt haben. richtigen Schritt vorwärts tun! Gehen wir gemeinsam (Zurufe von der SPD: Sehr wahr! – So ist es! – zur Individualbesteuerung über, bei einem Kindergeld, Zuruf von der CDU/CSU: Weil wir für die das wirklich die Existenz von Kindern sichert! Das wäre Alleinerziehenden zuviel getan haben! Das ein konsequenter Schritt. möchte ich von Ihnen gern hören!) (Beifall bei der PDS) Sie haben damals ab 1984 den § 33 c Einkommen- Hier muß ich Sie von der Koalition und der Regie-steuergesetz – eine Regelung zum Abzug von Kinder- rung wirklich fragen: Wollen Sie die Peinlichkeit bege- betreuungskosten für Alleinerziehende – eingeführt. hen und die Politik der alten Regierung fortsetzen und Diese Regelung hat das Bundesverfassungsgericht nun- die jeweiligen Zeiträume des Bundesverfassungsge-mehr als verfassungswidrig verworfen. Das gleiche gilt richtsurteils bis zum letzten ausnutzen? Oder können wir im übrigen für den Haushaltsfreibetrag, weil beide Vor- nicht gemeinsam eine umfassende Gesetzesänderungschriften letztlich dazu geführt haben, daß sich bei hinsichtlich der existentiellen Steuerfreistellung für Kin- nichtehelichen Lebensgemeinschaften mit Kindern eine der und einer entsprechend positiven Kindergeldzahlung Bevorzugung gegenüber Ehegatten mit Kindern ergeben einleiten, die noch in diesem Jahr handhabbar wird be- konnte. Dies ist mit dem im Grundgesetz verankerten züglich aller Kinder und Jugendlichen, die von Sozial- besonderen Schutz von Ehe und Familie nicht vereinbar. hilfe leben? Wir müssen tatsächlich Vorschläge wie die Das hätte für eine christliche Volkspartei, deren damali- vom Bundesverband für Alleinerziehende aufgreifenger Vorsitzender die Familie stets im Munde führte, ei- und sie natürlich entsprechend in die jetzt beginnendegentlich einsichtig sein müssen. Haushaltsberatung und die mittelfristige Finanzplanung (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ einbringen. DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS) (Beifall bei der PDS) Aber Reden ist eben eines, und Tun ist ein anderes. Das Bundesverfassungsgericht hat den Gesetzgeber Vizepräsident Rudolf Seiters: Ich gebe das Wort wegen Ihrer Untätigkeit jetzt verpflichtet, spätestens bis der Parlamentarischen Staatssekretärin Frau Dr. Barbara zum 1. Januar 2000 die Abziehbarkeit von Kinderbe- Hendricks. treuungskosten neu zu regeln. Andernfalls ist ab diesem Zeitpunkt in allen Fällen, in denen Steuerpflichtige für Dr. Barbara Hendricks, Parl. Staatssekretärin beim ein Kind einen Kinderfreibetrag oder Kindergeld erhal- (B) Bundesminister der Finanzen: Herr Präsident! Meineten, bei der Feststellung des zu versteuernden Einkom- (D) Damen und Herren! Wir müssen uns heute leider mit ei- mens ein Betrag von 4 000 DM vom Einkommen abzu- ner weiteren Erblast befassen, die uns die alte Regie-ziehen, zuzüglich 2 000 DM für jedes weitere Kind. rungskoalition aus CDU/CSU und F.D.P. hinterlassen hat. Des weiteren wird der Gesetzgeber verpflichtet, bis spätestens 1. Januar 2002 die Abziehbarkeit des soge- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten nannten Haushaltsfreibetrags, der nach der Lesart des des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Bundesverfassunsgerichts den Erziehungsbedarf abzu- PDS) decken hat, neu zu regeln. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem am Zwar hat das Bundesverfassungsgericht die genann- 19. Januar 1999 veröffentlichten Beschluß entschieden, ten Regelungen – rückwirkend ab 1984 – als mit dem daß die Regelungen des Einkommensteuergesetzes über Grundgesetz nicht vereinbar erklärt. Gleichzeitig hat es den steuermindernden Abzug von Kinderbetreuungs-aber bestimmt, daß diese Regelungen weiterhin anzu- kosten und eines Haushaltsfreibetrages mit Art. 6 deswenden sind. Das gilt – wie schon an anderer Stelle aus- Grundgesetzes unvereinbar sind. Die Entscheidungengeführt – hinsichtlich der Kinderbetreuungskosten bis des Bundesverfassungsgerichts sind für Fälle ergangen, Dezember dieses Jahres und hinsichtlich des Haushalts- in denen Eltern sich gegen die geltenden Regelungenfreibetrages bis 31. Dezember 2001. Finanzielle Aus- zum Abzug von Kinderbetreuungskosten und zur Ge-wirkungen ergeben sich also bereits ab dem Haushalts- währung eines Haushaltsfreibetrages gewendet haben. jahr 2000, aber nicht für das laufende Jahr. Das Bundesverfassungsgericht hat also die aus Ihrer Re- In dem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, Herr gierungszeit stammenden Regelungen für verfassungs- Merz, daß Ihr Aufruf an die Familien, die noch nicht widrig erklärt, meine Damen und Herren von der Oppo- endgültig ergangenen Steuerbescheide als vorläufig er- sition. klären zu lassen, Unfug ist. Die Regelungen haben keine (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Auswirkungen auf dieses Jahr. DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD) Aber das ist nicht alles. Sie haben die hier vom Bun- Dieser Aufruf verunsichert die Familien mehr, als es desverfassungsgericht verworfenen Regelungen zumnötig wäre. Abzug von Kinderbetreuungskosten auf Grund einer an- (Detlev von Larcher [SPD]: Das war typisch deren Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus Merz!) 1982 eingeführt. Jetzt hat Ihnen das Bundesverfassungs- gericht bescheinigt, daß Sie seine Entscheidung aus– Ja, ein Schnellschuß. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 17. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1999 1175

Parl. Staatssekretärin Dr. Barbara Hendricks (A) Die Bundesregierung begrüßt die Wegweisung desnichts täte, wenn sie das Aussitzen zur Methode erheben (C) Bundesverfassungsgerichts. Sie entspricht unserem po- würde. Das allerdings war Ihr Stil. Er mußte das Verfas- litischen Ziel einer steuerlichen Entlastung und damitsungsgericht provozieren. Wir werden so nicht handeln. einer Stärkung der Familien. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Wir haben diese Forderungen schon während Ihrer DIE GRÜNEN) Regierungszeit erhoben. Ich erinnere hier insbesondere Selbstverständlich, Herr Kollege Hauser, werden wir an das Jahressteuergesetz 1996, mit dem die neuen Re- für unseren Gesetzentwurf auch die Ergebnisse eines gelungen zum Kindergeld und Kinderfreibetrag einge- Gutachtens des Ifo-Instituts von 1996 auswerten, das Sie führt wurden. Damals haben wir vergeblich eine stärkere zwar in Auftrag gegeben hatten, aber während Ihrer Re- Erhöhung des Kindergeldes gefordert und im übrigen gierungszeit – soweit ich weiß, auf Ihre ausdrückliche auch einen Entschließungsantrag zu den Kinderbetreu- Weisung hin, Herr Kollege Hauser – unter Verschluß ungskosten gestellt. Beides wurde von Ihnen abgelehnt. gehalten haben, und zwar ganz offensichtlich deshalb, (Beifall bei der SPD – Detlev von Larcher weil in diesem Gutachten auf Ungereimtheiten bei der [SPD]: „Neidkampagne“ wurde gesagt!) Besteuerung von Ehegatten und Alleinerziehenden hin- gewiesen wurde. Das allerdings paßte nicht in Ihr fi- Wären Sie schon damals einige Schritte so gegangen,nanzpolitisches Konzept. Es hätte in Ihr familienpoliti- wie wir das in unserer Oppositionszeit wollten, sches Konzept passen müssen. Aber Sie haben Ihr im- (Zuruf von der CDU/CSU: Warum haben Sie mer vorgegebenes familienpolitisches Konzept über das nicht gemacht?) Bord geworfen, weil Sie nicht wußten, wie Sie finanz- politisch damit umgehen sollten. Das war das Problem. so wäre der Nachholbedarf, den wir jetzt auf Grund des Deswegen gab es die Weisung, das Ifo-Gutachten nicht Verfassungsgerichtsurteils haben, nicht so groß. zu veröffentlichen. Wir haben die Freigabe des Gutach- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten tens veranlaßt. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Der alten Bundesregierung und der sie tragenden Wie ernst es uns mit der Forderung nach Nachbesse- ehemaligen Mehrheit in diesem Haus war auch durch rung war und ist – wir haben hier sofort gehandelt; Frau solche Gutachten weder zu raten noch zu helfen. Skan- Kollegin Wülfing, Sie wissen das sehr wohl –, können dalös an Ihrer Politik war und bleibt, daß Sie Familien Sie daraus ersehen, daß wir das Kindergeld für das erste und Kindern in unserem Land seit 1984 vorenthalten und zweite Kind unmittelbar nach Übernahme der Re- haben, was ihnen von Verfassungs wegen zugestanden gierungsverantwortung um jeweils 30 DM monatlich er- hätte. Das werden wir ändern. (B) höht haben. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS (D) (Hannelore Rönsch [Wiesbaden] [CDU/CSU]: 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der CDU/CSU: Alles schon mal dagewesen!) Was wollen Sie jetzt tun? Dazu haben Sie nichts gesagt!) Sie haben diese Forderung immer damit abgetan, daß es sich um eine sozialpolitische Wohltat handele, die nicht notwendig sei. Vizepräsident Rudolf Seiters: Als nächster Redner spricht der Kollege Hansgeorg Hauser, CDU/CSU- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Fraktion. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Jetzt hat das Bundesverfassungsgericht Ihnen eindeutig Hansgeorg Hauser (Rednitzhembach) (CDU/CSU): bescheinigt, daß Sie familienfeindliche Politik betrieben Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! haben. Es war natürlich klar, daß die neue Regierung es auf die (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Tour versuchen würde, sich auf Erblasten usw. zurück- DIE GRÜNEN) zuziehen. Wir müssen jetzt die Versäumnisse ausbaden, die sich (Widerspruch bei der SPD) in den 16 Jahren Ihrer Regierungszeit angesammelt ha- Ich wäre da an Ihrer Stelle sehr zurückhaltend. ben. Wir sollten das Ganze einmal sehr nüchtern analysie- (Zuruf von der CDU/CSU: Nein, das müssen ren: Zum einen ist das jetzige Bundesverfassungsge- Sie nicht!) richtsurteil in dieser Form für jeden eine Überraschung Wir stellen uns dieser Aufgabe mit Freude. Deshalbgewesen. werden wir rechtzeitig einen Gesetzentwurf vorlegen, (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Überraschend der die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts be- war höchstens der Zeitpunkt!) achtet und auch den haushaltspolitischen Notwendig- keiten Rechnung trägt. Wer etwas anderes behauptet, der lebt in einer anderen Welt. Die Aussagen über Steuermindereinnahmen von mehr als 20 Milliarden DM sind in diesem Zusammen- Zum anderen hat die neue Regierung hier absolut hang voreilig. Sie treten nur ein, wenn diese Regierung keinen Anlaß, zu behaupten, sie hätte das, was vom 1176 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 17. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1999

Hansgeorg Hauser (Rednitzhembach) (A) Bundesverfassungsgericht angemahnt worden ist, schon Ehegattensplitting abschaffen wollen, dann handeln Sie (C) längst in Angriff genommen. Wenn man sich das soge- verfassungswidrig. Die Kappung des Ehegattensplit- nannte Steuerentlastungsgesetz anschaut, tings, die Sie vorsehen – das haben die Anhörungen er- geben –, ist verfassungsrechtlich höchst bedenklich. Sie (Zuruf von der CDU/CSU: „Sogenannte“!) kennen die Entscheidungen des Bundesverfassungsge- dann stellt man fest, daß darin beispielsweise nichts über richts von 1957 und 1982. Darin wurde sehr deutlich Kindergartenbetreuungskosten zu finden ist – ein Anlie- zum Ausdruck gebracht, daß das Ehegattensplitting kei- gen, von dem Sie immer behaupten, daß es für ne Sie Steuervergünstigung ist, die man beliebig auf den dringlich sei. Vorgesehen ist dagegen beispielsweise die Prüfstand stellen kann. Streichung von Schulgeld. Doch auch das wird in dem Meine Damen und Herren, wir werden das Urteil kri- neuen Urteil als zu berücksichtigender Teil der Kosten tisch analysieren und beispielsweise prüfen müssen, ob bei der Kindererziehung erwähnt. es um eine Pauschale geht. Mit „Betreuungs- und Erzie- (Detlev von Larcher [SPD]: Schulgeld wofür?) hungsbedarf“ sind ja vollkommen neue Begriffe einge- führt worden, wohingegen der Haushaltsfreibetrag als – Schulgeld für private Schulen. Dort, wo staatliche Lei- Begriff in Frage gestellt worden ist. Da müssen wir auch stungen nicht mehr ausreichen, wird zusätzlich etwaskritisch hinterfragen, ob über die Pauschale hinaus noch gezahlt. Das streichen Sie als abzugsfähige Ausgaben. zusätzliche Aufwendungen bei Nachweis abzugsfähig Das zeigt, daß Sie durchaus nicht in der Richtung han- wären, und man muß sich natürlich fragen, ob das nicht deln, die Sie jetzt überall vorgeben. erheblich ausufert und dadurch neue Streitfälle entste- Im übrigen, Frau Kollegin Hendricks: Das Themahen; das werden wir sicherlich noch diskutieren müssen. heißt eigentlich Konsequenzen für die Bundesregierung. Eines sollten Sie, Frau Staatssekretärin, aber doch Über Konsequenzen habe ich aber von Ihnen nichts,klarstellen: die Regelung für die Altfälle. So wie es of- aber auch gar nichts gehört. fensichtlich zur Zeit diskutiert wird, ergibt sich eine an- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) dere Meinung als die, die Sie hier vertreten. Daher soll- ten Sie zusammen mit Ihren Länderkollegen schnellst- Eines ist sehr wichtig, nämlich daß wir durch dieses möglich eine Regelung, auch eine Sprachregelung, fin- Urteil eine Bestätigung für den Grundsatz bekommenden, wie das zu behandeln ist. Sie sind es den Steuer- haben: Ehe und Familie dürfen gegenüber anderen Le- pflichtigen schuldig, daß man hier keine Hoffnungen bens- und Erziehungsgemeinschaften nicht schlechter- weckt – Sie haben das nicht getan; das sage ich aus- gestellt werden, auch nicht schlechter als beispielsweise drücklich –, Alleinerziehende. Insofern ist dieses Urteil ein gewisser (Detlev von Larcher [SPD]: Das hat Herr (B) Widerspruch zu dem, was 1982 festgelegt worden ist. (D) Die Festigung des Schutzes von Ehe und Familie, der in Merz getan!) Art. 6 des Grundgesetzes festgelegt ist, wird hier aus-daß das für die anderen noch offen sei. Insofern hat Herr drücklich bestätigt. Deshalb sind alle Bemühungen – ich Kollege Merz hier keinen Unfug erzählt, wie Sie ihm komme nachher noch einmal darauf zurück –, unterstellen, die mit dem Urteil verbundenen Kosten durch die Abschaf- fung des Ehegattensplittings zu finanzieren, der falsche (Detlev von Larcher [SPD]: Tut er immer!) Weg. sondern etwas gesagt, was auch von allen Experten so Wir müssen eine weitere Lehre aus dem Urteil zie-gesagt worden ist. Kümmern Sie sich bitte darum, daß hen, nämlich daß eine Entlastung für alle Einkommen das sehr schnell geregelt wird. geboten ist und nicht nur einseitig für untere Einkom- Zum Schluß: Überprüfen Sie die Regelungen im men. Hier muß etwas getan werden. Am besten ge-Steuerentlastungsgesetz sehr sorgfältig. Wir haben eine schieht das über eine sich über den gesamten Tarif ent- ganze Reihe von verfassungsrechtlichen Bedenken. sprechende Entlastung. Verhindern Sie, daß es auch bei diesem Gesetz wieder Ich möchte noch eine weitere Feststellung treffen:„Endstation Karlsruhe“ heißt. Die finanziellen Größenordnungen sind offensichtlich (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) sehr umstritten. Es gibt Schätzungen von 20 bis 35 Mil- liarden DM. (Klaus Wolfgang Müller [Kiel] [BÜND- Vizepräsident Rudolf Seiters: Ich gebe das Wort NIS 90/DIE GRÜNEN]: In Bayern!) dem Kollegen Klaus Müller, Bündnis 90/Die Grünen. Das rührt sicherlich daher, daß es noch einen großen Interpretationsbedarf gibt. Das muß noch sorgfältig un- Klaus Wolfgang Müller (Kiel) (BÜNDNIS 90/DIE tersucht werden. Aber eines sage ich gleich vorweg: Wir GRÜNEN): Verehrter Herr Präsident! Verehrte Kolle- werden jegliche Gegenfinanzierung durch Steuererhö- ginnen und Kollegen! Herr Kollege Hauser, Altlastensa- hungen ablehnen. Eine Erhöhung der Mehrwertsteuernierung ist ein etwas zwiespältiges Geschäft. Man hat für diese Zwecke würde wieder die Familien treffen; ei- viel Arbeit damit, freut sich aber, daß es nachher nur ne Abschaffung des Ehegattensplittings würde wieder besser werden kann. die Familien treffen; die Einführung der Ökosteuer wür- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN de ebenfalls wieder die Familien treffen. Wenn Sie das und bei der SPD) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 17. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1999 1177

Klaus Wolfgang Müller (Kiel) (A) Rotgrün ist auf eine weitere Erblast der Regierunghat das Ehegattensplitting keine familienpolitische Di-(C) Kohl gestoßen. Das Verfahren, das dem Karlsruher Ur- mension mehr. Es fördert nicht mehr das Zusammenle- teil vorausging, lief seit 1984; die Haushaltsrisiken sind ben mit Kindern, sondern lediglich die Institution Ehe. seit Dienstag nachträglich auf insgesamt knapp 40 Milli- Darum – nicht aus Spargründen – hält Bündnis 90/Die arden DM gestiegen. Nun werden wir uns der Heraus- Grünen eine erneute politische Debatte über das Ehe- forderung stellen. gattensplitting für notwendig. Die Karlsruher Entscheidung bietet aber auch die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Chance für einen großen Wurf, für eine zeitgerechte Wir befinden uns damit in guter Gesellschaft. Auch steuerliche Neuregelung für Familien. Das Bundesver- die schleswig-holsteinische Ministerpräsidentin Heide fassungsgericht hat uns aufgetragen, den existentiellen Simonis und die Vorsitzende des Ausschusses für Fami- Sach- und Betreuungsbedarf, der bei der Kindererzie- lienangelegenheiten, die Kollegin Hanewinckel, haben hung anfällt, angemessen zu berücksichtigen. Sowohl sich für Veränderungen beim Ehegattensplitting ausge- das Existenzminimum als auch darüber hinausgehende sprochen. Kosten bei der Kindererziehung sind steuerlich freizu- stellen. Dies ist durch Erhöhung sowohl des Freibetrages (Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Das ist eine „gute“ als auch des Kindergeldes möglich. Aus unserer Sicht ist Gesellschaft!) eindeutig eine Kindergeldlösung anzustreben, wie es das rotgrüne Steuerentlastungsgesetz deutlich macht. Dort – Eine sehr gute Gesellschaft, Herr Koppelin. haben wir unmittelbar nach Amtsantritt mit der Erhö- Als ersten Schritt sollten wir die Kappung des Ehe- hung des Kindergelds auf 250 DM – demnächst auf 260 gattensplittings, wie es derzeit im – zugegebenermaßen DM – einen großen Schritt in die richtige Richtung ge- komplizierten – Steuerentlastungsgesetz vorgesehen ist, tan – hart kritisiert von der Opposition. überdenken und es gegebenenfalls aus diesem Gesetz (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN herausnehmen. Das Bundesverfassungsgericht hat be- und bei der SPD) tont, daß verheiratete Eltern nicht schlechter als unver- heiratete Eltern gestellt werden dürfen. Die Neuregelung sollte aber nicht bei einer Erhöhung von Freibeträgen stehenbleiben. Vielmehr sollten wir Dieses Kriterium wird auch von einer gerechten Indi- wirklich einen größeren Wurf wagen. Wir sollten dievidualbesteuerung erfüllt. Bereits bei den Beratungen Anregung der Richterinnen und Richter aufgreifen, ei- des Steuerentlastungsgesetzes haben die Hamburger nen Grundtatbestand zu schaffen, der alle kinderbezoge- Frauensenatorin wie auch das DIW ein Realsplitting für nen Entlastungen umfaßt. Mit der Neuregelung können alle Ehepaare vorgeschlagen. Wir sollten auch die Si- wir auch einen beherzten Schritt wagen, das Leben mit tuation von Nichtverdienenden und Sozialhilfeempfän- (B) Kindern statt den Trauschein zu fördern. gerinnen im Auge behalten. (D) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – (Beifall der Abg. Dr. [PDS]) Zuruf von der CDU/CSU: Dann haben Sie das Zugegeben, wir haben ein Finanzierungsprobleme. Urteil offenbar nicht richtig gelesen!) Aber sobald wir einen genauen Überblick haben, werden Ich möchte ebenso wie die Kollegin Hendricks einen wir auch dafür eine Lösung finden. Debatten über Steu- Blick auf das 82er Urteil des Bundesverfassungsgerichts ererhöhungen sind absolut kontraproduktiv. Vor allem zum gleichen Thema werfen. Nach unserer Einschät-die Opposition verliert in solchen Debatten schnell den zung hat Karlsruhe eine Wendung in der Einschätzung Überblick und beklagt sich dann bei uns. des Ehegattensplittings vollzogen. Damals hatten Al- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES leinerziehende geklagt. Um in den Genuß des Splittings 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Lachen und zu kommen, sollte es statt des Ehegatten- ein Familien- Widerspruch bei der CDU/CSU) splitting geben. Die Ausweitung des Splittings wurde damals abgelehnt. Die verminderte Leistungsfähigkeit Wir freuen uns auf eine politische Debatte, weil wir von Alleinerziehenden wurde aber anerkannt; als Kom- ein gerechtes, verfassungsgemäßes und modernes Fami- pensation wurde damals der Freibetrag erhöht. 1982 be- liensteuerrecht wollen. Den dezenten Hinweis aus Karls- fand man, das Ehegattensplitting habe eine familienpo- ruhe, eine einfache und klare Regelung zu treffen, soll- litische Dimension. 1999 befindet Karlsruhe, das Ehe- ten wir nicht nur bei diesem Gesetz berücksichtigen. gattensplitting habe nichts mit der Kindererziehung zu Vielen Dank. tun; es sei explizit keine Kompensation für die Erzie- hungsarbeit, da auch Ehepaare ohne Kinder davon pro- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, fitieren. – Lesen Sie es nach! – Die höchsten Richterin- bei der SPD und der PDS) nen und Richter zeigen damit ein vom Trauschein unab- hängiges Familienverständnis. Das begrüßen wir aus- Vizepräsident Rudolf Seiters: Ich gebe das Wort drücklich. der Kollegin Gisela Frick, F.D.P.-Fraktion. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der PDS) Gisela Frick (F.D.P.): Herr Präsident! Meine Damen Wenn Erziehungsarbeit gemäß Karlsruhe demnächst und Herren! Die heutige Aktuelle Stunde ist ein würdi- über hohe Freibeträge berücksichtigt werden muß, dann ger Abschluß von steuerpolitischen Chaostagen, die wir 1178 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 17. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1999

