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Plenarprotokoll 14/208

Deutscher

Stenographischer Bericht

208. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001

Inhalt:

Nachträgliche Glückwünsche zum Geburtstag d) Bericht des Ausschusses für Familie, der Abgeordneten Günter Graf, Peter Letzgus Senioren, Frauen und Jugend gemäß und Dr. Klaus Rose ...... 20507 A § 62 Abs. 2 der Geschäftsordnung zu dem Antrag der Abgeordneten Petra WahlderAbgeordnetenDr.MargritSpielmann Bläss, , weiterer Abgeordne- als Schriftführerin ...... 20507 A ter und der Fraktion der PDS: Anerken- Erweiterungen der Tagesordnung . . 20563 D, 20653 B nung geschlechtsspezifischer Flucht- ursachen als Asylgrund Absetzung der Tagesordnungspunkte 25, 27 a (Drucksachen 14/1083, 14/7767) . . . . 20510 A bis 27 g und 33 d ...... 20509 B in Verbindung mit Nachträgliche Ausschussüberweisung ...... 20509 B

Zusatztagesordnungspunkt 3: Tagesordnungspunkt 5: Antrag der Fraktion der PDS: Einwande- a) Erste Beratung des von der Fraktionen rung und Flüchtlingsschutz menschen- der SPD und des BÜNDNISSES 90/ rechtlich gestalten DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs (Drucksache 14/7810) ...... 20510 A eines Gesetzes zur Steuerung und Be- , Bundesminister BMI ...... 20510 B grenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Inte- CDU/CSU ...... 20513 C gration von Unionsbürgern und Auslän- Dr. Michael Bürsch SPD ...... 20514 C dern (Zuwanderungsgesetz) (Drucksache 14/7387) ...... 20509 C Kerstin Müller (Köln) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN ...... 20518 A b) Erste Beratung des vom Bundesrat ein- Wolfgang Bosbach CDU/CSU ...... 20519 A gebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung des Asylverfahrensge- Dr. FDP ...... 20520 D setzes CDU/CSU ...... 20522 A (Drucksache 14/7465) ...... 20509 D PDS ...... 20523 B c) Antrag der Abgeordneten Wolfgang Wolfgang Bosbach CDU/CSU ...... 20523 D Bosbach, (Reck- linghausen), weiterer Abgeordneter und Rüdiger Veit SPD ...... 20525 A der Fraktion der CDU/CSU: Umfas- Erwin Marschewski (Recklinghausen) sendes Gesetz zur Steuerung und Be- CDU/CSU ...... 20527 A grenzung der Zuwanderung sowie zur Förderung der Integration jetzt Kerstin Müller (Köln) BÜNDNIS 90/ vorlegen DIE GRÜNEN ...... 20528 C (Drucksache 14/6641) ...... 20509 D Otto Schily SPD ...... 20529 B II Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. , Donnerstag, den 13. Dezember 2001

Marieluise Beck () BÜNDNIS 90/ de Wachstumspolitik – kein konjunktur- DIE GRÜNEN ...... 20530 B politischer Aktionismus (Drucksache 14/7808) ...... 20536 Dr. Michael Bürsch SPD ...... 20531 C A Rainer Brüderle FDP ...... Dr. Hans-Peter Uhl CDU/CSU ...... 20533 B 20536 B SPD ...... 20534 D , Bundesminister BMF ...... 20538 D Dr. Hans-Peter Uhl CDU/CSU ...... 20535 B CDU/CSU ...... 20540 D Dr. Heinrich L. Kolb FDP ...... 20542 D

Tagesordnungspunkt 6: Hans Eichel, Bundesminister BMF ...... 20543 C CDU/CSU ...... 20544 A a) Antrag der Abgeordneten Rainer Brüderle, Gudrun Kopp, weiterer Abge- (Leipzig) BÜNDNIS 90/ ordneter und der Fraktion der FDP: DIE GRÜNEN ...... 20547 C Konsumenten- und Investorenver- Rolf Kutzmutz PDS ...... 20549 D trauen stärken – Wachstumskrise mit strukturellen Reformen überwinden Dr. Werner Müller, Bundesminister BMWi 20551 C (Drucksache 14/7454) ...... 20535 C Rainer Brüderle FDP ...... 20554 D b) Beschlussempfehlung und Bericht des Dr. Werner Müller, Bundesminister BMWi 20555 B Ausschusses für Wirtschaft und Tech- nologie zu dem Antrag der Abgeord- Hartmut Schauerte CDU/CSU ...... 20555 D neten Rainer Brüderle, Dr. Irmgard Dr. PDS ...... 20558 A Schwaetzer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Neue Dr. Ditmar Staffelt SPD ...... 20558 C Wachstumschancen mit durchgrei- Ernst Hinsken CDU/CSU ...... 20560 D fenden wirtschaftspolitischen Refor- men schaffen – Blitzprogramm für die deutsche Wirtschaft Beratungen ohne Aussprache (Drucksachen 14/6446, 14/7214) . . . . 20535 D c) Beschlussempfehlung und Bericht des Tagesordnungspunkt 32: Ausschusses für Wirtschaft und Techno- Überweisungen im vereinfachten Ver- logie zu dem Antrag der Abgeordneten fahren Peter Rauen, Dr. , weite- rer Abgeordneter und der Fraktion der a) Erste Beratung des von der Bundes- CDU/CSU: Zehnpunkteprogramm zur regierung eingebrachten Entwurfs eines Wiederbelebung der deutschen Wirt- Gesetzes zur Änderung des Melde- schaft und des Arbeitsmarktes rechtsrahmengesetzes und anderer (Drucksachen 14/6436, 14/7213) . . . . 20535 D Gesetze (Drucksache 14/7260) ...... 20562 C d) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Techno- b) Erste Beratung des von der Bundes- logie zu dem Antrag der Abgeordneten regierung eingebrachten Entwurfs eines , Matthias Wissmann, wei- Gesetzes zu den Änderungen vom terer Abgeordneter und der Fraktion 20. Mai 1999 des Übereinkommens zur der CDU/CSU: Konjunkturabschwung Gründung der Europäischen Fernmel- stoppen – Wachstumskräfte stärken desatellitenorganisation „EUTELSAT“ (Drucksachen 14/6161, 14/7215) . . . . 20536 A (EUTELSAT-Übereinkommen) (Drucksache 14/7544) ...... 20562 C in Verbindung mit c) Erste Beratung des von der Bundes- regierung eingebrachten Entwurfs eines Zusatztagesordnungspunkt 4: Gesetzes zur Änderung des See- mannsgesetzes und anderer Gesetze Antrag der Abgeordneten Dr. Ditmar (Drucksachen 14/7760, 14/7797) . . . . 20562 D Staffelt, Dr. , weiterer Abgeord- neter und der Fraktion der SPD sowie der d) Erste Beratung des von der Bundes- Abgeordneten Werner Schulz (Leipzig), regierung eingebrachten Entwurfs eines (Berlin), weiterer Abgeord- Fünften Gesetzes zur Änderung des neter und der Fraktion des BÜNDNIS- Gesetzes über die Landwirtschaftli- SES 90/DIE GRÜNEN: Für eine stetige, che Rentenbank verlässliche und beschäftigungsfördern- (Drucksache 14/7753) ...... 20562 D Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 III

e) Erste Beratung des von der Bundes- CDU/CSU: Arbeit nicht durch über- regierung eingebrachten Entwurfs eines mäßige Sozialversicherungsbeiträge Gesetzes zur Durchführung der Rechts- teurer machen akte der Europäischen Gemeinschaft (Drucksache 14/7782) ...... 20563 C über die Etikettierung von Fischen und Fischereierzeugnissen (Fischetikettie- rungsgesetz) Tagesordnungspunkt 33: (Drucksache 14/7726) ...... 20562 D Abschließende Beratungen ohne Aus- f) Antrag der Abgeordneten Angela sprache Marquardt, Maritta Böttcher, weiterer a) Zweite und dritte Beratung des von der Abgeordneter und der Fraktion der PDS: Bundesregierung eingebrachten Ent- Zensur im Internet verhindern – Kein wurfs eines Zweiten Gesetzes zur Än- Einsatz von Filtern an öffentlichen derung des Postgesetzes Terminals – Für eine Kennzeich- (Drucksachen 14/7093, 14/7820) . . . . 20563 D nungspflicht beim Einsatz von Filter- Technologien b) Beschlussempfehlung und Bericht des (Drucksache 14/6128) ...... 20563 A Ausschusses für Wirtschaft und Tech- nologie zu dem Antrag der Abgeordne- g) Antrag der Fraktionen der SPD und ten Hildebrecht Braun (Augsburg), des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Rainer Brüderle, weiterer Abgeordne- Stärkung der wirtschaftlichen, sozia- ter und der Fraktion der FDP: Senkung len und kulturellen Rechte im Völ- des Entgelts für die Beförderung von kerrecht und im internationalen Be- Briefsendungen im Geltungsbereich reich der Exklusivlizenz nach § 51 Post- (Drucksache 14/7483) ...... 20563 A gesetz h) Antrag der Abgeordneten Roland (Drucksachen 14/4417, 14/7819) . . . . 20564 A Claus, Dr. und der Frak- c) Zweite und dritte Beratung des von der tion der PDS: Änderung der Gemein- Bundesregierung eingebrachten Ent- samen Geschäftsordnung des Bun- wurfs eines Ersten Gesetzes zur Ände- destages und des Bundesrates für rung des Postumwandlungsgesetzes den Ausschuss nach Artikel 77 (Drucksachen 14/7027, 14/7553) . . . . 20564 B des Grundgesetzes (Vermittlungs- ausschuss) e) Zweite und dritte Beratung des vom (Drucksache 14/119) ...... 20563 B Bundesrat eingebrachten Entwurfs ei- nes Gesetzes zur Änderung des Bun- in Verbindung mit desarchivgesetzes (Drucksachen 14/3830, 14/6915) . . . . 20564 C

Zusatztagesordnungspunkt 5: f) Beschlussempfehlung des Rechtsaus- schusses: Übersicht 10 über die dem Weitere Überweisungen im vereinfach- Deutschen Bundestag zugeleiteten ten Verfahren Streitsachen vor dem Bundesverfas- (Ergänzung zu TOP 32) sungsgericht (Drucksache 14/7527) ...... a) Erste Beratung des von der Bundes- 20565 A regierung eingebrachten Entwurfs eines g) – j) Siebten Gesetzes zur Änderung des Wasserhaushaltsgesetzes Beschlussempfehlungen des Petitions- (Drucksache 14/7755) ...... 20563 B ausschusses: Sammelübersichten 323, 324, 325, 326 zu Petitionen b) Erste Beratung des von der Bundes- (Drucksachen14/7685,14/7686,14/7687, regierung eingebrachten Entwurfs eines 14/7688) ...... 20565 A Gesetzes zur Umsetzung von Abkom- men über Soziale Sicherheit und zur in Verbindung mit Änderung verschiedener Zustim- mungsgesetze (Drucksache 14/7759) ...... 20563 C Zusatztagesordnungspunkt 6: c) Antrag der Abgeordneten Gerda Weitere abschließende Beratungen ohne Hasselfeldt, Heinz Seiffert, weiterer Aussprache Abgeordneter und der Fraktion der (Ergänzung zu TOP 33) IV Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001

a) – i) b) Große Anfrage der Abgeordneten , Lilo Friedrich (Mett- Beschlussempfehlungen des Petitions- mann), weiterer Abgeordneter und der ausschusses: Sammelübersichten 327, Fraktion der SPD sowie der Abgeord- 328, 329, 330, 331, 332, 333, 334, 335 neten Dr. Angelika Köster-Loßack, zu Petitionen Irmingard Schewe-Gerigk, weiterer (Drucksachen14/7799,14/7800,14/7801, Abgeordneter und der Fraktion des 14/7802, 14/7803, 14/7804, 14/7805, BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: 14/7806, 14/7807) ...... 20565 C Kampf gegen weibliche Genitalver- j) Zweite und dritte Beratung des von der stümmelung im In- und Ausland Bundesregierung eingebrachten Ent- (Drucksachen 14/5285, 14/6682) . . . . 20572 D wurfs eines Vierten Gesetzes zur Än- derung des Bundeszentralregister- c) Antrag der Abgeordneten Hermann gesetzes Gröhe, Annette Widmann-Mauz, weite- (Drucksachen 14/6814, 14/7837) . . . . 20566 B rer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Im Namen der „Ehre“ – Gewalt gegen Frauen weltweit ächten Zusatztagesordnungspunkt 7: (Drucksache 14/7457) ...... 20573 A a) Beschlussempfehlung und Bericht des d) Antrag der Abgeordneten Ingrid Auswärtigen Ausschusses zu dem An- Fischbach, Peter Weiß (Emmendingen), trag der Bundesregierung: Fortsetzung weiterer Abgeordneter und der Fraktion der Beteiligung bewaffneter deutscher der CDU/CSU: Gegen die sexuelle Streitkräfte an dem NATO-geführten Ausbeutung und den Missbrauch von Einsatz auf mazedonischem Territo- Kindern rium zum Schutz von Beobachtern (Drucksache 14/7610) ...... 20573 A internationaler Organisationen im Rahmen der weiteren Implementie- in Verbindung mit rung des politischen Rahmenab- kommens vom 13. August 2001 auf der Grundlage des Ersuchens des ma- Zusatztagesordnungspunkt 8: zedonischen Präsidenten Trajkovski vom 3. Dezember 2001 und der Reso- Antrag der Abgeordneten Carsten Hübner, lution Nr. 1371 (2001) des Sicherheits- Rosel Neuhäuser, weiterer Abgeordneter rates der Vereinten Nationen vom und der Fraktion der PDS: Kinder vor 26. September 2001 sexueller Ausbeutung schützen – (Drucksachen 14/7770, 14/7816, 14/7826) 20566 C Kindersextourismus bekämpfen (Drucksache 14/7793) ...... 20573 B , Bundesminister BMVg 20566 D Dr. CDU/CSU ...... 20568 B in Verbindung mit Joseph Fischer, Bundesminister AA ...... 20569 D Ulrich Irmer FDP ...... 20570 C Zusatztagesordnungspunkt 9: Wolfgang Gehrcke PDS ...... 20571 C Antrag der Abgeordneten Annette Widmann- Mauz, Hermann Gröhe, weiterer Abgeordne- Namentliche Abstimmung ...... 20572 C ter und der Fraktion der CDU/CSU: Geni- Ergebnis ...... 20575 B talverstümmelung an Mädchen und Frauen in der Bundesrepublik Deutsch- land und weltweit bekämpfen Tagesordnungspunkt 7: (Drucksache 14/7783) ...... 20573 B

a) Beschlussempfehlung und Bericht des in Verbindung mit Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe zu dem Antrag der Abgeordneten Rudolf Bindig, Angelika Zusatztagesordnungspunkt 10: Graf (Rosenheim), weiterer Abgeord- neter und der Fraktion der SPD sowie Antrag der Abgeordneten Erika Reinhardt, der Abgeordneten Kerstin Müller Dr. Maria Böhmer, weiterer Abgeordneter (Köln), Rezzo Schlauch und der Frak- und der Fraktion der CDU/CSU: Rechte tion des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜ- der Frauen in Afghanistan durchsetzen NEN: Prävention und Bekämpfung und stärken – Frauen an politischen Pro- von Frauenhandel zessen beteiligen (Drucksachen 14/6540, 14/7539) . . . . 20572 D (Drucksache 14/7784) ...... 20573 C Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 V in Verbindung mit Tagesordnungspunkt 8: a) Zwischenbericht der Enquete-Kom- Zusatztagesordnungspunkt 11: mission: Nachhaltige Energieversor- gung unter den Bedingungen der Glo- Antrag der Abgeordneten Angelika Graf, balisierung und der Liberalisierung – , weiterer Abgeordneter Teilbericht zu dem Thema: Nachhaltige und der Fraktion der SPD, der Abgeord- Energieversorgung auf liberalisierten neten Irmingard Schewe-Gerigk, Rita Märkten: Bestandsaufnahme und An- Grießhaber, weiterer Abgeordneter und satzpunkt der Fraktion des BÜNDNISSES 90/ (Drucksache 14/7509) ...... 20593 A DIE GRÜNEN, der Abgeordneten Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Ina Lenke, b) Antrag der Abgeordneten Kurt-Dieter weiterer Abgeordneter und der Fraktion der Grill, Dr. Klaus W. Lippold (Offen- FDP sowie der Abgeordneten Petra Bläss, bach), weiterer Abgeordneter und der Wolfgang Gehrke, weiterer Abgeordneter Fraktion der CDU/CSU: Energiebericht und der Fraktion der PDS: Teilnahme von sofort veröffentlichen – Energiekon- Frauen am Friedensprozess in Afgha- zept vorlegen nistan (Drucksache 14/7287) ...... 20593 B (Drucksache 14/7815) ...... 20573 C in Verbindung mit in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 14: Zusatztagesordnungspunkt 12: Antrag der Abgeordneten Walter Hirche, Antrag der Fraktionen der SPD und des Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Die und der Fraktion der FDP: Energiebericht Spirale der Gewalt in Tschetschenien für eine energiepolitische Grundsatz- durchbrechen debatte nutzen (Drucksache 14/7795) ...... 20573 C (Drucksache 14/7814) ...... 20593 B Dr. Werner Müller, Bundesminister BMWi 20593 C in Verbindung mit Kurt-Dieter Grill CDU/CSU ...... 20595 A Michaele Hustedt BÜNDNIS 90/ Zusatztagesordnungspunkt 13: DIE GRÜNEN ...... 20596 D Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- Kurt-Dieter Grill CDU/CSU ...... 20598 C schusses für Menschenrechte und huma- Michaele Hustedt BÜNDNIS 90/ nitäre Hilfe zu dem Antrag der Abgeordne- DIE GRÜNEN ...... 20598 D ten Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Dr. , weiterer Abgeord- Walter Hirche FDP ...... 20598 D neter und der Fraktion der FDP: Für eine Rolf Kutzmutz PDS ...... 20600 C Tschetschenien-Resolution der VN-Men- schenrechtskommission Dr. Axel Berg SPD ...... 20601 C (Drucksachen 14/3186, 14/7809) ...... 20573 D Franz Obermeier CDU/CSU ...... 20603 B Rudolf Bindig SPD ...... 20573 D Monika Ganseforth SPD ...... 20605 A Annette Widmann-Mauz CDU/CSU ...... 20578 B Ulrich Kasparick SPD ...... 20606 B Christa Nickels BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 20580 B Sabine Leutheusser-Schnarrenberger FDP 20581 D Zusatztagesordnungspunkt 15: Petra Bläss PDS ...... 20583 C Aktuelle Stunde betr. Haltung der Bun- Angelika Graf (Rosenheim) SPD ...... 20584 D desregierung zu den Ergebnissen der PISA-Studie sowie zur Umsetzung der Dr. Heiner Geißler CDU/CSU ...... 20586 C Empfehlungen des Forums Bildung . . . 20607 B Irmingard Schewe-Gerigk BÜNDNIS 90/ Dr. SPD ...... 20607 C DIE GRÜNEN ...... 20588 A CDU/CSU ...... 20608 C Maria Eichhorn CDU/CSU ...... 20589 B Dr. Reinhard Loske BÜNDNIS 90/ Hanna Wolf (München) SPD ...... 20590 D DIE GRÜNEN ...... 20609 C VI Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001

Cornelia Pieper FDP ...... 20611 A neter und der Fraktion der CDU/ CSU: Konzept für die zukünftige Maritta Böttcher PDS ...... 20612 B Finanzierung der Bundesver- , Bundesministerin BMBF 20613 B kehrswege Bärbel Sothmann CDU/CSU ...... 20615 A (Drucksachen 14/5081, 14/4688 (neu), Katrin Göring-Eckardt BÜNDNIS 90/ 14/5317, 14/7448) ...... 20636 D DIE GRÜNEN ...... 20616 B b) Antrag der Abgeordneten Wolfgang Brigitte Wimmer (Karlsruhe) SPD ...... 20617 B Börnsen (Bönstrup), Dirk Fischer Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land) CDU/CSU 20618 C (), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Mehr Christel Humme SPD ...... 20619 C Sicherheit durch Kreisverkehre Dr. Gerhard Friedrich (Erlangen) CDU/CSU 20620 C (Drucksache 14/7452) ...... 20637 A Jörg Tauss SPD ...... 20621 D c) Antrag der Abgeordneten Dirk Fischer (Hamburg), , weiterer Abgeordneter und der Fraktion der Tagesordnungspunkt 9: CDU/CSU: Deutsche Verkehrsinfra- struktur auf EU-Osterweiterung vor- Bericht des Petitionsausschusses: Bitten und Beschwerden an den Deutschen bereiten Bundestag. Die Tätigkeit des Petitions- (Drucksache 14/7455) ...... 20637 A ausschusses des Deutschen Bundestages d) Zweite und dritte Beratung des von der im Jahr 2000 Bundesregierung eingebrachten Ent- (Drucksache 14/5882) ...... 20623 A wurfs eines Gesetzes zur Einführung Heidemarie Lüth PDS ...... 20623 B von streckenbezogenen Gebühren für die Benutzung von Bundesautobah- Bernd Reuter SPD ...... 20624 C nen mit schweren Nutzfahrzeugen CDU/CSU ...... 20626 A (Drucksachen 14/7013, 14/7087, 14/7822, 14/7823) ...... Helmut Wilhelm (Amberg) BÜNDNIS 90/ 20637 A DIE GRÜNEN ...... 20627 C e) Beschlussempfehlung und Bericht des Günther Friedrich Nolting FDP ...... 20628 B Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen zu dem Antrag der Jutta Müller (Völklingen) SPD ...... 20629 C Abgeordneten (Bay- CDU/CSU ...... 20631 B reuth), Hans-Michael Goldmann, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion der Annelie Buntenbach BÜNDNIS 90/ FDP: Keine Abgabenerhöhung durch DIE GRÜNEN ...... 20632 B LKW-Maut Heidemarie Ehlert PDS ...... 20633 B (Drucksachen 14/7072, 14/7821) . . . . 20637 B Reinhold Hiller (Lübeck) SPD ...... 20634 B in Verbindung mit CDU/CSU ...... 20635 C

Zusatztagesordnungspunkt 16: Tagesordnungspunkt 10: Antrag der Abgeordneten Horst Friedrich, a) Beschlussempfehlung und Bericht des Hans-Michael Goldmann, weiterer Abge- Ausschusses für Verkehr, Bau- und ordneter und der Fraktion der FDP: Kfz- Wohnungswesen Steuer für schwere LKW auf EU-Min- destniveau absenken – schadstoffarme – zu dem Entschließungsantrag der LKW fördern Abgeordneten Dirk Fischer (Ham- (Drucksache 14/7325) ...... 20637 C burg), Dr.-Ing. Dietmar Kansy, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion Reinhard Weis (Stendal) SPD ...... 20637 D der CDU/CSU zu der Unterrichtung Dirk Fischer (Hamburg) CDU/CSU ...... 20640 B durch die Bundesregierung: Ver- kehrsbericht 2000 – Integrierte Albert Schmidt (Hitzhofen) BÜNDNIS 90/ Verkehrspolitik: Unser Konzept DIE GRÜNEN ...... 20642 B für eine mobile Zukunft ...... 20636 D Horst Friedrich (Bayreuth) FDP ...... 20644 D – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Winfried Wolf PDS ...... 20646 C Dirk Fischer (Hamburg), Dr.-Ing. Dietmar Kansy, weiterer Abgeord- CDU/CSU ...... 20647 C Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 VII

Kurt Bodewig, Bundesminister BMVBW . . . 20648 D Zusagen zum globalen HIV/Aids- und Gesundheitsfonds einhalten und Aids- Wilhelm Josef Sebastian CDU/CSU ...... 20651 C Impfstoffforschung stärker fördern (Drucksache 14/7438) ...... 20654 B Zusatztagesordnungspunkt 26: Beschlussempfehlung des Ausschusses für Tagesordnungspunkt 15: Wahlprüfung, Immunität und Geschäfts- ordnung zu dem Antrag auf Genehmigung a) Antrag der Abgeordneten Kurt-Dieter zur Durchführung eines Strafverfahrens Grill, Dr. Peter Paziorek, weiterer Ab- (Drucksache 14/7863) ...... 20653 B geordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Globale Strategie gegen Wassermangel als internationales Tagesordnungspunkt 11: Konfliktpotenzial (Drucksache 14/7437) ...... 20654 C Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Zwei- b) Antrag der Abgeordneten Dagmar ten Gesetzes zur Änderung und Ergänzung Schmidt (Meschede), Adelheid vermögensrechtlicher und anderer Vor- Tröscher, weiterer Abgeordneter und schriften (Zweites Vermögensrechtser- der Fraktion der SPD sowie der Abge- gänzungsgesetz) ordneten Dr. Angelika Köster-Loßack, (Drucksache 14/7228) ...... 20653 C Hans-Christian Ströbele, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Tagesordnungspunkt 12: Wasser als öffentliches Gut und die Erste Beratung des von den Abgeordneten Bedeutung von Wasser in der deut- , Erwin Marschewski (Reck- schen Entwicklungszusammenarbeit linghausen), weiteren Abgeordneten und (Drucksache 14/7484) ...... 20654 D der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesse- rung des Schutzes der Bevölkerung vor Tagesordnungspunkt 16: angedrohten und vorgetäuschten Straf- taten Erste Beratung des von der Bundesregie- (Drucksache 14/7616) ...... 20653 D rung eingebrachten Entwurfs eines Zwei- ten Gesetzes zur Änderung schadens- ersatzrechtlicher Vorschriften Tagesordnungspunkt 13: (Drucksache 14/7752) ...... 20655 A Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- Tagesordnungspunkt 17: NEN eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Änderung des Gesetzes zur Förde- a) Erste Beratung des von der Bundes- rung eines freiwilligen sozialen Jahres und regierung eingebrachten Entwurfs ei- anderer Gesetze (FSJ-Förderungsände- nes Gesetzes zur Neuregelung des rungsgesetz) Waffenrechts (Drucksache 14/7485) ...... 20654 A (Drucksache 14/7758) ...... 20655 A in Verbindung mit b) Erste Beratung des vom Bundesrat ein- gebrachten Entwurfs eines Dritten Ge- setzes zur Änderung des Waffenge- Zusatztagesordnungspunkt 17: setzes Antrag der Abgeordneten Gerhard Schüßler, (Drucksache 14/763) ...... 20655 B Ina Lenke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Deutschland braucht gesetzliche Rahmenbedingungen für ei- Tagesordnungspunkt 18: nen allgemeinen Freiwilligendienst Antrag der Abgeordneten Eva Bulling- (Drucksache 14/7811) ...... 20654 A Schröter, Dr. Winfried Wolf, Uwe Hiksch und der Fraktion der PDS: Ausbau der Do- nau zwischen Straubing und Vilshofen Tagesordnungspunkt 14: ökologisch gestalten Antrag der Abgeordneten Erika Reinhardt, (Drucksache 14/7196) ...... 20655 C Klaus-Jürgen Hedrich, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion der CDU/CSU: Nächste Sitzung ...... 20655 D VIII Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001

Anlage 1 Ina Lenke FDP ...... 20669 C Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 20657 A Monika Balt PDS ...... 20670 A Dr. , Bundesministerin BMFSFJ ...... 20670 C Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Ände- Anlage 5 rung und Ergänzung vermögensrechtlicher und Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des anderer Vorschriften (Zweites Vermögens- Antrags: Zusagen zum globalen HIV/Aids- rechtsergänzungsgesetz – 2. Verm.RErgG) (Ta- und Gesundheitsfonds einhalten und Aids- gesordnungspunkt 11) ...... 20657 C Impfstoffforschung stärker fördern (Tagesord- Hans-Joachim Hacker SPD ...... 20657 D nungspunkt 14) ...... 20671 C Andrea Voßhoff CDU/CSU ...... 20658 C Frank Hempel SPD ...... 20671 C Hans-Christian Ströbele BÜNDNIS 90/DIE Dr. Hansjörg Schäfer SPD ...... 20673 D GRÜNEN ...... 20659 D Erika Reinhardt CDU/CSU ...... 20674 C FDP ...... 20660 B Dr. Angelika Köster-Loßack BÜNDNIS 90/ Dr. Evelyn Kenzler PDS ...... 20660 D DIE GRÜNEN ...... 20675 D Dr. Herta Däubler-Gmelin, Bundesministerin FDP ...... 20676 C BMJ ...... 20661 B Carsten Hübner PDS ...... 20677 B

Anlage 3 Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung des Anträge: Schutzes der Bevölkerung vor angedrohten – Globale Strategie gegen Wassermangel als und vorgetäuschten Straftaten (Tagesord- internationales Konfliktpotenzial nungspunkt 12) ...... 20663 A – Wasser als öffentliches Gut und die Bedeu- Hermann Bachmaier SPD ...... 20663 A tung von Wasser in der deutschen Entwick- Dr. Jürgen Gehb CDU/CSU ...... 20663 D lungszusammenarbeit (Köln) BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Tagesordnungspunkt 15 a und b) ...... 20677 D NEN ...... 20664 D (Meschede) SPD ...... 20677 D Jörg van FDP ...... 20665 B SPD ...... 20679 A Dr. Evelyn Kenzler PDS ...... 20665 D Kurt-Dieter Grill CDU/CSU ...... 20679 D Joachim Günther (Plauen) FDP ...... 20680 B Anlage 4 Carsten Hübner PDS ...... 20681 A Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: Dr. Uschi Eid, Parl. Staatssekretärin BMZ 20681 C – des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Förderung eines freiwilligen sozialen Jahres und anderer Gesetze (FSJ- Anlage 7 Förderungsänderungsgesetz – FSJGÄndG) Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des – Antrag: Deutschland braucht gesetzliche Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Ände- Rahmenbedingungen für einen allgemei- rung schadensersatzrechtlicher Vorschriften nen Freiwilligendienst (Tagesordnungspunkt 16) ...... 20682 C (Tagesordnungspunkt 13 und Zusatztagesord- SPD ...... 20682 C nungspunkt 17) ...... 20666 C Dr. Wolfgang Götzer CDU/CSU ...... 20683 D Dieter Dzewas SPD ...... 20666 C Volker Beck (Köln) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN ...... 20685 B Thomas Dörflinger CDU/CSU ...... 20667 C Rainer Funke FDP ...... 20685 D Irmingard Schewe-Gerigk BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN ...... 20668 D Dr. Evelyn Kenzler PDS ...... 20686 C Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 IX

Dr. Herta Däubler-Gmelin, Bundesministerin Ulla Jelpke PDS ...... 20691 D BMJ ...... 20687 A Fritz Rudolf Körper, Parl. Staatssekretär BMI 20692 D

Anlage 8 Anlage 9 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs des Antrags: Ausbau der Donau zwischen – eines Gesetzes zur Neuregelung des Waf- Straubing und Vilshofen ökologisch gestalten fenrechts (WaffRNeuRegG) (Tagesordnungspunkt 18) ...... 20693 C – eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Annette Faße SPD ...... 20693 C Waffengesetzes Brunhilde Irber SPD ...... 20694 C (Tagesordnungspunkt 17 a und b) ...... 20688 B Renate Blank CDU/CSU ...... 20696 A SPD ...... 20688 B Helmut Wilhelm (Amberg) BÜNDNIS 90/ Hartmut Koschyk CDU/CSU ...... 20689 B DIE GRÜNEN ...... 20697 B Cem Özdemir BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 20690 C Hans-Michael Goldmann FDP ...... 20698 A Dr. Max Stadler FDP ...... 20691 B Dr. Winfried Wolf PDS ...... 20699 A

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(A) (C)

208. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident : Guten Morgen, liebe Rechtsausschuss Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet. Finanzausschuss Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung Zunächst möchte ich den Kollegen Günter Graf und Ausschuss für Gesundheit Peter Letzgus, die beide am 1. Dezember ihren 60. Ge- Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen burtstag feierten, sowie dem Kollegen Dr. Klaus Rose, Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder der am 7. Dezember ebenfalls seinen 60. Geburtstag be- Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen- ging, nachträglich gratulieren und die besten Glückwün- abschätzung sche des Hauses aussprechen. Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss (Beifall) 5. Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren Die Kollegin Christa Lörcher hat ihr Amt als Schrift- (Ergänzung zu TOP 32) führerin niedergelegt. Die Fraktion der SPD benennt als a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Nachfolgerin die Kollegin Dr. Margrit Spielmann. Sind (B) Entwurfs eines Siebten Gesetzes zur Änderung des Was- (D) Sie damit einverstanden? – Ich höre keinen Widerspruch. serhaushaltsgesetzes – Drucksache 14/7755 – Dann ist die Kollegin Dr. Spielmann als Schriftführerin Überweisungsvorschlag: gewählt. Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Land- Tagesordnung dieser Woche um weitere Punkte, die Ih- wirtschaft nen in einer Zusatzpunktliste vorliegen, zu erweitern: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen 3. Beratung des Antrags der Fraktion der PDS: Einwanderung b)Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten und Flüchtlingsschutz menschenrechtlich gestalten – Druck- Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung von Abkommen sache 14/7810 – über soziale Sicherheit und zur Änderung verschiedener Überweisungsvorschlag: Zustimmungsgesetze – Drucksache 14/7759 – Innenausschuss (f) Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie c) Beratung des Antrags der Abgeordneten , Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung Heinz Seiffert, Karl-Josef Laumann, weiterer Abgeordneter Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und der Fraktion der CDU/CSU: Arbeit nicht durch Ausschuss für Gesundheit übermäßige Sozialversicherungsbeiträge teurer machen Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe – Drucksache 14/7782 – Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen- abschätzung Überweisungsvorschlag: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung (f) Ausschuss für Kultur und Medien Finanzausschuss Haushaltsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Haushaltsausschuss 4. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Ditmar Staffelt, Dr. Axel Berg, Rolf Hempelmann, weiterer Abgeordneter und 6. Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Werner Schulz (Ergänzung zu TOP 33) (Leipzig), Andrea Fischer (Berlin), Michaele Hustedt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/ a) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschus- DIE GRÜNEN: Für eine stetige, verlässliche und beschäf- ses (2. Ausschuss): Sammelübersicht 327 zu Petitionen tigungsfördernde Wachstumspolitik – kein konjunktur- – Drucksache 14/7799 – politischer Aktionismus – Drucksache 14/7808 – b)Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschus- Überweisungsvorschlag: ses (2. Ausschuss): Sammelübersicht 328 zu Petitionen Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) – Drucksache 14/7800 – 20508 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001

Präsident Wolfgang Thierse (A) c) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschus- und der Fraktion der CDU/CSU: Rechte der Frauen in (C) ses (2. Ausschuss): Sammelübersicht 329 zu Petitionen Afghanistan durchsetzen und stärken – Frauen an politi- – Drucksache 14/7801 – schen Prozessen beteiligen – Drucksache 14/7784 – d)Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschus- 11. Beratung des Antrags der Abgeordneten Angelika Graf, Ulla ses (2. Ausschuss): Sammelübersicht 330 zu Petitionen Burchardt, , weiterer Abgeordneter und der Frak- – Drucksache 14/7802 – tion der SPD, der Abgeordneten Irmingard Schewe-Gerigk, Rita Grießhaber, Dr. Angelika Köster-Loßack, weiterer Abge- e) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschus- ordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- ses (2. Ausschuss): Sammelübersicht 331 zu Petitionen NEN, der Abgeordneten Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, – Drucksache 14/7803 – Ina Lenke, Dr. , weiterer Abgeordneter und f) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschus- der Fraktion der FDP sowie der Abgeordneten Petra Bläss, ses (2. Ausschuss): Sammelübersicht 332 zu Petitionen Wolfgang Gehrcke, Carsten Hübner, weiterer Abgeordneter – Drucksache 14/7804 – und der Fraktion der PDS: Teilnahme von Frauen am Frie- densprozess in Afghanistan – Drucksache 14/7815 – g)Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschus- ses (2. Ausschuss): Sammelübersicht 333 zu Petitionen 12. Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und des – Drucksache 14/7805 – BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Die Spirale der Gewalt in Tschetschenien durchbrechen – Drucksache 14/7795 – h)Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschus- ses (2. Ausschuss): Sammelübersicht 334 zu Petitionen 13. Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des – Drucksache 14/7806 – Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe (18. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Sabine i) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschus- Leutheusser-Schnarrenberger, Dr. Helmut Haussmann, Ulrich ses (2. Ausschuss): Sammelübersicht 335 zu Petitionen Irmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Für eine Tschetschenien-Resolution der VN-Menschenrechts- – Drucksache 14/7807 – kommission – Drucksachen 14/3186, 14/7809 – 7. a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Aus- Berichterstattung: wärtigen Ausschusses (3. Ausschuss) zu dem Antrag der Bun- Abgeordnete Rudolf Bindig desregierung: Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter Hermann Gröhe deutscher Streitkräfte an dem NATO-geführten Einsatz auf Christa Nickels mazedonischem Territorium zum Schutz von Beobachtern Sabine Leutheusser-Schnarrenberger internationaler Organisationen im Rahmen der weiteren Implementierung des politischen Rahmenabkommens vom 14. Beratung des Antrags der Abgeordneten Walter Hirche, Rainer 13. August 2001 auf der Grundlage des Ersuchens des ma- Brüderle, Paul K. Friedhoff, weiterer Abgeordneter und der zedonischen Präsidenten Trajkovski vom 3. Dezember 2001 Fraktion der FDP: Energiebericht für eine energiepolitische und der Resolution Nr. 1371 (2001) des Sicherheitsrates der Grundsatzdebatte nutzen – Drucksache 14/7814 – Vereinten Nationen vom 26. September 2001 – Drucksachen 14/7770, 14/7816 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) (B) Berichterstattung: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (D) Abgeordnete (Wiesloch) Christian Schmidt (Fürth) 15. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD: Haltung Dr. Helmut Lippelt der Bundesregierung zu den Ergebnissen der PISA-Studie Ulrich Irmer sowie zur Umsetzung der Empfehlungen des Forums Bil- Wolfgang Gehrcke dung b) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) gemäß § 96 16. Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst Friedrich, Hans- der Geschäftsordnung – Drucksache 14/7826 – Michael Goldmann, Dr. , weiterer Abge- ordneter und der Fraktion der FDP: Kfz-Steuer für schwere Berichterstattung: LKW auf EU-Mindestniveau absenken – schadstoffarme Abgeordnete Uta Titze-Stecher LKW fördern – Drucksache 14/7325 – Antje Hermenau Überweisungsvorschlag: Jürgen Koppelin Finanzausschuss (f) Dr. Christa Luft Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen 8. Beratung des Antrags der Abgeordneten Carsten Hübner, Rosel Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Neuhäuser, Sabine Jünger, weiterer Abgeordneter und der Frak- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union tion der PDS: Kinder vor sexueller Ausbeutung schützen – Kindersextourismus bekämpfen – Drucksache 14/7793 – 17. Beratung des Antrags der Abgeordneten Gerhard Schüßler, Ina Lenke, , weiterer Abgeordneter und der Frak- Überweisungsvorschlag: tion der FDP: Deutschland braucht gesetzliche Rahmen- Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe (f) bedingungen für einen allgemeinen Freiwilligendienst Innenausschuss – Drucksache 14/7811 – Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) Entwicklung Rechtsausschuss Ausschuss für Tourismus Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen- 9. Beratung des Antrags der Abgeordneten Annette Widmann- abschätzung Mauz, Hermann Gröhe, Maria Eichhorn, weiterer Abgeordne- Ausschuss für Kultur und Medien ter und der Fraktion der CDU/CSU: Genitalverstümmelung an Mädchen und Frauen in der Bundesrepublik Deutsch- 18. Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach land und weltweit bekämpfen – Drucksache 14/7783 – Art. 77 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuss) zu dem Gesetz zur Regelung der Rechtsverhältnisse von Prostituierten 10. Beratung des Antrags der Abgeordneten Erika Reinhardt, (Prostitutionsgesetz – ProstG): – Drucksachen 14/5958, Dr. Maria Böhmer, Hermann Gröhe, weiterer Abgeordneter 14/7174, 14/7524, 14/7748 – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20509

Präsident Wolfgang Thierse (A) Berichterstattung: Der in der 201. Sitzung des Deutschen Bundestages (C) Abgeordneter überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich 19. Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach dem Ausschuss für Tourismus zur Mitberatung über- Art. 77 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuss) zu dem wiesen werden. Gesetz zur Änderung des Strafrechtlichen Rehabilitie- rungsgesetzes: – Drucksachen 14/7283, 14/7476, 14/7745, Gesetzentwurf der Fraktionen der SPD und des 14/7749 – BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN zur Gleichstel- Berichterstattung: lung behinderter Menschen und zur Änderung Abgeordneter Jörg van Essen anderer Gesetze – Drucksache 14/7420 – 20. Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach überwiesen: Art. 77 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuss) zu dem Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung (f) ... Gesetz zur Änderung der Strafprozessordnung: – Druck- Innenausschuss sachen 14/5166, 14/6576, 14/7015, 14/7776 – Sportausschuss Rechtsausschuss Berichterstattung: Finanzausschuss Abgeordneter Ludwig Stiegler Ausschuss für Wirtschaft und Technologie 21. Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Art. 77 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuss) zu dem Ge- Ausschuss für Gesundheit setz zur Reform der Professorenbesoldung (Professorenbesol- Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen dungsreformgesetz – ProfBesReformG): – Drucksachen Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen- 14/6852, 14/7356, 14/7743, 14/7777 – abschätzung Ausschuss für Tourismus Berichterstattung: Haushaltsausschuss Abgeordneter Ludwig Stiegler Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? – 22. Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Art. 77 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuss) zu dem Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Gesetz zur Bereinigung des Rechtsmittelrechts im Verwal- tungsprozess (RmBereinVpG) – Drucksachen 14/6393, Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a bis 5 d sowie Zu- 14/6854, 14/7474, 14/7744, 14/7779 – satzpunkt 3 auf: Berichterstattung: Abgeordneter Ludwig Stiegler 5. a) Erste Beratung des von der Fraktion der SPD und 23. Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN einge- Art. 77 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuss) zu dem brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Steuerung Gesetz zur Fortentwicklung des Unternehmensteuerrechts und Begrenzung der Zuwanderung und zur Rege- (Unternehmensteuerfortentwicklungsgesetz – UntStFG): lung des Aufenthalts und der Integration von Uni- (B) – Drucksachen 14/6882, 14/7084, 14/7343, 14/7344, 14/7742, (D) 14/7780 – onsbürgern und Ausländern (Zuwanderungsgesetz) Berichterstattung: Abgeordneter Joachim Poß – Drucksache 14/7387 – 24. Beratung des Antrags der Abgeordneten , Ulla Jelpke, Überweisungsvorschlag: Sabine Jünger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der Innenausschuss (f) PDS: Bürgerrechte schützen – öffentliche Sicherheit ver- Auswärtiger Ausschuss bessern – Drucksache 14/7792 – Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung Innenausschuss (f) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Rechtsausschuss Ausschuss für Gesundheit 25. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. , Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Carl-Ludwig Thiele, Hildebrecht Braun (Augsburg), weiterer Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen- Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Umsatzbesteuerung abschätzung von Sportanlagen wirtschaftsfreundlich gestalten – Druck- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union sache 14/7813 – Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Innenausschuss Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung des Von der Frist für den Beginn der Beratung soll – soweit Asylverfahrensgesetzes erforderlich – abgewichen werden. – Drucksache 14/7465 – Des Weiteren wurde vereinbart, den Tagesordnungs- Überweisungsvorschlag: punkt 25 – Kraft-Wärme-Kopplungsgesetz – sowie die Innenausschuss(f) unter Tagesordnungspunkt 27 a bis 27 g aufgeführten Vor- Rechtsausschuss lagen zur Tariftreue und Bauwirtschaft und den Tagesord- Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe nungspunkt 33 d – Versicherungskapitalanlagen-Bewer- tungsgesetz – abzusetzen. c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang Außerdem mache ich auf eine nachträgliche Ausschuss- Bosbach, Erwin Marschewski (Recklinghausen), überweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerk- , weiterer Abgeordneter und der sam: Fraktion der CDU/CSU 20510 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001

Präsident Wolfgang Thierse (A) Umfassendes Gesetz zur Steuerung und Be- teilgenommen haben, soweit es sich um sachliche Dis- (C) grenzung der Zuwanderung sowie zur Förde- kussionsbeiträge gehandelt hat, danken. Dieser Dank gilt rung der Integration jetzt vorlegen auch denen, die in den verschiedenen Kommissionen – Drucksache 14/6641 – wichtige Vorarbeit geleistet haben. Überweisungsvorschlag: (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Innenausschuss (f) DIE GRÜNEN) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Sie werden verstehen, dass ich meinen Dank zualler- Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung erst an Frau Professor Dr. Süssmuth richte, die die nach Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ihrem Namen benannte Kommission geleitet hat und, wie Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder ich finde, hervorragende Arbeit für unser Land geleistet Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union hat. (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE d) Beratung des Berichts des Ausschusses für Fami- GRÜNEN und der FDP sowie bei Abgeordne- lie, Senioren, Frauen und Jugend (13. Ausschuss) ten der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt [Salzgit- gemäß § 62 Abs. 2 der Geschäftsordnung zu dem ter] [SPD]: Da kann die CDU/CSU auch ruhig Antrag der Abgeordneten Petra Bläss, Ulla Jelpke, klatschen!) Petra Pau, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS – Das hat sie. Anerkennung geschlechtsspezifischer Flucht- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Zwei ursachen als Asylgrund Leute!) – Drucksachen 14/1083, 14/7767 – – Nein, sie hat fair geklatscht, nicht alle Abgeordneten, Berichterstattung: aber immerhin einige. Das ist doch schon ganz gut. – Der Abgeordnete Christel Riemann-Hanewinckel Wert der Arbeit der Süssmuth-Kommission liegt, glaube ich, vor allem auch darin, dass einmal eine klare Analyse ZP 3 Beratung des Antrags der Fraktion der PDS unserer gegenwärtigen Lage durchgeführt worden ist. Einwanderung und Flüchtlingsschutz menschen- Ich richte meinen Dank ebenfalls an Herrn Minister- rechtlich gestalten präsidenten Peter Müller, der für die CDU eine Kommis- – Drucksache 14/7810 – sion geleitet hat und, wie ich finde, ebenfalls hervorra- gende Arbeit – das muss man fairerweise anerkennen – Überweisungsvorschlag: geleistet hat. (B) Innenausschuss (f) (D) Auswärtiger Ausschuss (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Rechtsausschuss des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung CDU/CSU – Dr. Peter Struck [SPD]: Sehr guter Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Mann!) Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Den Dank erstrecke ich auch auf andere Parteien, bei- Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen- spielsweise unseren Koalitionspartner Bündnis 90/Die abschätzung Grünen. Bündnis 90/Die Grünen sind vielleicht sogar die Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union allerersten gewesen, die sich mit diesem Thema intensiv Ausschuss für Kultur und Medien beschäftigt und dazu Vorschläge ausgearbeitet haben. Haushaltsausschuss Aber auch die FDP hat Gesetzentwürfe ausgearbeitet und Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die die Diskussion dazu bereichert. Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. Ich höre kei- nen Widerspruch. – Dann ist so beschlossen. Ich erwähne das alles vorweg, weil wir uns in einem Punkt einig sind: dass es grundlegenden Reformbedarf gibt. Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Bundesmi- Daher muss die Politik handeln. Sie darf nicht versuchen, nister Otto Schily das Wort. das Handeln zu verhindern. Das ist der entscheidende Punkt. Wir haben mit dem Gesetzentwurf, den wir jetzt vorle- Otto Schily, Bundesminister des Innern (von der SPD gen, gehandelt. Dieser Gesetzentwurf ermöglicht – das ist und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mit Beifall be- seine Zielsetzung – eine bessere Steuerung und Begren- grüßt): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir zung der Zuwanderung. Er ermöglicht es, dass wir unse- beraten heute ein wichtiges Gesetzgebungsvorhaben, das ren eigenen wohlverstandenen wirtschaftlichen Interes- aus den Reihen des Parlaments eingebracht worden ist sen besser gerecht werden. Er ermöglicht und sichert, dass und das wörtlich mit einem Kabinettsbeschluss überein- wir unseren völkerrechtlichen, verfassungsrechtlichen stimmt. Diese beiden Vorlagen werden im Verlauf des par- und humanitären Verpflichtungen treu bleiben, und er lamentarischen Verfahrens zusammengeführt werden. ermöglicht – das ist wahrlich keine Bagatelle – auch eine bessere Integration von Menschen, die aus anderen Län- Es gibt wahrscheinlich nur wenige Gesetzgebungsvor- dern zu uns gekommen sind. haben, die schon im vorparlamentarischen Raum so leb- haft und so intensiv diskutiert worden sind wie dieses. Ich (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ will allen, die an dieser Debatte vor dem heutigen Tage DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20511

Bundesminister Otto Schily (A) In der kurzen Zeit, die mir zur Verfügung steht, werde – Ihre Wirtschaftskompetenz haben Sie längst eingebüßt. (C) ich nicht auf alle Einzelheiten eingehen können. Ich setze Das wissen wir. einmal voraus, dass Sie den Inhalt des Gesetzentwurfes kennen. Ich hoffe, dass Sie auch zu lesen verstehen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD und des Alle Wirtschaftsverbände fordern einhellig, dass wir BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Wider- bei diesem Thema vorankommen. Sie sagen: Der vorlie- spruch bei Abgeordneten der CDU/CSU – gende Gesetzentwurf ist eine gute Grundlage für eine Dr. [FDP]: Nach der PISA- Regelung. Studie?) (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das stimmt – Ich muss das leider sagen. Was ich gesagt habe, bezieht nicht!) sich natürlich nicht auf die übergroße Mehrheit dieses Sie haben natürlich auch etwas zu beanstanden; jeder Hauses; aber an einige muss ich schon die Bitte richten, fordert ja etwas anderes. Aber im Prinzip sagen alle Wirt- nicht zu versuchen, Leseübungen mit verbundenen Augen schaftsverbände, vom BDI über den DIHT – ich habe ge- durchzuführen. Damit kommt man bei diesem Gesetzes- rade die jüngste Äußerung von Herrn Braun dazu auf dem text nicht weiter. Tisch – und den Bundesverband der Arbeitgeber bis zu (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ den Verbänden des Handwerks, dass das eine gute Grund- DIE GRÜNEN) lage ist. Sie alle mahnen, dieses Gesetz zu verabschieden. Eines ist vollkommen klar: Der vorliegende Gesetz- Diese Forderung kommt übrigens auch von der Gewerk- entwurf dient der Begrenzung von Zuwanderung. Ohne schaftsseite; das ist interessant. Begrenzung kann man keine Steuerung von Zuwanderung Sie versuchen in einer üblen Form – das muss ich Ih- vornehmen. Bestimmte Entscheidungsmechanismen, die nen vorwerfen –, Arbeitslose gegen Zuwanderung auszu- hier vorgezeichnet werden, bestehen zum Zwecke der Be- spielen. Das ist üble Polemik und Demagogie. grenzung. Ohne solche Mechanismen könnte man sagen – das wäre die entsprechende Schlussfolgerung –: Jeder, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ der kommen will, kommt. Manche Frage muss man mit- DIE GRÜNEN sowie des Abg. Roland Claus hilfe einer einfachen Logik klären. [PDS]) Ich sage hier ganz deutlich: Wenn der Wunsch besteht, Ihre Äußerungen sind so widersprüchlich, dass man es im Gesetzestext oder in der Begründung den Zweck der gar nicht aushalten kann. Sie wissen ganz genau: Die Begrenzung noch stärker herauszuarbeiten, dann werde Greencard-Regelung, die ein Vorgriff auf die Zuwan- ich mich dem nicht verweigern. Herr Bosbach, ich habe in derungsregelung ist, hat dazu geführt, dass wir 10 000 IT- (B) (D) der Zeitung gelesen – – Fachkräfte ins Land geholt haben, die wir dringend (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Guter Mann!) brauchen und die wir aus dem vorhandenen Arbeitskräf- tepotenzial nicht gewinnen können. Diese Fachkräfte – Es ist gut, dass Sie Ihren Mann feiern wollen. Ich habe kommen übrigens vorwiegend aus den Ländern, die Bei- nichts dagegen. Feiern Sie ihn gleich; wahrscheinlich trittskandidaten sind, sodass wir bei ihnen, was die Frei- wird auch er noch das Wort ergreifen. – Herr Bosbach zügigkeit angeht, dann Erleichterungen haben werden. sagt, es reiche ihm nicht aus, wenn in § 1 des Zuwande- Die Folge war nicht etwa eine Belastung des Arbeits- rungsgesetzes von Begrenzung die Rede ist; es müsse marktes, sondern eine Entlastung; denn das hat dazu ge- vielmehr in jedem Paragraphen erwähnt werden. Ich finde führt, dass wir zusätzlich 25 000 bis 30 000 Arbeitsplätze das – entschuldigen Sie diese Ausdrucksweise – etwas für Menschen haben schaffen können, die Arbeit gesucht verkrampft. haben. Diese Menschen sind uns dafür dankbar, weil sie (Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem jetzt in Lohn und Brot gekommen sind. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Es sollte doch nicht so sein, dass in jedem Paragraphen DIE GRÜNEN) zunächst steht: Wir wollen begrenzen. Wenn Sie Gesetze so abfassen wollen, dann kommen Sie nicht weiter. Mit Ihrer Obstruktion hätten Sie diese Arbeitsplätze nicht schaffen können. Meine Damen und Herren von der Opposition, ange- sichts dessen, was in den vom Bundesrat eingebrachten (Zuruf von der CDU/CSU: Luftschlösser!) Vorlagen steht, habe ich im Übrigen leider den Verdacht, Auf der einen Seite lese ich also Ihre Äußerungen und dass Sie etwas anderes im Sinn haben: Sie wollen nicht auf der anderen Seite schreibt Herr Bouffier, mein ge- Begrenzung, sondern Verhinderung von Zuwanderung. schätzter Innenministerkollege aus Hessen, wir bräuchten Dieser Weg wäre allerdings schlicht falsch. dringend eine Möglichkeit für ausländische Haushaltshil- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ fen bei der Versorgung pflegebedürftiger Angehöriger. DIE GRÜNEN) (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Aha, Eines müssen Sie einsehen: dass wir – das sagen uns merkwürdig!) einhellig alle, die etwas von Wirtschaft verstehen – – Das haben wir, Herr Riester und ich, geregelt; ich bin (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das stimmt Herrn Kollegen Riester sehr dankbar dafür. Dass wir in aber nicht!) diesem Bereich die Möglichkeit schaffen, ist vernünftig. 20512 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001

Bundesminister Otto Schily (A) Wir können aber nicht immer eine Einzelentscheidung – Danke schön, Herr Gerhardt. – Nun noch einmal zu der (C) an die andere reihen; das ist unsinnig. Wir brauchen viel- nicht staatlichen Verfolgung. Dazu sagt Herr Müller mit mehr ein System, das uns Raum zum Handeln lässt, damit Recht – die Forderung ist übrigens seit langem bekannt –: uns nicht Herr Bouffier ein Schreiben zukommen lassen Es geht nicht um die Erweiterung der Asylgründe, es gibt muss, beim nächsten Mal Herr Schäuble aus Baden-Würt- auch keine Schutzlücke – das war immer meine Meinung –, temberg oder wer auch immer. Das kann nicht funktio- aber es gibt eine Statuslücke. Es geht um den Status die- nieren. Wir brauchen ein praxistaugliches, flexibles Sys- ser Menschen, die wir auch nach Ihrem Verständnis nicht tem. Unser System ist ein marktgerechtes System, das zurückschicken wollen. Das haben Sie, Herr Marschewski, sich den Marktverhältnissen in der Region temporär an- in dem Gespräch über die junge Pakistanerin ganz klar ge- passen kann. Sie dagegen bevorzugen – das muss ich lei- sagt; dafür bin ich Ihnen dankbar. Wir wollen in diesen der sagen – ein planwirtschaftliches Modell, Fällen nur eine Statusverbesserung. Das will auch Herr (Zurufe von der SPD: Hört! Hört!) Müller; das ist auch Gegenstand der Überlegungen in Ihrem Lager. so etwa nach dem Muster der DDR unseligen Angeden- kens, dass eine Plankommission zusammentritt und ein Wer das nicht will, muss sich die Frage stellen lassen, Plansoll festlegt, das mit der Wirklichkeit natürlich nicht wie er eigentlich mit den Forderungen der Kirchen um- übereinstimmt. geht. Ich möchte darauf hinweisen, dass beide großen christlichen Konfessionen, übrigens auch der Zentralrat (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Wider- der Juden in Deutschland, einhellig erklären, dass dieses spruch bei der CDU/CSU) Gesetz verabschiedet werden soll. Deshalb muss ich Ih- Damit begeben Sie sich in eine Sackgasse. Das ist schlich- nen schon vorhalten: Sie tragen das C in Ihrem Namen ter Unsinn. Wir brauchen ein marktwirtschaftliches, ver- und deshalb sollten die Mahnungen der christlichen Kir- nünftiges Modell, mit dem wir den wirtschaftlichen Inte- chen bei Ihnen auf besonders fruchtbaren Boden fallen. ressen unseres Landes besser gerecht werden. Überlegen Sie sich das also noch einmal sehr gründlich. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich komme nun zu dem Bereich der humanitären Fra- Sie sollten wählen – das wäre ein Vorschlag zur Güte –: gen. Auch hier will ich nicht auf alle Einzelheiten einge- Entweder verzichten Sie auf das C in Ihrem Namen – das hen; das werden wir im Laufe der Beratungen ja noch zu wäre eine Möglichkeit – Genüge tun können. Sie haben sich einen Punkt heraus- (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dr. Peter gegriffen, von dem Sie meinen, dass Sie mit ihm das Struck [SPD]: Sehr gut! – Wilhelm Schmidt (B) Ganze stoppen könnten. Das ist die Frage der ge- (D) [Salzgitter] [SPD]: Das wäre sehr ehrlich!) schlechtsspezifischen und nicht staatlichen Verfolgung. Ich stimme Herrn Ministerpräsident Peter Müller darin oder Sie folgen den Mahnungen der Kirchen in diesem zu, dass wir das nicht zu einer Ausweitung von Asylgrün- Bereich, damit wir die humanitären Fragen so regeln, wie den nutzen sollen. Das tun wir auch nicht. es notwendig ist. Entschuldigung, ich muss im Bereich der Arbeitsmi- (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das wird ja gration noch einen interessanten Punkt erwähnen, den ich immer niveauloser!) eben vergessen habe. Sie müssen einmal in den Protokol- len der Ausschüsse des Bundesrates nachlesen. Im Wirt- Nun kommen wir zur Frage des Familiennachzugs. schaftsausschuss des Bundesrates gab es – – Ich glaube, auch dort gilt, dass Sie den Mahnungen der Kirchen Gehör schenken müssen. Sie haben früher einmal (Zuruf von der FDP: Das ist vertraulich!) gemeint, Sie sollten die Familienpolitik besonders pfle- – Gut, es ist vertraulich. Aber ich kann das ja wenigstens gen. In Ihren Reihen gibt es zwei Persönlichkeiten, die der Sache nach erwähnen. Oder ist es Ihnen peinlich? Das in Ihrer Regierungszeit einmal eine große Verantwortung kann auch sein. gerade in der Familienpolitik getragen haben: Frau Professor Süssmuth, die auch ein Ministeramt innehatte, Im Wirtschaftsausschuss des Bundesrates wurde ge- und Heiner Geißler. Ich schlage Ihnen vor, einmal nach- sagt, wir sollten die Zuwanderungsregelung bei der Ar- zulesen, was Heiner Geißler und Frau Professor Süssmuth beitsmigration nicht verengen, wie es einige von Ihnen zu diesen Fragen sagen. wollen, sondern erweitern. Baden-Württemberg ist mei- nes Wissens ein CDU-regiertes Land; Ich habe Verständnis dafür – damit wir hier keine Miss- verständnisse schaffen –, dass man über die Frage des Fa- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist ja miliennachzugs durchaus auch unter Integrationsvoraus- interessant! Der soll sogar mit dem Geschäfts- setzungen diskutiert. Das ist auch meine Auffassung. Man führer der CDU-Fraktion verwandt sein!) muss an dieser Stelle die Dinge aber so regeln, dass sie zur allerdings wirkt die FDP darauf wohl auch noch ein. Wirklichkeit passen. Dazu haben wir, glaube ich, einen vernünftigen Vorschlag gemacht. Auch dort haben Sie die Ich komme jetzt zurück zu den humanitären Fragen. Wahl, es beim gegenwärtigen Zustand zu belassen oder (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Es wäre schade ihn leicht zu verändern, wie wir es tun, indem wir das gewesen, wenn er das nicht vorgetragen Nachzugsalter senken. Wenn Sie unser Gesetz verhin- hätte!) dern, wozu Sie ja offenbar zum Teil entschlossen sind, Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20513

Bundesminister Otto Schily (A) bleibt es bei 16 Jahren – das ist der geltende Rechtszu- nen, dieses Gesetz zu verhindern, dann werden diese (C) stand, – während wir das Alter auf 14 Jahre senken wol- keine Berücksichtigung finden. Wir alle haben die Mög- len. lichkeit, hier einmal zu zeigen, was ein Parlament zu leis- ten in der Lage ist, auch über einen längeren Zeitraum hin- Meine Damen und Herren, wir haben es hier mit einem weg. Deshalb bin ich optimistisch, dass die Vernunft Thema zu tun, das es eigentlich verbietet, in irgendwelche siegen wird und die Vernünftigen in allen Fraktionen das taktischen Spielereien auszuweichen. zustande bringen werden, was unser Land braucht und im (Dr. Peter Struck [SPD]: Sehr wahr!) Interesse der Menschen in unserem Land notwendig ist. Deshalb habe ich die Bitte, dass wir dieses Thema mit Vielen Dank. dem gebotenen Ernst, den es verdient, miteinander erör- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ tern. Das Thema reicht weit über eine Legislaturperiode DIE GRÜNEN) oder sogar über mehrere Legislaturperioden hinaus; es ist eine Generationenfrage. Deshalb dürfen wir hier nicht eine unernste und leichtfertige Diskussion führen, son- Präsident Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort dern müssen uns des Ernstes dieser Fragen bewusst sein. dem Kollegen Wolfgang Bosbach, CDU/CSU-Fraktion. Wenn es uns gelingt, in dieser Frage auch einmal den berühmten Konsens der Demokraten, der ja des Öfteren Wolfgang Bosbach (CDU/CSU) (von der CDU/CSU beschworen wird, zu finden, dann muss das nicht zwangs- mit Beifall begrüßt): Herr Präsident! Meine Damen und läufig zu einer Schwächung der einen oder anderen Seite Herren! Mit großen Worten hat die Koalition vor einigen führen, sondern dann kann jeder mit den Positionen vor Wochen den Gesetzentwurf der Öffentlichkeit präsentiert. die Wählerinnen und Wähler treten, bei denen er, wie er Von einem Meilenstein, ja sogar von einem Paradigmen- glaubt, etwas erreicht hat. wechsel in der deutschen Ausländerpolitik war die Rede. Einige wollen allein aus parteitaktischen Gründen ei- In der Tat hat dieses Gesetz eine überragende Bedeutung nen Konsens blockieren. Das hielte ich staatspolitisch für für die Zukunft unseres Landes. Sie nehmen nämlich unverantwortlich und parteipolitisch für dumm. tatsächlich eine völlige Veränderung des Kurses der deut- schen Ausländer- und Zuwanderungspolitik vor. Dieses (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Gesetz, würde es denn in Kraft treten, würde in der Tat die DIE GRÜNEN – Lachen bei Abgeordneten der deutsche Gesellschaft in wenigen Jahren stark verändern. CDU/CSU) Gut ist der Titel des Gesetzes; er hat allerdings einen – Da lachen Sie! Aber das ist ein wörtliches Zitat vom gravierenden Nachteil: Er hat mit dem Inhalt relativ we- (B) saarländischen Ministerpräsidenten Peter Müller. Dem nig zu tun. Das dürfte aber auch der Zweck sein. (D) sollten Sie eigentlich zustimmen. (Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des CDU/CSU: Wie bei der Ökosteuer!) BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Begriffe wie Steuerung und Begrenzung sollen der Be- Ich will Ihnen ein Letztes mit auf den Weg geben; das völkerung das Gesetz schmackhaft machen und den Ein- ist ein Wort des früheren Bundespräsidenten Richard von druck vermitteln, die Bundesregierung habe das Ziel, die Weizsäcker, der besondere Anerkennung von uns allen nach wie vor starke Zuwanderung nach Deutschland spür- verdient hat. bar zu reduzieren. Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall. Auch hier gilt: Entscheidend ist nicht, was auf einem Ge- (Unruhe bei der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt setz draufsteht, sondern entscheidend ist, was in einem [Salzgitter] [SPD]: Passt ihnen nicht!) Gesetz drinsteht. – Ich weiß gar nicht, warum Sie so unruhig werden. Ent- (Beifall bei der CDU/CSU) schuldigung, hat der kein Ansehen mehr bei Ihnen? Das würde ich aber sehr bedauern. Das Gesetz verfolgt ja gerade nicht das Ziel, die Zuwan- derung zu reduzieren, sondern das Ziel, sie auszuweiten. Ich glaube, dass die Mahnungen des ehemaligen Bun- despräsidenten Richard von Weizsäcker gerade auch bei Noch gilt im Ausländerrecht der Grundsatz, dass der Ihnen Gehör finden sollten. Auch er fordert uns auf, mit Stopp der Anwerbung von ausländischen Arbeitskräften diesen Fragen verantwortungsvoll umzugehen. Nehmen und die Begrenzung der Zuwanderung im öffentlichen In- Sie also Ihre Verantwortung wahr; dann kommt das Ganze teresse liegen. Diese politische Grundsatzentscheidung, zu einem guten Ende. die nach wie vor richtig ist, soll durch dieses Gesetz aus- drücklich aufgehoben werden. Ich werde alle Änderungsvorschläge, die Sie jetzt of- fenbar angekündigt haben, sehr sorgfältig studieren und Ich zitiere: prüfen. Zu den öffentlichen Interessen gehören nicht länger (Angelika Volquartz [CDU/CSU]: Und die eine übergeordnete, ausländerpolitisch einseitige Grundentscheidung der Zuwanderungsbegrenzung Zensur erteilen!) oder der Anwerbestopp. Um eine an den Erforder- Wir werden uns dann zusammensetzen und sehen müssen, nissen des Arbeitsmarktes orientierte flexible Steue- ob wir zu einem gemeinsamen Ergebnis kommen. Wenn rung der Zuwanderung aus Erwerbsgründen zu er- Sie aber nur Änderungsvorschläge vorlegen, die dazu die- möglichen, wird in diesem Bereich auch der dem 20514 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001

Wolfgang Bosbach (A) gesamten Ausländerrecht zugrunde liegende Grund- Präsident Wolfgang Thierse: Kollege Bosbach, ge- (C) satz der einseitigen Zuwanderungsbegrenzung auf- statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Bürsch? gegeben. Das ist der Inhalt des Gesetzes. Dies hat nichts mit dem zu Wolfgang Bosbach (CDU/CSU): Selbstverständ- tun, was der Innenminister hier eben erzählt hat. lich. (Beifall bei der CDU/CSU) Dr. Michael Bürsch (SPD): Herr Bosbach, es war ja Im Gegensatz zur Überschrift verfolgt dieser Gesetz- heute schon von Leseschwäche die Rede. In Abs. 2 des zi- entwurf das Ziel, sowohl mehr ausländischen Arbeitneh- tierten Paragraphen – mern – keineswegs, wie oft behauptet, nur hoch qualifi- zierten – den Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt zu Wolfgang Bosbach (CDU/CSU): Welcher? ermöglichen als auch bei der Zuwanderung aus huma- nitären Gründen neue Bleiberechte zu schaffen, was eine Ausweitung des Familiennachzugs einschließt. Dr. Michael Bürsch (SPD): – des § 20 des Zuwande- rungsgesetzes, über das wir heute diskutieren, – steht: Herr Kollege Dr. Struck, vor wenigen Wochen hat Ih- nen Ministerpräsident Stoiber in der Sendung „Sabine Das Auswahlverfahren erfolgt im wirtschaftlichen Christiansen“ unter Bezugnahme auf den Gesetzestext und wissenschaftlichen Interesse der Bundesrepu- vorgehalten, dass sich durch diesen Entwurf die Zuwan- blik Deutschland und dient der Zuwanderung quali- derung nach Deutschland erhöhen würde. Sie haben das fizierter Erwerbspersonen, von denen ein Beitrag zur heftig bestritten und am 28. November in diesem Hause wirtschaftlichen Entwicklung und die Integration in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutsch- erklärt: land zu erwarten sind. Wir sind darüber einig ..., dass wir eine Zuwande- rung aus arbeitsmarktpolitischen Gründen nur für so Wolfgang Bosbach (CDU/CSU): Exakt. genannte High Potentials brauchen. Es wird zu kei- ner zusätzlichen Ausländerschwemme kommen, die Herr Beckstein und Herr Stoiber suggerieren. Dr. Michael Bürsch (SPD): Nehmen Sie zur Kennt- nis, dass es einen Abs. 2 gibt, der zur Wahrheitsfindung (Ludwig Stiegler [SPD]: So ist es!) beiträgt? Es ist unanständig, mit solchen Ängsten zu arbeiten. (B) (D) (Beifall bei der SPD) Wolfgang Bosbach (CDU/CSU): Herr Dr. Bürsch, nehmen Sie bitte zur Kenntnis, dass Sie weder lesen noch Herr Kollege Dr. Struck, dieser Vorwurf fällt nun auf zuhören können. Sie zurück. (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU – (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Dr. Michael Bürsch [SPD]: Ich habe nur das Warum?) Gesetz zitiert!) Nur § 19 des Gesetzes betrifft Hochqualifizierte. §18 Ich habe gerade gesagt, dass die Zuwanderung nach dem spricht ganz allgemein von „der Beschäftigung“ eines Auswahlverfahren selbst dann möglich ist, wenn kein Ausländers. konkretes Arbeitsplatzangebot – geschweige denn ein Ar- beitsvertrag – nachgewiesen werden kann. Das haben Sie (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Eine Aus- mit Ihrer Wortmeldung dankenswerterweise gerade aus- länderschwemme kommt trotzdem nicht!) drücklich bestätigt. Dort ist weder von einer besonderen beruflichen noch von (Beifall bei der CDU/CSU – Ludwig Stiegler einer wissenschaftlichen Qualifikation die Rede. [SPD]: Was ist denn das wirtschaftliche Inte- resse? – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: (Ludwig Stiegler [SPD]: Aber die Bundes- Die Voraussetzungen des Textes sind doch im- anstalt für Arbeit überprüft das!) mer noch da! Das ist ja unglaublich! Sie wollen § 20 soll die Zuwanderung in so genannten Auswahl- einfach nichts wahrhaben!) verfahren selbst dann ermöglichen, wenn überhaupt kein Die Grünen sind – Kompliment! – da schon ehrlicher; konkretes Arbeitsmarktbedürfnis besteht, ja sogar ohne denn sie verheimlichen nicht, was mit diesem Gesetz ge- Nachweis auch nur eines einzigen Arbeitsplatzangebotes. plant wird. Ein Originalzitat von Kerstin Müller: Nicht Herr Stoiber oder Herr Beckstein argumentieren un- anständig, Mit dem Zuwanderungsgesetz wird Deutschland endlich ein Einwanderungsland. (Ludwig Stiegler [SPD]: Stoiber und Beckstein können nicht lesen!) (Kerstin Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!) sondern diejenigen, die nur halbe Wahrheiten sagen. Dieses Gesetz soll demnach die Zuwanderung nicht be- (Beifall bei der CDU/CSU) grenzen. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20515