Gisela Frick (A) in der letzten Woche erlebt haben und die nicht mehr zu Wenn wir uns die öffentliche Diskussion anschauen, (C) überbieten sind. dann sehen wir jetzt nur eine Debatte über Steuererhö- hungen. Herr Müller, für die Opposition muß ich sagen: (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – Entschuldigen Sie bitte, daß wir den Überblick verlieren. Kerstin Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE Auch Sie alle haben ihn verloren. Jeden Tag kommt aus GRÜNEN]: Ausgerechnet Sie sagen das!) einer anderen Ecke der Regierungskoalition ein neuer Wir hatten am Montag in der Anhörung zur soge-Anstoß zur Steuererhöhungsdebatte. nannten Ökosteuer – ich möchte das Wort Ökosteuer in dicken Anführungszeichen verstanden wissen – einen Ich nenne die Mehrwertsteuer, die Mineralölsteuer, totalen Verriß dieser Steuer durch die Sachverständigen die Einschränkung oder Abschaffung des Ehegatten- und die beteiligten Verbände. Wir hatten am Dienstag in splittings und die Wiedereinführung der privaten Ver- der Anhörung zum sogenannten Steuerentlastungsgesetz mögensteuer. Das rasselt nur so. Deshalb ist es ganz 1999/2000/2002 ebenfalls einen totalen Verriß durch die klar, daß wir, um den Überblick nicht zu verlieren, ver- meisten Sachverständigen. suchen, Ihre verwinkelten Gedankengänge etwas nach- zuvollziehen. (Zuruf des Abg. Detlev von Larcher [SPD]) Da bin ich ausnahmsweise einmal einer Meinung mit – Natürlich haben Sie immer ein, zwei Alibileute dabei, dem Finanzminister Lafontaine, der gesagt hat: Bitte die dann Ihre Meinung stützen, aber mehr sind es doch keine Steuererhöhungsdebatte! – Aber bitte nicht nur nicht, Herr von Larcher. keine Steuererhöhungsdebatte, sondern auch keine Am Dienstag mittag wurde dann die EntscheidungSteuererhöhungen. Das ist ja das Entscheidende! des Bundesverfassungsgerichts bekannt, die Anlaß für (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU so- diese Diskussion heute ist. Hier ist ein Volumen von wie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES mindestens 22 Milliarden DM aufzubringen. Frau 90/DIE GRÜNEN) Hendricks, ich bin ganz sicher, daß Sie mit Ihren Ein- schätzungen falsch liegen. Bei 22 Milliarden DM liegt – Frau Scheel klatscht auch, das freut mich besonders in die Untergrenze, die das Bundesverfassungsgericht ge- diesem Zusammenhang. – Deshalb müssen Sie durch zogen hat. Wir als Gesetzgeber sind jederzeit in der La- Einsparungen im Haushalt und nicht etwa durch neue ge, darüber hinauszugehen. Aber wir sind auf gar keinen Steuererhöhungen versuchen, das erforderliche Volumen Fall in der Lage, darunter zu bleiben. freizuschaufeln. Wir haben es eben schon vom Kollegen Wir hatten dann am Mittwoch im Finanzausschuß ei- Hauser gehört: Alle im Moment in die Diskussion ein- ne richtige Phantomdebatte über dieses sogenanntegebrachten Vorschläge zu Steuererhöhungen bringen Benachteiligungen gerade für die Familien mit sich, und (B) Steuerentlastungsgesetz, in der jeder Knackpunkt noch (D) einmal in Frage gestellt wurde, indem gesagt wurde:sind deshalb kontraproduktiv. Es muß also um Einspa- Darüber denken wir noch einmal nach, da kommt wahr- rungen im Haushalt gehen. Das ist keine leichte Arbeit. scheinlich noch etwas anderes. – Wir wollen einmal se- Darum beneiden wir Sie nicht. Aber nur diese Maßnah- hen, was. men sind der richtige Weg. Wir hatten am Donnerstag, das heißt gestern, noch (Detlev von Larcher [SPD]: Schadenfroh sind einmal eine solche Phantomdebatte über die sogenannte Sie schon!) Ökosteuer. Auch da hieß es bei wichtigen Dingen: Es– Wir sind nicht schadenfroh, Herr von Larcher, über- kommt nicht so, wie es im Entwurf steht; es wird noch haupt nicht. – anders werden. Heute erleben wir diese Aktuelle Stunde über die (Detlev von Larcher [SPD]: Man muß nur Ihre Ausführung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts. Gesichter sehen!) Von Ihnen, Frau Staatssekretärin, haben wir dazu über- Nehmen Sie die Entscheidung des Bundesverfas- haupt nichts gehört. sungsgerichts als goldene Brücke, (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) (Joachim Poß [SPD]: Ihre goldene Brücke Was Sie gesagt haben, das war nur eine Schelte für die wird gleich einstürzen!) Vergangenheit. um Ihre bisherigen Steuerpläne, seien es die Steuerent- Ich darf einmal daran erinnern, daß es sich im Be-lastungsgesetze oder die Ökosteuer, sei es die noch ganz reich der Steuergesetzgebung in der Regel um zustim- nebulöse und sich nur am Horizont schwach abzeich- mungsbedürftige Gesetzentwürfe handelt. Daran ist der nende Unternehmenssteuerreform, wieder einzusam- Bundesrat genauso beteiligt. meln, neu zu überdenken und neu zu machen. (Detlev von Larcher [SPD]: Unerhört!) (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- Das heißt, Sie waren genauso in der Verantwortung wie ten der CDU/CSU – Detlev von Larcher die vorherige Regierung. Insofern ist diese Schelte für [SPD]: Das könnte Ihnen so passen!) die Vergangenheit nicht gerade sehr zielführend. Sie hätten jetzt eine wunderbare Gelegenheit, Ihr Ge- (Detlev von Larcher [SPD]: Unerhört! Un- sicht zu wahren und trotzdem etwas Vernünftiges vor- glaublich!) zulegen. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 17. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1999 1179

Gisela Frick (A) Der Kollege Singhammer hat eben im Zusammen-wortung dafür auf die Eltern abgewälzt. Wir meinen(C) hang mit der 630-Mark-Regelung von einer „Schubladi- schon, daß die Erziehung der Kinder in erster Linie in sierung“ gesprochen – ein sehr schönes, neues Wort. Ich der Verantwortung der Eltern liegt. Das heißt aber nicht, würde sagen, das reicht nicht. Legen Sie die Sachendaß die Gesellschaft und die Politik sie damit alleine las- nicht in die Schubladen, sondern schmeißen Sie sie insen darf, wie Ihre Politik es getan hat. Es ist Ihnen ja den Papierkorb oder – besser noch – in den Reißwolf. nicht einmal gelungen bzw. sehr schwergefallen, das einfache Existenzminimum von Kindern von der Steuer (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU – freizustellen. Zuruf von der SPD: Sie haben auch schon mal sachlichere Beiträge geliefert!) Jetzt unterstreicht das Bundesverfassungsgericht, daß die Leistungen der Familien weit über den existentiellen Sachbedarf von Kindern hinausgehen, und fokussiert Vizepräsident Rudolf Seiters: Das Wort hat Frau den Blick auf die Betreuungsleistungen in den Familien. Bundesminister Dr. Christine Bergmann. Kinderbetreuung ist eine Leistung, die auch im Interesse der Gemeinschaft liegt und deren Anerkennung verlangt. Dr. Christine Bergmann, Bundesministerin für Fa- Der Staat hat dementsprechend dafür Sorge zu tragen, milie, Senioren, Frauen und Jugend: Herr Präsident!daß es Eltern gleichermaßen möglich ist, teilweise und Meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordnete! auch zeitweise auf eigene Erwerbstätigkeit zugunsten Frau Frick, Ihr Beitrag war sicher ein ehrenwerter Ver- der persönlichen Betreuung der Kinder zu verzichten such, von dem eigentlichen Thema hier abzulenken. Ich wie auch Familien- und Erwerbstätigkeit miteinander zu denke aber, er ist nicht gelungen. verbinden. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Das Bundesverfassungsgericht hat zwar, weil es in DIE GRÜNEN) der Vergangenheit üble Erfahrungen gemacht hat, wie mit seinen Urteilen umgegangen wurde, enge Vorgaben Wir werden mit Sicherheit keine Dinge zurücknehmen, im Hinblick auf den Zeitraum gemacht. Aber es hat uns nur weil wir jetzt ein Paket auf den Tisch bekommennicht auf bestimmte Lösungen festgelegt – obwohl es im haben, das unsere politische Arbeit und Richtung unter- Falle nicht rechtzeitigen Handelns des Gesetzgebers stützt. Es handelt sich dabei allerdings – auch präzise das Rechtsfolgen definiert. Vielmehr weist das Bun- möchte ich noch einmal wiederholen – um eine Erblast desverfassungsgericht ausdrücklich auf die Möglichkeit der vergangenen Jahre. Das Bundesverfassungsgericht hin, „die gesamte kindbedingte Minderung der steuerli- hat sich in der Vergangenheit mehrfach bemüht, durch chen Leistungsfähigkeit in einem Grundtatbestand zu er- seine Urteile den Weg zu mehr steuerlicher Gerechtig- fassen, der alle kindbezogenen Entlastungen umfaßt“ (B) keit zu ebnen. Doch die alte Regierung hat diese Urteile, und einfach und bürgernah ist. (D) die die Lasten der Familien betreffen, schlichtweg igno- riert. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) In diesem Zusammenhang macht das Bundesverfas- sungsgericht mehrfach auf das Kindergeld und den Kin- Deshalb können wir jetzt sagen, auch wenn wir zur derfreibetrag aufmerksam. Zeit nocht keine detaillierten Vorschläge vorlegen kön- nen, wie das im einzelnen zu finanzieren sein wird: Es Wir werden die verschiedenen möglichen Lösungen ist auch unsere politische Richtung, die damit bestätigt einer generellen steuerlichen Berücksichtigung von Be- wird. Ich will hier noch einmal daran erinnern, daß Sie treuungs- und Erziehungsbedarf prüfen und in der Bun- es waren, die noch nicht einmal die Erhöhung des Kin- desregierung die erforderlichen Entscheidungen treffen. dergeldes auf 220 DM wollten. Das haben die SPD-Dabei werden wir aber die Erfahrungen berücksichtigen, geführten Länder im Bundesrat durchgesetzt. die wir mit dem kumulierenden dualen System des Fa- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ milienlastenausgleichs gemacht haben. Dieses System DIE GRÜNEN) hat gesellschaftspolitisch falsche Auswirkungen, weil die Freibeträge bei niedrigen Einkommen nicht oder nur Vorhin war schon die Rede von Selbstkritik. Dieteilweise genutzt werden können, wäre an dieser Stelle wirklich einmal angebracht. Sie haben den Familien in den letzten Jahren wirklich eini- (Beifall der Abg. [Köln] [SPD] ges vorenthalten. Wir versuchen jetzt, die Richtung zu und des Abg. Klaus Wolfgang Müller [Kiel] ändern und den Familien schrittweise mehr zukommen [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) zu lassen. Daß sich hier eine solche Last angesammelt dafür aber bei steigendem Einkommen eine immer höhe- hat, verdanken wir wirklich Ihrer Politik, die die frühe- re Entlastung eintritt. ren Urteile des Bundesverfassungsgerichts nie umgesetzt hat. (Gisela Frick [F.D.P.]: Das ist der Progres- sionseffekt!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Diesen Effekt wollen wir nicht wieder erreichen. Obwohl Sie, wie wir alle wissen, über Familien und (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Familienförderung gerne reden, haben Sie die Verant- DIE GRÜNEN) 1180 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 17. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1999

Bundesministerin Dr. Christine Bergmann (A) Vorhin hat Herr Hauser hier von einer einseitigenmerkung machen, Frau Kollegin Bergmann. Sie haben(C) Entlastung der Bezieher kleiner Einkommen gespro-noch einmal das 100 000 Jugendliche betreffende Pro- chen. Dies muß ich schon als Zynismus betrachten; denn gramm angesprochen, mit dem diese jungen Menschen genau das Gegenteil hat in der Vergangenheit stattge-qualifiziert werden sollen, einen Beruf ergreifen zu kön- funden: eine einseitige Entlastung der Bezieher hohernen, obwohl sie mit einem schlechten Schulabschluß Einkommen. entlassen worden sind. Ich erwähne diesen Punkt ganz bewußt als Hessin, (Beifall bei der SPD) (Zurufe von der SPD: Ah!) Die Bundesregierung wird Lösungsmöglichkeiten er- arbeiten, welche das Existenzminimum sowie den Be- weil es mich immer wieder empört, daß dieses Geld treuungs- und Erziehungsbedarf von Kindern, wie vom nicht in die Schulen gesteckt wird und dadurch den Kin- Bundesverfassungsgericht gefordert, steuerlich ange-dern und Jugendlichen ein Hauptschulabschluß ermög- messen berücksichtigen. In einer solchen Herausforde- licht wird, der sie befähigt, einen Lehrberuf zu ergreifen. rung liegt auch die Chance – da gebe ich Ihnen recht, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Herr Müller –, strukturell moderne Wege einzuschlagen. Das heißt: Die steuerliche Entlastung ist gemäß dem Te- Jetzt müssen wir Notprogramme hinnehmen, weil die nor des Bundesverfassungsgerichtsurteils dort anzuset- verfehlte Schulpolitik in einigen Bundesländern unsere zen, wo die stärkste Förderung erfolgen muß: bei denjungen Menschen ins Leben entläßt, unfähig, einen Familien mit Kindern. Lehrberuf zu ergreifen, weil sie noch nicht einmal die Flächenberechnung beherrschen, die sie für den Maler- Ich denke, daß dieses Urteil unsere Bemühungen um- beruf dringend brauchen. eine Reform des Bundeserziehungsgeldgesetzes unter- stützt; denn wenn man dem Gedanken des Bundesver- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. – fassungsgerichts hinsichtlich der Betreuungsleistung von Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Sie können Müttern und Vätern folgt, ist der Weg, den wir gehen noch nicht einmal den Kinderfreibetrag be- wollen, richtig, nämlich die Inanspruchnahme des Er- rechnen!) ziehungsurlaubs flexibler zu gestalten, um Erwerbstätig- Jetzt komme ich zu dem eigentlichen Thema. Das keit und Kinderbetreuung besser miteinander vereinba- Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist ein sehr gutes ren zu können. Die Bundesregierung wird also in Kürze Urteil für die Familien in Deutschland. Wir sollten uns einen Reformentwurf zu Elterngeld und Elternurlauballe darüber freuen. Man merkt die große Freude bei den einbringen. Regierungsparteien deutlich, so auch heute in dieser De- batte. Das Bundesverfassungsgericht hat diese unsere poli- (B) tische Richtung deutlich bestärkt. Die Bundesregierung (Beifall bei der CDU/CSU – Detlev von Lar- (D) hat von Anfang an deutlich gemacht, daß Kinder und cher [SPD]: Bei Ihnen merkt man die Scha- Jugendliche an der Spitze ihrer Politik stehen: nicht nur denfreude!) durch die Erhöhung des Kindergeldes, sondern auch Die Partei, die im Wahlkampf angetreten ist, die Fa- durch die Auflegung des Sofortprogramms zur Schaf- milien ein Stück zu stärken und ihnen eine Erhöhung des fung von Ausbildungsplätzen für 100 000 Jugendliche Kindergeldes zuzugestehen, und durch die Regelung zur Ausbildungsförderung. Das sind Leistungen, die auch von seiten der Opposition ru- (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Sie waren immer hig anerkannt werden könnten; denn sie dienen den Fa- dagegen!) milien und den Kindern in unserem Land. denkt doch sehr kurz. Das ist bei beiden Redebeiträgen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten von Vertretern der Regierung deutlich geworden. Die des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Frau Staatssekretärin und die Frau Ministerin schauen noch nicht einmal in die alten Unterlagen, die sie in ih- Wir werden dies in Umsetzung der Entscheidung aus ren Ministerien vorfinden müßten. Karlsruhe fortführen, und zwar nicht nur, weil es recht- lich geboten ist – das ist selbstverständlich –, sondern Wir sollten uns einmal zurückerinnern und uns fra- weil dieser Weg in voller Übereinstimmung mit dengen: Wie war das damals? Wer hat denn den Kinderfrei- Überzeugungen dieser rotgrünen Regierung steht. betrag abgeschafft? 1975 haben die Sozialdemokraten mit einem Federstrich diese Kinderfreibeträge abge- Danke. schafft. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Peter Ram- DIE GRÜNEN) sauer [CDU/CSU]: Das ist die Wahrheit! – Detlev von Larcher [SPD]: Unglaublich! – Zu- ruf der Parl. Staatssekretärin Barbara Vizepräsident Rudolf Seiters: Ich gebe der Kolle- Hendricks) gin Hannelore Rönsch, CDU/CSU-Fraktion, das Wort. – Es kommt noch schöner, Frau Staatssekretärin. Ich wußte gar nicht, daß Sie von der Regierungsbank Zwi- Hannelore Rönsch (Wiesbaden) (CDU/CSU): Herr schenrufe machen dürfen. Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Bevor ich zu dem Im Plenum sitzt eine ehemalige Ministerin, die 1980 eigentlichen Thema spreche, will ich noch eine Vorbe- sehr lautstark in dem damaligen Wahlkampf angekün- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 17. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1999 1181

Hannelore Rönsch (Wiesbaden) (A) digt hat: Wir erhöhen das Kindergeld. Das wurde tat- Einen weiteren Punkt, der von uns im Rahmen unse- (C) sächlich gemacht. rer Familienpolitik immer verfolgt wurde, hat dieses Urteil deutlich gemacht, nämlich die Gleichstellung der (Detlev von Larcher [SPD]: Sehen Sie! Ver- Leistungen für Alleinerziehende und Familien. sprochen und gehalten!) (Ulla Schmidt [Aachen] [SPD]: Warum haben Wissen Sie, was nach der Wahl passiert ist? Schauen Sie Sie es denn nicht gemacht, Frau Rönsch?) einmal in Ihren alten Unterlagen nach! Diese Kinder- gelderhöhung wurde sofort wieder zurückgenommen,– Sie waren doch in diesem Zeitraum Parlamentarierin weil nicht genug Geld in der Kasse war, um die ge-und konnten sehen, daß Vorhaben, die Sie im Hinter- machten Wahlversprechungen nachher tatsächlich einlö- kopf hatten, von uns umgesetzt wurden. Ich verstehe gar sen zu können. Wir können Ihnen versichern: Wir wer- nicht, daß Sie heute nach der Debatte um die 630-DM- den die Familien in Deutschland davor schützen, daß so Beschäftigungen noch den Mut haben, immer wieder etwas noch einmal passiert. Dinge einzufordern, die Sie während Ihrer Regierungs- zeit nicht umgesetzt haben. (Detlev von Larcher [SPD]: Sie wollen die Familien schützen?) (Detlev von Larcher [SPD]: Deswegen mußten die klagen, weil Sie so gute Politik gemacht Dabei haben wir das Bundesverfassungsgericht auf un- haben!) serer Seite. – Nein, weil Sie Kinderfreibeträge abgeschafft und Kin- (Beifall bei der CDU/CSU) dergelderhöhungen wieder zurückgenommen haben. 1982 haben wir sofort nach Übernahme der Regie- rung die Kinderfreibeträge wieder eingeführt und konti- nuierlich erhöht, ebenso wie das Kindergeld. Vizepräsident Rudolf Seiters: Frau Kollegin Rönsch, bitte kommen Sie zum Schluß. (Detlev von Larcher [SPD]: Frau Rönsch, Sie sollten schamrot werden! Es ist wirklich nicht zu glauben!) Hannelore Rönsch (Wiesbaden) (CDU/CSU): Ich will Ihnen zum Schluß sagen: Wir werden im Sinne der – Herr von Larcher, Sie haben sich heute schon durchFamilien mithelfen und mit dazu beitragen, daß die 20 eine Reihe von „qualifizierten“ Zwischenrufen bemerk- bzw. 22 Milliarden DM von den Kommunen, von den bar gemacht. Ländern und vom Bund für die Familien bereitgestellt werden. Wir werden gerne den Haushalt daraufhin (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Besser als eine durchforsten, welche Posten und Positionen, die Ideolo- unqualifizierte Rede!) (B) gie in Ihrem Sinne darstellen, besser für Leistungen an(D) Ich hoffe, daß jeder einzelne Zwischenruf im Proto- die Familie herangezogen werden können. koll festgehalten wird, damit die breite Öffentlichkeit Ihr (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Verständnis von Familienpolitik erkennt. Ich kann schon verstehen, daß Ihnen dieses Thema nicht paßt. Vizepräsident Rudolf Seiters: Als nächste Redne- Erziehungsgeld, Erziehungsurlaub und die Anerken- rin spricht Frau Christine Scheel, Bündnis 90/Die Grü- nung von Kindererziehungszeiten bei der Rente sind nen. während unserer Regierungszeit eingeführt worden. Diese Vorhaben hatten Sie zwar in der Schublade, konnten sie aber nie verwirklichen. Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Jetzt auf einmal reden Sie wieder vom Ehegatten-Rönsch, mir fällt dazu nur ein: Es schlägt dem Faß den splitting. Das Ehegattensplitting wurde von Ihnen doch Boden aus! noch nie geliebt. Das Urteil des Bundesverfassungsge- richts macht an dieser Stelle deutlich, daß die Familien- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN leistung anerkannt wird und daß man nicht mit einem und bei der SPD) Federstrich durch die Begrenzung des Ehegattensplit-Sie waren von 1990 bis 1994 Familienministerin. In die- tings die entstandene Haushaltslücke schließen kann. ser Zeit hat das Bundesverfassungsgericht die Gesetzge- Wir werden auch sehr genau aufpassen, daß Sie nicht ber aufgefordert, das Existenzminimum und das Kinder- mit einer Mehrwertsteuererhöhung die Familien nochgeld steuerlich anders zu behandeln, weil die damalige zusätzlich belasten. Regierung den Leuten das Geld weggesteuert hat. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Lachen bei der SPD) und bei der SPD) Auch die von Ihnen geplante Ökosteuer, die Energie-Jetzt sagen Sie, wir hätten nicht den Mut zum Handeln. steuer, die den Familien in jedem Lebensbereich sehrDazu fällt einem fast nichts mehr ein, außer den Kopf zu tief in die Tasche greift, wird von uns ebenfalls genauschütteln. auf die für die Familien entstehenden Belastungen über- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN prüft. und bei der SPD) 1182 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 17. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1999