Wolfgang Bosbach (A) Eine solche Politik wird nicht nur von einer breiten arbeiter angeworben. Aber wir haben schon Anfang der (C) Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt – fast zwei Drittel 70er-Jahre festgestellt, dass eine zu starke Zuwanderung wollen weniger und nicht etwa mehr Zuwanderung –, eine nicht nur die Aufnahmefähigkeit des Arbeitsmarktes, son- solche Politik kann auch nicht mit der Zustimmung von dern auch die Integrationskraft unseres Landes überfor- CDU und CSU rechnen. dert. (Beifall bei der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt (Ludwig Stiegler [SPD]: Das waren wir und [Salzgitter] [SPD]: Unter diesen Voraussetzun- nicht ihr!) gen müsste man darauf verzichten!) Es war , der damals gesagt hat, dass wir sehr Deutschland ist kein klassisches Einwanderungsland sorgsam überlegen müssen, wo die Aufnahmefähigkeit unserer Gesellschaft erschöpft ist und wo soziale Vernunft (Dr. Michael Bürsch [SPD]: Doch, seit 50 Jah- und Verantwortung Halt gebieten. ren!) (Dr. Michael Bürsch [SPD]: Ein toter Sozial- und kann es aufgrund seiner historischen und gesell- demokrat ist ein guter Sozialdemokrat! Das alte schaftlichen Gegebenheiten auch nicht werden. Lied!) (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Fragen Am 23. November wurde dann von der sozialliberalen Sie mal Ihre eigenen Leute in den Ländern! – Koalition die weitere Zuwanderung von Gastarbeitern aus Zuruf des Abg. Ludwig Stiegler [SPD]) Nicht-EG-Ländern gestoppt. Damals, im Jahre 1973, leb- – Es gibt die Institution des Zwischenrufes. Sie aber kul- ten in unserem Land 4 Millionen Ausländer, von denen tivieren die Institution des Zwischenbrüllens, Herr Kol- knapp 2,6 Millionen sozialversicherungspflichtig be- lege Stiegler. So können wir hier nicht miteinander um- schäftigt waren. Heute sind es 7,3 Millionen Ausländer, gehen. von denen nur noch gut 2 Millionen sozialversiche- rungspflichtig beschäftigt sind. (Ludwig Stiegler [SPD]: Bei solchem Unsinn bleibt einem nichts anderes übrig!) Natürlich ist die Veränderung dieser Relation auch eine Folge des starken Familiennachzuges nach 1973. Aber Man kann doch nicht ernsthaft die Ansicht vertreten, das ändert doch nichts an der Tatsache, dass der Anteil der dass wir einen Mangel an Zuwanderung hätten. Wir haben ausländischen Erwerbslosen doppelt so hoch ist wie ihr in den vergangenen Jahrzehnten Menschen aufgenommen Anteil an der Bevölkerung und dass der Anteil der aus- wie kaum ein anderes Land auf dieser Welt. Alleine nach ländischen Sozialhilfeempfänger dreimal so hoch ist wie der Wiedervereinigung – – ihr Anteil an der Bevölkerung. Diese Zahlen ändern wir (B) (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das war nicht mit mehr Zuwanderung, sondern nur mit mehr Inte- (D) doch Ihre Politik! – Weitere Zurufe von der gration. SPD) (Beifall bei der CDU/CSU – Ludwig Stiegler – Warum ist es Ihnen eigentlich so peinlich, [SPD]: Das steht im Gesetz! – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das will gar keiner anders (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Ist es haben!) gar nicht!) Angesichts der Zahl von knapp 4 Millionen registrier- wenn man unbestreitbare Tatsachen vorträgt, ten Arbeitslosen plus 1,5 Millionen im zweiten Arbeits- (Beifall bei der CDU/CSU) markt muss doch die Vermittlung, die Umschulung sowie die Weiterqualifizierung deutscher und ausländischer Ar- von denen Sie wissen, dass sie stimmen? Das ist auch der beitnehmer vor dem weiteren Zuzug auf den deutschen Grund, warum Sie panische Angst davor haben, dass wir Arbeitsmarkt stets Vorrang haben. über Zuwanderung und Integration im Wahlkampf spre- chen. (Beifall bei der CDU/CSU – Ludwig Stiegler [SPD]: Habt ihr das Job-Aqtiv-Gesetz schon (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: zur Kenntnis genommen? – Rüdiger Veit Lächerlich!) [SPD]: Genau so wird es gemacht! – Wilhelm Sie möchten nämlich nicht, dass herauskommt, was Sie Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Jetzt brauchen Sie vorhaben. Das ist der Grund. nur noch zuzustimmen!) (Beifall bei der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt Natürlich ist es richtig, dass wir uns an dem weltwei- [Salzgitter] [SPD]: Die Verhetzung, wie Sie sie ten Wettbewerb um die klügsten Köpfe beteiligen müssen. betreiben, wollen wir nicht! – Dr. Michael (Zurufe von der SPD: Aha! – Dr. Michael Bürsch [SPD]: Wir ärgern uns nur, dass Sie die Bürsch [SPD]: Dazu gehören Sie bestimmt!) Fakten nicht wahrnehmen! – Zurufe von der CDU/CSU: Herr Präsident!) Wir würden uns selber schaden, wenn wir uns nicht darum bemühen würden, dass auch ausländische Spitzenkräfte Wir müssen jedes Jahr eine Anzahl von Menschen in mit besonderen wissenschaftlichen Qualifikationen und der Größenordnung der Einwohnerzahlen von Städten beruflichen Fähigkeiten hier in Deutschland arbeiten. wie Nürnberg oder Dortmund integrieren. Wir haben 18 Jahre lang, von 1955 bis 1973, so genannte Gast- (Ludwig Stiegler [SPD]: Sehr wahr!) 20516 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001

Wolfgang Bosbach (A) Das sind Menschen, die uns weiterhelfen. Aber dafür potenzial muss doch bundesweit ausgeschöpft werden, (C) müssen wir doch nicht das gesamte geltende Recht vom um die Mobilität der Arbeitnehmer zu fördern und um Kopf auf die Füße stellen. staatliche Transferleistungen zu vermindern. (Ludwig Stiegler [SPD]: Doch! – Roland Claus (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Bouffier! – [PDS]: Vom Kopf auf die Füße stellen ist so Ludwig Stiegler [SPD]: Was tut die Bundes- schlecht nicht!) anstalt?) Wir müssen doch nicht etwas völlig Neues schaffen und Wie oft haben wir in den letzten Monaten gehört, dass die Steuerungsfunktion des Visumverfahrens aufgeben. wir aus wirtschaftlichen und demographischen Grün- Es ist einfach falsch, wenn behauptet wird, dass die Ge- den Zuwanderung brauchten. Das hört sich so an, als hät- winnung von Spitzenkräften nach geltender Rechtslage ten wir bis heute überhaupt keine gehabt. Wer so argu- unmöglich sei. Das hat bis vor kurzem auch der Innen- mentiert, meint doch nicht Zuwanderung, sondern mehr minister nicht anders gesehen. In der „Süddeutschen Zei- Zuwanderung. Das ist auch das Ziel des Gesetzentwurfes. tung“ vom 7. Januar haben Sie, Herr Schily, in einem In- Der Innenminister sagte vor kurzem: terview auf die Feststellung „Die Wirtschaft sagt auch, Ich glaube aber nicht, dass wir derzeit zusätzlich aus dass sie Zuwanderung benötigt“ geantwortet: wirtschaftlichen oder demographischen Gründen Wenn mir Siemens sagt, wir brauchen soundso viele, Zuwanderung brauchen. bin ich sofort bereit. Da brauchen wir kein (Zurufe von der CDU/CSU: Hört! Hört! – Zuwanderungsgesetz. Das geht schon mit dem gel- Ludwig Stiegler [SPD]: So ist es! Reden Sie tenden Ausländergesetz. deshalb nicht immer mit falschem Zeugnis!) (Zurufe von der CDU/CSU: Aha!) Diese nach wie vor richtige Erkenntnis steht genau im Wi- Wieso soll das heute nicht mehr stimmen? Warum haben derspruch zu dem Gesetzentwurf. Sie vor zehn Minuten von dieser Stelle aus das Gegenteil gesagt? (Ludwig Stiegler [SPD]: Sie können nicht richtig lesen!) Natürlich ist es volkswirtschaftlich und arbeitsmarkt- politisch problematisch, dass wir auf der einen Seite alles Dieser Gesetzentwurf beinhaltet ellenlange Ausführun- in allem mehr als 5 Millionen Arbeitslose haben und auf gen zur demographischen Entwicklung in unserem Land. der anderen Seite viele hunderttausend offene Stellen (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist nicht besetzen können. Aber es ist einfach falsch, zu be- doch eine vorsätzliche Falschinterpretation! – (B) haupten, dass es sich hierbei nur um Stellen handelt, für Ludwig Stiegler [SPD]: Nur weil Sie etwas (D) die man eine ganz besondere berufliche oder wissen- Falsches hineinlesen!) schaftliche Qualifikation benötigt. Das ist in der Tat eine politische und eine gesellschaftli- (Ludwig Stiegler [SPD]: Siehe Bouffier!) che Herausforderung, aber doch nicht bezüglich der Zu- Selbst im Boom-Jahr 2000 konnte das Institut für wanderung, sondern für die Familienpolitik. Eine bessere Arbeitsmarkt- und Berufsforschung keinen generellen Familienpolitik ist das Gebot der Stunde. Fachkräftemangel feststellen. Partielle Mangellagen ins- (Beifall bei der CDU/CSU – Ludwig Stiegler besondere in Schlüsselbranchen und bei Schlüsselqualifi- [SPD]: Das müssen gerade Sie uns sagen!) kationen sind zwar zu beobachten, bei hoher Unter- beschäftigung derzeit jedoch nicht das Kernproblem am Natürlich müssen wir – Herr Schily, Sie haben darauf deutschen Arbeitsmarkt. hingewiesen – auch in Zukunft unsere humanitären Ver- pflichtungen erfüllen. Daran gibt es doch überhaupt kei- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Warum schreibt Herr Bouffier solch einen Brief?) nen Zweifel. Dann muss das Kernproblem ein anderes sein. In vie- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Bei Ih- len Fällen dürfte die Unbesetzbarkeit offener Stellen da- nen schon!) ran liegen, dass die Differenz zwischen der staatlichen Das stellt doch niemand infrage. Bis vor wenigen Tagen Transferleistung, den Sozialleistungen und den zu er- haben Sie selbst noch gesagt, dass das deutsche Recht wartenden Erwerbseinkommen so gering ist, dass es keine Schutzlücken hat. Das stimmt. Warum soll das jetzt sich für zu viele bei wirtschaftlicher Betrachtung nicht nicht mehr gelten? In den vergangenen Jahrzehnten haben lohnt, eine Arbeit aufzunehmen. Es besteht da aber kein wir wie kaum ein anderes Land aus humanitären Gründen Handlungsbedarf in der Ausländerpolitik, sondern es be- Menschen in Deutschland aufgenommen. Allein in den steht Bedarf an einer klugen Arbeitsmarkt- und Sozialpo- letzten zehn Jahren haben wir doppelt so viele Asyl- litik. Am Monatsende muss der mehr in der Tasche haben, bewerber wie die Vereinigten Staaten, viermal so viel wie der arbeiten geht. England und sechsmal so viel wie Frankreich aufgenom- (Beifall bei der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt men. Wir haben 345 000 bosnische Bürgerkriegsflücht- [Salzgitter] [SPD]: Das musste ja kommen!) linge aufgenommen, Es kann doch nicht richtig sein, lediglich regionale Ar- (Rüdiger Veit [SPD]: Die sind längst wieder beitsmarktprüfungen vorzunehmen. Das Arbeitskräfte- weg!) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20517

Wolfgang Bosbach (A) mehr, als alle anderen Länder in der Europäischen Union fallen. Sie selbst müssten doch mit bestem Beispiel vo- (C) zusammen. rangehen. Das, was Sie zum Nachzugsalter für Kinder gesagt haben, ist nur halb richtig, deswegen im Ergebnis (Beifall bei der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt falsch. Natürlich wird durch den Gesetzentwurf die gel- [Salzgitter] [SPD]: Wo sind die denn jetzt?) tende Altersgrenze von 16 auf 14 Jahre gesenkt. Die Al- Deswegen sollten wir an dieser Stelle auch einmal sagen, tersgrenze von 16 Jahren gilt aber nach geltendem Recht dass wir kein ausländerfeindliches, sondern ein ausge- nicht, wenn das ausländische Kind, das nach Deutschland sprochen ausländerfreundliches Land sind. zurückkommt, die deutsche Sprache beherrscht. (Beifall bei der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt (Rüdiger Veit [SPD]: Was haben Sie dage- [Salzgitter] [SPD]: Vor allen Dingen Sie! – gen?) Ludwig Stiegler [SPD]: Die Reden hören sich Das Kind kann dann nämlich bis zum vollendeten 18. Le- aber anders an!) bensjahr einreisen. Unsere Aufnahme- und Integrationskraft ist aber nicht Sie haben nicht nur die Altersgrenze von 16 auf unbegrenzt. Wir können weder jedem humanitären Anlie- 14 Jahre gesenkt, Sie haben auch die Anforderungen an gen Rechnung tragen noch jeden Wunsch der deutschen die deutschen Sprachkenntnisse gesenkt. Nach Ihren Wirtschaft nach mehr Zuwanderung ausländischer Ar- Vorstellungen muss das Kind zukünftig nicht mehr die beitskräfte erfüllen. deutsche Sprache beherrschen, sondern nur noch „ausrei- (Kerstin Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE chende“ Sprachkenntnisse besitzen, also unterdurch- GRÜNEN]: Das sagt doch auch niemand!) schnittliche, die unter dem Niveau der Kinder im ver- gleichbaren Alter liegen. Wir haben keinen Mangel an Zuwanderung. Wir haben ei- nen erkennbaren Mangel an Integration. Deswegen ist (Ludwig Stiegler [SPD]: Die halbe CDU-Frak- mehr Integration und nicht mehr Zuwanderung das Gebot tion hat „ausreichende“ Sprachkenntnisse!) der Stunde. Warum sagen Sie das nicht an dieser Stelle? Dieser Vor- (Beifall bei der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt wurf trifft Sie selber. [Salzgitter] [SPD]: Das ist genau die Intention! (Beifall bei der CDU/CSU) Das hat der Innenminister gerade erzählt! – Dr. Michael Bürsch [SPD]: Nicht „entweder – Herr Schily, wenn wir die Senkung des Nachzugsalters oder“, sondern „sowohl – als auch“. Darum für Kinder fordern, ist das keine Schikane. Das dient doch geht es!) dem Interesse der Kinder selber, die hier geboren worden (B) sind, dann in zu vielen Fällen zur Erziehung und Schul- (D) Wer mehr Integration fordert, muss auch mehr Integra- ausbildung ins Heimatland der Eltern zurückgeschickt tion fördern. Es ist gut, dass der Gesetzentwurf diesen worden sind und anschließend bis zur Vollendung des Gedanken endlich aufgreift. 16. Lebensjahres wieder einreisen konnten. In diesen Fäl- (Dr. Michael Bürsch [SPD]: Dieses Lob len haben die Erziehung und die Schulausbildung weit nehmen wir zu Protokoll!) überwiegend im Ausland stattgefunden und nicht in Deutschland. Das vermindert die Integrationschancen, die Er bleibt aber auf halber Strecke stehen. Zwar soll die Lebenschancen der Kinder dramatisch. Daran können wir Teilnahme an einem Integrationskurs verpflichtend kein Interesse haben. sein, es gibt aber für diejenigen, die dieser Verpflichtung nicht nachkommen, keine wirksamen Sanktionen. (Beifall bei der CDU/CSU) (Ludwig Stiegler [SPD]: Er braucht immer die Herr Schily, Sie haben in den vergangenen Wochen Peitsche!) mehrfach, auch an dieser Stelle, betont, dass Sie sich um einen Konsens mit der Union bemühen wollen. Wenn das Dadurch wird doch die Bedeutung der Teilnahme an ei- Ihr ernstes Anliegen ist, dann müssen Sie diesen nem solchen Kurs stark relativiert. Wir sollten die Bedeu- Gesetzentwurf grundlegend ändern. tung aber nicht abwerten, sondern aufwerten (Ludwig Stiegler [SPD]: Sie müssen nicht so Ludwig Stiegler [SPD]: Exakt das tun wir!) komische Reden halten! Sie müssen den Ge- und die Betroffenen motivieren, ihre Integrationsbemü- setzentwurf erst einmal verstehen!) hungen mit Nachdruck zu verfolgen. Sie müssen einen Gesetzentwurf vorlegen, der den Zu- (Beifall bei der CDU/CSU) wanderungsdruck nicht erhöht, sondern ihn mindert, der den Integrationserfordernissen gerecht wird, der vor allen Das gilt vor allen Dingen für das Erlernen der deutschen Dingen den Interessen unseres Landes dient. Nur für diese Sprache. Das ist die Schlüsselqualifikation für Integra- Politik, nicht für die, die Sie hier vorgestellt haben, kön- tion in Deutschland schlechthin. nen Sie mit der Zustimmung der Union und der Bevölke- (Renate Rennebach [SPD]: Aber auch für rung rechnen. CDU-Abgeordnete!) (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU – Herr Innenminister, der Satz, in dem es um das Lesen Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: PISAlässt mit verbundenen Augen geht, hat mir wirklich nicht ge- grüßen!) 20518 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001

(A) Präsident Wolfgang Thierse: Ich erteile jetzt Kolle- Behauptung wird die Bevölkerung wirklich absichtlich in (C) gin Kerstin Müller, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort. die Irre geführt. Das ist völliger Unsinn. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- und bei der SPD – Zuruf von der CDU/CSU: NEN): Meine Damen und Herren! Es wird Sie nicht ver- Das stimmt doch! – Ludwig Stiegler [SPD]: wundern, dass ich das etwas anders bewerte als Herr Volksverhetzung ist das!) Bosbach. Wir nehmen mit diesem neuen Zuwanderungsgesetz (Zuruf von der CDU/CSU: Das beruhigt!) eine sehr vorsichtige Öffnung für Zuwanderung vor, und zwar streng orientiert an den Bedarfen des Arbeits- Wir sind der Auffassung, dass dieses Zuwanderungs- marktes, durch die Regionalisierung der Arbeitsmigra- gesetz, das wir heute hier vorlegen, ein Meilenstein auf tion und zweitens demographisch sogar erst ab 2010. Das dem Weg zu einer modernen Einwanderungspolitik in ist so vorsichtig, dass die Wirtschaftsverbände der Mei- Deutschland ist. Ich will noch einmal sagen – der Herr nung sind, das reiche nicht. Innenminister hat bereits darauf hingewiesen –: Für meine Partei ist das Thema Einwanderung und Asyl ein Nun haben Sie gestern beschlossen, dass Sie zur An- zentrales Thema. Wir waren 1991 die erste Fraktion, die werbestoppverordnung zurück wollen. Da wird sich die ein Einwanderungsgesetz in den Bundestag eingebracht Wirtschaft sicher freuen! Der Ex-DIHT-Chef Hans Peter hat. Deshalb bin ich sehr stolz, dass es uns mit diesem Stihl meint dazu: Wir können keine Sympathien für die Gesetz gemeinsam gelungen ist, jetzt, zehn Jahre später, CDU/CSU-Position aufbringen. So viel sozusagen zur endlich anzuerkennen: Deutschland ist ein Einwande- Wirtschaftskompetenz der Union. rungsland. Ich will das hier noch einmal sehr deutlich sagen: Die ( [CDU/CSU]: Aber kein Erfahrungen mit der Greencard haben gezeigt, dass ge- klassisches Einwanderungsland!) rade die Zuwanderung von Hochqualifizierten auch neue Arbeitsplätze schafft. Im Zusammenhang mit der Green- Dafür haben wir alle sehr lange gestritten. card sind zwei bis drei neue Arbeitsplätze im Umfeld ge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schaffen worden. Sie bringt also Impulse für den Arbeits- sowie bei Abgeordneten der SPD) markt. Herr Bosbach, natürlich bedeutet es einen Para- Herr Bosbach, ich habe mir gestern Abend – das finde digmenwechsel, dass wir endlich mit der alten Lebens- ich nämlich sehr interessant – die Homepage des Bayeri- schen Staatsministeriums für Arbeit und Sozialordnung (B) lüge Schluss machen, dass Deutschland kein Ein- (D) wanderungsland ist, Zuwanderung offensiv gestalten und angeschaut. Integration fördern. Wir gestalten in der Tat nicht nur die (Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Zuwanderung, also Arbeitsmigration, offensiv und steu- NEN]: Jetzt hören Sie mal zu: Bayern!) ern sie, sondern wir schaffen mit diesem Gesetz erstmals Und siehe da: Dort werden ausländische Pflegekräfte ge- auch einen Anspruch auf Integration. Das hat es in der sucht, und zwar umfassend, bis hin zu Praktikumsplätzen, Bundesrepublik noch nicht gegeben und das wird ein weil man keine Deutschen dafür findet. wirklicher Quantensprung in der Integrationspolitik die- ser Gesellschaft sein. (Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Habt ihr keine Bayern mehr?) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] Dazu heißt es in einer Pressemitteilung: „Bayern über- [SPD]: Auch wenn die CDU/CSU das nicht nimmt damit eine Vorreiterrolle, um dem Fachkräfteman- wahrhaben will!) gel in der Altenhilfe wirksam begegnen zu können.“ Drittens schlagen wir wichtige humanitäre Verbesse- (Zurufe von der SPD: Hört! Hört!) rungen für Flüchtlinge vor, zum Beispiel die Anerken- Dazu kann ich nur sagen: Es ist doch alles Heuchelei, was nung nicht staatlicher Verfolgung. Das zeigt: Diese Re- Sie hier vorbringen. Sie wissen es besser. gierung redet nicht nur, sie handelt auch. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Dass Handlungsbedarf besteht, Herr Bosbach, das und bei der SPD) steht doch wohl außer Frage. Die Wirtschaft, die Wissen- schaft, die Gewerkschaften, die Zuwanderungskommis- Wir brauchen Zuwanderung trotz der Arbeitslosigkeit, sion unter Leitung von Frau Süssmuth, sie alle haben uns weil es einen Fachkräftemangel gibt. ganz klar aufgefordert, Einwanderung in Deutschland endlich zu steuern. Präsident Wolfgang Thierse: Kollegin Müller, ge- Nun behaupten Sie und auch einer der K-Kandidaten in statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Bosbach? spe, ein gewisser Herr Stoiber, mit dem vorgelegten Zu- wanderungsgesetz würden Einfallstore auf dem Arbeits- Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- markt zulasten von Arbeitslosen und heimischen Arbeit- NEN): Herr Bosbach hat auch die Homepage gelesen. Ja, nehmern geöffnet. Ich kann nur sagen: Mit dieser bitte. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20519

(A) Wolfgang Bosbach (CDU/CSU): Frau Kollegin Es ist richtig: Wir erkennen mit diesem Gesetz endlich (C) Müller, Sie haben gerade die Anwerbestoppverordnung nicht staatliche und geschlechtsspezifische Verfolgung an, aus dem Jahre 1973 genannt. Dann ist Ihnen sicherlich nicht als Asylgrund, sondern im Rahmen der Genfer Kon- auch bekannt, dass es eine Anwerbestoppausnahmever- vention. Das ist keine grüne Spinnerei, das ist auch nicht ordnung gibt. besonders radikal. Das ist schlicht europäische Praxis. Fast alle Länder in Europa haben inzwischen die nicht staatli- (Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- che und geschlechtsspezifische Verfolgung anerkannt. NEN]: Sagen Sie etwas zur bayerischen Home- page!) Der UNHCR, der Hohe Flüchtlingskommissar in Deutschland, fordert das seit langem von uns, weil das In dieser Anwerbestoppausnahmeverordnung sind ganz den Anforderungen der Genfer Flüchtlingskonvention ausdrücklich unter anderem Krankenschwestern und Al- entspricht – und nicht nur das. Ich habe das noch einmal tenpfleger aufgeführt. nachgelesen: Die Beschlüsse Ihrer eigenen Zuwande- (Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- rungskommission, wie sie von Peter Müller auf einer Ta- NEN]: Semantik!) gung des UNHCR dargestellt worden sind, fordern für diese Flüchtlinge ein Daueraufenthaltsrecht. Genau das Voraussetzung ist allerdings, dass sie bei einer Einreise tut diese Koalition. Wir tun das, was in den Beschlüssen über ausreichende Kenntnisse der deutschen Sprache Ihrer Zuwanderungskommission steht. verfügen, eine Berufsausbildung haben und aus Europa kommen. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN) Ist Ihnen bekannt, dass das geltende Recht also sehr wohl die Möglichkeit vorsieht, Krankenschwestern und Ich habe den Eindruck: Von all dem wollen Sie jetzt Altenpfleger in der Bundesrepublik Deutschland arbeiten nichts mehr wissen. Nach dem Motto „Was interessiert zu lassen? mich mein Geschwätz von gestern!“ (Beifall bei der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt (Roland Claus [PDS]: Diesen Spruch würde [Salzgitter] [SPD]: Aber nur als Verordnung, ich nicht so oft bringen!) nicht als Gesetz! Jetzt nehmen wir es in das Ge- Stattdessen wird demagogisch behauptet, das führe zu ei- setz auf!) ner massiven Ausweitung der Zuwanderung. Zuwanderer würden also vermehrt kommen, wie Sie sagen, und dann direkt Sozialhilfe erhalten. Das ist schlicht falsch. Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Herr Bosbach, das ist mir bekannt. Aber ich finde Ich möchte Sie bitten, sich noch einmal den Brief Ihres (B) ungeheuerlich, was Sie hier eben wieder behauptet haben. Kollegen Schwarz-Schilling sehr gut durchzulesen. Der (D) Sie behaupten, es gebe keinen Bedarf an Fachkräften, und ist, so glaube ich, an Sie, Herr Bosbach, und an Herrn unser Gesetz sei an diesem Punkt falsch. Marschewski gerichtet. Da wird sehr genau, sehr gründ- lich und sehr sachlich argumentiert, wie es sich mit der (Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Das hat er nicht staatlichen Verfolgung verhält. nicht behauptet!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Doch, genau das haben Sie gerade wieder behauptet! Ich sowie bei Abgeordneten der SPD) finde einfach, die Zuwanderung dringend gesuchter Fach- kräfte gegen Arbeitslose auszuspielen oder sie mit Asyl- Sie versuchen hier Volksverdummung zu betreiben. Es ist missbrauch in einen Topf zu werfen, das ist gefährlich und nämlich so: Flüchtlinge, die heute zu uns kommen, dürfen falsch. Dieses Zitat ist nicht von mir, sondern von Herrn wir nach internationalem Recht nicht abschieben. Sie er- Rogowski, dem Präsidenten des BDI. halten zurzeit den Status der Duldung und landen deshalb in der Sozialhilfe. Von uns werden sie ein gesichertes Auf- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN enthaltsrecht bekommen und dann können sie arbeiten. und bei der SPD) Es ist also genau umgekehrt, wie auch Herr Schwarz- Dann zur Integration. Was haben Sie eigentlich dage- Schilling in seinem Brief wunderbar darlegt. Auch ist es gen einzuwenden, dass wir einen Anspruch auf Integration nicht so, dass es einen Pull-Faktor gibt, also eben nicht so, schaffen? Eigentlich müssten Sie an dieser Stelle das Ge- dass, wenn wir nun eine entsprechende Regelung vorse- setz aufs Heftigste begrüßen. Natürlich ist das so: Integra- hen, mehr Flüchtlinge zu uns kommen. Dass das nicht der tion ist nicht zum Nulltarif zu haben und wir müssen ge- Fall sein wird, zeigen die Erfahrungen. meinsam über die Kostenfrage reden. Integration ist eine Beispiel Somalia. Dort sind 98 Prozent der Frauen von gesamtstaatliche Aufgabe. Das haben wir auch in dem Ge- wirklich brutalen Genitalverstümmelungen betroffen; wir setz so festgehalten. Sie muss also von Bund und Ländern haben das bereits hier im Deutschen Bundestag – übrigens gemeinsam getragen werden. Auch hier gilt wieder: Wer parteiübergreifend – kritisiert. In den letzten fünf Jahren nicht integriert, den kommt das in der Zukunft teuer zu ste- haben nur zwei Frauen aus Somalia hier in Deutschland hen. Genau das hat doch die PISA-Studie gezeigt. Hier lie- deswegen einen Asylantrag gestellt. Erzählen Sie also gen große Versäumnisse, und zwar aller staatlichen Ebe- doch nicht der Öffentlichkeit, Frauen würden zu Tausen- nen. Deshalb müssen wir das jetzt gemeinsam anpacken, den nach Deutschland kommen, wenn wir endlich das statt hier ein solches Gezänk vom Zaun zu brechen. menschenrechtlich Notwendige tun! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) sowie bei Abgeordneten der SPD) 20520 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001

Kerstin Müller (Köln) (A) Ich muss Ihnen sagen: Die Debatte ist an dieser Stelle schaftlichen Kräfte, die Wissenschaft, die Gewerkschaf- (C) unter jedem Niveau. Da wird behauptet, wir wollten jede ten, die Wirtschaft und die Kirchen gegen sich haben. geschlechtsspezifische Diskriminierung anerkennen, also (Wolfgang Zeitlmann [CDU/CSU]: Daran auch die, dass die Frauen in Afghanistan nicht Auto fah- müssen Sie doch ein Interesse haben!) ren dürfen. Es geht hier – darauf will ich noch einmal hin- weisen – um die massive Bedrohung von Leib und Leben Davor brauchen wir keine Sorge zu haben. Wir haben alle der Frauen in Somalia und Afghanistan. Argumente auf unserer Seite. (Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Aber die ha- Ich befürchte: Dies wird keine lockere Diskussion, ben doch heute schon Asylgründe!) sondern – das haben wir in Hessen gesehen – ein ganz zy- nischer Wahlkampf auf dem Rücken der hier lebenden Das Niveau der aktuellen Debatte, die Argumente, mit de- Migrantinnen und Migranten und Flüchtlinge. Sie wollen nen Sie hier versuchen, den Menschen, der Gesellschaft die Situation der Flüchtlinge hier in diesem Land für Ihren Sand in die Augen zu streuen, finde ich wirklich uner- Stimmenfang nutzen. träglich. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) und bei der SPD – Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Die Frauen, von denen Sie spre- Ich finde es unverantwortlich, dass Sie einen solchen An- chen, die haben doch heute schon ein Asyl- tiausländerwahlkampf betreiben wollen. recht!) Auch ich will an dieser Stelle – ich kann es Ihnen nicht – Ja, aber sie erhalten nur den Status der Duldung. ersparen – mit einer der vernünftigen Stimmen aus der Union, mit dem ehemaligen Bundespräsidenten Richard Gerade an dieser Stelle sollten Sie noch einmal in sich von Weizsäcker, enden. gehen und sich Ihre Ablehnung gut überlegen. Vielleicht hören Sie doch auf den Rat der EKD oder der katholi- (Wolfgang Zeitlmann [CDU/CSU]: Warum schen Kirche. Oder vielleicht denken Sie doch noch ein- nicht Lafontaine?) mal über den Rat des Herrn Geißler nach, der in einem – Ich kann Ihnen das nicht ersparen. Auch in der CDU gibt Brief appelliert, dass eine solche Position mit dem christ- es viele Vernünftige, die leider zurzeit nicht genügend zu lichen Menschenbild der CDU nicht zu vereinbaren ist. Wort kommen dürfen. – Er hat in der „Welt“ geschrieben: Da hat Kollege Geißler Recht. Gefühle ernst zu nehmen ist notwendig. Gefühle (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auszunutzen, sie für die Macht zu instrumentalisie- (B) und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der ren, das ist ein schwerer Missbrauch, der sich auf (D) PDS) Dauer rächt. Wir haben einen Gesetzentwurf vorgelegt, in dem die Das sehe auch ich so. Ich kann nur an die Ministerpräsi- Zuwanderung modernisiert und Integration gefördert denten der Länder und an die Vernünftigen in der Union wird sowie notwendige humanitäre Verbesserungen für appellieren: Verweigern Sie sich diesem unverantwortli- Flüchtlinge vorgesehen sind. Wir haben uns vorgenom- chen Blockadekurs und setzen Sie mit uns dieses ver- men, das in dieser Legislaturperiode durchzusetzen. Sie nünftige Zuwanderungsgesetz durch! müssen sich jetzt entscheiden, ob Sie dem Blockadekurs von Herrn Stoiber folgen oder ob Sie mit uns sprechen Danke schön. wollen. Inzwischen haben Sie ja beschlossen, dass über- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN haupt keiner mehr mit uns sprechen darf. und bei der SPD) (Ludwig Stiegler [SPD]: Maulkorb!) Herr Müller darf keine Gespräche mehr mit uns führen. Präsident Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort Herr Beckstein wurde zurückgepfiffen. Herr dem Kollegen Max Stadler, FDP-Fraktion. Schönbohm wurde sogar aufgefordert, zurückzutreten, falls Ministerpräsident Stolpe es wagt, im Bundesrat Dr. Max Stadler (FDP) (von der FDP mit Beifall be- zuzustimmen. Dazu kann ich nur sagen: Das ist keine grüßt): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Gesprächsbereitschaft. Mit so einer Linie folgen Sie Herren! Die Zuwanderungspolitik der FDP beruht erstens dem Blockadekurs von Herr Stoiber. Das finde ich auf einer gesteuerten und begrenzten Zuwanderung nach unverantwortlich. Maß aufgrund der Bedürfnisse des Arbeitsmarktes, zwei- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN tens auf der Erfüllung humanitärer Verpflichtungen und und bei der SPD – Ludwig Stiegler [SPD]: Brett drittens auf der zentralen politischen Aufgabe der Inte- gration von Ausländern. vorm Hirn und Korb vorm Maul!) (Beifall bei der FDP) Herr Stoiber hat angekündigt, die Bundestagswahlen zu einer Volksabstimmung über die Zuwanderung zu ma- Meine Damen und Herren, die politische Diskussion in chen. Herr Bosbach, ich sage Ihnen: Ich habe keine Angst Deutschland zu diesem Thema war lange geprägt von der davor, im Wahlkampf über dieses Thema zu diskutieren. Lebenslüge, dass Deutschland kein Einwanderungsland Denn nicht wir, sondern Sie werden alle gesell- sei. Aber ist nicht der Streit darüber, ob damit nur gemeint Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20521

Dr. Max Stadler (A) war, dass Deutschland kein Einwanderungsland im klas- rung auf den deutschen Arbeitsmarkt verschwendet (C) sischen Sinne sei, ein rein akademischer und damit müßi- wird. Es ist aber eine belegte und belegbare Tatsache, dass ger? Denn rein praktisch gesehen besteht doch seit lan- trotz hoher Arbeitslosigkeit über 1 Million offener Stellen gem ein legitimes Bedürfnis, die begrenzte und gesteuerte (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Sehr richtig! Einwanderung nach Deutschland an den eigenen Interes- sen zu orientieren. Das ist hochinteressant!) (Beifall bei der FDP) über Monate hinweg nicht besetzt werden können. Diese einfache Erkenntnis erschien vielen nicht populär. (Beifall bei der FDP) Deswegen wollten bis weit in die laufende Legislaturpe- Dies betrifft keineswegs ausschließlich, wie die SPD riode hinein weder die SPD noch die CDU/CSU das lange Zeit gemeint hat, den Bereich Höchstqualifizierter. Thema anpacken. Vielmehr reicht dieser Bedarf gerade auch in den Bereich (Rüdiger Veit [SPD]: Stimmt nicht ganz!) mittelständischer Unternehmen hinein – natürlich re- gional und branchenmäßig ganz unterschiedlich –, die Allein die FDP-Bundestagsfraktion hat es als erste Frak- dringend auf Facharbeiter angewiesen sind. tion im Bundestag gewagt, ein Zuwanderungsgesetz ein- zubringen. (Beifall bei der FDP) (Ludwig Stiegler [SPD]: Sie haben 16 Jahre mit Sie wissen doch, was passiert: Jetzt können diese Un- der CDU/CSU mitgelogen, mitverdrängt!) ternehmen Aufträge nicht annehmen, weil sie keine Arbeitskräfte bekommen. Sie können Wachstumschan- – Das können Sie nicht negieren, Herr Stiegler. cen nicht wahrnehmen. Dadurch werden die bestehenden (Beifall bei der FDP) Arbeitsplätze gefährdet. Das ist die Situation, auf die wir eine Antwort geben müssen. Die Situation, dass dies nahezu ein Tabuthema gewe- sen ist, ist ein wenig aufgebrochen worden durch die mu- (Beifall bei der FDP) tige und zukunftsweisende Berliner Rede des Bundes- Herr Michelbach, das ist natürlich regional und bran- präsidenten Johannes Rau vom 12. Mai 2000. Er hat ein chenmäßig verschieden. Das sieht im Handwerk viel- durchdachtes Einwanderungskonzept angemahnt. Es leicht anders als im Dienstleistungsbereich oder im pro- schien so, nachdem die Süssmuth-Kommission im Som- duzierenden Gewerbe aus. Es wird wenig Zuwanderung mer eine hervorragende Vorarbeit geleistet hat, in -Vorpommern bedürfen, aber aus Bayern (Beifall bei der FDP, der SPD und dem BÜND- und Baden-Württemberg kommen sehr wohl massive An- (B) NIS 90/DIE GRÜNEN – Rüdiger Veit [SPD]: forderungen. Wer daher hierauf eine Antwort verweigert, (D) Nur die CDU klatscht nicht! Sie sagen zu ihr nur schadet den wirtschaftlichen Interessen Deutschlands. noch „diese Dame“!) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten an der – das darf ich erwähnen – übrigens auch die frühere der SPD) Ausländerbeauftragte Cornelia Schmalz-Jacobsen be- teiligt war, als ob die Zeit nun reif sei für die endlich not- Wenn Herr Seehofer nach der CSU-Vorstandsklausur wendige gesetzliche Lösung des Problems. Denn die in Wildbad Kreuth gesagt hat, wir von der CSU machen Süssmuth-Kommission hat zu allen drei genannten Be- keine Gesetze für die Wirtschaft, dann kann ich nur ant- reichen – Arbeitsmigration, Erfüllung humanitärer Ver- worten: Auch wir machen keine Gesetze für die Wirt- pflichtungen und Integrationspolitik – wichtige Anstöße schaft, wir machen Gesetze für diejenigen, denen wir geliefert. Leider ist es der Politik in der Folgezeit nicht ge- Chancen am Arbeitsmarkt eröffnen wollen; denn Zuwan- lungen, ihre Führungsaufgabe – das wäre auch eine derung führt nicht zur Verdrängung einheimischer Führungsaufgabe der größten Oppositionsfraktion – Arbeitskräfte, sondern schafft neue wirtschaftliche Dyna- wahrzunehmen und für ein modernes Zuwanderungsge- mik und neue Arbeitsplätze und nützt daher allen. setz genügend Verständnis in der Bevölkerung zu wecken. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Stattdessen droht nun das Thema ungelöst in den Wahl- der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- kampf hineingezogen zu werden. Denn Vorurteile gegen NEN) eine Zuwanderungspolitik lassen sich offensichtlich leicht mobilisieren. Das weiß im Übrigen die CSU natürlich ganz genau. Gerade die Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft hat (Beifall bei der FDP und der SPD sowie bei Ab- sich besonders nachdrücklich für eine gesteuerte und be- geordneten der PDS und der Abg. Kerstin grenzte Öffnung des Arbeitsmarktes eingesetzt. Ist denn Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) schon vergessen, dass der CSU-Generalsekretär Thomas Die FDP hält demgegenüber den Entwurf des Bun- Goppel Minister Schily nach Vorstellung seines Zuwan- desinnenministers für eine geeignete Diskussionsgrund- derungsgesetzes sogar die Mitgliedschaft in der CSU an- lage – ohne dass wir deswegen in allen Einzelheiten mit getragen hat? Ihren Vorstellungen, Herr Schily, konform gehen würden. (Heiterkeit bei der SPD – Rüdiger Veit [SPD]: Man muss sich durchaus zunächst mit dem nahe liegen- Man könnte sogar sagen: angedroht!) den Einwand auseinander setzen, wieso denn bei 4 Milli- onen Arbeitslosen überhaupt ein Gedanke auf Zuwande- Davon will die CSU mittlerweile nichts mehr wissen. 20522 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001

Dr. Max Stadler (A) Aber, Herr Kollege Bosbach, man muss sehr wohl die breitem Stil zu öffnen, sondern dass das Konzept vorsieht, (C) Frage aufwerfen, wieso denn dann die bayerische Sozial- differenziert nach Branchen und Regionen genau nach ministerin Christa Stewens um Krankenschwestern aus dem Bedarf des Marktes die Zuwanderung zuzulassen, Kroatien wirbt und der bayerische Innenminister Günther (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Dann dürfen Beckstein die Anwerbung von Pflegekräften aus der Slo- Sie dem Gesetz nicht zustimmen!) wakei ankündigt. Es besteht doch ein Unterschied zwi- schen dem, was Sie sagen, dass es keinen Bedarf gebe, damit nämlich der Situation, die Sie beschrieben haben, und dem, was die Bayerische Staatsregierung macht. entgegengewirkt wird. Wir wollen, dass dadurch neue so- zialversicherungspflichtige Arbeitsplätze entstehen. (Wolfgang Zeitlmann [CDU/CSU]: Herr Stadler, Sie haben nicht aufgepasst!) (Beifall bei der FDP) Sie berufen sich auf Ausnahmeverordnungen, die es gibt. Wir wollen, wie das gerade viele Vertreter der Wirtschaft Aber die Frage ist doch, ob wir uns hier von Ausnahme- fordern, Wachstumschancen zulassen. verordnung zu Ausnahmeverordnung weiterhangeln oder Wir sagen allerdings auch: Zuwanderung ist kein All- ob endlich ein Gesamtkonzept in Form eines Zuwande- heilmittel für eine verfehlte Bildungs-, Familien- und rungsgesetzes kommt. Wirtschaftspolitik. (Beifall bei der FDP und der SPD sowie bei Ab- (Beifall bei der FDP – Lothar Mark [SPD]: geordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- Der alten Koalition!) NEN) Selbstverständlich steht an erster Stelle die längst über- fällige Reform des Bildungswesens in Deutschland, um Präsident Wolfgang Thierse: Kollege Stadler, ge- unserer Jugend optimale Berufschancen zu bieten. Ohne statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Michelbach? Zweifel müssen die Bedingungen für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf verbessert werden. Dr. Max Stadler (FDP): Ja. (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Zwischenbemerkung: Dazu gehört auch die Diskussion in Hans Michelbach (CDU/CSU): Herr Kollege Bayern über die endlich fällige Einführung von Ganz- Stadler, Sie haben die Wirtschaft angesprochen. Können tagsschulen, damit Frauen besser einem Beruf nachgehen Sie zur Kenntnis nehmen, dass es die Wirtschaft pauschal können. gar nicht gibt? (Beifall bei der FDP und der SPD) (B) (Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (D) DIE GRÜNEN) Wir dürfen bei der Qualifizierung von Arbeitslosen nicht nachlassen. Es wäre wünschenswert, wenn es ge- Können Sie auch zur Kenntnis nehmen, dass die arbeits- länge, die Mobilität innerhalb Deutschlands zu erhöhen. intensiven Betriebe, insbesondere im Mittelstand, eine Zuwanderung in die Sozialsysteme nicht wollen? (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Sehr richtig!) Sind Sie bereit, folgende Zahlen zur Kenntnis zu neh- All diese Ziele sind richtig und bleiben vorrangig. Aber men, die auch Ihnen zu denken geben sollten? 1973 wurde auch Zuwanderung in den Arbeitsmarkt ist ein Mosaik- mit 4 Millionen Ausländern in Deutschland und 2,5 Mil- stein in einem Gesamtkonzept für mehr Beschäftigung in lionen sozialversicherungspflichtigen ausländischen Be- Deutschland. schäftigten ein Anwerbestopp verfügt. Im Jahr 2000 ha- Jede Zuwanderung ist untrennbar mit der Zielsetzung ben wir 7,3 Millionen Ausländer in Deutschland und nur der Integration von Migrantinnen und Migranten ver- noch 2 Millionen Sozialversicherungspflichtige, also bunden. Die FDP hält diesen Gesichtspunkt für so über- 85 Prozent mehr an ausländischen Mitbürgern und ragend wichtig, dass nach unserer Vorstellung Integration 19 Prozent weniger sozialversicherungspflichtige Be- als Staatsziel in das Grundgesetz aufgenommen werden schäftigte als 1973. Ihre Darstellung der Situation der sollte. Wirtschaft, insbesondere bei den arbeitsintensiven Betrie- ben des Mittelstandes, passt also überhaupt nicht. Sie kön- (Beifall bei Abgeordneten der FDP) nen hier nicht pauschalisieren. Immerhin geht der Gesetzentwurf von Herrn Schily mit den dort vorgesehenen Maßnahmen, insbesondere der Dr. Max Stadler (FDP): Herr Kollege Michelbach, ich Vermittlung der deutschen Sprache als wichtiger Basis bin gerne bereit, das zur Kenntnis zu nehmen, was Sie der Kommunikation, in die richtige Richtung. sagten. Ich darf Sie aber darauf hinweisen, dass Sie mei- Schließlich gehört in ein Gesamtkonzept auch das Be- nen Ausführungen offensichtlich nicht genau zugehört ha- kenntnis zur Erfüllung humanitärer Verpflichtungen, ins- ben. besondere aus dem Asylgrundrecht. Wenn jetzt aber eine Zuwanderungsmöglichkeit auf den deutschen Arbeits- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten markt neu eröffnet wird, muss zugleich klargestellt wer- der SPD) den, dass beide Zugangswege – Arbeitsmigration und Ich habe ausdrücklich betont, dass es nicht darum geht, Asyl – einander ausschließen. Für wirklich politisch Ver- den deutschen Arbeitsmarkt für eine Zuwanderung in folgte bleibt es uneingeschränkt beim Grundrecht auf Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20523

Dr. Max Stadler (A) Asyl. Aber viele, die bisher mangels Alternative aus- im Wahljahr 2002, ein? Was diese Frage angeht, liegt der (C) sichtslose Asylanträge gestellt haben, müssen wissen, Ball ganz eindeutig im Feld der Union. Wir registrieren: dass sie sich damit künftig eine Chance auf Zuwanderung Dieses Feld der Union ist ein sehr weites Feld. Wir wis- in den Arbeitsmarkt verbauen. Nur wenn man beide Wege sen noch nicht genau, wie es abgesteckt ist. konsequent trennt, ist eine Verlagerung bisher aussichts- Die Union hat natürlich Recht, wenn sie uns alle immer loser Asylanträge auf die neu geschaffene Möglichkeit der wieder ermahnt, die Sorgen und die Probleme, die die Zuwanderung in den Arbeitsmarkt erreichbar. Dieses von Menschen im Zusammenhang mit der Zuwanderung ha- der FDP vorgeschlagene Steuerungselement hat Herr ben, sehr ernst zu nehmen. Das geht völlig in Ordnung. Minister Schily in sein Konzept übernommen. Nur, wie sieht verantwortungsvolle Politik in einer sol- (Beifall bei der FDP) chen Situation aus? Verantwortungsvolle Politik zu ma- chen heißt angesichts der Probleme der Menschen, auf- Im Bereich der humanitären Verpflichtungen ist viel klärend zu wirken, und heißt nicht, die Sorgen der über die Frage nicht staatlicher und geschlechtsspezifi- Menschen für eigene politische Interessen zu nutzen. scher Verfolgung diskutiert worden. Unser Verfassungs- experte, Edzard Schmidt-Jortzig, vertritt ebenso wie die (Beifall bei der PDS – Friedrich Merz [CDU/ FDP-Bundestagsfraktion seit langem die Auffassung, CSU]: Das müssen gerade Sie sagen!) dass es schon nach der Genfer Flüchtlingskonvention gel- Wir brauchen eine sachliche Einwanderungsdebatte statt tendes Recht ist, diesem Personenkreis Abschiebeschutz einer Polarisierung in der Gesellschaft. Wenn Herr Bosbach und Flüchtlingsstatus zu gewähren. Eine Ausweitung der den gravierenden Vorwurf gegenüber der Koalition erhebt, Asylgründe ist somit mit der gesetzlichen Klarstellung das Einwanderungsrecht dürfe nicht vom Kopf auf die nicht verbunden. Füße gestellt werden, dann heißt das nur, dass er sich damit (Dr. Michael Bürsch [SPD]: Das ist richtig!) zufrieden gibt, wenn es weiter auf dem Kopf steht. Vielmehr wird die geltende Rechtslage bestätigt. Dem (Beifall bei Abgeordneten der PDS) stimmen wir ausdrücklich zu. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Präsident Wolfgang Thierse: Kollege Claus, gestat- der SPD) ten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Bosbach? Im Zuge der Ausschussberatungen hat die FDP noch Diskussionsbedarf bei Detailfragen. Das gesamte Verfah- Roland Claus (PDS): Ja, gerne. ren bei der Erteilung von Aufenthalts- und Arbeitsgeneh- (B) migungen erscheint uns in dem Gesetzentwurf der Bun- Wolfgang Bosbach (CDU/CSU): Herr Kollege (D) desregierung noch zu bürokratisch ausgestaltet. Die Claus, bitte nehmen Sie zur Kenntnis, dass dieser Punkt in Kostenverteilung bei den Integrationsmaßnahmen muss der Tat an den Innenminister geht. Er hat an meinem Ver- noch gelöst werden. Wir halten übrigens eine zumutbare sprecher eine diebische Freude gehabt und ihn zum An- Eigenbeteiligung der Migrantinnen und Migranten durch- lass genommen, den Parlamentarischen Geschäftsführer aus für akzeptabel. seiner Fraktion zu sich nach vorne zu bitten. Ich wollte (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: So ist es!) selbstverständlich sagen, dass es angesichts dessen, was er hier vorgestellt hat, nicht notwendig sei, das geltende Da auf dem Arbeitsmarkt trotz der hohen Arbeitslosig- Ausländerrecht von den Füßen auf den Kopf zu stellen. keit eine dramatische Not besteht, sehen wir nicht ein, Ansonsten hätten Sie mit Ihrer Kritik völlig Recht gehabt. dass das Gesetz erst am 1. Januar 2003 in Kraft treten soll. Ich darf Sie also darum bitten, meinen offensichtlichen Wir würden es vorziehen, es schon zum 1. Juli 2002 in Versprecher zu entschuldigen. Kraft zu setzen. Bei gutem Willen aller Beteiligten, Herr Kollege Bürsch, sind diese und andere Punkte sicherlich lösbar. Roland Claus (PDS): Dann ist das ausgeräumt, Herr Kollege. Ich habe durch Ihre Zwischenfrage zudem er- Insgesamt sagt die FDP: Ein modernes Zuwande- fahren – das war mir vorher entgangen –, dass der Bun- rungskonzept ist in unserem eigenen Interesse längst desinnenminister Ihren Versprecher mit „diebischer Freu- überfällig. de“ zur Kenntnis genommen hat. (Beifall bei der FDP, der SPD und dem (Otto Schily, Bundesminister: „Diebische BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Freude“ muss ich zurückweisen!) Ich kann Ihnen, meine Damen und Herren von der Präsident Wolfgang Thierse: Ich erteilte dem Kol- Union, aber nicht ersparen, darauf hinzuweisen, dass Sie legen Roland Claus, PDS-Fraktion, das Wort. mit solchen Aussagen wie „Hier werden die Schleusen geöffnet“, mit Schlagwörtern wie „Kinder statt Inder“, mit Begriffen wie „Überfremdung“ oder mit solchen Ak- Roland Claus (PDS): Herr Präsident! Meine sehr ver- tionen wie der Unterschriftensammlung in Hessen nicht ehrten Damen und Herren! Vor der Behandlung der ein- für die Aufklärung, sondern für die Polarisierung der Ge- zelnen Paragraphen dieses Gesetzentwurfs steht für uns sellschaft verantwortlich sind. alle die spannende Frage: Welchen Platz nimmt dieses Thema in der gesellschaftlichen Diskussion, insbesondere (Beifall bei der PDS und der SPD) 20524 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001

Roland Claus (A) Sie wissen doch genauso gut wie wir: Die Jugendfor- nützlich und willkommen, und auf der anderen Seite wird (C) schung macht uns immer wieder darauf aufmerksam, dass vor „gefährlichen Zuwanderern“ gewarnt. Der Entwurf, Jugendliche sehr genau spüren, wenn Erwachsene die de- mit dem wir es heute zu tun haben, enthält diesen diskri- mokratische Grundsubstanz beschädigen. Alltagsrassis- minierenden Ansatz leider auch. mus, dem wir heute allenthalben begegnen, kommt nicht Wir kritisieren Ihren Entwurf auch weiterhin, weil das aus dem Nichts. Wenn in einem Aufsatz über das Leben Flüchtlings- und Asylrecht nicht modernisiert, sondern mit und von Ausländern in Deutschland eine 14-Jährige zum Teil verschlechtert wird. Illegal hier lebenden Men- – ich glaube, sie kommt aus Sachsen – den Satz schreibt: schen wird nicht wirklich geholfen. Diese Kritik – das „Am besten wäre es, wenn es auf der ganzen Welt keine wissen Sie – gibt es auch aus den Kirchen, aus den Ver- Ausländer mehr geben würde“, dann muss ich feststellen, bänden, aus der Süssmuth-Kommission. Für den Fami- dass auch so etwas nicht aus dem Nichts kommt. Deshalb liennachzug haben Sie bürokratische Hürden errichtet. dürfen wir das Einwanderungsgesetz nicht zum Mittel- Bundesinnenminister Schily hat sich jetzt offenbar vorge- punkt eines Lagerwahlkampfes machen. Deshalb gilt nommen, alle diese anstehenden Probleme im Bundestag auch für die CDU/CSU: Es gibt auch für Sie keinen im Schnellverfahren zu lösen. Zwang, den Kalten Krieg im Wahlkampf fortzusetzen. Nun wird auch der Bundesinnenminister, obwohl ihm Nun hat der Bundesinnenminister zu verstehen gege- Eitelkeit ja völlig fremd ist, festgestellt haben, dass er mit ben, dass er sich bereits sehr weit in Richtung der Union seiner Politik Eindruck gemacht hat. Ich will Ihnen aber bewegt habe. eines sagen: Spätestens mit der Formel, dass „ and or- (Rüdiger Veit [SPD]: Das ist auch so! Aber sie der“ sozialdemokratische Werte seien, haben Sie es über- kann es nicht erkennen!) trieben, Herr Bundesinnenminister. – Das ist in der Tat so. – Aber aus unserer Sicht ist es un- (Beifall bei der PDS) verantwortlich, wenn die Union an dieser Stelle bewusst Die PDS-Alternativen in der Zuwanderungspolitik eine Spaltung herbeiführen will und mühsam und krampf- beruhen im Wesentlichen auf drei Grundsätzen. Wir wol- haft nach Argumenten sucht, die dies rechtfertigen. len erstens ein individuelles Einwanderungsrecht, das mit (Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten verständlichen Regeln für die hierzulande Lebenden und der SPD) für die Menschen, die einwandern wollen, klarstellt, wie das funktionieren kann, welche Rechte und auch welche Pikant ist allerdings auch, wenn die Grünen an die Pflichten damit verbunden sind. Adresse der Union sagen: Wir machen doch alles, was ihr wollt. Ich möchte den Grünen in aller Bescheidenheit ei- Wir wollen zweitens den Schutz und die Hilfe für Men- (B) nen Rat geben. Folgenden Spruch sollten Sie vielleicht in schen in Not weiter ausgestalten. Ich will nur an Folgen- (D) nächster Zeit vermeiden: Was kümmert mich mein Ge- des erinnern: Parallel zum Europäischen Rat in Laeken schwätz von gestern. begehen wir den 50. Jahrestag der Verabschiedung der Genfer Flüchtlingskonvention. Dabei nehmen wir sehr (Beifall bei der PDS) wohl als positiv zur Kenntnis, dass Sie im Entwurf die ge- Wir werden uns sicherlich darauf einstellen müssen, schlechtsspezifische Verfolgung als Abschiebehindernis dass der vorliegende Gesetzentwurf Komplikationen ver- aufgenommen haben, und unterbreiten Ihnen mit unserem ursachen wird, und zwar auch im Bundesrat. Ich möchte Antrag den weiter gehenden Vorschlag, diese auch als Ihnen nur so viel sagen: Die PDS hat sich auf die zu er- Asylgrund anzuerkennen. wartenden Komplikationen eingestellt. (Beifall bei der PDS) Sie – ich meine vor allen Dingen die Kolleginnen und Wir sagen drittens: Einwanderung muss als Integration Kollegen, die schon sehr viel länger im Bundestag als ich gestaltet werden, und zwar als zweiseitiger Prozess. Da sitzen – streiten sich noch immer über die Frage: Ist sind auf der einen Seite die Pflichten der Migrantinnen Deutschland nun ein Einwanderungsland oder nicht? und Migranten, auf der anderen Seite aber auch die Auf- Das ist ein von vielen als sehr theoretisch empfundener gaben der Aufnahmegesellschaft. Hierzu brauchen wir Streit. Ich sage Ihnen dazu: DDR-Bürger, die zum Emp- sehr viel mehr, als Sie es in Ihrem Entwurf andeuten: ei- fang ihres Begrüßungsgeldes ausgereist sind und aus der nen wirklichen Dialog der Kulturen, diskriminierungs- abgeschotteten in die offene Gesellschaft gekommen freie Integration, eine kommunale Empfangspolitik, sind, haben bereits bei diesem ersten Akt der Begegnung Orientierungshilfen im Gemeinwesen, besseren Zugang gemerkt: Das ist ein Einwanderungsland. zu sprachlicher Bildung. Dass Ihr gut hundertseitiger Ent- Ich will die Probleme nicht kleinreden. Der Globali- wurf dem Thema Integration nur zwei Seiten widmet, sierungsdruck überfordert natürlich viele. In solch Herr Bundesinnenminister, ist bereits ein Beleg dafür, schwierigen Situationen haben oft einfache Antworten dass die Lösung dieses Problems vernachlässigt wurde. Konjunktur. Uns fordert das Grundgesetz aber dazu auf, (Beifall bei der PDS) an der Willensbildung des Volkes mitzuwirken. Diese Willensbildung entsteht nicht durch fertige Antworten. Meine Damen und Herren, erinnern wir uns an Moderne Einwanderungspolitik muss Schubladendenken Deutschland vor nur 60 Jahren! Hass auf alle anderen überwinden. Diesem Schubladendenken begegnen wir Völker und Kulturen dieser Welt war Staatsräson. Dieje- aber auch hier, auch im Entwurf der Koalition. Darin wird nigen, die fliehen wollten und fliehen konnten, brauchten auf der einen Seite gesagt, qualifizierte Fachkräfte seien Hilfe und haben sie erfahren. Wenn Deutschland heute in Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20525

Roland Claus (A) eine neue außenpolitische Rolle hineinwächst und über Im Laufe des letzten Jahres ist die Erkenntnis bei uns (C) diese auch bei diesem Zuwanderungsgesetz diskutiert, allen allmählich in die Hirne getröpfelt – darüber war ich dann ist es gut, dass wir uns erinnern: Wir alle haben eigentlich ganz froh –, dass Deutschland in der Tat ein Deutschland vor 60 Jahren nicht vergessen. Einwanderungsland ist und wir alle gut beraten sind, dem Herzlichen Dank. gesetzlich Rechnung zu tragen. Es gab sehr verdienstvolle Vorarbeiten, sowohl von der von Frau Dr. Süssmuth ge- (Beifall bei der PDS sowie der Abg. Lilo leiteten Kommission – sie war allerdings von einer inne- Friedrich [Mettmann] [SPD]) ren Distanz zur CDU/CSU-Fraktion begleitet, die heute noch nicht einmal geklatscht hat, als sie gelobt wurde – als Präsident Wolfgang Thierse: Ich erteile dem Kolle- auch von der Müller-Kommission und von der von dem gen Rüdiger Veit, SPD-Fraktion, das Wort. stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden der SPD, Ludwig Stiegler, geleiteten Kommission. Rüdiger Veit (SPD): Herr Präsident! Meine sehr ver- Ich möchte kurz zurückblenden, wie wir zu dem heuti- ehrten Damen und Herren! In der Pädagogik, in der ich al- gen Gesetzentwurf gekommen sind. Nachdem die Ergeb- lerdings als Fachmann nicht zu Hause bin, gilt die Wie- nisse der Kommissionen vorgelegen haben – auch unsere derholung als wichtiges Merkmal der Vertiefung und des Fraktion hat das am 6. Juli beschlossen –, erhielt der Lernprozesses. Diese Bemerkung richte ich nicht so sehr Bundesinnenminister den Auftrag, einen Gesetzentwurf an die FDP-Fraktion – das will ich gern konstatieren –, vorzulegen, der möglichst das Einverständnis der sondern eher an die CDU/CSU-Fraktion. CDU/CSU in diesem Haus und der von ihr regierten bzw. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Ludwig mitregierten Bundesländer erhält. Dem ist Bundesinnen- Stiegler [SPD]: Die sind lernunfähig!) minister Schily nachgekommen. Dabei hat er sich unmit- telbar nach der Pressekonferenz aus München die Dro- Ich erinnere daran, dass zwischen 1954 und heute rund hung eingefangen, das CSU-Parteibuch übersandt zu 31 Millionen Menschen nach Deutschland kamen, die bekommen. In der Zwischenzeit – vielleicht wegen des keinen deutschen Pass hatten. Im gleichen Zeitraum ha- ersten Landeslistenplatzes der bayerischen SPD – ist das ben 22 Millionen Menschen Deutschland wieder verlas- zum Bayerischen Verdienstorden – zu dieser Verleihung sen. 9 Millionen Menschen sind geblieben. Wie man an- gratulieren wir – mutiert. gesichts dessen noch behaupten kann, Deutschland sei kein Einwanderungsland, ist mir einigermaßen schleier- Wenn Sie, Herr Kollege Bosbach, meinen, hier eine haft. völlige Kurskorrektur beklagen zu müssen, bedauere ich das, weil ich Sie beispielsweise in einer Diskussion (B) (Ludwig Stiegler [SPD]:Weil man ein Brett (D) vor dem Hirn hat!) im Hessischen Rundfunk zum Thema Staatsbür- gerschaftsrecht, das damals im parlamentarischen Bera- Bei dieser Gelegenheit darf ich auf die Tradition hin- tungsverfahren war, als einen überaus sachlichen, kompe- weisen: Um die Wende des 17. zum 18. Jahrhundert such- tenten und eigentlich eher – wenn ich das einmal so sagen ten die Hugenotten aus dem absolutistischen Frankreich darf – liberal-konservativen Kollegen kennen gelernt im aufgeklärten Preußen Zuflucht. habe. Diesen Eindruck habe ich nach Ihrem heutigen Bei- (Norbert Geis [CDU/CSU]: Wie viele denn? trag leider nicht mehr. Keine 100 000 !) (Ludwig Stiegler [SPD]: Den haben sie – Lieber Herr Kollege, zur damaligen Zeit machten die geimpft!) Hugenotten etwa ein Drittel der Berliner Bevölkerung Am 7. November haben wir in den Koalitionsfraktio- aus. nen über einen Kabinettsentwurf abgestimmt, der im We- (Beifall bei der SPD – Wilhelm Schmidt [Salz- sentlichen von den folgenden Elementen getragen ist: Wir gitter] [SPD]: So ist das, Herr Geis!) wollen ein Jahrzehnt der Integration; wir wollen Qualifi- zierung und Beschäftigung aller bei uns in Deutschland Es gibt noch eine andere Tradition, auf die ich – nicht bereits lebenden Mitbürger, egal welchen Pass sie haben, ganz ohne Hintergedanken – hinweise: In der Zeit zwi- schen 1871 und 1914 arbeiteten in den Zechen des Ruhr- und wir wollen Arbeitsmigration von Höchstqualifizier- gebiets immerhin eine halbe Million polnischer Arbeiter, ten – ich dachte bisher, dieser Punkt sei unstreitig. Im die dadurch halfen, den Wohlstand zu mehren. Übrigen ist der „Instrumentenkasten aufgebaut“, – um die Worte des stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden (Sebastian Edathy [SPD]: Hören Sie zu, Herr Ludwig Stiegler zu benutzen –, aber wie wir ihn einset- Marschewski!) zen, ist noch nicht geklärt. Vielleicht kommen wir in ei- – Die Erwähnung des Namens des innenpolitischen Spre- nem Jahr zu dem Ergebnis, dass die Zuwanderungsquote chers und seiner Herkunft an dieser Stelle hatte ich mir ei- bei 0 liegen soll; vielleicht wird sie aus demographischen gentlich nicht vorgenommen; aber sie ist durch einen Zwi- Gründen erst ab dem Jahr 2010 erheblich höher sein müs- schenruf angedeutet worden. sen. Diese Entscheidung muss von Fall zu Fall und den Bedürfnissen des Arbeitsmarktes entsprechend getroffen (Ludwig Stiegler [SPD]: Er hat einen urdeut- werden. schen Namen! – Gegenruf von der CDU/CSU: Wie lustig!) (Beifall bei der SPD) 20526 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001

Rüdiger Veit (A) Im Einzelnen wird mein Kollege Michael Bürsch hierauf scheidend verbessern. Wir wollen den 260 000 bisher nur (C) eingehen. geduldeten ausländischen Menschen in Deutschland eine vernünftige Perspektive geben. Wenn wir sie auf Dauer Eine Bemerkung, mit einem kleinen Seitenhieb an den schon nicht abschieben können, dann wollen wir ihnen Kollegen Dr. Stadler in Vertretung der so lange Jahre mit eine Aufenthaltserlaubnis geben, die sie befähigt, zu ar- in der Regierung gewesenen FDP versehen, kann ich mir beiten und sich hier zu integrieren. nicht ersparen. Wir haben heute eine demographische Entwicklung zu beklagen, an deren Ende womöglich Ich will ein Beispiel bringen: Vor wenigen Wochen erst steht, dass 2050 in Deutschland rund 20 Millionen Men- lernte ich den ehemaligen Leiter der Stadtwerke von schen weniger leben werden. Diese Entwicklung ist da- Kabul kennen, wenn man das so vergleichen kann. Er ist rauf zurückzuführen, dass die Geburtenrate bei uns im eu- seit 1993 in Deutschland, mit einer Duldung – ohne Per- ropäischen und erst recht im internationalen Vergleich spektive, mit Residenzpflicht, mit der Notwendigkeit, sich dramatisch zurückgegangen ist. Das ist vor allem in Ost- alle drei Monate bei der Ausländerbehörde vorstellen zu deutschland nach der Wende zu beobachten. Und warum? – müssen. Das, so denke ich und darin sollten wir uns alle ei- Weil die Vorgängerregierung – die FDP war leider immer nig sein, sollte abgeschafft werden, damit diese Menschen mit dabei – eine Familienpolitik betrieben hat, die vom endlich eine Perspektive bekommen. Das gilt im Übrigen Bundesverfassungsgericht letztendlich sogar als verfas- auch für die GFK-Flüchtlinge, die, wenn es nach den Vor- sungswidrig verworfen worden ist. Wer Familien mit Kin- stellungen der Koalition und des Bundesinnenministers dern in der Vergangenheit nicht entsprechend finanziell geht, eine Aufenthaltserlaubnis bekommen und die dann ausgestattet hat, der sollte heute nicht darüber Klage alsbald eine Niederlassungserlaubnis erhalten werden. führen, wenn wir versuchen, das nicht nur zu reparieren, Lassen Sie mich zum Schluss einige Sätze zum Thema sondern einen Teil der demographischen Probleme unse- Familiennachzug sagen. Vor was haben Sie eigentlich rer Gesellschaft – aber eben nur einen Teil und keinesfalls Angst? Die Personengruppe derer, die zwischen 16 und alle – auch durch gesteuerte Zuwanderung, auf dem Wege 18 Jahre alt sind und die als diejenigen infrage kommen, der Arbeitsmigration zu regeln. Alles andere wäre heuch- die nach Deutschland nachziehen können, umfasst – das lerisch. wissen wir aus der Kindergeldstatistik der Bundesanstalt (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten für Arbeit – höchstens 10 000 Kinder. Dabei ist noch nicht des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) einmal klar, ob sie alle kommen wollen. Wir reden beim Kindernachzug insgesamt von 18 000 Kindern, die all- Ich wende mich nun der Frage humanitärer Ver- jährlich, so auch im letzten Jahr, nachgezogen sind. Da pflichtungen zu. Bitte gehen Sie davon aus – das sage ich frage ich mich gerade hinsichtlich der ungünstigen demo- auch und gerade an die CDU/CSU gerichtet –, dass wir, graphischen Entwicklung und schlechten Geburtensitua- (B) wenn der ursprüngliche Koalitionsentwurf oder auch der (D) tion bei uns in Deutschland: Warum, mit Verlaub, haben erste Entwurf des Bundesinnenministers in Reinkultur Sie denn ausgerechnet vor diesen 18 000 oder 10 000 Kin- Gesetzentwurf geworden wäre, aus unserer Sicht eine dern Angst? Warum wollen Sie nicht gemeinsam mit uns ganze Reihe von Dingen lieber anders und weitergehend das Unterfangen angehen, sie hier mit zu integrieren und geregelt hätten. Ich meine unter anderem den Kinder- entsprechende Angebote zu machen? Dazu gibt es im- nachzug, der bereits angesprochen worden ist, den Nach- merhin eine differenzierte Regelung. zug ausländischer Familienangehöriger außerhalb der Kernfamilie zu Deutschen, einen in der Tat verbesserten (Beifall bei der SPD) Schutz vor Ausweisung hier geborener und/oder aufge- Ich bin jedenfalls froh, meine Damen und Herren, dass wachsener Ausländer und einen familienfreundlichen Sta- es in Ihren Reihen Politiker wie Christian Schwarz- tus für Konventionsflüchtlinge. Wir hätten uns darüber hi- Schilling, Norbert Blüm, Heiner Geißler und Rita naus gut eine verbesserte Härtefallregelung vorstellen Süssmuth – die Herr Zeitlmann leider schon als „diese können. Wir hätten uns auch vorstellen können, dass man Dame“ bezeichnet hat, so groß ist mittlerweile die Distanz die Residenzpflicht nicht ausgeweitet hätte und auch nicht geworden – gibt, die das im Bereich nicht staatlicher und den Anwendungsbereich des Asylbewerberleistungsge- geschlechtsspezifischer Verfolgung ähnlich sehen wie setzes, um nur einige Punkte zu nennen. Dass das, was so- wir. wohl der Bundesinnenminister vorgelegt hat und was wir als Koalitionsfraktion im Regierungsentwurf mitgetragen Ich werde den Eindruck nicht los – damit muss ich lei- haben, eben nicht Rot-Grün in Reinkultur geworden ist, der zum Schluss kommen –, dass viel dran ist an einer Ka- hat damit zu tun, dass wir diese Aufgabe mit Ihnen zu- rikatur zu dem Thema, die ich in einer der Berliner Zei- sammen lösen wollen und von vorneherein auf Sie und tungen gesehen habe. Dort beraten die Führungsspitzen Ihre Vorstellungen ein Stück weit zugegangen sind. Das der Union über die Frage, „Wie gehen Sie denn mit der betrifft auch und gerade die Frage des Familiennachzugs. Zuwanderung in dem Gesetz um?“, und Herr Stoiber flüs- tert ihnen ein: „Das ist doch ganz einfach: Bei jedem Sie haben Folgendes noch nicht verstanden – das muss Schritt, den Bundesinnenminister Otto Schily auf uns zu- ich so deutlich sagen –: Durch das neue Aufenthaltsge- geht, gehen wir einen Schritt zurück. Auf diese Art und setz, durch die neuen ausländer- und asylrechtlichen Vor- Weise bleibt die Distanz immer die gleiche.“ schriften insgesamt wird kein einziger Flüchtling mehr nach Deutschland kommen als das heute der Fall ist. Aber Das wäre kein gutes Beispiel für die weitere parlamen- was ist das Entscheidende – und das, haben Sie nicht ver- tarische Beratung. Ich appelliere abschließend an Sie: standen –? Wir wollen den Status dieser Flüchtlinge ent- Versuchen Sie, mit uns gemeinsam zu Lösungen zu kom- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20527