Christine Scheel (A) Wenn Sie dann noch sagen, wir hätten das Verfas-Koppelung mit der Absenkung um die 0,8 Prozent-(C) sungsgericht auf unserer Seite, kann ich dazu nur sagen: punkte bei der Rentenversicherung vorgesehen. Ja, wunderbar. Wir haben immer – zu Recht – gesagt, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN daß es im Prinzip ein Armutszeugnis für die Politik ist – und bei der SPD) das muß man einmal ganz ernsthaft so sehen –, wenn das Bundesverfassungsgericht in den verschiedenen Ur- Dabei bleibt es 1999. Jede andere Diskussion ist hier teilsbegründungen damals permanent anmahnen mußte, fehl am Platz. daß der Staat den Familien oder auch Alleinerziehenden die Unterstützungen zukommen läßt, die ihnen eigent- (Hannelore Rönsch [Wiesbaden] [CDU/CSU]: lich zustehen. In den 16 Jahren Kohl-Regierung haben Das ist doch die Dame, die zusätzlich noch 7 wir jedoch nie erlebt, daß der Gesetzgeber gehandelt Prozent Mineralölsteuer will!) hätte. Als Opposition konnten wir damals nur sagen:– Die 7 Prozent zusätzliche Mineralölsteuer, Frau Das bedauern wir sehr; wir bemühen uns, das sinnvoll Rönsch, beziehen sich auf einen Verfahrensweg für die mit umzusetzen. Wir haben Sie damals bei der Umset- Zukunft à la Großbritannien. Das hat nur etwas damit zu zung der Anhebung des Kindergeldes und der Erhöhung tun, wie man das in den nächsten Stufen in den nächsten des steuerfreien Existenzminimums unterstützt, haben Jahren systematisch angeht. Es hat nichts mit irgendwel- uns sehr aktiv und sehr konstruktiv an der Debatte be- chen Gegenfinanzierungen zu tun, sondern betrifft die teiligt. Das möchte ich noch einmal in Erinnerung rufen, Frage, wie wir mit der zweiten und dritten Stufe umge- da Sie hier solch eine Mär verbreiten wollen. hen. Wenn auf der anderen Seite – das geht jetzt an Frau (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES Professor Frick; das ist klar – gesagt wird, es gebe steu- 90/DIE GRÜNEN und der SPD) erpolitische Chaostage, Machen wir das mit irgendwelchen blöden Benzinpreis- (Zuruf von der F.D.P.: Sie haben sie mitge- debatten, oder machen wir das prozentual? Darüber darf prägt!) man wohl nachdenken. Aber es darf absolut nicht in die- sen Zusammenhang gestellt werden. Das ist vollkom- Verrisse unserer Steuerentlastungspläne usw., dann muß men falsch interpretiert worden; ich dazu sagen: Wir haben Anhörungen durchgeführt. (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Sehr richtig!) Nach unserem parlamentarischen Verständnis führen wir Anhörungen durch, um uns die Vorschläge und Überle- da sage ich auch an die Damen und Herren von der Pres- gungen von Sachverständigen anzuhören. Deswegense. Es war nicht nur ein Mißverständnis, sondern eine macht man Anhörungen. Das ist nicht „just for fun“,absolute Ente, daß die „Bild“-Zeitung diesen Zusam- (B) sondern sollte auch einen Sinn machen. Danach werten menhang hier hergestellt hat. (D) wir die Ergebnisse der Anhörungen selbstverständlich (Hannelore Rönsch [Wiesbaden] [CDU/CSU]: ganz sorgfältig aus und diskutieren sie in aller Ruhe in Ich habe den „Kölner Stadt-Anzeiger“!) den Fachausschüssen. Dies haben wir in dieser Woche sowohl bei der Einkommensteuerreform als auch bei der Abschließend komme ich zu der Frage der neuen ökologischen Steuerreform im ersten Durchgang so ge- Vorgabe bei der Gegenfinanzierung. Selbstverständlich tan. Das ist ein ganz normales ordentliches Verfahren. wird, steuerpolitisch gesehen, alles, was an familienpo- Man braucht sich hier gar nicht aufzuregen. litischen Maßnahmen verankert ist, diskutiert werden. Wir werden über das Splitting reden; das ist klar. Natür- Was den Überblick betrifft: Für uns ist vollkommen lich werden wir darauf achten, die Vorgaben verfas- klar, daß wir das Steuerentlastungsgesetz 1999/2000/sungskonform umzusetzen. Ich sage Ihnen: Das Manna 2002, die Einkommensteuerreform, demnächst zeit-fällt nicht vom Himmel. Wir müssen für 2000 bis 2002 gerecht – so wie wir es vorhatten – rückwirkend zumeine ordentliche Haushaltsplanung machen. Es wird mit 1. Januar 1999 in der Form, in der es mit den fachlichen den Ländern zu beraten sein, ob die Länder dazu über- Änderungen in einzelnen Punkten vorliegt, in der zwei- haupt bereit sind. Bayern hat einen Beschluß gefaßt, daß ten und dritten Lesung beschließen. durch die Steuergesetzgebung des Bundes keine Mehr- belastung für die Länder entstehen darf – Gruß an (Detlev von Larcher [SPD]: Wir wollen es Stoiber. Sie reden immer von Nettoentlastung. Das zeigt nicht nur, wir tun es!) das Doppelspiel der CSU in dieser Frage. Das geschieht vollkommen unabhängig von dem Bun- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN desverfassungsgerichtsurteil, das wir jetzt diskutieren. und bei der SPD sowie des Abg. Dr. Gregor Gysi [PDS]) Wir wollen auch die ökologisch-soziale Steuerreform in zweiter und dritter Lesung beschließen, und zwar dar- Wir werden einen guten Gesetzentwurf vorlegen. an gekoppelt, daß es keine weitere Anhebung der Mine- ralölsteuer geben wird. Um auch das klarzustellen: Es (Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Das wäre einmal bleibt so, wie es zwischen den Koalitionspartnern be- etwas Neues!) sprochen worden ist. Das hat mit dem Bundesverfas-Davon gehen wir von seiten der Regierungsfraktionen sungsgerichtsurteil null zu tun, es ist davon vollkommen aus. Wir werden das tun, was den Familien mit Kindern losgelöst. Diese ökologisch-soziale Steuerreform ist in zusteht. Wir werden das Leben mit Kindern steuerlich Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 17. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1999 1183

Christine Scheel (A) erleichtern. Das war immer das Ziel der jetzigen Regie- So ganz kann das Ihren unmittelbaren Plänen also nicht (C) rung und wird es, gerade bei der Umsetzung, auch blei- entsprochen haben. Auch das hätte man ehrlicherweise ben. sagen können. Vielen Dank. (Beifall bei der PDS – Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Wo er recht hat, hat er recht!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Ich will noch etwas zur Entscheidung des Bundesver- PDS) fassungsgerichts sagen. Was ist denn da in Wirklichkeit passiert? Seit Jahren sagt das Bundesverfassungsgericht bei verschiedenen Gelegenheiten, daß das Existenzmi- Vizepräsident Rudolf Seiters: Das Wort hat der nimum von Kindern zu sichern ist, daß Alleinerziehende Abgeordnete Dr. Gregor Gysi, PDS-Fraktion. und Eheleute, die Kinder erziehen, nicht über Gebühr belastet werden dürfen und daß die Aufwendungen für Dr. Gregor Gysi (PDS): Herr Präsident! Meine Da- Kinder zu berücksichtigen sind. men und Herren! Als Fraktionsvorsitzender hat man den Seit Jahren trickst die alte Mehrheit in dieser Frage Vorteil, für alles und auch wieder für nichts Experte zu herum, indem sie das Existenzminimum immer herun- sein. Deshalb ist man dann so erfolgreich in der Politik. terrechnet und dann dazu übergeht, nur bestimmte Gruppen einzubeziehen und andere herauszulassen. Jetzt Ich will Ihnen folgendes sagen: Ich habe mich sehr hat es dem Zweiten Senat des Bundesverfassungsge- über die Rede von Frau Rönsch gewundert. Darf ich Ih- richts ganz offenkundig gereicht. Er hat gesagt: Wenn es nen wenigstens einen Satz aus der Pressemitteilung des nichts nutzt, daß wir den Schutz von Familien in die Bundesverfassungsgerichts vorlesen, der wie folgt lau- Verfassung hineinschreiben, und wenn mit Hilfe von tet: Tricks versucht wird, unsere diesbezüglichen Entschei- Der Zweite Senat hat den Beschwerdeführern recht dungen und damit die Verfassung zu unterlaufen, dann gegeben und die angegriffenen gesetzlichen Vor- müssen wir eben einen anderen Weg gehen und klare schriften (§ 33 c Abs. 1 bis 4 des EStG von De-Termine und Summen nennen. Dann gibt es kein Rütteln zember 1984, § 32 Abs. 3 und 4 des EStG von Ja- und kein Deuteln mehr. Dann weiß der Gesetzgeber nuar 1984, § 32 Abs. 7 EStG von April 1986) sowie endlich, was er zu tun hat. alle nachfolgenden Fassungen für verfassungswid- Daß das erforderlich ist, das ist die eigentliche rig erklärt. Schande für unser Haus und dafür, was wir bewirkt ha- Daß man in diesem Zusammenhang ernsthaft behaupten ben. Dazu sollten letztlich wir alle selbstkritisch Stel- (B) kann, daß das Verfassungsgericht an Ihrer Seite steht,lung nehmen. (D) wenn es gerade festgestellt hat, daß Sie hier eine verfas- (Beifall bei der PDS – Hannelore Rönsch sungswidrige Bestimmung nach der anderen verabschie- [Wiesbaden] [CDU/CSU]: Es gab schon ein- det haben, ist mehr als ein Salto mortale. mal jemanden, der hat ein Bundesverfassungs- gerichtsurteil gar nicht so positiv aufgenom- (Beifall bei der PDS, der SPD und dem men!) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich will aber zu den in dem Beschluß des Bundesver- Warum fällt es Ihnen eigentlich so schwer, sich ein- fassungsgerichts angegebenen Fristen und deren Rück- mal hier hinzustellen und zu sagen: Wir haben einenwirkung noch etwas sagen. Mir gefällt es nicht, daß auch Fehler gemacht, und jetzt wird es eine gemeinsame Auf- die neue Koalition, wenn sie denn schon meint, die För- gabe des Parlaments sein, diesen Fehler zu bereinigen. derung von Familien sei ihre politische Richtung, ernst- haft bis zum letztmöglichen Tag warten will. In den ent- (Beifall bei der PDS) sprechenden Beschlüssen steht ja immer „spätestens“. Das wäre dann wenigstens ein ehrlicher Anfang. Aber Warum sagen Sie nicht: „Unter solchen Bedingungen statt dessen kommen Sie mit ominösen Feststellungen zu beraten wir über den Haushaltsentwurf neu“, und warum Ihrer Familienpolitik, die vom Bundesverfassungsge-versuchen Sie nicht gleich, eine gerechte Regelung her- richt bestätigt worden sei, obwohl Sie Jahr für Jahr Be- zustellen? Warum nutzen Sie die Frist bis zum letzten stimmungen erlassen haben, die sich alle als verfas-Tag aus? sungswidrig herausgestellt haben. (Beifall bei der PDS) Ich kann allerdings – auch das will ich deutlich sagen Die Ungerechtigkeit bzw. die Verfassungswidrigkeit be- – nicht ganz die Äußerungen der neuen Regierung tei- steht doch schon jetzt. Das hätte zumindest ich erwartet. len, das entspreche doch der politischen Richtung, die sie vorgegeben habe. Ich habe Ihre Koalitionsvereinba- Es ist nicht ganz richtig, daß hier gesagt wird, daß rung noch einmal gelesen. Darin steht zu alledem nichts. keine Rückwirkung erfolgen wird. Ich will Sie darauf Es sind dort auch keine Vorhaben diesbezüglich ange- hinweisen – auch ich habe das Urteil natürlich noch kündigt worden. Auch im Haushalt 1999 findet sich da- nicht vorliegen –, was in der entsprechenden Pressemit- für keine müde Mark. teilung des Bundesverfassungsgerichtes am Schluß steht. Da steht nämlich, daß der Bundesfinanzhof zu (Beifall bei der PDS) prüfen hat, ob man den Beschwerdeführern die ver- 1184 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 17. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1999

Dr. Gregor Gysi (A) fassungsrechtlich gebotene Entlastung gewähren kann. Angesichts dessen muß ich der Kollegin Scheel ein biß- (C) Dann steht dort: Wenn dies nach dem geltenden Recht chen widersprechen: Wir haben doch damals die Regie- nicht geht, „müßte der Gesetzgeber insoweit eine rück- rung bei der Kindergeldregelung nicht unterstützt. Wir wirkende Regelung treffen“. haben sie regelrecht dazu gezwungen, das Kindergeld in dieser Weise festzusetzen. Das bezieht sich dann nicht nur auf die Beschwerde- führer, sondern auf all diejenigen, deren Einkommen- (Beifall bei der SPD) steuerbescheid noch nicht rechtskräftig ist. Dann ent- Ich will nicht alle Einzelheiten aufzählen. Diese kann steht wieder die große Ungerechtigkeit, daß diejenigen, man in den Protokollen des Finanzausschusses nachle- die nichts unternommen haben, weil sie sich auf die sen. Aber wie viele Vorschläge zu den Kinderbetreu- Verfassungskonformität der Gesetze verlassen haben, ungskosten und in bezug auf erwachsene behinderte leer ausgehen und daß diejenigen, die etwas unternom- Kinder haben wir gemacht, um die Situation von Famili- men haben, etwas bekommen. en zu verbessern! Jedesmal mußten wir die Regierung Deshalb sage ich Ihnen: Beseitigen Sie diese Unge- entweder zum Jagen tragen, oder sie hat sofort all das rechtigkeit, und regeln Sie dies dann rückwirkend fürabgelehnt, was wir auf den Tisch gelegt haben. alle. Anders ist eine Gerechtigkeit diesbezüglich nicht (Beifall bei der SPD) herstellbar. Es erscheint mir reichlich unverfroren, daß die Opposi- (Beifall bei der PDS) tionskolleginnen und -kollegen jetzt so tun, als seien es Noch zwei Bemerkungen. Wenn es um die Finanzie- nicht sie gewesen, die die familienpolitischen Defizite rung geht, dann sollte man über unsere Anträge aufüber Jahre haben größer und größer werden lassen. Die- Wiedereinführung der privaten Vermögensteuer und die ses schnelle Drehen im Wind dieses Urteils erstaunt Einführung einer Luxussteuer und über Abrüstungmich ganz arg. nachdenken. Ich halte den Verteidigungsetat auch im (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS Haushaltsentwurf dieser Bundesregierung für 1999 nach 90/DIE GRÜNEN) wie vor für dramatisch hoch. Es ist noch keine acht Wochen her, daß Frau Hassel- Letzte Bemerkung. Eine Gerechtigkeitslücke bleibt. feldt in der Debatte zum Steuerentlastungsgesetz die Damit konnte sich das Bundesverfassungsgericht nicht Kindergelderhöhung mit einem Weihnachtsgeschenk beschäftigen. Aber ich finde, wir sollten uns endlichverglichen hat – wie absurd angesichts dieses Urteils. einmal damit beschäftigen. Es gibt in diesem Lande Millionen Menschen, die so wenig verdienen, daß sie (Beifall bei der SPD) (B) keine Steuern zahlen können. Die haben überhauptUnd weil Sie, Frau Frick, hier so tun, als hätten Sie die (D) nichts von irgendwelchen Steuerentlastungsvorschriften. richtigen Ideen, als hätten Sie die richtigen Entschei- Lassen Sie uns doch einmal zu einer direkten Förderung dungen getroffen, will ich zitieren, was Sie dazu gesagt übergehen! Einer Sozialhilfeempfängerin, die jetzt ein haben: erhöhtes Kindergeld bekommt, wird die Erhöhung im Rahmen der Sozialhilfe wieder abgezogen. Die hat Auch wir halten es für wünschenswert, die Leistun- nichts von Ihrer Kindergelderhöhung. Wir brauchen gen für Familien zu verbessern. Wir aber haben ei- endlich direkte Förderungen für Kinder von Eltern mit nen anderen Ansatz. Einkommen im unteren Bereich. Sonst bleiben alle Re- Ja, Sie haben einen anderen Ansatz. Es ist aber der fal- gelungen zur Steuerentlastung ungerecht. sche. Das können Sie jetzt in dem Urteil nachlesen. (Beifall bei der PDS) (Beifall bei der SPD) Diese politischen Fehleinschätzungen in der Frage Vizepräsident Rudolf Seiters: Das Wort hat Frau des Rechts auf Kindergeld über Jahre hinweg haben da- Nicolette Kressl von der SPD-Fraktion. zu geführt, das das Bundesverfassungsgerichtsurteil so extrem kurze Fristen gesetzt und so exakte Vorgaben Nicolette Kressl (SPD): Herr Präsident! Sehr ge- gemacht hat. Allerdings haben wir uns über solch exakte ehrte Kolleginnen und Kollegen! Leistungen, die egal in Vorgaben schon ein bißchen gewundert. Wenn Sie Ihre welcher Form in den Familien erbracht werden, müssen Aussagen zu diesem Urteil heute mit Ihren Aussagen vom Gesetzgeber besser anerkannt werden. Das macht damals in der Debatte über unser Steuerentlastungsge- dieses Bundesverfassungsgerichtsurteil sehr deutlich.setz vergleichen, müßten Sie eigentlich mit schamrotem Was daraus noch deutlicher hervorgeht, ist, daß überGesicht durch dieses Parlament laufen. viele Jahre hinweg der Gesetzgeber die Familien steuer- (Beifall bei der SPD – Detlev von Larcher [SPD]: lich zu schlecht behandelt hat. Aber Scham kennen sie nicht mehr!) (Detlev von Larcher [SPD]: Sehr wahr!) Ich will auch darauf hinweisen, daß wir einen Ent- Wie oft haben wir denn im Finanzausschuß erlebt,schließungsantrag zu Ihrem alten Steuerreformgesetz auf daß wir um jede finanzielle Besserstellung der Familien den Tisch gelegt haben, in dem in bezug auf die Kinder- regelrecht ringen mußten! betreuungskosten stand: Wir wissen, daß es notwendig ist, die Kinderbetreuungskosten unabhängig vom Fami- (Beifall bei der SPD) lienstand der Eltern und unabhängig von ihrer Erwerbs- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 17. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1999 1185