Rüdiger Veit (A) men. Bitte beachten Sie, dass wir längst einen Schritt auf Hier müssen Sie entsprechende Leistungen erbringen. (C) Sie zugegangen sind, Wir müssen die Bildungssysteme stärken. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Jawohl, Zu viel!) damit Sie endlich lesen lernen!) dass es insbesondere im humanitären Bereich nicht mehr Wir müssen das vorhandene Erwerbspotenzial ausnutzen. Zuwanderung gibt, sondern nur eine vernünftige Verbes- serung des Status. Sie haben gesagt, es läge auch in Ihrem Interesse, nicht die Sozialkassen zu belasten, sondern Ar- Präsident Wolfgang Thierse: Kollege Marschewski, beit und Integration zu ermöglichen. Auch deswegen wol- gestatten Sie eine Zwischenfrage? len wir den wesentlich verbesserten Aufenthaltsstatus für die betreffenden Menschen hier in Deutschland. Erwin Marschewski (Recklinghausen) (CDU/CSU): Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. Nein, im Augenblick nicht. – Eines ist klar: Zuwanderung allein löst diese Probleme nicht. Deswegen darf Zuwan- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ derung kein Alibi sein DIE GRÜNEN) (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Wer behauptet das denn?) Präsident Wolfgang Thierse: Das Wort hat Kollege Erwin Marschewski, CDU/CSU-Fraktion. für einen Verzicht auf eigene nationale Anstrengungen zur Lösung dieser Grundprobleme. Erwin Marschewski (Recklinghausen) (CDU/CSU): Ihr Gesetzentwurf, Herr Schily, bietet auch keine sach- Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! gerechten Lösungen zur Arbeitsmigration. Sie fordern Herr Bundesinnenminister, wenn ich die Mehrforderun- weder, dass Qualifikation und Ausbildung der eigenen gen des Kollegen Veit höre, muss ich Ihnen sagen: Sie ha- Bevölkerung der Zuwanderung vorzugehen haben, noch ben es nun wirklich nicht leicht mit dieser SPD-Fraktion. verlangen Sie ein echtes Arbeitsmarktbedürfnis. Bei Mil- Das Ergebnis ist doch klar. Der rot-grüne Entwurf für das lionen von Arbeitslosen in Deutschland ist es für nieman- Zuwanderungsgesetz führt zu mehr Zuwanderung, die In- den in der deutschen Bevölkerung verständlich und auch tegration ist unzureichend geregelt und die Zuwanderung nicht verantwortbar, die Arbeitsmigration unquotiert wird durch diesen Entwurf nicht begrenzt. selbst in alle einfachen Arbeitmarktsegmente vorzusehen, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Rüdiger Veit [SPD]: Wenn Sie schon nicht le- sen können, sollten Sie wenigstens zuhören!) (B) Dieser Entwurf steht daher in krassem Widerspruch zum (D) Konzept der Union, der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. ohne Bundestag und Bundesrat zu fragen, ohne überre- Dieses Konzept haben wir ohne Widerspruch gebilligt. gionale Steuerung, allein durch die Arbeitsausschüsse von (Beifall bei der CDU/CSU) 181 Arbeitsämtern in diesem Lande. Das ist keine ver- nünftige Regelung! Natürlich sagen auch wir Ja zu mehr qualifizierter Zu- wanderung. Da gibt es natürlich Bedarf. Ich stimme mit (Beifall bei der CDU/CSU – Ludwig Stiegler dem Kollegen Wolfgang Bosbach völlig überein. Aber wir [SPD]: Volksverdummung ist so etwas!) wollen auch Zuwanderungssteuerung, Zuwanderungs- Es ist uns nämlich nur zu gut bekannt, dass aus Gast- begrenzung und vor allen Dingen Integration. arbeitern, die helfen sollten, vorübergehende Engpässe Ihr erster Gesetzentwurf, Herr Bundesinnenminister, auf dem Arbeitsmarkt zu überwinden, Millionen Dauer- konnte noch als Diskussionsangebot an uns verstanden anwesende, verteilt auf mehrere Generationen, geworden werden. Was jetzt auf dem Tisch liegt, zeigt eindeutig: sind – das ist die Wahrheit –, davon rund 1 Million heute Selbst die Kompetenz des Bundesinnenministers dieses arbeitslos. Landes zählt offenbar nicht viel, wenn es um den Erhalt Nein, meine Damen und Herren, auch manche Spre- dieser zerstrittenen rot-grünen Koalition geht. Deswegen cher der Wirtschaft kommen an diesen Tatsachen nicht kann Ihr Gesetzentwurf in der vorliegenden Form von der vorbei. Ich zitiere die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ Union auf keinen Fall akzeptiert werden. – wirklich kein wirtschaftsfeindliches Blatt –: (Beifall bei der CDU/CSU) Der Bundesverband der Deutschen Industrie kann … Ihr Gesetzentwurf, Herr Schily – oder der der Frak- nicht mehr bestreiten, dass zurzeit eine Einwande- tion – ist unzureichend, weil er kein einheitliches Ge- rung von Arbeitskräften nicht notwendig ist. samtpaket arbeitsmarktpolitischer, familienpolitischer So Paul Hefty; und weiter: Weder Unternehmer noch ihre und sozialpolitischer Maßnahmen enthält. Zur Bewälti- Verbände werden sich an der Rückführung von Migranten gung der demographischen Probleme in unserem Land beteiligen, die bedarf es einer Vielzahl von Maßnahmen. Wir müssen die familienpolitischen Leistungen anheben. Kinder zu haben sie selbst aus konjunkturellen Gründen und in Wel- darf in diesem Lande kein Grund für Armut sein. len auf Kosten der Sozialversicherung freisetzen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Nein, meine Damen und Herren, auch diesen Sprechern der SPD) der Wirtschaft wird es nicht gelingen, ihre speziellen 20528 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001

Erwin Marschewski (Recklinghausen) (A) eigenen Interessen zum Gemeinwohl dieses Landes um- vention ausreichen, wenn es an einer Verbindung zu (C) zudeuten, einem asylerheblichen Merkmal fehlt. (Beifall bei der CDU/CSU – Sebastian Das ist die Regelung; das sagt selbst der Bundesinnenmi- Edathy [SPD]: Das gelingt nur Ihnen, Herr nister. Der Bereich ist abgeschlossen. Marschewski!) wie es auch Ihnen, Herr Bundesinnenminister, nicht ge- Präsident Wolfgang Thierse: Kollege Marschewski, lingen wird, das Gesetz als Zuwanderungsbegrenzungs- gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Kerstin gesetz zu verkaufen. Sie haben ja auf Seite 144 ausdrück- Müller? lich gesagt – Kollege Bosbach hat darauf hingewiesen –: Sie nehmen Abstand vom Gebot der Zuwanderungsbe- Erwin Marschewski (Recklinghausen) (CDU/CSU): grenzung. Bitte schön. Die Konsequenzen sind offensichtlich: Durch die Gleichstellung von Personen, die Abschiebeschutz ge- Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nießen, mit Asylberechtigten wird die Drittstaaten- NEN): Herr Marschewski, ich möchte Sie noch einmal regelung zumindest zum Teil unterlaufen. Dabei hat al- auf den von mir erwähnten Brief des Kollegen Schwarz- lein diese Drittstaatenregelung zur Reduzierung der Zahl Schilling hinweisen, der ja auch an Sie gegangen ist. Da der Asylbewerber von 450 000 auf 100 000 geführt. heißt es auf der Seite 4 zu dem von Ihnen jetzt erhobenen Wenn Sie diese Regelung quasi aufheben, steigt doch die Vorwurf, wir würden damit eine Erweiterung des Asyl- Zahl an Asylbewerbern gerade deswegen wieder an. rechts vornehmen: Durch die Schaffung von Daueraufenthalten von Es sind keine Anhaltspunkte bekannt, dass die Aner- 260 000 zur Ausreise Verpflichteten mit so genannter Dul- kennung der nicht staatlichen geschlechtsspezifi- dung werden darüber hinaus die Zuzugsanreize nach schen Verfolgung eine zunehmende Zahl von Asyl- Deutschland erheblich gesteigert. Das ist doch so! Vor al- suchenden zur Folge hat. Ein prägnantes Beispiel len Dingen erhöht sich durch den dann möglichen Fami- hierfür ist Kanada, das weltweit eine Vorreiterrolle liennachzug der Zuzug auch zahlenmäßig. bei der geschlechtsspezifischen Anerkennung spielt. Gleiches wird im Zuge der Erteilung einer Aufenthalts- Im Jahre 1999 haben sich von über 30 000 Asylsu- erlaubnis für Personen, die unter so genannter ge- chenden nur 195 auf geschlechtsspezifische Verfol- schlechtsspezifischer Verfolgung leiden, eintreten. Ich gung berufen. habe Verständnis dafür, den Status dieser Frauen zu über- Das Somalia-Beispiel hatte ich Ihnen ja schon genannt. (B) prüfen; das will auch meine Fraktion. Recht hat aber auch (D) die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, wenn sie schreibt: Herr Marschewski, geben Sie mir Recht, dass vor dem Hintergrund dieser Zahlen und Erfahrungen in allen Län- Die „nicht staatliche“ sowie die „geschlechtsspezifi- dern der Welt, die geschlechtsspezifische Verfolgung an- sche“ Verfolgung erkannt haben, Ihre Behauptung, dies sei eine Ausweitung – wie in Ihrem Entwurf, Herr Schily – des Asylrechts und ziehe zusätzliche Einwanderung nach sich, einfach falsch ist? als Abschiebeschutz – mit Daueraufenthaltsrecht – Erwin Marschewski (Recklinghausen) (CDU/CSU): anzuerkennen ist ein systematischer Fehler, der in Frau Kollegin Müller, ich gebe Ihnen nicht Recht; denn Verbindung mit der Familienzusammenführung un- dieser Asylgrund bietet Anreize. übersehbare Weiterungen nach sich ziehen kann und Herr Kollege Schwarz-Schilling ist ein guter Freund wird. von mir und hat erhebliches Fachwissen. Diesen Fehler haben Sie akzeptiert, Herr Bundesinnenmi- (Rüdiger Veit [SPD]: Auf Freunde soll man nister, obwohl in Ihrer eigenen Stellungnahme vom hören!) 23. Juni 2000 zu lesen ist: Aber in diesem Bereich deutscher Innenpolitik hat der Eine asyl- oder ausländerrechtliche Schutzlücke zum Bundesinnenminister Recht, denn er ist auf diesem Gebiet Nachteil von Frauen besteht nicht. kompetent. Was er zu diesem Thema schreibt, entspricht Soweit Sie, Herr Bundesinnenminister. Das hat übrigens der Wahrheit. Auch wir vertreten diese Position, weil es so auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Ausländerrecht steht. bestätigt. (Beifall bei der CDU/CSU) Frau Kollegin Müller, da Sie auf Europa verwiesen ha- Meine Damen und Herren, im Gegensatz zu uns steu- ben, möchte ich Sie darauf hinweisen, dass auf Seite 11 ern und begrenzen Sie die Zuwanderung nicht. Die Fami- dieses Gutachtens des Bundesinnenministers wörtlich liennachzugsregelungen werden nicht begrenzt und es steht: gibt auch nicht weniger Asylbewerber. Auch die Zahl der Bürgerkriegsflüchtlinge wird nicht begrenzt. Kein Mitgliedstaat in Europa lässt aber geschlechts- spezifische Verfolgungen an sich für eine Flücht- (Rüdiger Veit [SPD]: Das liegt an den Bürger- lingsanerkennung nach der Genfer Flüchtlingskon- kriegen!) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20529

Erwin Marschewski (Recklinghausen) (A) Dies hat folgenden Grund: Wenn wir das Pledging-Ver- dieses Pledging-Verfahren vorgesehen ist, haben wir jetzt (C) fahren anwenden, dann werden die Bürgerkriegsflücht- mit Zustimmung aller europäischen Staaten in der Richt- linge wie gehabt ins Asylverfahren strömen. Dann wird es linie gefunden. Wollen Sie – das ist jetzt meine Frage, keine Begrenzung geben, obwohl der Bundesinnenminis- Herr Kollege Marschewski – auch Ihre europapolitische ter den Innenministern der Länder gesagt hat, es müsse Kompetenz völlig verleugnen, wenn Sie sich gegen alle eine gerechte Lastenverteilung in Europa geben. Die hat Staaten der Europäischen Union stellen, die dieses Ver- es eben nicht gegeben, weswegen auch diese Zahl größer fahren abgesegnet haben? werden wird. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Wenn Sie dies in Europa nicht erreicht haben, Herr des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Bundesinnenminister, wie wollen Sie dann eigentlich ver- hindern, dass die Familienzusammenführungsrichtlinie Erwin Marschewski (Recklinghausen) (CDU/CSU): und die Mindeststandardrichtlinie im Asylverfahren letz- Herr Bundesinnenminister, Sie haben den Innenministern ten Endes durchgesetzt werden? Wenn dies beschlossen der Länder zugesagt, zu einem gerechten Lastenvertei- wird, wird das Asylrecht auf den Kopf gestellt. lungsverfahren zu kommen. Das Pledging-Verfahren Wir waren es doch nicht, die gesagt haben, die Grenze – es sieht vor, dass ein Flüchtling sagen kann, in welches der Belastbarkeit sei überschritten. Das hat der Bun- Land er möchte, dieses Land ihn aber ablehnen kann, was desinnenminister selbst gesagt. Wir stimmen ihm zu. Al- wir in der Vergangenheit getan haben – führt mit Sicher- lerdings müssen diesen Worten auch Taten folgen, meine heit dazu, dass diese Menschen Asyl in Anspruch nehmen Damen und Herren. Die Belastbarkeit ist gerade deswe- und deshalb ins Asylverfahren drängen. Das ist keine Be- gen überschritten, weil die Integration vieler Zuwanderer grenzung, Herr Bundesinnenminister. noch nicht gelungen ist. Wir wollen eine gerechte Lastenverteilung in Europa. Obwohl es in der Vergangenheit Schwächen bei der An- Präsident Wolfgang Thierse: Kollege Marschewski, wendung des § 32 a gegeben hat, weil sich Bund und Län- gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten der eben nicht einig waren, so meine ich doch, dass die Schily? alte Lösung nicht schlechter war als die neue Lösung, die in der Tat dazu führt, dass Bürgerkriegsflüchtlinge en masse nach Deutschland kommen. Erwin Marschewski (Recklinghausen) (CDU/CSU): Bitte schön, Herr Bundesinnenminister. Sie begrenzen nicht im Bereich der Bürgerkriegs- flüchtlinge; Sie begrenzen nicht im Bereich des Asyls, wo von Änderungen ebenfalls kaum die Rede sein kann; Sie (B) Otto Schily (SPD): Herr Kollege Marschewski, Sie begrenzen nicht im Bereich des Familiennachzuges. Des- (D) haben wieder die europapolitischen Fragen angespro- wegen ist Ihr Gesetz, Herr Bundesinnenminister, ein chen. Wir haben ja schon vor geraumer Zeit versucht, uns Zuwanderungserweiterungsgesetz, kein Zuwanderungs- darüber zu verständigen. Ich erinnere Sie noch einmal da- begrenzungsgesetz. Das aber wollen die Bevölkerung und ran, dass unter der – – auch wir. (Zurufe von der CDU/CSU: Frage!) (Beifall bei der CDU/CSU) – Entschuldigung, auch Ihre Fragen, zum Beispiel die von Herrn Bosbach, wurden so eingeleitet, wie ich es jetzt Präsident Wolfgang Thierse: Herr Kollege ebenfalls handhabe. Marschewski, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage (Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Darüber des Kollegen Schily? entscheidet der Präsident, nicht der Frage- steller!) Erwin Marschewski (Recklinghausen) (CDU/CSU): Darf ich Sie daran erinnern, dass Sie in der alten Re- Bitte schön, Herr Bundesinnenminister. gierung eine Lastenteilung im Hinblick auf die Bosnien- flüchtlinge nicht erreicht haben, sondern die weitaus über- Otto Schily (SPD): Herr Kollege Marschewski, Ent- wiegende Zahl dieser Flüchtlinge – es waren 350 000 – in schuldigung, aber ich glaube, Sie haben das Pledging- unser Land gekommen ist? In der Kosovo-Krise dagegen Verfahren nicht begriffen. haben wir eine Lastenteilung im Pledging-Verfahren er- reicht, sodass von den 90 000 Flüchtlingen aus Mazedo- (Zustimmung bei der SPD – Widerspruch bei nien nur etwa 10 000 bis 15 000 nach Deutschland ge- der CDU/CSU) kommen sind. Welches System hat denn nun funktioniert, Das Pledging-Verfahren bedeutet natürlich nicht, dass Sie Ihres oder unseres? jemanden zwingen können – das will ja auch wohl nie- Die Tatsache, dass Frankreich und andere Staaten in mand –, bei uns Schutz zu suchen. Das Pledging-Verfah- ren bedeutet nur, dass die Staaten beim Vorliegen einer der Europäischen Union eine Quotenregelung nicht ak- Bürgerkriegssituation erklären, in welchem Umfang sie zeptieren – das taten sie weder zu Ihren Regierungszeiten bereit sind, Flüchtlinge aufzunehmen. noch tun sie es zu unseren noch werden sie es in Zukunft tun –, kann uns doch nicht von der Verpflichtung befreien, Das und nichts anderes ist der Inhalt des Pledging-Ver- eine andere Lösung zu suchen. Eine solche Lösung, in der fahrens. Das führt zu einer vernünftigen Lastenverteilung, 20530 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001

Otto Schily (A) wie wir sie schon bei der Kosovo-Krise vorexerziert ha- kerung zu erwecken, die vermieden werden könnten. Wir (C) ben. An diesen Tatsachen dürfen Sie nicht vorbeisehen. haben das in der Debatte um das Thema „Ausländer und Ich frage deshalb: Sind Sie in der Lage, die Tatsachen zur Einwanderung“ sehr deutlich erlebt. Kenntnis zu nehmen? Es gab unglaubliche Schwankungen: Ein Tiefpunkt (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Nein! wurde durch die Unterschriftenaktion in Hessen erreicht, Leider nicht!) der sich auf die generelle Stimmung gegenüber Auslän- dern in unserem Land übertragen hat. Dann gab es eine sehr gute Phase, als zwei Kommissionen zu einer sehr Erwin Marschewski (Recklinghausen) (CDU/CSU): großen Sachlichkeit in der Gesellschaft beigetragen ha- Ich nehme die Tatsachen zur Kenntnis. Ich sehe aber keine ben. Nun fürchte ich, dass wir am Anfang einer dritten Möglichkeit, dass wir den Flüchtlingen die Aufnahme Phase stehen, in der wieder das Schüren von Ängsten die verweigern können, wenn sie aufgrund einer Bürger- Oberhand bekommt. kriegssituation zu Tausenden nach Deutschland kommen und ins Asylverfahren drängen. Das ist doch der Grund, (Rüdiger Veit [SPD]: Wohl wahr! – Erika Lotz Herr Bundesinnenminister. [SPD]: Wie beim Doppelpass!) (Beifall bei der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt Von Ihrem Fraktionsvorsitzenden Merz ist in die De- [Salzgitter] [SPD]: Das stimmt doch überhaupt batte eingebracht worden – Sie scheinen sich jetzt darauf nicht!) festzulegen –, dass wir vor allen Dingen ein Begren- zungsgesetz bräuchten. Das erweckt den Eindruck, als ob Deswegen haben wir § 32 a geschaffen. wir bisher keine Begrenzung der Zuwanderung vorge- (Zuruf von der SPD: Aber wie angewandt!) nommen hätten. Das ist absolut absurd; Wir haben mit Ihnen über Ihren Entwurf diskutiert. Wir (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- werden Ihnen 70 bis 80 Änderungsvorschläge unterbrei- SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) ten. Wir wollen als Union eine Zuwanderungsregelung denn jedes Ausländerrecht beinhaltet immer die Festle- und vor allen Dingen eine Zuwanderungsbegrenzungs- gung, wer das Recht hat, zu kommen, und gleichzeitig regelung. Wir erwarten, dass Sie uns entgegenkommen. werden durch das Ausländerrecht natürlich auch Grenzen Gestern Abend gab es dafür aber ein schlechtes Beispiel: für diejenigen festgelegt, die nicht das Recht haben, zu Wir werden morgen über das Terrorismusbekämpfungs- kommen. Es wäre also ein Streit um des Kaisers Bart, gesetz debattieren. Sie haben uns an einem Tag mit einem wenn man sachlich diskutieren wollte. Wenn Sie mit den Berg von Anträgen überfallen. Wir haben 32 substanzi- Begrenzungsregelungen das Ziel dieses Gesetzes, näm- ierte Anträge vorgelegt. Sie haben aber jeden Antrag (B) lich die Einwanderung auch im Interesse unseres Landes (D) abgelehnt. Ich sage Ihnen: Das darf es bei der Zuwande- zu gestalten, auf den Kopf stellen wollen, indem Sie sa- rungsregelung nicht geben. Wir brauchen in diesem Land gen, dass es bei jeder Prüfung eines Zuwanderungsan- eine Zuwanderungsregelung, aber vor allen Dingen eine spruchs vor allen Dingen darum geht, die Zuwanderung Zuwanderungsbegrenzungsregelung. möglichst von uns fern zu halten, dann brauchen wir kein Herr Bundesinnenminister, ich habe es Ihnen schon neues Gesetz. einmal gesagt: Sie dürfen nicht zum einfachen Parteisol- Als Ausländerbeauftragte – ich habe die Aufgabe, zu daten werden. Es geht um das Wohl unseres Volkes möglichst viel Rationalität in dieser Debatte beizutragen – (Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/ möchte ich noch einmal sehr eindringlich auf die DIE GRÜNEN: Oh!) Zuwanderungszahlen hinweisen, mit denen wir es tatsächlich zu tun haben. Im Jahr 2000 sind etwa 648 000 und nicht um das Wohl dieser brüchigen Koalition aus Ausländer ins Land gekommen; das ist in der Tat eine be- SPD und Grünen. trächtliche Zahl. Es sind aber auch 562 000 Ausländer (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist wieder gegangen. Das heißt, dass wir einen Saldo von doch eine aufgeblasene Argumentation! Aufge- 86 000 Menschen bei einer Bevölkerungszahl von 82 Mil- blasen und ignorant!) lionen haben. Herzlichen Dank. Seit Jahren arbeitet im Bundestag die Enquete-Kom- mission „Demographischer Wandel“. Wir als Politiker ha- (Beifall bei der CDU/CSU) ben die Aufgabe, in dieser Kommission vorausschauend für dieses Land zu handeln. Vorausschauend zu handeln Präsident Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort heißt auch, der Entwicklung, dass der Altersdurchschnitt der Kollegin , Bündnis 90/Die Grünen. der Bevölkerung extrem steigt – das bringt große Schwie- rigkeiten für die sozialen Sicherungssysteme mit sich, he- belt die Balance zwischen Alt und Jung aus und führt Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE schon jetzt zu einem großen Fachkräftemangel und einem GRÜNEN): Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolle- Mangel an Innovation auf unserem Arbeitsmarkt –, früh- ginnen und Kollegen! Es gibt kaum ein innenpolitisches zeitig entgegenzuwirken. Thema, das sich so wie dieses Thema anbietet, Emotionen hervorzurufen, Ängste zu schüren und vor allen Dingen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN durch Doppelbödigkeit falsche Eindrücke in der Bevöl- sowie bei Abgeordneten der SPD) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20531

Marieluise Beck (Bremen) (A) Auf diese Ausgangsanalyse konnten sich sowohl die Unfrieden im Land schaffen, den dann niemand von Ih- (C) Süssmuth- als auch die Müller-Kommission verständi- nen politisch wieder einfangen kann. gen. Wenn wir bereit wären, auf dieser Basis sachgerecht Schönen Dank. zu diskutieren und nicht anhand der Ausländerfrage Kanzlerkandidaturen, die Aufstellung für die nächsten (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Wahlen etc. durchzuexerzieren, bei der SPD und der PDS) (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das ist doch Quatsch!) Präsident Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort dem Kollegen Michael Bürsch, SPD-Fraktion. dann hätten wir wirklich die Chance auf einen breiten Kompromiss in diesem Haus. Wir haben die Verpflich- tung dazu; denn die Ausländer, die Migranten, werden es Dr. Michael Bürsch (SPD): Herr Präsident! Liebe spüren, wenn die Stimmung in diesem Land aufgeheizt Kolleginnen und Kollegen! Ich schließe an meine ge- wird. schätzte Kollegin Marieluise Beck gerne an. Es gibt zwei Möglichkeiten, Politik zu machen: auf der Grundlage von (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Emotionen oder auf der Grundlage von Fakten. Als ruhi- sowie bei Abgeordneten der SPD und der ger Norddeutscher neige ich zu der zweiten Variante und PDS) will am Ende der Debatte versuchen, zu den Fakten zu- rückzukommen. Ich möchte noch eine zweite Zahl nennen, um Ihnen zu zeigen, wie ideologiebeladen diese Debatte ist; es geht um Fakt ist: Es besteht Reformbedarf und Handlungsbe- den Kindernachzug. Sie erwecken den Eindruck, als ob darf. Fakt ist auch: Die Union, die Opposition, hat keinen die Kinder der Migranten erstens ständig hin und her pen- Gesetzentwurf zu diesem Thema vorgelegt. Die Regie- deln und zweitens dieses Land geradezu überschwemmen rungsfraktionen haben einen Entwurf vorgelegt, der drei würden. Daran knüpfen Sie die Forderung, das Kinder- Säulen enthält. Nicht alle konnten ihn lesen. Das ist bei nachzugsalter abzusenken. Im Jahr 2000 sind etwa 4 800 der Fülle des Materials aus dem Innenministerium nicht türkische Kinder zugewandert. Bezogen auf einen Jahr- jedem möglich gewesen. gang bedeutet das einen Zuzug von 289 Kindern. Diese Erste Säule: Zuwanderung. Die entscheidende Neue- sind zu ihren Eltern nach Deutschland gekommen, weil rung ist die Möglichkeit, Arbeitsmigration nach den Be- vielleicht die Großeltern nicht mehr zur Verfügung stan- dürfnissen der Wirtschaft und unseres Arbeitsmarktes zu den oder die Tante nicht mehr da war. Wollen Sie wirklich steuern. Das ergibt sich aus allen Paragraphen in diesem einen so weit reichenden Einschnitt in individuelle Gesetz. Dazu werden qualifizierte Ausländer und Studie- (B) Entscheidungen – es geht darum, wie Familien zusam- rende gesicherte Aufenthaltstitel bekommen. (D) menleben – vornehmen, um diese 289 Kinder abweisen zu Zweite Säule: Integration. Erstmals regeln wir einen können? Meine Damen und Herren, das belegt, dass es gesetzlichen Mindestrahmen für die Integration. Auslän- vor allen Dingen um eine ideologische Auseinanderset- der, die zu uns kommen, um dauerhaft in Deutschland zu zung geht. leben, bekommen einen Rechtsanspruch auf die Teil- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nahme an einem Integrationskurs. sowie bei Abgeordneten der SPD und der Dritte Säule: Aufenthaltsrecht. Ein entscheidender PDS) Fortschritt, der heute nicht benannt worden ist, ist die Die allseits geschätzte und erfahrene Kollegin Barbara deutliche Vereinfachung des Aufenthaltsrechts. Das hat John – sie ist die dienstälteste Ausländerbeauftragte der viele Vorteile für die Anwendung des Gesetzes, aber vor Republik – sagt, dass der Kindernachzug faktisch abge- allem für die Rechtssicherheit der Betroffenen. schlossen ist und es nicht mehr um die Frage des Nach- Es ist schon viel über die Fakten zum Thema Einwan- zugs, sondern darum gehe, welche Integrationsmöglich- derung gesagt worden. 31 Millionen Menschen sind seit keiten und -leistungen unsere Gesellschaft – sie ist 1954 zu uns gekommen. 30 Prozent aller Kinder an deut- Bildungs- und Qualifikationsträger – denen anbieten schen Schulen stammen aus zugewanderten oder kürzlich kann, die schon hier sind. Das ist die eigentliche Heraus- eingebürgerten Familien. An manchen Schulen sind es so- forderung. Es gibt viele Versäumnisse – auch in der Poli- gar 60 Prozent und mehr. Allein Türken haben in Deutsch- tik der vergangenen Jahre. Neben der Gestaltung der Ein- land etwa 50 000 Betriebe gegründet und 200 000 Arbeits- wanderung sollten wir dieses Thema angehen, und zwar plätze geschaffen. Das ist die Realität in Deutschland. nicht nur durch dieses Bundesgesetz, sondern auch durch (Beifall bei Abgeordneten der SPD) die Politik der Länder und der Kommunen; denn das ist wahrhaft eine große Herausforderung. Eine Politik, die prinzipiell auf die Abwehr von Ein- wanderern setzt, ist einem Land mit unserer internationa- Einwanderungsgesellschaften stehen vor großen ge- len Orientierung nicht angemessen. sellschaftlichen Herausforderungen. Das sollten wir nicht wegreden. Aber als Teil der Europäischen Union, einer (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Region, die demnächst 27 Staaten haben wird, werden wir des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) mit dem Faktum Einwanderung leben müssen, es im ei- Eine solche Politik der Abschottung wäre im Zeichen der genen Interesse positiv gestalten müssen, weil wir sonst Globalisierung auch zum Scheitern verurteilt. Das sehen 20532 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001

Dr. Michael Bürsch (A) Unternehmen, Kirchen und viele gesellschaftliche Grup- Ein Hinweis auf die Zahlenlage: Bei uns in Deutsch- (C) pen in Deutschland so. Im Grunde müssten wir mit Stolz land stellen ausländische Kinder 17,3 Prozent der Haupt- auf unser Markenzeichen „Made in “ eine neue schüler und 14,9 Prozent der Sonderschüler, aber nur Einwanderungspolitik à la „Made in Germany“, eine Mi- 3,9 Prozent der Gymnasiasten. Jedes dritte ausländische grationspolitik, die in die Zukunft weist, erfinden. Kind bei uns besucht nur eine Haupt- oder Sonderschule. Es lässt sich doch an fünf Fingern abzählen, welche Chan- Die systematische Förderung von Bildung, Fortbil- cen diese Kinder mit einer solchen Schulbildung später dung und Qualifizierung wird nicht ausreichen, um den auf dem Arbeitsmarkt haben werden. Hier entwickelt sich Arbeitskräftemangel zu beheben. Darauf haben verschie- ein gewaltiger sozialer Sprengstoff in den Migrantenfa- dene Vorredner hingewiesen. Für die nächsten Jahre be- milien und an der Stelle müssen wir etwas tun. steht allerdings nach allen Prognosen der Bundesanstalt für Arbeit überhaupt kein Anlass, irgendwelche Horror- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten szenarien zu entwerfen. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD) Das Zuwanderungsgesetz gibt hier mit dem Integra- tionskonzept die richtige Richtung vor. Es wird erstmals Es wird keine unbegrenzte Zuwanderung geben. Seriöse ein gesetzlicher Rahmen geschaffen, der vor allem bei den Schätzungen sprechen von einem Bedarf von 10 000 bis Sprachkenntnissen ansetzt. Von dieser Neuregelung wer- 20 000 ausländischen Spitzenfachkräften, die wir in den den gerade Kinder der Zuwandererfamilien profitieren. nächsten zehn Jahren benötigen. Die gesteuerte, qualifi- An sie ist dieses Angebot auch gerichtet. zierte Zuwanderung von Fachkräften gefährdet nicht die Arbeitsplätze im Inland, im Gegenteil: Sie schafft neue Der Bund wird seiner Verantwortung nachkommen Arbeitsplätze. müssen und sich an den Kosten angemessen beteiligen. Ich könnte mir vorstellen, dass er sich zur Hälfte beteiligt. Um es klar zu sagen: Die Zuwanderer werden auf der Es spricht aus meiner Sicht auch überhaupt nichts dage- Grundlage des neuen Gesetzes zu uns kommen, um gen – das ist schon von dem Kollegen Stadler gesagt wor- Lücken zu füllen, nicht, um einheimische Arbeitnehmer den, Unternehmen und solche Ausländer an den Kosten zu zu verdrängen. Das sind die Fakten. beteiligen, die einen finanziellen Beitrag zu diesen Inte- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten grationskursen leisten können. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Es geht bei der Integration aber nicht nur um Geld. Es Stichwort Integration: Integration ist ein Prozess, der geht nicht nur um Sprachkurse, so wichtig dieser Teil des sowohl von den Zuwanderern als auch von den Menschen Angebots an Ausländer auch ist. Ein Großteil der Integra- (B) in Deutschland gegenseitige Anerkennung und die Be- tionsleistungen wird schon bisher völlig unabhängig von (D) reitschaft, aufeinander zuzugehen, verlangt. staatlicher Steuerung erbracht. Verbände, Initiativen und auch einzelne engagierte Mitbürgerinnen und Mitbürger (V o r s i t z: Vizepräsident Dr. ) leisten auf diesem Gebiet eine vorzügliche Arbeit, für Integration ist aber nicht nur ein Angebot, sondern da- welche wir Dank und Anerkennung schulden. mit ist auch eine Erwartung verbunden: Wer zu uns nach (Beifall bei der SPD) Deutschland kommt, der soll die demokratisch festgeleg- ten Regeln nach dem Leitbild unseres Grundgesetzes ak- Doch damit ist es meiner Meinung nach nicht getan. zeptieren. Diese Regeln bieten einen weiten Raum für Dieses bürgerschaftliche Engagement gilt es zu fördern kulturelle Vielfalt. Sie sichern die Freiheit des Glaubens, und zum Beispiel durch eine Verbesserung der prakti- sie sichern die Rechte von Minderheiten. Richtig ist aber schen Rahmenbedingungen weiter zu mobilisieren. Die auch, dass diese Regeln Grenzen setzen, die niemand un- Zivilgesellschaft kann nicht Ausfallbürge für den Staat ter Hinweis auf seine Herkunft und seine religiöse Über- sein, auch nicht in dem Bereich der Integration; aber ohne zeugung außer Kraft setzen darf. Deshalb – auch das muss bürgerschaftliches Engagement wird Integration auch einmal deutlich gesagt werden – setzt unser Integrations- nicht gelingen können. konzept auf das Prinzip „Fördern und Fordern“. Auslän- (Beifall bei der SPD) der, die dauerhaft in Deutschland leben, werden in Zu- kunft einen Rechtsanspruch auf die Teilnahme an einem Unser Konzept für eine neue Zuwanderungspolitik Integrationskurs erhalten, der 600 Stunden Sprachkurs wird nicht dadurch infrage gestellt, dass unsere offene Ge- und 30 Stunden Einführung in die Rechtsordnung, die sellschaftsordnung, unsere Lebensart der Freiheit durch Kultur und die Geschichte Deutschlands umfasst. einen fundamentalistischen, durch einen Menschen ver- achtenden Terrorismus herausgefordert wird. Es ist viel Die viel zitierte PISA-Studie hat uns Defizite im Bil- darüber gesprochen, viel darüber geschrieben worden. In dungswesen vor Augen geführt. Es besteht auch dort er- einer globalisierten Welt, in einem Zeitalter neuer Tech- heblicher Handlungsbedarf, und zwar gerade bei den Bil- nologien und neuer Kommunikationstechniken, welche dungschancen sozial benachteiligter Kinder. Zu den die Welt viel enger zusammenrücken lassen, ist es eine schwierigsten Aufgaben wird dabei die Förderung von Ironie der Geschichte, dass wir nun auf eine fast archai- Kindern aus Zuwandererfamilien gehören. Anderen euro- sche Empfindung zurückgeworfen werden, nämlich auf päischen Staaten gelingt es nach dieser Studie offensicht- die Angst vor dem anderen, der sich von uns durch Haut- lich besser, die Auswirkungen der sozialen Herkunft zum farbe oder durch Religion unterscheidet. Unsere Aufgabe Beispiel auf die Lesefähigkeit auszugleichen. als Politiker, als Verantwortungsträger ist es, solchen Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20533

Dr. Michael Bürsch (A) Ängsten durch Aufklärung, aber sicherlich auch durch ischen Industriestaaten und im Vergleich dazu weniger (C) entschlossenes Handeln gegen Terrorismus entgegenzu- ausländerfeindliche Straftaten. Wir haben mehr Bürger- wirken. kriegsflüchtlinge aufgenommen als der ganze Rest Euro- pas zusammen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Kol- Das neue Zuwanderungsgesetz wird mehr Steuerung lege Uhl, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen und mehr Sicherheit ermöglichen. Aber es setzt darüber Edathy? hinaus auch ein wichtiges Zeichen: Wir bleiben eine of- fene, eine freie Gesellschaft. Wir bieten denen, die mit ei- ner guten Ausbildung und der Motivation zu uns kommen, Dr. Hans-Peter Uhl (CDU/CSU): Nein. Ich habe eine in unserem Land etwas zu erreichen – gleich, welcher Redezeit von nur 5,5 Minuten. Herkunft sie sind und mit welcher Hautfarbe und welcher Religion sie zu uns kommen –, eine Heimat. Wir bieten Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Die Zeit ihnen an, dass sie zu uns gehören können. Denn wir für die Beantwortung der Zwischenfrage wird Ihnen nicht führen keinen Krieg der Kulturen. Wir treten für das ein, angerechnet. was man als „Weltinnenpolitik“ bezeichnet, für das Mit- einander aller Kulturen und Kontinente. Anders – um es pathetisch zu sagen – werden wir nicht überleben kön- Dr. Hans-Peter Uhl (CDU/CSU): Das weiß ich. Aber nen. das stört meine Rede. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Kurzum, es ist einfach unanständig, wenn immer wieder DIE GRÜNEN) insinuiert wird, die Deutschen seien ausländerfeindlich. Meine Damen und Herren, wir Sozialdemokraten set- Derzeit haben wir in Deutschland mehr als 7 Millionen zen auf die Überzeugungskraft der Fakten. Wir plädieren Ausländer. Umso wichtiger ist es, Frau Beck, vorrangig dafür, dieses Thema mit Vernunft und Augenmaß zu be- diese 7 Millionen Menschen zu integrieren. Dabei werden arbeiten und zu einem guten Ende zu bringen. Ich bin si- wir feststellen, dass Integration sehr teuer ist. In Ihrem cher: Damit werden wir nicht nur die Köpfe, sondern auch Gesetzentwurf steht über die wahren Kosten der Inte- die Herzen der Menschen gewinnen. gration nichts. Für manche noch zögerlichen Kolleginnen und Kolle- (Beifall bei der CDU/CSU) gen aus der CDU/CSU rufe ich eine Lebensweisheit von Es gibt viel zu viele Ausländer, die hier auf Dauer le- (B) Immanuel Kant in Erinnerung, die ihnen die Zustimmung ben wollen, sich aber jahrelang weigern, Deutsch zu ler- (D) erleichtern wird. Kant hat einmal gesagt: „Ich kann, weil nen. Wir können das nicht länger hinnehmen. Doch auch ich will, was ich muss.“ Das heißt auf Deutsch: Sie von nach dem vorliegenden Gesetzentwurf hat ein Ausländer, der CDU/CSU müssen realisieren, dass wir Zuwanderung der keinerlei Integrationsbereitschaft zeigt, ausländer- und Integration brauchen. Sie wollen der Zukunft dieses rechtlich, Herr Schily, nichts zu befürchten. Auch aus die- Landes nicht im Wege stehen. Deshalb können Sie gar sem Grund lehnen wir den Gesetzentwurf ab. nicht anders, als zuzustimmen. So einfach ist das. Spätestens bei den Kindern dieser integrationsunwilli- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gen Ausländer, die in Parallelgesellschaften aufwachsen, DIE GRÜNEN) stellen wir dann Folgeschäden fest: Ohne Deutsch gelernt zu haben, haben sie natürlich keinen Schulabschluss, Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als ohne Schulabschluss keine Berufsausbildung, ohne Be- nächster Redner hat der Kollege Dr. Hans-Peter Uhl von rufsausbildung keinen Arbeitsplatz und ohne Arbeitsplatz der CDU/CSU-Fraktion das Wort. gleiten sie dann sehr häufig – dies ist kein Wunder – in die Kriminalität ab. Wir alle kennen die Zahlen der jugend- lichen ausländischen Serienstraftäter vorwiegend aus der Dr. Hans-Peter Uhl (CDU/CSU) (von Abgeordneten Türkei und aus dem ehemaligen Jugoslawien. In allen der CDU/CSU mit Beifall begrüßt): Herr Präsident! westdeutschen Großstädten gibt es solche Fälle. Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Die über- wiegende Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland, In unseren Großstädten gibt es Hauptschulklassen, in nämlich genau 61 Prozent, wollen nicht mehr, sondern denen die verbliebenen deutschen Schüler eine exotische weniger Zuwanderung. Im Gegensatz dazu ist in dem von Minderheit darstellen. Es gibt Wohnblöcke, ja ganze Rot-Grün präsentierten Gesetzentwurf mehr Zuwande- Straßenzüge, in denen kaum ein Deutscher lebt. Wer inte- rung angestrebt. Schon aus diesem Grund lehnen wir, die griert denn da wen? CDU/CSU-Fraktion, zusammen mit der überwältigenden Wenn wir schon diese partiellen Überfremdungen nicht Mehrheit der Deutschen diesen Gesetzentwurf ab. rückgängig machen können – das wissen wir –, (Dr. Michael Bürsch [SPD]: Wo hast du denn (Erika Lotz [SPD]: Das ist ja schlimm!) die überwältigende Mehrheit her?) so müssen wir wenigstens weitere Fehlentwicklungen Deutschland ist eines der ausländerfreundlichsten Län- dieser Art verhindern. Wir haben die Aufgabe, den sozia- der. Wir haben mehr Ausländer als alle anderen europä- len Frieden zu sichern und solchen Überfremdungen 20534 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001

Dr. Hans-Peter Uhl (A) Vorschub zu leisten. All Ihre multikulturellen Träume sind Einzelne Branchen, die laut schreien und eine entspre- (C) doch in Wirklichkeit wie Seifenblasen zerplatzt. chende Lobby haben, bekommen willige und billige Ar- beitskräfte aus dem Ausland. (Beifall bei der CDU/CSU – Rüdiger Veit [SPD]: Bisher waren wir gegenüber Bayern (Erwin Marschewski [Recklinghausen] [CDU/ ganz tolerant!) CSU]: Sehr wahr! Ausbeutung ist das!) Deswegen sagen wir: Integration hat Vorrang vor weiterer Der Skandal ist nicht, dass wir – damit komme ich zum Zuwanderung. Schluss – (Beifall bei der CDU/CSU) (Zuruf von der SPD: Das ist eine gute Idee!) Wer es mit Integration ernst meint, der muss auch beim Pflegekräfte für unsere Krankenhäuser aus dem Ausland Nachzugsalter von Kindern konsequent sein. Türkische holen. Der Skandal ist, dass es die Regierung nicht ge- Eltern handeln unverantwortlich, wenn sie ihre Kinder im schafft hat, die annähernd 40 000 arbeitslosen Pflege- schulpflichtigen Alter gezielt unserem Kulturkreis entzie- kräfte in Deutschland in Lohn und Brot zu bringen. hen und sie in einer Koranschule ihres ostanatolischen (Beifall bei der CDU/CSU) Heimatdorfes erziehen lassen. Der deutsche Staat muss darauf bestehen, dass Ausländerkinder, die auf Dauer hier Der noch größere Skandal ist, dass wir Jahr für Jahr völ- leben wollen, echte Integrationschancen bekommen. Das lig ungelernte Erntehelfer aus dem Ausland zur Weinlese heißt, sie müssen Deutsch lernen und hier zur Schule ge- und zum Spargelstechen holen müssen. hen. (Joachim Poß [SPD]: Der Skandal ist, dass Leute wie Sie im Bundestag sind!) (Beifall bei der CDU/CSU) Trotz großspuriger Ankündigungen des Bundeskanz- Aus diesem Grunde lehnen wir bei Kindern ein Nach- lers war diese Regierung nicht in der Lage, die arbeits- zugsalter von über zehn Jahren ab. fähigen Arbeitslosen vor die Wahl zu stellen, entweder Man kann über Zuwanderung nicht reden, ohne den zumutbare Arbeit anzunehmen oder Kürzungen der Ar- heimischen Arbeitsmarkt analysiert zu haben. Zuwan- beitslosenhilfe hinzunehmen. derung kann den Arbeitsmarkt durchaus bereichern, aber Senken Sie, meine Damen und Herren, endlich die auch eine große Belastung darstellen. Ein paar Tausend Zahl der Arbeitslosen! Erst danach können wir uns darü- exotische Zuwanderungsfälle von Computerfachleuten ber verständigen, ob und wie viel Zuwanderung wir in oder indischen Spezialitätenköchen sind doch niemals der Deutschland brauchen. (B) Kern eines solchen Zuwanderungsgesetzes. Das ist und (D) bleibt ein Randthema. Dieses Zuwanderungsgesetz, über (Beifall bei der CDU/CSU) das wir heute diskutieren, muss Massenzuwanderung in den deutschen Arbeitsmarkt begrenzen. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Zu einer (Dr. Michael Bürsch [SPD]: Tut es doch!) Kurzintervention erteile ich das Wort dem Kollegen Sebastian Edathy von der SPD-Fraktion. Dieses Gesetz muss die Zuwanderung in die sozialen Si- cherungssysteme verhindern. Dies tut dieses Gesetz eben Sebastian Edathy (SPD): Herr Kollege Uhl, die Zeit, gerade nicht, Herr Kollege. die für eine Kurzintervention zur Verfügung steht, reicht (Beifall bei der CDU/CSU) sicherlich nicht aus, um all den demagogischen Äußerun- gen entgegenzutreten, die Sie hier vorgebracht haben. Ich Zu den bald 4 Millionen ausgewiesenen Arbeitslosen will hier aber einen Aspekt aufgreifen, der für die Öffent- müssen wir noch die verdeckte Arbeitslosigkeit und die lichkeit interessant sein wird, insbesondere vor dem Hin- stillen Reserven hinzuzählen. So kommen wir heute tergrund der Tatsache, dass sowohl Sie als auch der Kol- schon auf fast 7 Millionen Arbeitslose in Deutschland. lege Marschewski dem Innenausschuss des Deutschen Hier in Berlin sind 42 Prozent der Türken im arbeitsfähi- Bundestages angehören und dass auch der Kollege gen Alter arbeitslos. In München ist bereits jeder zweite Bosbach zumindest bis zu seiner Wahl als stellvertreten- Sozialhilfeempfänger ein Ausländer. Wer bei diesen Zah- der Vorsitzender Ihrer Fraktion dem Innenausschuss an- len weitere Arbeitskräfte massenhaft ins Land holen will, gehört hat. schadet Deutschland. (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Drei sehr (Rüdiger Veit [SPD]: Das macht doch keiner! gute Leute!) Erzählen Sie nicht so einen Unsinn! – Ludwig Stiegler [SPD]: Das ist eine Unverschämtheit, Angesichts Ihrer strikten, fast grundsätzlich gegen Zu- was Sie hier erzählen!) wanderung gerichteten Äußerungen frage ich mich, wie es zu erklären ist, dass die CDU/CSU im Innenausschuss Die Arbeitsmarktprobleme in Deutschland müssen des Bundestages 1999 einen Antrag eingebracht hat, aus gelöst werden. Stattdessen ergreift die Bundesregierung dem ich Ihnen gleich einen Satz zitieren möchte. die Flucht in eine Zuwanderungspolitik nach Gutsherren- Dabei möchte ich es bewenden lassen, weil dieser Satz art. beispielhaft deutlich macht, dass Sie wider besseres Wis- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) sen darauf setzen, Vorbehalte, die es in der Bevölkerung Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20535

Sebastian Edathy (A) gibt, zu missbrauchen. Ich glaube durchaus, dass man Es gibt nur zwei Möglichkeiten, wenn wir dieses Pro- (C) Vorbehalte ernst nehmen muss. Man darf sie aber nicht blem, das natürlich ein großes Problem ist, lösen wollen: missbrauchen. Der Satz aber, den ich zitieren möchte, Wir müssen entweder mehr Kapital für die Altersversor- macht deutlich, dass Sie das tun. gung einsetzen oder wir sorgen für mehr Kinder, um die Altersversorgung zu sichern. Die CDU/CSU hat im Innenausschuss des Deutschen Bundestages 1999 einen Antrag gestellt. Dort heißt es (Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/ wörtlich: DIE GRÜNEN]: Auch Männer müssen Kinder kriegen!) Die demographische Überalterung unserer Gesell- schaft erfordert eine Zuwanderung jüngerer Men- Das heißt, wir müssen das Thema familienpolitisch und schen. nicht durch massenhafte Zuwanderung nach Deutschland Ich weiß nicht, wie das mit dem, was Sie hier gesagt lösen. haben, zusammenpasst. Es passt eben nicht zusammen. (Beifall bei der CDU/CSU – Marieluise Beck (Ludwig Stiegler [SPD]: Kakophonie!) [Bremen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Je- der Mann sollte zwei Kinder kriegen!) Ich bedaure, dass Sie die Gelegenheit, eine sachliche Aus- sprache über einen vernünftigen Gesetzentwurf zu führen, nicht genutzt haben, sondern ganz im Gegenteil künstli- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich che Fronten aufgebaut haben, von denen ich persönlich schließe die Aussprache. geglaubt habe, sie seien in den Sommermonaten längst Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen überwunden worden. auf den Drucksachen 14/7387, 14/7465, 14/6641 und Ich kann nur an alle Kolleginnen und Kollegen in die- 14/7810 an die in der Tagesordnung aufgeführten sem Haus appellieren, die Regelung von Zuwanderung so Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstan- wichtig zu nehmen, wie es dieser Frage gebührt, sie nicht den? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so der Parteitaktik anheim fallen zu lassen, sondern sie sach- beschlossen. lich und nüchtern zu behandeln. Der Gesetzentwurf des Bundesinnenministers bzw. der Koalition ist dafür eine Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a bis 6 d sowie Zu- gute Grundlage. satzpunkt 4 auf: (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ 6. a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainer DIE GRÜNEN) Brüderle, Gudrun Kopp, Ina Albowitz, weiterer (B) Abgeordneter und der Fraktion der FDP (D) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Zur Erwi- Konsumenten- und Investorenvertrauen stär- derung hat Herr Uhl das Wort. ken – Wachstumskrise mit strukturellen Refor- men überwinden Dr. Hans-Peter Uhl (CDU/CSU): Herr Kollege – Drucksache 14/7454 – Edathy, es ist schön, dass Sie das Thema demographi- Überweisungsvorschlag: sche Entwicklung in Deutschland im Zusammenhang Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) mit der Zuwanderung ansprechen. Dieser Themenkom- Finanzausschuss plex hat alle Kommissionen nachhaltig beschäftigt. Und Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit es ist uns allen zusammen kalt den Rücken herunterge- laufen, als klar wurde, welche Zuwanderungszahlen man b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- bräuchte, um diese demographische Entwicklung zu stop- richts des Ausschusses für Wirtschaft und Techno- pen oder ihr gar gegenzusteuern. logie (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeord- (Joachim Poß [SPD]: Wenn man Sie hört, läuft neten Rainer Brüderle, Dr. Irmgard Schwaetzer, es einem kalt den Rücken herunter!) Dr. Hermann Otto Solms, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Es war davon die Rede, dass 3 Millionen Menschen pro Jahr zu uns kommen müssten, um das Verhältnis von ar- Neue Wachstumschancen mit durchgreifenden beitenden zu nicht arbeitenden Menschen in ein vernünf- wirtschaftspolitischen Reformen schaffen – tiges Verhältnis in der Bevölkerungspyramide zu bringen. Blitzprogramm für die deutsche Wirtschaft Als Sie diese Zahlen gehört haben, waren selbst Sie er- – Drucksachen 14/6446, 14/7214 – schrocken. Jetzt sagen Sie: Wir wollen natürlich keine Zu- Berichterstattung: wanderung, um die demographische Entwicklung zu kor- Abgeordneter Dr. Ditmar Staffelt rigieren. Das kann allenfalls als Randerscheinung behilflich sein. Aber auch Sie haben das Ziel nicht mehr c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- im Auge – das sagen selbst Sie. Vergessen wir also das richts des Ausschusses für Wirtschaft und Techno- Thema, die demographische Überalterung durch Zuwan- logie (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeord- derung stoppen zu wollen. neten Peter Rauen, Dr. Angela Merkel, Friedrich (Erika Lotz [SPD]: Was ist denn mit eurem Merz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der Antrag?) CDU/CSU 20536 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Zehnpunkteprogramm zur Wiederbelebung worden. Rot-Grün will die Legislaturperiode mit ei- (C) der deutschen Wirtschaft und des Arbeits- ner kohlschen Arbeitslosenzahl beschließen... marktes Weiter heißt es dort: – Drucksachen 14/6436, 14/7213 – ... der normale Wähler empfindet die „größte Steuer- Berichterstattung: reform der Geschichte“ keineswegs als eine Minde- Abgeordneter Gunnar Uldall rung der hohen Abgabenlast. d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- So weit der Kommentar der „Süddeutschen Zeitung“. richts des Ausschusses für Wirtschaft und Techno- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten logie (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeord- der CDU/CSU) neten Gunnar Uldall, Matthias Wissmann, Wolfgang Börnsen (Bönstrup), weiterer Abgeord- Die Überschrift lautet: „Der Kanzler überdehnt sich“. neter und der Fraktion der CDU/CSU Das ist richtig; denn er ist zwar außenpolitisch erfolg- Konjunkturabschwung stoppen – Wachstums- reich, aber in der Wirtschaftspolitik geschieht nichts. Die kräfte stärken deutsche Wirtschaftspolitik braucht – ich sage es mit ei- nem Schlagwort – mehr Reagan und weniger Brüning. – Drucksachen 14/6161, 14/7215 – Berichterstattung: Angesichts des dramatischen Wachstumseinbruchs in Abgeordneter Rolf Hempelmann Deutschland ist es grundverkehrt, Herr Eichel, einen buchhalterischen Zahlenausgleich zu betreiben. Wir brau- ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Ditmar chen eine mutige Steuersenkung, Deregulierung und Staffelt, Dr. Axel Berg, Rolf Hempelmann, weite- Strukturreformen. rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der Abgeordneten Werner Schulz (Leipzig), der CDU/CSU) Andrea Fischer (Berlin), Michaele Hustedt, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNIS- Das Konjunkturbarometer steht auf Sturm. Die Rezession SES 90/ DIE GRÜNEN steht vor der Tür. Im dritten Quartal ist das deutsche Wirt- schaftswachstum geschrumpft. Das Gleiche droht im lau- Für eine stetige, verlässliche und beschäfti- fenden Quartal. gungsfördernde Wachstumspolitik – kein kon- junkturpolitischer Aktionismus Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung spricht – Drucksache 14/7808 – von 4,4 Millionen Arbeitslosen in diesem Winter. In die- (B) ser Situation fordert die IG Metall bis zu 7 Prozent höhere (D) Überweisungsvorschlag: Löhne. Das ist geradezu ein Schlag ins Gesicht derjeni- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Rechtsausschuss gen, die einen Arbeitsplatz wollen oder Angst um ihren Finanzausschuss Arbeitsplatz haben. Ich frage mich manchmal, auf wel- Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung chen Wegen sich die Spitzenfunktionäre der Gewerk- Ausschuss für Gesundheit schaften bewegen. Manche distanzieren sich davon; Herr Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Schmoldt von der IG Chemie hat dies postwendend getan. Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder Vielleicht spielt aber auch das Machtgerangel in der Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen- IG Metall eine Rolle. abschätzung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Statt etwas zu tun, mauert Grün-Rot. Untätigkeit ver- Haushaltsausschuss steckt sich hinter dem europäischen Stabilitätspakt. Die Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Regierung kann nichts dafür, dass sich die Weltkonjunk- Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. Sind Sie da- tur verschlechtert hat. Aber sie kann etwas dafür, dass uns mit einverstanden? – Ich höre keinen Widerspruch. Dann dies so hart trifft, ist so beschlossen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner für die dass die Weltkonjunktur so stark auf unsere Wirtschaft antragstellende FDP-Fraktion hat der Kollege Rainer einwirkt. Sie haben es nämlich versäumt, bei guter Welt- Brüderle das Wort. konjunktur den Haushalt von der Ausgabenseite her zu (Friedrich Merz [CDU/CSU]: Jetzt kommt das konsolidieren, und daher müssen Sie jetzt die Investiti- Blitzprogramm!) onsquote in den Keller fahren und die Steuern erhöhen. Sie hatten nicht einmal einen kleinen Haushaltspuffer für das Sicherheitspaket, sondern mussten auch dafür die Rainer Brüderle (FDP) (von der FDP mit Beifall be- Steuern erhöhen. So viel zum Buchhalternimbus. grüßt): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich zi- tiere aus dem Leitartikel der „Süddeutschen Zeitung“ von (Ludwig Stiegler [SPD]: Denken Sie an die gestern, einer Zeitung, die Grün-Rot wahrlich sehr wohl- Schuldenlast, die Sie uns hinterlassen haben! gesonnen ist. Da steht: 1 500 Milliarden DM!) In der Innenpolitik ... herrscht Stillstand, ja Rück- Wenn wir jetzt nicht schnell auf den Wachstumspfad schritt. Die prekäre Lage ist hinreichend beschrieben zurückkehren, wird die Neuverschuldung weiterhin er- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20537

Rainer Brüderle (A) heblich ansteigen. Sie schaffen eine Konsolidierung des nahmen besser sichern, als wenn Sie die Steuern erhöhen. (C) Haushalts nicht, indem Sie Steuern erhöhen oder die Auf diese Weise können Sie nicht mehr Wachstum errei- Ausgaben zurückführen, sondern nur, indem Sie den Mut chen und mehr Arbeitsplätze schaffen. haben, Steuerentlastungsschritte vorzuziehen, und eine (Beifall bei der FDP) aktive Politik betreiben, die die Wirtschaft in Schwung bringt. Auf diese Weise wird ein Schuh für Konsolidie- Mit Ihrem Weg, Steuern zu erhöhen, konsolidieren Sie die rung daraus. Krise, aber nicht den Haushalt. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Ich frage Sie: Warum versuchen Sie nicht, mit Ab- Wenn wir in die Rezession abgleiten, wird – wie nach schlagszahlungen auf Steuersenkungen in Form von jeder Rezession – die Sockelarbeitslosigkeit weiter an- Steuerschecks die Wirtschaft zu stabilisieren? Immer steigen. Das muss verhindert werden. Deshalb muss der wenn ich Ihnen diesen Vorschlag unterbreite – ich habe Passivität von Grün-Rot ein Wachstumspaket gegenüber- das wiederholt getan –, weisen Sie gleich darauf hin: Die gestellt werden. Wir müssen schnell handeln. Deshalb ha- Amerikaner haben das Ende August/Anfang September ben wir ein Blitzprogramm vorgeschlagen. so gemacht. Aber das hat nur zu einer Erhöhung der Spar- quote geführt. Das funktioniert also nicht. – Herr Eichel, (Joachim Poß [SPD]: Das Blitzprogramm der Sie müssen doch bedenken, dass am 11. September etwas FDP! – Dr. Ditmar Staffelt [SPD]: Der Blitzer Entscheidendes geschehen ist. Deshalb wirkten die vor geht rum!) dem 11. September getroffenen Maßnahmen anders. – Sie sollten besser etwas tun. Außerdem tut es der US-amerikanischen Volkswirtschaft ganz gut, wenn die Sparquote wenigstens bei 4 Prozent Herr Staffelt, da Sie mir vielleicht nicht glauben – ich liegt; denn vorher war die Sparquote negativ. Frankreich würde das bedauern, weil ich Sie persönlich mag –, versucht, in bescheidenem Umfang ähnliche Maßnahmen möchte ich den Präsidenten des Ifo-Instituts, Herrn Pro- umzusetzen. fessor Sinn, zitieren. Ich kann nur sagen: Der psychologische Effekt von (Zurufe von der SPD) Steuerschecks wäre toll. Man muss sich das einmal vor- – Dass Sie schreien, verstehe ich, aber es hilft Ihnen nicht, stellen. Die Bürger bekämen einen Brief von Hans Eichel, vor allen Dingen hilft es den Arbeitslosen nicht. etwa mit folgendem Wortlaut: Ich bedanke mich bei Ih- nen, dass Sie Steuern zahlen und dass wir mit Ihren Steu- (Dr. Ditmar Staffelt [SPD]: Es wäre schlecht, ern unser Gemeinwesen finanzieren können. Wir meinen wenn wir schreien würden! Wir lachen nur!) es mit der Entlastung der Bürger ernst. Wir wollen die (B) – Herr Staffelt, Ihr Nachbar schreit. Beruhigen Sie Ihn überhöhten Steuern und Abgaben herunterfahren. Damit (D) einmal ein bisschen! Zuhören schafft mehr Erkenntnis. Sie spüren, dass wir es ernst meinen, schicken wir Ihnen Professor Sinn vom Ifo-Institut hat in einem „Spiegel“- eine Vorauszahlung als Abschlagszahlung in Höhe von Interview gesagt: Wann ist die Zeit zum Handeln, wenn 1 000 DM. – Das wäre ein neues Erlebnis für die deut- nicht jetzt. – Da hat er Recht. schen Bürger. Da Wirtschaftspolitik viel mit Psychologie zu tun hat, wäre so etwas eine große Chance, die Kon- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten junktur zu beleben. der CDU/CSU) Ich sage Ihnen: Die Finanzierung solcher Abschlags- Grün-Rot kann auch nicht auf die äußeren Umstände zahlungen ist machbar. Sie müssen nur ein Sparpaket II verweisen – am Ende sind wieder die Amerikaner beschließen. Sie haben ja auch im Rahmen Ihrer ersten schuld –, um zu entschuldigen, dass sie nichts tun. Es lässt Steuerreform das Sparpaket I mit einem Volumen von sich doch klar belegen: Der Ölpreis ist sehr niedrig, die 30 Milliarden DM beschlossen. Damals haben Sie gesagt: Zinsen sind auf einem Tiefstand. Länder wie Holland, die Alle Ressorts müssen 7,4 Prozent einsparen. Sie haben einen doppelt so hohen Exportanteil wie Deutschland ha- also damals keine Liste, in der die einzelnen Sparmaß- ben, haben ein um 1 Prozent höheres Wirtschaftswachs- nahmen aufgeführt sind, vorgelegt, sondern einfach die tum als Deutschland. Großbritannien, mit ähnlicher Ex- Vorgabe gemacht: Spart ein! Ich fordere Sie auf: Sie müs- portstruktur wie Deutschland, hat vom zweiten auf das sen im Zusammenhang mit der nächsten Steuerreform, dritte Quartal hinsichtlich des Wachstums wieder zuge- die jetzt vorgezogen werden soll, ein Sparpaket II vorle- legt. Wir müssen die Fakten nüchtern zur Kenntnis neh- gen, mit dem Sie die Ausgaben zurückführen. men. Es hilft kein Gesundbeten oder Gesundreden. Es darf keine Konjunkturlegende gebildet werden. Die Fak- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) ten müssen auf den Tisch, man muss sie zur Kenntnis neh- Auch Sie sollten ein Stück weit – das haben andere men und seine Handlungen danach ausrichten. auch geschafft – auf den Selbstfinanzierungseffekt von Die Stunde der Wahrheit ist da. Wir plädieren für ein steuerlichen Entlastungen vertrauen. Wenn Menschen Vorziehen der Schritte der Steuerreform und für eine ra- wieder mehr Geld haben, dann können sie auch mehr aus- dikale Steuervereinfachung. Wir haben ein klares Steuer- geben. Wenn Betriebe feststellen, dass es aufwärts geht system vor Augen: 15, 25 und 35 Prozent. Herr Finanz- und dass sie entlastet werden, dann sind sie optimistisch, minister, Sie müssen einfach die Erkenntnis umsetzen: investieren und bringen die Wirtschaft voran. Die Verun- Weniger ist mehr. Wenn Sie den Menschen durch niedri- sicherungspolitik und das schlechte Klima, das durch das gere Steuersätze mehr Geld lassen, können Sie Ihre Ein- Hin und Her von Grün-Rot in Deutschland verursacht 20538 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001

Rainer Brüderle (A) wurde, gehören zu den Kernpunkten für die momentane großen Parolen durchs Land marschiert, an dieses Thema (C) Misere. heran. Man weiß genau: Wer im Osten an diese Situation (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Hand anlegt, verdoppelt die Arbeitslosigkeit dort. Konzeptionslos, kurzatmig, unsystematisch und wi- (Beifall bei der FDP – Dr. Heinrich L. Kolb dersprüchlich – so lässt sich Ihre Politik beschreiben. Bis- [FDP]: Bittere Wahrheit!) her gab es nur selektive Einzelmaßnahmen: Bei Holz- Das ist eine Notwehrreaktion der Beschäftigten und der mann hilft der Kanzler mit Steuerzahlergeld. Es gibt eine Betriebe dort, damit sie überhaupt noch eine Chance ha- Greencardflut: Immer dort, wo es ein Problem gibt, gibt ben. Man muss das Korsett öffnen, muss es ein Stück weit es eine neue Greencardregelung. Jetzt soll es auch eine den Betriebsräten, den Mitarbeitern und der Unterneh- Greencardregelung für Pflegekräfte geben. Rente gibt es mensleitung überlassen, Entscheidungen zu finden, muss nach Kassenlage. Es herrscht ordnungspolitische Belie- die Flächentarifverträge auf Rahmenbedingungen redu- bigkeit. Die Verlängerung des Briefmonopols zwingt zieren und Spielraum geben, damit die Betriebe dort eine deutsche Unternehmen, ihre Werbesendungen in das be- Chance haben, Arbeitsplätze zu erhalten und wieder neue nachbarte Ausland schaffen zu lassen, um sie zum Bei- Arbeitsplätze zu schaffen. spiel von Holland oder Dänemark nach Deutschland zu schicken, weil die Monopolpreise in Deutschland überzo- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten gen sind und sich nicht an den Marktgegebenheiten ori- der CDU/CSU) entieren. Das können sie nicht, wenn Sie sagen: Wir wollen Wachs- Weitere Stichwörter sind: Tariftreuegesetz, Subventi- tum und dann werden die Probleme auf dem Arbeits- onierung von Ökostrom und der Kraft-Wärme-Kopplung. markt gelöst. – Die Wahrheit ist anders. Wenn Sie auf Herr Müller nannte das in einer mutigen Stunde die „Pen- dem Arbeitsmarkt nichts tun, dann wird sich auch bei ver- nerprämie“. Es gibt immer neue Belastungen für Bürger änderter Wachstumssituation die Beschäftigung nicht er- und Wirtschaft: Ökosteuer, Dosenpfand, Bauabzugsteuer. höhen. Diese Belastungen schaffen ein hartes Klima, in dem die kleinen und mittleren Unternehmen kein Vertrauen haben Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Kol- und deswegen nicht investieren. Bedenken Sie: Der Hoff- lege Brüderle, kommen Sie bitte zum Schluss. nungsträger in Deutschland für mehr Arbeit ist doch der Mittelstand, sind die kleinen und mittleren Unternehmen! (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Das können Sie doch täglich in der Zeitung lesen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Rainer Brüderle (FDP): Ich bin beim letzten Satz, (B) Herr Präsident. – Sie müssen den Arbeitsmarkt liberali- (D) Es sind doch die großen Unternehmen, die 5 000, 10 000, 15 000 oder sogar 20 000 Arbeitsplätze abbauen. sieren und öffnen, weil Sie nur dann den Wachstumskräf- ten zum Durchbruch verhelfen. Das ist umso notwendi- Wenn Sie die Mitbestimmungsregelungen verschärfen, ger, als die Regierung auch bei den Lohnnebenkosten ihr die „Zwangsteilzeit“ einführen und die Möglichkeiten für Ziel völlig verfehlt hat. befristete Arbeitsverhältnisse beschränken, dann dürfen Sie sich nicht wundern, wenn ein Klima entsteht, das von Vielen Dank. Attentismus, Skepsis, Sorgen, ja sogar von Ängsten ge- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) prägt ist. In einem solchen Klima können keine neuen Arbeitsplätze geschaffen werden. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Für die Die strukturellen Probleme des Arbeitsmarktes ha- Bundesregierung spricht jetzt der Bundesminister Hans ben Sie nicht angepackt. Im Gegenteil: Sie haben sie noch Eichel. verschärft. Es muss wieder ein Stück weit mehr Markt- charakter in den Arbeitsmarkt hineingebracht werden. Sie (Zurufe von der CDU/CSU: Ist das der neue können von der Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt im Wirtschaftsminister? – Wo bleibt Werner Osten Deutschlands lernen, wie es gemacht werden muss. Müller? – Wo bleibt Müller?) Vom Arbeitsmarkt in Ostdeutschland zu lernen heißt schlauer zu werden; denn dort fallen 70 Prozent der Ar- Hans Eichel, Bundesminister der Finanzen: Herr beitsverhältnisse nicht unter das geltende Tarifvertrags- Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! So- recht, weil es nicht anders geht. lange die Konjunktur schlecht läuft – sie läuft zurzeit (Dr. Ditmar Staffelt [SPD]: Deshalb haben wir schlecht –, werden wir solche Debatten haben, weil Sie im Osten auch so wenige Arbeitslose!) den Versuch unternehmen werden, daraus für sich – das ist aus Ihrer Sicht verständlich – politisches Kapital zu – Herr Dr. Staffelt, anderenfalls gäbe es in Ostdeutschland schlagen. Sie täuschen sich aber. Sehr geehrter Herr noch mehr Arbeitslose. Natürlich ist es rechtswidrig, Brüderle, das fängt bereits bei Ihrer Überschrift „Mehr wenn – das ist in Ostdeutschland häufig der Fall – Tarif- Reagan“ – das habe ich mit Vergnügen gelesen – „und verträge nicht eingehalten werden. Die Gewerkschaften weniger Brüning“ an. Sie haben nicht begriffen, was wir wissen das genau. Sie können morgen früh klagen; denn machen, das ist klar rechtswidrig. Aus guten Gründen geht keine Gewerkschaft und auch sonst niemand, der am 1. Mai mit (Rainer Brüderle [FDP]: Leider doch!) 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Bundesminister Hans Eichel (A) und offensichtlich wissen Sie auch gar nicht, was Reagan Meine Damen und Herren, wir wollten beim Arbeits- (C) gemacht hat. markt weiter sein. Dass die Zahl der Arbeitslosen in die- sem Jahr über 4 Millionen liegen wird – das habe ich hier (Ludwig Stiegler [SPD]: Und den Brüning gesagt –, macht uns in der Tat sehr viel Kopfzerbrechen. kennt er auch nicht!) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das hat Das einzig Positive, das von Reagan bleiben wird, ist Gründe!) das Star-Wars-Programm, das politisch ein paar Probleme hat, mit dem aber in der Tat den neuen Technologien in Die Frage ist nur, inwieweit es Ihnen zusteht, sich als Kri- den Vereinigten Staaten zum Durchbruch verholfen wor- tiker aufzuspielen, wenn man bedenkt, was wir von Ihnen den ist, und zwar zu einer Zeit, zu der Sie in der Regie- im Winter 1998 übernommen haben. rung waren und das nicht gemacht haben. (Ludwig Stiegler [SPD]: Nur Schulden! – Widerspruch bei der CDU/CSU) (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist doch Unfug!) – Ja, das wollen Sie nicht hören! – Wir werden aus dieser Konjunkturkrise mit weniger Arbeitslosen herauskom- Ansonsten stehen Reagan und Bush für eine weitaus men, als das bei Ihnen je der Fall gewesen ist. höhere Staatsverschuldung, (Friedrich Merz [CDU/CSU]: Das glauben Sie (Rainer Brüderle [FDP]: Steuersenkung!) doch ganz allein! Das glaubt außer Ihnen doch also für das genaue Gegenteil von dem, was Sie gesagt keiner mehr in diesem Land!) haben. Bei Ihnen waren es 4,8 Millionen Arbeitslose, also knapp (Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Das ist un- unter 5 Millionen. Wir werden aus dieser Konjunkturkrise glaublich! – Weitere Zurufe von der CDU/CSU: in jedem Fall mit 500 000 bis 600 000 weniger Arbeits- Unglaublich!) losen herauskommen, als wir von Ihnen übernommen ha- ben, meine Damen und Herren. Das ist die schlichte Wirk- Anfang der 90er-Jahre gab es als Ergebnis der lichkeit! Reagan/Bush-Ära 15 Prozent mehr Staatsschulden und (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ein Defizit von mehr als 4 Prozent. Erst Bill Clinton hat DIE GRÜNEN – Ernst Hinsken [CDU/CSU]: mit einer Politik der Ausgabenbegrenzung und der Steu- Sie lügen sich doch in die eigene Tasche! Das ererhöhung – sowohl die Körperschaftsteuer als auch die glauben Sie, Herr Eichel, doch alles selber Einkommensteuer wurden erhöht – gemeinsam mit Alan nicht! – Ludwig Stiegler [SPD]: Scheinheilige Greenspan den turn-around in den Vereinigten Staaten ge- Brüder, Staatsbankrotteure sind das!) (B) schafft. Das ist die Wahrheit. Sie haben es überhaupt nicht (D) begriffen. Sie wissen noch nicht einmal, wovon Sie reden. Sie werden die 1 Million zusätzlichen Arbeitsplätze, die in den letzten zwei Jahren entstanden sind – übrigens (Beifall bei der SPD – Rainer Brüderle [FDP]: sind noch im dritten Quartal 20 000 zusätzliche Arbeits- Pflegen Sie Ihre antiamerikanische Haltung!) plätze entstanden –, nicht wegdiskutieren können. Zwar Wir machen eine andere Politik. Wir betreiben Konso- wird die Zahl der neu geschaffenen Arbeitsplätze ein biss- chen abflachen; aber der Kern dessen, was wir erreicht ha- lidierung mit Steuersenkung. Verehrter Herr Brüderle, an ben, wird bleiben. dieser Ecke fängt es nun in der Tat an, bei Ihnen völlig un- mäßig zu werden. Es ist nicht so, dass wir nicht alles daransetzen, um vor- anzukommen. Damit komme ich auf die These zu spre- (Zuruf von der FDP: Das kann man bei Ihnen chen, die Sie, lieber Herr Brüderle, in Bezug auf Brüning nicht behaupten!) aufgestellt haben. Was Sie gesagt haben, ist völlig falsch. Am Dienstag hat der Vermittlungsausschuss getagt, in Sie sind offenbar nicht einmal in der Lage, den Haushalt dem wiederum Steuergesetze auf der Tagesordnung stan- zu lesen: Der Haushalt des Jahres 2002 – wir haben ihn den, und da können wir für Ihre Partei gleich den Wahr- hier diskutiert und verabschiedet – enthält Steuerentlas- heitstest machen. Dort hat es mit Ausnahme von Herrn tungen für Bund, Länder und Kommunen in der Größen- Thiele, aber unter Beteiligung all der Landesregierungen, ordnung von insgesamt 19 Milliarden DM; das sind in denen Sie den Wirtschaftsminister stellen, ein einver- 0,45 Prozent vom Bruttoinlandsprodukt. Kein Land in Europa hat für das Jahr 2002 eine solche Steuerentlastung nehmliches Ergebnis gegeben. Dort hat keine Landes- wie wir durchgeführt. Ich erinnere an das Kindergeld, regierung die Auffassung vertreten, dass irgendeine zu- sätzliche Steuersenkung möglich ist. Alle haben darauf (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Reden Sie bestanden, dass aber auch jede Mark, um die die Steuern einmal von Steuererhöhungen!) noch gesenkt werden, irgendwie gegenfinanziert wird. an die Folgewirkungen der Steuerreform, die im Jahre Das ist Ihre politische Praxis dort, wo Sie selbst in der Re- 2002 eintreten, und an die Entlastungen, die erst am gierung sitzen, wie das in Mainz, in Wiesbaden und in Dienstag im Vermittlungsausschuss von Bundesrat und Stuttgart der Fall ist. Deswegen ist alles, was Sie hier er- Bundestag verabschiedet worden sind. zählen, so unglaubwürdig. Anders als Sie behaupten, enthält dieser Haushalt ein (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ hohes Maß an Investitionen. Der Umfang der Inves- DIE GRÜNEN) titionen ist höher als der des Jahres 1998. Die einzige 20540 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001

Bundesminister Hans Eichel (A) Umbuchung besteht darin, dass wir aus den Inves- der in Europa gemacht haben. Ich freue mich nicht da- (C) titionsfördermitteln für die ostdeutschen Länder Sonder- rüber, dass das Defizit in diesem Jahr 2,5 Prozent betra- bundesergänzungszuweisungen gemacht haben. Das ge- gen wird. Allerdings werden wir im nächsten Jahr nicht schah nur deswegen, weil die ostdeutschen Länder über die von der Kommission geschätzten 2,7 Prozent errei- diese Mittel allein verfügen wollten. Sehr verehrter Herr chen; das Defizit wird deutlich geringer sein. Brüderle, das müsste eigentlich liberalem Denken ent- sprechen; denn dadurch wird die Eigenverantwortung ge- (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Wir sind das stärkt und es werden mehr Chancen für die weiter wirt- Schlusslicht, Herr Eichel, auf allen Ebenen! – schaftliche Entwicklung geschaffen. Gegenruf des Abg. Dr. Ditmar Staffelt [SPD]: Erzählen Sie doch keinen Unsinn!) (Ludwig Stiegler [SPD]: Das ist der PISA- Effekt! Der kann nicht lesen!) – Wenn wir unsere Politik nach Ihren Vorstellungen aus- richteten, dann hätten wir den Stabilitätspakt in Europa, Dieser Haushalt – übrigens, Sie haben diesen Bereich für den unter anderem auch unser Land gesorgt hat, ge- kaputtgespart – sorgt für mehr Investitionen in die Bildung. brochen! Wenn Sie mit der Konsolidierung ein paar Jahre früher angefangen hätten, dann wäre die Situation besser. (Widerspruch bei der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ – Doch, selbstverständlich! Schauen Sie sich einmal an, DIE GRÜNEN – Ludwig Stiegler [SPD]: So ist was Sie mit dem BAföG in Ihrer Regierungszeit gemacht es! Schuldenbeutel!) haben. Erst durch die von uns eingeleitete Konsolidierung sind (Beifall bei Abgeordneten der SPD) wir in der Lage, die Maastricht-Kriterien einzuhalten. In der vorigen Debatte wurde in einem Zwischenruf Verehrter Herr Brüderle – eigentlich würde ich Ihnen danach gefragt, was in der Familienpolitik alles fehlt. Wer gerne Adam Smith vorhalten –, sagen Sie den Menschen hat denn die Familienpolitik wieder vorangebracht? doch, dass die Haushaltskonsolidierung und die deutsche (Lachen bei der CDU/CSU) Einheit nicht durch Steuerschecks vom Finanzamt finan- ziert werden, sondern durch harte Arbeit von uns allen. – Haben Sie sich das Urteil des Bundesverfassungsge- Was für eine unsinnige Politik wollen Sie? richts eingehandelt, nach dem Ihre Familienpolitik die Fa- milien verfassungswidrig besteuert hat, oder wir? (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Ludwig Stiegler [SPD]: So ist es! Schöne Reden halten und verfassungswidrig Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Kol- (B) handeln!) lege Eichel, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kolle- (D) gen Matthias Wissmann? Dieser Haushalt enthält zusätzliche Mittel für Inves- titionen in Höhe von 4 Milliarden DM. Hinzu kommt noch das Städtebauprogramm im Rahmen des Aufbaus Hans Eichel, Bundesminister der Finanzen: Ja, sicher Ost. Aber ich möchte etwas zur Politik in Ihrer Regie- erlaube ich eine Zwischenfrage von Matthias Wissmann. rungszeit sagen. Wir leiden noch heute unter den 1,5 Bil- lionen DM Schulden, die wir von Ihnen übernommen ha- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Bitte ben. 300 Milliarden DM davon stammen aus der Zeit der schön, Herr Wissmann. sozial-liberalen Koalition, die fast bis zum Ende 1982 re- giert hat; 300 Milliarden DM stammen aus der Zeit von Ende 1982 bis zur Herstellung der deutschen Einheit und Matthias Wissmann (CDU/CSU): Herr Bundes- 900 Milliarden DM stammen aus der Zeit danach. Das finanzminister, ist Ihnen eigentlich aufgefallen, dass wir heißt, dass während Ihrer Regierungszeit Schulden in uns in einer Debatte über Konjunktur, Arbeitsmarkt und Höhe von 1,2 Billionen DM gemacht worden sind. wirtschaftspolitische Konzeptionen befinden und dass Sie bis jetzt eine ausschließlich finanzpolitische Rede gehal- Ihr einziger Vorschlag für ein Konjunkturprogramm ist ten haben? Könnte dies nicht auch ein Hinweis darauf jetzt, wie Sie in Ihrer Vorlage formulieren, die vorhande- sein, dass es eine wirtschaftspolitische Strategie dieser nen Schulden um neue Schulden in Höhe von 52 Milli- Regierung – der Wirtschaftsminister redet ja gar nicht – arden DM zu vergrößern; (Susanne Kastner [SPD]: Der redet noch!) (Ludwig Stiegler [SPD]: Die leben mit Pump und Schwarzgeld! Das ist die Schwarzgeldfrak- überhaupt nicht gibt? tion!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) schließlich mache das gar keinen Unterschied. Mit dieser Politik sind Sie in der Tat weder europafähig noch zu- Hans Eichel, Bundesminister der Finanzen: Verehrter kunftsfähig. Herr Wissmann, darf ich Sie darauf hinweisen, dass meine (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Rede noch gar nicht zu Ende ist? DIE GRÜNEN) (Hans Georg Wagner [SPD]: Das hat der noch Den Konsolidierungskurs – da liegt das Problem – hät- gar nicht gemerkt! – Ludwig Stiegler [SPD]: ten Sie längst einleiten müssen, wie es die anderen Län- Dem entgeht so vieles!) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20541

Bundesminister Hans Eichel (A) Das scheint Ihnen entgangen zu sein. Mir ist der Grund Dazu gehört selbstverständlich auch die Rentenreform. (C) Ihrer Intervention zu diesem Zeitpunkt unklar. Das erste Mal in einer Wahlperiode sinken die Lohn- nebenkosten, wenn auch nicht so weit, wie wir es wollten. Jetzt möchte ich Ihnen den genauen Unterschied nennen: Unsere wirtschaftspolitische Konzeption, Herr (Friedrich Merz [CDU/CSU]: Was Sie da reden, Wissmann, besteht darin, ein langfristiges Konzept zu er- ist doch unfassbarer Stuss! – Weitere Zurufe stellen und nicht in den kurzfristigen Aktionismus und die von der CDU/CSU) Windmacherei von Herrn Brüderle zu verfallen. – Hören Sie mal, Sie haben sie doch nur gesteigert. Sind (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten nun 41,2 Prozent weniger als 42,3 Prozent oder nicht? Das des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) ist das kleine Einmaleins, Herr Merz. Vielmehr folgen wir einem konsequenten Konsolidie- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Friedrich Merz [CDU/CSU]: rungskurs, den Sie übrigens selber auch einmal vertre- Dafür erhöhen Sie die Steuern! – Dr. Heinrich ten, aber nie durchgehalten haben. L. Kolb [FDP]: Nicht die Ökosteuer vergessen, (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Bloß ab- Herr Eichel!) wärts!) Dies ist natürlich längst noch nicht alles. Da ist zum Das machen wir nun konsequent Jahr für Jahr. Beispiel unsere Rentenreform. Davon kann sich das ganze übrige Kontinentaleuropa – jedenfalls die großen Wenn Sie heute Zeitung gelesen haben, wissen Sie, Länder – ein Stück abschneiden, was Sie übrigens auch dass Präsident Duisenberg gesagt hat: Dass der Konsoli- dem neuen Bericht der EU-Kommission entnehmen kön- dierungskurs durchgehalten wird, ist die Voraussetzung nen. Deutschland hat als einziges Land mit dem zusätz- dafür, dass die Geldpolitik in der Europäischen Union lichen Element der kapitalgedeckten Zusatzeigenvor- ihren wachstumsfördernden Beitrag leisten kann. Genau sorge genau den richtigen Reformweg beschritten. Diesen das verspielen Sie mit Ihrer Art von Aktionismus. Reformweg haben andere noch vor sich und er war auch nicht ganz einfach durchzusetzen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Was den Arbeitsmarkt betrifft, werden wir mit dem Job-Aqtiv-Gesetz und einer großen Vermittlungsinitiative Im Übrigen ist Ihnen offenkundig entgangen, dass un- zusätzliche Chancen schaffen. ser wirtschaftspolitischer Kurs vom Sachverständigenrat genau so für richtig gehalten wird. Er teilt unsere Auffas- (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Kein Mensch (B) sung nicht in allen Punkten, aber er teilt erstens die wirt- glaubt das!) (D) schaftspolitische Grundlinie und befürwortet zweitens, Wenn es so ist, wie die Wirtschaft behauptet, nämlich dass dass wir eine Steuer- und Abgabensenkung vorgenommen es viel mehr freie Stellen gibt, als sie gemeldet hat, müs- haben, eine Steuer- und Abgabensenkung, die Sie nie hin- sen wir dafür sorgen, dass diese gemeldet werden, damit bekommen haben. Diese ist aber das Äußerste dessen, was die Menschen über die Vermittlungsinitiativen zu den möglich ist; das ist kein kurzfristiger Aktionismus: Steuer- Stellen kommen. senkungen über den Zeitraum von zwei Wahlperioden ste- (Friedrich Merz [CDU/CSU]: Bürokratie, Büro- hen bereits im Gesetz. Herr Brüderle, eine solche Langfris- kratie, Bürokratie! Das ist Ihre Antwort!) tigkeit und ein solches Durchhaltevermögen haben Sie bei Ihrem Aktionismus niemals zustande gebracht. Fordern, fördern, mehr qualifizieren – das wollen wir. Was steht eigentlich in Ihrem Antrag im Zusammenhang mit (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ dem Arbeitsmarkt? – Kündigungsschutz weg, ABM runter. DIE GRÜNEN – Rainer Brüderle [FDP]: Man kann Gesetze ändern!) (Ludwig Stiegler [SPD]: Nur auf Kosten der Ar- beitnehmer! – Friedrich Merz [CDU/CSU]: Ein weiterer Punkt ist, dass wir – das ist eine Verbes- Quatsch! Das wissen Sie ganz genau!) serung der Staatstätigkeit und der Budgettätigkeit – Zins- – Kündigungsschutz ordentlich lockern, den Arbeitneh- ausgaben in Ausgaben umwandeln, die für Zukunfts- mern ordentlich Druck machen. investitionen wichtig sind. So haben wir für den Aufbau Ost mit dem Solidarpakt II Sicherheit für den Zeitraum (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Ach Gott, ach von 20 Jahren geschaffen. Kann man das noch längerfris- Gott!) tiger anlegen? Zudem haben wir die Bildungsausgaben Das können Sie hier erzählen, verehrter Herr Brüderle; ordentlich erhöht, und zwar seit 1999 – wenn ich das das ist aber nicht unsere Politik, um das mit aller Klarheit BAföG einbeziehe – um über 21 Prozent. Dies wird künf- zu sagen. tigen Wohlstand schaffen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei Abgeordneten der SPD) DIE GRÜNEN) Wir setzen also eine langfristige Politik gegen Ihren kurz- In Ihrem Antrag steht: ABM runter. Das wird spannend. atmigen Aktionismus. (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das ist ganz tief in (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Abwärts!) der Kiste! Klassenkampf nennt man so etwas!) 20542 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001

Bundesminister Hans Eichel (A) Sie müssen – über die Effizienz müssen wir noch reden wahr, dass die Menschen durch die Steuerentlastungen (C) und das tun wir auch – in die ostdeutschen Länder – dort- jetzt spürbar mehr Geld im Portemonnaie haben. Es ist hin, wo noch keine Chancen vorhanden sind – gehen und wahr, dass die Zinsen niedrig sind und nur wegen unserer denen sagen: Wir streichen euch die ABM-Stellen. Das Konsolidierungspolitik auch die Europäische Zentralbank müssen Sie dort vertreten und nicht so schamhaft hier als diesen Weg gehen kann. Es ist auch wahr, dass nun im Straffung der Arbeitsmarktpolitik darstellen. Dann wären zweiten Monat in Folge die Automobilkonjunktur ordent- Sie schon ein ganzes Stück ehrlicher. Weiterhin müssen lich angezogen hat. Es ist auch wahr, dass das Konsum- wir die Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusammenlegen. klima in diesem Dezember deutlich besser ist als vor ei- Das ist der nächste Schritt, den ja übrigens nem Jahr. Reden Sie das doch nicht klein! Wenn die schon vorbereitet und der am Anfang der nächsten Wahl- Wirtschaftspolitik zur Hälfte Psychologie ist, dann muss periode stehen wird. man neben den negativen Nachrichten, die es gibt und die Ich nenne weiter die Gesundheitsreform mit dem Ziel ich als Finanzminister niemals bestreite – weil ich meinen der Eingrenzung der Lohnnebenkosten oder unsere Haushalt immer auf einer soliden Basis machen will – Bemühungen, den europäischen Kapitalmarkt möglichst auch die positiven Nachrichten nennen, selbst dann, Herr schnell zu vereinheitlichen – das wird gerade heute wie- Brüderle und meine sehr verehrten Damen und Herren der auf der Tagesordnung von Ecofin stehen – und den eu- von der Opposition, ropäischen Energiemarkt zu vollenden, weil das Wachs- (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das haben Sie vor tumsprogramme sind. Deutschland will in all diesen einem halben Jahr auch schon so gesagt, Herr Bereichen die Entwicklung vorantreiben: das unterschei- Eichel!) det uns manchmal von anderen. Deswegen sage ich ganz ausdrücklich: Wir sind mit dieser Politik, wenn es Ihnen nicht ins politische Geschäft passt. (Zuruf von der CDU/CSU: Am Ende!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) die langfristig angelegt ist, auf dem richtigen Wege. Ge- nau das hat uns der Sachverständigenrat auch bescheinigt. Deswegen sage ich: Ich bin sehr sicher, dass wir mit Es ist eine Politik gegen Aktionismus und für Stetigkeit. unserer Politik, die konsequent, langfristig und stetig an- gelegt ist und die die Rahmenbedingungen verbessert, Das wirkt sich auch aus. Ich sage noch einmal: So trau- besser fahren als mit Ihrem kurzatmigen Aktionismus, rig es ist, wenn wir in diesem Winter auf über 4 Millionen dass wir mit dieser Politik in Europa, in der Wissenschaft Arbeitslose kommen, es wird das erste Mal in der Nach- und übrigens auch bei den Menschen im Lande mehr Un- kriegszeit sein, dass wir aus einem Konjunkturtal mit terstützung finden als mit kurzatmiger Schuldenmacherei deutlich weniger Arbeitslosen herausgehen als in allen (B) und dass wir mit dieser Politik besser aus dieser Krise (D) früheren Perioden. herauskommen als mit Ihren Rezepten. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Ernst Hinsken [CDU/CSU]: DIE GRÜNEN) Sie sind ja ein Schönredner!)

Das sind schlicht die Zahlen. Sie sind ja nicht einmal in Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Zu einer der Lage, Zahlen zur Kenntnis zu nehmen. Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Dr. Heinrich Ich sage Ihnen auch, meine Damen und Herren: Kolb von der FDP-Fraktion das Wort. Schwarzmalerei wird Ihnen nicht helfen. Es ist offenkun- (Susanne Kastner [SPD]: Auch noch!) dig, dass die Sondereffekte des 11. September abklingen. Das ist richtig so und es ist eine Folge der Politik der in- ternationalen Gemeinschaft, an der diese Bundesregie- Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Herr Minister Eichel, ich rung intensiv mitwirkt: Wir müssen den Terrorismus kon- habe mit Interesse Ihren Ausführungen zugehört. Sie be- sequent bekämpfen, aber so, dass dadurch nicht an dürfen eines unmittelbaren Widerspruchs. Ich will Ihnen anderer Stelle Schäden entstehen. hier ganz deutlich sagen: Ich finde es dreist, wie Sie in diesen Tagen, da die rot-grüne Regierung den Offenba- Wir werden zu normalen ökonomischen Verhältnissen rungseid ihrer Wirtschafts-, Finanz- und Arbeitsmarktpo- zurückkehren. Das wird auch deutlich, wenn man im Un- litik ablegen muss, hier aufgetreten sind. Ihnen stand die terschied zu Herrn Sinn die Prognosen der Institute, die in Ratlosigkeit förmlich ins Gesicht geschrieben. der Regel eigentlich viel pessimistischer sind, in seine Be- trachtungen einbezieht, nämlich die Prognosen des Kieler (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Ernst Instituts für Weltwirtschaft oder des Zentrums für Euro- Hinsken [CDU/CSU]: So war das, Herr Eichel! – päische Wirtschaftsforschung in Mannheim; beide sind Hans Georg Wagner [SPD]: Das ist eine Kurz- sehr renommierte Institute. Es ist offenkundig, dass wir intervention, Herr Präsident?) nicht so tief untergehen werden, wie Sie es vielleicht für Der Glanz, den Sie zeitweise als Sparminister der Na- politische Zwecke gerne sehen würden, sondern dass die tion glaubten für sich vereinnahmen zu können, verblasst. Auftriebskräfte neben allen negativen Elementen, die wir Sie sollten nie vergessen – Sie haben auch heute wieder auch haben, wieder deutlich stärker werden. die alte Regierung beschimpft –, dass die 100 UMTS- Es ist ja wahr, dass der Ölpreis ein Konjunkturpro- Milliarden, die Sie einkassiert haben und von deren Zins- gramm ist. Es ist wahr, dass die Inflationsrate sinkt. Es ist vorteilen Sie noch heute profitieren, auf Maßnahmen Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20543

Dr. Heinrich L. Kolb (A) zurückzuführen sind, die gegen den Widerstand der da- ten, wäre ohne die richtungsweisenden Entscheidungen (C) maligen SPD-Fraktion in diesem Hause beschlossen von Reagan nicht denkbar gewesen. Diesen Mut sollten worden sind. Die Liberalisierung im Bereich der Tele- Sie haben. kommunikation war die Voraussetzung dafür, dass die Versteigerung diese Erlöse bringen konnte. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Kol- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Hans lege Kolb, Ihre Redezeit ist abgelaufen. Georg Wagner [SPD]: Ist das eine Kurzinter- vention?) Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Darf ich einen Schluss- Sie haben davon gesprochen, dass die Beiträge zur So- satz sagen? zialversicherung gesenkt würden. Herr Minister Eichel, darf ich Sie in Abwesenheit des Bundesarbeitsministers Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Nein. – sein Staatssekretär ist immerhin da – daran erinnern, dass die Rentenbeiträge im nächsten Jahr 19,1 Prozent betragen werden und dies nur deshalb der Fall ist, weil Sie Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Dann bitte ich um Be- mit einem Gesetz zur Neubestimmung der Schwankungs- antwortung dieser Fragen. reserve einen weiteren Anstieg um 0,3 Prozentpunkte ver- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) mieden haben?

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Kol- Herr Eichel, darf ich Sie auch daran erinnern, dass die lege Eichel. Einnahmen aus der Ökosteuer in diesem Jahr 28 Milliar- den DM betragen und im nächsten Jahr 36 Milliarden DM Hans Eichel, Bundesminister der Finanzen: Herr Prä- betragen werden? Ein Beitragspunkt in der Rentenver- sident! Meine Damen und Herren! Ich möchte nur ein sicherung entspricht 17 Milliarden DM. Das heißt, an der paar Dinge sachlich richtig stellen: Tankstelle werden zusätzlich zwei Beitragspunkte in die Rentenversicherung einbezahlt Erstens. Am Ende der Regierungszeiten von Reagan und Bush gab es ein laufendes Defizit in Höhe von (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der 4,4 Prozent des Staatshaushaltes. Bill Clinton musste als CDU/CSU – Hans Georg Wagner [SPD]: Das Erstes eine Konsolidierung auf der Ausgabenseite einlei- ist ein Redebeitrag und keine Kurzinter- ten und Steuererhöhungen vornehmen, um das Defizit der vention!) (B) Ära Reagan/Bush zu beseitigen. Das ist die Wirklichkeit. (D) und wir haben de facto gegenüber 1998 einen Anstieg der Zweiter Punkt. Am Ende Ihrer Regierungszeit lag der Beiträge, die für die Sozialversicherung erbracht werden Rentenversicherungsbeitrag bei 20,3 Prozent. Sie hätten müssen. ihn auf über 21 Prozent anheben müssen – Sie waren drauf (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten und dran –, wenn Sie nicht mit unserer Zustimmung die der CDU/CSU) Mehrwertsteuer um einen Prozentpunkt erhöht und die Einnahmen daraus ausschließlich der Rentenkasse zugute Sie haben, wahrscheinlich nicht ohne Grund, kein Wort hätten kommen lassen. Das sollten Sie einmal zu Ihrer zu dem Antrag gesagt, den Rot-Grün heute hier vorlegt. Rechnung hinzuaddieren. Worthülsen und heiße Luft sind Ausdruck völliger Kon- zeptionslosigkeit. (Zuruf des Abg. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]) (Susanne Kastner [SPD]: Na, na, na, Herr – Natürlich, Sie haben das doch oben draufgetan und Kolb!) brauchten unsere Hilfe, weil Sie sonst gar nicht in der Lage gewesen wären, den Anstieg des Rentenver- Schlimm finde ich, dass Sie etwas Politik der ruhigen sicherungsbeitrages auf über 21 Prozent zu verhindern. Hand nennen, was in Wirklichkeit Ausdruck von man- gelnden Rezepten und mangelnden Ansätzen in der Wirt- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) schafts- und Finanzpolitik ist. Drittens. 20,3 haben wir von Ihnen übernommen, bei Herr Minister Eichel, Sie sollten nicht Reagan vorwer- 19,1 sind wir jetzt. Das entspricht einer Senkung um fen, er habe nichts zustande gebracht. 1,2 Prozentpunkte. Das hat es in keiner Wahlperiode vor- her gegeben. (Hans Georg Wagner [SPD]: Eine seltsame Kurzintervention, Herr Präsident! Das ist ein (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Durch Öko- Redebeitrag!) steuer!) Reagan hatte den Mut, in einer für sein Land schwierigen Selbst wenn wir das, was wir lesen, unterstellen, nämlich Situation Steuersenkungen umzusetzen, und diese Steuer- dass die Krankenversicherungsbeiträge um 0,3 bis senkungspolitik hat mit dem erforderlichen und immer 0,5 Prozentpunkte erhöht werden, bleibt es bei dem Er- auch einzukalkulierenden zeitlichen Nachlauf Früchte ge- gebnis, dass die Sozialversicherungsbeiträge zum ersten tragen. Die Tatsache, dass die Vereinigten Staaten in den Mal in Deutschland nach dem Krieg am Ende einer Wahl- letzten Jahren eine derart günstige Haushaltssituation hat- periode deutlich niedriger liegen als zuvor. Das ist der 20544 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001

Bundesminister Hans Eichel (A) schlichte Sachverhalt. Den können Sie durch nichts wi- was Sie von der Lage in Deutschland wirklich halten. (C) derlegen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Das geht dann zur Not zulasten der Kollegen Schauerte DIE GRÜNEN – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: und Hinsken. Beide bieten Ihnen das aber gerne an, Das ist doch nicht ehrlich, was Sie sagen! – Dr. Klaus W. Lippold [Offenbach] [CDU/ (Hans Georg Wagner [SPD]: Das ist kein CSU]: Sie haben den Leuten doch von der lin- Schaden!) ken in die rechte Tasche gegriffen! Aber geklaut weil wir wissen, dass Sie dann, wenn Sie einmal etwas sa- haben Sie auf jeden Fall!) gen oder schreiben dürfen, hin und wieder auch das Rich- tige sagen und schreiben. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als Ich weise nur auf einen Sachverhalt hin: Sie haben in nächster Redner hat der Vorsitzende der CDU/CSU-Frak- Ihrem letzten Wirtschaftsbericht – für den Jahreswirt- tion, Friedrich Merz, das Wort. schaftsbericht sind Sie ja nicht mehr zuständig; den er- ( [SPD]: Das Niveau sinkt!) stellt der Finanzminister – geschrieben, dass Sie es für richtig halten, die Staatsquote in diesem Land auf 40 Pro- zent zu senken. Ich stimme Ihnen ausdrücklich zu, Herr Friedrich Merz (CDU/CSU) (von der CDU/CSU mit Müller. Aber die Realität sieht in diesem Lande doch völ- Beifall begrüßt): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Da- lig anders aus: Wir sind bei einer Staatsquote von über men und Herren! Wer sich ein kurzes Bild über den Zu- 48 Prozent. Diese Staatsquote steigt tendenziell wieder, stand der Wirtschaftspolitik in diesem Lande verschaffen aber nicht, weil Sie, Herr Eichel, die Steuern und die So- wollte, der hätte während der Rede des Bundesfinanz- zialversicherungsbeiträge senken, sondern deswegen, ministers nur auf die Regierungsbank gucken müssen. Da weil die Steuern steigen und weil Sie die Sozialversiche- steht hier in einer wirtschaftspolitischen Debatte der Fi- rungsbeiträge mit Ihrer Ökosteuer quersubventionieren. nanzminister, die Regierungsbank ist gähnend leer Das ist der tatsächliche Befund. ( [CDU/CSU]: Gähnend zumin- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) dest! – Widerspruch bei der SPD) Herr Eichel, ich kann es Ihnen auch noch ein bisschen und oben sitzt ein gelangweilter Staatssekretär aus dem genauer sagen, was die von Ihnen eben angesprochenen Arbeitsministerium und liest Zeitung. Sozialversicherungsbeiträge, insbesondere die Renten- (Dr. Ditmar Staffelt [SPD]: Der studiert das versicherungsbeiträge, angeht. Natürlich liegt der Ren- (B) Betriebsverfassungsgesetz!) tenversicherungsbeitrag gegenwärtig bei 19,1 oder (D) 19,3 Prozent. Aber tatsächlich läge er nicht um 0,5 oder 2, Da vorne sitzt auch noch ein Bundeswirtschaftsminister, sondern um ganze 8 Prozentpunkte höher, wenn der Teil, dem man schon körperlich anmerkt, der über Steuern finanziert wird, über Beiträge finanziert (Michael Glos [CDU/CSU]: Gähnend! – würde; Hubertus Heil [SPD]: Hobbypsychologe, oder (Hubertus Heil [SPD]: Das sind Ihre versiche- was?) rungsfremden Leistungen!) dass er mit der Wirtschaftspolitik dieser Bundesregierung denn aus Ihrem Haushalt, Herr Eichel, werden im nächs- nichts, aber auch gar nichts mehr zu tun haben will. – Das ten Jahr 141 Milliarden DM an Subventionen in die sieht man Ihnen doch an, so wie Sie da sitzen. Rentenversicherung gezahlt. Das entspricht 8 Beitrags- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) punkten. So sieht die tatsächliche Lage der Rentenversi- cherung in Deutschland aus; das hat mit den Zahlen, die Offensichtlich, Herr Müller, haben Sie Schwierigkeiten, Sie hier vorgetragen haben, nichts zu tun. mit dieser SPD-Bundestagsfraktion überhaupt noch dahin gehend übereinzukommen, dass Sie in einer solchen De- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) batte reden dürfen. Meine Damen und Herren, der Bundeskanzler, der es (Dr. Ditmar Staffelt [SPD]: Das ist ja eine auch nicht für nötig befindet, an dieser Diskussion teilzu- Frechheit! – Susanne Kastner [SPD]: Das ist nehmen, Quatsch! Keine Ahnung!) (Hubertus Heil [SPD]: Er hört sich ja nicht je- Da Sie aber aus Ihren beiden Wirtschaftsberichten, die Sie den Quatsch von Ihnen an!) geschrieben haben und in denen manches Richtige steht, hat zu Beginn dieser Legislaturperiode das Bündnis für vielleicht doch noch etwas zu dieser Debatte beitragen Arbeit zum wichtigsten Projekt – so hat er sich ausge- wollen, biete ich Ihnen an, dass die CDU/CSU-Bundes- drückt – dieser Legislaturperiode erklärt. Gleich, wer von tagsfraktion Ihnen Redezeit zur Verfügung stellt, damit Ihnen noch das Wort nimmt – vielleicht spricht ja noch der Sie hier deutlich machen können, Bundeswirtschaftsminister –, ich möchte von den nach- folgenden Rednern (Hubertus Heil [SPD]: Er steht schon auf der Rednerliste! Nehmen Sie das mal zur Kennt- (Dr. Ditmar Staffelt [SPD]: Erst mal wollen nis!) wir die Redezeit von Ihnen!) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20545

Friedrich Merz (A) zu diesem wichtigsten Projekt dieser Legislaturperiode Die Tatsache, dass Sie das nicht nur heute nicht, sondern (C) etwas hören. Vor allem möchte ich wissen, warum das für zu keinem Zeitpunkt erwähnen, wenn über diesen Sach- diese Tage geplante Treffen des Bündnisses für Arbeit ab- verhalt gesprochen wird, beweist, dass Sie mit der gesagt wurde. deutschen Einheit damals und auch heute nichts am Hut gehabt haben bzw. haben, selbst wenn Sie sich hier hin- (Hubertus Heil [SPD]: Sie waren doch immer stellen und Krokodilstränen vergießen. gegen das Bündnis für Arbeit!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – – Entschuldigung, man kann ja mit den Tarifvertragspar- Widerspruch bei der SPD – Hubertus Heil teien reden, man kann auch mit denen reden, die in die- [SPD]: Unverschämtheit!) sem Lande für Arbeitsmarktpolitik Verantwortung tragen. Ich bin immer dagegen gewesen, dass Verantwortung ver- Ich möchte Ihnen in diesem Zusammenhang noch ei- schoben wird. Aber man kann miteinander reden. Für Sie nen zweiten Punkt sagen. Sie können natürlich mit Ihren war es das wichtigste Projekt dieser Legislaturperiode. Zahlen schön jonglieren. Die Wahrheit ist aber, dass Sie den Bundeshaushalt nicht über die Ausgabenseite sanie- (Hubertus Heil [SPD]: Für Sie nicht!) ren, sondern dass Sie versuchen, ihn über die Einnah- Was ist aus diesem Projekt eigentlich geworden? menseite zu sanieren. Sie haben ständig steigende Staats- Warum ist das Treffen des Bündnisses für Arbeit in diesen ausgaben. Nur in einem einzigen Jahr Ihrer vierjährigen Tagen abgesagt worden? Dafür hätte ich gerne eine Er- Regierungstätigkeit gab es eine sinkende volkswirtschaft- klärung, meine Damen und Herren. Geben Sie hier keine liche Steuerquote. Das ist in dem laufenden Jahr 2001 des- ab, dann bleiben wir dabei, dass in Wahrheit nur eine Per- halb der Fall, weil in diesem Jahr die Körperschaftsteuer son in der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik in geradezu wegbricht. Sie nehmen viel weniger Körper- Deutschland den Taktstock in der Hand hält. Das ist nicht schaftsteuer ein, als Sie es ursprünglich selbst geplant ha- der Bundeskanzler, dass sind auch nicht die Gewerk- ben. Deswegen sinkt in diesem Jahr die volkswirtschaft- schaften, sondern das ist der Vorsitzende der IG Metall, liche Steuerquote. In den beiden vorangegangenen Jahren lag sie höher und sie wird im nächsten Jahr wieder an- (Lachen bei der SPD – Michael Glos [CDU/ steigen. Damit ist endgültig das Märchen von der sinken- CSU]: So ist es! – Hubertus Heil [SPD]: Da den Steuerbelastung in Deutschland widerlegt. Die Steu- stimmt das Feindbild im Lande wieder!) ern sinken nicht, sie steigen. der offensichtlich dafür gesorgt hat, dass dieses Bündnis (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) für Arbeit nicht mehr zusammentritt. Lassen Sie mich einige Bemerkungen zu den Wachs- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – tumsraten, zu der Exportlage und zu den Ausrüstungsin- Hubertus Heil [SPD]: Wer hat denn in der CDU (B) vestitionen machen. Ich spreche diese Punkte deshalb an, (D) das Sagen?) weil Sie hier immer wieder behaupten – heute haben Sie es Es mag ja sein, dass Sie sich im Vorfeld der Wahlen zwar nicht getan; aber in der Haushaltsdebatte haben Sie wieder den Gewerkschaften nähern müssen. Aber noch ist es gemacht –, dass man in Deutschland ein viel höheres es so, dass die Richtlinien der Politik in diesem Lande der wirtschaftliches Wachstum hätte, wenn man die furcht- Bundeskanzler und nicht der Vorsitzende der IG-Metall bare Lage der Bauindustrie nicht einbeziehen müsste. bestimmt. Deswegen wollen wir, dass in der Wirtschafts- Herr Eichel, wir haben in diesem Jahr in den drei abge- politik Klarheit darüber besteht, was in den nächsten zehn laufenen Quartalen trotz sinkender Zahlen eine außerge- Monaten bis zur Bundestagswahl in diesem Lande ge- wöhnlich gute Lage im Export: erstes Quartal 11,1 Pro- schieht. Darüber müssen Sie in dieser Debatte Auskunft zent, zweites Quartal 9,4 Prozent und drittes Quartal erteilen, meine Damen und Herren. 3,8 Prozent. Der Export, den Sie für das einbrechende Wirt- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – schaftswachstum verantwortlich machen, ist für Deutsch- Hubertus Heil [SPD]: Wer bestimmt die Richt- land tatsächlich immer noch die Konjunkturstütze. linien der Opposition? Werden Sie erst mal op- Der Bundeskanzler hat uns hier vor gut einem Jahr da- positionsfähig!) rüber belehrt, dass die aussagefähigen Daten bei den Aus- Nun werden Sie, Herr Eichel, nicht müde, ständig über rüstungsinvestitionen zu suchen sind. Er hat am 29. No- die Verschuldung, über die Lasten aus der Vergangenheit vember 2000 in der Haushaltsdebatte erklärt: und über die guten Aussichten in der Zukunft mit Zahlen, Im Vergleich zum Oktober 1999 stiegen die Ausrüs- die Sie immer wieder hier referieren, zu berichten. So ha- tungsinvestitionen in Deutschland – diese sind ein ben Sie es heute Morgen wieder getan. Ich will Ihnen ganz wichtiger Indikator für das, was zukünftig in zunächst noch einmal sagen – das mag Ihnen nicht gefal- der Wirtschaft passieren wird – um sage und schreibe len; ich wiederhole es aber trotzdem –, dass die 900 Mil- fast 9 Prozent ... liarden DM an zusätzlicher Staatsverschuldung in Deutschland nur ausschließlich deshalb bestehen, weil Dafür hat er sehr viel Beifall von SPD und Grünen be- nach den Jahren 1989/90 nicht die deutsche Einheit zu fi- kommen. nanzieren war, sondern die Überwindung der deutschen Angesichts der Tatsache, dass die Zukunftsinvestiti- Teilung und die Erbfolgelasten von 40 Jahren real existie- onen – wie der Bundeskanzler hier gesagt hat – zuverlässig rendem Sozialismus. darüber Auskunft geben, wie sich die Volkswirtschaft in (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) den nächsten Wochen und Monaten entwickeln wird, 20546 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001

Friedrich Merz (A) möchte ich Ihnen sagen, wie sich die Ausrüstungsinvesti- diesem Zusammenhang einen Sachverhalt ansprechen, der (C) tionen in den ersten drei Quartalen dieses Jahres entwickelt uns in diesen Tagen beschäftigt und der auch etwas mit der haben – in Preisen von 1995, so wie die Statistiken erstellt konjunkturellen Entwicklung und der Wirtschaftspolitik in werden –: erstes Quartal noch plus 3,4 Prozent, zweites diesem Land zu tun hat. Vor einigen Wochen wollten Sie Quartal minus 1,2 Prozent und drittes Quartal minus ein Kostendämpfungsgesetz für das Gesundheitswesen, 6,1 Prozent. weil Ihnen – in Ihrem Ressort – die Beitragssätze für die gesetzliche Krankenversicherung davongaloppieren. In (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Hört! Hört!) fast allen gesetzlichen Krankenversicherungen wird es Herr Bundesfinanzminister und vielleicht interessiert nach dem Jahreswechsel zu einer Beitragssatzsteigerung es auch Sie, Herr Bundeswirtschaftsminister: Sagen Sie in einer Größenordnung zwischen 0,5 und 1 Prozentpunkt doch einmal etwas zu der Tatsache, dass nicht der Export kommen. Sie wollten ein solches Gesetz machen und ha- dafür verantwortlich ist, dass das Wachstum in der Bun- ben es in veränderter Form in den Deutschen Bundestag desrepublik Deutschland zusammenbricht, und dass Sie eingebracht. In diesen Tagen verhandeln Sie mit den Un- aufgrund der rückläufigen Ausrüstungsinvestitionen – sie ternehmen der forschenden Pharmaindustrie über einen sagen nämlich etwas über die Binnenkonjunktur aus – mit Sonderbeitrag in Höhe von 400 Millionen DM, den diese Ihrer Wirtschaftspolitik im Jahre 2002 keine Chance ha- an die gesetzlichen Krankenkassen zahlen sollen. ben werden, aus dieser Wachstums- und Beschäftigungs- (Hubertus Heil [SPD]: Die Strukturreform schwäche in Deutschland herauszukommen. Sagen Sie habt ihr im Bundesrat blockiert!) einmal etwas dazu! Herr Eichel und Frau Schmidt, ich wüsste gerne von Ih- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) nen, was für eine Leistung dies ist und wie Sie sie nennen. Auch wenn Sie die deutsche Einheit und die Konsequen- Wie soll diese in den Unternehmen verbucht werden? zen daraus nicht interessieren, wäre es vielleicht doch Ich sage Ihnen: In diesen Minuten findet im Untersu- richtig gewesen, in dieser wirtschaftspolitischen Debatte chungsausschuss eine Fortsetzung Ihres Spieles gegen wenigstens ein oder zwei Sätze zur Lage in den neuen den ehemaligen Bundeskanzler statt. Es Ländern zu sagen. geht Ihnen dabei darum, was in Leuna und Buna angesie- Herr Bundeswirtschaftsminister, Ihnen wurde nicht nur delt worden ist. die Grundsatzabteilung entzogen und bis zum heutigen (Lachen bei der SPD – Wolfgang Weiermann Tage – wohl entgegen den Versprechungen, die Ihnen ge- [SPD]: Das ist doch eine Verhohnepipelung!) macht wurden – nicht wieder zurückgegeben, sondern auch die Europaabteilung wurde Ihrem Haus unter dem Meine Damen und Herren, der Ablasshandel, den Sie (B) Amtsvorgänger von Herrn Eichel entzogen. Auch diese mit diesen 400 Millionen DM planen, ist eine Zumutung (D) haben Sie bis zum heutigen Tage nicht zurückbekommen. für die gesamte Republik. Das hat mit einer geordneten Vielleicht interessiert Sie der Sachverhalt, den ich anspre- Gesetzgebung nichts mehr zu tun. chen möchte; vielleicht sagen Sie gleich etwas dazu. Wenn (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – wir richtig informiert sind, beabsichtigt die EU-Kommis- Michael Glos [CDU/CSU]: Bakschisch-Repu- sion, in den nächsten Wochen den so genannten multisek- blik!) toralen Beihilferahmen drastisch zu verändern. Dahinter verbirgt sich die generelle Genehmigung für große Investi- Frau Schmidt, Sie lassen sich hier eine von Ihnen als tionsvorhaben in der gesamten Europäischen Union. Die- richtig erkannte Gesetzgebung abkaufen, indem die be- ser Beihilfekodex soll für ganz Europa geändert werden. troffenen Unternehmen 400 Millionen DM zahlen sollen. Dies würde auch und vor allem die neuen Länder tref- (Susanne Kastner [SPD]: Die Frau Ministerin fen. In den letzten Jahren fielen 25 Großprojekte in ganz ist nicht käuflich! – Hubertus Heil [SPD]: Mit Europa – neun davon in den neuen Ländern – in diesen Schwarzgeldkoffern kennt sich Ihre Partei bes- Beihilferahmen. Ich hätte gerne eine Auskunft der Bun- ser aus!) desregierung darüber, wie sie die Verhandlungen über die Sie, Herr Eichel, wissen bis zum heutigen Tag nicht, auf Veränderung dieses Beihilferahmens, welche insbesondere welches Konto dieses Geld eingezahlt werden soll, er- die neuen Länder betreffen wird, in Brüssel führt. Wenn klären aber gleichzeitig, dass es Betriebsausgaben der Un- das, was in Brüssel geplant wird, nämlich eine 50-prozen- ternehmen sind. Somit wird das, was Sie für richtig hal- tige Kürzung bzw. Einschränkung des Beihilferahmens, ten, zur Hälfte von den Ländern mitfinanziert. So kann Wirklichkeit wird, dann können Sie in Zukunft Großvorha- man in diesem Lande keine Politik machen. Wir sind ben in den neuen Bundesländern, wie zum Beispiel das keine Bakschisch-Republik, Herr Minister Eichel und neue VW-Werk, das der Bundeskanzler gestern in Sachsen Frau Ministerin Schmidt. feierlich eingeweiht hat, vergessen. Herr Bundeswirt- schaftsminister, ich hätte gerne eine Auskunft darüber, wie (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – die Bundesregierung bezüglich dieses Beihilferahmens Wolfgang Weiermann [SPD]: Das müssen Sie für die neuen Länder in Brüssel verhandelt. gerade sagen! Fassen Sie sich einmal an Ihre ei- gene Nase! – Hans Georg Wagner [SPD]: (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Schwarzgeldrepublik! – Susanne Kastner Liebe Frau Gesundheitsministerin Schmidt, da wir we- [SPD]: Bakschisch bei der CDU ohne Ende und nigstens die Ehre Ihrer Anwesenheit haben, möchte ich in dann so was erzählen!) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20547

Friedrich Merz (A) Meine Damen und Herren von der Regierung, das, was und nach Belieben mit Zahlen jonglieren, die keiner Über- (C) der Bundesverteidigungsminister in diesen Tagen plant, prüfung mehr standhalten. nämlich den Abschluss eines internationalen Vertrages (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU – Bei- über die Lieferung von 73 Flugzeugen des Airbus- fall bei der FDP – Hubertus Heil [SPD]: Fahren Konsortiums an die Streitkräfte, ist der letzte verzweifelte Sie lieber Mofa im Sauerland!) Versuch, die Konjunktur in diesem Lande anzukurbeln. Lieber Herr Finanzminister Eichel, offensichtlich bereiten Sie sich gerade auf die nächste Kurzintervention vor. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt der Kollege Werner Schulz von Bündnis 90/Die (Hubertus Heil [SPD]: Er arbeitet! Er muss Grünen. sich nicht jeden Quatsch von Ihnen an- hören!) Werner Schulz (Leipzig) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Vielleicht können Sie in Ihrer Eigenschaft als Haus- NEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Re- haltsminister zu diesem Sachverhalt dann auch noch ein- zession beginnt in den Köpfen“, sagt Lothar Späth in der mal etwas sagen. heutigen Ausgabe der „Bild“-Zeitung. Er muss das in der Der Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages Vorahnung Ihrer heutigen Rede gesagt haben, Herr Merz. hat der Regierung, also dem Verteidigungsminister, für (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und diese Anschaffung einen Betrag von 10 Milliarden DM bei der SPD – Unruhe bei der CDU/CSU) genehmigt. Davon können Sie 42 Flugzeuge anschaffen. Wie kommt ein Mitglied dieser Bundesregierung dazu, in – Sie sollten schon zuhören, wenn Sie solche provoka- diesen Tagen einen Vertrag über 73 Flugzeuge abzu- tiven Reden halten. schließen, obwohl es einen genau gegenläufigen Be- (Michael Glos [CDU/CSU]: Oje, oje!) schluss des Haushaltsausschusses des Deutschen Bundes- tages gibt, und zwar mit der rot-grünen Mehrheit, nicht Ich befürchte, angesichts des immer näher rückenden mit der Opposition? Wir haben den Antrag gestellt, für Wahltermins, Kollege Glos, und seit die Union auf dem eine entsprechende Verpflichtungsermächtigung zu sor- Bundesparteitag in Dresden und über alle Kanäle das gen, den Sie abgelehnt haben. Gleichzeitig schließt der Thema Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik zum Wahl- Verteidigungsminister einen solchen internationalen Ver- kampfthema erklärt hat, trag. (Friedrich Merz [CDU/CSU]: Es ist klar, dass Ihnen das nicht gefällt!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (B) Ich sage Ihnen das, weil diese Bundesregierung offen- steigt die Unredlichkeit in dieser Debatte. (D) sichtlich überhaupt nicht mehr gewillt ist, sich an die par- (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Steigt die Angst lamentarischen Regeln, an die Haushaltsordnung und an um die Arbeitsplätze bei den Leuten, Herr das, was im Grundgesetz über Haushaltsklarheit und Schulz!) Haushaltswahrheit niedergelegt ist, zu halten, Was hat es für einen Sinn und wo ist die Redlichkeit, (Hans Georg Wagner [SPD]: Oje, oje!) wenn Sie dem Bundeswirtschaftsminister Redezeit anbie- ten, obwohl Sie genau wissen – die Rednerliste liegt auf weil Sie dazu übergehen, zu machen, was Sie wollen, hier Ihrem Platz –, dass der Bundeswirtschaftsminister in die- mit Zahlen zu operieren, die keiner Überprüfung stand- ser Debatte noch reden wird? Was soll dieser Trick? halten, und die Wirtschaftspolitik in die Hände eines Fiskalministers zu legen, der mit der Wirtschaftspolitik (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- nichts, aber auch gar nichts am Hut hat und der gleich- SES 90/DIE GRÜNEN – Hans Georg Wagner zeitig ein Ausmaß an Ignoranz gegenüber der tatsäch- [SPD]: Scheinheiligkeit!) lichen Lage am Arbeitsmarkt aufweist, die für die Deut- Wo ist die Redlichkeit, wenn Sie von der Quersubven- schen insgesamt erschreckend ist. tionierung über Ökosteuer sprechen? Als Sie noch an der (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Regierung waren und Ihr Fraktionschef Wolfgang Schäuble und Ihre Umweltministerin Angela Merkel war, Deswegen zum Schluss noch einmal in aller Ruhe: hieß das Modell, das wir praktizieren, Aufkommensneu- Wenn Sie es nicht schaffen, die strukturellen Probleme tralität. Genau das Modell wollten Sie umsetzen. auf unserem Arbeitsmarkt, die strukturellen Verwerfun- gen der Steuerpolitik zu beseitigen, wenn Sie es nicht (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schaffen, eine Politik für Wachstum und Beschäftigung in sowie bei Abgeordneten der SPD) diesem Lande zugunsten des ersten und nicht zugunsten Da können Sie den Kopf schütteln, wie Sie wollen; viel- des zweiten und dritten Arbeitsmarktes durchzusetzen, leicht haben Sie das damals nicht mitbekommen. dann haben Sie keine Chance, das Ziel, das wir alle für richtig halten, nämlich mehr Beschäftigung und weniger (Friedrich Merz [CDU/CSU]: Doch! Sehr genau!) Arbeitslosigkeit in Deutschland, zu erreichen. Dieses Land hat eine bessere Politik, eine Wirtschaftspolitik für Es war im Grunde genommen das gleiche Prinzip: auf den ersten Arbeitsmarkt, für Wachstum und Beschäfti- der einen Seite eine Ökosteuer einzuführen und da- gung, verdient und nicht Leute, die sich hier hinstellen durch auf der anderen Seite die Lohnzusatzkosten, die 20548 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001

Werner Schulz (Leipzig) (A) Lohnnebenkosten, zu senken. Damals hieß das nicht was nicht der Fall ist. Nein, Finnland steht an letzter (C) Quersubventionierung, sondern Aufkommensneutralität. Stelle. Zum Bündnis für Arbeit. Seit wann interessieren Sie (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das stimmt doch sich denn für das Bündnis für Arbeit? Bisher haben Sie gar nicht!) das rigoros abgelehnt. – Minus 0,4! Schauen Sie in die Statistik! Allerdings (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN stimmt es mich nicht froh, dass wir den vorletzten Platz und bei der SPD) haben. Ich sage das einmal etwas salopp: Sie haben offensicht- Das Wirtschaftsministerium sagt, dass uns der Spezial- lich ein neues Feindbild im „Zwickel“. Das ist wahr- fall Baukonjunktur bzw. die Rezession der Baubranche scheinlich Ihr Problem. etwa 0,6 Prozent kostet. Der BDI sagt, ungefähr 0,8 Pro- (Hubertus Heil [SPD]: Deshalb kriegen die das zent macht allein die Rezession in der Baubranche aus. auch mit den Gewerkschaften nicht hin!) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das zeigt, dass Zu den ausländischen Direktinvestitionen. Ist Ihnen Sie überhaupt nichts verstehen!) denn verborgen geblieben, dass sich in den letzten zwei – Es freut mich, dass Sie alle mitsprechen. Das macht es Jahren die ausländischen Direktinvestitionen verdoppelt leicht, hier zu reden. – Das heißt, wir hätten ohne die Re- haben, dass aus amerikanischer Sicht Deutschland der in- zession in der Baubranche ein Wirtschaftswachstum von teressanteste Investitionsstandort in Europa ist? 1,5 Prozent, in Ostdeutschland sogar von 2,5 Prozent. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Wir haben das Problem, dass Sie im Glauben an ein Friedrich Merz [CDU/CSU]: Wissen Sie, wie zweites Wirtschaftswunder mit Steuerabschreibungen vor die Zahlen zusammengesetzt sind?) allen Dingen eine Baukonjunktur, einen Bauboom ange- Das ist Ihnen offensichtlich verborgen geblieben und es heizt haben. Diese verfehlte Investitionspolitik kann man interessiert Sie auch nicht. Ich habe den Eindruck, dass heute noch überall bewundern: überdimensionierte Klär- sich von der Erwartungsstrategie her die Opposition in anlagen, Einkaufszentren auf der grünen Wiese, Büro- Kriegsgewinnler und Krisengewinnler zerlegt. Das ist die paläste, Leerstände im Wohnungsbereich. Alles das sind Situation, in der Sie sich im Moment befinden. Fehlfinanzierungen, Fehlallokationen von Kapital, die in den 90er-Jahren passiert sind. Und natürlich erleben wir (Hubertus Heil [SPD]: Alles Sonthofen-Politi- momentan eine Krise in der Bauindustrie, die Kapazitäten ker!) abbaut. Das gehört mit zur Bilanz der deutschen Einheit. (B) Und was die deutsche Einheit betrifft, so haben Sie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (D) darauf eine sehr selbstgefällige Sicht. Sie interessiert nur sowie bei Abgeordneten der SPD) die eigene Erfolgsbilanz. Sie ist groß und ich will sie nicht in Abrede stellen. Sie ist vor allen Dingen auf der politi- Nehmen wir die ökologische Marktwirtschaft, Herr schen Habenseite groß. Aber auf der wirtschaftspoliti- Kollege Merz. Es war interessant, das auf Ihrem Parteitag schen Seite haben wir mit der deutschen Einheit und ihrer zu verfolgen. Sie haben dort die „neue soziale Marktwirt- Fehlfinanzierung heute noch zu kämpfen, Kollege Merz. schaft“ ausgerufen. Das einzig Neue, was dabei war, war, dass die ökologische Marktwirtschaft, die Sie vorher noch (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN im Programm hatten, gefehlt hat, dass sie nicht mehr da- und bei der SPD) bei ist, dass Sie das nicht wirklich ernsthaft betreiben. 1990 standen die Lohnnebenkosten bei 35 Prozent. Als Schauen wir uns an, was diese Regierung 1998 über- wir die Regierungsverantwortung übernommen haben, nommen hat: einen extrem hohen Schuldenberg. Wir ha- waren die Lohnnebenkosten bei fast 43 Prozent. Darin ben Haushaltssanierung betrieben und sie ist erfolgreich sind die verdeckten Finanzierungen der deutschen Ein- gelaufen. Wir haben zum ersten Mal den Marsch in den heit, also die versicherungsfremden Leistungen, enthal- Schuldenstaat gestoppt, sodass wir in der Lage sind, diese ten. Die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung, zur Kran- Lasten nicht den künftigen Generationen zu überlassen. kenversicherung und zur Rentenversicherung sind gestiegen. Wir bemühen uns, diese Lohnzusatzkosten Natürlich haben wir eine Steuerreform durchgeführt, heute unter 40 Prozent zu bekommen; das ist außeror- die sich sehen lassen kann. Schauen Sie sich an, wo der dentlich schwierig. Sie müssen dazusagen, dass Sie die Spitzen- und der Eingangssteuersatz heute stehen. Es kam gesamten 90er-Jahre genutzt haben, um genau diesen in diesen drei Jahren zu einer Senkung um 5 Prozent. Das Kostenfaktor zu erhöhen und damit Arbeit teuer zu ma- ist kein kleiner Betrag. Die Entlastung für die Steuerzah- chen, und dass Sie damit die Arbeitslosigkeit angeheizt ler durch diese Steuerreform beträgt allein in diesem Jahr haben. 45 Milliarden DM. Nehmen wir beispielsweise das Wirtschaftswachs- Sie schlagen jetzt ein Vorziehen der nächsten Stufen tum. Sie haben es heute nicht angesprochen, aber es der Steuerreform vor. Ich bitte Sie: Sie haben dafür ge- gehört zum Standardrepertoire von Ihnen und auch vom sorgt, dass die Steuerreform beinahe nicht durch den Bun- Kollegen Brüderle, dass Deutschland die rote Laterne desrat gekommen wäre. beim Wirtschaftswachstum in Europa hat, (Friedrich Merz [CDU/CSU]: Das stimmt (Rainer Brüderle [FDP]: Stimmt!) nicht!) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20549

Werner Schulz (Leipzig) (A) – Natürlich! Sie haben sie blockiert. – Letztendlich ist es gen gemacht worden. Es bietet sich an, das Modell auf (C) mithilfe von Rheinland-Pfalz gelungen, diese Steuerre- Sachsen-Anhalt zu erweitern. form überhaupt hinzubekommen. Das sind Beispiele, wie wir der strukturell verfestigten Sie haben das Gutachten des Sachverständigenrates Arbeitslosigkeit auf den Leibe rücken. Natürlich würde es genauso gelesen wie ich. Ein Vorziehen der nächsten Stu- sich für das Bündnis für Arbeit anbieten – eigentlich ist es fen wird abgelehnt, weil dies nicht finanzierbar ist. Auch jetzt Zeit für ein Bündnis für Arbeit –, Lohnzuwächse zu Ihre Steuerschecks werden abgelehnt. Zu Ihrem Hinweis beschließen, die im Rahmen des Produktivitätsfortschrit- auf § 26 des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes, in dem tes liegen und sich an der Inflationsrate orientieren. in einer außerordentlichen Situation bestimmte Möglich- Das sind Fragen, die in den nächsten Wochen und Mo- keiten vorgesehen sind, sagt der Sachverständigenrat naten geklärt werden. Wir werden natürlich auch in unse- ganz klar: Diese außerordentliche Situation ist nicht ge- ren Anstrengungen bezüglich der Strukturreformen geben. Sie liegt nicht vor. – Er bestätigt vielmehr die Po- – dazu hat uns der Sachverständigenrat aufgefordert – litik der Bundesregierung. Kein hektischer Aktionismus, nicht nachlassen. Schauen Sie sich einmal an, welche Dy- sondern Stetigkeit, Fortsetzung des wirtschaftspolitischen namik allein durch die Steuerreform des nächsten Jahres Kurses, den wir eingeschlagen haben, ist jetzt nötig. Dazu in der Wirtschaft entstehen wird. Bisher hat das ganze gehört Verlässlichkeit in der Steuerpolitik, die wir aufge- Programm noch gar nicht begonnen. Ab Januar nächsten legt haben. Jahres werden Erlöse aus der Veräußerung von Betriebs- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN beteiligungen – übrigens auch solche beim Mittelstand – und bei der SPD) steuerfrei gestellt, und zwar sowohl bei Kapital- gesellschaften als auch bei Personengesellschaften. Das Das gilt natürlich auch für das Bündnis für Arbeit, Herr haben wir im Rahmen der Reinvestitionsrücklage geklärt. Kollege Merz. Das Bündnis für Arbeit hat doch bisher durch moderate Lohnabschlüsse dazu beigetragen, dass Das sind Effekte, bei denen wir damit rechnen können, wir beispielsweise im letzten Jahr ein relativ gutes dass sie zusammen mit der anspringenden Konjunktur po- Wirtschaftswachstum hatten. sitiv wirken werden. Wir alle müssen doch an solchen Koppelungseffekten interessiert sein. Wichtig für uns ist, Zu der Situation, mit der wir momentan zu kämpfen dass wir unseren Standort nicht schlechtreden. Ich habe haben, ist zu sagen: Die Wirtschaftsflaute ist auf dem Tief- den Eindruck, dass Sie im Moment – sicherlich durch den punkt angelangt. In den nächsten Monaten werden wir er- Wahlkampf verführt – versuchen, die mehr oder weniger leben, dass es wieder aufwärts geht; der Bundesfinanzmi- schlechten Indikatoren der letzten Wochen und Monate zu nister hat darauf hingewiesen. Das Institut für nutzen, um daraus wahlkampfpolitisch Profit zu ziehen. Weltwirtschaft in hat ebenso wie alle anderen Pro- (B) gnosen, die uns vorliegen, deutlich gemacht, dass wir in Aber auch wenn Sie sich schon oft genug in polemi- (D) der nächsten Jahreshälfte mit einem Anspringen der Kon- scher Weise darüber erheitert haben: Wir werden mit ru- junktur zu rechnen haben, natürlich nicht in dem Maße, higer Hand an unserem Wirtschaftskurs festhalten und ihn wie wir das bisher gehofft haben. Aber die welt- mit kühlem Kopf fortsetzen. Wir werden dafür sorgen, wirtschaftliche Konjunkturlage hat nun einmal Einfluss dass die Wirtschaft wieder an Fahrt gewinnt. auf unsere Wirtschaft. Die Verbindung zwischen der Ent- Ich danke Ihnen. wicklung der Konjunktur in den USA und in Deutschland ist wesentlich enger, als wir alle in diesem Hause uns das (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vorgestellt haben. Vor allen Dingen sehen wir: Es gibt eine und bei der SPD) Globalisierung der Erwartungshaltungen, eine Globali- sierung des Vertrauens in Investitionen, in Konsumver- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort halten und dergleichen. Im Moment haben wir in gewis- hat jetzt der Kollege Rolf Kutzmutz von der PDS-Frak- ser Weise mit neuen Übertragungsmechanismen zu tion. kämpfen. (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU) Rolf Kutzmutz (PDS): Herr Präsident! Meine Damen – Selbstverständlich ist das so. Das erheitert Sie sehr; aber und Herren! Als spätestens ab dieses Jahres die das steht so sinngemäß im Gutachten des Sachverständi- Wachstumsraten der Wirtschaft nach unten korrigiert genrates. Ich möchte Sie bitten, das zur Kenntnis zu neh- wurden, gab es hektische, zum Teil auch heftige Reaktion- men, wenn Sie darüber sprechen, woran es liegt, dass wir en. Forderungen nach einem Vorziehen der Steuerreform, uns in einer solchen Misere befinden, und wenn Sie aus die man vorher abgelehnt hatte, wurden laut. Es wurde dieser Situation keinen einseitigen Nutzen ziehen wollen. nach Blitz- und anderen Programmen gerufen; dabei ka- Diesen Eindruck habe ich allerdings. men neue, aber auch eine Vielzahl von alten Vorschlägen, die wir alle x-mal diskutiert haben, zuletzt gestern im Wenn Sie sich die Arbeitsmarktpolitik einmal genau Wirtschaftsausschuss, und die wir, weil sich die Entwick- anschauen, dann sehen Sie, dass wir uns auf diesem Ge- lung fortgesetzt hat, noch oft diskutieren werden, fürchte biet wahrlich mühen. Das Job-Aqtiv-Gesetz wird im ich. nächsten Jahr Impulse bringen. Wir werden gerade für Langzeitarbeitslose Eingliederungspläne erstellen. Wir Weil Anträge nicht zu helfen schienen, griff die Union werden das Kombilohnmodell, das Sie so sehr preisen, zur Feder und schrieb ihre Forderungen in Gedichtform ausweiten. In Rheinland-Pfalz sind damit gute Erfahrun- auf. Da wir in der Vorweihnachtszeit sind, will ich Ihnen 20550 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001

Rolf Kutzmutz (A) vier Zeilen dieses Gedichtes nicht ersparen. Da ist zu le- in erster Linie – darin stimmen wir voll überein –, die (C) sen: Arbeitsplätze schaffen und junge Leute ausbilden. Mit Arbeit und Wirtschaft wird es öder. Doch der tut Ihnen, Herr Merz, möchte ich an dieser Stelle Folgen- nix, dieser Schröder! Und so dröhnt es durch die des sagen: Ich stimme mit Ihnen überein, dass wir die mul- Lüfte: Schröder Gerd, komm aus der Hüfte. tisektoralen Beihilfen – die Sie im Zusammenhang mit Ostdeutschland angesprochen haben – überprüfen sollten, (Beifall bei der PDS) damit der Osten nicht hinten runter fällt. Aber BMW ist aus Den Rest erspare ich mir. meiner Sicht kein gutes Beispiel. BMW bekommt Beihil- fen in Höhe von 345 Millionen Euro. BMW hat einen Ge- (Dr. Ditmar Staffelt [SPD]: Das ist ja geradezu winn nach Steuern von mehr als 1 Milliarde Euro. Und liebevoll!) BMW gehört zu 50 Prozent drei Personen, die ein Privat- – Angesichts der Heftigkeit der Auseinandersetzung wäre vermögen von 20 Milliarden haben. Wenn das nicht Per- es vielleicht ganz gut gewesen, das hier einmal vorzutra- len vor die Säue geworfen ist, dann weiß ich auch nicht. gen. Das hätte vielleicht den Druck etwas herausgenom- (Beifall bei der PDS) men. Es geht darum, die öffentliche Investitionstätigkeit (Beifall bei der PDS) zu aktivieren. Denn Investitionsbedarf gibt es allerorten: Die Koalition dagegen mahnt – auch in dem heute vor- im Verkehrsbereich, bei der sozialen Infrastruktur, bei der gelegten Antrag –, nicht in Aktionismus zu verfallen. Sie Wasserversorgung, im Umweltschutz. Allein die Er- sieht sich und die Regierung auf einem guten Weg und höhung des Anteils öffentlicher Investitionen am Brut- hofft auf ein Anspringen der Konjunktur nahezu von al- toinlandsprodukt auf den europäischen Schnitt würde leine. Nur, in Zeiten blühender Konjunktur kann fast jeder dazu führen, dass zusätzliche Mittel in Höhe von 30 Mil- regieren. liarden DM eingesetzt werden könnten. Das sind doch nicht nur finanzielle Mittel; das ist Arbeit, das ist Kauf- (Beifall bei der PDS – Hubertus Heil [SPD]: kraft, das sind Arbeitsplätze. Nur Sie nicht! – Dr. Ditmar Staffelt [SPD]: Ge- nau! Sehr gut!) (Beifall bei der PDS) Wenn es allerdings, wie gegenwärtig, zu den beschriebe- Dennoch bleibt die Beschaffung und Verteilung öffent- nen negativen Entwicklungen kommt, dann muss auch licher Mittel nur die eine Seite der Medaille. Ähnlich oft gehandelt werden. Dabei hat, Herr Staffelt, Aktivwerden wie die kommunale Investitionspauschale haben wir hier nichts mit Aktionismus zu tun. Jetzt nichts zu tun, jetzt zu gefordert – und entsprechende Anträge eingebracht –, den (B) warten, ob und wie sich die Lage entwickelt, ist aus mei- Mehrwertsteuersatz für arbeitsintensive Leistungen, (D) ner Sicht falsch. insbesondere Reparaturleistungen, auf 7 Prozent zu sen- ken. Das bedeutete mehr Reparaturen, brächte mehr Ar- Auch die Rezepte, die CDU/CSU und FDP in den vor- beit im Handwerksbereich und würde manchem Hand- gelegten Anträgen empfehlen, halte ich für untauglich. werksbetrieb das Überleben sichern. Ich glaube, dass der Sie waren in der Vergangenheit untauglich und sie werden anfängliche Verlust an Steuermitteln durch den Gewinn auch jetzt untauglich sein. kompensiert würde, den wir durch den Erhalt von Hand- (Beifall bei der PDS) werksbetrieben erreichen würden. Ich bleibe dabei: Steuersenkungen schaffen nicht per se (Beifall bei der PDS) mehr Arbeitsplätze. Denn, Herr Brüderle, das stimmt ganz Zweitens. Ich bin der Überzeugung, dass eine bessere sicher: Wenn Sie den Menschen einen Brief schreiben, in Zahlungsmoral und ein Chancen wahrendes Insolvenz- dem Sie ihnen mitteilen, dass sie jetzt Steuern zurück be- recht private Initiative und Kreativität für neue, zusätzli- kommen und deswegen mehr in der Tasche haben werden, che Arbeitsplätze viel eher als noch so niedrigere Steuern dann wird der eine oder andere vielleicht mehr Weih- oder noch so große staatliche Ausgabenprogramme frei- nachtsgeschenke kaufen. Aber die Geschenke an die Wirt- setzen. Ich habe über die Pleitewelle gesprochen. Insofern schaft in Höhe von mehr als 40 Milliarden DM waren kann ich den Antrag, den die Koalition heute vorlegt und eben keine Konjunkturanreize, haben nicht zu mehr Ar- der vor Lob nur so sprudelt, nicht verstehen. Ich kann mir beitsplätzen geführt, nur verwundert die Augen reiben. (Beifall bei der PDS) Natürlich haben Sie ein so genanntes Zahlungsbe- sondern im Gegenteil zu dem, was wir jetzt beklagen. schleunigungsgesetz beschlossen und das Insolvenz- recht novelliert. Aber wir haben Ihnen, wie viele andere Hier wurden bereits viele Vorschläge gemacht; vieles auch, schon damals gesagt: Diese Beschlüsse sind halb- haben wir mehrfach gehört. Auch ich kann es Ihnen nicht herzig und werden nicht funktionieren. Die Praxis hat das ersparen, dass ich wiederhole, was wir fordern, um Im- bestätigt. Ich hoffe, meine Damen und Herren von der Ko- pulse für Wirtschaftswachstum auszulösen. alition, Ihr Verzicht auf die morgige Debatte über den Ent- wurf eines Tariftreuegesetzes hat damit zu tun, dass Sie Erstens fordern wir wieder und wieder wachsende statt bei diesem Punkt nicht schon wieder auf halbem Weg ste- sinkende kommunale Investitionspauschalen. Damit hen bleiben wollen. wird wirklich etwas für Handwerk und Gewerbetreibende in Städten und Gemeinden getan. Sie sind es schließlich (Beifall bei der PDS) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20551