Nicolette Kressl (A) tätigkeit zu berücksichtigen. Und auch Sie hätten es wis- fach gesagt wurde, halte ich für billige Polemik und(C) sen müssen: Es gab dazu ein Ifo-Gutachten, das beimletztendlich für Geschichtsklitterung. BMF seit 1996 unter Verschluß gehalten wurde. Ange- sichts dessen wundere ich mich sehr, daß Sie so tun, als (Beifall bei der CDU/CSU – Lachen bei der hätten Sie nicht gewußt, daß da Handlungsbedarf be- SPD) steht. Ich will Ihnen sagen, warum. Wahr ist doch vielmehr, (Beifall bei der SPD) daß die dem BVG-Beschluß zugrunde liegende Verfas- sungsbeschwerde sich auf das Jahr 1983 bezieht, und Wir werden in aller Ruhe beraten, wie wir dieses Ver- wahr ist doch auch, daß die neue Bundesregierung 1982 fassungsgerichtsurteil umsetzen. einen sozialpolitischen Scherbenhaufen vorgefunden Noch eines steht in diesem Urteil, was mir sehr wich- hat. Die SPD-geführte Bundesregierung hatte zwischen tig ist: Der Gesetzgeber hat nicht das Recht, in irgendei- 1975 und 1982 ner Form moralisch zu werten, in welcher Art und Wei- (Detlev von Larcher [SPD]: Ja, ja!) se Eltern ihre Kinder betreuen, ob alleine, ob zusammen oder mit Hilfe eines Dritten. Eben das werden wir beiim Sozialbereich Kürzungen in Höhe von fast 95 Milli- der Umsetzung dieses Urteils berücksichtigen. Wir wer- arden DM vorgenommen, darunter – man höre und stau- den uns alleine von der Tatsache lenken lassen, daß die ne – die Kürzung des Kindergeldes beim zweiten und Leistungsfähigkeit der Eltern durch Unterhalt, durch Er- dritten Kind um 20 DM, die Kürzung des BAföG, den ziehungs- und Betreuungsleistungen steuerlich einge-Wegfall des Haushaltsfreibetrags für Alleinerziehende schränkt ist. Das wird unsere Leitlinie bei dem neu zuusw. Diesen familienpolitischen Kahlschlag hat damals erarbeitenden Gesetz sein. die CDU/CSU-Fraktion zunächst einmal korrigiert. Stichworte wie „Erziehungsgeld“, „Anerkennung von (Beifall bei der SPD) Kindererziehungszeiten in der Rente“, „verbesserte Lei- Dieses Parlament hat durch das Bundesverfassungs- stungen für Alleinerziehende“ usw. umschreiben nur ei- gerichtsurteil – das ist wahr – eine große Hausaufgabe nen kleinen Teil der familienpolitischen Leistungen. aufbekommen. Es wird nicht einfach, das umzusetzen. 1998 erreichten die Entlastungen bei den Familien ein Aber ich finde, die Familien hätten es verdient, daß man Volumen von fast 77 Milliarden DM; das sind 49 Milli- hier im Parlament nicht polemisch darüber diskutiert.arden DM mehr als bei der Regierungsübernahme 1982. Statt zu erzählen, was alles im Chaos endet, sollten Sie Auch das ist wahr. lieber bereit sein, vorurteilsfrei gemeinsam mit uns zu (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – überlegen, welche Wege offenstehen. Ich kann Sie nur Detlev von Larcher [SPD]: Sie vergleichen auffordern, in diesem Bereich jede Vermischung mit ih- (B) wieder Äpfel mit Birnen!) (D) rem Bedürfnis, Opposition destruktiv zu betreiben, in Zukunft zu unterlassen. Ich finde, die Familien haben es Grundsätzlich halte ich wenig von diesen rückwärts- verdient, daß wir ganz offen und sachlich über diesegewandten Betrachtungen. Ich denke, wir sollten den Wege diskutieren. Blick nach vorn richten. Denn die deutsche Öffentlich- keit, Millionen von Eltern, auch wir hier im Parlament, Ich danke Ihnen. erwarten von der Regierungskoalition ganz konkrete (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS Vorschläge, wie sie die zu erwartenden Steuerausfälle 90/DIE GRÜNEN) von mindestens 22,5 Milliarden DM pro Jahr denn fi- nanzieren will. Wenn ich mir die bisherigen finanzpoli- tischen Schnellschüsse und Rohrkrepierer der rotgrünen Vizepräsident Rudolf Seiters: Ich gebe das Wort Regierung anschaue, dem Abgeordneten , CDU/CSU-Frak- tion. (Detlev von Larcher [SPD]: Warten Sie es ab!) dann schwant mir nichts Gutes. Sollten Sie bei Ihrer bis- Norbert Barthle (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr herigen Logik bleiben, werden am Ende die Eltern die Präsident Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es wurdeihnen zustehenden Entlastungen unter dem Strich selbst mehrfach gesagt, daß wir von der CDU/CSU-Fraktion finanzieren müssen, damit auch ja alles aufkommens- dieses Urteil begrüßen. Ich will das wiederholen und aus neutral ist. Nach der Logik Ihrer Gegenfinanzierungs- ganz persönlicher Sicht unterstreichen. Als Vater vonstrategie werden manche sogar noch etwas drauflegen zwei Kindern weiß ich sehr wohl, welche finanziellenmüssen. Belastungen mit der Betreuung und Erziehung von Kin- dern alltäglich verbunden sind. (Detlev von Larcher [SPD]: Ach, auf einmal?) Die bisherige gesetzliche Regelung genügt – das sagt Eine neue Angst geht um in Deutschland, hört man in das Bundesverfassungsgericht in lobenswerter Deutlich- diesen Tagen, die Steuerangst, so titelte die „Bild“- keit – dem Kriterium der Freistellung des Existenzmi- Zeitung. Da ist etwas Wahres dran. nimums nicht. Ich unterstreiche an dieser Stelle, die (Lachen bei der SPD – Gegenrufe von der grundsätzliche Kritik von Frau Scheel, was die Kompe- CDU/CSU: Das ist nicht zum Lachen!) tenzzuschreibung von Politik und BVG anbelangt. Nur, daraus nun den Schluß zu ziehen, es handele sich um ei- Man kann nur hoffen, dieses Urteil führt bei der Koali- ne Ohrfeige für die alte Bundesregierung, wie es mehr- tion zu der Erkenntnis, daß an einer gründlichen Konso- 1186 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 17. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1999

Norbert Barthle (A) lidierung der Staatsfinanzen, am Sparen im besten Sinne Lydia Westrich (SPD): Herr Präsident! Meine Da- (C) des Wortes kein Weg vorbeiführt. men und Herren! Auch heute sprühen in dieser Aktuel- len Stunde die Funken, obwohl alle Fraktionen die Si- (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: 16 Jahre!) tuation begrüßen, die zumindest in diesem Zeitrahmen Deshalb eine dringliche Bitte: Denken Sie nicht einmal nicht von uns geschaffen wurde, mit der wir aber sehr im Traum daran, zur Gegenfinanzierung das Ehegatten- sorgsam und verantwortlich umgehen müssen. Daher Splitting weiter einzuschränken oder gar ganz abzu-nützen Beiträge à la Kollegin Rönsch überhaupt nichts. schaffen, wie man lesen kann. Dies würde der Urteils- begründung der Karlsruher Richter völlig zuwiderlau- (Beifall bei der SPD) fen, die ihre Entscheidung gerade auf den besonderen Ich sehe das Urteil mit einem lachenden und einem Schutz von Ehe und Familie abgestellt haben. Das istweinenden Auge. Ich sehe es mit einem lachenden Au- gut so. Übrigens, eine Erhöhung der Mineralölsteuer um ge, weil diese Entscheidung wunderbar in unser sozial- 7 Prozent, Frau Scheel, würde vielleicht gerade einmal demokratisches Konzept hineinpaßt, lang aufgestaute 4,5 bis 5 Milliarden DM im ersten Jahr erbringen undForderungen von Familien ernst zu nehmen und Zug um zahlreiche, vor allem kinderreiche Familien insbesonde- Zug umzusetzen. re im ländlichen Raum, die einen ausgeprägten innerfa- miliären Fahrdienst organisieren müssen, erheblich bela- (Beifall bei der SPD) sten. Bedenken Sie das nochmals. Vielleicht, Frau Kollegin Rönsch, hätten Sie die auf- Meine sehr verehrten Damen und Herren, vernünftig, geregten, glücklichen Gesichter der Vertreterinnen und finanzpolitisch redlich wäre es nach diesem Urteil, das Vertreter der Familienverbände bei der Anhörung zum Steuerentlastungsgesetz und die sogenannte ökologische Steuerentlastungsgesetz sehen sollen, als das Urteil am Steuerreform komplett zurückzuziehen, angesichts der Dienstag bekannt wurde. Sie hätten aber auch die an- Steuermindereinnahmen neu zu beraten und eine konsi- fängliche Ungläubigkeit in diesen Gesichtern sehen sol- stente Steuerreform auf den Tisch zu legen, die diesen len. Dabei ist mir sehr schmerzhaft bewußt geworden, Namen auch verdient. daß die Familien nach 16 Jahren christlich- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) demokratischer und liberaler Politik nichts Gutes mehr vom Staat erwartet haben, leider zu Recht. Für diejenigen in der Regierungskoalition, die es einfach nicht begreifen wollen – entschuldigen Sie, wenn ich das (Beifall bei der SPD) so sage –, will ich das an Hand des Bildes der zuge- knöpften Weste nochmals verdeutlichen: Bei Ihrer Steu- Sie haben nach 16 Jahren familienfreundlicher Sonn- erreform nutzt es wenig, nur die obersten zwei Knöpfe tagsreden in Ihrer Regierungszeit und tatsächlichem Er- (B) (D) frisch zuzumachen. Da bleiben die Verwerfungen. Das leben eines permanenten Einkommensverlustes in den ganze Ding muß geöffnet werden, und man muß voneigenen Portemonnaies das Vertrauen in die Politik vorne anfangen; dann kommt etwas Gescheites heraus. verloren. Wie oft hat Ihr Altbundeskanzler die Familie als Keimzelle der Gesellschaft und des Staates bezeich- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – net; er hat aber in 16 Jahren keinen Finger gerührt, die- Zuruf von der SPD: Von vorne anfangen, ge- ser Keimzelle auch genügend Nährlösung zuzuführen? nau!) (Beifall bei der SPD) Wenn Sie das tun: Nehmen Sie die Ergebnisse der mehrtägigen Anhörung ernst, auf der über Ihr Reform- Selbst als das Verfassungsgericht die Berücksichti- konzept ein vernichtendes Urteil gesprochen wurde!gung des Existenzminimums für Kinder zwingend vor- Gehen Sie daran, die Grundanliegen der Petersbergergeschrieben hat, meine Damen und Herren aus der Beschlüsse nochmals nachzulesen, nämlich niedrigere CDU/CSU und F.D.P., haben Sie zugelassen, daß dieses Steuersätze und eine Nettoentlastung für alle! verfassungsrechtlich zwingend vorgeschriebene Kinder- geld als Sozialklimbim bezeichnet wurde und dessen (Detlev von Larcher [SPD]: Und 40 Milliarden Einsparung als ständig verfügbare Masse zur Gegenfi- Deckungslücke zu machen! Stellen Sie sich nanzierung von Unternehmenssteuererleichterungen zur vor, das wäre in Kraft!) Verfügung stand. Man kam sich ja manchmal wie in ei- Dann sind Sie auf dem richtigen Weg. nem Steinbruch vor. Danke. (Detlev von Larcher [SPD]: So ist es!) (Beifall bei der CDU/CSU) Da haben Sie – Sie haben das auch jetzt wieder erwähnt – das Bundesverfassungsgerichtsurteil zur Vermögen- steuer sehr viel ernsthafter umgesetzt und verteidigt. Vizepräsident Rudolf Seiters: Ich darf auch dem Kollegen Barthle im Namen des Hauses zu seiner ersten Das verlorengegangene Vertrauen der Familien in die Rede gratulieren. Politik geht ganz auf Ihr Konto; das nehmen wir nicht auf unseren Rücken. Deshalb habe ich auch ein weinen- (Beifall) des Auge. Wäre dieses Urteil des Bundesverfassungsge- Ich gebe nunmehr der Kollegin Lydia Westrich von richts bereits vor der Bundestagswahl ergangen, wären der SPD-Fraktion das Wort. Sie in der Familienpolitik mit Pauken und Trompeten Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 17. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1999 1187

Lydia Westrich (A) durchgefallen und wären Ihre Fraktionen mit noch viel Da sagt die Parlamentarische Staatssekretärin(C) kleinerer Besetzung im Bundestag vertreten. Hendricks: Steuererhöhungen sind nicht grundsätzlich auszuschließen. Da sagte der Minister: Es soll keine (Beifall der Abg. Margot von Renesse [SPD]) Steuererhöhungen geben. Da sagt der Parlamentarische Die Frage der Steuergerechtigkeit wird nämlich von den Geschäftsführer: Das Thema Mehrwertsteuer steht im Bürgern viel sensibler aufgenommen, als Sie gedachtZusammenhang mit der EU. Soll hier mit einer Ausrede haben. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ichvielleicht schon vorgebaut werden? Da sagt Frau Scheel: weiß nicht, ob Sie bei der Größe Ihrer Fraktion noch viel keine Verbrauchsteuererhöhung. Dann sagt sie: Ver- zu lachen haben. brauchsteuererhöhung doch, 7 Prozent Ökosteuer. Dann Wir als Sozialdemokratische Partei Deutschlands ha- sagt der Finanzminister wieder: keine Steuererhöhun- ben uns gemeinsam mit unserem Koalitionspartnergen. Dann sagt Frau Simonis: Ehegattensplitting soll Bündnis 90/Die Grünen zum Ziel gesetzt, die Familien- herangezogen werden, also Gegenfinanzierung im glei- politik in dieser Legislaturperiode in den Mittelpunktchen Bereich. unserer Politik zu stellen. Die Erziehung von Kindern (Dr. Barbara Höll [PDS]: Sehr gut!) geht uns nämlich alle etwas an. Frau Matthäus-Maier warnt davor, Geld aus der Öko- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten steuer herauszunehmen. der PDS) Meine Damen und Herren, sind es etwa Scheinge- Sie ist, wie es das Verfassungsgericht ausdrücklich fest- winne, die hier eingesetzt werden sollen? Warum muß stellt, eine gesellschaftliche Aufgabe. Es liegt sehr wohl man überhaupt auf so etwas eingehen? in unserem Interesse, wenn Kinder beispielsweise Mit- glieder in Vereinen werden, um Kontakte unter Gleich- (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Tun Sie es doch altrigen zu finden, in ein soziales Umfeld integriert wer- nicht! – Heiterkeit bei der SPD) den und vorbereitet sind, später einmal ein verantwortli- Da sagt dann die Haushaltsexpertin Titze-Stecher: Das ches Leben in unserer Gesellschaft zu führen. Ganze geht nur bei Verzicht auf Mehrwertsteuererhö- Die Kinder sind unsere Zukunft. In ihren Händenhung oder Ehegattensplitting. Ihr Finanzminister liegt die Zukunft unseres Gemeinwesens, und sie sollen Schleußer aus Nordrhein-Westfalen warnt davor und sich auch in diesem Gemeinwesen zurechtfinden. Des- sagt: Denkt daran, beim Ehegattensplitting ist gar nicht halb sind in unseren Plänen zur Steuerreform zu Recht so viel zu holen. Recht hat er, und zwar aus zwei Grün- bereits umfangreiche Entlastungsmaßnahmen für Fami- den: erstens, weil es finanziell nicht geht, und zweitens, lien mit Kindern enthalten. Mit der Erhöhung des Kin- weil das Verfassungsgericht genau das Gegenteil gesagt dergeldes zum 1. Januar 1999 haben wir eine erste kon- hat. (B) (D) krete Maßnahme ergriffen, die den durch die Erziehung von Kindern entstehenden Mehrbelastungen Rechnung (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) trägt. Sie haben es immer noch nicht kapiert. Da sagt der Natürlich bleibt noch einiges zu tun, damit wir dieHaushaltsexperte Metzger: schmerzhafte Eingriffe in Vorgaben des Urteils erfüllen. Angesichts einer ange-Leistungsgesetze. Meine Damen und Herren, wen trifft spannten Haushaltslage stellt dies natürlich eine große denn das? Doch in erster Linie wieder kinderreiche Fa- finanzpolitische Herausforderung dar. Allerdings kön- milien und diejenigen, denen das Verfassungsgericht ge- nen Sie davon ausgehen, daß wir auch diese meisternrade etwas eingeräumt hat. werden, weil wir das Verfassungsgericht und die Fami- Sie haben zunächst einmal den Schuldenberg gegen- lien ernst nehmen. über den Ländern und Kommunen abzutragen. Vielen Dank. (Dr. Barbara Höll [PDS]: Den Sie angehäuft (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten haben!) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der 1,8 Milliarden DM haben Sie mit dem Kindergelderhö- PDS) hungsgesetz entgegen dem Grundgesetz nicht erfüllt, obwohl es doch die SPD-Länder waren, die im Bundes- Vizepräsident Rudolf Seiters: Ich gebe das Wort rat bei der Neuregelung des Familienlastenausgleiches dem Kollegen Jochen-Konrad Fromme, CDU/CSU-gerade den Rechtsanspruch der Länder und Kommunen Fraktion. durchgesetzt haben. Jetzt halten Sie sich überhaupt nicht daran. Das ist doch eine Schuld, die Sie noch einlösen müssen. Sie werden spätestens im Bundesrat merken, Jochen-Konrad Fromme (CDU/CSU): Herr Präsi- dent! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Dieses daß dies auch eingefordert wird. Urteil steht in einem originären Zusammenhang mit der (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Steuerreform. Sie sollten wegen des Finanzierungszu- Detlev von Larcher [SPD]: Es lohnt sich nicht, sammenhangs nicht von Erblasten sprechen, sondern zuzuhören!) sich um Ihren eigenen finanzpolitischen Trümmerhaufen kümmern. Meine Damen und Herren, im Steuerentlastungsge- setz haben Sie in der letzten Lesung 36 Änderungen an- (Detlev von Larcher [SPD]: Ach, hören Sie gekündigt. Wir haben ja nichts dagegen und würden uns doch auf! Das hilft Ihnen doch auch nichts!) freuen, wenn Sie denn aus den Anhörungen gelernt hät- 1188 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 17. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1999

Jochen-Konrad Fromme (A) ten. Aber ich empfinde es schon als verantwortungslos, Noch im letzten Herbst – ich erinnere mich gut; da(C) die gesamte Wirtschaft und die Menschen mit irgend-geht es gar nicht so sehr um Sie – haben all die klugen welchen angekündigten Änderungen zu beunruhigen – Verfassungsrechtler, Professor Bareis, die Forschungs- das haben wir in der Expertenanhörung deutlich spüren institute, der Steuerzahlerbund gesagt, wir sollten die können – und hinterher dann wieder Teile zurückzu-Anhebung des Kindergeldes, diese Erhöhung des So- nehmen. zialtransfers doch bitte unterlassen – daß sie nicht „So- zialklimbim“ gesagt haben, ist schon ein Wunder – und (Detlev von Larcher [SPD]: Das sagt er nach statt dessen den Spitzensteuersatz senken. Petersberg!) Wenn ich Ihre Steuerpolitik, Herr von Larcher, ansehe, (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des dann muß ich ehrlich sagen: Die Echternacher Spring- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) prozession kommt mir vor wie das 24-Stunden-Rennen Ich persönlich habe mich mit Herrn Schäuble dreimal von Le Mans. auseinandergesetzt, weil er die 250 DM Kindergeld Es geht doch bei Ihnen immer nach der gleichenpartout nicht wollte. Stellen Sie sich einmal vor, wo wir Methode – wir kennen das aus Niedersachsen –: Herrstünden, wenn wir diese 250 DM jetzt nicht hätten. Schröder kündigt 100 Prozent an, nimmt 10 Prozent (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS zurück, läßt sich dafür feiern und macht die Menschen 90/DIE GRÜNEN) vergessen, daß 90 Prozent bleiben. Deshalb sollten Sie sich von dem von allen Experten verworfenen Entwurf Den Vogel in Sachen Heuchelei hat Herr Däke vom verabschieden. Werfen Sie ihn in den Papierkorb! Ma- Steuerzahlerbund abgeschossen. Im letzten Herbst hat chen Sie einen neuen Entwurf unter Berücksichtigung der Steuerzahlerbund eine Schrift herausgegeben „Durch des Bundesverfassungsgerichtsurteils. Dann tun Sie et- Einsparungen die Lasten mindern“. Da heißt es zum was Vernünftiges. Beispiel zum Thema „Familienlastenausgleich“: Schönen Dank. Die geltende Ausgestaltung des Familienlastenaus- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) gleichs geht deutlich über das verfassungsrechtlich Gebotene hinaus Vizepräsident Rudolf Seiters: Der Kollege From- (Heiterkeit bei der SPD) me hat seine erste Rede gehalten. Auch ihm darf ich da- zu gratulieren. und ist daher fiskalisch entsprechend teuer. (Beifall) Weiter unten steht geschrieben, man könnte aus dem (B) Familienlastenausgleich fiskalisch 8,5 Milliarden DM(D) Ich gebe nunmehr als letzter Rednerin der Kollegin herausholen. Ingrid Matthäus-Maier von der SPD-Fraktion das Wort. Gestern hat Herr Däke in der „Welt“ ein Interview gegeben, in dem er gefragt wurde, wie die Notwendig- Ingrid Matthäus-Maier (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die keit, das Urteil umzusetzen, finanziert werde. Da sagte Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes bestätigt er, sie hätten Vorschläge für Einsparungen gemacht: bei die Zielsetzung der Politik dieser Bundesregierung, die den Sozialtransfers und bei den Fördermitteln. Da Familien mit Kindern finanziell zu entlasten. Wir haben könnte man kurzfristig 40 Milliarden DM herausholen. vor der Wahl gesagt, aus ökonomischen, familienpoliti- (Heiterkeit bei der SPD) schen und verfassungsrechtlichen Gründen werden wir das Kindergeld auf 250 DM anheben. Wir haben dieses Das stelle man sich einmal vor: Zuerst verlangt dieser Versprechen gehalten. famose Herr Däke die Kürzung des Familienlastenaus- gleichs um 8,5 Milliarden DM, um den Spitzensteuer- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS satz zu senken. Dann hofft er auf das kurze Gedächtnis 90/DIE GRÜNEN) der Menschen und der Medien und sagt uns gestern, wir Ich erinnere mich, wie wir über all die Jahre kämpfen könnten die 8,5 Milliarden DM, die er verfassungswid- mußten. Wir mußten doch praktisch jede rig aus dem Familienlastenausgleich herausnehmen will, Kindergelderhöhung, auch von nur 10 DM, mühsam aus benutzen, um Karlsruhe zu bezahlen. – Meine Damen der Nase ziehen. und Herren, das ist ein Abgrund von Heuchelei. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS) Er und Sie haben immer erst dann gehandelt, wenn Karlsruhe Sie dazu verurteilt hatte. Haben Sie vergessen, Wir alle, egal ob Schwarz, Rot, Grün oder Blaugelb, wie schön die Kollegin Margot von Renesse einmal ge- sollten das, was dieser Mann, der im Moment durch die sagt hat: „Theo Waigel verhält sich wie ein unterhalts- Talk-Shows zieht, zu diesem Thema äußert, zurückwei- pflichtiger Vater, der erst dann zahlt, wenn er voll-sen. streckbar verurteilt ist.“? Meine Damen und Herren, das (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS war doch die Situation. 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE der PDS – Detlev von Larcher [SPD]: Herr GRÜNEN und der PDS) Däke ist CDU-Mitglied!) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 17. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1999 1189