Rolf Kutzmutz (A) Ein Tariftreuegesetz bei öffentlichen Aufträgen ist be- Arbeitsplätze schaffen, die Wirtschaftskraft über faire (C) grüßenswert. Es bringt aber nur etwas, wenn zugleich die Wettbewerbsbedingungen für alle Marktteilnehmer stär- Finanzausstattung der öffentlichen Auftraggeber deutlich ken, ohne Staat und Gesellschaft zu ruinieren – das ist verbessert wird. Sonst ist entweder die Tariftreue nicht machbar. Man muss es nur wollen. durchsetzbar, weil sich niemand daran hält, oder es gibt in (Beifall bei der PDS) diesem Land künftig noch weniger öffentliche Aufträge und damit auch Arbeitsplätze, so dass Sie dann mit Ihrer Politik leider das Gegenteil von dem erreichen, was Sie ei- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort gentlich gedacht und gewünscht haben. Weder gäbe es ei- hat jetzt der Bundesminister Werner Müller. nen fairen Wettbewerb noch gesicherte Arbeitsplätze. (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Dass der re- Drittens. Es wird gesagt: Konkurrenz belebt das Ge- den darf! Wie hat er das denn hingekriegt? – Zu- schäft. Obwohl ich manchen Zweifel an der Rolle von ruf von der CDU/CSU: Wer hat denn den Schlä- Banken habe, wünsche ich mir, dass dies endlich auch für fer geweckt?) die Konkurrenz zwischen den Banken gilt und damit die Kapitalbeschaffung für Existenzgründer und Kleinunter- Dr. Werner Müller, Bundesminister für Wirtschaft nehmer deutlich verbessert wird. Wenn nämlich das Pri- und Technologie (von SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- vileg der so genannten Hausbanken für die Beantragung NEN mit Beifall begrüßt): Herr Präsident! Meine Damen von Wirtschaftsfördermitteln endlich fallen würde, hätten und Herren! Herr Merz hat extra betont, es handle sich wir in diesem Bereich eine deutliche Verbesserung. hier um eine wirtschaftspolitische Debatte. Basel II kann noch so umfassend nachgebessert wer- (Zuruf von der CDU/CSU): Und da dürfen Sie den. Ich bin davon überzeugt: Die Kreditinstitute werden reden? – Michael Glos [CDU/CSU]: Also wa- sich aus Renditegründen dennoch weiter aus diesem Be- ren Sie doch nicht vorgesehen!) reich zurückziehen. Sie werden die Mittelstandsfinanzie- rung nicht weiter vornehmen. Eine direkte öffentliche Be- Herr Merz, ich habe mir erlaubt, während Ihrer Rede teiligung, natürlich in atypischer stiller Form, wie auch ein paar Stichworte aufzuschreiben. Die wirtschaftspoli- eine umfassendere Risikoübernahme für Mitarbeiterbe- tische Debatte bestreiten Sie mit Stichworten zum teiligungen wären ein finanziell machbarer Weg aus die- Spendenausschuss Kohl, zum gesetzlichen Gesund- ser Misere. Auf diesen Feldern ist die Regierung ebenso heitswesen und zur Flugzeugbeschaffung der Bun- gefordert wie bei der Definition neuer Märkte durch deswehr. Das ist eine Konfettitüte, aber kein wirtschafts- rechtliche Gebote oder Verbote. politisches Konzept. (B) Die aktuelle Auseinandersetzung mit der EU-Kommis- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (D) sion um die Stromsteuerausnahme ist doch nur die DIE GRÜNEN) Spitze des Eisbergs, der das vom Bundeskanzler kreierte Zweitens. Ich empfinde es persönlich als sehr ange- Selbstverpflichtungs- und Verbändevereinbarungsunwe- nehm, wenn Sie sich Sorgen um meine Position machen. sen hoffentlich versenken wird. Statt Wirtschaftsverein- Ich darf Ihnen aber versichern: Ich mache mir keine Sor- barungen zugunsten weniger muss es endlich wieder um gen um meine Position; Sie sollten das daher auch nicht Wirtschaftspolitik für alle gehen. tun. Ich mache mir aber Sorgen um Ihre Position. In diesem Zusammenhang muss ich noch einmal auf (Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem das erwähnte Tariftreuegesetzesprojekt zurückkommen. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Lachen bei der Es muss schon zu denken geben, dass die Koalition am CDU/CSU) Mittwoch kurz nach 12 Uhr ihren Gesetzentwurf übermittelt hat, um am Abend die Debatte darüber abzu- Konzentrieren Sie sich darauf, dass Sie Ihr Amt weiter blasen, nachdem am Mittwochvormittag BDI-Präsident ausüben dürfen. Rogowski per Presseerklärung bereits alle Welt über das Hans Michelbach [CDU/CSU]: Die Regierung Scheitern des Projekts informiert hatte. Dass die Grünen spricht jetzt zur Sache!) ausgerechnet dieses Gesetz nehmen, um als Sprachrohr für den Osten fungieren zu wollen, halte ich schlicht für fatal. Drittens. Ich bedanke mich ausdrücklich dafür, dass Sie mir Redezeit Ihrer Fraktion zugesagt haben. Sonst (Beifall bei der PDS) wäre die ohnehin vorgesehene Redezeit noch etwas aus- Abschließend ein vierter Punkt. Vor fast zwei Jahren ist geweitet worden. von der PDS zum Ausbau und zur Sicherung von Kraft- (Michael Glos [CDU/CSU]: Warum ist denn Ihr Wärme-Kopplung der Entwurf eines Zertifikathandels- Vorgesetzter Eichel weg? Wohin ist denn jetzt modells auf Basis einer allmählich ansteigenden KWK- Ihr Vorgesetzter Eichel gegangen? Warum ist Quote eingebracht worden. Damit gäbe es einen Rahmen Ihr Chef jetzt gegangen?) für den tatsächlichen Ausbau dieser dezentralen und um- Allerdings wurde Ihre Zusage von Ihren Fraktionskolle- weltverträglichen Energieerzeugung. Das passt zwar eini- gen nicht eingehalten. Ich habe die zugesagte Redezeit gen Verbändevertretern nicht. Es wäre aber gerade für nicht bekommen. überwiegend mittelständische Ausrüster und Dienstleister eine Konjunkturspritze ohne einen einzigen Steuercent (Dr. Ditmar Staffelt [SPD]: Ja, so sind sie: und zu niedrigeren volkswirtschaftlichen Kosten. große Klappe und nichts dahinter!) 20552 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001

Bundesminister Dr. Werner Müller (A) Ich sage deswegen deutlich: Solche Versprechungen sind gramme zur Förderung des Mittelstandes und zur Tech- (C) wir gewöhnt. Eben versprochen, eine Minute später schon nologieförderung aus. gebrochen. (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Mittelstands- (Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem vernichtungsprogramm! – Dietrich Austermann BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abge- [CDU/CSU]: Weniger Geld denn je!) ordneten der PDS) Als Zweites ist für den Mittelstand wichtig: Er muss sich stärker exportorientiert verhalten. Die Globalisie- Präsident Wolfgang Thierse: Herr Bundesminister, rung darf am Mittelstand nicht vorbeigehen. Deswegen darf ich Sie einen Moment unterbrechen. Herr Eichel hat müssen wir das gesamte Exportinstrumentarium mittel- sich entschuldigt, weil er zum Ecofin-Rat nach Brüssel standstauglicher machen. Wir müssen den Mittelstand reisen muss. auffordern, Auslandsmessen zu besuchen. Wir haben für Bitte schön, Herr Bundesminister. diesen Zweck auch Fördermittel bereitgestellt. (Michael Glos [CDU/CSU]: Ist in Ordnung!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Friedrich Merz [CDU/CSU]: Für das, was Sie da sagen, kriegen Sie von uns Dr. Werner Müller, Bundesminister für Wirtschaft keine Redezeit!) und Technologie: Nun zur Sache selber: Als Drittes müssen wir erreichen: Die Digitalisierung (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) der Wirtschaft darf am Mittelstand nicht vorbeigehen. Ich erlebe immer wieder, dass man in wirtschafts- und 70 Prozent des Mittelstandes haben heute einen Internet- finanzpolitischen Diskussionen nicht sagen darf, wo wir anschluss, nur 15 Prozent der Mittelständler nutzen das gestartet sind. Ich habe dafür Verständnis, dass Sie diese Internet aktiv, etwa für Marketing oder Einkauf. Infolge- Debatte unter dem Stichwort Analyse meiden. Ich darf Ih- dessen haben wir 26 Kompetenzzentren für E-Commerce nen aber sagen: Ohne Analyse wird man keine vernünf- aufgebaut, damit sich der Mittelstand dezentral über die tige Konzeption machen können. Möglichkeiten des Internets informieren kann. (Friedrich Merz [CDU/CSU]: Das ist war!) Als Nächstes wollen wir sicherstellen, dass sich der Mittelstand, der in Deutschland überwiegend fremdfinan- Die Analyse ist relativ einfach – ich mache das in ganz ziert ist, längerfristig ohne Verschlechterung der Kredit- dürren Worten: Sie haben in den 80er- und 90er-Jahren in konditionen finanzieren kann, Stichwort: Basel II. folgender Weise Politik betrieben: Staatsausgaben hoch, (B) Subventionen hoch, dadurch Verschuldung hoch, Steuern (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (D) hoch, Abgaben hoch. So einfach kann man das darstellen. DIE GRÜNEN – Hans Michelbach [CDU/ CSU]: Und deshalb erheben Sie die Öko- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ steuer?) DIE GRÜNEN – Friedrich Merz [CDU/CSU]: Das ist falsch! Sie wissen, dass das falsch ist! Wir haben einige Sonderprojekte für den Mittelstand ini- Unwürdig für Ihr Amt! Dass Sie die Grundsatz- tiiert. Ich weise darauf hin, dass der Tourismus in abteilung nicht mehr haben, merkt man Ihrer Deutschland 280 Milliarden DM Umsatz macht und Rede an! Fragen Sie die Grundsatzabteilung im annähernd 3 Millionen Beschäftigte hat. Wir fahren Finanzministerium, was die von dem halten, – durchaus erfolgreich – Sonderprogramme, um den was Sie sagen!) Standort Deutschland für den Tourismus attraktiv zu ma- chen. Wir müssen diesen Trend umkehren und wir werden ihn umkehren: Die Staatsausgaben wachsen weitaus (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ langsamer, wir werden die Neuverschuldung auf Null sen- DIE GRÜNEN) ken und die Steuerbelastung vermindern. Wir müssen Schließlich gehört zur Mittelstandsförderung auch, endlich wieder eine Nation werden, die mit ihrem Haus- dass wir eine vernünftigte Politik mit dem Handwerk und halt nur so viel ausgibt, wie sie einnimmt – eine Grund- für das Handwerk machen. Wir wollen an der grundsätz- maxime, mit der jeder Bürger leben muss. Auch wir wer- lichen Rechtsordnung für das Handwerk nichts ändern, den diese Grundmaxime erfüllen. haben aber beispielsweise erreicht, dass die Anwendung (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ der Handwerksordnung flexibler wird. – Das war ein DIE GRÜNEN) Komplex. Bezogen auf diese Grundmaxime betreiben wir unsere Der nächste Komplex: Wirtschaftspolitik muss sich da- Wirtschaftspolitik, die ich Ihnen gern in den Grundzügen rum kümmern, dass wir weiterhin eine exportstarke Na- erläutere. An unserer Wirtschaftspolitik wird jeden Tag tion bleiben. Das heißt, wir müssen unter dem Gesichts- gearbeitet, auch im nächsten Jahr und in den folgenden punkt der Wettbewerbsfähigkeit darauf achten, dass die Jahren. Das Wichtigste ist eine Politik für den Mittel- politische Unterstützung für unsere Exportwirtschaft in stand. Welche Probleme hat der Mittelstand? Der Mittel- etwa vergleichbar mit der ist, die das Ausland ihrer jewei- stand muss stärker an den technologischen Fortschritt an- ligen Exportwirtschaft angedeihen lässt. Deswegen haben gebunden werden. Wir geben in diesem Zusammenhang wir eine Revision vorgenommen. Wir haben im Ministe- im nächsten Jahr über 1 Milliarde DM für etliche Pro- rium eine Anlaufstelle für die politische Unterstützung Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20553

Bundesminister Dr. Werner Müller (A) von Exportprojekten jeder Größenklasse geschaffen, von – Herr Merz, zu dem Energiebericht haben Sie für heute (C) Projekten des Mittelstandes bis hin zu milliardenschwe- Nachmittag eine Debatte angezettelt. Sie haben mich in ren Großprojekten. Ihrem entsprechenden Antrag aufgefordert, endlich den Energiebericht vorzulegen. Ich habe diesen Bericht vor- Des Weiteren – das tun wir seit unserem Regierungs- gelegt. Darüber führen wir später eine Debatte. antritt ständig – bearbeiten wir alle Länder, denen wir keine Hermesbürgschaften für die Absicherung von Ex- (Friedrich Merz [CDU/CSU]: Ja, Sie haben porten geben, systematisch dahin gehend, dass ihn vorgelegt! Dann sagen Sie auch etwas Hermesbürgschaften wieder möglich sind. Ich möchte Ih- dazu!) nen zwei Beispiele nennen. – Ich rede heute Nachmittag dazu. Sie sind eingeladen, Als ich mein Amt antrat, gab es keine Hermesbürgschaf- mir dann noch einmal zuzuhören. ten für Exporte nach Russland und in den . Wir haben (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ den Weg dafür freigemacht, dass die Exporte in beide Län- DIE GRÜNEN) der wieder mit Hermesbürgschaften abgesichert werden können. Wir geben großvolumige Hermesbürgschaften für Wir haben enorme Anstrengungen unternommen, um Exporte nach Russland. In diesem Jahr haben wir Exporte die Erdölversorgung so sicher wie möglich zu machen. in den Iran im Wert von 1,6 Milliarden DM verbürgt. So Wir wollen, dass sich die Strompreise vernünftig ent- werden wir Land für Land, egal, ob es sich um ein großes wickeln. oder kleines Land handelt, abarbeiten. All das, was wir als (Zuruf von der CDU/CSU: Stromsteuer!) Hinterlassenschaft vorgefunden haben, wird systematisch aufgearbeitet. Nach vier Jahren werden wir den allermeisten Wir haben auf dem deutschen Strommarkt für Wettbe- Ländern wieder Exportbürgschaften geben können. werbsvorteile in der Größenordnung von 15 Milliar- den DM gesorgt. Einen Teil davon verwenden wir für die (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Förderung der Erzeugung von Strom aus regenerativen DIE GRÜNEN – Hans Georg Wagner [SPD]: Energieträgern. Immerhin! Sie haben das nicht gemacht! Davon wollen diese Volksverhetzer nichts wissen!) Meine Redezeit geht zwar langsam zu Ende. Aber ich möchte noch kurz auf die Industriepolitik zu sprechen Wir brauchen mehr Informationen über die Export- kommen. In der Industriepolitik müssen wir beispiels- märkte. Deswegen haben wir eine Bundesagentur für weise dafür sorgen, dass in der mittelfristigen Perspektive Außenhandelsinformation aufgebaut, die der deutschen Deutschland als Standort für die Chemieproduktion inte- Wirtschaft zur Verfügung steht. ressant bleibt. (B) (Zuruf von der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (D) – Sie müssen einmal zuhören. Das ist das, was wir ma- DIE GRÜNEN) chen. Das ist unsere Konzeption. Das ist Wirtschaftspoli- Das erfordert im Rahmen der EU enorme Anstrengungen. tik in der Sache. Wir müssen außerdem dafür sorgen, dass die Luftfahrt- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ forschung in unserem Land so attraktiv bleibt, dass der DIE GRÜNEN) A 380 wie vorgesehen gebaut und gefördert werden kann. Ein weiteres Thema ist die Digitalisierung der Wirt- (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Machen!) schaft. Dafür ist ein kompatibler Rechtsrahmen notwen- Wir haben des Weiteren das Thema Werften in Arbeit. dig. Wir müssen beispielsweise für E-Commerce und für Ich gebe zu, es ist etwas enttäuschend, dass die Wieder- die digitale Signatur – das ist bereits geschehen – einen einführung der Werftenhilfe wegen des Widerstandes solchen Rahmen schaffen. Frankreichs verschoben werden musste. Aber immerhin Ein anderes wichtiges Feld ist die Energiepolitik; haben wir in diesem Jahr regeln können, dass die Begren- denn eine funktionierende Energieversorgung ist eine zung der Kapazitäten der Werften durch Quoten hinfällig zentrale Voraussetzung sowohl für jedermann als auch ist. Dieses Damoklesschwert schwebt nun nicht mehr insbesondere für die mittel- und langfristige Wirtschafts- über den ostdeutschen Werften. entwicklung. Vor diesem Hintergrund haben wir bei- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten spielsweise den langen Streit über die Kernenergie dahin des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) gehend befriedet, dass die Nutzung dieser Energie in der längerfristigen Perspektive ausläuft und durch die Nut- Stichwort Steinkohle: Die Steinkohleförderung ist zung anderer Energien ersetzt wird. schon von sich aus energiepolitisch bedeutsam. Aber sie ist erst recht für die deutsche Industrie energiepolitisch (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ bedeutsam; denn Deutschland ist weltweit führend in der DIE GRÜNEN) Entwicklung von Steinkohlefördertechniken. Wir fördern die regenerativen Energien in erheblichem (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Ausmaß. Es wird weltweit immer mehr Steinkohle abgebaut. Infol- (Friedrich Merz [CDU/CSU]: Sagen Sie doch gedessen gibt es auf dem Weltmarkt eine riesige Nach- etwas zu Ihrem Energiebericht! Ist das ein Cha- frage nach Steinkohlefördertechniken und nach Verstro- osbericht, oder was?) mungstechniken, die die Umwelt so wenig wie möglich 20554 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001

Bundesminister Dr. Werner Müller (A) belasten. Deutschland ist in beiden Disziplinen führend. Handwerksordnung regelt bisher nur, wie man in die Hand- (C) Der Weltmarkt fragt, wie gesagt, die entsprechenden werksrolle eingetragen wird. Wie man aus ihr wieder aus- Techniken in großem Umfang nach. getragen wird, das regelt sie noch nicht. Ich bin bereit, den Rechtsrahmen dafür zu schaffen, dass man jedes schwarze (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Schaf im Handwerk aus der Handwerksrolle streichen kann. DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Das alles ist konkrete Wirtschaftspolitik. Das geschieht der PDS – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Müller Jahr für Jahr. Das steht nicht jeden Tag in den Schlagzeilen; droht dem Handwerk!) das ist auch nicht notwendig. Es reicht, wenn einmal in den Schlagzeilen steht: „Der Körperschaftsteuersatz ist enorm Alle diese Dinge in der Wirtschaft müssen geregelt wer- gesenkt worden“ oder: „Die Einkommensteuer wird ge- den, zur Not eben durch den Gesetzgeber. senkt“. So etwas steht groß in den Zeitungen. Mit diesen Alles in allem: Die wirtschaftliche Lage ist nicht so Maßnahmen haben wir für die dringend notwendigen Rah- schlecht, wie Sie sie darstellen. Sie werden erleben, dass mendaten gesorgt. Aber das ist nun erledigt. Die Stufen der wir im nächsten Jahr langsam wieder in einen Auf- Steuerreform sind gesetzlich bis 2005 festgelegt. schwung hineinkommen, Ich möchte den Rest meiner Redezeit verwenden, um (Zuruf von der CDU/CSU: Wem gehört dann darauf hinzuweisen, dass manchmal auch Gesetze ge- der Aufschwung?) macht werden müssen, denen der Wirtschaftsminister et- was skeptisch gegenübersteht. wahrscheinlich zu langsam; aber der Aufschwung wird da sein. In den vier Jahren, in denen wir regiert haben wer- Ich bin nicht unbedingt der Meinung, dass man ein den, werden wir im Schnitt etwa 1,71 Prozent Wirt- Tariftreuegesetz zwingend braucht. Die Fälle, die mir schaftswachstum gehabt haben. Sie haben von 1992 bis immer wieder vorgelegt werden, lassen aber wohl keinen 1998 im Schnitt 1 Prozent gehabt. anderen Weg zu. Ich weiß auch nicht, was wir machen sollen, wenn es in der Wirtschaft systematischen Mehr- (Friedrich Merz [CDU/CSU]: Würdelos, was wertsteuerbetrug gibt. Wieso muss die Politik eigentlich Sie da machen! Sehen Sie zu, dass Sie die durch Verordnungen etc. regeln, was in der Wirtschaft Grundsatzabteilung wiederkriegen!) – sagen wir einmal – an Beschiss läuft? Wenn die Wirt- Sie standen schon von 1992 bis 1998 am europäischen schaft nicht in der Lage ist, den Betrug bei den Sozial- Ende. Aber das darf man Ihnen nicht sagen. abgaben, den Betrug bei der Mehrwertsteuer etc. selbst in den Griff zu bekommen, dann bleibt wohl kein anderer Vielen Dank. Weg. Staatliche Regulierung ist das Spiegelbild man- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (B) gelnder Selbstregulierung der Wirtschaft. (D) DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Zu einer Wenn wir ein Tariftreuegesetz machen, dann natür- Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Rainer lich auch deshalb, weil Bayern es gemacht hat und weil Brüderle das Wort. Bayern im Bundesrat den Bund aufgefordert hat, das gleichfalls zu machen. Noch einmal: In unserem Land kann Rainer Brüderle (FDP): Herr Minister Müller, Sie ha- nicht toleriert werden, dass Busfahrer, die von irgendwoher ben eine Reihe von Einzelmaßnahmen genannt. Natürlich kommen, für 5 DM pro Stunde angestellt werden. Auch Be- ist es gut, wenn es Messeförderung oder Technologie- trug bei den Sozialabgaben kann nicht toleriert werden. förderung gibt. Aber der Kernpunkt für den Mittelstand ist Zum Thema Schwarzarbeit. Wer macht denn Schwarz- doch, dass man ihm die Möglichkeit gibt, neue Entwick- arbeit? Am meisten klagt das deutsche Handwerk über die lungen anzupacken. Da hilft es nicht, wenn Sie bei der In- Schwarzarbeit. Ich darf Ihnen versichern: Ich arbeite novationsförderung nach Gutsherrenart einen Zuschuss nachts und auch am Wochenende nicht schwarz. gewähren. Notwendig ist es, dem Mittelstand von den Rahmenbedingungen her, durch steuerliche Entlastung, (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Auch durch Entbürokratisierung, grundsätzlich die Hände sonst nicht?) frei zu machen, damit er das Notwendige anpacken kann. Ich kenne auch niemanden in der Bundesregierung, der Das muss der Kernpunkt einer Mittelstandspolitik sein. das tut. Schwarzarbeit wird von Fachleuten gemacht. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Wenn das Handwerk die Schwarzarbeit bekämpfen will, der CDU/CSU) dann soll das Handwerk Schwarzarbeit in den eigenen Reihen bekämpfen. Die Fülle von technischen Einzelmaßnahmen soll davon ablenken – so kommt es mir jedenfalls vor –, dass die (Beifall bei der SPD – Ernst Hinsken [CDU/ Grundorientierung nicht stimmt. CSU]: Aber Herr Müller! Das ist doch billig! – Hans Michelbach [CDU/CSU]: Handwerks- Ihr Satz „Das Handwerk soll die Schwarzarbeit be- beschimpfung!) kämpfen“ ist bemerkenswert. Wenn dafür ein Rechtsrahmen notwendig ist, dann – das (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist eine biete ich ausdrücklich an – werden wir ihn schaffen. Die Drohung an das Handwerk!) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20555

Rainer Brüderle (A) Das ist genauso wie bei der Bauabzugsteuer. Der Staat Eindruck entstanden ist, ich sei ein „Handwerksbe- (C) macht Gesetze, die nicht praktikabel sind, die nicht schimpfungsminister“, dann sage ich Ihnen deutlich: Kor- anwendbar sind, überzieht bei der Abgabenquote – dem rigieren Sie Ihren Eindruck! Ich besuche wöchentlich durchschnittlichen Arbeitnehmer werden von 1 DM Mehr- Meisterfeiern. Ich weiß, wovon ich spreche. verdienst 67 Prozent abgezogen – und als Belohnung dafür, dass man solche Horrorbedingungen bekommen (Beifall bei Abgeordneten der SPD – hat, soll man für die Bekämpfung des Unsinns, der Ge- Widerspruch bei der CDU/CSU) setzeskraft erlangt hat, auch noch selbst verantwortlich – Gestern war ich auf einer Meisterfeier in . sein. Das deutsche Handwerk hat es nicht verdient, dass man es so behandelt. So können Sie das nicht anpacken! (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Da haben Sie aber anders geredet als heute!) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dort habe ich vor 400 oder 500 Personen haargenau das- selbe gesagt. Das Handwerk beklagt die Schwarzarbeit. Zum Tariftreuegesetz: Dazu haben Sie gesagt, dem Das ist richtig. Es ist phänomenal, dass Sie den Hinweis „Beschiss“ in der Wirtschaft solle damit entgegen- darauf in Ihrer heutigen Rede ausgelassen haben; gewirkt werden. Vorhin hat Herr Eichel den Zustand in der Bauwirtschaft beklagt. Kollege Schulz hat gesagt, (Michael Glos [CDU/CSU]: Jetzt wird einem dass das ein Kernpunkt der Wirtschaftsmisere ist. Mit dem auch noch vorgehalten, was man nicht sagt! – Tariftreuegesetz nehmen Sie den ostdeutschen Baubetrie- Heiterkeit) ben doch jede Chance. denn Sie reden meistens – das entspricht Ihnen – über die (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Schattenwirtschaft. Wer macht in diesem Land denn Schwarzarbeit? Ich tue es nicht und Sie tun es auch nicht. Die leben nur deshalb, weil sie außerhalb des Tarifver- Ich frage allerdings Schwarzarbeit auch nicht nach; mehr tragsrechts agieren. Keine der Gewerkschaften geht da ran – aus gutem Grund. Den Betrieben nehmen Sie jetzt sage ich dazu nicht. jede Chance, weil sie zu den Konditionen des Tariftreue- Wenn das Handwerk tatsächlich unter Schwarzarbeit gesetzes gar nicht anbieten können. Damit schließen Sie leidet – Klammer auf: das ist so, Klammer zu –, dann die ostdeutschen Baubetriebe von öffentlichen Aufträgen muss man mit den Handwerksbetrieben darüber reden, aus. Dabei geht es denen schon dreckig genug. wie in ihren eigenen Reihen die Schwarzarbeit bekämpft (Beifall bei der FDP) werden kann. Ich habe gesagt, dass ich dafür gerne hel- fend zur Verfügung stehe. Wenn Sie mich als „Hand- Jetzt nehmen Sie ihnen das bisschen Chance, das sie noch werksbeschimpfungsminister“ titulieren, weil ich darauf (B) haben, auch noch weg. Diese Betriebe haben nur die hinweise, dass Schwarzarbeit auch von Fachleuten ge- (D) Chance, mithilfe besserer Konditionen und anderer Ein- macht wird, dann kann ich Ihnen wirklich nicht helfen. stellungen auf den Markt zu kommen. Um es deutlich zu sagen: Ich will dem Handwerk helfen, Nicht überall, wo „sozial“ draufsteht, lieber Herr und zwar nicht mit dummen Sprüchen. Müller, ist auch „sozial“ drin. Sie sollten – mich besorgt, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ dass das nicht so ist – das ordnungspolitische Gewissen DIE GRÜNEN) dieser Regierung sein. Dass manches Detail im Ministe- rium für Fehlentwicklungen sorgt, ist bedauerlich; aber der Vertreter des Bereichs Wirtschaft sollte mit der Stimme der Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort Vernunft – er nennt sich schließlich Wirtschaftsminister hat jetzt der Kollege Hartmut Schauerte von der CDU/ und nicht „Handwerksbeschimpfungsminister“ – ange- CSU-Fraktion. sichts solcher Regelungen aufstehen und sagen: So nicht! (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Hartmut Schauerte (CDU/CSU): Herr Präsident! der CDU/CSU) Meine Damen und Herren! Herr Minister Müller, wir wären Ihnen sehr dankbar dafür, wenn Sie dem Handwerk Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr nicht mit dummen Sprüchen, sondern mit klugen Ent- Bundesminister, wollen Sie erwidern? scheidungen helfen würden. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Dr. Werner Müller, Bundesminister für Wirtschaft Abgeordneten der FDP) und Technologie: Ja. Doch davon können wir wirklich wenig feststellen. Sie (Hubertus Heil [SPD]: Eigentlich sollte man haben Ihre Rede mit der Bemerkung begonnen, dass Sie auf solch einen Quatsch nicht antworten!) sich keine Sorgen um Ihre Position machen. Diese Frage ist völlig unerheblich. Außerdem wissen wir, dass Sie gut versorgt sind. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Bitte schön. (Michael Glos [CDU/CSU]: Versorgungs- wirtschaft!) Dr. Werner Müller, Bundesminister für Wirtschaft Ihre Aufgabe ist es, sich Sorgen um die Wirtschaft und die und Technologie: Herr Brüderle, wenn bei Ihnen der Arbeitsplätze in Deutschland zu machen. 20556 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001

Hartmut Schauerte (A) Sie sagten, dass Sie Ihre Rede mit einer vernünftigen theoretisch dazu durchringen könnte, einen Mitarbeiter (C) Analyse beginnen wollen. Ich konnte diese Analyse nicht einzustellen, hätten wir in Deutschland zu wenig Ar- im Ansatz erkennen. beitslose. Wenn diese 3,3 Millionen Selbstständigen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – aber Sorge haben, sich schlecht behandelt fühlen, unzu- Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Er war nicht frieden sind, Zukunftsangst haben und sich jeder von ih- vorbereitet!) nen überlegen würde, einen zu entlassen, hätten wir nicht genug Wasser im Rhein, um den Brand der Ver- Seitdem die Grundsatzabteilung nicht mehr in Ihrem doppelung der Arbeitslosigkeit löschen zu können. Das Hause angesiedelt ist, ist offensichtlich jede analytische ist die Situation. Fähigkeit abhanden gekommen. Genau diesen 3,3 Millionen Unternehmern in Deutsch- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und land verweigern Sie bei Ihrer Steuerreform konsequent der FDP) steuerliche Vorteile. Sie sagen: Die können nicht weg- Am Ende Ihrer Rede sagten Sie nur: Wir wollen, wir müs- laufen wie die Großen; deswegen bekommen sie die Vor- sen, wir sollten, wir planen. teile erst im Jahre 2005. Diejenigen, die weglaufen kön- nen, bekommen sie schon im Jahre 2002. Nach dreieinhalb Jahren werden Sie an Ihren Ergeb- nissen gemessen. Was ist dabei herausgekommen? Um es (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Genau so ist es!) wirklich polemisch zu formulieren und gleich am Anfang klarzustellen: Ihre Politik ist nicht nur parteilos, sondern Der Mittelstand hat lebenslänglich Deutschland; also sie ist auch nutzlos, zwecklos, ratlos, konzeptionslos und kann man ihn schlechter behandeln. Das ist Ihre Politik. sie ist ein Schaden für Deutschland, für unseren Standort, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) für Arbeitsplätze, Wohlstand, Gewinne und alle Verän- derungen, die wir brauchen. Deswegen kommen wir auf diesem Weg nicht weiter. Sie müssen umkehren und neu anfangen, falls Sie das (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) theoretisch, intellektuell und durchsetzungsmäßig in Ihrer Die Ergebnisse sind eindeutig: Alles, was schlecht ist, Parteistruktur, für die Sie trotz aller Parteilosigkeit stehen, alles, was die Menschen nicht brauchen können und was leisten können. sie nicht haben wollen, vermehrt sich zurzeit, nämlich die Zum Wachstum: Wir haben die rote Laterne. Natürlich Steuerquote, die Verschuldung, die Abgabenhöhe, die sind die Konjunkturläufe rauf- und runtergegangen. Zum Energiepreise, die Zahl der Arbeitslosen und die Pleiten. Beispiel ist Deutschland heute von der Entwicklung in All diese Elemente vermehren sich kontinuierlich. Sie Amerika weniger abhängig als jemals zuvor. (B) und die Sprecher der SPD stellen sich hier hin und sagen: (D) Wir wollen an unserem erfolgreichen Kurs der Politik der (Dr. Ditmar Staffelt [SPD]: Sie haben noch ruhigen Hand langfristig festhalten. Wie passt das denn nicht einmal das Gutachten des Sachverstän- zusammen? Wenn sich die Dinge so entwickeln, muss digenrates gelesen!) man bereit sein, nachzudenken, zu korrigieren und nach neuen Ansätzen zu suchen. Sie verweigern die Wahrneh- Wir exportieren mittlerweile in die GUS-Nachfolge- mung der Realität. Das ist unerträglich und schädlich. staaten so viel wie in die amerikanischen und kanadi- Deswegen sage ich noch einmal: parteilos, ratlos, nutzlos. schen Wirtschaftsräume: in beide Blöcke etwa für 90 Milliarden Dollar. Hier ist etwas ganz Neues hinzu- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- gekommen. Die Gewichte haben sich verschoben. Den- neten der FDP – Ernst Hinsken [CDU/CSU]: noch scheinen wir abhängiger zu sein. Sie warten auf das Bald amtlos!) Wunder von Amerika. Warum muss denn eigentlich im- Die Dinge, die wir haben wollen, gehen nach unten: mer Amerika die Lokomotive sein? Kann nicht auch ein- Wachstum, Investitionen, Realeinkommen, Rentenein- mal Europa und in Europa Deutschland die Lokomotive nahmen. All dies geht nach unten. Die Bilanz ist verhee- sein? Wäre das nicht auch ein Beitrag zur uneinge- rend. Sie war schon – wir haben das Zehnpunktepro- schränkten Solidarität, anstatt zu warten, dass die Ame- gramm schon im Juni eingebracht – lange vor den rikaner das machen? Terroranschlägen verheerend. Diese Bilanz war angelegt und hat nur sehr wenig mit dem zu tun, was in Amerika (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) passiert ist. Sie ist dadurch vielleicht ein wenig ver- In Amerika wird das World Trade Center zerstört und schlimmert worden; aber die Abwärtsbewegung war be- Amerika lockert die Rahmenbedingungen für seine Wirt- reits durch Ihre katastrophalen Fehlentscheidungen im schaft. Was aber macht Deutschland? Deutschland ist Umgang mit Wirtschaft und Mittelstand in Zement ge- weltweit das einzige Land, das auf die Terroranschläge gossen. mit Steuererhöhungen reagiert. Dies geschieht geradezu (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) reflexhaft. Sie können nicht anders, als über Steuererhö- hungen zu denken und zu planen. Was da passiert, ist un- Lassen Sie mich ein Bild bezogen auf die Arbeitslo- erträglich falsch! sigkeit nennen, Herr Minister Müller. Wir haben in Deutschland 3,3 Millionen Selbstständige. Wenn die Mut (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – haben und wissen, dass es nach vorn geht, wenn die Op- Wolfgang Weiermann [SPD]: Herr Schauerte, timismus haben und sich jeder vor diesem Hintergrund das war jetzt aber kopflos!) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20557

Hartmut Schauerte (A) Sehen wir uns einmal die Wirtschaftswachstumsdaten len. Ich frage Sie jetzt einmal ganz redlich: Welche Quelle (C) an: Seien Sie heilfroh, dass es noch ein paar ordentlich re- allein hätten Sie denn genommen? gierte Bundesländer in der Bundesrepublik Deutschland (Hans Georg Wagner [SPD]: Vielleicht die gibt. Schwarzgelder der CDU! – Gegenruf des (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Bayern!) Abg. [CDU/CSU]: Blödmann!) Ohne Bayern, ohne Baden-Württemberg und ohne Hätten Sie keine Verschuldung gemacht? Hätten Sie die Hessen hätten wir in Deutschland ein regelrechtes Minus- Steuern nicht erhöht? Hätten Sie die Beiträge gesenkt? wachstum. Dort, wo wir regieren – sowohl in den neuen Oder was hätten Sie gemacht? Es ging nur im Dreiklang, als auch in den alten Bundesländern –, ist das Wirt- es war nicht anders möglich. Es ist unredlich, diese Frage schaftswachstum doppelt so hoch wie in den von Ihnen der Verschuldung so zu behandeln, wie Sie es tun. Sie ist regierten Bundesländern. Rot-Rot lässt noch einmal extra für eines der besten Projekte der deutschen Geschichte grüßen. Herr Staffelt, herzlichen Glückwunsch zur entstanden, die Wiedervereinigung. Berliner Entwicklung! (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Michael Glos [CDU/CSU]: Das wird ein Darauf sind wir stolz und wir sind nicht bereit, den Kopf schlimmer Staffellauf werden!) unter den Arm zu nehmen. Es war nicht anders möglich. Da bekommen Sie richtig Spaß. Was Sie mit Ihrer Koali- Ich warte auf kluge Vorschläge, wie Sie es gemacht hät- tion falsch machen, wird sehr wahrscheinlich der Rest ten. der Republik finanzieren müssen. Ich sehe das schon Ich sage noch einmal: Die Entwicklung ist besorgnis- kommen. Über diese Frage lassen Sie uns einmal disku- erregend. tieren. (Wolfgang Weiermann [SPD]: So ein Quark!) (Beifall bei der CDU/CSU) Ändern Sie den Kurs und reden Sie sich nicht mit dem Dort, wo Rot-Rot regiert, sind die Arbeitslosenzahlen Hinweis auf die Bauwirtschaft heraus, damit da keine doppelt so hoch und ist das Wachstum doppelt so schlecht. falschen Legendenbildungen entstehen, Herr Müller und Das bestätigt: Von Wachstum und Wirtschaftswachstum Herr Eichel. verstehen wir mehr. (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Der soll seinen Hut nehmen!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Kol- lege Schauerte, erlauben Sie eine Zwischenfrage der Kol- Auch wenn wir die Bauwirtschaft herausrechnen, kom- (B) legin Dr. Luft? men wir zu diesem Ergebnis. Die EU hat in den ersten drei (D) Quartalen des Jahres 2001 ein durchschnittliches Wachs- tum von 1,8 Prozent, Deutschland hat 1,6 Prozent Wachs- Hartmut Schauerte (CDU/CSU): Nein. Dazu möchte tum, Frankreich 2,1 Prozent, Italien 1,8 Prozent, Spanien ich wirklich sagen: Das ist für mich Luft. Das möchte ich 2,2 Prozent. Selbst wenn wir die Bauwirtschaft heraus- nicht. rechnen, bleibt Deutschland nach drei Jahren sozialdemo- Gnädige Frau, die Verschuldung in Deutschland, über kratischer und grüner Wirtschaftspolitik Schlusslicht. die wir hier reden, ist zum größten Teil durch die Besei- (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. Antje tigung der Schäden entstanden, die Sie mit Ihren Freun- Vollmer) den vorher angerichtet haben. Das ist der Punkt. Die wirtschaftsstärkste Nation im EU-Raum hat die rote (Beifall bei der CDU/CSU – Rolf Kutzmutz Laterne, das ist ein Armutszeugnis sondergleichen. Wir [PDS]: Wie Sie mit Ihren in Berlin!) reden über Ihre Arbeitslosen, wir reden über Ihre Pleiten, Lassen Sie mich an der Stelle noch etwas zur Ver- über 33 000 wirtschaftliche Zusammenbrüche. schuldungslage sagen, weil Herr Eichel das ja in Pepita- manier immer wieder kleinkariert vorträgt. Was haben wir Vizepräsidentin Dr. : Herr Kollege bei der Wiedervereinigung denn gemacht? Wir haben die Schauerte, Sie reden jetzt in der Zeit Ihres Nachredners. Wiedervereinigung aus drei Quellen bezahlt, aus den ein- zigen Quellen, die der Staat hat. (Dr. Ditmar Staffelt [SPD]: Schon wieder die Zeit von Herrn Müller!) (Hans Georg Wagner [SPD]: Sozialversiche- rung! – Wolfgang Weiermann [SPD]: Renten- – Ich bin dankbar, dass Herr Müller unsere Zeit nicht be- kasse!) kommen hat. Das wäre sein persönliches Unglück gewe- sen. Er hätte sich ja um Kopf und Kragen geredet, wenn Die erste Quelle sind die Beiträge, die zweite sind die er noch mehr Zeit gehabt hätte. Steuern und die dritte ist die Verschuldung. Ich breche ab. (Zuruf von der SPD: Bei Steuern haben Sie nichts gemacht!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) In allen drei Quellen haben wir Veränderungen be- Wir haben 33 000 Pleiten und allein deswegen über schließen müssen, um die Wiedervereinigung zu bezah- 500 000 Arbeitslose. Handeln Sie, korrigieren Sie Ihre 20558 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) falschen Politikansätze. Sonst wird der Wähler handeln Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat (C) und Sie am 22. September mit guten Gründen abwählen. jetzt der Abgeordnete Ditmar Staffelt. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dr. Ditmar Staffelt (SPD): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich darf zunächst ein- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Zu einer Kurz- mal feststellen, dass ich leider Gottes nicht viel Neues intervention erhält jetzt die Frau Kollegin Luft das Wort. gehört habe und vor allem eines konstatieren musste: Of- fenbar hat die gesamte Opposition nicht eine Minute dar- Dr. Christa Luft (PDS): Danke, Frau Präsidentin. – auf verwandt, das Gutachten des Sachverständigenra- Herr Kollege Schauerte, wenn Sie mit meinem Namen tes zu lesen, spielen und meinen, ich sei für Sie Luft: Sie sind für mich (Michael Glos [CDU/CSU]: Wenn Sie es gele- wirklich schauerlich. sen hätten, hätten Sie es nicht verstanden!) (Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten das sehr wohl Auskunft darüber gibt, wie es mit der Ge- der SPD – Michael Glos [CDU/CSU]: Sie sind staltung der Wirtschafts- und Finanzpolitik durch diese eine Luftnummer!) Regierung aussieht. Das nur nebenbei. (Beifall bei der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb Sie haben offenbar verschlafen, in den letzten Monaten [FDP]: Dann zitieren Sie es vollständig!) die Arbeitslosenstatistiken der einzelnen Bundesländer Dass das alles noch mit einer Polemik garniert wird, die zu verfolgen. Sonst hätten Sie so eben nicht behaupten die Sozialdemokratie und die deutsche Einheit in ein können, die rot-rot regierten oder rot-rot tolerierten Län- Licht rücken, das ahistorisch ist, kann nicht akzeptiert der seien in der Entwicklung der Arbeitslosenzahlen nach werden und ist eine Sauerei, Herr Merz. Das merken Sie wie vor die Schlusslichter. Ich darf Sie darauf hinweisen, sich einmal! dass die Arbeitslosenquote des Freistaates Sachsen, seit elf Jahren allein von der CDU regiert, inzwischen nur (Beifall bei der SPD) noch 0,5 Prozentpunkte hinter der Arbeitslosenquote von Diesen Versuch haben Sie hier schon einmal unternom- Mecklenburg-Vorpommern liegt, nämlich bei 17 Prozent, men. Unter Demokraten ist es eine Unverfrorenheit, die- Mecklenburg-Vorpommern hat 17,5 Prozent. Ich darf Sie ses immer wieder in den Mittelpunkt zu stellen. darauf hinweisen, dass das Bundesland Sachsen-Anhalt, SPD-regiert und von der PDS toleriert, gegenüber dem (Zurufe von der CDU/CSU) Monat November des letzten Jahres die Arbeitslosigkeit (B) Sie haben sich an einer Stelle der Auseinandersetzung zu (D) um 0,6 Prozentpunkte senken konnte, was man von CDU- stellen, nämlich bei der Frage, ob bei dem Dreiklang, von regierten Ländern nicht sagen kann. dem hier gesprochen wurde, nicht falsche Akzente gesetzt Zweitens. Wenn Sie auf Schulden aus der Vergan- wurden, ob nicht diejenigen, die die Beiträge zur Renten- genheit anspielen, muss ich Sie darauf hinweisen, dass versicherung zahlen, durch die deutsche Einheit über- Berlin, die deutsche Hauptstadt, inzwischen 80 Milliar- mäßig belastet worden sind, den DM Schulden hat. Das ist im Übrigen das Vierfache (Beifall bei Abgeordneten der SPD – dessen, was die DDR netto an Auslandsschulden hatte. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ist aber nichts ge- Die Schulden allein der Bundeshauptstadt sind viermal so gen die SPD beschlossen worden!) hoch wie die Auslandsschulden der DDR und davon stammt die Hälfte aus den Wohnungsbauschulden West- ob nicht Steuerabschreibungstatbestände geschaffen wor- . Dieses West-Berlin wurde jahrzehntelang von der den sind, die überdimensioniert waren und heute aller- CDU regiert. orten zu Pleiten und Pannen führen. (Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/ (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ CSU]: War die SPD nicht dabei?) DIE GRÜNEN) Darauf darf ich Sie hinweisen. Sie dürfen bitte nicht jede Das sind Fragen, mit denen Sie sich ehrlicherweise aus- Debatte dazu nutzen, neue Legenden zu spinnen. Die einander setzen müssen. Dann können wir gerne wieder glaubt Ihnen inzwischen niemand mehr. ins Gespräch kommen. (Beifall bei der PDS) Ich will ein Weiteres anführen – auch dieser Punkt wird immer wieder bei Polemiken vorgetragen –, nämlich dass wir nach den Ereignissen des 11. September im Gegen- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Schauerte, satz zu allen anderen Staaten Steuererhöhungen realisiert möchten Sie antworten? haben. Niemand in der deutschen Wirtschaft, an der Spitze die Präsidenten und Vorstände der deutschen Groß- Hartmut Schauerte (CDU/CSU): Nein. und Außenhandelsverbände, hat behauptet, dies sei uner- träglich. Das wird in der Wirtschaft gar nicht diskutiert. (Hans Georg Wagner [SPD]: Dem bleibt Das ist selbstverständlich und fällt überhaupt nicht auf. die Spucke weg! Schauerte bleibt die Luft weg!) (Lachen bei der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20559

Dr. Ditmar Staffelt (A) Diese Maßnahme dient dazu, uns in die Lage zu verset- Ich will hier darüber hinaus ausdrücklich das Bekennt- (C) zen, das eigentliche Esse zu finanzieren, nämlich unsere nis zum Ausdruck bringen, dass wir sehr wohl analog zu eigene Sicherheit, und draußen dort helfen zu können, wo den Aussagen des Sachverständigenrats handeln wollen. wir helfen wollen, um den Weltfrieden zu bewahren. Der Bundesminister für Wirtschaft hat es deutlich ge- macht: Mit der Konsolidierung, mit der Steuerreform und (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ natürlich auch mit dem, was wir in Sachen Rentenreform DIE GRÜNEN – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: und an Akzentuierung im Bereich von Bildung und For- Das ist doch schönreden!) schung realisiert haben, ist unsere Politik darauf gerichtet, Lassen Sie mich zur Sache zurückkommen: Sie, meine Anreize für mehr Wagnisbereitschaft, Leistung und Ler- Damen und Herren, haben – das muss man hier einmal nen zu mobilisieren. Ihnen, meine Damen und Herren von aufarbeiten – sich noch vor wenigen Wochen hingestellt der Opposition, gleiten ja immer wieder genau die Maß- und gesagt: Wir brauchen Konjunkturprogramme. nahmen durch die Hände, die wir hier durchgezogen ha- ben: Solidarpakt II, „Bauen jetzt“, Verzicht auf Abschrei- (Friedrich Merz [CDU/CSU]: Niemals! bungstabellen, Schuldrechtsmodernisierung sowie ein Niemand!) neues Übernahmegesetz und damit die Schließung einer Von all Ihren Rednerinnen und Rednern haben wir gehört, wichtigen Gesetzeslücke. dass sie die Steuerreform vorgezogen haben wollen. Der Bundeskanzler hat – Sie waren dabei – erst vor (Zurufe von CDU/CSU und der FDP) zwei Tagen beim Zentralverband des Deutschen Hand- werks sein persönliches Engagement in Sachen Basel II Schauen Sie bitte einmal in das Gutachten des Sachver- erklärt. Ich finde, es ist ein ganz wichtiger Akzent, dass ständigenrates. Selten hat es eine so einmütige Aussage der Regierungschef sich hinter unsere Forderung stellt, gegeben: Keine Konjunkturprogramme, kein Vorziehen dem Mittelstand international unter die Arme zu greifen. der Steuerreform – das ist das Urteil der Experten. Daran sollten Sie sich, meine Damen und Herren, einmal aus- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ richten. DIE GRÜNEN – Michael Glos [CDU/CSU]: Das war gut! Das hat er richtig gemacht!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Wir müssen aber – blenden Sie das bitte nicht aus – Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Sie suchen auch erwarten, dass sich die Unternehmen in die Pflicht sich die Experten mittlerweile aus!) nehmen lassen. Es darf nicht sein, dass sich die Unter- nehmen nach dem 11. September kurzerhand von Mitar- Der Titel des Gutachtens heißt – der Kollege Schulz hat beiterinnen und Mitarbeitern trennen und dieses Vorgehen das im Wirtschaftsausschuss sehr schön entwickelt – „Für mit diesem unsäglichen Ereignis verbrämen, in Wahrheit Stetigkeit – gegen Aktionismus“. Das, was Sie hier vor- (B) aber nichts weiter tun, als harte Rationalisierung durch- (D) tragen – schauen Sie sich Ihre Anträge an –, ist nichts an- zuziehen. Ich fordere darüber hinaus auch ganz entschie- deres als blinder Aktionismus. Sie leiern altbekannte Vor- den, dass sich die Unternehmerinnen und Unternehmer schläge herunter, die sie im Übrigen schon vor 1998 endlich auch der Frage der Überstunden annehmen und längst hätten umsetzen können. Überstunden da, wo es irgend geht, reduzieren. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) DIE GRÜNEN) Wir jedenfalls befinden uns in bester Gesellschaft: mit Lassen Sie sich noch mit einem weiteren Punkt kon- dem Internationalen Währungsfonds, mit der OECD und frontieren. Wir hatten im Jahr 2000 ein dynamisches mit der EU. Ich sehe überhaupt gar keinen Grund, diese Wachstum von 3 Prozent. Haben Sie sich einmal ange- Gesellschaft zu verlassen und sie etwa gegen Ihre auszu- schaut, wie die Wachstumsraten in den 90er-Jahren wa- tauschen. Das würde uns gerade noch fehlen. ren? Ich habe einmal herausgesucht, wie es für Deutsch- Wir brauchen also Vertrauen auf stabile Rahmenbedin- land in den 90er-Jahren im Vergleich stand. Natürlich hat gungen und kein Stop-and-Go. Deutschland eine schwache Position in Sachen Wachs- tumsraten gehabt, und zwar wegen der Probleme, die die Ich will es zusammenfassen: Hätten wir die Steuer- deutsche Einheit als eines der größten Investitionspro- reformstufen vorgezogen, dann hätte das 45 Milliar- gramme, die es gibt, mit sich gebracht hat. Dies aber heute den DM weniger für den Haushalt bedeutet. Hätten wir nach dem Motto auszuschlachten, wir stünden hinter Ita- den Spitzensteuersatz weiter abgesenkt, wären das wei- lien, ist durch nichts gerechtfertigt; denn Sie selbst haben tere 5 Milliarden DM weniger gewesen. Das macht ausweislich dieser Statistiken über Jahre hinweg hinter 50 Milliarden DM weniger für den Bundeshaushalt. Dies Italien rangiert, was Ihre Wachstumsraten betrifft. An die- ist durch nichts aufzufangen. Ich sage Ihnen: Wer auf ser Stelle gibt es also ein strukturelles Problem, das auch Pump lebt, der gefährdet Vertrauen, bringt keine ent- etwas mit der besonderen Lage in Deutschland zu tun hat, scheidenden Impulse und beschädigt die Position der nicht aber eines, das wir als hausgemacht auf einzelne Re- deutschen Wirtschaft und der Bundesrepublik Deutsch- gierungen abwerfen können. land im europäischen Konzert. Jetzt will ich – gerade vor dem Hintergrund des Weih- (Beifall bei der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb nachtsfestes, das uns bevorsteht – auch noch die positiven [FDP]: Sie wollen nur Ihre Untätigkeit verber- Dinge nennen. gen, Herr Staffelt, das ist alles! Aber das hilft Ih- nen nicht!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) 20560 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001

Dr. Ditmar Staffelt (A) Das „Handelsblatt“ von gestern hat mit einer wunderba- ich stehe der Bürokratie skeptisch gegenüber und habe (C) ren Überschrift – „Konjunktur vor der Wende“ – Ihre De- deshalb die Finanzämter angerufen. batte eigentlich obsolet gemacht. (Rainer Brüderle [FDP]: Rufen Sie mal die (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Betriebe an!) BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich habe erfahren, dass es offenbar funktioniert: Man Da heißt es so schön, der konjukturelle Tiefpunkt in stellt einen formlosen Antrag und innerhalb weniger Tage Deutschland sei nach Einschätzung des Kieler Instituts bekommt man eine Freistellungserklärung. Ein Stück für Weltwirtschaft erreicht. Auch eine Umfrage des Zen- mehr Ordnung am Arbeitsmarkt und ein Stück mehr Wett- trums für Europäische Wirtschaftsforschung unter Ana- bewerb im Mittelstand hilft doch mehr, als es schadet. lysten und Anlegern signalisiert, dass die Konjunktur- Bauen Sie hier nicht Pappkameraden auf, die mit den Rea- wende nahe ist. Es wird darüber hinaus gesagt: Wenn die litäten überhaupt nichts zu tun haben! Wirtschaft die Talsohle erst einmal durchschritten hat, (Beifall bei der SPD) wird sie kräftig wachsen. Der Stimmungsaufschwung so- wie die expansivere Geldpolitik ließen erwarten, dass die Meine Damen und Herren, ich bedanke mich für die Unternehmen dann zurückgestellte Investitionen nach- Aufmerksamkeit. holten. (Michael Glos [CDU/CSU]: Es war schwer Gleichzeitig kommen mit der Erholung der US-Kon- erträglich!) junktur im zweiten Quartal kraftvolle Impulse aus – Ich weiß, Herr Müllermeister. Aber nicht ich bin der der Auslandsnachfrage. größte Feind Ihres Gewerbes, sondern – wie Sie vor kurzem gesagt haben – der Bäckermeister. Deshalb über- Dies hat mit dem, was Sie hier an Horrorszenarien ver- gebe ich jetzt an den Bäckermeister. Er wird Ihnen schon breiten, überhaupt nichts zu tun. Ich jedenfalls verlasse sagen, wo der Hammer hängt. mich mehr auf die Aussagen der Wissenschaftler als auf die Polemik der CDU/CSU-Fraktion und der FDP-Frak- Danke. tion. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Heiterkeit bei der CDU/CSU – DIE GRÜNEN – Lachen des Abg. Michael Michael Glos [CDU/CSU]: Das war gut!) Glos [CDU/CSU]) Auch das von Ihnen angesprochene vermeintliche Ab- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Wenn das mit (B) koppeln der Wirtschaft Deutschlands von der Wirtschaft den Worterteilungen so weiter geht, brauchen wir keinen (D) der USA ist sozusagen blanke Theorie. Es ist richtig, dass Präsidenten mehr. Herr Hinsken, Sie haben also das Wort. wir prozentual weniger unmittelbar in Deutschland produzierte Waren in die USAexportieren als früher. Aber Ernst Hinsken (CDU/CSU): Werte Frau Präsidentin! es gibt in Nordamerika Beteiligungen deutscher Unter- Werte Kolleginnen und Kollegen! Herr Staffelt, Sie haben nehmen und deutsche Tochtergesellschaften, die natürlich Ihrem Namen alle Ehre gemacht. ganz stark an der Konjunktur in Nordamerika hängen und (Michael Glos [CDU/CSU]: Mach ihn nieder!) deren Geschäftsergebnisse sich auf unser Gesamtergebnis auswirken. Sie haben mir den Staffelstab übergeben. Warum? – Weil Sie wussten, dass Sie mit positiven Äußerungen über das Auch hier sollten wir die Abhängigkeit der europä- Handwerk besser ankommen, als es dies dem Bundes- ischen und speziell auch der auf Export orientierten deut- wirtschaftsminister Müller heute geglückt ist. schen Wirtschaft nicht klein reden. Sie ist vorhanden. Wir werden mit den nordamerikanischen Volkswirtschaften (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) gemeinsam im nächsten Jahr wieder in eine Wachstums- Er hat es nämlich versäumt, die richtigen Worte für das phase hineinkommen, die sowohl bei der Arbeitslosigkeit Handwerk als tragende Säule der Wirtschaft in der Bun- als auch bei dem, was die wirtschaftliche Entwicklung desrepublik Deutschland zu finden. Herr Müller, ich bin insgesamt betrifft, positiv zu Buche schlagen wird. darüber enttäuscht, dass Sie in Ihrer Rede die Bedeutung Lassen Sie mich abschließend noch Folgendes sagen: des Handwerks nicht so herausgestellt haben, wie es sich Herr Brüderle, Sie haben einzelne Maßnahmen wie zum gehört. Beispiel das Blitzprogramm angesprochen. Die heutigen Reden von Herrn Finanzminister Eichel, (Rainer Brüderle [FDP]: Eben!) von Herrn Wirtschaftsminister Müller oder von Ihnen, Herr Staffelt, waren schöne Weihnachtsgeschichten. Sie Das hört sich beinahe so an, als wenn es aus dem Sagen- waren aber leider viel zu schön, um wahr zu sein. bereich käme. (Michael Glos [CDU/CSU]: So ist es!) (Michael Glos [CDU/CSU]: Bei Ihnen hat der Blitz schon eingeschlagen!) Sie sind völlig realitätsfern. Sie sagen seit einem halben Jahr das Gleiche und versuchen, die Wirtschaft gesund- Prüfen Sie es einmal nach! Sie sagen einfach, dass die Re- zubeten. Aber Sie mussten Monat für Monat scheibchen- gelungen zur Bauabzugsteuer nicht funktionieren. Auch weise zugeben, dass es bei uns bergab geht und dass Sie Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20561

Ernst Hinsken (A) nicht in der Lage sind, die richtigen Rezepte anzuwenden, nicht. Es wird darüber gesprochen, dass das Thema Auf- (C) damit es bei uns in der Bundesrepublik Deutschland end- bau Ost zur Chefsache gemacht wird. Zu Beginn der Re- lich wieder aufwärts geht, wie wir es brauchen und wie es gierungszeit von Gerhard Schröder wurde hinausposaunt, das Volk erwartet. dass man das Notwendige machen wird, sodass Jugendli- che einen Arbeitsplatz finden werden und die Arbeitslo- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sigkeit beseitigt wird. Wie sieht das Ergebnis aus? Jetzt, Herr Minister Müller, in Ihrem Ministerium wurden nach gut drei Jahren Gerhard Schröder, gibt es in den letzte Woche die weihnachtlichen Friedensäußerungen neuen Bundesländern leider 125 000 Arbeitslose mehr als sehr tief gehängt. Offensichtlich haben nicht nur die Ker- damals. zen, sondern es hat der ganze Weihnachtsbaum gebrannt. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (Michael Glos [CDU/CSU]: Der Kittel brennt der FDP) immer noch!) Selbst beim Sparen sind wir Schlusslicht in Europa. In Schließlich haben Sie eine Reihe von Terminen – zum keinem anderen Land der EU laufen die Einnahmen und Beispiel mit Firmen und vor allen Dingen die Großveran- Ausgaben des Staates so weit auseinander wie bei uns. staltung zum Jahr des Tourismus 2001 in Füssen sowie Ebenso belegen wir – weltweit betrachtet – bei den Neu- das Friedensessen des Handwerks – abgesagt. Herr Minis- gründungen nur noch den 22. Platz der wichtigsten 29 In- ter Müller, ich frage mich, ob das, was ich der Presse ent- dustriestaaten. Wir sind weit abgeschlagen. Wir stehen so- nehmen musste, dass Sie nämlich die SPD-Fraktion auf- gar hinter Ungarn, hinter Polen und hinter Indien. Es ist grund der müllerschen Äußerungen durch Ihre eine bedauernswerte Feststellung, dass Sie es mit Ihrer Abwesenheit vor Ort abstrafen wollten, zutrifft. Politik leider so weit gebracht haben. (Dr. Ditmar Staffelt [SPD]: Das hat jetzt keiner (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – verstanden: aufgrund der müllerschen Äuße- Susanne Kastner [SPD]: Herr Hinsken steht rungen!) hinter Indien!) Ich wäre sehr dankbar, wenn Sie mir sagen würden, Diese Länder strengen sich an, legen ihre Hände nicht warum Sie nicht hingegangen sind; denn wenn Sie auf in den Schoß und warten nicht auf Onkel Sam aus Ame- diesen Veranstaltungen gewesen wären, hätten Sie gehört, rika. dass Sie gerade mit Ihren Äußerungen zur Schwarzarbeit Ich meine, dass bezüglich dessen, was Herr Eichel völlig daneben liegen. Herr Minister Müller, es hilft doch heute gesagt hat, noch einiges zurechtgerückt werden nichts, mit führenden Repräsentanten des Handwerks und muss. Nach einer Studie der EU liegt die effektive Steuer- der Wirtschaft über das Problem der Schwarzarbeit nur zu last für Unternehmen in Deutschland nämlich europa- (B) reden; damit ist es nicht getan. Es muss gehandelt werden; (D) weit an der Spitze; das ist bedauernswert. Sie haben da- das haben Sie und diese Bundesregierung aber nicht. nach gefragt, wo denn die Fehler lägen, die die Regierung (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) gemacht habe. Ich möchte an das anknüpfen, was unser Fraktionsvor- (Susanne Kastner [SPD]: Keinen einzigen, sitzender, Friedrich Merz, so treffend gesagt hat: Es ist Herr Hinsken!) traurig, wenn wir feststellen müssen, dass das Wirt- Ich sage Ihnen: Die Zahl der Unternehmensgründungen schaftswachstum in der Bundesrepublik Deutschland in sank seit 1998 um 50 000. Das allein bedeutet einen Ver- diesem Jahr nur noch bei 0,6 Prozent liegt und dass im lust von 150 000 bis 200 000 Arbeitsplätzen in der Bun- kommenden Jahr, im Jahre 2002, nur 0,7 Prozent erwartet desrepublik Deutschland. Auf der einen Seite haben Sie werden. Meine Damen und Herren, was ist das anderes als dann beklagt, dass die Steuergelder nicht genügend spru- eine Rezession? Sie versuchen, diese hier wegzureden. deln würden. Auf der anderen Seite verweisen Sie immer Das gelingt Ihnen aber nicht, weil die Fakten eine ein- wieder auf die riesengroße Steuerreform, die Sie durch- deutige Sprache sprechen. geführt haben, und verschweigen in diesem Zusammen- Ich finde es unglaublich, dass Deutschland gerade hang ganz und gar, dass Sie allein in diesem Jahr 45 Mil- beim Wirtschaftswachstum weit abgeschlagen hinter liarden DM mehr an Steuern einnehmen, als es im Griechenland, Spanien, Frankreich und Italien liegt. So Jahre 1998 der Fall war. etwas hat es noch nie gegeben. Es ist eine einmalige Leis- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) tung dieser Bundesregierung, die Wirtschaftsnation Deutschland so weit nach hinten gebracht zu haben. Obwohl das Säckel so gefüllt ist, nehmen Sie nicht davon Abstand, weitere Erhöhungen bei der Tabaksteuer, der (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Versicherungsteuer und der Ökosteuer vorzunehmen, Wolfgang Weiermann [SPD]: Hören Sie auf mit damit weitere 9 Milliarden DM hereinkommen. der Lügerei!) (Friedrich Merz [CDU/CSU]: Unglaublich!) In keinem anderen Land der gesamten Europäischen Union gibt es eine höhere Arbeitslosigkeit als in den Ich meine, das ist keine Politik aus einem Guss. Sie neuen Bundesländern; sie beträgt dort nämlich leider müssen vor allen Dingen sehen – gerade in der Weih- 17,8 Prozent. Das Land mit der europaweit zweitniedrigs- nachtszeit soll doch das Herz für den Schwächeren schla- ten Arbeitslosigkeit ist Spanien mit 12,9 Prozent, also gen –, dass jeder vierte deutsche Arbeitnehmer in der Zwi- knapp 5 Prozentpunkte weniger. Sie sehen diese Probleme schenzeit Angst um seinen Arbeitsplatz hat. 20562 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001

Ernst Hinsken (A) Meine verehrten Damen und Herren, wir müssen ins- der Fraktion der CDU/CSU mit dem Titel „Konjunktur- (C) gesamt gesehen umdenken. Es ist unmöglich, wenn nur abschwung stoppen – Wachstumskräfte stärken“. Der noch 39 Prozent der 55- bis 64-Jährigen erwerbstätig sind. Ausschuss empfiehlt, auch diesen Antrag abzulehnen. Schauen wir doch einmal ins Nachbarland Schweiz. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegen- stimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Kollege PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP ange- Hinsken, jetzt müssen Sie aber doch auf die Zeit achten. nommen worden. Zusatzpunkt 4. Interfraktionell wird Überweisung der Ernst Hinsken (CDU/CSU): Dort sind 70 Prozent in Vorlage auf Drucksache 14/7808 an die in der Tagesord- dieser Altersgruppe noch erwerbstätig. nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie Ich hätte gern noch vieles gesagt, weil ich meine, dass damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist diese es wichtig wäre, den Regierungsparteien einiges ins Überweisung so beschlossen. Stammbuch zu schreiben; Ich rufe die Tagesordnungspunkte 32 a bis 32 h sowie (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – die Zusatzpunkte 5 a bis 5 c auf: Michael Glos [CDU/CSU]: Zugabe!) aber die Zeit lässt das nicht zu. Deutschland hat es ver- 32. Überweisungen im vereinfachten Verfahren dient, eine bessere Regierung zu bekommen. In zehn Mo- naten wird alles anders werden. Wir werden das Volk wis- a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- sen lassen, dass wir es besser als Sie können. gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- rung des Melderechtsrahmengesetzes und an- Herzlichen Dank. derer Gesetze (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – – Drucksache 14/7260 – Dr. Ditmar Staffelt [SPD]: Jetzt wissen wir Überweisungsvorschlag: auch, warum er nicht Konditormeister gewor- Innenausschuss (f) den ist!) Rechtsausschuss

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Ich schließe da- b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- mit die Aussprache. gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu den Ände- rungen vom 20. Mai 1999 des Übereinkommens (B) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf zur Gründung der Europäischen Fernmeldesatelli- (D) Drucksache 14/7454 an die in der Tagesordnung aufge- tenorganisation „EUTELSAT“ (EUTELSAT- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- Übereinkommen) verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung – Drucksache 14/7544 – so beschlossen. Überweisungsvorschlag: Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) ses für Wirtschaft und Technologie auf Drucksache Ausschuss für Kultur und Medien 14/7214 zu dem Antrag der Fraktion der FDP mit dem Ti- tel „Neue Wachstumschancen mit durchgreifenden c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- wirtschaftspolitischen Reformen schaffen – Blitzpro- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- gramm für die deutsche Wirtschaft“. Der Ausschuss emp- rung des Seemannsgesetzes und anderer Ge- fiehlt, den Antrag auf Drucksache 14/6446 abzulehnen. setze Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegen- – Drucksachen 14/7760, 14/7797 – stimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung Überweisungsvorschlag: ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung (f) PDS gegen die Stimmen der FDP und einiger Abgeordne- Rechtsausschuss ter der CDU/CSU bei Enthaltung anderer Abgeordneter Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen der CDU/CSU angenommen worden. d) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft gebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes und Technologie zu dem Antrag der Fraktion der zur Änderung des Gesetzes über die Landwirt- CDU/CSU zu einem Zehnpunkteprogramm zur Wieder- schaftliche Rentenbank belebung der deutschen Wirtschaft und des Arbeitsmark- tes. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksache – Drucksache 14/7753 – 14/6436 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussemp- Überweisungsvorschlag: fehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Be- Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Land- schlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitions- wirtschaft (f) fraktionen und der PDS gegen die Stimmen von Finanzausschuss CDU/CSU und FDP angenommen worden. e) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Durch- und Technologie auf Drucksache 14/7215 zu dem Antrag führung der Rechtsakte der Europäischen Gemein- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20563

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) schaft über die Etikettierung von Fischen und Fi- Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Land- (C) schereierzeugnissen (Fischetikettierungsgesetz – wirtschaft FischEtikettG) Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen – Drucksache 14/7726 – b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Überweisungsvorschlag: gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umset- Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirt- zung von Abkommen über Soziale Sicherheit schaft und zur Änderung verschiedener Zustim- mungsgesetze f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Angela – Drucksache 14/7759 – Marquardt, Maritta Böttcher, Dr. , weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung Zensur im Internet verhindern – Kein Einsatz von Filtern an öffentlichen Terminals – Für eine Kennzeichnungspflicht beim Einsatz von Filter- c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gerda Technologien Hasselfeldt, Heinz Seiffert, Karl-Josef Laumann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ – Drucksache 14/6128 – CSU Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Kultur und Medien (f) Arbeit nicht durch übermäßige Sozialver- Rechtsausschuss sicherungsbeiträge teurer machen Innenausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie – Drucksache 14/7782 – Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen- Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung (f) abschätzung Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie g) Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und Haushaltsausschuss des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an Stärkung der wirtschaftlichen, sozialen und die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu kulturellen Rechte im Völkerrecht und im in- überweisen. Zu Tagesordnungspunkt 32 c liegt inzwi- ternationalen Bereich schen auf Drucksache 14/7797 die Gegenäußerung der – Drucksache 14/7483 – Bundesregierung zu der Stellungnahme des Bundesrates (B) Überweisungsvorschlag: vor, die wie der Gesetzentwurf überwiesen werden soll. (D) Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe (f) Sind Sie einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss diese Überweisungen so beschlossen. Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 33 a bis Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung 33 c und 33 e bis 33 j sowie den Zusatzpunkten 6 a bis 6 i. Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu Entwicklung denen zwar keine Aussprache, aber doch eine Abstim- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss für Kultur und Medien mung vorgesehen ist. Haushaltsausschuss Interfraktionell ist vereinbart worden, die heutige Ta- h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Roland gesordnung um die zweite und dritte Beratung des Ge- Claus, Dr. Gregor Gysi und der Fraktion der PDS setzentwurfs der Bundesregierung zur Änderung des Bundeszentralregistergesetzes zu erweitern und als Zu- Änderung der Gemeinsamen Geschäftsord- satzpunkt 6 j ohne Aussprache aufzurufen. – Ich sehe, Sie nung des Bundestages und des Bundesrates für sind einverstanden. Dann ist das auch so beschlossen. den Ausschuss nach Art. 77 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuss) Wir kommen jetzt zu den Abstimmungen. – Drucksache 14/119 – Überweisungsvorschlag: Tagesordnungspunkt 33 a: Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäfts- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- ordnung gierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Postgesetzes ZP 5a)Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver- fahren – Drucksache 14/7093 – Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- (Erste Beratung 195. Sitzung) gebrachten Entwurfs eines Siebten Gesetzes zur Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- Änderung des Wasserhaushaltsgesetzes ses für Wirtschaft und Technologie (9. Ausschuss) – Drucksache 14/7755 – – Drucksache 14/7820 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) Berichterstattung: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Abgeordneter (Starnberg) 20564 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) Es liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der PDS vor. Berichterstattung: (C) Darüber stimmen wir zunächst ab. Wer stimmt für den Abgeordnete Hans Jochen Henke Änderungsantrag auf Drucksache 14/7838? – Wer stimmt Hans Georg Wagner dagegen? – Enthaltungen? – Der Änderungsantrag ist ab- Oswald Metzger gelehnt worden mit den Stimmen des Hauses gegen die Dr. Günter Rexrodt Stimmen der PDS, die zugestimmt hat. Dr. Uwe-Jens Rössel Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus- Der Haushaltsausschuss empfiehlt auf Drucksa- schussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – che 14/7553, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koaliti- das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – onsfraktionen und der PDS gegen die Stimmen von Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung ange- CDU/CSU und FDP angenommen worden. nommen worden mit den Stimmen der Koalitionsfraktio- Dritte Beratung nen gegen die Stimmen der gesamten Opposition. und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Dritte Beratung Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf und Schlussabstimmung. Ich bitte die, die dem Gesetz- ist damit in dritter Lesung angenommen worden mit den entwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt Stimmen der Koalitionsfraktionen und der PDS gegen die dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit Stimmen von CDU/CSU und FDP. in dritter Lesung angenommen worden mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der gesam- Zu diesem Gesetzentwurf liegt ein Entschließungsan- ten Opposition. trag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 14/7839 vor. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Ge- Zu diesem Gesetzentwurf liegt ein Entschließungsan- genstimmen? – Enthaltungen? – Der Entschließungsan- trag der CDU/CSU auf Drucksache 14/7829 vor. Wer trag ist abgelehnt worden mit den Stimmen der Koaliti- stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der onsfraktionen und der PDS gegen die Stimmen von Entschließungsantrag ist abgelehnt worden mit den Stim- CDU/CSU und FDP. men der Koalitionsfraktionen und der PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP. Tagesordnungspunkt 33 b: Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Tagesordnungspunkt 33 e: (B) richts des Ausschusses für Wirtschaft und Techno- Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat (D) logie (9. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeord- eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- neten Hildebrecht Braun (Augsburg), Rainer rung des Bundesarchivgesetzes Brüderle, Ernst Burgbacher, weiterer Abgeordne- – Drucksache 14/3830 – ter und der Fraktion der FDP Senkung des Entgelts für die Beförderung von (Erste Beratung 124. Sitzung) Briefsendungen im Geltungsbereich der Exklu- Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- sivlizenz nach § 51 Postgesetz ses für Kultur und Medien (23. Ausschuss) – Drucksachen 14/4417, 14/7819 – – Drucksache 14/6915 – Berichterstattung: Berichterstattung: Abgeordneter Elmar Müller (Kirchheim) Abgeordnete Gisela Schröter Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksa- Margarete Späte che 14/4417 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be- Dr. Antje Vollmer schlussempfehlung des Ausschusses? – Gegenstimmen? – Hans-Joachim Otto (Frankfurt) Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist angenom- Dr. Heinrich Fink men worden mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus- und der PDS gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP. schussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist Tagesordnungspunkt 33 c: damit in zweiter Beratung angenommen worden mit den Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen, CDU/CSU gierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Ge- und PDS bei Enthaltung der FDP. setzes zur Änderung des Postumwandlungsge- setzes Dritte Beratung – Drucksache 14/7027 – und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Ge- (Erste Beratung 195. Sitzung) genstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist Beschlussempfehlung und Bericht des Haushalts- damit in dritter Lesung mit den Stimmen von SPD, Bünd- ausschusses (8. Ausschuss) nis 90/Die Grünen, CDU/CSU und PDS bei Enthaltung – Drucksache 14/7553 – der FDP angenommen worden. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20565

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) Tagesordnungspunkt 33 f: Zusatzpunkt 6 a: (C) Beratung der Beschlussempfehlung des Rechts- Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (6. Ausschuss) ausschusses (2. Ausschuss) Übersicht 10 Sammelübersicht 327 zu Petitionen über die dem Deutschen Bundestag zugeleite- – Drucksache 14/7799 – ten Streitsachen vor dem Bundesverfassungs- gericht Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – – Drucksache 14/7527 – Die Sammelübersicht 327 ist mit den Stimmen des ganzen Hauses mit Ausnahme der PDS, die sich enthalten hat, an- Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gibt es genommen worden. Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp- fehlung ist damit einstimmig angenommen worden. Zusatzpunkt 6 b: Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Peti- Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- tionsausschusses. ausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 328 zu Petitionen Tagesordnungspunkt 33 g: – Drucksache 14/7800 – Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss) Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Sammelübersicht 323 zu Petitionen Die Sammelübersicht 328 ist mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen worden. Die PDS hat sich enthalten. – Drucksache 14/7685 – Wer stimmt dafür? – Gibt es Gegenstimmen? – Ent- Zusatzpunkt 6 c: haltungen? – Die Sammelübersicht 323 ist einstimmig an- Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- genommen worden. ausschusses (2. Ausschuss) Tagesordnungspunkt 33 h: Sammelübersicht 329 zu Petitionen Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- – Drucksache 14/7801 – ausschusses (2. Ausschuss) Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Sammelübersicht 324 zu Petitionen Die Sammelübersicht 329 ist mit dem soeben festgestellten Stimmverhalten angenommen worden. (B) – Drucksache 14/7686 – (D) Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Zusatzpunkt 6 d: Die Sammelübersicht 324 ist mit den Stimmen der Koali- Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- tionsfraktionen gegen die Stimmen der gesamten Opposi- ausschusses (2. Ausschuss) tion angenommen worden. Sammelübersicht 330 zu Petitionen Tagesordnungspunkt 33 i: – Drucksache 14/7802 – Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – ausschusses (2. Ausschuss) Die Sammelübersicht 330 ist mit den Stimmen des ganzen Sammelübersicht 325 zu Petitionen Hauses, also ohne Gegenstimmen und Enthaltungen, ange- – Drucksache 14/7687 – nommen worden. Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Zusatzpunkt 6 e: Die Sammelübersicht 325 ist mit den Stimmen der Koaliti- onsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- angenommen worden. Die PDS hat sich enthalten. ausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 331 zu Petitionen Tagesordnungspunkt 33 j: – Drucksache 14/7803 – Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – ausschusses (2. Ausschuss) Die Sammelübersicht 331 ist mit den Stimmen der Koaliti- Sammelübersicht 326 zu Petitionen onsfraktionen gegen die Stimmen der gesamten Opposition – Drucksache 14/7688 – angenommen worden.

Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Zusatzpunkt 6 f: Die Sammelübersicht 326 ist mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen, PDS und FDP gegen die Stimmen Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- von CDU/CSU angenommen worden. ausschusses (2. Ausschuss) Wir kommen zu weiteren Beschlussempfehlungen des Sammelübersicht 332 zu Petitionen Petitionsausschusses. – Drucksache 14/7804 – 20566 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – CDU/CSU mit den Stimmen des übrigen Hauses ange- (C) Die Sammelübersicht 332 ist mit den Stimmen der Koaliti- nommen worden. Es gab keine Enthaltungen. onsfraktionen und der PDS gegen die Stimmen von Dritte Beratung CDU/CSU und FDP angenommen worden. und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Zusatzpunkt 6 g: Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ausschusses (2. Ausschuss) ist damit in dritter Lesung angenommen worden mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen, PDS und Sammelübersicht 333 zu Petitionen FDP gegen die Stimmen von CDU/CSU. – Drucksache 14/7805 – Ich rufe Zusatzpunkt 7 auf: Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Sammelübersicht 333 ist mit den Stimmen der Koaliti- a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- onsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP richts des Auswärtigen Ausschusses (3. Aus- bei Enthaltung der PDS angenommen worden. schuss) zu dem Antrag der Bundesregierung Zusatzpunkt 6 h: Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deut- scher Streitkräfte an dem NATO-geführten Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Einsatz auf mazedonischem Territorium zum ausschusses (2. Ausschuss) Schutz von Beobachtern internationaler Orga- Sammelübersicht 334 zu Petitionen nisationen im Rahmen der weiteren Implemen- – Drucksache 14/7806 – tierung des politischen Rahmenabkommens vom 13. August 2001 auf der Grundlage des Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Ersuchens des mazdonischen Präsidenten Die Sammelübersicht 334 ist mit den Stimmen des ganzen Trajkovski vom 3. Dezember 2001 und der Hauses mit Ausnahme der CDU/CSU, die dagegenge- Resolution Nr. 1371 (2001) des Sicherheitsrates stimmt hat, angenommen worden. der Vereinten Nationen vom 26. September Zusatzpunkt 6 i: 2001 Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- – Drucksachen 14/7770, 14/7816 – ausschusses (2. Ausschuss) Berichterstattung: Sammelübersicht 335 zu Petitionen Abgeordnete Gert Weisskirchen (Wiesloch) (B) Christian Schmidt (Fürth) (D) – Drucksache 14/7807 – Dr. Helmut Lippelt Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Ulrich Irmer Die Sammelübersicht 335 ist gegen die Stimmen der PDS Wolfgang Gehrcke mit den Stimmen des übrigen Hauses angenommen wor- den. b) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung Zusatzpunkt 6 j: – Drucksache 14/7826 – Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- Berichterstattung: regierung eingebrachten Entwurfs eines Vierten Abgeordnete Uta Titze-Stecher Gesetzes zur Änderung des Bundeszentralregis- Dietrich Austermann tergesetzes (4. BZRGÄndG) Antje Hermenau – Drucksache 14/6814 – Jürgen Koppelin Dr. Christa Luft (Erste Beratung 192. Sitzung) Beschlussempfehlung und Bericht des Rechts- Über die Beschlussempfehlung werden wir später na- ausschusses (6. Ausschuss) mentlich abstimmen. – Drucksache 14/7837 – Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Berichterstattung: Fraktionen der FDP und der PDS jeweils fünf Minuten er- Abgeordnete Alfred Hartenbach halten sollen. – Widerspruch höre ich nicht. Dann ist auch Erika Simm so beschlossen. Hans-Christian Ströbele Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst Jörg van Essen Herr Bundesminister Rudolf Scharping. Sabine Jünger Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus- Rudolf Scharping, Bundesminister der Verteidigung: schussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Her- Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent- ren! Wir können drei Monate nach Beginn der Operation wurf ist damit in zweiter Beratung gegen die Stimmen der Fox feststellen, dass es in Mazedonien beeindruckende Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20567

Bundesminister Rudolf Scharping (A) Fortschritte gibt. Das ist Ergebnis einer gemeinsamen An- zösischen Streitkräfte, die die Hauptlast dieses Einsatzes (C) strengung. Wir haben einen Bürgerkrieg verhindert. Die tragen. Sie haben eine ausgezeichnete Arbeit geleistet und Waffen schweigen. Der verfassunggebende Reformpro- verdienen höchsten Respekt und ausdrückliche Anerken- zess ist abgeschlossen. Die Wiederherstellung der Herr- nung. schaft des Rechtes in Mazedonien geht schrittweise (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten voran. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der Auch das Vertrauen zwischen den Ethnien wächst CDU/CSU und der FDP) langsam wieder. Das drückt sich unter anderem aus in der NATO und Europäische Union haben im Übrigen von Auflösung der albanischen UCK, trotz der Verzögerungen Anfang an mit großer Klarheit und großer Kontinuität, in dem Verfassungsprozess. Die ersten Amnestien sind aber auch Berechenbarkeit zusammengearbeitet. Sie ha- ausgesprochen. Alles das ist unabdingbare Voraussetzung ben ihre Verantwortung wahrgenommen. Wir können es für die Reintegration der vorherigen Kämpfer in die ma- jetzt als gemeinsamen Erfolg verbuchen, dass in einer Re- zedonische Gesellschaft. Das Wachstum des Vertrauens gion nach vier blutigen Balkankriegen, nach Millionen zwischen der slawischen und der albanischen Bevölke- von Vertriebenen und nach immer noch nicht gezählten rung ist im Übrigen von überragender Bedeutung. Denn Toten Südosteuropa eine wirkliche Perspektive für sich nur dann wird ein dauerhafter Weg aus der Krise heraus selbst und mit Blick auf Europa hat. gefunden und das Risiko eines Bürgerkrieges ausge- schlossen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Ich füge hinzu, dass das Engagement in Mazedonien im Rahmen dieses über mehr als ein Jahrzehnt dauernden Allerdings, dieser Prozess ist bei allen Fortschritten, Prozesses zum ersten Mal in eigentlich idealtypischer die ich jetzt mit Stichworten beschrieben habe, noch nicht Weise unser Verständnis von präventiver Sicherheitspoli- so weit vorangekommen, dass man auf eine Sicherheits- tik widerspiegelt, wie es sich übrigens auch in dem Stabi- präsenz verzichten könnte. Wir wollen nämlich die posi- litätspakt für Südosteuropa ausdrückt. tiven Entwicklungen nicht leichtfertig aufs Spiel setzen. Der Beitrag der wird unverändert sein. Vor diesem Hintergrund will ich darauf aufmerksam Das gilt für ihren Umfang von bis zu 600 Soldaten und für machen, dass wir im Deutschen Bundestag über die Fra- ihre Führungsrolle im Rahmen dieses Mandates. Das ist gen zu Mazedonien und den Balkan insgesamt häufiger – ich wiederhole es – eine besondere Auszeichnung für gesprochen, teilweise gestritten haben und stets unsere die Leistungsfähigkeit der Bundeswehr und ihr professio- (B) Besorgnisse und Befürchtungen zum Ausdruck gebracht nelles Auftreten. Ich sage das auch mit Blick auf manch (D) haben. Mich berührt es in eigenartiger Weise – ich ver- andere Debatte; denn das Erreichte in Mazedonien nicht mute, das geht nicht nur mir so –, wenn ich die Debatten aufs Spiel setzen zu wollen bedeutet, dass man in der Re- betrachte, die vor mehr als drei Monaten geführt wurden, gion insgesamt – in Bosnien, im Kosovo und in Mazedo- und mir dann das Ergebnis ansehe, das wir heute haben. nien – das Engagement aufrechterhalten und die Fähig- Wichtig ist, dass wir jetzt – wie sich das abzeichnet – für keiten beibehalten muss, um diesen Erfolg zu sichern und die Verlängerung dieses Mandates eine sehr breite Zu- den Weg in die Zukunft friedlich und sicher zu gestalten. stimmung im Deutschen Bundestag bekommen. Wenn wir in Deutschland bereit, willens und fähig Das ist auch gerechtfertigt. Denn die Wiederherstel- sind, in den derzeitigen Größenordnungen diesen Beitrag lung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung in ganz für eine europäische Perspektive und eine friedliche Ent- Mazedonien bedarf weiterer Anstrengungen. Dazu wicklung auf dem Balkan durchzuhalten, dann ist das gehören die fünf Pilotprojekte der Europäischen Union auch in Verbindung mit anderen Aufgaben, die sich der und der OSZE zur Übernahme von Verantwortung durch Bundeswehr und ihrer Erneuerung stellen, eine feste Leit- eine multiethnische mazedonische Polizei in den mehr- planke bei der Bemessung von Fähigkeiten, die man an heitlich albanisch besiedelten Gebieten. Dazu gehört die anderer Stelle braucht. koordinierte Rückkehr der Flüchtlinge in jene Krisenge- biete, ohne dass daraus ein Potenzial für neue Spannun- Das gilt für die Bekämpfung des internationalen Terro- gen entsteht. Dazu gehört, dass ein Sicherheitsvakuum rismus ebenso wie für Friedensstabilisierung in anderen vermieden wird. Staaten, zum Beispiel in Afghanistan. Was wir – deshalb schneide ich diesen Punkt an – zur Befriedung und Stabi- Für all das stehen Beobachter der Europäischen Union lisierung der Strukturen von Staat und Gesellschaft bei- und der OSZE zur Verfügung. Sie haben herausragende tragen, ist nämlich auch ein elementarer Beitrag zur Ver- Bedeutung bei der Wiederherstellung normaler Lebens- ständigung und zum friedlichen Zusammenleben von verhältnisse. Andererseits bedürfen diese Beobachter des Christen und Moslems – in Mazedonien und auch in an- Schutzes; denn die Verhältnisse in Mazedonien sind noch deren Staaten Südosteuropas. Was wir dort zur Stabilisie- nicht so stabil, als dass man auf diesen Schutz verzichten rung und zum friedlichen Zusammenleben leisten, was könnte. Deshalb hat die mazedonische Regierung die wir an Perspektiven, persönlicher Sicherheit und wirt- NATO gebeten, die entsprechende Task Force Fox um schaftlichen Möglichkeiten entwickeln, ist auch ein gutes drei Monate fortzusetzen. Das zeigt, welches Vertrauen Beispiel dafür, dass man trotz unterschiedlicher Ethnien, sich die NATO in Mazedonien mittlerweile erworben hat. Kulturen oder Religionen friedlich und mit gemeinsamen Das sage ich auch mit Blick auf die deutschen und fran- Zukunftsaussichten zusammenleben kann. 20568 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001

Bundesminister Rudolf Scharping (A) Ich sage das auch vor dem Hintergrund der Tatsache, 6. März hinaus erforderlich sein. Das hoffen auch wir. Wir (C) dass die innermazedonischen Konflikte ihre politisch-eth- müssen deshalb den Druck auf die Parteien aufrechterhal- nische und soziale Natur haben. Was wir dort in einem ten, damit sie zu wirklichen Lösungen bereit sind. mittel- und langfristigen Prozess zur Überwindung dieser (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Konflikte und Schwierigkeiten beitragen, ist ein Hinweis Abg. Ulrich Irmer [FDP]) darauf, dass die internationale Staatengemeinschaft nicht nur in Südosteuropa ein gutes Beispiel schafft, sondern Wenn wir ehrlich sind, müssen wir zugeben: Das große die Fähigkeiten hat – und diese weiterentwickeln will –, Manko der internationalen Balkanpolitik besteht darin, um im Zusammenwirken aus politischen, ökonomischen, dass wir kein politisches Ordnungskonzept für die Re- kulturellen, gesellschaftlichen und, wo notwendig, mi- gion haben. Wir wissen auch, wie eng die Frage des Kon- litärischen Fähigkeiten für eine friedliche, am besten im- flikts in Mazedonien mit der albanischen Frage zusam- mer durch präventives Handeln geprägte Perspektive zu menhängt. Und die albanische Frage hängt mit dem Status sorgen. des Kosovo zusammen, der Status des Kosovo wiederum (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten mit der serbischen Frage. Solange wir kein politisches des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ordnungskonzept für die gesamte Region Südosteuropa haben, werden wir immer wieder in die Situation kom- Ich bedanke mich bei allen Fraktionen – mit Ausnahme men, international mit militärischer Präsenz ein neues der einen –, dass sie den Antrag der Bundesregierung un- Ausbrechen von Konflikten zu verhindern. Deshalb brau- terstützen, und zwar nicht wegen der Unterstützung für chen wir ein realistisches Gesamtkonzept, auch ange- die Bundesregierung, sondern wegen der Unterstützung sichts der Tatsache, dass wir international woanders stär- für die Soldaten der Bundeswehr und deren Familien so- ker militärisch gefordert sind und daher die Präsenz, die wie wegen der Unterstützung für eine friedliche und si- wir auf dem Balkan haben, in der Bedeutung und in dem chere Perspektive in Südosteuropa als einen unverzicht- Umfang langfristig nicht aufrechterhalten können. baren Teil unseres gemeinsamen Kontinentes, die damit gewährleistet werden kann. Zurzeit sind 7 500 Soldaten auf dem Balkan, und zwar in Bosnien, im Kosovo – wir müssen das Mandat im Früh- Vielen Dank. jahr verlängern, weil das bisherige Mandat nicht ausrei- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ chen wird; wir wissen das heute schon – und in Mazedo- DIE GRÜNEN) nien. Herr Minister, Sie haben gestern gesagt, insgesamt seien 60 000 Soldaten gebunden; das betrifft die Soldaten, die in Ausbildung sind, die im Ausland sind und die zur Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat Auswechslung bestehender Truppenkontingente bereit- (B) jetzt der Abgeordnete Andreas Schockenhoff. stehen. Nachdem wir gestern im Auswärtigen Ausschuss (D) gefragt haben, wie denn das Afghanistan-Kontingent Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU): Frau Prä- aussehen solle – die Schutztruppe, über die wir nächste sidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir teilen Ihre Woche zu bestimmen haben –, hat uns der Außenminister Auffassung, Herr Minister, dass in Mazedonien Fort- gesagt, darüber habe sich die Bundesregierung noch keine schritte erzielt worden sind, dass aber der politische Pro- Gedanken gemacht, weil es noch kein Mandat gebe. Zum zess noch nicht so weit fortgeschritten ist, um auf eine Si- gleichen Zeitpunkt haben Sie, Herr Minister Scharping, cherheitspräsenz verzichten zu können. Deshalb ist es eine Pressekonferenz gegeben und gesagt, die Schutz- richtig, dass die Parlamentswahlen verschoben wurden. truppe umfasse 8 000 Soldaten, wovon 2 600 durch die Richtig ist auch, dass eine Geberkonferenz für Mazedo- Bundeswehr gestellt würden. nien verschoben wurde, nachdem sich das Parlament ent- (Peter Zumkley [SPD]: Das ist doch nicht gegen den Forderungen von NATO und EU noch nicht auf wahr!) ein neues Gesetz zur kommunalen Selbstverwaltung eini- gen konnte. – So steht es in der Zeitung. Herr Minister, Sie haben unseren Beitrag zur Stabili- (Peter Zumkley [SPD]: Glauben Sie nicht alles, sierung Südosteuropas herausgestellt. Das ist durchaus was in der Zeitung steht! Informieren Sie sich richtig. Wir dürfen aber nicht den Eindruck erwecken, als einmal selbst!) ob wir oder das Mandat der NATO diese Stabilisierung – Entschuldigung, ich glaube nicht alles, was in der Zei- leisten könnten. Die NATO steht nicht im Mittelpunkt der tung steht. Aber wenn der Außenminister sagt, die Bun- Konfliktlösung, sondern begleitet einen Prozess, den die desregierung habe sich noch keine Gedanken über den Af- Konfliktparteien vor Ort leisten müssen. Bei ihnen bleibt ghanistan-Einsatz gemacht, die politische Verantwortung. Was Sie zur Prävention ge- sagt haben, ist doch etwas, was wir uns manchmal einre- (Peter Zumkley [SPD]: Eine Regierung, die den. Die Wahrheit ist: Die Konfliktprävention hat trotz sich keine Gedanken macht, gibt es doch gar beachtlicher finanzieller Leistungen vor allem der EU, nicht!) aber auch der OECD und des Stabilitätspakts nicht die Er- und wenn zur gleichen Zeit sein Amtskollege Scharping gebnisse gebracht, die wir uns gewünscht haben. auf einer Pressekonferenz erklärt, das Kontingent für den Der mazedonische Präsident hat am Wochenende ge- Afghanistan-Einsatz umfasse 8 000 Soldaten, dann muss sagt, es werde keine Verlängerung des Mandats über den ich Ihnen sagen – Entschuldigung, dass ich das so deut- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20569

Dr. Andreas Schockenhoff (A) lich tue –: Sie lassen sich vielleicht so abspeisen, aber wir tan. Es gibt in Afghanistan Terroristen. Es gibt dort mei- (C) nicht. nes Wissens keine Massenvernichtungswaffen. Deswe- gen sage ich Ihnen, Herr Minister – Sie werden nachher (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und das Wort ergreifen –, noch einmal: Wir wollen von Ihnen der PDS) wissen – die Bundesregierung hat einen entsprechenden Wir haben ein Recht darauf, dass die Regierung uns in- Antrag vorgelegt –, wofür und wo genau diese 800 Sol- formiert. Vor allem haben die Soldaten und ihre Familien daten eingesetzt werden sollen. ein Recht darauf, dass wir öffentlich darüber diskutieren, Wir wissen, dass Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen in welchem Umfang und für welche politischen Ziele wir von den Grünen, einen Antrag auf Ihrem Parteitag gestellt sie einsetzen werden. haben, wonach Soldaten nicht außerhalb von Afghanistan In dem Zusammenhang muss ich auf zwei Dinge hin- zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus einge- weisen. Zurzeit stehen – unser Fraktionsvorsitzender setzt werden dürfen. Frau Präsidentin, Sie haben in einem Friedrich Merz hat heute schon Stellung zu dem genom- Interview mit dem „Stern“ gesagt, wenn dagegen ver- men, was gestern im Haushaltsausschuss lief – für die stoßen werde, dann sei die Koalition zu Ende. So ver- Soldaten, die wir in den Einsatz schicken, noch nicht ein- stünden Sie diese Selbstbindung. Ich sage Ihnen: Es darf mal die notwendigen Transportkapazitäten zur Verfü- nicht sein, dass aufgrund innerparteilicher Befindlichkei- gung. Die Bundeswehr braucht dringend neue ten einer Koalitionsfraktion die Soldaten darüber im Un- Transportflugzeuge als Ersatz für die über 30 Jahre alten klaren gelassen werden, wofür und wo wir sie einsetzen Transalls. Der Bundeskanzler hat die Anschaffung neuer werden und welche politische Zielsetzung sich mit Ihrem Transportflugzeuge auf internationaler Ebene wiederholt Mandat verbindet. zugesagt, ohne seinen Worten Taten folgen zu lassen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Herr Minister Scharping, Sie haben gesagt, dass Sie neten der FDP) den Vertrag über die Anschaffung neuer Transportflug- Wir halten die Verlängerung des Mandats für den Ein- zeuge unterschreiben könnten, wenn Sie eine entspre- satz in Mazedonien für erforderlich. Wir gehen davon aus, chende Verpflichtungsermächtigung bekämen. Eine dass es zeitlich begrenzt ist, und wünschen, dass so viel solche Verpflichtungsermächtigung würde Bundestags- Druck auf die Konfliktparteien ausgeübt wird, dass im abgeordnete, die bis jetzt noch nicht einmal gewählt sind, März kommenden Jahres eine erneute Verlängerung nicht in ihrem Abstimmungsverhalten in der nächsten Legisla- mehr notwendig sein wird. Nach unserer Meinung hat die turperiode binden! Bundeswehr mit ihren Einsätzen ihre Grenzen erreicht. Damit war das Hin und Her aber noch nicht beendet. Wir wollen, dass es eine verlässliche Finanzierung und (B) Sobald die Äußerung von Herrn Scharping über den (D) eine gute Ausstattung der Bundeswehr gibt. Eine moti- Ticker lief, hat der haushaltspolitische Sprecher der Grü- vierte Bundeswehr setzt voraus, dass wir informieren, nen erklärt, dies sei eine Brüskierung des Parlaments. Das dass es Transparenz darüber gibt, wofür Sie die Bundes- Geld sei nicht vorhanden. wehr einsetzen wollen. So können Sie weder mit der Industrie noch mit den Wir werden schon nächste Woche wieder zusammen- Soldaten umgehen. Sie können auch nicht einen Bundes- kommen, um im Deutschen Bundestag über ein weitaus tag binden, der noch gar nicht gewählt ist. umfangreicheres Mandat für die Bundeswehr zu befin- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- den. Sie haben jetzt noch wenige Tage Zeit, vor der deut- neten der FDP) schen Öffentlichkeit, vor den Soldaten und vor ihren Fa- milien endlich klar zu machen, wofür und an welchem Ort Deswegen fordern wir Sie auf: Legen Sie einen Nach- die Bundeswehr zum Einsatz kommen soll. tragshaushalt vor, in dem Sie solide, verlässlich und bere- chenbar darlegen, wie Sie die Bundeswehrsoldaten, die Sie bekommen unsere Unterstützung. Voraussetzungen wir in den Einsatz schicken, ausstatten und wie Sie ihren sind: Klarheit, Offenheit, Transparenz, Berechenbarkeit. Einsatz finanzieren wollen. Vielen Dank. Ich muss auch noch auf einen anderen Punkt hinwei- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des sen. Herr Außenminister, der Kollege Rühe hat Sie in der Abg. Ulrich Irmer [FDP]) Haushaltsdebatte in der vorletzten Woche gefragt, wel- ches politische Konzept dem Einsatz der Soldaten, die wir zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus mit ei- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat nem Mandat ausgestattet haben, zugrunde liege. Das müs- jetzt der Herr Bundesaußenminister . sen nicht nur wir wissen, wenn Sie unsere Zustimmung haben wollen. Vor allem die Soldaten – ich sage es noch Joseph Fischer, Bundesminister des Auswärtigen: einmal –, die mit unserem politischen Mandat ausgestat- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit der er- tet sind und die auf ihren Einsatz warten, haben ein Recht folgreichen Verabschiedung der Verfassungsänderungen darauf, zu erfahren, wohin sie geschickt werden. ist es gelungen, in Mazedonien, einem Schlüsselland auf Es soll nun offenbar ein ABC-Spürtrupp mit 800 Sol- dem Balkan, eine Entwicklung einzuleiten, die verspricht, daten entsandt werden. Die internationale Terrorismus- dass wir tatsächlich in der Lage sein werden, eine weitere bekämpfung konzentriert sich im Moment auf Afghanis- blutige Runde auf dem Balkan zu verhindern. 20570 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001

Bundesminister Joseph Fischer (A) In Mazedonien sind keinesfalls bereits alle Probleme Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat (C) gelöst, aber wir können heute schon feststellen, dass es ein jetzt der Abgeordnete Ulrich Irmer. Beispiel für eine keineswegs unriskante, aber doch mehr und mehr von Erfolg gekrönte Präventionspolitik der Ulrich Irmer (FDP): Frau Präsidentin! Meine Damen Bundesregierung auf dem Balkan darstellt. und Herren! Mit Ausnahme der notorischen Neinsager Wir haben mit dem Auseinanderbrechen Jugoslawiens von der PDS erlebt, wie ein blutiger und gewaltbereiter Nationalismus (Widerspruch bei der PDS) nicht zögerte, die Furien des Krieges in Europa wieder zu entfesseln. Es hat ethnische Säuberungen und Massen- werden wir heute erneut einem Antrag der Bundesre- vergewaltigungen gegeben. Allein in Bosnien liegen gierung auf Entsendung der Bundeswehr in einen Aus- 250 000 Menschen in Massengräbern. Millionen von landseinsatz mit großer Mehrheit zustimmen. Wir, die Flüchtlingen sind dem nationalistischen Irrsinn zum Opfer FDP-Fraktion, halten die Verlängerung des Mandats für gefallen. Wenn es etwas zu kritisieren gibt, meine Damen erforderlich. Wir sind der Auffassung, dass ohne das erste und Herren, dann ist es die Tatsache – ich werde nicht Mazedonien-Mandat zum Einsammeln der Waffen dieses müde, dies zu betonen –, dass wir die präventive Politik, die Mandat nicht möglich gewesen wäre. wir Europäer gemeinsam mit unseren Partnern des atlan- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten tischen Bündnisses auf dem Balkan umgesetzt haben, nicht der SPD) bereits im Jahr 1992 auf dem Balkan umsetzen konnten. Daher bitte ich diejenigen Abgeordneten der Regierungs- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN fraktionen, die damals so entschieden dagegen gewesen und bei der SPD) sind, uns jetzt einmal ein wenig dankbar dafür zu sein, Es war eine bittere Lektion, bitter vor allem für die un- dass wir ihnen die Möglichkeit gegeben haben, heute der schuldigen Opfer, bitter für ihre Familien, bitter für die be- Verlängerung des Friedenseinsatzes zuzustimmen. Ich er- troffenen Menschen und die Länder in der Region, bitter innere Sie daran, dass Sie damals keine eigene Mehrheit aber auch für Europa, für uns alle. Wir können allerdings aufbieten konnten und dass es zum ersten Einsatz, zumin- feststellen, dass diese Lektion – ich denke, das gilt für fast dest was die Beteiligung der Bundeswehr angeht, nicht alle hier im Hause – gelernt wurde und die notwendigen gekommen wäre, wenn nicht wir aus der Opposition he- Konsequenzen gezogen wurden, Konsequenzen, die be- raus diesem Einsatz zugestimmt hätten. deuten, dass der Einsatz militärischer Macht nicht ver- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – meidbar ist, dass er aber Ultima Ratio ist, dass der Einsatz [SPD]: Wir haben auf eure Ver- militärischer Macht politische Konflikte nicht lösen kann, nunft gesetzt!) (B) aber dort, wo es anders nicht mehr geht, wenn sich Gewalt (D) und Mord breit machen und ein gewaltbereiter Nationalis- Ich habe an uns alle eine sehr ernsthafte Bitte: Lassen mus meint, eine verwerfliche Politik umsetzen zu können, Sie uns dafür sorgen, dass diese Beschlüsse nicht zur die Voraussetzungen für ihre Lösbarkeit schafft. Routine werden. Wir haben in diesem Hause über diese Einsätze oft und (Beifall bei Abgeordneten der FDP) lange gestritten. Der erste Mazedonien-Einsatz war noch Wir sollten uns jedes Mal, wenn wir zu einem solchen Be- hochstreitig, die zweite Entscheidung, nämlich über die schluss aufgerufen sind, daran erinnern: Es geht um Le- Operation Amber Fox, war nicht mehr streitig. Wir kön- ben und Tod. Wir schicken Soldaten in einen gefährlichen nen heute feststellen, dass die politischen Vorgaben um- Einsatz. Der Einsatz in Mazedonien ist weit weniger ge- gesetzt wurden. fährlich, als es der in Afghanistan sein wird, über den wir Jetzt geht es darum, ein Vakuum zu verhindern. Jetzt nächste Woche zu beraten und zu beschließen haben, aber geht es darum, die weitere Implementierung der Verfas- vergessen wir nicht: Die Soldaten setzen bei jedem Ein- sungsänderungen und der Amnestievereinbarung zu be- satz ihr Leben aufs Spiel! Unsere Gedanken sollten auch gleiten. Die Voraussetzungen dafür sind, denke ich, nun in dieser Stunde bei den Soldaten und ihren Angehörigen gegeben. Ein Schreiben von Präsident Trajkovski mit dem sein, denen wir einen herzlichen Dank aussprechen. Ersuchen um Verlängerung für die Dauer von drei Mona- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten ten liegt vor. Wir hoffen, dass die Operation dann aus- der SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNIS- laufen kann. Sicher kann ich Ihnen das heute nicht sagen, SES 90/DIE GRÜNEN) nur: Die Alternative, nämlich eine erfolgreiche Operation abzubrechen, bevor die politischen Bedingungen, die ihre Es besteht – der Kollege Schockenhoff hat darauf hin- geordnete Beendigung ermöglichen, geschaffen wurden, gewiesen – natürlich ein Zusammenhang zwischen jedem kann man allen Ernstes nicht wollen. Deswegen hat der dieser Bundeswehreinsätze. Dabei geht es zum einen um NATO-Rat am 6. Dezember die Verlängerung beschlos- die Kapazitäten, um die Ausrüstung und um die sen. Ich bitte Sie alle hier um Ihre Zustimmung zur Ver- Gefährdungslagen; zum anderen geht es darum, wie eine Bundesregierung mit dem Parlament umgeht. In der Tat längerung dieses Mandats, damit wir die erfolgreiche war das, was die Bundesregierung erst gestern im Hin- präventive Politik in Mazedonien fortführen können. blick auf die Behandlung des Parlaments vorgeführt hat Ich bedanke mich. – man soll ja mit der Vokabel Skandal etwas zurückhal- tend umgehen –, zumindest höchst eigenartig. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) (Walter Hirche [FDP]: Starker Tobak!) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20571

Ulrich Irmer (A) Der Außenminister hat vor dem Auswärtigen Aus- Auch bitte ich Sie – sosehr wir jetzt, auch mit der Bun- (C) schuss – der für die Formulierung des Antrags, mit dem deswehr, im Rahmen der NATO aktiv werden –, doch die über diese Einsätze entschieden wird, federführend zu- europäische Komponente stärker in den Vordergrund zu ständig ist – in geradezu volmerschen Ausmaßen – mit rücken. Laeken wird sich mit einer gemeinsamen europä- Verlaub, Herr Fischer – herumgeeiert und blieb die Ant- ischen Sicherheitspolitik beschäftigen. Wir als Europäer, wort auf jede Frage schuldig. Zur gleichen Zeit gab der die wir diese Einsätze in Mazedonien bestritten haben, Verteidigungsminister eine Pressekonferenz, auf der er haben schon etwas geleistet, was eigentlich zu den diejenigen Antworten gab, die Herr Fischer dem Auswär- Petersberg-Aufgaben der Europäischen Union gehört. tigen Ausschuss nicht geben wollte. Was ist denn das für Hier müsste Laeken ein deutliches Signal setzen, dass wir ein Parlamentsverständnis? das, was jetzt schon erfolgreich gemacht worden ist, in die europäischen Strukturen überführen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) In diesem Sinne wünsche ich, dass wir hier eine große Mehrheit finden. Ich wünsche aber insbesondere, dass die Ich appelliere an die Kollegen aus der Koalition: Sie Soldaten, die wir jetzt wieder in den Einsatz schicken, heil müssen darüber einmal ein wenig nachdenken! Aber bei und gesund zu uns zurückkehren können. den Grünen ist eh alles zu spät. Sie schicken niemals mehr irgendwelche einfachen Abgeordneten in die Debatten; Vielen Dank. vielmehr redet immer der Einzige, den sie dafür noch ha- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten ben, nämlich Herr Fischer, der immer wieder spricht. der CDU/CSU) (Kerstin Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist eine außenpolitische De- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat batte!) jetzt der Abgeordnete Wolfgang Gehrcke. Ich habe lange keinen Vertreter der Fraktion der Grünen zu solchen Themen sprechen hören. Wolfgang Gehrcke (PDS): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es war zu erwarten, dass die (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Bundesregierung die Mazedonienfrage als Propaganda der CDU/CSU – Walter Hirche [FDP]: Das ist für eine erfolgreiche Außenpolitik benutzt. Es ist nicht eine Ministerpartei geworden, ganz einfach!) originell, was die Kollegen Fischer und Scharping hier ge- Herr Scharping hat mit Recht darauf hingewiesen, dass macht haben. Ich will Ihnen entgegenhalten, dass auch Sie wir in Mazedonien eine unerwartet erfreuliche Entwick- lernen sollten, dass erfolgreiche Militäraktionen noch lung beobachten können. Was gleichwohl nach wie vor lange kein Nachweis für erfolgreiche Politik sind. (B) (D) fehlt – auch darauf hat der Kollege Schockenhoff hinge- (Beifall bei der PDS – Rudolf Bindig [SPD]: wiesen –, ist ein umfassendes politisches Konzept zur Wie hätten Sie es denn gelöst? Gar nicht!) Lösung der Probleme auf dem Balkan. Machen wir uns nichts vor: Diese Gegend stellt nach wie vor ein Pulver- Wenn man diese Bilanz aufmacht, wird man auch ei- fass dar. Der Kosovo-Status ist nach wie vor ungeklärt. Es nige andere Tatsachen nicht verschweigen dürfen: gibt erfreuliche Entwicklungen: Slowenien und auch Deutschland hat in den drei Jahren Rot-Grün zweimal ak- Kroatien sind inzwischen stabile Demokratien. In Serbien tiv mit anderen Staaten zusammen Krieg geführt, und ist eine hoffnungsvolle demokratische Entwicklung in zwar gegen Jugoslawien und Afghanistan. Das gilt es fest- zuhalten. Deutsche Soldaten sind oder waren in Gang gekommen. In Mazedonien ist die Lage – auch dank Bosnien, im Kosovo, in Mazedonien, in Osttimor und in der Bemühungen der internationalen Gemeinschaft – sta- Afghanistan. Ich muss fragen – da Sie hierüber die Aus- biler geworden. kunft verweigern –, ob ich Dschibuti und Oman dazu- Was wir aber noch nicht haben, ist eine grundlegende setzen muss, ob ich nach dem Irak, nach Kuwait fragen Planung für das, was auf dem Balkan stabilisierend wei- muss. Die Bundesregierung täuscht die Öffentlichkeit. ter zu geschehen hat. Natürlich ist der Stabilitätspakt er- Wir wollen endlich wissen, wo deutsche Soldaten statio- freulich. Natürlich muss sich die Geberkonferenz darum niert sind oder stationiert werden sollen. Darüber hat der bemühen, die wichtigsten materiellen Lücken notdürftig Kollege Schockenhoff schon gesprochen. zu schließen, die dringendste Hilfe zu leisten. Aber das er- (Beifall bei der PDS) setzt nicht ein politisches Gesamtkonzept, das von der Regelung der politischen Fragen, der Menschenrechts- Die außenpolitischen Debatten landen bereits nach fragen und der Minderheitenfragen bis hin zu wirtschaft- zwei, drei Sätzen immer wieder bei der Militärfrage. Das lichen Konstrukten versucht, eine Lösung für diese Re- steht mittlerweile im Zentrum. Gestern sprach der Bun- gion zu finden, die im gesamteuropäischen Interesse liegt. deskanzler in seiner Regierungserklärung zur Europa- politik einen halben Satz zu sozialen Fragen, aber drei Jetzt noch ein hoffnungsvoller Gedanke zum Schluss. Seiten zur europäischen Verteidigungsgemeinschaft. Jede Berufen Sie, Bundesregierung, doch im Rahmen der Eu- Regierungserklärung endet darin, dass die außenpoli- ropäischen Union die Konferenz für Sicherheit und Zu- tische Fähigkeit an der Fähigkeit festgemacht wird, Sol- sammenarbeit in Südosteuropa ein. Ich glaube, hier daten zu entsenden. Außenpolitik darf aus meiner Sicht könnte nach dem Modell der damaligen KSZE wirklich nicht zur Militärpolitik verkommen. Das muss endlich Vernünftiges bewirkt werden. wieder getrennt werden. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der PDS) 20572 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001

Wolfgang Gehrcke (A) Die deutsche Außenpolitik ist in weiten Teilen Mi- Fahn‘ und Säbel und noch mehr, (C) litärpolitik, was sie nicht sein sollte. Deswegen kann man ja, ein ganzes Kriegesheer die Mazedonien-Entscheidung nicht nur an einer Einzel- möcht‘ ich gerne haben. frage festmachen, sondern muss dies von der politischen Danach agiert offensichtlich diese Regierung. Trommel, Linie abhängig machen. Wir haben Nein zur Entsendung Pfeife und Gewehr, ein ganzes Kriegesheer möchte sie der Truppen gesagt und sagen selbstverständlich auch einsetzen, und das möglichst weltweit. Das ist eben nicht Nein zur Verlängerung des Mandats. unsere Politik. Unsere Politik ist konträr und diese Politik (Beifall bei der PDS) werden wir hier im Parlament auch weiterhin vertreten. Wenn wir uns aber die Einzelfragen ansehen, was man (Beifall bei der PDS) ja tun soll und was ich auch wichtig finde, ist doch fest- zuhalten: Mazedonien wäre der klassische UN-Blauhelm- Fall gewesen. Beide Konfliktparteien waren einverstan- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Ich schließe die den. Was wir aber in Mazedonien haben, ist ein Aussprache. Nato-Einsatz. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss- Man muss auch einmal fragen, ob man die mazedo- empfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag nische Regierung mittlerweile als eine Regierung mit be- der Bundesregierung zur Fortsetzung der Beteiligung be- schränkter Souveränität bezeichnen soll, wenn hier unwi- waffneter deutscher Streitkräfte an dem NATO-geführten dersprochen berichtet wird, unter welchen politischen Einsatz auf mazedonischem Territorium. Druck Mazedonien gesetzt worden ist und dass die Ge- Es ist namentliche Abstimmung verlangt. Ich bitte Sie, berkonferenz immer noch nicht stattgefunden hat, weil bei der Stimmabgabe wie immer sorgfältig darauf zu ach- man dieses Druckmittel der Finanzen behalten will. Mit ten, dass die Stimmkarten Ihren Namen tragen. Ich bitte einer solchen Politik wird nicht stabilisiert, sondern de- die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgese- stabilisiert. Wenn Sie das zur Weltpolitik machen wollen: henen Plätze einzunehmen. – Sind die Plätze an den Bitte sehr, machen Sie so weiter. Dann erntet man das, Stimmurnen besetzt? – Urne 1 ist noch nicht besetzt. – was man gesät hat. Urne 2 ist auch noch nicht besetzt. – Jetzt sind beide Ur- (Beifall bei der PDS) nen besetzt. Ich eröffne die Abstimmung. Ich würde auch mit dem Jubel darüber, dass Deutsch- Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine land endlich Leitnation geworden ist, vorsichtiger umge- Stimme nicht abgegeben hat? – Das ist nicht der Fall. Ich hen. Mir geht es auf den Keks, ich habe damit nichts am schließe damit die Abstimmung. (B) Hut. Ich würde es zumindest nicht als besonders bedeut- Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit (D) sam herausstellen und damit indirekt auch begründen der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der nament- wollen, dass man ein eigenes Interesse daran hat, solche lichen Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben. Einsätze fortzusetzen. Natürlich will Deutschland damit auch seine gewachsene Souveränität beweisen. Wir setzen jetzt die Beratungen fort, und ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a bis 7 d sowie die Zusatz- Es ist auch darauf hinzuweisen, dass eine Entwaff- punkte 8 bis 13 auf: nung der Konfliktparteien in Mazedonien in der Tat nicht stattgefunden hat. Hier werden Gerüchte verbreitet. 7. a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Ich fasse zusammen: Politisch ist wenig gelöst, die richts des Ausschusses für Menschenrechte und Außenpolitik wird weiter in Richtung Militärpolitik humanitäre Hilfe (18. Ausschuss) zu dem Antrag betrieben, die Konfliktsituation auf dem Balkan wird der Abgeordneten Rudolf Bindig, Angelika Graf nicht entkräftet. Dazu gehörten eben eine Albanien-Poli- (Rosenheim), Hanna Wolf (München), weiterer tik, ein Konzept für den Konsovo und ein Konzept für Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Jugoslawien und Serbien, was mehr ist, als nur Druck aus- Abgeordneten Kerstin Müller (Köln), Rezzo zuüben. Aus allen diesen Gründen werden wir nicht zu- Schlauch und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/ stimmen. DIE GRÜNEN Nun soll man vor Weihnachten ja auch etwas Versöhn- Prävention und Bekämpfung von Frauen- liches sagen. Ehrlich gesagt, fällt mir das, was die Regie- handel rung angeht, schwer. – Drucksachen 14/6540, 14/7539 – (Unruhe – Glocke der Präsidentin) Berichterstattung: Abgeordnete Angelika Graf (Rosenheim) Ich habe lange gesucht, ob ich Ihnen nicht ein anspruchs- Dr. Erika Schuchardt volles Weihnachtsgedicht mit auf den Weg geben kann. Christa Nickels Ich fand das Weihnachtsgedicht von Hoffmann von Sabine Leutheusser-Schnarrenberger Fallersleben angemessen, das ich Ihnen nicht vorent- halten will: b) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Morgen kommt der Weihnachtsmann, Rudolf Bindig, Lilo Friedrich (Mettmann), kommt mit seinen Gaben. Angelika Graf (Rosenheim), weiterer Abgeord- Trommel, Pfeife und Gewehr, neter und der Fraktion der SPD sowie der Abge- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20573

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) ordneten Dr. Angelika Köster-Loßack, Irmingard ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Erika (C) Schewe-Gerigk, (Augsburg), weite- Reinhardt, Dr. Maria Böhmer, Hermann Gröhe, rer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNIS- weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ SES 90/DIE GRÜNEN CSU Kampf gegen weibliche Genitalverstümmelung Rechte der Frauen in Afghanistan durchsetzen im In- und Ausland und stärken – Frauen an politischen Prozessen – Drucksachen 14/5285, 14/6682 – beteiligen – Drucksache 14/7784 – c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hermann Gröhe, Annette Widmann-Mauz, Monika ZP 11 Beratung des Antrags der Abgeordneten Angelika Brudlewsky, weiterer Abgeordneter und der Frak- Graf (Rosenheim), Ursula Burchardt, Kerstin tion der CDU/CSU Griese, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Im Namen der „Ehre“ – Gewalt gegen Frauen der SPD, der Abgeordneten Irmingard Schewe- weltweit ächten Gerigk, Rita Grießhaber, Dr. Angelika Köster- Loßack, weiterer Abgeordneter und der Fraktion – Drucksache 14/7457 – des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der Abge- Überweisungsvorschlag: ordneten Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Ina Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe (f) Lenke, Dr. Irmgard Schwaetzer, weiterer Abge- Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ordneter und der Fraktion der FDP sowie der Ab- Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit geordneten Petra Bläss, Wolfgang Gehrcke, und Entwicklung Carsten Hübner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ingrid Teilnahme von Frauen am Friedensprozess in Fischbach, Peter Weiß (Emmendingen), Erika Afghanistan Reinhardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU – Drucksache 14/7815 – Gegen die sexuelle Ausbeutung und den Miss- ZP 12 Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD und brauch von Kindern des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Drucksache 14/7610 – Die Spirale der Gewalt in Tschetschenien durch- Überweisungsvorschlag: brechen (B) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) (D) Innenausschuss – Drucksache 14/7795 – Rechtsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe ZP 13 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung richts des Ausschusses für Menschenrechte und hu- Ausschuss für Tourismus manitäre Hilfe (18. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Carsten Dr. Helmut Haussmann, Ulrich Irmer, weiterer Ab- Hübner, Rosel Neuhäuser, Sabine Jünger, weiterer geordneter und der Fraktion der FDP Abgeordneter und der Fraktion der PDS Für eine Tschetschenien-Resolution der VN- Kinder vor sexueller Ausbeutung schützen – Menschenrechtskommission Kindersextourismus bekämpfen – Drucksachen 14/3186, 14/7809 – – Drucksache 14/7793 – Berichterstattung: Überweisungsvorschlag: Abgeordnete Rudolf Bindig Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe (f) Hermann Gröhe Innenausschuss Christa Nickels Rechtsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Sabine Leutheusser-Schnarrenberger Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit Nach interfraktioneller Vereinbarung sind für die Aus- und Entwicklung Ausschuss für Tourismus sprache eineinviertel Stunden vorgesehen. – Widerspruch höre ich nicht. Dann ist das so beschlossen. ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Annette Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der Widmann-Mauz, Hermann Gröhe, Maria Eichhorn, Abgeordnete Rudolf Bindig. weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Rudolf Bindig (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kol- Genitalverstümmelung an Mädchen und Frauen leginnen und Kollegen! Für die Debatte zum diesjähri- in der Bundesrepublik Deutschland und welt- gen Internationalen Tag der Menschenrechte, der bereits weit bekämpfen am 10. Dezember war, haben wir uns seit längerer – Drucksache 14/7783 – Zeit vorgenommen, die Rechte von Frauen in den 20574 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001

Rudolf Bindig (A) Mittelpunkt zu stellen. Die Ereignisse des 11. September digung des amerikanischen Präsidenten, Terroristen den (C) erfordern es jedoch, sich auch generell mit der Lage der Prozess nicht vor Zivilgerichten machen zu wollen, son- Menschenrechte in einer Zeit zu befassen, die von terroris- dern vor Militärgerichten ohne Berufungsmöglichkeit und tischen Gewalttaten und ihrer intensiven und aktiven mit eingeschränkten Verteidigerrechten. Ich frage mich: Bekämpfung geprägt ist. Die freiheitlichen Gesellschaften Was sind völkerrechtliche Konventionen wert, wenn sie stehen vor der Herausforderung, den Kampf gegen den just im Krisenfall außer Kraft gesetzt werden sollen? Terrorismus so zu führen, dass die Menschenrechte nicht beeinträchtigt werden oder gar auf der Strecke bleiben. (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS sowie der Abg. Sabine Zu Zeiten des kalten Krieges gab es immer die Ver- Leutheusser-Schnarrenberger [FDP]) suchung, jenen Staaten, welche bereit waren, sich dem ei- genen Lager zuzuordnen, einen Menschenrechtsrabatt zu Viertens. Deshalb müssen wir auch in Deutschland gewähren, das heißt, nicht so genau hinzusehen, wie die wachsam sein und dürfen uns nicht für vermeintlich mehr innere Struktur aussieht. Dies hat dem Menschenrechts- Sicherheit mit weniger Menschenrechten begnügen. Es gedanken geschadet und ihn geschwächt. Jetzt, da sich muss alles getan werden, damit erreichte Grund- und eine Staatenkoalition gegen den Terror zusammengefun- Menschenrechte nicht eingeschränkt werden. So bedarf den hat, besteht wieder die Gefahr, dass wegen des es einer sorgfältigen Abgrenzung von terroristischen Ak- gemeinsamen Ziels der Terrorismusbekämpfung Men- tivitäten und legitimem politischen Widerstand. Eine schenrechtsstandards relativiert werden. Diese Versu- Weitergabe von personenbezogenen Daten im Rahmen chung muss im Keim erstickt werden; gerade jetzt der internationalen Kooperation darf nicht dazu führen, brauchen wir eine streitbare Koalition für die Menschen- dass Betroffene bei einer Rückkehr gefährdet sind oder rechte. dass Betroffenen Folter bzw. grausame und unmenschli- che Behandlung oder gar die Todesstrafe droht. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Es ist eine gute Tradition in diesem Hause, dass wir in CDU/CSU, der FDP und der PDS) menschenrechtlichen Fragen eine möglichst breite ge- meinsame Basis suchen. Das darf uns nicht daran hindern, Eine solche Koalition für die Menschenrechte muss auf klar zu machen, wo es Probleme und Differenzen gibt. Folgendes achten: Seit Jahren haben wir Menschenrechtspolitikerinnen und Erstens. Dort, wo im unmittelbaren Konfliktgeschehen Menschenrechtspolitiker aller Fraktionen uns intensiv mit Gewalt unumgänglich ist, müssen strikt der Grundsatz der schwierigen Fragen des Ausländer- und Asylrechts be- Verhältnismäßigkeit eingehalten und das humanitäre fasst. Gemeinsam waren wir im Kern der Auffassung, Kriegsvölkerrecht beachtet werden. dass geschlechtsspezifische Verfolgungsgründe und (B) nicht staatliche Verfolgung eine stärkere Berücksich- (D) Zweitens. Bei der Zusammenarbeit mit anderen Staa- tigung finden sollten. ten im Rahmen der Koalition gegen den Terrorismus dür- fen die Menschenrechte nicht gegen andere Ziele aufge- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE rechnet werden. Allen Versuchen von Staaten, sich GRÜNEN und der PDS sowie der Abg. Sabine missliebiger oppositioneller Personen oder Gruppen mit Leutheusser-Schnarrenberger [FDP]) dem Hinweis auf deren terroristisches Potenzial zu ent- Für uns Menschenrechtler war es doch eigentlich ge- ledigen, ist vehement entgegenzutreten. Gewaltsames meinsam immer wieder klar, dass der Not leidende oder nicht verhältnismäßiges Vorgehen staatlicher Organe Mensch, dem Verfolgung, Quälerei oder gar Folter droht, gegen politisch Andersdenkende sowie gegen religiöse nicht verstehen kann, dass seine Rechtsstellung davon ab- und ethnische Minderheiten, die für ihre Rechte eintreten, hängen soll, ob der Peiniger ein staatlicher, quasi-staat- ist nicht zu rechtfertigen. licher oder nicht staatlicher Akteur ist. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Nun endlich hat ein Innenminister in einem Gesetz- Muslimische Uiguren in China, Oppositionelle in entwurf dieses Problem aufgegriffen und hat Vorschläge Simbabwe, Tschetschenen oder Palästinenser dürfen nicht unterbreitet, nichtstaatlicher und geschlechtsspezifischer Opfer der internationalen Strategie gegen den Terroris- Verfolgung mehr Aufmerksamkeit zu widmen. Und was mus werden. geschieht? Gerade gegen diese Bestimmungen wird von einigen führenden CDU- und CSU-Leuten polemisiert (Beifall bei Abgeordneten der SPD, des und unter Appell an einfache Instinkte Stimmung ge- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der macht. Ich bitte Sie von den Unionsparteien, die Sie sich PDS) im Menschenrechtsbereich engagieren: Treten Sie diesem Drittens. Ebenso wenig dürfen völkerrechtlich aner- Verhalten entgegen! Machen Sie Ihren Einfluss geltend, kannte Menschenrechtsstandards im Lichte der Terror- damit wir gemeinsam einen Fortschritt erreichen können! anschläge relativiert werden. Nicht akzeptabel sind (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE beispielsweise Überlegungen in Großbritannien, einge- GRÜNEN und der PDS sowie der Abg. Sabine gangene Verpflichtungen aus der Europäischen Men- Leutheusser-Schnarrenberger [FDP]) schenrechtskonvention ruhen zu lassen. Nicht nachvoll- ziehbar ist die Diskussion in US-amerikanischen Um klar zu machen, dass es auch in Zeiten gemein- Medien, ob es nicht legitim sei, von inhaftierten Terrori- samen Kampfes gegen den Terrorismus auch für wich- sten Informationen auch durch Folter zu erlangen. Men- tige Partnerländer keinen Menschenrechtsrabatt geben schenrechtlich äußerst problematisch ist auch die Ankün- kann, haben wir für diese Debatte einen Entschließungs- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20575

Rudolf Bindig (A) antrag zur Lage in Tschetschenien mit dem Titel „Die lich kein Täter ermittelt werden. Die Strafen sind eher ge- (C) Spirale der Gewalt in Tschetschenien durchbrechen“ ring oder sind suspendiert worden. vorgelegt. Leider muss festgestellt werden, dass der Obwohl es Anordnungen gibt, dass bei Säuberungsaktio- Tschetschenienkonflikt jetzt in seinen dritten Winter nen Vertreter der Staatsanwaltschaft und der lokalen Admi- geht. Ein Ende des von beiden Seiten mit aller Härte ge- führten Partisanenkrieges ist nicht in Sicht. Auch und nistration beteiligt werden sollen, um weitere Menschen- gerade eine differenzierte Betrachtung des Konfliktes rechtsverletzungen zu vermeiden, wird dies immer wieder führt zu der Erkenntnis, dass nur einige Gruppen der aufs Gröbste missachtet. Während also Staatsanwälte unter- tschetschenischen Kämpfer mit dem internationalen ra- suchen und Dekrete und Erlasse mit der Zielsetzung getätigt dikal-islamischen Terrorismus verbunden sind. Eine werden, die Menschenrechtslage zu verbessern, werden pauschale Gleichsetzung von Tschetschenen und Terro- gleichzeitig unter Missachtung dieser Anordnungen neue rismus ist nicht zulässig. schwere Menschenrechtsverletzungen begangen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Die Verantwortung liegt eindeutig bei der russischen DIE GRÜNEN) Regierung. Sie muss für eine Beachtung der eigenen Rechtsordnung sorgen und eine Beachtung der internatio- Es gibt auch historisch begründete lokale Ursachen dieses nal eingegangenen Verpflichtungen durchsetzen. Da die- Konfliktes, die vom Willen der Tschetschenen nach weit- ses nicht hinreichend geschieht, fordern wir die Bundes- gehender Selbstverwaltung geprägt sind. regierung erneut auf, gemeinsam mit den Partnern in der Das russische Vorgehen in der Region stand und steht EU darauf hinzuwirken, dass bei der 58. Tagung der UN- nicht im Einklang mit dem humanitären Völkerrecht der Menschenrechtskommission die Lage in Tschetschenien Europäischen Menschenrechtskonvention und mit dem in geeigneter Weise – sei es in einer Resolution, sei es in OSZE-Verhaltenskodex zu politischen und militärischen einem chairman’s statement –, sei es wieder auf die Ta- Aspekten der Sicherheit. Bis heute reißen Meldungen gesordnung gesetzt wird. über schwere und zum Teil systematische Menschen- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ rechtsverletzungen durch russische Sicherheitskräfte, DIE GRÜNEN sowie der Abg. Petra Bläss aber auch durch tschetschenische Kämpfer nicht ab. Ins- [PDS]) besondere bei so genannten Säuberungsaktionen werden ganze Dörfer durch russische Sicherheitskräfte überfal- Beim Besuch eines Flüchtlingslagers mit Binnen- len und ausgeplündert. An Straßensperren sind Zivilisten flüchtlingen in Tschetschenien mussten wir feststellen, Demütigungen und schweren Übergriffen an Leib und dass sich die Bedingungen gegenüber der Lage vor einem Leben sowie an Hab und Gut ausgeliefert. Weitgehende Jahr deutlich verschlechtert haben. Hier Abhilfe zu schaf- Rechtlosigkeit der Opfer und Straflosigkeit für die Täter fen gehört zu den elementaren humanitären und men- (B) steigern das Klima der Gewalt. schenrechtlichen Anliegen. Auch auf diesem Gebiet muss (D) die russische Regierung an ihre eigene Verantwortung er- Durch meine eigene Arbeit als Berichterstatter des Eu- innert werden. Auch müssen Wege gesucht werden, mit roparates für die Russische Föderation und als Mitglied den bewährten Trägern der humanitären Hilfe eine Besse- einer gemeinsamen Arbeitsgruppe von Parlamentariern rung zu erreichen. der Russischen Föderation und des Europarates zu Tschet- schenien konnte ich mich wiederholt – erst in der letzten Damit der Bundestag in der Frage der menschenrecht- Woche erneut – über die menschenrechtliche Lage in lichen und humanitären Lage in Tschetschenien klar Stel- Tschetschenien informieren. Es gibt eine merkwürdige lung bezieht, möchte ich Sie bitten, dem Entschließungs- Mischsituation von Maßnahmen zur Verhinderung, Redu- antrag, den wir dazu vorgelegt haben, zuzustimmen. zierung, Aufklärung und sogar Bestrafung von Men- Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. schenrechtsverletzungen einerseits und von Berichten über neue Menschenrechtsverletzungen durch russische (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Militärkräfte andererseits. DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS) So kann der Beauftragte des russischen Präsidenten zur Förderung der Menschenrechte in Tschetschenien, Kalamanow, darlegen, dass er mehr als 22 000 Beschwer- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Bevor ich die den und Anklagen aufgenommen und dokumentiert hat nächste Rednerin aufrufe, gebe ich Ihnen das von den und die Fälle, die kriminellen Charakter haben, an die zi- Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergeb- vilen und militärischen Staatsanwälte weitergeleitet hat. nis der namentlichen Abstimmung zu dem vorherigen Die Staatsanwaltschaften haben einige Hundert Fälle un- Tagesordnungspunkt bekannt: Abgegebene Stimmen 615. tersucht. Es sind schon einige Verurteilungen zu Mord, Mit Ja haben gestimmt 574, mit Nein haben gestimmt 35. Vergewaltigung, Misshandlung, Raub und Ausplünde- Es gab sechs Enthaltungen. Die Beschlussempfehlung ist rung ergangen. In vielen Fällen allerdings konnte angeb- damit angenommen.

Endgültiges Ergebnis Ja Ingrid Becker-Inglau Abgegebene Stimmen: 614; Hermann Bachmaier Dr. Axel Berg Ernst Bahr Hans-Werner Bertl davon SPD Friedhelm Julius Beucher ja: 573 Dr. Hans-Peter Bartels Petra Bierwirth nein: 36 Eckhardt Barthel (Berlin) Rudolf Bindig enthalten: 6 Ingrid Arndt-Brauer Klaus Barthel (Starnberg) (Heidelberg) 20576 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer

(A) Walter Hoffmann Volker Neumann (Bramsche) Dr. Cornelie Sonntag- (C) Klaus Brandner (Darmstadt) Gerhard Neumann (Gotha) Wolgast Anni Brandt-Elsweier () Dr. Edith Niehuis Wieland Sorge Frank Hofmann (Volkach) Dr. Rolf Niese Wolfgang Spanier Rainer Brinkmann (Detmold) Ingrid Holzhüter Dr. Margrit Spielmann Eike Hovermann Günter Oesinghaus Jörg-Otto Spiller (Hildesheim) Christel Humme Eckhard Ohl Dr. Ditmar Staffelt Hans-Günter Bruckmann Lothar Ibrügger Leyla Onur Antje-Marie Steen Edelgard Bulmahn Brunhilde Irber Manfred Opel Ludwig Stiegler Ursula Burchardt Gabriele Iwersen Holger Ortel Rolf Stöckel Dr. Michael Bürsch Renate Jäger Adolf Ostertag Rita Streb-Hesse Hans Martin Bury Jann-Peter Janssen Kurt Palis Reinhold Strobl (Amberg) Hans Büttner (Ingolstadt) Ilse Janz Albrecht Papenroth Dr. Peter Struck Marion Caspers-Merk Volker Jung (Düsseldorf) Georg Pfannenstein Joachim Tappe Wolf-Michael Catenhusen Johannes Kahrs Johannes Pflug Jörg Tauss Dr. Ulrich Kasparick Dr. Eckhart Pick Jella Teuchner Dr. Herta Däubler-Gmelin Sabine Kaspereit Joachim Poß Dr. Gerald Thalheim Christel Deichmann Susanne Kastner Karin Rehbock-Zureich Wolfgang Thierse Dr. Carola Reimann Franz Thönnes Peter Dreßen Hans-Peter Kemper Margot von Renesse Uta Titze-Stecher Detlef Dzembritzki Klaus Kirschner Renate Rennebach Adelheid Tröscher Dieter Dzewas Marianne Klappert Bernd Reuter Hans-Eberhard Urbaniak Dr. Peter Eckardt Siegrun Klemmer Dr. Edelbert Richter Rüdiger Veit Sebastian Edathy Hans-Ulrich Klose Christel Riemann- Simone Violka Ludwig Eich Hanewinckel (Pforzheim) Marga Elser Fritz Rudolf Körper Reinhold Robbe Hans Georg Wagner Peter Enders Karin Kortmann René Röspel Hedi Wegener Dr. Ernst Dieter Rossmann Dr. Konstanze Wegner Petra Ernstberger Nicolette Kressl Michael Roth (Heringen) Wolfgang Weiermann Annette Faße Volker Kröning Birgit Roth (Speyer) Reinhard Weis (Stendal) Lothar Fischer (Homburg) Angelika Krüger-Leißner Marlene Rupprecht Matthias Weisheit Horst Kubatschka Thomas Sauer Gunter Weißgerber Iris Follak Ernst Küchler Dr. Hansjörg Schäfer Gert Weisskirchen Norbert Formanski Helga Kühn-Mengel Gudrun Schaich-Walch (Wiesloch) Rainer Fornahl Ute Kumpf Rudolf Scharping Dr. Ernst Ulrich von Hans Forster Konrad Kunick Bernd Scheelen (B) Weizsäcker (D) Werner Labsch Dr. Jochen Welt Lilo Friedrich (Mettmann) Christine Lambrecht Siegfried Scheffler Dr. Harald Friese Brigitte Lange Horst Schild Hildegard Wester Arne Fuhrmann Christian Lange (Backnang) Otto Schily Lydia Westrich Monika Ganseforth Detlev von Larcher Dieter Schloten Inge Wettig-Danielmeier Konrad Gilges Christine Lehder Horst Schmidbauer Dr. Iris Gleicke Waltraud Lehn (Nürnberg) Dr. Norbert Wieczorek Günter Gloser Robert Leidinger (Aachen) Jürgen Wieczorek (Böhlen) Uwe Göllner Klaus Lennartz Silvia Schmidt (Eisleben) Helmut Wieczorek Renate Gradistanac Dr. Elke Leonhard Dagmar Schmidt (Meschede) (Duisburg) Günter Graf (Friesoythe) Eckhart Lewering Wilhelm Schmidt (Salzgitter) Dieter Wiefelspütz Angelika Graf (Rosenheim) Götz-Peter Lohmann Dr. Frank Schmidt Heino Wiese (Hannover) Dieter Grasedieck (Neubrandenburg) (Weilburg) Klaus Wiesehügel Gabriele Lösekrug-Möller Regina Schmidt-Zadel Brigitte Wimmer (Karlsruhe) Kerstin Griese Erika Lotz Heinz Schmitt (Berg) Engelbert Wistuba Achim Großmann Dr. Barbara Wittig Wolfgang Grotthaus Dieter Maaß (Herne) Dr. Emil Schnell Dr. Karl-Hermann Haack Winfried Mante Walter Schöler Verena Wohlleben (Extertal) Dirk Manzewski Karsten Schönfeld Hanna Wolf (München) Hans-Joachim Hacker Tobias Marhold Fritz Schösser Waltraud Wolff Klaus Hagemann Lothar Mark (Wolmirstedt) Manfred Hampel Ulrike Mascher Gisela Schröter Heidemarie Wright Alfred Hartenbach Dr. Mathias Schubert Anke Hartnagel Heide Mattischeck Richard Schuhmann Peter Zumkley Klaus Hasenfratz Markus Meckel (Delitzsch) Hubertus Heil Ulrike Mehl Brigitte Schulte (Hameln) CDU/CSU Reinhold Hemker Ulrike Merten Reinhard Schultz Frank Hempel (Everswinkel) Dr. Barbara Hendricks Dr. Jürgen Meyer (Ulm) Volkmar Schultz (Köln) Ursula Mogg Monika Heubaum Christoph Moosbauer Dr. Angelica Schwall-Düren Dietrich Austermann Reinhold Hiller (Lübeck) Michael Müller (Düsseldorf) Stephan Hilsberg Jutta Müller (Völklingen) Bodo Seidenthal Günter Baumann Gerd Höfer Christian Müller (Zittau) Erika Simm Jelena Hoffmann () Franz Müntefering Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk Meinrad Belle Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20577

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) Dr. Sabine Bergmann-Pohl Dr. Friedbert Pflüger Angelika Volquartz (C) Ursula Heinen Andrea Voßhoff Renate Blank Manfred Heise Ronald Pofalla Dr. Theodor Waigel Dr. Siegfried Helias Peter Weiß (Emmendingen) Hans Jochen Henke Marlies Pretzlaff Gerald Weiß (Groß-Gerau) Dr. Norbert Blüm Ernst Hinsken Dr. Bernd Protzner Annette Widmann-Mauz Heinz Wiese (Ehingen) Dr. Maria Böhmer Klaus Hofbauer Hans Raidel Hans-Otto Wilhelm (Mainz) Sylvia Bonitz Martin Hohmann Dr. Klaus-Peter Willsch Klaus Holetschek Helmut Rauber Bernd Wilz Wolfgang Börnsen Josef Hollerith Peter Rauen Matthias Wissmann (Bönstrup) Dr. Karl-Heinz Hornhues Christa Reichard (Dresden) Werner Wittlich Wolfgang Bosbach Siegfried Hornung Katherina Reiche Dagmar Wöhrl Dr. Wolfgang Bötsch Joachim Hörster Erika Reinhardt Elke Wülfing Klaus Brähmig Hubert Hüppe Hans-Peter Repnik Peter Kurt Würzbach Dr. Susanne Jaffke Wolfgang Zeitlmann Georg Janovsky Dr. Benno Zierer Dr.-Ing. Rainer Jork Franz Romer Wolfgang Zöller Dr. Harald Kahl Hannelore Rönsch Klaus Bühler (Bruchsal) Bartholomäus Kalb (Wiesbaden) BÜNDNIS 90/ Hartmut Büttner Steffen Kampeter Heinrich-Wilhelm Ronsöhr DIE GRÜNEN (Schönebeck) Irmgard Karwatzki Dr. Klaus Rose Kurt J. Rossmanith Marieluise Beck (Bremen) Cajus Caesar Eckart von Klaeden Adolf Roth (Gießen) Volker Beck (Köln) Peter H. Carstensen Ulrich Klinkert Dr. Norbert Röttgen (Nordstrand) Norbert Königshofen Dr. Christian Ruck Grietje Bettin Eva-Maria Kors Volker Rühe Ekin Deligöz Hartmut Koschyk Anita Schäfer Dr. Thea Dückert Hubert Deittert Thomas Kossendey Dr. Wolfgang Schäuble Franziska Eichstädt-Bohlig Albert Deß Dr. Martina Krogmann Hartmut Schauerte Dr. Uschi Eid Dr. Hermann Kues Heinz Schemken Hans-Josef Fell Thomas Dörflinger Karl-Heinz Scherhag Andrea Fischer (Berlin) Hansjürgen Doss Dr. Gerhard Scheu Joseph Fischer (Frankfurt) Marie-Luise Dött Dr. Karl A. Lamers Norbert Schindler Katrin Göring-Eckardt Maria Eichhorn (Heidelberg) Rita Grießhaber Dr. Christian Schmidt (Fürth) Gerald Häfner (B) (Lübeck) Dr.-Ing. Joachim Schmidt Antje Hermenau (D) Dr. Paul Laufs (Halsbrücke) Kristin Heyne Dr. Hans Georg Faust Karl-Josef Laumann Andreas Schmidt (Mülheim) Ulrike Höfken Albrecht Feibel Michael von Schmude Michaele Hustedt Werner Lensing Dr. Andreas Schockenhoff Dr. Angelika Köster-Loßack Ingrid Fischbach Peter Letzgus Dr. Dirk Fischer (Hamburg) Ursula Lietz Reinhard Freiherr von Dr. Helmut Lippelt Axel E. Fischer (Karlsruhe- Walter Link (Diepholz) Schorlemer Dr. Reinhard Loske Land) Dr. Erika Schuchardt Oswald Metzger Dr. Gerhard Friedrich Dr. Klaus W. Lippold Gerhard Schulz Kerstin Müller (Köln) (Erlangen) (Offenbach) Diethard Schütze (Berlin) Dr. Hans-Peter Friedrich Dr. Manfred Lischewski Clemens Schwalbe Christa Nickels (Hof) Wolfgang Lohmann Wilhelm Josef Sebastian Cem Özdemir Erich G. Fritz (Lüdenscheid) Simone Probst Jochen-Konrad Fromme Julius Louven Heinz Seiffert Christine Scheel Hans-Joachim Fuchtel Dr. Michael Luther Dr. h. c. Irmingard Schewe-Gerigk Dr. Jürgen Gehb Erich Maaß (Wilhelmshaven) Rezzo Schlauch Norbert Geis Erwin Marschewski Bärbel Sothmann Albert Schmidt (Hitzhofen) Dr. Heiner Geißler (Recklinghausen) Margarete Späte Werner Schulz (Leipzig) Georg Girisch Dr. Martin Mayer Carl-Dieter Spranger Christian Sterzing Michael Glos (Siegertsbrunn) Wolfgang Steiger Jürgen Trittin Dr. Reinhard Göhner Wolfgang Meckelburg Dr. Antje Vollmer Peter Götz Dr. Dr. Wolfgang Freiherr von Dr. Ludger Volmer Dr. Wolfgang Götzer Friedrich Merz Stetten Sylvia Voß Kurt-Dieter Grill Hans Michelbach Andreas Storm Helmut Wilhelm (Amberg) Hermann Gröhe Dr. Gerd Müller Dorothea Störr-Ritter Margareta Wolf (Frankfurt) Manfred Grund Bernward Müller (Jena) Horst Günther (Duisburg) Elmar Müller (Kirchheim) Matthäus Strebl FDP Carl-Detlev Freiherr von (Bremen) (Heilbronn) Hammerstein Michael Stübgen Ina Albowitz Günter Nooke Dr. Rita Süssmuth Rainer Brüderle (Großhennersdorf ) Franz Obermeier Dr. Susanne Tiemann Ernst Burgbacher Gerda Hasselfeldt Eduard Oswald Edeltraut Töpfer Jörg van Essen Hansgeorg Hauser Dr. Peter Paziorek Dr. Hans-Peter Uhl Ulrike Flach (Rednitzhembach) Gisela Frick 20578 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) Paul K. Friedhoff Detlef Parr Petra Bläss Christine Ostrowski (C) Horst Friedrich (Bayreuth) Maritta Böttcher Petra Pau Rainer Funke Dr. Edzard Schmidt-Jortzig Roland Claus Dr. Uwe-Jens Rössel Hans-Michael Goldmann Marita Sehn Heidemarie Ehlert Gustav-Adolf Schur Joachim Günther (Plauen) Dr. Hermann Otto Solms Dr. Heinrich Fink Dr. Ilja Seifert Dr. Karlheinz Guttmacher Dr. Max Stadler Dr. Dr. Winfried Wolf Klaus Haupt Carl-Ludwig Thiele Wolfgang Gehrcke Dr. Helmut Haussmann Dr. Klaus Grehn Dr. Dieter Thomae Enthalten Ulrich Heinrich Dr. Dr. Gregor Gysi Walter Hirche Dr. Barbara Höll Birgit Homburger Carsten Hübner SPD Ulrich Irmer Nein Ulla Jelpke Gudrun Roos Dr. Klaus Kinkel Gerhard Jüttemann Dr. Heinrich L. Kolb CDU/CSU Dr. Evelyn Kenzler BÜNDNIS 90/ Gudrun Kopp Dr. Dr. Heidi Knake-Werner DIE GRÜNEN Jürgen Koppelin Rolf Kutzmutz (Emstek) Annelie Buntenbach Ina Lenke Ursula Lötzer Norbert Otto (Erfurt) Sabine Leutheusser- Dr. Christa Luft Willy Wimmer (Neuss) Monika Knoche Schnarrenberger Heidemarie Lüth Hans-Christian Ströbele PDS Pia Maier Günther Friedrich Nolting Angela Marquardt PDS Hans-Joachim Otto Monika Balt Kersten Naumann (Frankfurt) Dr. Rosel Neuhäuser Manfred Müller (Berlin)

Entschuldigt wegen Übernahme einer Verpflichtung im Rahmen ihrer Mitgliedschaft in den Parlamentarischen Versammlungen des Europarates und der WEU, der Parlamentarischen Versammlung der NATO, der OSZE oder der IPU

Abgeordnete(r)

Behrendt, Wolfgang* Bierling, Hans-Dirk** Prof. Dr. Blank, Joseph-Theodor** Lörcher, Christa* SPD CDU/CSU CDU/CSU fraktionslos

* für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (B) ** für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung der NATO (D)

Wir fahren in der Debatte fort. Das Wort hat die Abge- gen und besonnenen Kampfes der USA und ihrer Verbün- ordnete Annette Widmann-Mauz. deten konnte Afghanistan vom Taliban-Regime befreit werden. Im Zuge dieses internationalen Kampfes gegen den Terrorismus wurde das Elend der Frauen in Afghanis- Annette Widmann-Mauz (CDU/CSU): Frau Präsi- tan unter den Taliban sichtbarer denn je. dentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Nach Karl Jaspers ist Hoffnungslosigkeit schon die vorweggenom- Seit der Machtübernahme der Taliban wurden Frauen mene Niederlage. Die heutige Debatte zum Tag der in Afghanistan Opfer von schwerwiegenden Menschen- Menschenrechte und der Besuch der Trägerin des Weima- rechtsverletzungen. Fanatiker haben im Namen von Reli- rer Menschenrechtspreises, Shahnaz Bokhari, in Deutsch- gion und Kultur die Bildung und Ausbildung von land sind für mich Signale der Hoffnung. Wir alle bekräfti- Mädchen untersagt, die medizinische Versorgung für gen, dass die Menschenrechte von Frauen und Mädchen Frauen eingestellt und die Arbeit von Frauen außerhalb unveräußerliche Bestandteile der allgemeinen Menschen- des Hauses verboten. Die elementaren Grundrechte der rechte sind. Im Kampf um die Durchsetzung der Frauen- Frauen wurden missachtet, Menschenrechtsverletzungen rechte als Menschenrechte bringen wir unsere Hoffnung an Frauen standen auf der Tagesordnung der Taliban. zum Ausdruck. Wenn man den Gedanken von Karl Jaspers Manchmal schien es uns, als hätten die Taliban den aufnimmt und weiterführt, könnte man zu folgender These Frauen das Atmen unter ihren Schleiern verboten. gelangen: Hoffnung ist auch schon ein erster Schritt zum Einige Frauen, so wie die Mitglieder der RAWA, bewei- Erfolg. sen Mut. Trotz Lebensgefahr setzen sie sich für die Freiheit Wir sind uns einig und wir haben den Traum, dass die ihres Landes und für die Freiheit der Frauen ein und kämp- Durchsetzung der Menschenrechte speziell für Frauen fen dafür. Diesen Kampf müssen wir alle mit großem Nach- und Mädchen gelingen kann. Wir dürfen nicht ablassen, druck unterstützen; denn er ist noch lange nicht gewonnen. daran zu arbeiten, dass dieser Traum Wirklichkeit wird. (Beifall im ganzen Hause) Die Realität ist aber erschreckend grausam. Die An- schläge von New York und Washington waren Terrorakte Für meine Fraktion steht dabei fest: Ohne die aktive Be- gegen die Zivilisten und Anschläge auf die zivilisierte teiligung von Frauen ist in Afghanistan kein dauerhafter Welt. Uns allen werden die schrecklichen Ereignisse des Friede und keine Demokratie möglich. Deshalb fordern 11. September zeitlebens vor Augen sein. Dank des muti- wir die Bundesregierung und insbesondere Frau Ministe- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20579

Annette Widmann-Mauz (A) rin Wieczorek-Zeul, die heute, wie wir sehen, nicht hier von Frauen, die ermordet oder verstümmelt worden sind, (C) sein kann, auf, und es geht darum, dass die Täter zur Rechenschaft gezo- gen und angemessen dafür bestraft werden. (Rudolf Bindig [SPD]: Sie ist auf der Reise nach Kabul!) (Beifall im ganzen Hause) diesen Frauen eine umfassende Hilfe zukommen zu lassen. Die Länder, in denen so genannte Schandemorde be- Darunter verstehen wir neben schnellen Hilfsmaßnahmen gangen oder gar offiziell zugelassen werden, müssen von- aber auch langfristige Programme im Bildungs- und Ge- seiten der Bundesregierung nachdrücklich aufgefordert sundheitsbereich; denn dort sind sie dringend notwendig. werden, ihre internationalen Verpflichtungen einzuhalten. „Die Zukunft des Planeten hängt von den Frauen ab“ – 168 Staaten sind dem Übereinkommen zur Beseitigung das hat der diesjährige Friedensnobelpreisträger Kofi jeder Form von Diskriminierung der Frau der Verein- Annan bei seiner Eröffnungsrede der Frauenkonferenz ten Nationen inzwischen beigetreten, zum Beispiel auch „Peking plus 5“ im letzten Jahr in New York gesagt. Die- . Aber der Beitritt allein reicht nicht aus; das Ab- ser Satz ist nach den Ereignissen des 11. September ak- kommen muss auch umgesetzt werden. tueller denn je. Lassen Sie uns gemeinsam daran mitwir- (Beifall bei der CDU/CSU, dem BÜND- ken, die Zukunft unseres Planeten aktiv und positiv zu NIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP) gestalten. Dabei gibt es viel zu tun. Der Horrorkatalog der Menschenrechtsverletzungen an Frauen beschränkt Im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit müssen sich nämlich längst nicht mehr nur auf Afghanistan. auch in den Bereichen Bildung und Justiz größere präven- tive Anstrengungen zur Verhinderung von Schandemor- Es liegt mir am Herzen, an dieser Stelle zwei äußerst den unternommen werden. Sie sind gefordert, meine Da- gravierende Menschenrechtsverletzungen an Frauen an- men und Herren auf der Regierungsbank! Unterstützen zusprechen, zu denen die Unionsfraktion aktuell zwei Sie spezielle Projekte wie die von UNIFEM oder von der weitere Anträge vorgelegt hat. Zum einen geht es um die Juristenvereinigung für Menschenrechte „Mizan“! Ein so genannten Schandemorde und zum anderen um die falsches Verständnis der so genannten Familienehre Genitalverstümmelungen. gehört in die Mottenkiste der ausgedienten Mythen, aber Ich habe Shahnaz Bokhari eingangs bereits erwähnt, nicht in die Gerichtssäle dieser Welt. ihren Mut und ihre bewundernswerte Stärke allerdings (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) noch nicht. Wie sie als Leiterin eines Frauenhauses in Pa- kistan anderen Frauen geholfen hat und hilft, verdient un- 130 Millionen Mädchen und Frauen leiden weltweit an seren uneingeschränkten Respekt, unsere Anerkennung den Folgen von Genitalverstümmelung. Für mich ist und unsere Unterstützung. Genitalverstümmelung ein Akt der Folter. Sie kann nicht (B) mit der Berufung auf eine Religion oder Kultur gerecht- (D) (Beifall im ganzen Hause) fertigt werden. Der Deutsche Bundestag hat am 8. Mai Der Weimarer Menschenrechtspreis ist Ausdruck dafür. 1998 fraktionsübergreifend ausdrücklich darauf hinge- Viele Frauen, die bei ihr Zuflucht gefunden haben, wur- wiesen, dass die Bundesregierung alle Möglichkeiten ein- den von ihren Ehemännern grausam verstümmelt. setzen soll, um die Genitalverstümmelung weltweit zu bekämpfen. Mit unserem aktuellen Antrag bekräftigen Getötet im Namen der Ehre: wir diesen wichtigen Appell an die Bundesregierung. Wir Ihre Familie verdächtigte sie, mit dem Nachbarn eine erwägen zudem einen verbesserten ausländerrechtlichen Liebesbeziehung zu haben. Deshalb musste Ghazala Aufenthaltsstatus für die Frauen, bei denen die Dauerhaf- sterben. Der Mörder war ihr eigener Bruder. Er zün- tigkeit ihres Aufenthalts absehbar ist. dete sie an; sie starb eines qualvollen Todes. Ihr (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, des nackter, verbrannter Körper lag zwei Stunden lang BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der unbeachtet auf der Straße, weil niemand etwas damit FDP) zu tun haben wollte. Deshalb können Sie sich Ihre Ratschläge, auch wenn sie So heißt es in einem Bericht von Amnesty International. gut gemeint sind, wirklich sparen, Herr Bindig. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist ein Fall von Es ist gut, dass die Bundesrepublik Deutschland in man- vielen. 5 000 Frauen und Mädchen werden nach UN- chen Ländern schon Projekte zur Bekämpfung der Genital- Schätzungen jährlich im Namen der Ehre ermordet, zum verstümmelung unterstützt. Doch dies sind erste Schritte. Selbstmord gezwungen, gesteinigt, verbrannt oder mit Ihre Anstrengungen bei Regierungsverhandlungen sind sehr Säure übergossen. Dabei müssen sie den Ehebruch noch auf den Schwerpunkt Westafrika beschränkt. Meines Er- gar nicht begangen oder sich mit einem männlichen Nach- achtens werden auch die Möglichkeiten des Drucks auf alle bar gar nicht unterhalten haben. Allein der Verdacht oder Länder, in denen Genitalverstümmelung weiter toleriert das Gerücht, sich nicht an den traditionellen Verhal- wird, nicht nachhaltig genug ausgeschöpft. Zudem ist die tenskodex gehalten zu haben, reicht aus, um Frauen zu finanzielle Unterstützung der Projekte zur Bekämpfung Opfern der meist familiären Selbstjustiz zu machen. der Genitalverstümmelung noch nicht ausreichend. Dies ge- Mit diesem Antrag möchten wir die Öffentlichkeit ben Sie in der Antwort auf die Anfrage an die Bundesregie- auch für diese Schandemorde wachrütteln. Es muss etwas rung auch selbst zu. 5,8 Millionen DM, die von Ministerin gegen diese Frauen verachtenden Menschenrechtsverlet- Wieczorek-Zeul für das Jahr 2000 angekündigt wurden, zungen unternommen werden; denn es geht nicht um ab- sind auf vier Jahre gestreckt worden, statt sie in einem ein- strakte Opferzahlen, es geht um Namen, um Gesichter zigen Jahr einzusetzen. Ich denke, dies spricht für sich. 20580 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001

Annette Widmann-Mauz (A) Es geht darum, die Beschlüsse der Weltfrauenkonfe- keiten selber zu erdulden haben. Bei allem Engagement (C) renz umzusetzen. Die Länder, die damals das Schluss- haben wir in einer Mischung aus Überforderung und Ver- dokument und alle anderen Vereinbarungen der Pekinger drängung hingenommen, dass andernorts auf unserem Weltfrauenkonferenz und der Konferenz „Peking plus 5“ Planeten Menschen massenhaft um Hab und Gut, Ge- in New York akzeptiert haben, müssen von uns täglich an sundheit, Würde, Leib und Leben gebracht wurden und die gemachten Versprechungen und Verpflichtungen erin- dass sich Politik auch im Namen unserer Interessen in den nert und ermahnt werden. Die Bundesregierung muss in verschiedensten Regionen der Welt nicht gescheut hat, ihren internationalen Beziehungen noch nachdrücklicher Teufel mit Beelzebub austreiben zu wollen. als bisher auf die Durchsetzung der Frauenrechte als Men- schenrechte hinwirken. Wir haben nach dem Ende der Blockkonfrontation die Friedensdividende für uns eingefordert und dabei hinge- (Beifall bei der CDU/CSU) nommen, dass ganze Weltregionen einer Erosion staat- Es geht aber auch um den Kampf gegen die Genital- licher und institutioneller Ordnung anheim fielen. verstümmelung in der Bundesrepublik Deutschland. Schreckensszenarien in Ländern wie Sierra Leone, Soma- Es kann nicht sein, dass in unserem Land Fälle der Geni- lia, Ruanda oder dem Kongo in den 90er-Jahren, denen talverstümmelung entdeckt werden, ohne dass etwas da- viele Hunderttausend Menschen zum Opfer fielen, haben gegen getan werden kann. Deshalb muss die Bundesre- uns aufgewühlt und betroffen gemacht, aber bei weitem gierung dafür sorgen, dass Genitalverstümmelung von nicht so wie die Ereignisse am 11. September. Warum? den Staatsanwaltschaften in der Bundesrepublik von sich Ich glaube, wir haben erst am 11. September kollektiv be- aus, also ex officio, verfolgt wird. griffen, was Globalisierung tatsächlich bedeutet: Es gibt auf Dauer keine Zonen „geteilter Sicherheit“. Chaos, Ter- ror, Ausbeutung und Verfolgung in einem Teil der Welt Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Achten Sie bitte betreffen über kurz oder lang uns alle. auf die Zeit. Der 11. September stellt die Menschenrechtspolitik vor neue Herausforderungen. Afghanistan zeigt, dass zusam- Annette Widmann-Mauz (CDU/CSU): Ich komme menbrechende staatliche Ordnungen Brutstätten für Men- zum Schluss. schenrechtsverletzungen sind – bis hin zur Gefährdung des Genitalverstümmelung ist nämlich nicht nur ein Ver- Weltfriedens. In solchen „schwarzen Löchern der Ord- stoß gegen die Menschenwürde; sie ist eine schwere Kör- nungslosigkeit“ fällt der Staat als Garant von Rechtsstaat- perverletzung im Sinne des Strafgesetzbuches. lichkeit und Adressat von Menschrechtspolitik aus. Deshalb ist der Aufbau von Zivilgesellschaften in diesen Ländern so Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, es ist nicht genug, wichtig und deshalb brauchen wir „nation building“. So- (B) zu wissen; man muss es auch anwenden. Es ist nicht ge- lange stabile, legitimierte Regierungen fehlen, bleiben in- (D) nug, zu wollen; man muss es auch tun. Wir alle wollen, ternationale Menschenrechtskonventionen wirkungslos. dass Frauenrechte als Menschenrechte weltweit respek- tiert und umgesetzt werden. Den auf dem Petersberg ausgehandelten Zweijahres- plan zum politischen, sozialen und wirtschaftlichen Wie- Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. deraufbau des Landes und die Einigung auf eine Über- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- gangsregierung hätte noch vor wenigen Wochen niemand neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) so für möglich gehalten. Dieser Prozess ist nicht frei von Risiken. Er kann scheitern. Er mutet dem geschundenen afghanischen Volk ungeheuer viel zu; aber er gibt ihm Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Ich muss noch auch seine Würde zurück, gerade weil er auf die Kraft und etwas aus der vorigen Debatte – es war die Wirtschafts- den Willen der Afghanen setzt, ohne sie allein zu lassen. debatte – nachtragen. Ich bin von den Protokollanten da- rauf hingewiesen worden, dass der Abgeordnete Hans (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Georg Wagner den Begriff „Volksverhetzer“ benutzt hat. und bei der SPD) Das entspricht nicht parlamentarischem Brauch. Dafür Zu dieser Unterstützung gehört unabdingbar eine vom muss ich ihm einen Ordnungsruf erteilen. UN-Sicherheitsrat mandatierte Schutztruppe. Nur so kann Jetzt fahren wir in der Debatte fort. Das Wort hat die verhindert werden, dass Warlords umgehend die Macht an Abgeordnete Christa Nickels. sich reißen und das Land in einen Vor-Taliban-Zustand zurückfällt. Christa Nickels (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Problematik von Ländern, in denen die Regierung Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! entweder die Kontrolle über Bürgerkriegsparteien oder „Nach dem 11. September wird nichts mehr so sein, wie marodierende Banden verloren hat oder sich nur noch es war.“ Dieser Satz hat sich ebenso in unsere Köpfe ein- mittels der Unterdrückung von Teilen der Bevölkerung an gebrannt wie die schrecklichen Bilder der brennenden der Macht halten kann, zeigt aber auch, wie dringlich die Twin Towers in New York. Anerkennung nicht staatlicher und geschlechtsspezifi- scher Verfolgung ist. Wir Bürger der westlichen Hemisphäre hatten uns zu- mindest in unserem alltäglichen Lebensgefühl in einer (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN so- Welt eingerichtet, in der es normal zu sein schien, dass wir wie bei Abgeordneten der SPD und der Abg. weder Hunger noch Krieg, noch organisierte Grausam- Petra Bläss [PDS]) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20581

Christa Nickels (A) Unser Menschenrechtsausschuss hat gleich zu Beginn ner Aufweichung von Menschenrechtsstandards führen. (C) dieser Legislaturperiode mit einer viel beachteten An- Warnzeichen – Kollege Bindig hat darauf hingewiesen – hörung dafür gesorgt, dass dieses Thema auf die Tages- gibt es aber leider viele. Die britische Regierung hat einen ordnung gesetzt worden ist. Ich bin froh, dass die hart- Entwurf für ein Notstandsgesetz vorgelegt, in dem unter näckigen Bemühungen dazu geführt haben, diese anderem die Inhaftierung mutmaßlicher Terroristen ohne Fluchtgründe in den Entwurf für ein Zuwanderungsgesetz Anklage oder Verfahren vorgesehen ist, eine Maßnahme, aufzunehmen. Ich setze darauf, dass diese menschen- die gegen Art. 5 der Europäischen Menschenrechtskon- rechtliche Notwendigkeit die erforderlichen Mehrheiten vention verstößt. findet. Angesichts der parteiübergreifenden Empörung über die desolate Menschenrechtslage der Frauen in Af- Am 13. November 2001 hat US-Präsident George ghanistan kann ich mir wirklich kein Scheitern mehr vor- Bush eine Verfügung unterzeichnet, mit der er sich das stellen; es sei denn, man hätte nur Krokodilstränen ge- Recht vorbehält, ausländische Terroristen vor ein Militär- weint. gericht statt vor ein Strafgericht zu stellen. Vor nicht allzu langer Zeit haben die westlichen Demokratien Staaten wie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN China, Ägypten oder Peru noch wegen heimlicher Pro- sowie bei Abgeordneten der SPD) zesse und des Einsatzes von Militärgerichten kritisiert. Dass Menschenrechte auch Frauenrechte sind, war für Wenn nun die USA als eine der größten, angesehensten viele politische Entscheidungsträger hierzulande eine Er- und ältesten Demokratien der Welt zu rechtsstaatlich und kenntnis, mit der man sich schmücken konnte, wenn man menschenrechtlich bedenklichen Mitteln im Kampf ge- vor Frauenverbänden aufzutreten hatte, die aber ansons- gen den Terrorismus greifen, dann machen sie selbst die ten irrelevant war. Dann kam der 11. September 2001 und Verletzung von Menschenrechten in den Staaten, in denen die Augen der Weltöffentlichkeit richteten sich auf Af- wir noch um die Anerkennung von Menschenrechten ghanistan. Seitdem kann man täglich in den Medien er- kämpfen müssen, salonfähig, obwohl die USA zu deren fahren, was Menschenrechtsverletzungen an Frauen be- Verteidigung in den Kampf gegen Osama Bin Laden und deuten. sein Terrornetzwerk gezogen sind. Alarmieren muss uns auch die Tatsache, dass die Biowaffenkonferenz in Genf Die Taliban haben ihre Macht von Anfang an auch da- soeben am Verhalten der USA gescheitert ist. durch stabilisiert, dass sie Frauen und Mädchen systema- tisch entrechtet haben. Begründet wurde diese Menschen- Nicht von der Hand zu weisen ist auch die Gefahr, dass rechtsverletzung durch den Verweis auf Religion und die stillschweigend geduldete Untätigkeit von Regierun- Kultur. Tatsächlich aber erfüllen sie gezielt eine machter- gen angesichts von Menschenrechtsverletzungen jetzt haltende Funktion. Gewalt gegen Frauen und die gewalt- noch größer wird oder diese Untätigkeit gar als Mittel der (B) same Festschreibung eines tradierten Frauenbildes redu- Terrorbekämpfung legitimiert wird. Darum fordern die (D) zieren und fixieren die Frau auf den Status eines Koalitionsfraktionen in ihrem Antrag die Bundesregie- ausbeutbaren Objekts und werden als brutales Instrument rung auf, die erfreuliche Intensivierung der deutsch-russi- genutzt, um religiöse, soziokulturelle und ethnische Iden- schen Beziehungen nach dem Besuch von Präsident Putin tität herzustellen. Darum ist es unabdingbar, dass die dazu zu nutzen, gegenüber Russland darauf zu drängen, Frauen und Mädchen Afghanistans von Anfang an aktiv dass die russische Regierung ihre internationalen Ver- und gleichberechtigt am Friedens- und Wiederaufbaupro- pflichtungen einhält und auch in Tschetschenien die Ach- zess teilnehmen können. tung der Menschenrechte und des humanitären Völker- rechts durch die Streitkräfte sicherstellt. (Beifall im ganzen Hause) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Zugleich darf uns die Situation in Afghanistan nicht da- und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der rüber hinwegtäuschen, dass Menschenrechtsverletzungen PDS) an Frauen auch in vielen anderen Staaten der Erde gang und gäbe sind: in Ländern wie zum Beispiel Pakistan, Nach dem 11. September brauchen wir weltweit nicht Saudi-Arabien, Ägypten, Bangladesch, in der Türkei und weniger, sondern mehr Menschenrechte. in zahlreichen afrikanischen Staaten. In den vorliegenden Danke schön. Anträgen werden mit Genitalverstümmelungen und Schandemorden lediglich zwei besonders drastische (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Formen der Gewalt angeprangert. Das Muster, das diesen bei der SPD und der PDS sowie bei Abgeord- systematischen Angriffen auf die Menschenwürde von neten der CDU/CSU) Frauen zugrunde liegt, ist immer dasselbe: Die Taten selbst werden als kulturelle oder religiöse Bräuche ge- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt rechtfertigt und deshalb von den Regierungen zwar nicht die Abgeordnete Sabine Leutheusser-Schnarrenberger. erlaubt, aber geduldet. Die Taten selbst werden ver- schwiegen. Die Opfer werden mundtot gemacht und die Täter straflos gestellt. Diese Unkultur der Straflosigkeit Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP): muss endlich beendet werden. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am Ende des Jahres 2001 geschehen in vielen Regionen die- (Beifall im ganzen Hause) ser Welt Menschenrechtsverletzungen in unterschiedlich- Der Internationale Strafgerichtshof wird dringend ge- ster Form: Diskriminierung von Minderheiten, Vertrei- braucht. Die Terrorismusbekämpfung darf nicht zu ei- bung, Folter, Mord, Zerstörung und immer wieder 20582 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (A) Vergewaltigungen, Frauenhandel, Zwangsprostitution, Der Geberkonferenz für Afghanistan nächste Woche (C) Verschleppung von Frauen, Ermordung von Frauen in den kommt große Bedeutung zu. Denn sie muss mit ihren Ent- islamischen Staaten, da sie angeblich die Familienehre scheidungen deutlich machen, dass Frauen am Wieder- verletzt haben, Genitalverstümmelungen, Unterdrückung aufbau beteiligt werden und Projekte mit dem Ziel des Zu- bis hin zur totalen Entrechtung von Frauen. gangs von Frauen und Mädchen zu Bildung, Erwerbs- arbeit und medizinischer Versorgung Priorität haben müs- Frauenrechte sind Menschenrechte. Diese Botschaft sen. Die Geberkonferenz muss die Koordinierung der vie- der UN-Weltfrauenkonferenzen wird nach wie vor von len guten Initiativen und kompetenten NGOs unterstüt- vielen Machthabern, von vielen Staaten und auch von zen, damit die ausreichend zur Verfügung stehenden großen Teilen der Zivilbevölkerung nicht wirklich ernst Gelder angesichts des bevorstehenden Winters rechtzeitig genommen. Gerade deshalb haben wir zum Schwerpunkt die Menschen erreichen, die in den letzten Jahren Not ge- der heutigen Debatte anlässlich des Tages der Menschen- litten haben und jetzt noch Not leiden. rechte, der am Montag, dem 53. Jahrestag der Allgemei- nen Erklärung der Menschenrechte, war, die Situation von (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Frauen gemacht. der SPD und der CDU/CSU) Die Menschenrechtssituation in Afghanistan war eben Die Frauen in Afghanistan haben in den letzten Jahren kein Beweggrund für die Militäroperation „Enduring mit am meisten gelitten. Das war für sie besonders er- Freedom“. Das vollständige Verdrängen der afghanischen niedrigend, weil sie andere Zeiten erlebt hatten. Sie hat- Frauen aus dem gesellschaftlichen Leben und aus der Ar- ten teil am gesellschaftlichen Leben, haben in der Ver- beitswelt, von Mädchen aus den Schulen sowie von kran- waltung, in der Regierung gearbeitet, und zwar zu einem ken Frauen aus den Krankenhäusern war in den letzten hohen Prozentsatz. Sie haben in den letzten Jahren unter fünf Jahren schmerzliche Realität, aber kein Anlass, zum dem Talibanregime nicht aufgegeben, sondern mit ihren Beispiel eine Allianz gegen die Verletzung von Frauen- sehr begrenzten Möglichkeiten versucht, wenigstens et- rechten zu schmieden. was Bildung, Wissen und Sprachkenntnisse jungen Mädchen und anderen Frauen zu vermitteln. Auch des- Der Allianz gegen die Terroranschläge in den USA halb muss den Frauen in Afghanistan für die Zukunft eine kommt jetzt eine große Chance zu. Aber sie birgt auch Ge- entscheidende Schlüsselrolle zukommen. fahren. An dieser Antiterrorallianz, die zu schmieden mühsam genug war, sind einige Staaten beteiligt, in denen (Beifall bei der FDP und der SPD sowie bei Ab- massive Menschenrechtsverletzungen stattfinden. Lassen geordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- Sie mich hier nur Pakistan und Saudi-Arabien erwähnen. NEN und der Abg. Petra Bläss [PDS]) Gefahren birgt die Antiterrorallianz, weil die Unterschei- Lassen Sie mich zu einem zweiten Problemfeld, zu dung zwischen Terroristen und legitimen Freiheitskämp- (B) dem die FDP-Bundestagsfraktion einen Antrag einge- (D) fern verwischt zu werden droht. Gefahren birgt sie, weil bracht hat, einige Worte sagen, nämlich dem auch vom beim Vorgehen gegen Terroristen grundlegende Normen Kollegen Bindig angesprochenen Tschetschenien-Kon- des Völker- und Menschenrechts außer Kraft gesetzt wer- flikt. Die FDP-Fraktion hat schon mit ihrem Antrag im den können. Gefahren birgt sie, weil die Menschenrechte April letzten Jahres zur vorletzten UN-Menschenrechts- zur Nebensache zu geraten drohen. Das, meine Damen konferenz auf die Menschenrechtsverletzungen beim Vor- und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, dürfen wir gehen des russischen Militärs hingewiesen. Wir sind uns nicht zulassen, weder in Tschetschenien noch in der hier im Hause einig, dass sich alle am Tschetschenien- Volksrepublik China, weder in Pakistan noch in Saudi- konflikt Beteiligten natürlich an das Völkerrecht, an hu- Arabien. manitäre Verpflichtungen und den Verhältnismäßigkeits- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie grundsatz zu halten haben. bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE Leider ist es nicht gelungen, diesen Antrag so rechtzei- GRÜNEN und der PDS) tig zu beraten, dass er zur vorletzten UN-Menschen- Die Chancen für Afghanistan ergeben sich daraus, rechtskonferenz vom Bundestag als Signal nach Genf dass die für Frauen jahrelang aussichtslose Menschen- hätte gesandt werden können. So blieb nichts anderes rechtssituation positiv verändert werden kann. Die übrig, als ihn durch den Änderungsantrag „Tschetsche- Chance eines absehbaren Endes der massiven Militär- nien nicht vergessen“ zu aktualisieren. Ich darf konstatie- schläge liegt darin, dass Frauen im Rahmen der islami- ren, dass es in vielen Punkten mit dem später von den Ko- schen Kultur wieder am gesellschaftlichen Leben partizi- alitionsfraktionen eingereichten Entschließungsantrag pieren können und vor allem den Friedensprozess und die Übereinstimmungen gibt. Ich sehe die FDP-Fraktion als Veränderung der gesellschaftlichen und politischen Struk- Initiator dafür, dass es zu diesem Entschließungsantrag turen mitgestalten können. Wir sind uns alle einig: Ohne gekommen ist. die Beteiligung von Frauen wird es keine stabile Neuord- (Rudolf Bindig [SPD]: Sie sind da offene nung in Afghanistan geben. Türen eingerannt!) (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und dem Wir stimmen ihm im Wesentlichen wegen zwei Punk- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abge- ten nicht zu. Deshalb hat es im letzten Moment keine Ei- ordneten der PDS) nigung gegeben; unsere Forderungen gehen über die in Dies wird zu Recht in dem Gruppenantrag, an dem die dem Antrag der Koalitionsfraktionen hinaus. Wir fordern FDP mitgewirkt hat, unter anderem gefordert. nämlich zum Ersten, dass die völkerrechtliche Zulässig- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20583

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (A) keit des russischen Vorgehens in Tschetschenien im Rah- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat (C) men des NATO-Russland-Rates thematisiert wird. jetzt die Abgeordnete Petra Bläss. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Petra Bläss (PDS): Frau Präsidentin! Liebe Kollegin- Das ist auch richtig: Denn wenn man zusammen Schlitten nen und Kollegen! Der Internationale Tag der Menschen- fährt, wenn man sich ohne Schlips umarmt, kann man un- rechte hat uns erneut ins Bewusstsein gebracht, in welch ter guten Nachbarn diese Themen dort ansprechen, wo sie starkem Maße Frauen in aller Welt immer noch brutal hingehören. unterdrückt werden und entrechtet sind. Nach Angaben der Vereinten Nationen werden jährlich 4 Millionen (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der Mädchen und Frauen in Ehe und Sklaverei verkauft, rund PDS) 5 000 werden Opfer so genannter Ehrenmorde. In vielen Zum Zweiten fordert die FDP, dass sich die Bundesre- Ländern der Erde haben Frauen kaum Zugang zu Ge- gierung für eine unabhängige Untersuchung der Men- sundheitsversorgung und Bildung, werden ihnen Bürger- schenrechtsverletzungen in Tschetschenien einsetzt und rechte und politische Einflussnahme vorenthalten. Be- ein Schritt zur Aufarbeitung und Bewältigung dieses Kon- kanntlich haben die UN-Konferenzen der 90er-Jahre die fliktes getan wird. Verletzung von Frauenrechten klar als Menschenrechts- verletzung definiert. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Die unglaublichen Menschenrechtsverletzungen an Frauen und Mädchen in Afghanistan waren seit vielen Aber auch in den westlichen Staaten müssen natürlich Jahren bekannt. Sie haben am meisten unter der Herr- Hausaufgaben erledigt werden. Ich möchte an dieser Stelle schaft der Taliban gelitten. Spät – Frau Leutheusser- ein Wort zur Bedeutung des Internationalen Strafge- Schnarrenberger hat bereits darüber gesprochen –, aber richtshofs sagen. Ich hoffe, dass der entsprechende Vertrag ich denke, nicht zu spät, kam der internationale Aufschrei 2002 von den 60 Staaten ratifiziert wird, die notwendig sind, damit er in Kraft tritt. Aber dass gerade die Vereinig- über die Geschlechterapartheid des Talibanregimes, die in ten Staaten von Amerika die Einrichtung dieses Strafge- dieser Form einmalig war. richtshofs dezidiert ablehnen, sogar zu verstehen geben, Wir müssen jetzt gemeinsam dafür sorgen, dass dieses dass die Staaten, die den Internationalen Strafgerichtshof Thema nicht wieder von der politischen Agenda ver- unterstützen, möglicherweise mit Sanktionen zu rechnen schwindet. hätten, ist kein gutes Signal für die Durchsetzung der Men- schenrechte in den nächsten Jahren. Es besteht die große (Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP) (B) Gefahr, dass inzwischen zur Selbstverständlichkeit gewor- (D) dene Errungenschaften zum Schutz der Menschenrechte Es ist ermutigend, dass unmittelbar nach einer Veranstal- wie die Verurteilung von Folter und die Mindeststandards tung der überparteilichen Fraueninitiative Berlin zu den von Angeklagten vor Gericht wieder aufgegeben werden. Frauenrechten in Afghanistan am 28. November ein in- Deshalb hätte ich mir gerade zu diesem Vorgehen und terfraktioneller Antrag zur Teilnahme von Frauen am diesen Ankündigungen aus den Vereinigten Staaten eine Friedensprozess in Afghanistan zustande gekommen ist. öffentlich deutlich wahrnehmbare Kritik der Bundesre- Die Entwicklung in den letzten Tagen und Wochen kann gierung gewünscht, die darauf hätte hinweisen sollen, uns nur darin bestärken, die Einbeziehung von Frauen in dass dieser Weg unserer Freunde in Amerika falsch ist und den weiteren Prozess lautstark und mit Nachdruck zu for- die Gefahr in sich birgt, elementare Grundlagen der dern. Die UN-Sicherheitsratsresolution 1325, die eine Rechtsstaatlichkeit zu zerstören. stärkere Einbindung von Frauen in friedensschaffende und friedenserhaltende Prozesse einfordert, bietet dafür Leider kann ich zu den anderen Anträgen nicht ausgiebig Stellung nehmen. Aber ich darf ein Wort sagen: In der Be- eine gute Grundlage. wertung und Analyse der Genitalverstümmelung, des Frau- An unserem Antrag ist mir besonders wichtig, dass wir enhandels und der Zwangsprostitution sind wir uns einig. finanzielle Zusagen an frauenspezifische Wirtschafts- Ich wünsche mir, dass dies auch für die daraus zu ziehenden förderungskonzepte binden wollen und finanzielle Mit- Konsequenzen der Fall wäre; denn dann sollte im tel insbesondere in die Programme und Projekte fließen Ausländergesetz das festgeschrieben werden, was wir jetzt sollen, die Frauen und Mädchen unterstützen; denn hier alle als unstreitig anerkennen, nämlich – das ist heute Mor- können wir direkt Druck machen und sind nicht auf bloße gen in der Debatte zum Zuwanderungsgesetz gesagt wor- Appelle angewiesen. Wir sollten uns deshalb recht schnell den – dass Frauen, die unter diesen fürchterlichen Dingen darauf verständigen, wie wir die Umsetzung dieser For- leiden und die vor Verfolgung, Ausweisung und Abschie- derung in den kommenden Monaten überprüfen können. bung geschützt werden müssen, zwar nicht unbedingt als Asylbewerber behandelt werden müssen, aber zusammen Am 4. und 5. Dezember fand in Brüssel ein Gipfeltref- mit dem Aufenthaltsrecht einen Flüchtlingsstatus erhalten fen afghanischer Frauen für Demokratie statt, auf dem sollten. über 50 Frauen aus den verschiedenen religiösen, kultu- rellen und ethnischen Gruppen über die Zukunft ihres Vielen Dank. Landes diskutiert und einen Forderungskatalog aufge- (Beifall bei der FDP, der SPD, dem BÜND- stellt haben. Auch sie verlangen, jede internationale, NIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS sowie bei einschließlich der finanziellen, Hilfe daran zu binden, Abgeordneten der CDU/CSU) dass die Rechte der Frauen entsprechend beachtet werden. 20584 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001

Petra Bläss (A) Ich bedauere, dass sich die Kolleginnen und Kollegen Die PDS hat zur heutigen Debatte über die Menschen- (C) der CDU/CSU nicht dem interfraktionellen Antrag ange- rechte einen Antrag zum Schutz von Kindern vor sexu- schlossen, sondern einen separaten Antrag eingebracht eller Misshandlung und zur Bekämpfung von Kinder- haben, gerade weil er im Wesentlichen die entsprechen- sextourismus eingebracht. Bekanntlich findet kommende den Forderungen enthält. Sie haben in ihrem Antrag ganz Woche in Yokohama der zweite Weltkongress gegen kom- besonders die Bedeutung der Frauenorganisation RAWA merzielle sexuelle Ausbeutung von Kindern statt. Seit hervorgehoben und deren Unterstützung eingefordert. dem ersten Kongress 1996 hat sich das Problem der sexu- Dem können wir uns natürlich nur anschließen; denn ellen Ausbeutung von Kindern weiter verschärft. Zwei RAWA hat über Jahre den wohl effektivsten zivilen Wi- Drittel der damals beteiligten Staaten haben bis heute derstand gegen das Talibanregime geleistet. Allerdings keine nationalen Aktionspläne vorgelegt. Die Bundesre- sollte nicht unerwähnt bleiben, dass RAWA von Anfang gierung muss sich in Yokohama unbedingt dafür einset- an auf das Schärfste gegen das US-Bombardement protes- zen, dass endlich konkrete Umsetzungsmaßnahmen so- tiert hat und auch entschieden gegen eine Beteiligung der wie ein Kontrollmechanismus vereinbart werden, damit Nordallianz an einer zukünftigen Regierung Stellung be- es nicht wieder nur bei Absichtserklärungen bleibt. zogen hat. (Beifall bei der PDS) In den vergangenen Jahren hatten verfolgte afghani- Zwei Millionen Kinder arbeiten nach Schätzung von sche Frauen keine Chance, in der Bundesrepublik Asyl UNICEF als Prostituierte. Kinder werden wie Ware und damit einen gesicherten Aufenthaltsstatus zu bekom- gehandelt. Kinderpornos sind bekanntlich billig herzu- men. Sie wurden zwar geduldet, erhielten aber kein Asyl. stellen und einfach zu verbreiten. Zwar ist in der Bundes- Das UN-Flüchtlingswerk hat diese Woche erneut darauf republik seit 1993 auch der sexuelle Missbrauch im Aus- aufmerksam gemacht, dass Deutschland immer noch ei- land strafbar. Es gab allerdings im Laufe von vier Jahren nes der wenigen westlichen Länder ist, das nach wie vor ganze 51 Ermittlungsverfahren, obwohl schätzungsweise bei geschlechtsspezifischer Verfolgung kein Asyl ge- 10 000 Deutsche pro Jahr mit dem Ziel in das Ausland fah- währt. Der Handlungsbedarf in dieser Frage war uns lange ren, Sex mit Kindern zu haben. Hier klafft noch immer genug bekannt. Auch wenn die Regierungskoalition dies- eine riesige Lücke zwischen Androhung der Strafverfol- bezüglich zu Recht darauf hinweist, dass in dem Entwurf gung und Gesetzesanwendung. Die polizeiliche und die eines Zuwanderungsgesetzes, der heute zur Debatte stand, justizielle Zusammenarbeit mit dem Ausland muss ver- das Problem endlich angepackt wird, muss an dieser bessert werden. Wir brauchen dringend mehr Prävention Stelle darauf verwiesen werden, dass dem Bundestag be- und Aufklärungsarbeit. Die NGOs müssen gerade in die- reits seit Frühjahr 1999 ein Antrag der PDS-Fraktion zur sem Bereich besonders unterstützt werden. (B) Anerkennung geschlechtsspezifischer Fluchtursachen als Menschenrechte weltweit durchzusetzen, gerade auch (D) Asylgrund vorliegt. die von Frauen, bedarf noch eines langen Kampfes, der al- (Beifall bei der PDS) lerdings mit zivilen Mitteln geführt werden muss. Lassen Sie mich noch kurz auf die anderen Anträge, die Danke. heute auf der Tagesordnung stehen, eingehen: Wir be- (Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten grüßen den Antrag der Koalition zur Bekämpfung des der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- Frauenhandels. Er enthält viele wichtige Forderungen, NEN) ist aber an einer Stelle noch etwas zögerlich. Ich denke, wir brauchen nicht nur auf EU-Ebene, sondern auch auf Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat nationaler Ebene eine Neudefinition von Frauenhandel. jetzt die Abgeordnete Angelika Graf. Derzeit gelten als Opfer von Frauenhandel nur Frauen, die in die Prostitution gebracht werden. Ausbeuterische, skla- venartige Arbeitsbedingungen finden wir aber auch dort Angelika Graf (Rosenheim) (SPD): Frau Präsidentin! vor, wo Frauen in andere ungeschützte Arbeitsverhält- Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gerade vor dem Hin- nisse gebracht werden. Deshalb müssen wir den juristi- tergrund der Ereignisse vom 11. September und der Re- schen Begriff des Frauen- und Menschenhandels im Straf- flexion über die Möglichkeiten der Krisenprävention gesetzbuch ausweiten. muss der Menschenrechtspolitik weltweit ein hoher Stel- lenwert eingeräumt werden. Menschen, deren Rechte we- Zum Antrag der CDU/CSU mit dem Titel „Genitalver- gen ihrer Herkunft, ihrer Rasse, ihrer Religion, aber auch stümmelung bei Mädchen und Frauen in der Bundesrepu- wegen ihres Geschlechtes mit Füßen getreten werden, blik Deutschland und weltweit bekämpfen“: Wir sind sehr sind leicht zu radikalisieren. Deshalb ist es ein guter wohl der Auffassung, dass Genitalverstümmelung als Brauch dieses Hohen Hauses, in zeitlicher Nähe zum Tag Begriff in das Strafgesetzbuch gehört. Die derzeitige For- der Menschenrechte eine Debatte über diese Politik zu mulierung lässt zu große Interpretationsspielräume zu. führen. Auch die Menschenrechtsorganisation Terre des femmes und der Bund Deutscher Kriminalbeamter fordern eine (V o r s i t z: Vizepräsidentin Petra Bläss) Präzisierung. Darüber hinaus fordert die PDS, dass dro- Mehr als zehn Anträge und Ergebnisse von Anfragen hende Genitalverstümmelung als geschlechtsspezifische zur Verletzung der Menschenrechte von Frauen und Kin- Verfolgung zu einem Anspruch auf Asyl führen muss. Da- dern werden heute hier behandelt. Schon die Anzahl zeigt, rum bemühen sich seit Jahren viele Frauenorganisationen. dass es konkrete Anlässe für eine solche Debatte leider ge- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20585

Angelika Graf (Rosenheim) (A) nug gibt. Dass zum Beispiel den afghanischen Frauen drückung der Frauen Afghanistans eine Voraussetzung (C) unter der Herrschaft des Talibanregimes elementarste dafür schaffen. Menschenrechte wie das Recht auf Bildung oder die me- Wichtig ist es dranzubleiben. Das zeigen die Medien- dizinische Versorgung verweigert wurden, ist inzwischen berichte. Ein Bild in der „SZ“ vom 10. Dezember zum weiten Kreisen der Bevölkerung bekannt. Eine radikale Beispiel zeigte afghanische Frauen in der Burka hinter ei- und antiurbane Ideologie hat in diesem seit 20 Jahren von nem Gitterzaun im Kampf um Nahrungsmittel. Das war Krieg gezeichneten Land alles bekämpft, was wir Zivili- ein aktuelles Bild, keines aus der Zeit des Talibanregimes. sation nennen: den Wert des Individuums, die persönliche Auch die Fernsehberichterstattung zeigte vor wenigen Ta- Freiheit, das Vergnügen. Es ist traurig, dass es der Zer- gen Kämpfer der Nordallianz, die Frauen, weil sie nicht störung von Monumenten des Weltkulturerbes und des völlig verschleiert waren, von den Nahrungsmitteln weg- Anschlags vom 11. September bedurft hat, um die Weltöf- prügelten. fentlichkeit auf die Menschenrechtslage in diesem Land hinzuweisen. Leider hat die Konferenz auf dem Petersberg nur we- nigen Frauen die Möglichkeit gegeben, sich an den wich- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ tigen Vorarbeiten zur politischen und wirtschaftlichen Zu- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der kunft Afghanistans aktiv zu beteiligen. Die Einsetzung CDU/CSU, der FDP und der PDS) einer Frau für die Leitung eines Ministeriums in der Über- Vorher haben die Zustände in diesem Land leider kaum gangsregierung ist zweifellos ein Schritt in die richtige das Interesse der westlichen Medien geweckt. Zumindest Richtung. Dennoch sind VN, EU und auch die nationalen war das meine Erfahrung nach der Reise einer Frauende- Regierungen gefordert, darauf zu drängen, dass die För- legation des Menschenrechtsausschusses zu den Taliban derung und Einbeziehung von Frauen aktiv betrieben und zur Nordallianz vor anderthalb Jahren. wird, und so weit wie möglich eigene Anstrengungen dazu zu unternehmen. Wir hätten viel von den erschütternden Gesprächen mit afghanischen Frauen berichten können. Die Burka, die die Ich freue mich deshalb sehr, dass es einer fraktions- Frauen unfähig macht, sich ungehindert zu bewegen, und übergreifenden Fraueninitiative – Frau Bläss hat schon die ihnen auch die Luft zum Atmen nimmt, kann man drauf hingewiesen – gelungen ist, mit dem vorliegenden durchaus als Symbol sehen, sozusagen als persönliches interfraktionellen Antrag zu zeigen, dass dieses Thema ei- Gefängnis, in dem diese Frauen festgehalten wurden. Wir gentlich kein Thema für parteipolitische Auseinanderset- hätten auch viel von dem bewundernswerten stetigen zungen ist. Kampf der deutschen Hilfsorganisationen berichten kön- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (B) nen, die seit Jahren unter extrem schwierigen Bedingun- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der (D) gen in Afghanistan tätig waren, um insbesondere auch al- PDS) lein stehende Frauen vor dem Verhungern zu bewahren. Leider wollte es damals aber niemand hören. Umso bedauerlicher ist allerdings, dass es nicht gelungen ist, die CDU/CSU davon zu überzeugen, sich an diesem Nun gilt es, die Chancen des Wiederaufbaus im mate- Antrag zu beteiligen. riellen, aber auch im politischen Bereich zu nutzen. Mehr als 95 Prozent der afghanischen Frauen sind Analphabe- Lassen Sie mich noch kurz in der Region, besser ge- tinnen. 25 Prozent von ihnen sind Witwen, die allein für sagt: im Nachbarland Pakistan, bleiben. Wir setzen uns die Familie sorgen müssen. seit geraumer Zeit mit gravierenden Menschenrechtsver- letzungen an Frauen, dem „honour killing“ oder den so Noch ein Aspekt ist wichtig. Bei den Gesprächen, die genannten Schandemorden, auseinander. Für mich steht ich damals in Kabul mit Frauen geführt habe, klagten fest: Die Burka und „honour killing“ sind zwei Seiten der viele, insbesondere die gebildeten unter ihnen, ihre Söhne gleichen archaisch-grausamen Medaille. behandelten sie als Ergebnis der Erziehung in den Koran- schulen buchstäblich wie den letzten Dreck. Schulpro- (Christa Nickels [BÜNDNIS 90/DIE jekte wie die der Hilfsorganisation HELP – ich sage das GRÜNEN]: Genau so!) deshalb, weil der Vorsitzende dieser Organisation hier in Eine mutige Frau, Shanaz Bokhari, hat in Rawalpindi der ersten Reihe sitzt – sind deshalb in Zukunft wichtiger unter Einsatz der eigenen Unversertheit Frauen, die aus so denn je. genannten Gründen der Ehre von ihren Männern, Vätern, (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Brüdern verbrannt, mit Säure übergossen, mit Elek- troschocks gefoltert worden sind, in ihr Haus aufgenom- GRÜNEN und der CDU/CSU) men und hilft ihnen, dort zu überleben. Ich habe das selbst Das Auswärtige Amt und das BMZ unterstützten diese gesehen. Die Stadt Weimar hat Frau Bokhari auf Vor- Projekte. schlag der SPD-Bundestagsfraktion – Frau Widmann- Mauz, das nur zur Klarstellung dazu, wer die Urheber- Wer eine dauerhafte Friedens- und Sicherheitsstruktur schaft hat – den Menschenrechtspreis verliehen. Ich in der Region aufbauen will, der muss ein Zeichen setzen gratuliere auch von dieser Stelle Frau Bokhari noch ein- und die Frauen daran aktiv beteiligen. Wer Wirtschafts- mal ganz herzlich. kraft zum materiellen Wiederaufbau in dieses bettelarme, geschundene Land bringen will, der muss mit der Been- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE digung der systematischen Benachteiligung und Unter- GRÜNEN, der CDU/CSU und der PDS) 20586 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001

Angelika Graf (Rosenheim) (A) Von der Ferne Südostasiens in unsere unmittelbare der Mitarbeiterinnen bangen derzeit um die Finanzierung (C) Nähe: Auch hier in Deutschland leben Frauen, die Män- und damit um die Kontinuität ihrer Arbeit. Der Antrag nern hilflos ausgeliefert sind, die ihre Rechte nicht geltend enthält die Anregung, einen Teil der Gewinne aus diesem machen können. Sie werden von gewissenlosen Schlep- schmutzigen Geschäft, die bei verbesserter Aussagebe- pern nach Westeuropa gebracht, um hier das immer noch reitschaft der Frauen vermehrt abgeschöpft werden steigende Bedürfnis nach billiger Sexdienstleistung könnten, zur Finanzierung der Beratungsstellen einzuset- – dazu gehören auch ausbeuterische Arbeitsverhältnisse zen. Dann wären – so hoffen wir zumindest – vielleicht und Zwangsheirat – zu befriedigen. Frauenhandel ist das auch die Bundesländer Sachsen, Thüringen und Mecklen- Stichwort. Der so genannte Schattenbericht des bundes- burg-Vorpommern, in denen es bisher keine solche Bera- weiten Koordinierungskreises gegen Frauenhandel und tungsstelle gibt, in der Lage, diese wichtige Aufgabe zu Gewalt an Frauen im Migrationsprozess, KOK, ist über- unterstützen. voll von erschreckenden aktuellen Informationen zu die- Ich bitte Sie alle sehr herzlich um Zustimmung für un- sem Thema. Unser Antrag, den wir hier heute behandeln, sere beiden Anträge. fordert alle politischen Ebenen – EU, Bund, Länder und Kommunen – auf, bei der Bekämpfung dieses Phänomens (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE konsequent tätig zu werden. GRÜNEN und der FDP) Die Sache selbst ist nicht neu. Früher kamen die Frauen aus Lateinamerika und Südostasien; heute werden die mei- Vizepräsidentin Petra Bläss: Nächster Redner ist sten dieser jungen Frauen im Gebiet des ehemaligen Ost- Herr Kollege Dr. Heiner Geißler für die Fraktion der blocks angeworben. Die Schlepper haben also relativ CDU/CSU. kurze Wege. Der Markt boomt, das Geschäft ist lukrativ und für Zuhälter bzw. Schlepper relativ risikolos. Man Dr. Heiner Geißler (CDU/CSU): Frau Präsidentin! schätzt, dass circa 120 000 Frauen jährlich nach Westeu- Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bei der Verlei- ropa gebracht werden und der Jahresgewinn aus diesem hung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels hat Geschäft bei 7 bis 13 Milliarden Dollar liegt. Das ist ein Herr Habermas gesagt: wesentlich höherer Gewinn als der aus dem Drogenhandel. Die verlorene Hoffnung auf Resurrektion hinterlässt Deutschland ist bei diesem Geschäft gleichzeitig Ziel- eine spürbare Leere. land und Transitland. Die Frauen werden unter Vorspie- gelung falscher Tatsachen angeworben und kommen Ich bin der Letzte, der dem widersprechen möchte. Wir ha- – zum Teil mit Touristenvisen, zum Teil ohne Visum – le- ben einen Trend zur Transzendenz. Der französische So- ziologe Gilles Kepel sagt aber, die religiösen Extremisten (B) gal oder illegal über die Grenze. Nach dem Grenzübertritt (D) wird ihnen der Pass abgenommen, sie werden eingesperrt, seien weltweit auf dem Vormarsch. Das ist die andere Seite. geschlagen, vergewaltigt und – übrigens auch in Hinblick Wir haben keinen „Clash of Civilizations“; aber inner- auf die im Heimatland lebende Familie – bedroht. halb der Religionen sind die Fundamentalisten immer Etablissements, in denen solche Frauen angeboten wer- stärker geworden. Die Fundamentalisten aller Couleur den, gibt es überall in der Bundesrepublik. Glauben Sie wollen die Welt wieder auf eine sakrale Grundlage stel- niemandem, der sagt: Bei uns gibt es so etwas nicht. len: Die Islamisten betreiben die Reislamisierung; christ- Wenn die Frauen bei einer Razzia aufgegriffen werden, liche Charismatiker träumen von der Rechristianisierung; sind sie in strafrechtlicher Hinsicht nicht nur Opfer, son- amerikanische Erweckungsbewegungen – zumindest ei- dern sie haben sich auch wegen unerlaubten Aufenthalts nige ihrer Mitglieder – erschießen Ärzte, die Abtreibun- und unerlaubter Erwerbstätigkeit strafbar gemacht; sie gen vornehmen, beherrschen inzwischen weite Teile der sind also Täterinnen. Ihnen droht die sofortige Auswei- amerikanischen Parteiapparate und nehmen mit den mo- sung bzw. Abschiebung. Bestenfalls wird ihnen eine Aus- dernen Mitteln einer Fernsehkirche gezielt und erfolg- reisefrist eingeräumt, damit sie als Zeuginnen aussagen reich Einfluss auf die amerikanische Politik. Wir haben können. Die Frauen sind oft nicht so schnell imstande, den eine Hinduisierung mit Geschlechtsdiskriminierung Entschluss zur Aussage als Zeugin zu fassen, weil sie un- und Geschlechtskriminalisierung von unglaublichem ter einer Traumatisierung leiden, Scham empfinden, be- Ausmaß. Die Intoleranz ist die Waffe des Fundamentalis- reits schlechte Erfahrungen mit staatlichen Stellen in mus und sie richtet sich immer zuerst gegen die Frauen. ihrem Heimatland gemacht haben oder die Zuhälter bzw. (Beifall im ganzen Hause) Schlepper sie bedrohen. Ein Zeugenschutzprogramm, das die Aussagebereitschaft dieser Frauen unterstützt, sowie Geschlechtsspezifische Menschenrechtsverletzungen Qualifizierungsprogramme vor der Rückkehr in das Her- sind eine besonders scheußliche Waffe gegen die Frau. kunftsland wären nötig, um die Mafiastrukturen der Netz- Deswegen müssen Frauen, die dieses Schicksal erleiden, auf werke, die zu ihrer Verschleppung geführt haben, zu zer- der Grundlage der Genfer Flüchtlingskonvention bei uns ei- schlagen und den Drehtüreffekt zu verhindern. nen rechtlich gesicherten und gefestigten Status haben. Um das Vertrauen der Frauen zu gewinnen, ihnen zu (Beifall im ganzen Hause) helfen und die Netzwerke ihrer Peiniger zu zerschlagen, Wir müssen uns mit der Theologie beschäftigen. Nicht ist es unumgänglich, dass jedes Bundesland eine ausrei- alle Missstände gehen auf bewussten Missbrauch der Re- chende Anzahl von Beratungsstellen gewährleistet. Ich ligion zurück, aber die weit verbreiteten, jahrhunderteal- habe einige dieser Beratungsstellen selbst besucht. Viele ten grundsätzlich negativen Bewertungen und Diskrimi- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20587

Dr. Heiner Geißler (A) nierungen der Frauen ergeben sich aus den Vorurteilen und die globale Anerkennung eines Menschenbildes, das (C) und Irrtümern der moraltheologischen Lehrgebäude. die Unantastbarkeit der Würde des Menschen beinhaltet, Männliche Theologen und Schriftgelehrte haben sie – zu- unabhängig davon, ob jemand Weißer oder Schwarzer ist, mindest sehr oft – gegen den eigentlichen Sinn der Lehre aber auch unabhängig davon, ob jemand Mann oder Frau ist. errichtet. Im Übrigen ist dieses Bild identisch mit der menschen- Das, was wir im Christentum erlebt haben, ist die Folge und frauenfreundlichen Botschaft des Evangeliums. Die- der Übernahme der Gnosis des Manichäismus einer – im ser Rabbi von Nazareth – Frau von Rennesse hat ihn in ei- christlichen Sinne – Irrlehre. Die Verfemung des Sexuel- ner anderen Debatte liebevoll, aber theologisch nicht ganz len, seine Isolierung von der Ganzheitsbetrachtung des einwandfrei so genannt – kannte die Erniedrigung, die Ar- Menschen, die grundsätzliche Pönalisierung des Ge- mut, die Abhängigkeit und die Not der Frauen in der patri- schlechtlichen haben Leid und Elend über die Menschheit archalischen jüdischen Gemeinde und die Hilf- und Wehr- und vor allem die Frauen gebracht. Das spüren wir noch losigkeit von Frauen als Opfer einer Scheidung, ihre heute. Situation als Witwen, ihr Elend als so genannte Dirnen, ihre Verzweiflung als angeschuldigte Ehebrecherinnen. Das al- Heute ist es ein bisschen anders, man kann vielleicht les ist Bestandteil der Aussagen dieses Menschen gewesen. schon sagen: grundsätzlich anders. Aber die gleichbe- rechtigende Beschreibung des eigentlichen Wesens der Es gibt eine berühmte Geschichte im Evangelium, wie er Frau, die aber immer wieder zur Differenzierung des an- vor 2 000 Jahren eine Frau vor dem Schicksal der Steinigung deren Geschlechts herhalten muss, darf nicht durch eine bewahrt hat, das heute noch Hunderte von Frauen erleiden neu erfundene Rollenverteilung zur De-facto-Benachtei- müssen, oft mit der Variante, dass sie bis zur Brust in den ligung führen. Sand eingegraben werden. Dann werden sie aber nicht mehr gesteinigt, sondern man fährt mit Bulldozern über sie oder Im Zusammenhang mit den Begriffen und ihren Inhal- schüttet Petroleum über sie aus und zündet sie an. ten möchte ich noch etwas aufgreifen, was uns dauernd be- gegnet; gerade auch im Zusammenhang mit dem, was die Wir dürfen bei dieser Betrachtung auch den Islam nicht Taliban machen. In allen Zeitungen steht, es seien Gottes- außen vor lassen. Annemarie Schimmel, Trägerin des Frie- krieger, die so etwas tun. Es sind keine Gotteskrieger, denspreises des Deutschen Buchhandels, war bestürzt, dass sie wegen des Buches von Salman Rushdie viele erwach- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und sene Männer habe weinen sehen. Grund zum Weinen – da- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) rüber hat sie leider nichts gesagt – haben 500 Millionen sondern diese Leute missbrauchen den Namen Gottes ge- Frauen in den islamischen Ländern, deren Entrechtung mit nauso wie die Kreuzritter, die Inquisitoren und die He- der Islamisierung voranschreitet, die ihrerseits wieder (B) xenverbrenner. durch Koranschulen vorangetrieben wird, die zum Beispiel (D) von der saudi-arabischen Regierung finanziert werden. (Beifall im ganzen Hause) Es gibt eine weltweite zum Teil brutale Diskriminie- Deswegen sollten Vertreter von christlichen Kirchen rung der Frauen. In allen Anträgen ist das völlig richtig, auf den Weltfrauenkonferenzen auch nicht Arm in Arm exakt und gut beschrieben worden. In vielen Staaten sind mit den Ayatollahs Resolutionen zugunsten der Frauen sexuelle Folter, Vergewaltigung, Verstümmelung und Ver- ablehnen. stoßung an der Tagesordnung und zudem rechtlich sank- (Beifall im ganzen Hause – Christa Nickels tioniert. Was wir an Deklassierung, Demütigung, Verach- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt!) tung und frauenspezifischer Verfolgung auf der ganzen Welt erleben, schreit im wahrsten Sinne des Wortes zum Die kommen möglicherweise beim Jüngsten Gericht in Himmel. Aber die zivilisierte Welt schaut nach wie vor Schwierigkeiten. weg. Wir begründen ja das militärische Eingreifen in Af- (Heiterkeit bei der CDU/CSU, dem BÜND- ghanistan bis auf den heutigen Tag fast ausschließlich mit NIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP – der Bekämpfung des Terrorismus, anstatt öfter über das Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/DIE Ziel zu reden, die Frauen dort zu befreien. GRÜNEN]: Die bitten um Asyl! – Christa (Beifall im ganzen Hause) Nickels [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] Petrus lässt dich schon rein! Keine Sorge!) Das Argument müsste eigentlich auch bei der Grünen- Fraktion eine durchschlagende Wirkung haben. In dieser Zeit des zunehmenden Fundamentalismus brauchen wir keine Theologisierung – die haben wir Der Universalitätsanspruch der Menschenrechte von schon gehabt – von Staat und Politik. Diese Theologisie- Frauen richtet sich vor allem an die Adresse der Weltreli- rung hat mit gepfählten Indios, Kreuzrittern, verbrannten gionen. Ohne die Weltreligionen ist die langfristige Be- Ketzern und Hexen, erschlagenen Juden und gesteinigten freiung der Frauen von der Diskriminierung nicht zu Frauen eine Blutspur hinterlassen. Wir brauchen vielmehr schaffen. Aber anstatt theologisch immer neue Gründe für eine Renaissance der Aufklärung – davon bin ich über- eine Bevormundung der Frauen zu erfinden und ihre hei- zeugt –, eine Erweckung der Fähigkeit, jederzeit selbst zu ligen Schriften immer wieder gegen die Frauen auszule- denken, wie Kant sagte, gen, sollten die großen Weltreligionen endlich die Gleich- berechtigung der Frauen im gemeinsamen Weltethos der (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der Religionen verankern. SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP) (Beifall im ganzen Hause) 20588 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001