Ingrid Matthäus-Meier (A) Herr Hauser hat gesagt, wir hätten uns zu den Kin-nachbessern müssen. Das tun wir auch. Staatssekretärin (C) derbetreuungskosten nie geäußert. Das ist nicht richtig. Hendricks hat das Vorgehen bis zum Sommer angespro- Ich gebe gerne zu: In diesem Gesetzentwurf steht davon chen. nichts. Wir sind belehrt worden, das zu ändern. Das ist Die Familien können sich auf eines verlassen: Wir gut so. Aber darf ich Sie darauf hinweisen, daß zum werden sowohl die Eheleute mit Kindern als auch die Beispiel im familienpolitischen Programm der Fraktion, Alleinerziehenden mit Kindern berücksichtigen. Sie das unter Leitung von Frau Ulla Schmidt erarbeitet wur- werden in dem Gesetzentwurf, den wir vorlegen werden, de, ausdrücklich steht: „steuerliche Berücksichtigung entlastet werden. Sie werden als Gewinner daraus her- von Kinderbetreuungskosten nicht nur für Alleinstehen- vorgehen. Darauf können sich Familien mit Kindern de“. Sie können gerne kritisieren, daß wir das noch nicht verlassen. gemacht haben. Ich danke Ihnen. Aber darf ich Sie auch daran erinnern, wie oft ich unter Ihrem Hohngelächter folgendes gesagt habe: Es (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE kann doch wohl nicht sein, daß die Kindergartenbeiträge GRÜNEN und der PDS) für Otto Normalverbraucher nicht von der Steuer ab- setzbar sind Vizepräsident Rudolf Seiters: Meine Damen und (Beifall bei der PDS) Herren, die Aktuelle Stunde ist damit beendet. Wir sind – da erinnert man sich noch gut –, während es durch das am Schluß unserer Tagesordnung. Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende. Dienstmädchenprivileg für reiche Leute möglich ist, die Kindergärtnerin vom Vormittag für die Betreuung der Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- Kinder am Nachmittag von der Steuer abzusetzen? destages auf Mittwoch, den 27. Januar 1999, 14 Uhr ein. Die Gedenkstunde zum Gedenktag für die Opfer des (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Nationalsozialismus beginnt um 11 Uhr. GRÜNEN und der PDS) Die Sitzung ist geschlossen. Bei uns war das ein Thema. Ich gebe gerne zu: In un- serem Gesetzentwurf steht es nicht. Wir werden da (Schluß der Sitzung 13.16 Uhr)

(B) (D) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 17. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1999 1191

(A) Anlagen zum Stenographischen Bericht (C)

Anlage 1 entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich Liste der entschuldigten Abgeordneten Labsch, Werner SPD 22.1.99 entschuldigt bis Abgeordnete(r) Lemke, Steffi BÜNDNIS 90/ 22.1.99 einschließlich DIE GRÜNEN Andres, Gerd SPD 22.1.99 Lengsfeld, Vera CDU/CSU 22.1.99 Austermann, Dietrich CDU/CSU 22.1.99 Lippmann-Kasten, PDS 22.1.99 Heidi Bachmaier, Hermann SPD 22.1.99 Dr. Bartsch, Dietmar PDS 22.1.99 Lohmann (Neubranden- SPD 22.1.99 burg), Götz-Peter Bierwirth, Petra SPD 22.1.99 Maaß (Wilhelmshaven), CDU/CSU 22.1.99 Dr. Blank, CDU/CSU 22.1.99 Erich Joseph-Theodor Dr. Merkel, Angelika CDU/CSU 22.1.99 Brüderle, Rainer F.D.P. 22.1.99 Möllemann, Jürgen W. F.D.P. 22.1.99 Brudlewsky, Monika CDU/CSU 22.1.99 Neumann (Bramsche), SPD 22.1.99 Bulling-Schröter, Eva PDS 22.1.99 Volker Buntenbach, Annelie BÜNDNIS 90/ 22.1.99 Niebel, Dirk F.D.P. 22.1.99 DIE GRÜNEN Nietan, Dietmar SPD 22.1.99 Deligöz, Ekin BÜNDNIS 90/ 22.1.99 DIE GRÜNEN Nooke, Günter CDU/CSU 22.1.99 Dietzel, Wilhelm CDU/CSU 22.1.99 Pau, Petra PDS 22.1.99 Eymer, Anke CDU/CSU 22.1.99 Dr. Pfaff, Martin SPD 22.1.99 Friedhoff, Paul K. F.D.P. 22.1.99 Dr. Protzner, Bernd CDU/CSU 22.1.99 (B) (D) Friedrich (Altenburg), SPD 22.1.99 Roth (Gießen), Adolf CDU/CSU 22.1.99 Peter Rühe, Volker CDU/CSU 22.1.99 Glos, Michael CDU/CSU 22.1.99 Rupprecht, Marlene SPD 22.1.99 Götz, Peter CDU/CSU 22.1.99 Scharping, Rudolf SPD 22.1.99 Günther (Plauen), F.D.P. 22.1.99 Joachim Schmidt (Eisleben), SPD 22.1.99 Silvia Hanewinckel, Christel SPD 22.1.99 Dr. Schuchardt, Erika CDU/CSU 22.1.99 Hartnagel, Anke SPD 22.1.99 Schultz (Everswinkel), SPD 22.1.99 Hasenfratz, Klaus SPD 22.1.99 Reinhard Hasselfeldt, Gerda CDU/CSU 22.1.99 Dr. Schwarz-Schilling, CDU/CSU 22.1.99 Hauser (Bonn), CDU/CSU 22.1.99 Christian Norbert Siebert, Bernd CDU/CSU 22.1.99 Herzog, Gustav SPD 22.1.99 Dr. Stadler, Max F.D.P. 22.1.99 Höfken, Ulrike BÜNDNIS 90/ 22.1.99 DIE GRÜNEN Dr. Thalheim, Gerald SPD 22.1.99 Hohmann, Martin CDU/CSU 22.1.99 Thiele, Carl-Ludwig F.D.P. 22.1.99 Imhof, Barbara SPD 22.1.99 Dr. Tiemann, Susanne CDU/CSU 22.1.99 Jelpke, Ulla PDS 22.1.99 Uldall, Gunnar CDU/CSU 22.1.99 Knoche, Monika BÜNDNIS 90/ 22.1.99 Willner, Gert CDU/CSU 22.1.99 DIE GRÜNEN Wissmann, Matthias CDU/CSU 22.1.99 Kossendey, Thomas CDU/CSU 22.1.99 Wolf (München), SPD 22.1.99 Kraus, Rudolf CDU/CSU 22.1.99 Hanna Küchler, Ernst SPD 22.1.99 Zeitlmann, Wolfgang CDU/CSU 22.1.99 1192 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 17. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22. Januar 1999

(A) Anlage 2 gleichsforderung für die Jahre 1996 bis 1998 in Höhe von 5,7 Milliar- (C) den DM. Der Bundesrat erwartet, daß der Deutsche Bundestag im weiteren Gesetzgebungsverfahren zum Steuerentlastungsgesetz eine Amtliche Mitteilungen Regelung beschließt, die der verfassungsrechtlich abgesicherten Lastenverteilung beim Familienleistungsausgleich entspricht und eine Kompensation der Einnahmenausfälle bei Ländern und Gemeinden Der Bundesrat hat in seiner 733. Sitzung am 18. De- sicherstellt. zember 1998 beschlossen, den nachstehenden Gesetzen Entschließung des Bundesrates zum Gesetz zur Stärkung der Solidarität in zuzustimmen bzw. einen Antrag gemäß Artikel 77 Ab- der gesetzlichen Krankenversicherung – GKV-Solidaritätsstärkungsgesetz satz 2 Grundgesetz nicht zu stellen: – GKV-SolG a) Der Bundesrat unterstützt nachdrücklich die zentralen Anliegen des – Siebtes Gesetz zur Änderung des Parteiengesetzes vorliegenden Gesetzes, zu den Grundprinzipien einer solidarisch finan- – Gesetz zur Änderung des Gesetzes über die Rechtsverhältnisse der zierten, paritätischen sozialen Krankenversicherung zurückzukehren, Parlamentarischen Staatssekretäre die Finanzgrundlagen der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) kurzfristig zu stabilisieren und damit die Voraussetzungen für eine – Gesetz zu Korrekturen in der Sozialversicherung und zur Siche- grundlegende Strukturreform in der GKV zum Jahr 2000 zu schaffen. rung der Arbeitnehmerrechte Er begrüßt, daß damit – wie von ihm in der Vergangenheit wiederholt – Gesetz zur Änderung des Versorgungsreformgesetzes 1998 und anderer gefordert – der Weg der zunehmenden Aushöhlung der Funktionstüch- Gesetze (Versorgungsreform-Änderungsgesetz – VReformGÄndG) tigkeit der GKV, wie er von der alten Bundesregierung in den letzten – Gesetz zur Änderung des Einführungsgesetzes zur Insolvenzord- Jahren beschritten wurde, gestoppt wird. nung und anderer Gesetze (EGInsOÄndG) b) Wesentliche Elemente des Gesetzes erfüllen vom Bundesrat seit länge- rem nachdrücklich vertretene Forderungen. Dies gilt insbesondere für – Steueränderungsgesetz 1998 – die Aufhebung des Kopplungsautomatismus von Beitragserhöhun- – Viertes Gesetz zur Änderung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes gen mit weiteren Zuzahlungsanhebungen, (4. StUÄndG) – die Beseitigung klassischer Elemente der privaten Versicherungs- – Gesetz zu dem Abkommen vom 18. September 1998 zwischen der wirtschaft (Selbstbehalte, Beitragsrückgewähr u. a.), die die solidari- Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen schen Finanzierungsgrundlagen der GKV, namentlich die Solidarität Zentralbank über den Sitz der Europäischen Zentralbank der Gesunden mit den Kranken, tendenziell aushöhlen, – Steuerentlastungsgesetz 1999 – die Rückkehr zu qualitäts- und kostensteuernden Strukturen in der – Gesetz zur Stärkung der Solidarität in der gesetzlichen Krankenver- zahnmedizinischen Versorgung für alle Versicherten, unabhängig sicherung – GKV-Solidaritätsstärkungsgesetz – GKV-SolG von ihrem Alter, – den Einstieg in eine Rückführung der überhöhten Zuzahlungen vor Zu den beiden letztgenannten Gesetzen hat der Bun- allem für chronisch Kranke und ältere Versicherte. c) Der Bundesrat weist darauf hin, daß die Finanzneutralität des Gesetzes desrat die folgenden Entschließungen gefaßt: für die gesetzliche Krankenversicherung im Jahr 1999 bewahrt bleiben Entschließung des Bundesrates zum Steuerentlastungsgesetz 1999: muß. Aufgrund des erreichten Beitragssatzniveaus in der GKV und seines unmittelbaren Einflusses auf das Ziel der mittelfristigen Rück- 1. Der Bundesrat geht bei der Zustimmung zum Steuerentlastungsgesetz führung der Lohnnebenkosten auf unter 40 % hat die Stabilität der Bei- 1999 davon aus, daß das mit dem Entwurf eines Steuerentlastungsge- tragssätze der GKV höchste Priorität setzes 1999/2000/2002 (Drucksache 910/98) über eine Verbreiterung steuerlicher Bemessungsgrundlagen insgesamt vorgesehene Volumen d) Der Bundesrat geht davon aus, daß im Rahmen der von der Bundes- zur Finanzierung der Entlastungsmaßnahmen vom Deutschen Bundes- regierung zum 1. Januar 2000 angekündigten durchgreifenden Struktur- (B) tag so beschlossen wird. Angesichts der schwierigen Lage der öffentli- reform in der GKV Gelegenheit bestehen wird, auf eventuelle Pro-(D) chen Haushalte sind Steuerausfälle, die über die im Entwurf des Steuer- blemlagen, die mit dem Gesetz verbunden sein könnten, angemessen zu entlastungsgesetzes genannten rd. 15 Milliarden DM hinausgehen, nicht reagieren. Er teilt die Ziele der Strukturreform, für mehr Wettbewerb zu verkraften. um Qualität, Wirtschaftlichkeit und effizientere Versorgungsstrukturen zu sorgen. Von der zu Beginn des Jahres 2000 in Kraft tretenden 2. Durch das Steuerentlastungsgesetz 1999 (Anhebung des Kindergeldes Strukturreform sind ausreichend Impulse zu erwarten, um die GKV zum 1. Januar 1999) erhöht sich der Ausgleichsanspruch der Länder dauerhaft leistungsfähig und bezahlbar zu erhalten. Der Bundesrat wird gegenüber dem Bund bei der Finanzierung des Familienleistungsaus- die Ausgestaltung der Strukturreform von Beginn an konstruktiv be- gleichs für 1999 auf rd. 4 Milliarden DM; weiterhin besteht eine Aus- gleiten.

Druck: Bonner Universitäts-Buchdruckerei, 53113 Bonn Vertrieb: Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft mbH, Postfach 13 20, 53003 Bonn, Telefon: 02 28/3 82 08 40, Telefax: 02 28/3 82 08 44 ISSN 0720-7980 Deutscher Bundestag

Stenographischer Bericht

Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus

Gedenkstunde des Deutschen Bundestages

Bonn, Mittwoch, den 27. Januar 1999

I n h a l t :

Präsident Wolfgang Thierse...... 1193 A Bundespräsident Dr. Roman Herzog...... 1195 A Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – Bonn, Mittwoch, den 27. Januar 1999 1193

(A) (C)

Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus

Gedenkstunde des Deutschen Bundestages

Bonn, Mittwoch, den 27. Januar 1999

Beginn: 11.01 Uhr

Präsident Wolfgang Thierse: Herr Bundespräsi- Gesellschaft in einem Generationswechsel stehen. Vie- dent! Herr Bundeskanzler! Herr Bundesratspräsident!les von dem, was zuletzt kontrovers erörtert wurde, Frau Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts! Liebe hängt wohl zusammen mit dem Aufeinandertreffen un- Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Gäste! Wir geden- terschiedlicher Erfahrungen und Sichtweisen. Zu der ken heute, am Tag der Befreiung des Konzentrations-Generation derer, die die Schrecken des Nationalsozia- und Vernichtungslagers Auschwitz vor 54 Jahren, aller lismus aus eigenem Erleben, aus schlimmsten Erfahrun- Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Der gen kennen, und der Generation der Töchter und Söhne (B) 27. Januar ist unser nationaler Gedenktag. Sie, sehr ver- der Opfer und der Täter treten die Jüngeren, denen das(D) ehrter Herr Bundespräsident, haben ihn 1996 prokla-ganze Ausmaß des Grauens, die Mechanismen der Aus- miert und damals betont, daß gerade dieses Gedenken grenzung, die menschenverachtende Brutalität der Täter, nicht in Ritualen erstarren darf. die Ignoranz und Gleichgültigkeit der Masse und vor allem das unermeßliche Leid der Opfer nur über histori- Der 27. Januar ist für uns Deutsche Anlaß, öffentlich, sches, also vermitteltes Wissen zugänglich gemacht aber auch jeweils persönlich zurückzublicken auf eine werden können. Die Frage dieser Vermittlung müssen Phase unserer jüngeren Geschichte, auf ein Geschehen, wir deshalb über fünf Jahrzehnte nach der Befreiung von das noch immer alle Vorstellungskraft sprengt. Gerade Auschwitz neu diskutieren. Die genannte Debatte hat deshalb ist es unverzichtbar, im Erinnern zugleich diegezeigt, daß veränderte und erweiterte Zugänge zum Aufgaben der Gegenwart und Zukunft ins Auge zu fas- Geschehenen notwendig sind. Wir brauchen den gesell- sen. Theodor W. Adornos bekannte Feststellung, die er- schaftlichen Diskurs über das richtige Maß, die ange- ste Aufgabe an jede Erziehung sei, dafür Sorge zu tra- messenen Formen des Erinnerns, wie Sie, sehr geehrter gen, daß sich Auschwitz niemals wiederholen könne,Herr Bundespräsident, in Ihrer Rede am 9. November richtet sich in der Bürgergesellschaft an jeden einzelnen letzten Jahres in Berlin festgestellt haben. von uns. Deshalb ist dieser Gedenktag eine nachdrückli- che Forderung zur Wachsamkeit. Die Erinnerung an das Das richtige Maß, die angemessene Form zu finden millionenfache Leid, das die nationalsozialistische Ge- verlangt nach einer Prüfung in zweierlei Richtung: Was waltherrschaft mit ihrem menschenverachtenden Ras-ist dem entsetzlich Geschehenen angemessen? Was ist senwahn über Europa und andere Teile der Welt ge-für Gegenwart und Zukunft richtig? Ein Zuviel kann bracht hat, verlangt, schon den Anfängen jeder Wieder- problematisch sein, ein Zuwenig erst recht. „Darf man holungsgefahr entgegenzutreten. nicht wissen wollen?“ – So hat Thomas Mann gefragt und nach 1945 mit einem entschiedenen Nein geant- Um das gemeinsame Erinnern an das Geschehene hat wortet. Dieses Nein gilt bis heute für alle Demokraten es in den vergangenen Wochen und Monaten in derund – so hoffe ich – mit gleicher Entschiedenheit. Hal- deutschen Öffentlichkeit eine intensive Debatte gege-ten wir daran fest: Verpflichtende Erinnerung, Gedenken ben. Ich will auf die Art und Weise dieser Auseinander- der Leiden der Opfer, Übernahme der geschichtlichen setzungen nicht eingehen, insbesondere nicht über Stil- Verantwortung – das war das moralische Fundament, fragen urteilen. Wichtiger und zukunftsweisender ist die das gehörte zur Raison d'être der neubegründeten deut- Feststellung, daß diese Debatte notwendig und nützlich schen Demokratie, der Bundesrepublik Deutschland. Es ist. Wenn ich sie richtig wahrgenommen habe, hat diese gibt keine kollektive Schuld, gewiß; aber das heißt nicht, Debatte deutlich gemacht, daß wir derzeit in Politik und daß die Katastrophe von 1933 bis 1945 im kollektiven 1194 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – Bonn, Mittwoch, den 27. Januar 1999

Präsident Wolfgang Thierse (A) Gedächtnis der Deutschen je getilgt werden dürfte. Inwiß nicht von allen in der DDR – zunehmend als auto- (C) ihm muß vielmehr unser fester Wille aufbewahrt sein, ritär und formelhaft empfunden und waren von proble- nie wieder eine solche schreckliche Diktatur, in welcher matischer Wirkung. Die Erfolge der Rechtsextremisten Form auch immer, zuzulassen. gerade in ostdeutschen Ländern sind auch ein spätes Echo solch unfreier Erinnerung. (Zustimmung) Wenn wir diese widersprüchlichen Erfahrungen ernst Es ist deswegen die Aufgabe der jetzigen wie dernehmen, dann können wir mit aufmerksamer Gelassen- künftigen Generationen, durch die Übernahme der poli- heit feststellen: Jede Generation hat das Recht und steht tischen Haftung Verantwortung für die Vergangenheit vor der Herausforderung, ihre eigene Form des Geden- zu übernehmen und das Bewußtsein für die von einem kens zu entwickeln. Sie muß sich dem Geschehen auf deutschen Staat begangenen Unmenschlichkeiten wach- ihre Art und Weise stellen, ihren eigenen Zugang suchen zuhalten. Die Sorge um die Erinnerung darf deswegen und finden. Nur so halten wir unser kollektives Ge- keine lästige Trauer sein und schon gar nicht in formel- dächtnis in einer Weise lebendig, die für Jüngere und ler Ritualisierung erstarren, sowenig Erinnerung gänz- Ältere, für Angehörige der Erlebnisgeneration wie ihre lich ohne Riten auskommt. Kinder und Kindeskinder einen gemeinsamen Horizont des Verstehens und zugleich eine Basis des Gesprächs Gerade wegen dieser gemeinsamen Grundüberzeu- über das Geschehene bietet. gung gilt es, uns in Gesellschaft und Politik über die Art und Weise des Erinnerns und Gedenkens immer neu zu Ich halte es im übrigen für ein Zeichen der Stärke un- verständigen. Ich möchte in diesem Zusammenhang auf serer Demokratie, daß wir über diese Fragen gegenwär- zwei problematische Erfahrungen hinweisen. Zumtig so intensiv debattieren. Es ist ein Stück Selbstaufklä- einen: Historische Aufklärung soll und kann politisches rung der Gesellschaft, wenn sie öffentlich darüber dis- Bewußtsein schaffen und das Geschehene in Erinnerung kutiert, wie sie mit der Vergangenheit, mit der Erinne- rufen. Daß sie auch zur Trauer um die Toten, zu Em-rung an die Zeiten der Inhumanität und Menschenver- pathie mit den Opfern führt, dessen können wir nichtachtung, der Diskriminierung und des Genozids umge- mehr so sicher sein. Zur Dialektik der Aufklärung – das hen kann und will. Gerade deswegen ist die Kontroverse wissen wir inzwischen – gehört eben auch, daß sie alsum ein Holocaust-Denkmal in Berlin von solchem Ge- einseitige, gar bloß rationale ihr Gegenteil bewirkenwicht, und gerade deshalb gehört diese Debatte auch in kann, nämlich die Kälte der Verdrängung. Insofern darf unser Parlament. Der Deutsche Bundestag wird sich in gerade in der Annäherung an die nationalsozialistischen den nächsten Wochen und Monaten diesem Thema auf Verbrechen nicht versäumt werden, das Entsetzliche so verantwortliche Weise widmen und hoffentlich zu einer zu vermitteln, daß es auch mit dem Herzen erfahren und tragfähigen und überzeugenden Entscheidung kommen. (B) begriffen wird. Insofern auch ist Gedenken immer mehr Meine Damen und Herren, neue Ansätze des Erin-(D) als aufgeklärtes Wissen, sosehr dieses Gedenken immer nerns – das bedeutet auch andere Formen des Geden- auch und neu des Anstoßes durch historische, bestimmte kens im Deutschen Bundestag. Wir hören nun drei Stük- Erinnerung bedarf. ke aus dem „Requiem für einen polnischen Jungen“ – Zugleich aber gilt es, den jungen Menschen histori- einem Werk, das der Heidelberger Komponist Dietrich sches Wissen und emotionale Betroffenheit so zu ver-Lohff nach Texten von Opfern der Nationalsozialisten mitteln, daß sie eine Beziehung zur Gegenwart, also ge- verfaßt hat. genwärtige moralische Sensibilität und politische Ver- Die Kunst ist ein wichtiges Medium der Erinnerung, antwortung ermöglichen. Betroffenheit, die bloß ratlos ein anderes ist die Sprache. Sie, sehr geehrter Herr macht, Wissen, das folgenlos bleibt, solcherart Ergeb- Bundespräsident, haben das öffentliche Wort stets in nisse von Erinnerungsarbeit sind nicht menschengemäß ganz besonders unverwechselbarer Weise zu nutzen und gesellschaftlich folgenlos. Die Gefährdungen dergewußt: zu kritischen und differenzierten Stellung- Demokratie, die Mechanismen von Stigmatisierung und nahmen, aber ebenso zu Aussagen, die verbinden und Ausgrenzung, die Ursachen, Erscheinungsformen und Gemeinschaft schaffen, Worte, in denen die gemein- Wirkungen von Intoleranz und Rassenwahn zu begreifen samen Aufgaben, Ziele und Überzeugungen unserer und mit diesem Wissen und Empfinden die Gegenwart parlamentarischen Demokratie zum Ausdruck kom- zu beobachten und in ihr zu handeln, darum geht es.men. Diese Übereinstimmung deutlich zu machen ist Was damals Juden, Sinti und Roma, Behinderte, Homo- an keinem Tag wichtiger als an unserem Gedenktag für sexuelle, politische Gegner waren, das können heute an- die Opfer des Nationalsozialismus. Ich möchte Sie dere Personen und Gruppen sein, die durch Stigmatisie- deshalb bitten, nach dem Requiem das Wort zu ergrei- rungsprozesse ausgegrenzt werden. fen und zu uns zu sprechen. Eine zweite problematische Erfahrung bringe ich aus der DDR mit: Gedenken darf niemals verordnetes, gar (Dietrich Lohff: zwanghaftes Erinnern sein. Dies hat der staatlich ange- Requiem für einen polnischen Jungen ordnete Antifaschismus uns nachdrücklich vor Augen geführt. Aus einem ehedem authentischen und glaub- Teil I würdigen Antifaschismus wurde ein ideologisches Herr- Musikalische Gestaltung: schaftsinstrument zur moralischen Legitimierung der Bonner Kammerchor, Kammerorchester SED-Diktatur. So wurden Gedenken und Erinnerung an die nationalsozialistischen Verbrechen von vielen – ge- Leitung: Peter Henn) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – Bonn, Mittwoch, den 27. Januar 1999 1195

(A) Bundespräsident Dr. Roman Herzog: Herr Präsi- Namen Bubis und Walser verbindet. Es ist ohnehin im-(C) dent! Exzellenzen! Meine Damen und Herren! Wasmer gut, wenn sich Positionen klären und wenn nicht Menschen anderen Menschen an Leid und Grausamkei- unausgesprochen bleibt, was viele Menschen – so oder ten zufügen können, das ist tief in das individuelle wie so – denken. Aber diese Debatte hat auch viele Gedan- in das gemeinschaftliche Gedächtnis der Deutschen ein- ken zutage gefördert, die wir in ihrer Bedeutung erst gebrannt. Der heutige Tag, der auf die Befreiung vonrichtig erkennen werden, wenn sich der unvermeidliche Auschwitz hinweist, ist bleibende Erinnerung daran. Pulverdampf verzogen haben wird. Aber die vergangenen Monate haben doch auch wie- Ich will aber auch sagen, was mich an dieser De- der gezeigt, daß wir – worauf ich oft genug hingewiesen batte gestört hat. Martin Walsers Rede – man mag zu habe – die bleibende Form dieses Erinnerns noch nicht ihr stehen, wie man will; jedenfalls hat sie nicht für das gefunden haben. Wieder ist eine Debatte darüber ent-Vergessen plädiert – hat eine wichtige Auseinanderset- standen, in welcher Form wir uns redlich an die Verbre- zung in unserer Öffentlichkeit provoziert und sollte das chen des Nationalsozialismus erinnern sollten, ja sogar wohl auch. Diese Auseinandersetzung hat in der Tat auch wieder darüber, ob es – fünfzig Jahre nach demauch stattgefunden, teils in bemerkenswerten Diskussi- Ende des Grauens – überhaupt noch notwendig sei, daß onsbeiträgen von dritter Seite, teils in dem faszinieren- wir uns immer wieder von neuem selbst mit diesem Teil den, glücklicherweise dokumentierten Streitgespräch unserer Geschichte konfrontieren. zwischen den beiden Hauptkontrahenten. Daneben aber gab es gewissermaßen business as usual: Schon nach Ich werde sogleich noch ein paar Worte zu den ernst- kurzer Zeit fielen Teile der allgemeinen Debatte wieder hafteren Teilen der Diskussion sagen. Vorweg aber das in die alten Muster gegenseitiger Beschuldigung zu- eine: Wer je den Gedanken an ein Ende des Erinnernsrück – als stünden hier die ewigen Verdränger oder gar erwogen hat, der sollte davon so schnell wie möglichLeugner und dort die ewigen Beschuldiger, ja Selbst- ablassen. Das hat noch nicht einmal etwas mit National- beschuldiger. Solche Art der Auseinandersetzung ist sozialismus und Holocaust zu tun, sondern es ergibt sich unsinnig und fruchtlos. Der Holocaust ist das aller- aus zwei ganz einfachen, fast möchte ich sagen: banalen letzte, was wir solchen primitiven Denkschablonen Erfahrungen. oder, sagen wir es deutlich: der political correctness überlassen dürfen. Ohne gründliches Wissen um seine Geschichte kann auf die Dauer kein Volk bestehen. Das war in denIch möchte nicht mißverstanden werden. Was ich hier jüngstvergangenen Jahrzehnten zwar nicht immer völlig kritisiere, lag nicht an Ignatz Bubis. Ignatz Bubis legt unbestritten; aber diese Zeit ist, wenn ich recht sehe,natürlich immer wieder den Finger in Wunden, die weh vorbei. So frei und so souverän ist überhaupt kein Volk, tun, und löst damit auch manche heftige Reaktion aus. (B) daß es ohne Wissen um seine Vergangenheit bestehen Aber er hat den Schrecken der Lager am eigenen Leibe(D) könnte. erlebt, und er hat seine Angehörigen dort verloren. Er hat also jedes Recht, in Fragen unserer Geschichte emp- Wenn ein Volk aber versucht, in und mit seiner Ge- findlich, ja auch einmal leidenschaftlich zu reagieren. schichte zu leben, dann ist es sehr gut beraten, in und Dennoch: Ich habe mehr als einmal erlebt, wie gerade er mit seiner ganzen Geschichte und nicht nur mit ihren im Ausland für das heutige Deutschland eintritt und wie guten und erfreulichen Teilen zu leben. Ich habe es er auch Ansprüche, die er für ungerecht hält, mit aller schon des öfteren gesagt und wiederhole es hier bewußt: Entschiedenheit zurückweist. Viel zu wenige bei uns Für mich ist jeder Versuch, die Verbrechen des Natio- wissen um die Angriffe, denen er auch dieserhalb ausge- nalsozialismus aus der geschichtlichen Erinnerung aus- setzt ist. Ich sage es geradeheraus: Ignatz Bubis ist ein zublenden, letztlich nur eine besondere Form intellektu- deutscher Patriot. eller Feigheit, und Feigheit ist das letzte, was ich von meinem Volk erleben möchte. Das hat für mich auch (Beifall) nichts damit zu tun, ob uns andere immer wieder an un- sere Geschichte erinnern, ja nicht einmal damit, aus Aber ich will hier nicht über Personen reden, sondern welchen Gründen und mit welcher Absicht sie das tun. über die hinter uns liegende Debatte. An ihr hat mich Unserer Geschichte haben wir uns ohne Rücksicht dar- noch etwas ganz anderes nachdenklich gestimmt. Wie- auf zu stellen, was andere aus ihr machen, und übrigens der einmal hat sie sich fast ausschließlich unter Vätern auch ohne Rücksicht darauf, was andere aus ihrer eige- und Großvätern, unter Müttern und Großmüttern abge- nen Geschichte machen. Aufrechnungen und Hinweise spielt, und das, obwohl wir doch wissen, wie ernsthaft auf die Defizite anderer lenken nur von der Sache ab.sich große Teile unserer Jugend gerade auch mit den Wenn ich mich unserer Geschichte zu stellen versuche, Schattenseiten unserer Vergangenheit beschäftigen. Es versuche ich das nicht in Schande, sondern ich versuche ist ja nur die eine Seite der Realität, wenn immer wieder es in Würde und mit Redlichkeit. darauf hingewiesen wird, daß vielleicht ein Viertel die- ser Jugend von den damaligen Verbrechen nichts weiß. Aber – der Bundestagspräsident sagte es bereits – wir Andersherum gelesen bedeutet das doch, daß dann drei leben in einer Zeit des Generationswechsels, in einerViertel sehr wohl Bescheid wissen. Ich möchte von hier Zeit des Übergangs von der Erinnerung an Erlebtes zur aus gerade jenen Opfern der NS-Zeit meinen Dank sa- Erinnerung an Mitgeteiltes. In einer solchen Zeit ist es gen, die weder Mühe noch Aufwand, noch Schmerz unerläßlich, daß man sich der Formen des Erinnernsscheuen, um ihre Geschichte und ihre Erlebnisse in Ge- noch einmal in allem Ernst vergewissert. Deshalb war es sprächen mit jungen Menschen weiterzugeben, solange gut, daß die Debatte stattgefunden hat, die sich mit den es Alter und Gesundheit eben zulassen. 1196 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – Bonn, Mittwoch, den 27. Januar 1999

Bundespräsident Dr. Roman Herzog (A) Dennoch bleibt es wahr: Auch in der jüngsten De-nisse über den Nationalsozialismus bei unseren Jugend- (C) batte haben sich die jungen Menschen kaum hörbar ge- lichen und jungen Erwachsenen beachtlich sind, vor al- macht. Ich frage mich, woran das liegt, denn, wie ge-lem aber, daß das Interesse, sich weiterhin damit zu be- sagt, an fehlendem Wissen und fehlendem Interesseschäftigen, groß ist. Es sind eher einige der Älteren, der kann es nach allem, was ich weiß und beobachte, nicht 60- bis 70jährigen, die ihre Verdrängungswünsche auf liegen. Ich stelle nur eine Frage: Liegt es vielleicht dar- die Jugend projizieren oder sie ihr sogar einreden wol- an, daß die ältere Generation – was ihr gewiß niemand len. Das macht mir Mut zu sagen: Ich sehe eher die verübeln kann – wieder einmal über ihre eigenen Ver- Chancen. wicklungen und Verkrampfungen diskutiert hat, nicht aber darüber, was das alles für die jungen Menschen be- Die jüngeren Leute kennen – ich nenne nur ein paar deutet und welche Konsequenzen diese aus der Ge-Beispiele – die Tagebücher von Anne Frank, das Hitler- schichte ziehen sollen? Liegt es vielleicht sogar daran, Buch von Sebastian Haffner, die Tagebücher von Viktor daß diese Jugend längst dabei ist, ihr eigenes Verhältnis Klemperer, sie haben die Holocaust-Serie und „Schind- zu dieser Geschichte zu gewinnen, ohne daß das schon lers Liste“ gesehen, sie fahren an die Orte des Schrek- in greifbaren Formeln seinen Ausdruck gefunden hätte? kens, sie pflegen Gedenkstätten und Gräber, sie arbeiten an Dokumentationsprojekten ihrer Schulen mit, und sie Wie auch immer: Wenn es so wäre, dann hätten wir sehen sich auch die historischen Sendungen im Fernse- darauf mehr zu achten als auf „richtiges“ Reden in der hen an. Kein anderes Thema hat beim Schülerwettbe- Eltern- und Großelterngeneration. Denn wie die jungen werb zur deutschen Geschichte so viele Einsendungen Menschen, die die Zukunft unseres Volkes bestimmen gehabt wie die Ausschreibungen zum Thema „Alltag im werden, über die Frage denken, ist heute schon ungleich Nationalsozialismus“. Keine Frage: Unsere jungen wichtiger als alle Auseinandersetzungen und Begriffs- Leute diskutieren und forschen, sie fragen, sie schauen klärungen zwischen denen, die sich damit nunmehr seit hin. über 50 Jahren befassen. Darin liegt die Chance, die Erinnerung wachzuhalten. Es geht heute ja nicht mehr so sehr um die Frage, ob, Dazu gehört es dann aber, daß die jüngeren Generatio- sondern es geht um die Frage, in welcher Weise wir uns nen nicht nur passive Zuhörer der alten bleiben. Ich erinnern sollen. Die besondere Bedeutung, die diesemöchte direkt an diese Jüngeren appellieren, meine Da- Fragestellung heute bekommt, entsteht dadurch, daß in- men und Herren: Wir brauchen Sie auch als aktive Dis- zwischen die weit überwiegende Mehrheit der Deut-kussionsteilnehmer. Wir brauchen Ihre Fragen, die schen den Nationalsozialismus und seine Verbrechenwahrscheinlich ganz anders sind als die unseren, wir gar nicht mehr aus eigener Anschauung kennt. Neuebrauchen Ihre Sichtweisen, Ihre Art der Auseinanderset- Generationen sind herangewachsen, so daß Erinnerung, zung, Ihr Interesse. Und Sie sollten sich in die Diskus- (B) selbst in der jetzigen Elterngeneration, nur mehr einesionen einmischen. Ich sage es direkt: Brechen Sie mit (D) vermittelte, keine eigene mehr sein kann. Deshalb fehlt Ihrer Art zu fragen die alten Denkmuster und die alten der Auseinandersetzung mit dem NationalsozialismusSprachspiele auf! Wenn das gelingt, dann hat die Erin- heute die zusätzliche Aufladung durch einen Generatio- nerung eine Zukunft. nenkonflikt wie in den 60er Jahren. Es fehlt ihr auch das Tribunalartige, das sie lange Zeit, vielleicht unvermeid- Zur Zukunft der Erinnerung gehört aber noch mehr. licherweise, bestimmt hat. Zunächst: Wir brauchen Orte der Erinnerung. Dabei denke ich nicht allein an ein zentrales Mahnmal. Dar- Meine Damen und Herren, das hat Folgen: Niemand über soll und wird der Deutsche Bundestag entscheiden. aus der jetzt in die Verantwortung hineinwachsendenIch bin froh, daß es eine lange, über weite Strecken au- Kinder- und Enkelgeneration kann beispielsweise ausßerordentlich ernsthafte und fruchtbringende Debatte der deutschen Vergangenheit heraustreten, indem er die über das Mahnmal gegeben hat. Es muß aber jetzt bald Pose moralischer Überlegenheit annimmt. Niemandeine tragfähige Entscheidung getroffen werden. kann sich im nachhinein auf die Seite der Opfer oder der Widerstandskämpfer phantasieren und politische Gegner Eines möchte ich aber hinzufügen: Wir Deutschen auf die Seite der Täter stellen. Der Nationalsozialismus müssen dieses Mahnmal um unserer selbst willen bauen. – wir mögen das wollen oder nicht – ist unser gemein- Wir bauen es nicht für das Ausland, wir bauen es nicht sames, schreckliches Erbe. als Demonstration dauernder Schuld. Wir bauen es auch nicht in wohlfeiler, letztlich aber unehrlicher Identifika- Aber: Mit dem Verschwinden der Generation, aus der tion mit den Opfern. Es muß das werden, was sein Name viele durch persönliche Schuld, durch Mitläufertum oder sagt: gewiß eine bleibende Erinnerung an die Verbre- einfach durch Wegschauen in das Verbrechen verstrickt chen, vor allem aber ein Gedenken an die Opfer und an waren, wird auch ein neues Hinsehen möglich. Das kann ihr Leid sowie ein Mahnmal für die jeweils Lebenden. doch auch eine große Hoffnung sein. Wir sollten, über das ganze Land verbreitet, noch Eine Gefahr könnte freilich darin liegen, daß die Er- mehr Orte der konkreten, historischen Erinnerung ha- innerung einfach ausbleibt, daß neue Generationen – wir ben. Der Nationalsozialismus hat eben nicht nur in Ber- sprachen bereits darüber – einfach sagen, das alles gehe lin stattgefunden, in Nürnberg oder in München. Überall sie nichts mehr an, und sie wollten deswegen auchhat es Szenen des Schreckens gegeben. Überall gab es nichts mehr davon wissen. Ich sage hier mit allemSchulen, aus denen die jüdischen Kinder entfernt wur- Nachdruck: Ich halte diese Gefahr für sehr gering. Aus den. Überall gab es Geschäfte, die den Besitzern weg- eigener Erfahrung weiß ich, wie gesagt, daß die Kennt- gnommen wurden. Überall hatte die SA ihre Verhör- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – Bonn, Mittwoch, den 27. Januar 1999 1197

Bundespräsident Dr. Roman Herzog (A) keller. Überall gab es Sammelstellen für die Transporte. vermittelt –, so kann die Ablehnung auch in diesem Fall (C) Wer sich nur ein wenig damit beschäftigt, der kann her- zu besonders fatalen Blockaden und Verweigerungshal- ausfinden, wie sich das Verbrechen in das Land hinein- tungen führen. Um der wichtigen Sache willen – und gefressen hat, wie sich das Verbrechen ganz in seinernicht, um das Thema herunterzuspielen – muß hier des- nächsten Umgebung abgespielt hat. halb sehr sorgfältig – ich sage bewußt auch: sehr wohl- überlegt – vorgegangen werden. Und vor allem: Die Auch hier geht es nicht um deutsche Selbstbezichti- Schule darf von der Gesellschaft gerade jetzt nicht allein gung. Durch die konkrete Erinnerung an konkreten Or- gelassen werden, nur weil es mehr als je zuvor um die ten wird die den späteren Generationen fremder werden- nachfolgenden Generationen geht. de Geschichte als tatsächliche Realität greifbar. Die Menschen sollen es wissen: Das alles hat sich nicht ir- Lassen Sie uns die Lerninhalte und die Lehrmethoden gendwo in einer grauen Vorzeit abgespielt, sondern hier, sehr genau, sehr öffentlich und vor allem sehr zielorien- in Deutschland, in meiner Stadt, in einer Zeit, in der es tiert diskutieren! Auch das ist eine Aufgabe, die noch schon Autos, Telefone und Radios gab, unter Menschen, vor uns steht. Denn daß es jetzt um die jungen Men- die nicht sehr viel anders lebten als wir. Die Topogra-schen in unserem Land geht, das müßte eigentlich vor phie des Terrors läßt sich im alltäglichen Leben der Welt aller Augen sein. Darauf sollten wir uns endlich einstel- finden. len. Hier gibt es Dinge zu bedenken, die bisher nicht so eindeutig waren. Auch in der regionalen Aufarbeitung, in der konkre- ten Suche nach Zeugnissen und Orten liegt übrigens eine Die große Mehrheit der heute lebenden Deutschen ist Chance für die schulische Beschäftigung mit dem Na- nicht schuld an Auschwitz. Aber natürlich: Auch sie ist tionalsozialismus. Die Schule hat ihre besonderen Chan- in besonderem Maße verantwortlich dafür, daß sich so cen. Sie hat aber auch ihre Probleme; denn der National- etwas wie Holocaust und Auschwitz nicht und niemals sozialismus ist kein Unterrichtsgegenstand wie alle an- wiederholt. Die Mehrheit der heutigen Deutschen ist deren und auch kein beliebiges Objekt der Zeitge-auch nicht schuld an Selektion, Vertreibung und Völ- schichte. Es geht ja nicht nur um die Vermittlung histo- kermord. Aber sie muß ihre besondere Verantwortung rischer Fakten. Wer sich dieser Geschichte stellt, derdafür fühlen, daß da in der Welt, wo wir auch nur ein wird als moralisches Subjekt selbst in Frage gestellt, der wenig mitzureden haben, kein Platz mehr für diese Art muß sich doch einfach fragen: Wieso haben die Täter so von Verbrechen sein darf. gehandelt, wieso die Mitläufer? Wieso konnten sie sich Es trifft zu: Unser Erbe heißt Verantwortung. Aber nicht in ihre Opfer hineinfühlen? Wie funktioniert Ver- selbst diese Verantwortung bezieht sich, was die nach- führung? Wie funktioniert Massensuggestion? Er wird folgenden Generationen betrifft, nicht auf die Vergan- auch um die Frage nicht herumkommen: Bin ich sicher, genheit, sondern auf die Zukunft. Es gibt – um nur ein (B) (D) daß ich nicht mitgemacht hätte? Wäre nicht auch ich nur Beispiel dafür zu nennen – eine falsche Einschätzung Zuschauer geblieben? Hätte nicht auch ich so furchtbare des Nationalsozialismus, die gleichzeitig eine gefährli- Angst gehabt, daß ich eben nicht widerstanden hätte? che Verharmlosung darstellt. Ich meine, wir sind heute zu leicht geneigt, zu glauben, schon am Anfang, 1933, Die Beschäftigung mit dieser Zeit geht deshalb not- hätte jeder sehen können, wohin das alles führen mußte. wendigerweise mit der Erziehung zu Gewissensbildung Darüber kann man ja reden. Viele haben es ja damals und Verantwortung einher. Dabei ist es für die Lehrer auch gesehen. Aber damit wird zugleich suggeriert, wir und Erzieher gewiß schwierig, die rechte Balance zu seien heute intellektuell und moralisch gegen eine solche halten. Der Nationalsozialismus darf nicht nur als abge- Blindheit gefeit. Und das stimmt eben nicht. Das eine ist schlossener Lehrstoff einer endgültig vergangenen Ge- eine historische Täuschung, das andere eine fromme Il- schichte behandelt werden. Andererseits darf er aber lusion. Wenn wir den Anfängen wehren wollen, müssen auch nicht durch platte und leichtfertige Aktualisierun- wir also unablässig wachsam sein. gen zur Moraldidaktik herhalten müssen. Das würde nur ein einzigartiges Verbrechen relativieren. Das gilt vor allem für den Antisemitismus. Der mag in Deutschland gegenwärtig nicht größer sein als in an- Lernziel – wenn man das überhaupt so nennen kann – deren Ländern. Aber wenn bei uns noch immer jüdische wäre nicht nur eine möglichst genaue Kenntnis dessen, Gräber geschändet werden, muß uns das mehr in Empö- was im Dritten Reich geschehen ist, sondern auch so et- rung und Gegenwehr versetzen als andere. Bei uns dür- was wie eine Einübung in Empathie, in das Sichhinein- fen Antisemiten keinen Fußbreit Raum bekommen. versetzen, das Hineinfühlen, und übrigens auch in Miß- trauen gegen die großen Vereinfacher. Kenntnis der Aufmerksam sein müssen wir auch auf unseren Verbrechen und Gedenken an die Leiden sind zwei sehr Sprachgebrauch. Schon antijüdische Redensarten und verschiedene Dinge. Aber wir brauchen beides, damitWitze haben bei uns keinen Platz mehr. Manche Wörter die daraus erwachsenden Lehren tatsächlich in den Köp- und Ausdrücke sind einfach – man mag es drehen und fen und Herzen ankommen. Das sind wirklich wenden, an- wie man will – so beschmutzt, daß wir sie nie spruchsvolle Ziele; aber mit weniger dürfen wir unsmehr unbefangen in den Mund werden nehmen können. nicht zufriedengeben. Denken Sie nur an den Begriff „Selektion“ oder an ver- gleichbare Begriffe. Natürlich hat der Schulunterricht seine besonderen Schwierigkeiten. Wie prinzipiell jeder Unterrichtsinhalt Aufmerksam sein müssen wir auf alle Anzeichen von auf den Widerwillen der Schüler stoßen kann – zumAussonderung, von Diskriminierung anderer wegen der Beispiel weil es eine nicht geliebte Schule ist, die ihnHerkunft, des Glaubens oder aus welchem Grund auch 1198 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – Bonn, Mittwoch, den 27. Januar 1999

Bundespräsident Dr. Roman Herzog (A) immer. Ich will an dieser Stelle ausdrücklich hinzufü- Im Laufe der letzten 50 Jahre hat sich in Deutsch- (C) gen: Da, wo es um berechtigte Ansprüche auf Entschä- land eine Gesellschaft entwickelt, in der es vieles digung oder Wiedergutmachung geht, muß dafür gesorgt gibt, von dem man am Anfang nicht einmal zu träu- werden, daß die Opfer bekommen, was ihnen zusteht.men wagte. Wir haben ganz gewiß nicht die beste al- Auch das hat nichts mit Instrumentalisierung oder mit ler denkbaren Welten. Aber wir haben einen Fundus sogenannter ewiger Aufrechnung zu tun, sondern einzig an Toleranz und Freiheit, an Demokratie und Rechts- und allein mit Recht und Gerechtigkeit. staatlichkeit, an Möglichkeiten zur individuellen Ent- faltung, an sozialer Sicherheit, an Presse- und Mei- Eines ist klar: Auschwitz hat unser Bild vom Men-nungsfreiheit erreicht, von dem wir alle profitieren schen verfinstert. Was einmal historische Wirklichkeit und über den wir uns alle freuen können. Jeder ein- war, gehört für immer zu den furchtbaren Möglichkeiten zelne dieser Aspekte unseres Gemeinwesens ist auch des Menschen, deren Wiederholung – in welcher Form eine Antithese zu dem, was der Nationalsozialismus auch immer – nicht ausgeschlossen werden kann. Dieverkündet hat. Dämme und Sicherungen müssen also immer wieder aufs neue gebaut werden. So ist Deutschland heute, und so kennt und respek- tiert man es in der Welt. An der Verteidigung der Ge- Ivo Andric hat in seinem Roman „Die Brücke überrechtigkeit, an der Stärke des Rechts, am Wert der Frei- die Drina“ in ganz anderem Zusammenhang das folgen- heit und am Schutz der Schwachen kann man heute de geschrieben – ich zitiere –: Deutschland erkennen. Das höre ich in vielen Ländern Die Menschen zerfielen in Verfolgte und Verfolger. der Welt, die ich besuche, und das ist nicht nur eine Jenes hungrige Tier, das im Menschen lebt und sich politische Höflichkeitsfloskel. So soll es auch bleiben. nicht zeigen darf, solange nicht die Dämme derNatürlich müssen wir auch in diesen Fragen den Blick guten Sitten und der Gesetze entfernt werden, war nach vorn richten. Ein Grund zum Ausblenden der Ver- jetzt befreit. Nun war das Zeichen gegeben, diegangenheit ist das aber nicht. Dazu geben uns die Opfer Dämme waren weggeräumt. Wie oft in das der Recht nicht, und dazu gibt uns vor allem unsere menschlichen Geschichte waren Gewalt und Raub, Verantwortung für die Zukunft des Menschen kein ja auch Mord, stillschweigend zugelassen unter der Recht. Bedingung, daß sie im Namen höherer Interessen, unter festgelegten Losungen und gegen eine be- (Dietrich Lohff: grenzte Zahl von Menschen eines bestimmten Na- mens oder einer bestimmten Überzeugung verübt Requiem für einen polnischen Jungen wurden. Wer damals mit reiner Seele und offenen Teile IV und VII) Auges lebte, konnte sehen, wie sich eine ganze Ge- (B) sellschaft in einem Tage verwandelte. Musikalische Gestaltung: (D) Bonner Kammerchor, Kammerorchester Dieser Text handelt vom Jahr 1914. Wer ihn heute liest, erkennt, daß „die Dämme der guten Sitten und der Leitung: Peter Henn Gesetze“ überall und jederzeit nur dann Bestand haben, wenn sie ständig erneuert und gepflegt werden. (Schluß: 12.06 Uhr)

Druck: Bonner Universitäts-Buchdruckerei, 53113 Bonn Vertrieb: Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft mbH, Postfach 13 20, 53003 Bonn, Telefon: 02 28/3 82 08 40, Telefax: 02 28/3 82 08 44 ISSN 0720-7980 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – Bonn, Mittwoch, den 27. Januar 1999 1193

(A) (C)

Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus

Gedenkstunde des Deutschen Bundestages

Bonn, Mittwoch, den 27. Januar 1999

Beginn: 11.01 Uhr

Präsident Wolfgang Thierse: Herr Bundespräsi- Gesellschaft in einem Generationswechsel stehen. Vie- dent! Herr Bundeskanzler! Herr Bundesratspräsident!les von dem, was zuletzt kontrovers erörtert wurde, Frau Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts! Liebe hängt wohl zusammen mit dem Aufeinandertreffen un- Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Gäste! Wir geden- terschiedlicher Erfahrungen und Sichtweisen. Zu der ken heute, am Tag der Befreiung des Konzentrations-Generation derer, die die Schrecken des Nationalsozia- und Vernichtungslagers Auschwitz vor 54 Jahren, aller lismus aus eigenem Erleben, aus schlimmsten Erfahrun- Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Der gen kennen, und der Generation der Töchter und Söhne (B) 27. Januar ist unser nationaler Gedenktag. Sie, sehr ver- der Opfer und der Täter treten die Jüngeren, denen das(D) ehrter Herr Bundespräsident, haben ihn 1996 prokla-ganze Ausmaß des Grauens, die Mechanismen der Aus- miert und damals betont, daß gerade dieses Gedenken grenzung, die menschenverachtende Brutalität der Täter, nicht in Ritualen erstarren darf. die Ignoranz und Gleichgültigkeit der Masse und vor allem das unermeßliche Leid der Opfer nur über histori- Der 27. Januar ist für uns Deutsche Anlaß, öffentlich, sches, also vermitteltes Wissen zugänglich gemacht aber auch jeweils persönlich zurückzublicken auf eine werden können. Die Frage dieser Vermittlung müssen Phase unserer jüngeren Geschichte, auf ein Geschehen, wir deshalb über fünf Jahrzehnte nach der Befreiung von das noch immer alle Vorstellungskraft sprengt. Gerade Auschwitz neu diskutieren. Die genannte Debatte hat deshalb ist es unverzichtbar, im Erinnern zugleich diegezeigt, daß veränderte und erweiterte Zugänge zum Aufgaben der Gegenwart und Zukunft ins Auge zu fas- Geschehenen notwendig sind. Wir brauchen den gesell- sen. Theodor W. Adornos bekannte Feststellung, die er- schaftlichen Diskurs über das richtige Maß, die ange- ste Aufgabe an jede Erziehung sei, dafür Sorge zu tra- messenen Formen des Erinnerns, wie Sie, sehr geehrter gen, daß sich Auschwitz niemals wiederholen könne,Herr Bundespräsident, in Ihrer Rede am 9. November richtet sich in der Bürgergesellschaft an jeden einzelnen letzten Jahres in Berlin festgestellt haben. von uns. Deshalb ist dieser Gedenktag eine nachdrückli- che Forderung zur Wachsamkeit. Die Erinnerung an das Das richtige Maß, die angemessene Form zu finden millionenfache Leid, das die nationalsozialistische Ge- verlangt nach einer Prüfung in zweierlei Richtung: Was waltherrschaft mit ihrem menschenverachtenden Ras-ist dem entsetzlich Geschehenen angemessen? Was ist senwahn über Europa und andere Teile der Welt ge-für Gegenwart und Zukunft richtig? Ein Zuviel kann bracht hat, verlangt, schon den Anfängen jeder Wieder- problematisch sein, ein Zuwenig erst recht. „Darf man holungsgefahr entgegenzutreten. nicht wissen wollen?“ – So hat Thomas Mann gefragt und nach 1945 mit einem entschiedenen Nein geant- Um das gemeinsame Erinnern an das Geschehene hat wortet. Dieses Nein gilt bis heute für alle Demokraten es in den vergangenen Wochen und Monaten in derund – so hoffe ich – mit gleicher Entschiedenheit. Hal- deutschen Öffentlichkeit eine intensive Debatte gege-ten wir daran fest: Verpflichtende Erinnerung, Gedenken ben. Ich will auf die Art und Weise dieser Auseinander- der Leiden der Opfer, Übernahme der geschichtlichen setzungen nicht eingehen, insbesondere nicht über Stil- Verantwortung – das war das moralische Fundament, fragen urteilen. Wichtiger und zukunftsweisender ist die das gehörte zur Raison d'être der neubegründeten deut- Feststellung, daß diese Debatte notwendig und nützlich schen Demokratie, der Bundesrepublik Deutschland. Es ist. Wenn ich sie richtig wahrgenommen habe, hat diese gibt keine kollektive Schuld, gewiß; aber das heißt nicht, Debatte deutlich gemacht, daß wir derzeit in Politik und daß die Katastrophe von 1933 bis 1945 im kollektiven 1194 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – Bonn, Mittwoch, den 27. Januar 1999

Präsident Wolfgang Thierse (A) Gedächtnis der Deutschen je getilgt werden dürfte. Inwiß nicht von allen in der DDR – zunehmend als auto- (C) ihm muß vielmehr unser fester Wille aufbewahrt sein, ritär und formelhaft empfunden und waren von proble- nie wieder eine solche schreckliche Diktatur, in welcher matischer Wirkung. Die Erfolge der Rechtsextremisten Form auch immer, zuzulassen. gerade in ostdeutschen Ländern sind auch ein spätes Echo solch unfreier Erinnerung. (Zustimmung) Wenn wir diese widersprüchlichen Erfahrungen ernst Es ist deswegen die Aufgabe der jetzigen wie dernehmen, dann können wir mit aufmerksamer Gelassen- künftigen Generationen, durch die Übernahme der poli- heit feststellen: Jede Generation hat das Recht und steht tischen Haftung Verantwortung für die Vergangenheit vor der Herausforderung, ihre eigene Form des Geden- zu übernehmen und das Bewußtsein für die von einem kens zu entwickeln. Sie muß sich dem Geschehen auf deutschen Staat begangenen Unmenschlichkeiten wach- ihre Art und Weise stellen, ihren eigenen Zugang suchen zuhalten. Die Sorge um die Erinnerung darf deswegen und finden. Nur so halten wir unser kollektives Ge- keine lästige Trauer sein und schon gar nicht in formel- dächtnis in einer Weise lebendig, die für Jüngere und ler Ritualisierung erstarren, sowenig Erinnerung gänz- Ältere, für Angehörige der Erlebnisgeneration wie ihre lich ohne Riten auskommt. Kinder und Kindeskinder einen gemeinsamen Horizont des Verstehens und zugleich eine Basis des Gesprächs Gerade wegen dieser gemeinsamen Grundüberzeu- über das Geschehene bietet. gung gilt es, uns in Gesellschaft und Politik über die Art und Weise des Erinnerns und Gedenkens immer neu zu Ich halte es im übrigen für ein Zeichen der Stärke un- verständigen. Ich möchte in diesem Zusammenhang auf serer Demokratie, daß wir über diese Fragen gegenwär- zwei problematische Erfahrungen hinweisen. Zumtig so intensiv debattieren. Es ist ein Stück Selbstaufklä- einen: Historische Aufklärung soll und kann politisches rung der Gesellschaft, wenn sie öffentlich darüber dis- Bewußtsein schaffen und das Geschehene in Erinnerung kutiert, wie sie mit der Vergangenheit, mit der Erinne- rufen. Daß sie auch zur Trauer um die Toten, zu Em-rung an die Zeiten der Inhumanität und Menschenver- pathie mit den Opfern führt, dessen können wir nichtachtung, der Diskriminierung und des Genozids umge- mehr so sicher sein. Zur Dialektik der Aufklärung – das hen kann und will. Gerade deswegen ist die Kontroverse wissen wir inzwischen – gehört eben auch, daß sie alsum ein Holocaust-Denkmal in Berlin von solchem Ge- einseitige, gar bloß rationale ihr Gegenteil bewirkenwicht, und gerade deshalb gehört diese Debatte auch in kann, nämlich die Kälte der Verdrängung. Insofern darf unser Parlament. Der Deutsche Bundestag wird sich in gerade in der Annäherung an die nationalsozialistischen den nächsten Wochen und Monaten diesem Thema auf Verbrechen nicht versäumt werden, das Entsetzliche so verantwortliche Weise widmen und hoffentlich zu einer zu vermitteln, daß es auch mit dem Herzen erfahren und tragfähigen und überzeugenden Entscheidung kommen. (B) begriffen wird. Insofern auch ist Gedenken immer mehr Meine Damen und Herren, neue Ansätze des Erin-(D) als aufgeklärtes Wissen, sosehr dieses Gedenken immer nerns – das bedeutet auch andere Formen des Geden- auch und neu des Anstoßes durch historische, bestimmte kens im Deutschen Bundestag. Wir hören nun drei Stük- Erinnerung bedarf. ke aus dem „Requiem für einen polnischen Jungen“ – Zugleich aber gilt es, den jungen Menschen histori- einem Werk, das der Heidelberger Komponist Dietrich sches Wissen und emotionale Betroffenheit so zu ver-Lohff nach Texten von Opfern der Nationalsozialisten mitteln, daß sie eine Beziehung zur Gegenwart, also ge- verfaßt hat. genwärtige moralische Sensibilität und politische Ver- Die Kunst ist ein wichtiges Medium der Erinnerung, antwortung ermöglichen. Betroffenheit, die bloß ratlos ein anderes ist die Sprache. Sie, sehr geehrter Herr macht, Wissen, das folgenlos bleibt, solcherart Ergeb- Bundespräsident, haben das öffentliche Wort stets in nisse von Erinnerungsarbeit sind nicht menschengemäß ganz besonders unverwechselbarer Weise zu nutzen und gesellschaftlich folgenlos. Die Gefährdungen dergewußt: zu kritischen und differenzierten Stellung- Demokratie, die Mechanismen von Stigmatisierung und nahmen, aber ebenso zu Aussagen, die verbinden und Ausgrenzung, die Ursachen, Erscheinungsformen und Gemeinschaft schaffen, Worte, in denen die gemein- Wirkungen von Intoleranz und Rassenwahn zu begreifen samen Aufgaben, Ziele und Überzeugungen unserer und mit diesem Wissen und Empfinden die Gegenwart parlamentarischen Demokratie zum Ausdruck kom- zu beobachten und in ihr zu handeln, darum geht es.men. Diese Übereinstimmung deutlich zu machen ist Was damals Juden, Sinti und Roma, Behinderte, Homo- an keinem Tag wichtiger als an unserem Gedenktag für sexuelle, politische Gegner waren, das können heute an- die Opfer des Nationalsozialismus. Ich möchte Sie dere Personen und Gruppen sein, die durch Stigmatisie- deshalb bitten, nach dem Requiem das Wort zu ergrei- rungsprozesse ausgegrenzt werden. fen und zu uns zu sprechen. Eine zweite problematische Erfahrung bringe ich aus der DDR mit: Gedenken darf niemals verordnetes, gar (Dietrich Lohff: zwanghaftes Erinnern sein. Dies hat der staatlich ange- Requiem für einen polnischen Jungen ordnete Antifaschismus uns nachdrücklich vor Augen geführt. Aus einem ehedem authentischen und glaub- Teil I würdigen Antifaschismus wurde ein ideologisches Herr- Musikalische Gestaltung: schaftsinstrument zur moralischen Legitimierung der Bonner Kammerchor, Kammerorchester SED-Diktatur. So wurden Gedenken und Erinnerung an die nationalsozialistischen Verbrechen von vielen – ge- Leitung: Peter Henn) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – Bonn, Mittwoch, den 27. Januar 1999 1195

(A) Bundespräsident Dr. Roman Herzog: Herr Präsi- Namen Bubis und Walser verbindet. Es ist ohnehin im-(C) dent! Exzellenzen! Meine Damen und Herren! Wasmer gut, wenn sich Positionen klären und wenn nicht Menschen anderen Menschen an Leid und Grausamkei- unausgesprochen bleibt, was viele Menschen – so oder ten zufügen können, das ist tief in das individuelle wie so – denken. Aber diese Debatte hat auch viele Gedan- in das gemeinschaftliche Gedächtnis der Deutschen ein- ken zutage gefördert, die wir in ihrer Bedeutung erst gebrannt. Der heutige Tag, der auf die Befreiung vonrichtig erkennen werden, wenn sich der unvermeidliche Auschwitz hinweist, ist bleibende Erinnerung daran. Pulverdampf verzogen haben wird. Aber die vergangenen Monate haben doch auch wie- Ich will aber auch sagen, was mich an dieser De- der gezeigt, daß wir – worauf ich oft genug hingewiesen batte gestört hat. Martin Walsers Rede – man mag zu habe – die bleibende Form dieses Erinnerns noch nicht ihr stehen, wie man will; jedenfalls hat sie nicht für das gefunden haben. Wieder ist eine Debatte darüber ent-Vergessen plädiert – hat eine wichtige Auseinanderset- standen, in welcher Form wir uns redlich an die Verbre- zung in unserer Öffentlichkeit provoziert und sollte das chen des Nationalsozialismus erinnern sollten, ja sogar wohl auch. Diese Auseinandersetzung hat in der Tat auch wieder darüber, ob es – fünfzig Jahre nach demauch stattgefunden, teils in bemerkenswerten Diskussi- Ende des Grauens – überhaupt noch notwendig sei, daß onsbeiträgen von dritter Seite, teils in dem faszinieren- wir uns immer wieder von neuem selbst mit diesem Teil den, glücklicherweise dokumentierten Streitgespräch unserer Geschichte konfrontieren. zwischen den beiden Hauptkontrahenten. Daneben aber gab es gewissermaßen business as usual: Schon nach Ich werde sogleich noch ein paar Worte zu den ernst- kurzer Zeit fielen Teile der allgemeinen Debatte wieder hafteren Teilen der Diskussion sagen. Vorweg aber das in die alten Muster gegenseitiger Beschuldigung zu- eine: Wer je den Gedanken an ein Ende des Erinnernsrück – als stünden hier die ewigen Verdränger oder gar erwogen hat, der sollte davon so schnell wie möglichLeugner und dort die ewigen Beschuldiger, ja Selbst- ablassen. Das hat noch nicht einmal etwas mit National- beschuldiger. Solche Art der Auseinandersetzung ist sozialismus und Holocaust zu tun, sondern es ergibt sich unsinnig und fruchtlos. Der Holocaust ist das aller- aus zwei ganz einfachen, fast möchte ich sagen: banalen letzte, was wir solchen primitiven Denkschablonen Erfahrungen. oder, sagen wir es deutlich: der political correctness überlassen dürfen. Ohne gründliches Wissen um seine Geschichte kann auf die Dauer kein Volk bestehen. Das war in denIch möchte nicht mißverstanden werden. Was ich hier jüngstvergangenen Jahrzehnten zwar nicht immer völlig kritisiere, lag nicht an Ignatz Bubis. Ignatz Bubis legt unbestritten; aber diese Zeit ist, wenn ich recht sehe,natürlich immer wieder den Finger in Wunden, die weh vorbei. So frei und so souverän ist überhaupt kein Volk, tun, und löst damit auch manche heftige Reaktion aus. (B) daß es ohne Wissen um seine Vergangenheit bestehen Aber er hat den Schrecken der Lager am eigenen Leibe(D) könnte. erlebt, und er hat seine Angehörigen dort verloren. Er hat also jedes Recht, in Fragen unserer Geschichte emp- Wenn ein Volk aber versucht, in und mit seiner Ge- findlich, ja auch einmal leidenschaftlich zu reagieren. schichte zu leben, dann ist es sehr gut beraten, in und Dennoch: Ich habe mehr als einmal erlebt, wie gerade er mit seiner ganzen Geschichte und nicht nur mit ihren im Ausland für das heutige Deutschland eintritt und wie guten und erfreulichen Teilen zu leben. Ich habe es er auch Ansprüche, die er für ungerecht hält, mit aller schon des öfteren gesagt und wiederhole es hier bewußt: Entschiedenheit zurückweist. Viel zu wenige bei uns Für mich ist jeder Versuch, die Verbrechen des Natio- wissen um die Angriffe, denen er auch dieserhalb ausge- nalsozialismus aus der geschichtlichen Erinnerung aus- setzt ist. Ich sage es geradeheraus: Ignatz Bubis ist ein zublenden, letztlich nur eine besondere Form intellektu- deutscher Patriot. eller Feigheit, und Feigheit ist das letzte, was ich von meinem Volk erleben möchte. Das hat für mich auch (Beifall) nichts damit zu tun, ob uns andere immer wieder an un- sere Geschichte erinnern, ja nicht einmal damit, aus Aber ich will hier nicht über Personen reden, sondern welchen Gründen und mit welcher Absicht sie das tun. über die hinter uns liegende Debatte. An ihr hat mich Unserer Geschichte haben wir uns ohne Rücksicht dar- noch etwas ganz anderes nachdenklich gestimmt. Wie- auf zu stellen, was andere aus ihr machen, und übrigens der einmal hat sie sich fast ausschließlich unter Vätern auch ohne Rücksicht darauf, was andere aus ihrer eige- und Großvätern, unter Müttern und Großmüttern abge- nen Geschichte machen. Aufrechnungen und Hinweise spielt, und das, obwohl wir doch wissen, wie ernsthaft auf die Defizite anderer lenken nur von der Sache ab.sich große Teile unserer Jugend gerade auch mit den Wenn ich mich unserer Geschichte zu stellen versuche, Schattenseiten unserer Vergangenheit beschäftigen. Es versuche ich das nicht in Schande, sondern ich versuche ist ja nur die eine Seite der Realität, wenn immer wieder es in Würde und mit Redlichkeit. darauf hingewiesen wird, daß vielleicht ein Viertel die- ser Jugend von den damaligen Verbrechen nichts weiß. Aber – der Bundestagspräsident sagte es bereits – wir Andersherum gelesen bedeutet das doch, daß dann drei leben in einer Zeit des Generationswechsels, in einerViertel sehr wohl Bescheid wissen. Ich möchte von hier Zeit des Übergangs von der Erinnerung an Erlebtes zur aus gerade jenen Opfern der NS-Zeit meinen Dank sa- Erinnerung an Mitgeteiltes. In einer solchen Zeit ist es gen, die weder Mühe noch Aufwand, noch Schmerz unerläßlich, daß man sich der Formen des Erinnernsscheuen, um ihre Geschichte und ihre Erlebnisse in Ge- noch einmal in allem Ernst vergewissert. Deshalb war es sprächen mit jungen Menschen weiterzugeben, solange gut, daß die Debatte stattgefunden hat, die sich mit den es Alter und Gesundheit eben zulassen. 1196 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – Bonn, Mittwoch, den 27. Januar 1999

Bundespräsident Dr. Roman Herzog (A) Dennoch bleibt es wahr: Auch in der jüngsten De-nisse über den Nationalsozialismus bei unseren Jugend- (C) batte haben sich die jungen Menschen kaum hörbar ge- lichen und jungen Erwachsenen beachtlich sind, vor al- macht. Ich frage mich, woran das liegt, denn, wie ge-lem aber, daß das Interesse, sich weiterhin damit zu be- sagt, an fehlendem Wissen und fehlendem Interesseschäftigen, groß ist. Es sind eher einige der Älteren, der kann es nach allem, was ich weiß und beobachte, nicht 60- bis 70jährigen, die ihre Verdrängungswünsche auf liegen. Ich stelle nur eine Frage: Liegt es vielleicht dar- die Jugend projizieren oder sie ihr sogar einreden wol- an, daß die ältere Generation – was ihr gewiß niemand len. Das macht mir Mut zu sagen: Ich sehe eher die verübeln kann – wieder einmal über ihre eigenen Ver- Chancen. wicklungen und Verkrampfungen diskutiert hat, nicht aber darüber, was das alles für die jungen Menschen be- Die jüngeren Leute kennen – ich nenne nur ein paar deutet und welche Konsequenzen diese aus der Ge-Beispiele – die Tagebücher von Anne Frank, das Hitler- schichte ziehen sollen? Liegt es vielleicht sogar daran, Buch von Sebastian Haffner, die Tagebücher von Viktor daß diese Jugend längst dabei ist, ihr eigenes Verhältnis Klemperer, sie haben die Holocaust-Serie und „Schind- zu dieser Geschichte zu gewinnen, ohne daß das schon lers Liste“ gesehen, sie fahren an die Orte des Schrek- in greifbaren Formeln seinen Ausdruck gefunden hätte? kens, sie pflegen Gedenkstätten und Gräber, sie arbeiten an Dokumentationsprojekten ihrer Schulen mit, und sie Wie auch immer: Wenn es so wäre, dann hätten wir sehen sich auch die historischen Sendungen im Fernse- darauf mehr zu achten als auf „richtiges“ Reden in der hen an. Kein anderes Thema hat beim Schülerwettbe- Eltern- und Großelterngeneration. Denn wie die jungen werb zur deutschen Geschichte so viele Einsendungen Menschen, die die Zukunft unseres Volkes bestimmen gehabt wie die Ausschreibungen zum Thema „Alltag im werden, über die Frage denken, ist heute schon ungleich Nationalsozialismus“. Keine Frage: Unsere jungen wichtiger als alle Auseinandersetzungen und Begriffs- Leute diskutieren und forschen, sie fragen, sie schauen klärungen zwischen denen, die sich damit nunmehr seit hin. über 50 Jahren befassen. Darin liegt die Chance, die Erinnerung wachzuhalten. Es geht heute ja nicht mehr so sehr um die Frage, ob, Dazu gehört es dann aber, daß die jüngeren Generatio- sondern es geht um die Frage, in welcher Weise wir uns nen nicht nur passive Zuhörer der alten bleiben. Ich erinnern sollen. Die besondere Bedeutung, die diesemöchte direkt an diese Jüngeren appellieren, meine Da- Fragestellung heute bekommt, entsteht dadurch, daß in- men und Herren: Wir brauchen Sie auch als aktive Dis- zwischen die weit überwiegende Mehrheit der Deut-kussionsteilnehmer. Wir brauchen Ihre Fragen, die schen den Nationalsozialismus und seine Verbrechenwahrscheinlich ganz anders sind als die unseren, wir gar nicht mehr aus eigener Anschauung kennt. Neuebrauchen Ihre Sichtweisen, Ihre Art der Auseinanderset- Generationen sind herangewachsen, so daß Erinnerung, zung, Ihr Interesse. Und Sie sollten sich in die Diskus- (B) selbst in der jetzigen Elterngeneration, nur mehr einesionen einmischen. Ich sage es direkt: Brechen Sie mit (D) vermittelte, keine eigene mehr sein kann. Deshalb fehlt Ihrer Art zu fragen die alten Denkmuster und die alten der Auseinandersetzung mit dem NationalsozialismusSprachspiele auf! Wenn das gelingt, dann hat die Erin- heute die zusätzliche Aufladung durch einen Generatio- nerung eine Zukunft. nenkonflikt wie in den 60er Jahren. Es fehlt ihr auch das Tribunalartige, das sie lange Zeit, vielleicht unvermeid- Zur Zukunft der Erinnerung gehört aber noch mehr. licherweise, bestimmt hat. Zunächst: Wir brauchen Orte der Erinnerung. Dabei denke ich nicht allein an ein zentrales Mahnmal. Dar- Meine Damen und Herren, das hat Folgen: Niemand über soll und wird der Deutsche Bundestag entscheiden. aus der jetzt in die Verantwortung hineinwachsendenIch bin froh, daß es eine lange, über weite Strecken au- Kinder- und Enkelgeneration kann beispielsweise ausßerordentlich ernsthafte und fruchtbringende Debatte der deutschen Vergangenheit heraustreten, indem er die über das Mahnmal gegeben hat. Es muß aber jetzt bald Pose moralischer Überlegenheit annimmt. Niemandeine tragfähige Entscheidung getroffen werden. kann sich im nachhinein auf die Seite der Opfer oder der Widerstandskämpfer phantasieren und politische Gegner Eines möchte ich aber hinzufügen: Wir Deutschen auf die Seite der Täter stellen. Der Nationalsozialismus müssen dieses Mahnmal um unserer selbst willen bauen. – wir mögen das wollen oder nicht – ist unser gemein- Wir bauen es nicht für das Ausland, wir bauen es nicht sames, schreckliches Erbe. als Demonstration dauernder Schuld. Wir bauen es auch nicht in wohlfeiler, letztlich aber unehrlicher Identifika- Aber: Mit dem Verschwinden der Generation, aus der tion mit den Opfern. Es muß das werden, was sein Name viele durch persönliche Schuld, durch Mitläufertum oder sagt: gewiß eine bleibende Erinnerung an die Verbre- einfach durch Wegschauen in das Verbrechen verstrickt chen, vor allem aber ein Gedenken an die Opfer und an waren, wird auch ein neues Hinsehen möglich. Das kann ihr Leid sowie ein Mahnmal für die jeweils Lebenden. doch auch eine große Hoffnung sein. Wir sollten, über das ganze Land verbreitet, noch Eine Gefahr könnte freilich darin liegen, daß die Er- mehr Orte der konkreten, historischen Erinnerung ha- innerung einfach ausbleibt, daß neue Generationen – wir ben. Der Nationalsozialismus hat eben nicht nur in Ber- sprachen bereits darüber – einfach sagen, das alles gehe lin stattgefunden, in Nürnberg oder in München. Überall sie nichts mehr an, und sie wollten deswegen auchhat es Szenen des Schreckens gegeben. Überall gab es nichts mehr davon wissen. Ich sage hier mit allemSchulen, aus denen die jüdischen Kinder entfernt wur- Nachdruck: Ich halte diese Gefahr für sehr gering. Aus den. Überall gab es Geschäfte, die den Besitzern weg- eigener Erfahrung weiß ich, wie gesagt, daß die Kennt- gnommen wurden. Überall hatte die SA ihre Verhör- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – Bonn, Mittwoch, den 27. Januar 1999 1197

Bundespräsident Dr. Roman Herzog (A) keller. Überall gab es Sammelstellen für die Transporte. vermittelt –, so kann die Ablehnung auch in diesem Fall (C) Wer sich nur ein wenig damit beschäftigt, der kann her- zu besonders fatalen Blockaden und Verweigerungshal- ausfinden, wie sich das Verbrechen in das Land hinein- tungen führen. Um der wichtigen Sache willen – und gefressen hat, wie sich das Verbrechen ganz in seinernicht, um das Thema herunterzuspielen – muß hier des- nächsten Umgebung abgespielt hat. halb sehr sorgfältig – ich sage bewußt auch: sehr wohl- überlegt – vorgegangen werden. Und vor allem: Die Auch hier geht es nicht um deutsche Selbstbezichti- Schule darf von der Gesellschaft gerade jetzt nicht allein gung. Durch die konkrete Erinnerung an konkreten Or- gelassen werden, nur weil es mehr als je zuvor um die ten wird die den späteren Generationen fremder werden- nachfolgenden Generationen geht. de Geschichte als tatsächliche Realität greifbar. Die Menschen sollen es wissen: Das alles hat sich nicht ir- Lassen Sie uns die Lerninhalte und die Lehrmethoden gendwo in einer grauen Vorzeit abgespielt, sondern hier, sehr genau, sehr öffentlich und vor allem sehr zielorien- in Deutschland, in meiner Stadt, in einer Zeit, in der es tiert diskutieren! Auch das ist eine Aufgabe, die noch schon Autos, Telefone und Radios gab, unter Menschen, vor uns steht. Denn daß es jetzt um die jungen Men- die nicht sehr viel anders lebten als wir. Die Topogra-schen in unserem Land geht, das müßte eigentlich vor phie des Terrors läßt sich im alltäglichen Leben der Welt aller Augen sein. Darauf sollten wir uns endlich einstel- finden. len. Hier gibt es Dinge zu bedenken, die bisher nicht so eindeutig waren. Auch in der regionalen Aufarbeitung, in der konkre- ten Suche nach Zeugnissen und Orten liegt übrigens eine Die große Mehrheit der heute lebenden Deutschen ist Chance für die schulische Beschäftigung mit dem Na- nicht schuld an Auschwitz. Aber natürlich: Auch sie ist tionalsozialismus. Die Schule hat ihre besonderen Chan- in besonderem Maße verantwortlich dafür, daß sich so cen. Sie hat aber auch ihre Probleme; denn der National- etwas wie Holocaust und Auschwitz nicht und niemals sozialismus ist kein Unterrichtsgegenstand wie alle an- wiederholt. Die Mehrheit der heutigen Deutschen ist deren und auch kein beliebiges Objekt der Zeitge-auch nicht schuld an Selektion, Vertreibung und Völ- schichte. Es geht ja nicht nur um die Vermittlung histo- kermord. Aber sie muß ihre besondere Verantwortung rischer Fakten. Wer sich dieser Geschichte stellt, derdafür fühlen, daß da in der Welt, wo wir auch nur ein wird als moralisches Subjekt selbst in Frage gestellt, der wenig mitzureden haben, kein Platz mehr für diese Art muß sich doch einfach fragen: Wieso haben die Täter so von Verbrechen sein darf. gehandelt, wieso die Mitläufer? Wieso konnten sie sich Es trifft zu: Unser Erbe heißt Verantwortung. Aber nicht in ihre Opfer hineinfühlen? Wie funktioniert Ver- selbst diese Verantwortung bezieht sich, was die nach- führung? Wie funktioniert Massensuggestion? Er wird folgenden Generationen betrifft, nicht auf die Vergan- auch um die Frage nicht herumkommen: Bin ich sicher, genheit, sondern auf die Zukunft. Es gibt – um nur ein (B) (D) daß ich nicht mitgemacht hätte? Wäre nicht auch ich nur Beispiel dafür zu nennen – eine falsche Einschätzung Zuschauer geblieben? Hätte nicht auch ich so furchtbare des Nationalsozialismus, die gleichzeitig eine gefährli- Angst gehabt, daß ich eben nicht widerstanden hätte? che Verharmlosung darstellt. Ich meine, wir sind heute zu leicht geneigt, zu glauben, schon am Anfang, 1933, Die Beschäftigung mit dieser Zeit geht deshalb not- hätte jeder sehen können, wohin das alles führen mußte. wendigerweise mit der Erziehung zu Gewissensbildung Darüber kann man ja reden. Viele haben es ja damals und Verantwortung einher. Dabei ist es für die Lehrer auch gesehen. Aber damit wird zugleich suggeriert, wir und Erzieher gewiß schwierig, die rechte Balance zu seien heute intellektuell und moralisch gegen eine solche halten. Der Nationalsozialismus darf nicht nur als abge- Blindheit gefeit. Und das stimmt eben nicht. Das eine ist schlossener Lehrstoff einer endgültig vergangenen Ge- eine historische Täuschung, das andere eine fromme Il- schichte behandelt werden. Andererseits darf er aber lusion. Wenn wir den Anfängen wehren wollen, müssen auch nicht durch platte und leichtfertige Aktualisierun- wir also unablässig wachsam sein. gen zur Moraldidaktik herhalten müssen. Das würde nur ein einzigartiges Verbrechen relativieren. Das gilt vor allem für den Antisemitismus. Der mag in Deutschland gegenwärtig nicht größer sein als in an- Lernziel – wenn man das überhaupt so nennen kann – deren Ländern. Aber wenn bei uns noch immer jüdische wäre nicht nur eine möglichst genaue Kenntnis dessen, Gräber geschändet werden, muß uns das mehr in Empö- was im Dritten Reich geschehen ist, sondern auch so et- rung und Gegenwehr versetzen als andere. Bei uns dür- was wie eine Einübung in Empathie, in das Sichhinein- fen Antisemiten keinen Fußbreit Raum bekommen. versetzen, das Hineinfühlen, und übrigens auch in Miß- trauen gegen die großen Vereinfacher. Kenntnis der Aufmerksam sein müssen wir auch auf unseren Verbrechen und Gedenken an die Leiden sind zwei sehr Sprachgebrauch. Schon antijüdische Redensarten und verschiedene Dinge. Aber wir brauchen beides, damitWitze haben bei uns keinen Platz mehr. Manche Wörter die daraus erwachsenden Lehren tatsächlich in den Köp- und Ausdrücke sind einfach – man mag es drehen und fen und Herzen ankommen. Das sind wirklich wenden, an- wie man will – so beschmutzt, daß wir sie nie spruchsvolle Ziele; aber mit weniger dürfen wir unsmehr unbefangen in den Mund werden nehmen können. nicht zufriedengeben. Denken Sie nur an den Begriff „Selektion“ oder an ver- gleichbare Begriffe. Natürlich hat der Schulunterricht seine besonderen Schwierigkeiten. Wie prinzipiell jeder Unterrichtsinhalt Aufmerksam sein müssen wir auf alle Anzeichen von auf den Widerwillen der Schüler stoßen kann – zumAussonderung, von Diskriminierung anderer wegen der Beispiel weil es eine nicht geliebte Schule ist, die ihnHerkunft, des Glaubens oder aus welchem Grund auch 1198 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – Bonn, Mittwoch, den 27. Januar 1999

Bundespräsident Dr. Roman Herzog (A) immer. Ich will an dieser Stelle ausdrücklich hinzufü- Im Laufe der letzten 50 Jahre hat sich in Deutsch- (C) gen: Da, wo es um berechtigte Ansprüche auf Entschä- land eine Gesellschaft entwickelt, in der es vieles digung oder Wiedergutmachung geht, muß dafür gesorgt gibt, von dem man am Anfang nicht einmal zu träu- werden, daß die Opfer bekommen, was ihnen zusteht.men wagte. Wir haben ganz gewiß nicht die beste al- Auch das hat nichts mit Instrumentalisierung oder mit ler denkbaren Welten. Aber wir haben einen Fundus sogenannter ewiger Aufrechnung zu tun, sondern einzig an Toleranz und Freiheit, an Demokratie und Rechts- und allein mit Recht und Gerechtigkeit. staatlichkeit, an Möglichkeiten zur individuellen Ent- faltung, an sozialer Sicherheit, an Presse- und Mei- Eines ist klar: Auschwitz hat unser Bild vom Men-nungsfreiheit erreicht, von dem wir alle profitieren schen verfinstert. Was einmal historische Wirklichkeit und über den wir uns alle freuen können. Jeder ein- war, gehört für immer zu den furchtbaren Möglichkeiten zelne dieser Aspekte unseres Gemeinwesens ist auch des Menschen, deren Wiederholung – in welcher Form eine Antithese zu dem, was der Nationalsozialismus auch immer – nicht ausgeschlossen werden kann. Dieverkündet hat. Dämme und Sicherungen müssen also immer wieder aufs neue gebaut werden. So ist Deutschland heute, und so kennt und respek- tiert man es in der Welt. An der Verteidigung der Ge- Ivo Andric hat in seinem Roman „Die Brücke überrechtigkeit, an der Stärke des Rechts, am Wert der Frei- die Drina“ in ganz anderem Zusammenhang das folgen- heit und am Schutz der Schwachen kann man heute de geschrieben – ich zitiere –: Deutschland erkennen. Das höre ich in vielen Ländern Die Menschen zerfielen in Verfolgte und Verfolger. der Welt, die ich besuche, und das ist nicht nur eine Jenes hungrige Tier, das im Menschen lebt und sich politische Höflichkeitsfloskel. So soll es auch bleiben. nicht zeigen darf, solange nicht die Dämme derNatürlich müssen wir auch in diesen Fragen den Blick guten Sitten und der Gesetze entfernt werden, war nach vorn richten. Ein Grund zum Ausblenden der Ver- jetzt befreit. Nun war das Zeichen gegeben, diegangenheit ist das aber nicht. Dazu geben uns die Opfer Dämme waren weggeräumt. Wie oft in das der Recht nicht, und dazu gibt uns vor allem unsere menschlichen Geschichte waren Gewalt und Raub, Verantwortung für die Zukunft des Menschen kein ja auch Mord, stillschweigend zugelassen unter der Recht. Bedingung, daß sie im Namen höherer Interessen, unter festgelegten Losungen und gegen eine be- (Dietrich Lohff: grenzte Zahl von Menschen eines bestimmten Na- mens oder einer bestimmten Überzeugung verübt Requiem für einen polnischen Jungen wurden. Wer damals mit reiner Seele und offenen Teile IV und VII) Auges lebte, konnte sehen, wie sich eine ganze Ge- (B) sellschaft in einem Tage verwandelte. Musikalische Gestaltung: (D) Bonner Kammerchor, Kammerorchester Dieser Text handelt vom Jahr 1914. Wer ihn heute liest, erkennt, daß „die Dämme der guten Sitten und der Leitung: Peter Henn Gesetze“ überall und jederzeit nur dann Bestand haben, wenn sie ständig erneuert und gepflegt werden. (Schluß: 12.06 Uhr)

Druck: Bonner Universitäts-Buchdruckerei, 53113 Bonn Vertrieb: Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft mbH, Postfach 13 20, 53003 Bonn, Telefon: 02 28/3 82 08 40, Telefax: 02 28/3 82 08 44 ISSN 0720-7980