(A) Vizepräsidentin Petra Bläss: Das Wort hat die Ab- afghaninnen, die sich für eine bestimmte Zeit zum Bei- (C) geordnete Irmingard Schewe-Gerigk für die Fraktion des spiel als Ärztin oder als Lehrerin an der Entwicklung ih- Bündnisses 90/Die Grünen. res Landes beteiligen wollen, brauchen unsere Unterstüt- zung ebenso wie die Frauenorganisationen vor Ort. Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Liebe Kolleginnen und Kollegen, nicht nur in Afghanis- NEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! tan leiden Frauen unter massiven Verletzungen ihrer Men- Jahrzehntelang wurden die Menschenrechte afghanischer schenrechte. Weltweit leiden 130 Millionen Frauen an ge- Frauen mit Füßen getreten. Die traumatischen Auswirkun- nitaler Verstümmelung und jährlich werden erneut gen von Unterdrückung und Folter werden sie lebenslang 2 Millionen Mädchen Opfer dieses grausamen Rituals. Als begleiten. Zwar sieht es momentan so aus, als hätte Afgha- ich 1998 in mit der UN-Sonderbotschafterin Waris nistan eine reelle Chance auf Frieden, dennoch sind die Le- Dirie aus Somalia ihr autobiografisches Buch „Wüs- bensperspektiven von Frauen mehr als unsicher. Dabei ha- tenblume“ vorstellte, war das Thema bei uns noch ein Tabu. ben afghanische Frauen bis in die 80er-Jahre hinein eine Heute ist unsere Gesellschaft sensibilisiert. Schätzungs- große Rolle im öffentlichen Leben ihres Landes gespielt: weise 21 000 bedrohte Mädchen leben hier bei uns. Auch Sie stellten 70 Prozent der Lehrer, 40 Prozent der Ärzte, die in Deutschland muss, wie 1999 von der Sendung „Report“ Hälfte der Regierungsangestellten. Im Jahre 1977 waren aufgedeckt, Ärzten das Handwerk gelegt werden. 15 Prozent der Parlamentssitze in Kabul mit Frauen besetzt. (Beifall des Abg. Hermann Gröhe Zur gleichen Zeit waren es in Deutschland 7 Prozent. [CDU/CSU]) Umso schlimmer war der Schock, als 1994 die jetzige Genitalverstümmelung ist verboten und stellt eine Nordallianz die Schleierpflicht und das Verbot außer- schwere Körperverletzung dar. Wir müssen Frauen, die häuslicher Arbeit durchsetzte. 1996 wurden Frauen durch wegen drohender Genitalverstümmelung aus ihrem Hei- die Taliban unter die Burka gezwungen und ihrer elemen- matland fliehen, schützen. Es ist daher gut, dass ihnen tarsten Grundrechte beraubt. Mit dem Ende des Taliban- durch das neue Einwanderungsgesetz ein Flüchtlingssta- regimes ist nun die Voraussetzung für die Beendigung der tus zuerkannt wird. Ich bin froh, Frau Widmann-Mauz, Menschenrechtsverletzungen geschaffen. dass Sie das gerade akzeptiert haben. Ich wäre froh, wenn Der erste Stein für einen demokratischen Wiederauf- Sie gemeinsam mit Herrn Geißler und vielen anderen, die bau des Landes wurde auf dem Petersberg gelegt. Voraus- ja gerade hier geklatscht haben, dafür kämpfen könnten, setzung für eine Demokratie ist aber, dass Frauen, die dass wir das im Einwanderungsgesetz verankern. 60 Prozent der afghanischen Bevölkerung ausmachen, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN beim Friedensprozess und beim Aufbau des Landes eine und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der entscheidende Rolle spielen. (B) CDU/CSU, der FDP und der PDS) (D) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Daneben wollen wir aber auch den Frauen in ihrer Hei- und bei der SPD sowie der Abg. Dr. Rita mat helfen. Darum hat die Bundesregierung – gerade auch Süssmuth [CDU/CSU]) der Menschenrechtsbeauftragte Poppe hat sich dafür ein- So sieht es auch die UN-Resolution 1325 vor. gesetzt – knapp 6 Millionen DM für Maßnahmen in West- und Ostafrika vorgesehen. Um das Vertrauen aller Frauen in Afghanistan in eine neue Regierung zu stärken, müssen Frauenrechte durchge- Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich ein setzt werden und Frauen in entscheidenden Gremien sit- weiteres trauriges Kapitel einer modernen Form der Skla- zen. Dass in die Übergangsregierung zwei Ministerinnen verei ansprechen, den Frauenhandel. 1,8 Milliarden DM berufen wurden, eine davon, Simas Hamar, als Frauenmi- Profit werden hier bei uns in diesem menschenverachten- nisterin, die vor 14 Tagen in Deutschland war, lässt hoffen. den Geschäft erzielt. Frauen werden als Ware deklariert und Deutschland ist das Hauptabnehmerland. Mit Aber auch die Vereinten Nationen und der EU-Beauf- falschen Versprechungen werden die Frauen nach tragte müssen sich aktiv für Frauenrechte einsetzen. Hilfs- Deutschland verschleppt und in den meisten Fällen zur programme müssen Strukturen schaffen, durch die die Um- Prostitution gezwungen. Die internationale Organisation setzung der Menschenrechte wie auch die politische und für Migration hat im Auftrag der EU ermittelt, dass jähr- soziale Gleichberechtigung dauerhaft verankert werden. In lich circa 500 000 Frauen aus Osteuropa nach Westeuropa diesem Zusammenhang freue ich mich, dass schon nächste verschleppt werden. Die Gefahr für die Menschenhändler, Woche die ehemalige Frauenbeauftragte des Auswärtigen entdeckt und bestraft zu werden, ist gering. Abhängig- Amtes, Ursula Müller – sie sitzt auf der Tribüne –, als deut- keitsverhältnisse und illegaler Aufenthaltsstatus machen sche Sonderkoordinatorin in Kabul tätig werden wird. Ge- es den Frauen fast unmöglich, die Händler anzuzeigen. rade bei der Vergabe von Wiederaufbaumitteln müssen be- Noch immer werden sie nicht als Opfer von Men- sonders Projekte gefördert werden, die Frauen und schenhandel, sondern als Täterinnen eingestuft, die gegen Mädchen zugute kommen. das Ausländergesetz verstoßen haben. In den europä- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, ischen Gefängnissen sitzen mehr Opfer von Men- bei der SPD, der FDP und der PDS sowie bei schenhandel als Menschenhändler, sagt ein EU-Bericht. Abgeordneten der CDU/CSU) Das dürfen wir nicht länger dulden. Zugangsbarrieren zu Bildung, medizinischer Versorgung (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, und Erwerbsarbeit müssen aufgehoben werden. Exil- bei der SPD und der PDS) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20589

Irmingard Schewe-Gerigk (A) Daher hat die Bundesregierung Opfern von Men- Talibanherrschaft in Afghanistan zu leiden. Sie waren völ- (C) schenhandel einen Abschiebeschutz von mindestens vier lig entrechtet und wurden aus dem öffentlichen Leben Wochen eingeräumt. verbannt. Eine aktive Beteiligung der Frauen in Afgha- nistan ist für den Wiederaufbau und die Demokratisie- Wir müssen aber noch mehr erreichen. Um alle Delikte rung des Landes unerlässlich. tatsächlich erfassen zu können, ist eine umfassendere De- finition von Frauenhandel nötig. Die Vizepräsidentin Kol- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- legin Bläss hat in ihrem Beitrag darauf hingewiesen. In neten der SPD) unserem Antrag steht tatsächlich, dass wir nicht die EU Dass es zu keinem gemeinsamen Antrag gekommen auffordern wollen, sondern in unserem Strafgesetzbuch vorsehen wollen, dass neben der sexuellen Ausbeutung ist, ist schon mehrfach angesprochen worden. Für unsere auch Arbeitsverhältnisse ausbeuterischer Art und Seite gibt es eine ganz einfache Erklärung: Wir hatten un- Zwangsverheiratung als Tatbestände aufgenommen wer- seren Antrag bereits fertig gestellt, als das Ansinnen von den. Daneben ist aber auch ein ausreichender Opfer- und Frau Schewe-Gerigk – ich glaube jedenfalls, dass sie es Zeuginnenschutz mit einem Bleiberecht, mindestens bis war – zu uns gelangt ist. zum Abschluss des Verfahrens, notwendig. Ich sage noch (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ eines: In ihrem Heimatland gefährdete Opfer müssen DIE GRÜNEN]: Ansinnen? Ein Ansinnen war auch auf Dauer bei uns hier leben und arbeiten können. das nicht!) (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Wir haben uns dann entschieden, unseren Antrag beizu- SES 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der PDS) behalten, weil wir der Meinung waren, dass er weitrei- Durch konsequente Gewinnabschöpfung können die Län- chender ist. der die beschlagnahmten Gewinne der Menschenhändler Meine Damen und Herren, Frauenhandel ist als mo- für die Entschädigung der Opfer nutzen. Es gibt eine derne Form der Sklaverei eine der schwersten Menschen- Reihe von Beratungsstellen, die froh wären, wenn sie da- rechtsverletzungen überhaupt. Ausländische Frauen wer- rüber die Finanzierung bekämen. den als Ehefrauen in Katalogen oder im Internet Mit dem sehr umfangreichen Maßnahmenkatalog des gehandelt, in die Prostitution gezwungen oder illegal als Antrages der rot-grünen Koalition werden wir auch der billige Arbeitskräfte ausgenutzt. Nach internationalen Kritik des Frauenrechtsausschusses der Vereinten Natio- Schätzungen verschleppen Menschenhändler jedes Jahr nen gerecht. Ich habe gehört, auch die CDU/CSU wird bis zu 700 000 Frauen und Kinder. Nach Schätzungen der dem Antrag zum Frauenhandel zustimmen. Ich bin froh EU-Kommission werden allein aus den mittel- und osteu- darüber, dass wir bei diesen Themen eine so große Über- ropäischen Staaten jährlich 120 000 Frauen und Kinder in (B) einstimmung haben. die Europäische Union gelockt. Der Frauenhandel hat (D) sich besonders in den letzten Jahren zu einem lukrativen Ich danke Ihnen. Geschäft entwickelt, aus dem international operierende (Beifall im ganzen Hause) Täter bei geringem Risiko für sich selbst enorme Profite schlagen. Unsere Gesellschaft und die internationale Staatengemeinschaft müssen den Drahtziehern dieses Ge- Vizepräsidentin Petra Bläss: Liebe Kolleginnen schäfts das Handwerk legen. und Kollegen, ich denke, dass ich im Namen aller spre- che, wenn ich an dieser Stelle Frau Müller, die unserer De- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- batte beiwohnt, viel Kraft, Energie und vor allem Erfolg neten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE in ihrer verantwortungsvollen Tätigkeit wünsche. GRÜNEN und der PDS) (Beifall im ganzen Hause) Die Bekämpfung des Frauenhandels ist äußert schwie- rig. Die Hauptursachen sind zum einen die Perspektivlo- Die nächste Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin sigkeit bzw. die Armut der Frauen in den Herkunftslän- Maria Eichhorn für die Fraktion der CDU/CSU. dern, zum anderen die Nachfrage in den Zielländern, zum Beispiel nach Prostituierten oder billigen Arbeitskräften. Maria Eichhorn (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Die steigenden Zahlen, aber auch jedes Einzelschicksal Meine sehr geehrten Damen und Herren! Niemand darf in verdeutlichen die Dringlichkeit, gegen den Men- Sklaverei oder Leibeigenschaft gehalten werden. Skla- schenhandel vorzugehen. verei und Sklavenhandel sind in all ihren Formen verbo- Da die Problematik des Frauenhandels verschiedene ten. Obwohl dieses Verbot in Art. 4 der Allgemeinen Er- Politikfelder, Adressaten und Ebenen betrifft, hat die klärung der Menschenrechte festgeschrieben ist, hat der CDU/CSU-Regierung bereits im Frühjahr 1997 eine bun- Handel mit Menschen, vor allem mit Frauen, in den letz- desweite Arbeitsgruppe „Frauenhandel“ eingerichtet. Ein ten Jahren weltweit zugenommen. Frauenrechte sind wichtiges Ziel dieser Arbeitsgruppe ist es, die Zusam- Menschenrechte. menarbeit zwischen den verschiedenen Organisationen zu Die Befreiung Afghanistans vom Talibanregime durch verbessern und ihre Arbeit zu koordinieren. Ferner wur- die USA und ihre Alliierten bietet die Chance, die Rechte den Informationsmaterialien für Frauen in den Herkunfts- in Afghanistan wieder herzustellen und damit auch die ländern herausgegeben und über Nichtregierungsorgani- Rechte der Frauen durchzusetzen und zu stärken. Frauen sationen sowie über die deutschen Botschaften vor Ort hatten unter einer unbeschreiblich grausamen Politik der verteilt. 20590 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001

Maria Eichhorn (A) Die Erarbeitung eines Kooperationsmodells für einen Wir fordern dringend konkrete Maßnahmen zur Präven- (C) speziellen Zeuginnenschutz für diejenigen Frauen, die tion und Therapie von jugendlichen Tätern. nicht in das Zeugenschutzprogramm aufgenommen wer- Auf dem ersten Weltkongress gegen die gewerbs- den können oder wollen, gehört ebenfalls zu den Schwer- mäßige sexuelle Ausbeutung von Kindern im Jahre 1996 punkten der Arbeitsgruppe „Frauenhandel“. wurde durch 122 Staaten eine Erklärung unterzeichnet, Die vorgelegten Ergebnisse zeigen, dass die hier ent- mit der ein Durchbruch im gemeinsamen internationalen wickelten Maßnahmen für den Schutz der Frauen von er- Vorgehen gegen die kommerzielle sexuelle Ausbeutung heblicher Bedeutung sind. Insofern ist es positiv, dass die von Kindern gelang. Dem Weltkongress folgte im März Bundesregierung mit dem Antrag „Prävention und 2001 die nationale Nachfolgekonferenz gegen die kom- Bekämpfung von Frauenhandel“ die bislang erfolgreich merzielle sexuelle Ausbeutung von Kindern. Hierzu wur- geleistete Arbeit dieser Arbeitsgruppe weiterführen will den auch Herangehensweisen und Konzepte für eine ef- und unterstützt. Deswegen stimmen wir Ihrem Antrag, fektive Bekämpfung der kommerziellen sexuellen den Sie heute vorlegen, zu. Ausbeutung von Kindern erörtert. Es müssen nun kon- krete Strategien entwickelt werden, um Kindern, die von (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) den grausamen Verbrechen betroffen sind, helfen zu kön- Bei der Verabschiedung Ihres Gesetzes zur Regelung nen. Die Realisierung der dort entwickelten Strategien der Rechtsverhältnisse von Prostituierten haben Sie je- lässt bis heute auf sich warten. doch die große Chance, jenen Prostituierten zu helfen, die Die Verschärfung der gesetzlichen Bestimmungen ge- als Opfer von Menschenhandel diesem Gewerbe nach- gen den sexuellen Missbrauch durch das Sechste Gesetz gehen, völlig außer Acht gelassen. zur Reform des Strafrechts erfolgte bereits in der letzten (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Legislaturperiode unter der Regierung von CDU/CSU und FDP. Jetzt ist es an Ihnen, meine Damen und Herren Sie haben ein Gesetz für nur rund 5 Prozent der Prostitu- von der Bundesregierung, weitere Schritte zu tun. ierten gemacht. 50 Prozent der Prostituierten, die als Ille- gale vielfach Opfer von Menschenhandel werden, inte- (Beifall bei der CDU/CSU) ressierten Sie bei diesem Gesetz überhaupt nicht. Neben einer verbesserten grenzüberschreitenden Ko- (Hanna Wolf [München] [SPD]: Vorsichtig!) operation ist es notwendig, die Öffentlichkeit auf das Leid betroffener Kinder aufmerksam zu machen. Dazu gehört, Es ist ein Skandal, dass Sie einerseits mit der Abschaffung dass auch auf die Strafbarkeit der Tat, auch wenn sie im der Sittenwidrigkeit die Prostitution verharmlosen, aber Ausland begangen wurde, hingewiesen und die Anzeige- andererseits den Ärmsten keinerlei Hilfe angeboten ha- bereitschaft als Zeuge geweckt wird. Nur so kann Kin- (B) ben. desmissbrauch auch außerhalb der Länder, in denen er (D) Prostitution macht nicht an Grenzen halt. Deshalb ist stattgefunden hat, strafrechtlich verfolgt werden. die Europäische Union gefordert, im Rahmen der Bei- In fast allen Wortbeiträgen ist bereits über die Genital- trittsverhandlungen mit den mittel- und osteuropäischen verstümmelung als eine der schwerwiegendsten Men- Staaten auch auf die Thematik Sextourismus einzugehen schenrechtsverletzungen gesprochen worden. Sie ist ein und sich mit der Situation der Frauen in der Prostitution Akt der Folter für Mädchen und Frauen, der keineswegs auseinander zu setzen. durch die Berufung auf eine Religion oder Kultur ge- (Beifall bei der CDU/CSU) rechtfertigt werden kann. Das Nötige dazu wurde auch von meiner Fraktion bereits ausgeführt. Darüber hinaus müssen die mittel- und osteuropäischen Staaten im Rahmen des Erweiterungsprozesses der EU Meine Damen und Herren, Frauenrechte sind Men- aufgefordert werden, einen Rechtsrahmen im Hinblick schenrechte. Die Verletzung elementarer Menschenrechte auf die Prostitution zu schaffen. Vom Sextourismus be- ist ein globales Problem. Wir fordern Sie daher auf, dass troffen sind nicht nur Frauen, sondern auch Kinder. Ge- Sie nationale Lösungsansätze suchen und insbesondere rade durch Sextouristen aus den reichen Ländern werden für ein gemeinsames Handeln auf europäischer und da- schwerste Verbrechen begangen. Den Kindern bleiben rüber hinaus auch auf internationaler Ebene Sorge tragen. meist psychische und physische Schäden für ihr ganzes Nur so werden wir weiterkommen. Leben. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Weltweit sind über 2 Millionen Kinder Opfer von se- xueller Ausbeutung. Wir fordern daher im vorliegenden Vizepräsidentin Petra Bläss: Die letzte Rednerin in Antrag die Bundesregierung auf, Maßnahmen gegen die dieser Debatte ist die Kollegin Hanna Wolf für die SPD- sexuelle Ausbeutung und gegen den Missbrauch von Kin- Fraktion. dern zu ergreifen. Dazu gehört, dass Sie sich für ein schnelles und effektives Engagement im Rahmen des ge- Hanna Wolf (München) (SPD): Frau Präsidentin! meinschaftlichen Vorgehens der EU-Mitgliedstaaten ein- Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Es ist bezeich- setzen. nend, dass wir uns in der heutigen Menschenrechtsdebatte Wichtig ist die Unterstützung von Projekten zur beruf- auf die Menschenrechte von Frauen konzentrieren. Der lichen Förderung und zur sozialen Integration von Kin- Grund ist, dass die Menschenrechte von Frauen am meis- dern, die Opfer sexuellen Missbrauchs geworden sind. ten gefährdet sind. Es heißt aber auch, dass es um die Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20591

Hanna Wolf (München) (A) Menschenrechte aller – auch um die von Männern und Die internationale Gemeinschaft muss die beiden Mi- (C) Kindern – besser gestellt ist, wenn die Menschenrechte nisterinnen in der Übergangsregierung, Sima Samar und von Frauen gesichert sind. Suhaila Seddiki, bedingungslos unterstützen. Afghani- sche Frauenorganisationen, die bisher in der Illegalität ar- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ beiten mussten, verdienen unsere uneingeschränkte Un- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der terstützung und unseren Dank für ihren Mut. CDU/CSU) In einem halben Jahr tritt die traditionelle Große Ver- Diese Erkenntnis ist noch nicht sehr alt. Eine gute Ent- sammlung, die Loja Dschirga, zusammen. Frauen müssen in wicklungshilfe richtet sich aber bereits jetzt danach. ihr einen wesentlichen Part spielen. Wenn das nicht gelingt, Ich spreche heute zu zwei Themen, die Millionen von dann sollte eine eigene Konferenz der afghanischen Frauen Frauen existenziell bedrohen, wie sehr, können wir uns abgehalten werden, deren Beschlüsse umzusetzen sind; kaum vorstellen: Es geht um die Männerherrschaft in Af- denn 65 Prozent der afghanischen Bevölkerung sind Frauen. ghanistan und um die Genitalverstümmelung in vielen Die Burka steht für die physische und psychische Un- Ländern Afrikas. terdrückung der afghanischen Frauen. Ein rostiges Mes- Afghanische Frauen hatten nicht nur unter den Tali- ser oder ein Schabestein stehen für die Unterdrückung der ban zu leiden; die Mudschahidin vor ihnen hatten die Frauen in vielen Ländern Afrikas. Im Namen von Kultur, Frauen auf ihre Weise terrorisiert. Afghanische Frauen Tradition und Religion werden damit Mädchen ohne Nar- hatten in ihrer Geschichte nur selten Gelegenheit, aus ih- kose und hygienische Vorkehrungen an den Genitalien unvorstellbar verstümmelt. rer eingesperrten Lage herauszukommen. Von 1964 bis 1992 waren die Frauen immerhin – laut Verfassung – den Der Kampf gegen die Genitalverstümmelung ist keine Männern gleichgestellt. Die fundamentalistische Unter- Erfindung westlicher Frauen. Seit 1975 rückt dieses Thema drückungswelle – erst durch die Mudschahidin, dann immer mehr ins Zentrum der Weltfrauenkonferenzen. Den- durch die Taliban – machte diese positiven Ansätze zu- noch werden noch immer 2 Millionen Mädchen jährlich an nichte. den Genitalien verstümmelt. Bei der radikalsten Form liegt die Todesrate bei 30 Prozent. Die damalige EU-Kommissarin, Emma Bonino, wid- mete den Internationalen Frauentag am 8. März 1998 den Einige Länder haben die Genitalverstümmelung in- afghanischen Frauen. Er fand eine breite Unterstützung – zwischen auch offiziell verboten. In ihren Lageberichten bei Frauen. Die offizielle Politik ergriff jedoch keine wirk- gehen die deutschen Botschaften ausführlich auf diese lich konkreten Maßnahmen. Erst die Empörung über die Thematik ein. Bei bilateralen Regierungsverhandlungen wird verdeutlicht, dass Frauenrechtsverletzungen verur- (B) Zerstörung der Buddha-Statuen ergriff auch die höchsten (D) Ebenen. Ich bin mir sicher, dass nichts weiter geschehen teilt werden. Von 1999 bis 2002 werden von der Bundes- wäre, wenn nicht der Terror in dieser unvorstellbaren regierung 5,8 Millionen DM für Projekte zur Überwin- Weise in die USA getragen worden wäre. dung der Genitalverstümmelung zur Verfügung gestellt. Frauengruppen werden in ihrem Kampf unterstützt. Die (Monika Ganseforth [SPD]: Leider wahr!) praktische Durchsetzung von Verboten ist nicht immer Wenn heute die Zukunft von Frauen in Afghanistan leicht. Deshalb sind Initiativen notwendig, wie sie die besser erscheint, dann nur, weil die internationale Ge- deutsche Entwicklungshilfe unterstützt. meinschaft einen massiven Druck auf die Verhandlungs- Seit Heidi Wieczorek-Zeul Ministerin ist, unterstützt führer auf dem Petersberg ausgeübt hat. sie die Menschenrechte von Frauen als zentrales Ziel ih- rer Entwicklungspolitik. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Es ist auch in Zukunft unerlässlich, dass dieser Druck weiter aufrechterhalten wird und dass den Stammesfüh- Ich möchte ihr dafür heute ausdrücklich danken und ihr rern klar gemacht wird, dass die Zukunft ihres Landes viel Erfolg in Afghanistan wünschen, wo sie sich gerade ohne eine gleichberechtigte Teilhabe der Frauen an Ge- aufhält. sundheit, Bildung, Wirtschaft und Politik auch für sie ver- In die schreckliche Bilanz der Frauenrechtsverletzun- spielt ist. gen fallen auch die so genannten Ehren- oder Schande- (Beifall im ganzen Hause) morde, denen jährlich rund 5 000 Frauen und Mädchen zum Opfer fallen. Die CDU/CSU thematisiert dies in In den Köpfen der Mehrzahl der afghanischen Männer ihrem Antrag und ich stimme ihren Forderungen zu. muss ein Umdenken stattfinden. Die Frauen tragen noch heute die Burka; sie werden ihre Gründe haben. Es gibt Es ist ein logisches Prinzip, dass Probleme in den Län- noch heute Bilder von Männern, die Frauen wie Vieh vom dern bekämpft werden, in denen sie auftreten. Es gibt je- Markt in Kabul wegprügeln. Diese Art der Männerherr- doch Situationen, in denen Regierungen nicht willens schaft darf nicht Kultur, Tradition oder Religion genannt oder in der Lage sind, die Verfolgung von Frauen in ihren werden; denn Unterdrückung von Frauen ist Terror gegen Ländern zu verhindern. Für diese Fälle will die Bundes- regierung einen Aufenthaltstitel wegen der Verfolgung Frauen. aufgrund des Geschlechts sichern. Sie kann sich unter an- (Beifall im ganzen Hause) derem auf deutsche Verwaltungsvorschriften oder auch 20592 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001

Hanna Wolf (München) (A) auf die UNO-Sonderkonferenz „Frauen 2000“ in New Unsere Aufgabe ist es, in einer sich globalisierenden (C) York berufen, wo die Genitalverstümmelung als Gewalt Welt die globale Wertegemeinschaft zu unterstützen, wie gegen Frauen und als Verletzung der Menschenrechte ver- sie sich in der UNO manifestiert. Dafür haben sie und urteilt wurde. ihr Generalsekretär Kofi Annan diese Woche den Friedensnobelpreis erhalten. Dazu gratuliere ich auch von Ich finde es deshalb empörend, wenn der bayerische dieser Stelle sehr herzlich. Ministerpräsident Stoiber genau gegen diesen Aufenthalts- titel bei geschlechtsspezifischer Verfolgung polemisiert (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ und eine massenhafte Zuwanderung an die Wand malt. DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Ich verbinde damit die Erwartung, dass die UNO in ihren PDS – Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Er hat Bemühungen um Menschenrechte von Frauen nicht nach- sich gegen Asyl ausgesprochen!) lassen wird. Erstens ist das menschenverachtend und zweitens können Vielen Dank. die meisten Frauen ohnehin keine langen Fluchtwege auf (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sich nehmen. Das wurde heute schon betont. DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Aber auch die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ka- PDS) schiert ihre ablehnende Haltung bei geschlechtsspezifi- scher Verfolgung damit, dass die Opfer schon heute ge- Vizepräsidentin Petra Bläss: Ich schließe die Aus- schützt seien. Die jetzige Bundesregierung hat sehr viel sprache. zum verbesserten Schutz beigetragen. Aber mit dem an- gestrebten neuen Aufenthaltsstatus wird gerade diesen Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus- Opfern eine Zukunftsperspektive eröffnet. Der Kollege ses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe zu dem An- Heiner Geißler hat in seiner Rede heute noch einmal un- trag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die terstrichen, dass sie durch unser Zuwanderungsgesetz ei- Grünen „Prävention und Bekämpfung von Frauenhan- nen besseren Status bekommen. Sie alle haben doch sel- del“, Drucksache 14/7539. Der Ausschuss empfiehlt, den ber schon einmal einstimmig einer Entschließung Antrag auf Drucksache 14/6540 anzunehmen. Wer stimmt zugestimmt. für diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthal- tungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen (Maria Eichhorn [CDU/CSU]: Lesen Sie den des ganzen Hauses angenommen. Antrag, den wir vorgelegt haben, Frau Wolf! Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf Dann bräuchten Sie das jetzt nicht zu sagen!) (B) den Drucksachen 14/7457, 14/7610 und 14/7793 an die in (D) Damals haben Sie, Frau Eichhorn, noch gefordert, aus ge- der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla- schlechtsspezifischer Verfolgung einen Asylgrund zu ma- gen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. chen. Jetzt wollen Sie sie nicht einmal anerkennen und Dann ist die Überweisung so beschlossen. den Status verbessern. Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Antrag (Beifall bei Abgeordneten der SPD) der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 14/7783 mit dem Titel „Genitalverstümmelung an Mädchen und So doppelzüngig kann man nicht reden. Sie können nicht Frauen in der Bundesrepublik Deutschland und weltweit bei Menschenrechtsdebatten so etwas fordern und bei Ab- bekämpfen“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt stimmungen über Gesetze, mit denen wir etwas verändern dagegen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist gegen die wollen, dagegen stimmen. Das geht nicht. Stimmen von CDU/CSU- und FDP-Fraktion abgelehnt. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Antrag DIE GRÜNEN – Maria Eichhorn [CDU/CSU]: der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 14/7784 mit Wir haben doch einen Antrag vorgelegt! Le- dem Titel „Rechte der Frauen in Afghanistan durchsetzen sen!) und stärken – Frauen an politischen Prozessen beteili- – In diesem Antrag tun Sie so, als wenn alles schon bes- gen“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dage- tens geregelt wäre. Es ist besser geworden, das kann gen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist gegen die Stimmen man Gott sei Dank sagen, aber der Status, den wir jetzt an- von CDU/CSU- und PDS-Fraktion abgelehnt. streben, bedeutet eine wesentliche Verbesserung der Abstimmung über den Antrag der SPD, des Bündnis- Zukunftsperspektive. Ich bitte Sie herzlich, sich hier nicht ses 90/Die Grünen, der FDP und der PDS auf Drucksa- vor einen Karren spannen zu lassen, da Sie doch in dieser che 14/7815 mit dem Titel „Teilnahme von Frauen am Debatte zum Ausdruck gebracht haben, wie engagiert Sie Friedensprozess in Afghanistan“. Wer stimmt für diesen bei diesem Thema sind. Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der (Maria Eichhorn [CDU/CSU]: Unseren Antrag Antrag ist bei Enthaltung der CDU/CSU-Fraktion ange- lesen, Frau Wolf! Da steht das Nötige drin!) nommen. Man kann nur mit einer Zunge reden, nicht mit zweien. Zusatzpunkt 12: Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten auf Drucksache 14/7795 mit dem Titel „Die Spirale der des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Gewalt in Tschetschenien durchbrechen“. Wer stimmt für Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20593

Vizepräsidentin Petra Bläss (A) diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Dr. Werner Müller, Bundesminister für Wirtschaft (C) Der Antrag ist bei Enthaltung von CDU/CSU-, FDP- und und Technologie: Frau Präsidentin! Meine Damen und PDS-Fraktion angenommen. Herren! Dass der Zwischenbericht der Enquete-Kommis- Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschen- sion „Nachhaltige Energieversorgung unter den Bedin- rechte und humanitäre Hilfe auf Drucksache 14/7809 zu gungen der Globalisierung und der Liberalisierung“ des dem Antrag der Fraktion der FDP mit dem Titel „Für eine Deutschen Bundestages und der Energiebericht meines Tschetschenien-Resolution der VN-Menschenrechtskom- Hauses heute hier parallel diskutiert werden, begrüße ich mission“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf ausdrücklich. Beide Berichte kennzeichnet, unabhängig Drucksache 14/3186 abzulehnen. Wer stimmt für diese von ihren jeweiligen Schwerpunkten, Zielsetzungen und Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Zeithorizonten – der Energiebericht geht bis 2020, die En- Die Beschlussempfehlung ist gegen die Stimmen von quete-Kommission macht sich Gedanken über 2050 –, ein CDU/CSU- und FDP-Fraktion bei Enthaltung der PDS gemeinsames Grundverständnis, und zwar die Feststel- angenommen. lung, dass eine zukunftsfähige Energiepolitik Umweltver- träglichkeit, Versorgungssicherheit und Wirtschaftlich- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a und 8 b sowie keit gleichrangig im Auge haben muss; denn nur dann ist Zusatzpunkt 14 auf: sie wirklich nachhaltig. (Beifall des Abg. Albert Schmidt [Hitzhofen] 8.a) Beratung des Zwischenberichts der Enquete-Kom- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) mission „Nachhaltige Energieversorgung unter den Bedingungen der Globalisierung und der Li- Gemeinsam ist auch die Erkenntnis: Wenn sehr ehrgei- beralisierung“ zige Klimaschutzziele erreicht werden sollen, muss die deutsche Volks- und Energiewirtschaft einen massiven Teilbericht zu dem Thema: Strukturwandel durchlaufen. Ich füge hinzu: Deshalb ist Nachhaltige Energieversorgung auf liberali- hier ein internationaler Gleichschritt so wichtig. sierten Märkten: Bestandsaufnahme und An- (Beifall des Abg. Walter Hirche [FDP]) satzpunkt – Drucksache 14/7509 – Keine moderne Volkswirtschaft schüttelt einen solchen Strukturwandel wirtschaftlich oder technisch einfach so Überweisungsvorschlag: aus dem Ärmel. Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Wie schwer es national und weltweit ist, die ökologisch Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen- angestrebte Stabilisierung bzw. Absenkung des CO -Aus- (B) abschätzung 2 (D) stoßes voranzubringen, zeigt ein Blick auf Zahlen. Inner- b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kurt- halb der EU haben bislang nur Deutschland und das Ver- Dieter Grill, Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach), einigte Königreich substanzielle CO2-Minderungserfolge Dr. Peter Paziorek, weiterer Abgeordneter und der aufzuweisen. Fraktion der CDU/CSU (Michaele Hustedt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Energiebericht sofort veröffentlichen – Ener- NEN]: Luxemburg!) giekonzept vorlegen Die EU in ihrer Gesamtheit füllt diese eingesparten Emis- – Drucksache 14/7287 – sionen aber leider wieder mit Mehremissionen auf. Da- Überweisungsvorschlag: rum sage ich: Wer heute mittel- und langfristig allein für Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Deutschland eine Absenkung der CO2-Emissionen um Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit 40 bis 50 Prozent anstrebt, ist zu einer gründlichen Aus- einandersetzung über die konkreten Voraussetzungen und ZP 14 Beratung des Antrags der Abgeordneten Walter Konsequenzen verpflichtet. Hirche, Rainer Brüderle, Paul K. Friedhoff, weite- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP der FDP) Energiebericht für eine energiepolitische Grundsatzdebatte nutzen Ich habe zwei mögliche Entwicklungspfade bis zum Jahr 2020 von erfahrenen Instituten, von Prognos und – Drucksache 14/7814 – dem Bremer Energieinstitut, durchrechnen lassen. Wir Überweisungsvorschlag: sollten nicht nur die umweltpolitischen Folgen des Nichts- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) tuns im Klimaschutz kennen, sondern auch wissen, wel- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit che ökonomischen Lasten wir beim Strukturwandel in der Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Energieversorgung bewältigen müssen und welche Si- Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen cherheitsrabatte wir zahlen. Denn wir sind ein Energieim- Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. portland. Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner ist der Bun- (Walter Hirche [FDP]: Deswegen würde man desminister für Wirtschaft und Technologie, Dr. Werner sich die Wirtschaftspolitiker der SPD hier wün- Müller. schen!) 20594 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001

Bundesminister Dr. Werner Müller (A) Ich möchte hier nicht im Einzelnen auf diese beiden Insbesondere auf der Nachfrageseite liegen die Potenziale (C) Szenarien eingehen; das ist im Energiebericht nachzule- für eine Energieeinsparung, namentlich im privaten Be- sen. Wichtig aber ist ein Ergebnis: Der Versuch, in reich. Deutschland isoliert eine nationale 40-prozentige Minde- Der Klimaschutz wird vor allem von einer stärkeren rung der CO2-Emissionen zu erreichen, würde dem glo- balen Klimaschutz kaum nutzen. europäischen und internationalen Ausrichtung unserer Energiepolitik profitieren. Denn zurzeit heißt Klima- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – schutz in Europa leider vor allem eines: Deutschland Walter Hirche [FDP]: Richtig!) übernimmt bei einem Anteil von nur 25 Prozent am euro- Er würde aber die Wirtschaftlichkeit und Versorgungssi- päischen Sozialprodukt im Rahmen der Lastenverteilung cherheit unserer deutschen Energieversorgung erheblich drei Viertel, also 75 Prozent der Kioto-Verpflichtungen beeinträchtigen. bis 2008/2012. Während bei uns die CO2-Emissionen von 1991 bis heute um rund 160 Millionen Tonnen gesenkt (Walter Hirche [FDP]: Unsere Fähigkeit, den worden sind, sind sie in den übrigen 14 Mitgliedstaaten Entwicklungsländern zu helfen!) um insgesamt 100 Millionen Tonnen gestiegen. Wir müssten nämlich weitgehend auf die Nutzung der Der Lösung des globalen Klimaproblems werden wir Kohle, insbesondere der heimischen Kohle, verzichten. nur dann näher kommen, wenn sich auch andere Länder Die Folge wäre, dass wir nicht nur im Verkehrs- und stärker den Klimaschutzanforderungen stellen. Raumwärmesektor, sondern auch im Bereich der Strom- (Beifall bei der CDU/CSU sowie erzeugung stärker von der Importenergie Erdgas abhängig des Abg. Walter Hirche [FDP]) würden oder die Stromerzeugung zu beachtlichen Teilen ins Ausland verlagerten. Die Gefahr von Importpreisstei- Nur dann werden sich im Übrigen auch die von uns ent- gerungen mit entsprechenden Auswirkungen auf das wickelten Klimaschutztechnologien tatsächlich exportie- volkswirtschaftliche Wachstum steigt damit erheblich. ren lassen. Denn nur wenn auch im Ausland Klimaschutz Auch die Kosten einer isolierten, nationalen Klima- praktiziert wird, werden unsere Technologien Export- schutzpolitik für die Volkswirtschaft, die dann auch den möglichkeiten bekommen. privaten Verbraucher träfen, müssen erwähnt werden. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- CDU/CSU sowie des Abg. Walter Hirche neten der FDP) [FDP]) Natürlich kann man einwenden, dass solche Szenarien Die in verschiedenen Studien prognostizierten Arbeits- (B) die Wirklichkeit nicht vollkommen abbilden. Aber solche platzeffekte setzen voraus, dass die Nachfrage nach Kli- (D) Modellrechnungen klären komplexe Handlungszusammen- maschutz auch außerhalb Deutschlands entsteht. hänge und sind präzise genug, um sicher zu sein. Eine sol- che Strategie wäre schwerlich als nachhaltig zu bezeichnen. Bei diesen Anmerkungen zu den Chancen einer Ener- giepolitik, die über den nationalen Tellerrand reicht, will (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ich es belassen. Ich möchte noch einmal sagen: Lesen Sie Ob wir sie letztlich dennoch verfolgen, bleibt natürlich den Energiebericht! einer politischen Entscheidung überlassen. Mir geht es Einen Punkt will ich zum Abschluss noch hervorheben: einzig und allein darum, für eine solche Entscheidungs- Vermeidbare Risiken sollten wir uns im Energiebereich findung eine Diskussionsgrundlage zu schaffen. nicht leisten; denn der Einfluss der Energiepolitik auf das Ich halte es für notwendig, dass die Gesellschaft in volkswirtschaftliche Wachstum und auf die Arbeitsplätze Kenntnis der Konsequenzen energiepolitischer Strategien ist außerordentlich hoch. Immerhin ist der Wertschöp- über diese entscheidet und ihre Kosten dann auch akzep- fungsbeitrag des Energiesektors höher als der der chemi- tiert. Gleichzeitig geht es mir natürlich auch darum, Wege schen Industrie, und sein innovatorisches Potenzial strahlt zu finden, wie wir möglichst ehrgeizige Klimaschutzziele in viele Segmente der Volkswirtschaft aus. Ohne eine zu- zu tragbaren Kosten und möglichst geringen Belastungen verlässige und bezahlbare Energieversorgung sind die in- für die Sicherheit der Energieversorgung, für die Volks- dustrielle Entwicklung sowie der Weg in die Informati- wirtschaft und für den Einzelnen erreichen können. onsgesellschaft und in eine umweltfreundliche Technik (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten wohl nur schwer denkbar. der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Nach meiner Überzeugung gibt es zahlreiche so ge- GRÜNEN, der CDU/CSU und der FDP) nannte No-Regret-Strategien, die absehbare Risiken mi- Das will ich nicht; ich denke, das wollen wir alle nicht. nimieren, aber gleichwohl zur Zielerreichung beitragen. Hier liegen dann auch bei allen Differenzen im Detail un- „No-Regret“ ist beispielsweise die Steigerung der Energie- sere Gemeinsamkeiten. produktivität der deutschen Volkswirtschaft bei gleichzei- tig stetigem Wirtschaftswachstum. Davon profitiert sowohl Vielen Dank. die Versorgungssicherheit als auch die Umwelt. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- DIE GRÜNEN sowie des Abg. Walter Hirche SES 90/DIE GRÜNEN) [FDP]) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20595

(A) Vizepräsidentin Petra Bläss: Für die CDU/CSU- von über 500 Milliarden DM, die Ihr Energiebericht dafür (C) Fraktion spricht jetzt der Kollege Kurt-Dieter Grill. ausweist, sind nicht neu. Alle, die sich mit der Frage des Ausstiegs aus der Kernenergie und einem CO2-neutralen Ausstieg beschäftigen, hätten Ihnen diese Zahlen schon Kurt-Dieter Grill (CDU/CSU): Frau Präsidentin! vor Jahren vorrechnen können. Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Bundes- wirtschaftsminister, die Gemeinsamkeiten zwischen dem Gleichwohl ist diese Koalition – dies haben Sie nicht Zwischenbericht der Enquete-Kommission und Ihrem verhindern können – immer weiter von ihren eigenen Pos- Energiebericht sind mit dem Satz, den Sie mühsam her- tulaten abgewichen. Diese Bundesregierung war es, die aussuchen mussten, um Gemeinsamkeiten feststellen zu auf die Große Anfrage der CDU/CSU zur Energiepolitik können, dann wohl auch erschöpft. Wenn man die Reak- im Jahre 1999 im Jahre 2000 geantwortet hat: Wir wollen tionen der Koalitionsfraktionen auf den Energiebericht, eine staatsferne, subventionsfreie, am Wettbewerb orien- den Sie vorgelegt haben, sieht und sich den Text des Zwi- tierte Energiepolitik. Unter Ihrer Ägide sind daraus immer schenberichtes – so wie er jedenfalls von der Mehrheit ge- mehr Subvention und immer mehr Eingriffe des Staates sehen wird – insgesamt zu Gemüte führt, stellt man fest, geworden. Die Krönung ist, dass im Nachhaltigkeitsrat dass dazwischen Welten liegen. sogar feste Zahlen für einzelne Technologien vorgegeben Die Kritik an Ihrem Energiebericht macht deutlich, werden. Dies ist ein krasser Widerspruch zu Ihren Postu- dass es auf Ihrer Seite eine entscheidende Schwäche gibt: laten einer subventionsfreien, wettbewerbsorientierten Für Ihren durchaus von Vernunft und von Perspektiven Energiepolitik, die versucht,die ökonomischen, ökologi- geprägten Energiebericht haben Sie keine Mehrheit in- schen und sozialen Fragen im Sinne der Nachhaltigkeit nerhalb der Koalitionsfraktionen. miteinander zu verbinden. (Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – SPD) Walter Hirche [FDP]: Das ist die so genannte Vielfalt in der Regierung!) – Ich glaube schon, dass ein Minister, der hier für die Bun- desregierung einen Energiebericht vorlegt, eine Mehrheit – Richtig: Das ist die Vielfalt in der Regierung. innerhalb der Regierungskoalition haben sollte. Ich denke, dass wir mit Ihrem Bericht letztendlich nur Der Energiebericht bestätigt in weiten Teilen die Kri- feststellen können, wo die Schwächen der Energiepolitik tik, die CDU und CSU von Anfang an hier vorgetragen ha- der jetzigen Koalition und der Bundesregierung liegen. ben. Sie selber haben am Anfang Ihrer Amtszeit gesagt, Sie haben nicht ganz zu Unrecht darauf hingewiesen, nach 1991 müsse es eine neue Energiepolitik geben. Nach dass wir in der Klimapolitik unsere europäischen Nach- (B) drei Jahren haben Sie dafür immer noch keine Perspekti- barn mehr in die Pflicht nehmen müssen. Ich habe das (D) ven entwickelt. Sie haben im Energiedialog, der durch- von dieser Stelle aus bei einer klimapolitischen Debatte aus zu einem Energieprogramm führen sollte, zwar die dem Bundesumweltminister und diesen Koalitions- Perspektiven für ein Energieprogramm im Verbund von fraktionen schon einmal gesagt: Die eine Seite dieses 30 Organisationen, Verbänden und großen Firmen mit auf Hauses hat sich gütlich daran getan, verbal auf den ame- den Weg bekommen; aber eine Umsetzung des Energie- rikanischen Präsidenten einzudreschen. Nun hat Europa dialogs in ein Energieprogramm, wie versprochen, ist von seine Bilanz zur CO2-Emissionseinsparung seit 1990 vor- Ihnen nicht vorgenommen worden. gelegt. Wie sieht die Realität aus? Alle europäischen Län- Seit Anbeginn Ihrer Amtszeit zieht sich eine Schwäche der außer Großbritannien, Deutschland und Luxemburg durch die Energiepolitik dieser Bundesregierung: Sie sind haben im Vergleich zu 1990 ein Plus von bis zu 9 Prozent an Ihrem eigenen Anspruch „Wer aussteigt, muss auch sa- bei der CO2-Emissionen stehen. gen, wo er einsteigt“ im Prinzip gescheitert. Bis heute ha- (Walter Hirche [FDP]: Das scheint mit ben Sie keine, auch nicht ansatzweise, an den Kriterien, der Einführung der Ökosteuer gekoppelt die Sie selbst vorgelegt haben, orientierte Perspektive für zu sein!) 2020 aufgezeigt. – Auch das kann man noch nachweisen. Darauf will ich (Beifall bei der CDU/CSU) jetzt verzichten. Der Energiedialog, Herr Minister, hat im Übrigen das, Deswegen wäre es im Interesse Deutschlands in der Tat was Sie aufschreiben, schon längst zum Inhalt. Der Kol- dringend geboten, dass wir nicht nur auf die amerikani- lege Hirche und ich haben nicht zuletzt durch unsere In- sche Politik einwirken, sondern – gerade in Anbetracht tervention sichergestellt, dass gerade am Anfang des Pa- der jetzt zur Debatte stehenden Rahmenrichtlinie für den piers über den Energiedialog steht: Dieser Dialog Emissionshandel, die diejenigen, die tätig geworden sind, beantwortet die Fragen, die sich für die Klimapolitik der noch bestrafen wird – in Europa endlich dafür sorgen, Bundesrepublik Deutschland durch den Ausstieg aus der dass Klimapolitik nicht nur in Deutschland, sondern auch Kernenergie ergeben, nicht. bei unseren europäischen Nachbarn stattfindet. Dazu Auch Ihr Energiebericht zeigt das Problem auf, gibt muss diese Bundesregierung eine entsprechende Initiative aber keine Antworten. Das aber ist doch die große Frage, ergreifen. die wir von Anfang an gestellt haben: Welche Konse- Nach Ihren Kostenrechnungen ergeben sich im Szena- quenzen hat der Ausstieg aus der Kernenergie und wie rio I fiskalische Zusatzkosten von 1 220 Milliarden DM kann er CO2-neutral vonstatten gehen? Die Zusatzkosten bis 2020 oder 61 Milliarden DM per annum. Die Situation 20596 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001

Kurt-Dieter Grill (A) verschärft sich um die bereits bekannten Zahlen, wenn werden. Diese Zielsetzung hat eine gewaltige Dimension, (C) man von einem Reduktionsziel von 40 Prozent gegenüber und zwar nicht wegen ihrer Technologieorientierung, son- 1990 ausgeht. Sie erinnern sich, dass Ihnen die CDU/CSU dern weil dies in Bezug auf das einzusetzende Kapital eine im Energiedialog angeboten hat, die Zielzahlen auf die gewaltige Herausforderung darstellt, bei der weder der Ent- des Kioto-Protokolls zu korrigieren. Darauf sind Sie nicht wicklungsetat noch irgendein anderer Haushalt dieses Lan- eingegangen. Heute sind Sie Gefangener Ihrer eigenen des einen entscheidenden Beitrag leisten kann. Es müssen Ansprüche. Dies reicht bis zu den Interventionen beim neue Wege beschritten werden, wenn es gelingen soll. Wir KWK- und dem Erneuerbare-Energien-Gesetz. richten unseren Blick auf Monterrey. Es ist ja nicht so, dass alle gleichmäßig viel bezahlen. Einen letzten Punkt: Sie fordern verlässliche und lang- Die Kämpfe zwischen Eichel und Monti in Sachen Aus- fristige energiepolitische Rahmenbedingungen. Ich kann nahmen bei der Ökosteuer sowie die hier von Herrn Ihnen nur sagen – gerade vor dem Hintergrund der Pres- Jung ganz locker vorgetragene Tatsache, dass im KWK- seerklärungen der rot-grünen Koalition zu dem Zwi- Gesetz die energieintensiven Betriebe geschont werden schenbericht der Enquete-Kommission –: Es wird deut- und die Kosten auf Mittelstand und Tarifkunden verteilt lich, dass man nicht auf einen Konsens aus ist. Es ist bis werden, widersprechen Ihren energiepolitischen Grund- heute vollkommen klar, dass nicht innerhalb einer Legis- sätzen. All das haben Sie nicht verhindern können. laturperiode die Mehrheit entscheidet, wie die Energie- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- versorgung der nächsten 40 Jahre aussieht. Es wäre wün- neten der FDP) schenswert, wenn – an Ihrem Bericht orientiert – ein Konsens zustande käme, an dem sich alle, die in Deutsch- Wenn ich mir auf der anderen Seite ansehe, welche land in Energietechnik und Energiewirtschaft investieren langfristigen Handlungsorientierungen Sie selber für rich- wollen, langfristig, auch über Regierungswechsel hinaus, tig halten, so könnte man sich auf die Kriterien Energie- orientieren können. Ihr Bericht liefert eine Grundlage. effizienz und langfristige Orientierung der Energiebe- Die rot-grüne Koalition besteht darauf, dass sie allein ent- steuerung ohne Wettbewerbsverzerrung verständigen. scheidet, was im Jahre 2050 passiert. So lässt sich nicht Immerhin haben wir Ihnen die Bilanz in den letzten zehn eine gemeinsame Energiepolitik für Deutschland machen. Jahren hinterlassen, dass die Energieeffizienz um jährlich 2 Prozent gesteigert wurde. Dass wir neben die Angebots- Herzlichen Dank. orientierung eine Nachfrageorientierung setzen sollten, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ist unbestritten. Es ist ebenso unbestritten, dass wir die technologischen Innovationen zur Energieumwandlung und Energienutzung forcieren sollten. Vizepräsidentin Petra Bläss: Jetzt spricht die Kol- legin Michaele Hustedt für die Fraktion Bündnis 90/Die (B) Aber was ist mit den fortgeschrittenen Kraftwerks- Grünen. (D) techniken? Diese Seite des Hauses – darin liegt der erste krasse Widerspruch zum Bericht der Enquete-Kommis- sion – will nicht nur aus der Kernenergie aussteigen, son- Michaele Hustedt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): dern auch aus der Energieerzeugung durch Kohle. Mit Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sehr geehr- uns können Sie in Deutschland eine fortgeschrittene En- ter Herr Grill, ich kann mich erstens nicht daran erinnern, ergieerzeugung durch Kohle – nicht zuletzt im Hinblick dass die schwarz-gelbe Koalition in ihrer Regierungszeit auf den weltweiten Verbrauch von Kohle, auf den wir in Energiefragen sehr konsensfähig gewesen wäre; im Ge- nicht verzichten können – betreiben. genteil. Zu den subventionsfreien Energieversorgungsstruktu- (Kurt-Dieter Grill [CDU/CSU]: 1993 haben ren habe ich Ihnen das Notwendige gesagt. Sie sind nicht wir einen Konsens gehabt!) auf dem Weg in die Subventionsfreiheit, sondern auf dem – Aber nicht mit uns. Weg zu immer mehr Subventionen. Die Frage ist, wie lange das bestehende System noch dazu in der Lage ist, (Kurt-Dieter Grill [CDU/CSU]: Nicht mit die Subventionen für die Bereiche, die subventioniert euch, sondern mit der SPD!) werden müssen, zu erwirtschaften. Zweitens. Wer im Glashaus sitzt, soll nicht mit Steinen Braun- und Steinkohle sind in der Stromerzeugung un- werfen: Sie werfen uns vor, dass wir in der einen oder an- verzichtbar. Das ist nicht nur Ihre Auffassung, Herr Minis- deren Frage streitbar über die zukünftige Entwicklung, ter, sondern auch die des Bundeskanzlers. Das wird aber über das, was im Jahr 2020 oder im Jahr 2050 geschehen auf der linken Seite des Hauses ganz anders gesehen. Ich wird, diskutieren. Diesen Vorwurf kann ich, ehrlich ge- sage: Zu Recht nehmen Sie die Außenwirtschaftspolitik sagt, nicht ernst nehmen, kommt er doch von einer Partei, in Ihren Bericht mit auf. Ich vermisse aber auch dort – ge- die sich wie die Kesselflicker über den nächsten Kanzler- nauso wie in vielen anderen Ansätzen, auch in der Enquete- kandidaten streitet. Kommission – eine Auseinandersetzung mit den Johannes- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN burg-Zielen und eine Antwort auf die Frage, was angesichts und bei der SPD – Kurt-Dieter Grill von 2 Milliarden Menschen, die ohne Zugang zu Energie [CDU/CSU]: Das ist sehr billig! Das ist banal! sind, außerhalb Deutschlands zu leisten ist. Antwort auf Du warst schon besser!) diese Fragen gibt auch Ihr Energiebericht nicht. Solche Themen müssen aber in einer Zeit, in der wir darüber dis- Herr Grill, ich finde es besonders schade, dass Sie als kutieren, wie wir weiteren 2 Milliarden Menschen Zugang Vorsitzender der Enquete-Kommission „Nachhaltige zu Energie verschaffen können, stärker herausgearbeitet Energieversorgung unter den Bedingungen der Globali- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20597

Michaele Hustedt (A) sierung und der Liberalisierung“ so gut wie gar nicht über – In Westdeutschland ist die Energieeffizienz gesteigert (C) unsere Arbeit, die lang und mühselig war, gesprochen ha- worden. Aber der Umfang der CO2-Emissionen ist fak- ben. Das finde ich, wie gesagt, sehr schade. Das werde ich tisch nahezu gleich geblieben, weil die Energieeffizienz- anders machen. steigerung durch das Wachstum aufgefressen worden ist.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Im letzten Jahr ist der Umfang der CO2-Emissionen in und bei der SPD – Kurt-Dieter Grill Gesamtdeutschland wieder gestiegen. Damit liegt [CDU/CSU]: Das ist die Aufgabe des Ob- Deutschland voll im Trend, wie ein Vergleich mit ande- manns!) ren Ländern zeigt: Spanien konnte den Umfang seiner CO2-Emissionen nur um 3,8 Prozent reduzieren. Schwe- In dem Zwischenbericht der Enquete-Kommission den schaffte lediglich ein Reduktion von 7,3 Prozent. machen wir sehr deutlich, dass Klimaschutz eine brand- Auch Großbritannien konnte den Umfang seiner CO2- aktuelle Aufgabe ist. Die UN hat sehr deutlich gemacht Emissionen nicht entscheidend reduzieren. Luxemburg – davor hat sie schon früher immer gewarnt –, dass wir nimmt mit einer Reduktion von 48,6 Prozent eine Son- aufgrund unseres Verhaltens in der Vergangenheit die Ver- derstellung ein. Natürlich sind wir – das gilt erst recht, änderungen des Klimas nicht mehr aufhalten, sondern de- seitdem Rot-Grün an der Regierung ist – in der Errei- ren Auswirkungen nur noch begrenzen können. Es wird chung unserer Klimaschutzziele engagiert. Durch Förde- sogar gesagt, dass schon die ganze Welt vom Treibhaus- rung der erneuerbaren Energien, von KWK und der Alt- effekt betroffen ist. Es wird prognostiziert, dass die Zahl bausanierung haben wir Sachen angestoßen, die der Dürren zunehmen wird – die Zahl der Flächen, auf de- tatsächlich eine aktive Klimaschutzpolitik bedeuten und nen Nahrungsmittel angebaut werden können, hat sich die in der Zukunft auch greifen werden. Aber wir sind sehr schon jetzt reduziert –, dass nicht nur die Zahl der Stürme, überheblich, wenn wir angesichts einer Reduktion von sondern auch deren Stärke zunehmen wird, dass es viele 15,8 Prozent behaupten würden, dass Deutschland der Überschwemmungen und dergleichen geben wird. Schon einzig wahre Vorreiter in Sachen Klimaschutz in der Eu- heute gibt es mehr Flüchtlinge aus Umweltgründen als ropäischen Union sei. Das ist Deutschland trotz der bis- aus jedem anderen Grund. Deswegen ist es im ureigenen herigen Anstrengungen nämlich nicht. Interesse der Weltstabilität und einer Weltinnenpolitik, Ich frage Sie jetzt einmal anders herum: Haben die eine aktive Klimaschutzpolitik zu machen. Anstrengungen, die wir bisher zum Beispiel bei den er- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN neuerbaren Energien unternommen haben, zum Nachteil des Standortes Deutschlands gereicht, wie immer be- und bei der SPD) hauptet wird? Deswegen sind solche Ziele wie das, den Umfang der (Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/ (B) CO -Emissionen bis 2050 um 80 Prozent zu reduzieren, (D) 2 DIE GRÜNEN]: Im Gegenteil!) zwar ambitioniert, aber keine grüne Marotte. Sie sind viel- mehr eine wissenschaftlich begründete Notwendigkeit. Ich behaupte: Im Gegenteil! Die Frage ist: Spielt Deutschland im Bereich des Kli- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN maschutzes tatsächlich, wie immer gesagt wird, die große und bei der SPD) Vorreiterrolle? Wir machen das zwar immer daran fest, in- Sie, Herr Grill, haben hier noch einmal die Kohle vertei- dem wir darauf verweisen, dass der Umfang der CO2- digt. Ich sage Ihnen: In Bund und Land zusammen wer- Emissionen in Deutschland schon um 15,8 Prozent redu- den jedes Jahr Subventionen für die Steinkohle in Höhe ziert worden ist. Aber wenn man sich die weltweite von 8 Milliarden DM gezahlt. Entwicklung einmal genau anschaut, dann stellt man fest, dass es Länder gibt, die schon wesentlich mehr erreicht (Walter Hirche [FDP]: Joschka Fischer ist in haben, sofern man nur das Kriterium der Reduktion he- Bonn doch dafür auf die Barrikaden gegangen!) ranzieht. Russland zum Beispiel hat seit 1990 den Um- Das schafft 50 000 Arbeitsplätze. Das EEG verursacht le- fang seiner CO2-Emissionen um 40,3 Prozent reduziert, diglich Kosten in Höhe von 1 Milliarde DM. die Ukraine um 53,5 Prozent. Es hat in einer Zukunftsbranche, einer Branche, die (Lachen bei der CDU/CSU) große Exportmöglichkeiten aufweist, 120 000 neue Ar- beitsplätze geschaffen. – Sie lachen natürlich, weil Sie wissen, dass diese starken Reduktionswerte mit dem Zusammenbruch des realen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Sozialismus zusammenhängen. Deswegen stimmt es auch und bei der SPD – Kurt-Dieter Grill [CDU/ – das kann niemand leugnen –, dass ein Teil der Reduk- CSU]: Das ist doch so unwahrhaftig, wie es nur tion in Deutschland teilweise durch den Zusammenbruch geht!) des realen Sozialismus, auf die stärkeren Effekte in den Wenn man das einmal vergleicht, dann kann man sagen: fünf neuen Bundesländern, zurückzuführen ist. Das ist ein Eine Klimaschutzstrategie schafft Arbeitsplätze, schafft Fakt, das man nicht hinwegreden kann. Innovation und ist deswegen auch gut für den Standort (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Deutschland. und bei der SPD – Walter Hirche [FDP]: Die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Energieeffizienz ist nirgends so stark gesteigert Walter Hirche [FDP]: Solange sie auf Subven- worden wie bei uns!) tionen angewiesen ist, nicht!) 20598 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001

Michaele Hustedt (A) Wenn wir über Versorgungssicherheit sprechen, dann ja heute nicht anwesend sind, für ihre Arbeit danken, und (C) müssen wir zur Kenntnis nehmen: Wir werden in der Tat zwar allen, denen der CDU/CSU, der FDP, der PDS ge- mehr Gas importieren müssen. Aber wenn man die Koh- nauso wie denen der rot-grünen Koalition. lestrategie wählt, dann muss Deutschland nach der Pro- gnos-Berechnung absolut gesehen – nicht relativ, weil (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN man auf Kohle setzt; aber die absolute Zahl ist entschei- sowie bei Abgeordneten der SPD) dend dafür, wie abhängig man ist – mehr Gas importieren Sie leisten ehrenamtlich, fast unbezahlt, unglaublich viel als bei der Klimaschutzstrategie. Arbeit. Ohne sie wäre unsere Arbeit in der Enquete-Kom- (Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- mission nicht möglich. NEN]: Und das soll Klimaschutz sein?) Als Zweites ein Dank an die Mitarbeiter des Sekre- Deswegen ist die richtige Antwort auf die Frage der Ver- tariats, die hier anwesend sind. Ich weiß, dass wir alle sorgungssicherheit und die Frage, wie man Importabhän- nicht ganz einfach sind, dass uns in der Enquete-Kom- gigkeit reduziert: Energie einsparen und auf die heimi- mission auch manche Streits begleiten. Bei den Mitarbei- schen Energieträger Sonne, Wind und Biomasse setzen. tern des Sekretariats möchte ich mich dafür bedanken, dass sie immer die Ruhe bewahren. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Danke. Im Zwischenbericht haben wir einen weiteren Bereich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, aufgegriffen. Die Einführung von Wettbewerb muss ein bei der SPD und der PDS) ganz wichtiger Punkt einer aktiven Energiepolitik sein. Auch in der Diskussion in der Energie-Enquete-Kommis- Vizepräsidentin Petra Bläss: Zu einer Kurzinter- sion haben wir festgestellt, dass der freie Netzzugang, vention erteile ich jetzt dem Kollegen Kurt-Dieter Grill wie er im Energiewirtschaftsgesetz gefordert ist, noch das Wort. lange nicht Realität ist. Die Normalität ist vielmehr: je kleiner der Anbieter und je kleiner der Kunde, umso mehr Behinderung beim Netzzugang. Deswegen ist es notwen- Kurt-Dieter Grill (CDU/CSU): Frau Präsidentin! dig, mit einer aktiven Energiepolitik für einen fairen Netz- Meine Damen und Herren! Aufgrund der Formulierung, zugang zu sorgen. die Frau Hustedt auf mich bezogen gebraucht hat, möchte ich nur festhalten, dass ich zu dem Antrag der CDU/CSU- Die aktuelle Diskussion um immer weitergehende Fu- Fraktion „Energiebericht sofort veröffentlichen – Ener- sionen im Energiebereich muss uns, finde ich, auf etwas giekonzept vorlegen“ und nicht als Vorsitzender der En- aufmerksam machen. Wir müssen darauf achten, dass es (B) quete-Kommission gesprochen habe. Ich habe leider nicht (D) nicht zu einer so starken Konzentration kommt, dass wir sozusagen wieder in eine Monopolsituation zurückrut- verhindern können, dass diese beiden Punkte zusammen- schen. gezogen worden sind; sie hätten eine getrennte Behand- lung verdient. Das wollte ich ausdrücklich festhalten, da- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mit es keine Irrtümer darüber gibt, in welcher Funktion sowie bei Abgeordneten der SPD) ich am Rednerpult gestanden habe. Beides zusammengefasst bedeutet – das sagen wir im Zwischenbericht der Energie-Enquete-Kommission ganz Vizepräsidentin Petra Bläss: Frau Kollegin Hustedt deutlich –, dass Wettbewerb und Regulierung kein Wi- zur Erwiderung. derspruch sind, sondern dass gerade im Energiebereich eine Regulierung, beim Netzzugang zum Beispiel oder auch durch das Kartellamt, das darauf achtet, dass bei den Michaele Hustedt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Fusionen eine bestimmte Grenze nicht überschritten wird, Ich mache es kurz: Ich finde es einfach schade, dass dazu beiträgt, die Wettbewerbsintensität zu erhöhen. Da Sie Ihre Prioritäten so setzen, dass Ihnen die aktive bewegen wir uns auch langsam aus den Gräben heraus. Auseinandersetzung wichtiger ist als Ihr Amt als Vorsit- Wir haben früher gesagt: Wir brauchen eine Regulie- zender dieser Enquete-Kommission. Darüber habe ich rungsbehörde und eine Netzzugangserlaubnis. Sie haben mein Bedauern zum Ausdruck gebracht. gesagt: Regulierung ist des Teufels. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Kurt-Dieter Grill [CDU/CSU]: Das haben wir sowie bei Abgeordneten der SPD) nicht gesagt!) Wir kommen jetzt langsam in eine offenere Diskussion. Vizepräsidentin Petra Bläss: Wir fahren in der De- Wir sagen: Wir wollen keine große Behörde schaffen, batte fort. aber wir wollen die Probleme angehen und den Netzzu- Jetzt spricht der Kollege Walter Hirche für die FDP. gang tatsächlich auch gewährleisten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Walter Hirche (FDP): Frau Präsidentin! Meine Da- sowie bei Abgeordneten der SPD) men und Herren! Es ist schon ein erstaunlicher Vorfall, Abschließend möchte ich insbesondere meinen Kolle- dass es erst einer Plenarsitzung des Deutschen Bundesta- gen Wissenschaftlern in der Enquete-Kommission, die ges bedarf, damit der Energieminister der Bundesregie- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20599

Walter Hirche (A) rung den Mitgliedern der Enquete-Kommission einmal machen. Wenn man im Hinblick auf die Kosten einer (C) sagen darf, wie er die Energieentwicklung beurteilt. Technologie fast das Doppelte ansetzt, dann kommt man natürlich zu völlig anderen Schlussfolgerungen. Es gehört Ich verstehe „Enquete-Kommission“ eigentlich so, sich einfach, unterschiedliche Daten in unterschiedlichen dass man sich zusammensetzt und über die Partei- bzw. Szenarien zu rechnen. Fraktionsgrenzen hinweg mit den Sachverständigen dis- kutiert. Als die Enquete-Kommission dabei war, einen (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Bericht abzufassen, hat das zuständige Mitglied der Bun- der CDU/CSU) desregierung seinen Energiebericht vorgelegt. Daraufhin Ich freue mich, dass nach drei Sitzungen jetzt wenigstens war es für mich selbstverständlich, beim Vorsitzenden den ein Minderheitsszenario gerechnet werden kann. Antrag auf Anhörung des zuständigen Ministers in der Enquete-Kommission zu stellen. Das hat die rot-grüne Bezüglich der Arbeit der Enquete-Kommission stelle Mehrheit abgelehnt. ich vier Punkte fest: (Dr. Axel Berg [SPD]: Das stimmt doch gar Erstens. Entgegen der bisherigen Linie von Rio bis zu nicht! – Zuruf von der CDU/CSU: Feiglinge! allen anderen Enquete-Kommissionen geben Sie die Monika Ganseforth [SPD]: Das hat sie gar nicht Gleichrangigkeit der drei Ziele „wirtschaftlich“, „sozial“ abgelehnt!) und „ökologisch“ auf. Sie postulieren einen einseitigen Vorrang der Ökologie. Das ist eine Absage an die Defi- – Im Obleutegespräch. Im Obleutegespräch wurde dieser nition von Nachhaltigkeit, wie sie in Rio getroffen wor- Vorschlag abgelehnt. Das bedaure ich. den ist. Aber, Herr Berg, aufgrund Ihres Zwischenrufs möchte (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten ich Folgendes sagen: Ich würde es begrüßen, wenn Sie der CDU/CSU – Dr. Axel Berg [SPD]: Weil Sie heute die Zusage machten, dass wir mit Herrn Müller Business as usual betrieben haben!) nachträglich diskutieren. Zweitens. Aus den Daten des IPCC, des zuständigen (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten weltweiten Fachgremiums, greift sich Rot-Grün ledig- der CDU/CSU) lich – das wird alles in Englisch ausgedrückt – die Worst- In allem gelten die zwei Hauptsätze der schwäbischen Be- case-Szenarien, das heißt die schlimmsten Szenarien, triebslehre: „Was koschts?“ und „Wer zahlt’s?“. Deswe- heraus, also den nach IPCC-Kriterien wenig wahrschein- gen begrüße ich, dass auch die Kollegin Hoffmann von lichen, negativen Extremfall, und nutzt dies unter dem der SPD, die dem Wirtschaftsausschuss angehört, die Vorwand der Vorsorge als willkommene Begründung für ganze Zeit hier war; schließlich muss man die Dinge nicht so genannte – das entnehme ich der Pressemeldung von (B) nur unter Umwelt-, sondern auch unter Wirtschaftsge- Herrn Berg – „impulsgebende Staatseingriffe“. (D) sichtspunkten sehen. Es ist aber unzulässig, dann, wenn mehrere Szenarien Ich füge aber hinzu: Das ist nicht der einzige Fall – das angeboten werden und sich die Institutionen nicht für ei- muss ich leider in der Öffentlichkeit sagen –, dass die nen Weg entscheiden, auf eines zuzugehen und die ande- Mehrheit mit abweichenden Vorstellungen, etwa denen ren beiseite zu schieben. Wir hatten Ihnen angeboten, das der Minderheit zu Datengrundlagen, nach dem Motto mittlere Szenario zu rechnen, weil dann die Bundesrepu- „Das wollen wir nicht“ verfahren hat. Wir haben drei Sit- blik Deutschland im Sinne eines „no regret“ – wie der zungen gebraucht, um ein Minderheitsszenario, das von Wirtschaftsminister gesagt hat – Entscheidungen hätte bestimmten Annahmen über die Kosten von konventio- treffen können, um eine Vorsorgepolitik im Einklang mit nellen Techniken ausgeht, überhaupt rechnen lassen zu ihren volkswirtschaftlichen Möglichkeiten betreiben zu können. können. (Monika Ganseforth [SPD]: Das sind Halb- Drittens sage ich: Die Datengrundlage ist einseitig aus- wahrheiten, die Sie hier verbreiten!) gerichtet. Ich habe das Beispiel Braunkohle genannt. Ich muss in aller Deutlichkeit sagen: Das ist nicht in Ord- Viertens. Wirtschaftsminister Müller hat erfreulicher- nung. weise darauf hingewiesen, dass Sie auf die internationale Einbettung der deutschen Energiepolitik an vielen Stel- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten len verzichten. Sie und wir alle hier müssen wissen: Der der CDU/CSU) auf der Welt bestehende Energiehunger, zum Beispiel in Angesichts der Auffassung Ihrer Mehrheit können Sie den Entwicklungsländern, wird bestimmt nicht mit sub- Ihre Szenarien gerne rechnen lassen. Frau Hustedt hat die ventionierten Energien, Wissenschaftler so hervorgehoben. Unsere Sachverstän- (Beifall bei der FDP) digen sagen: Wir haben andere Zahlen. Da Sie die Öf- fentlichkeit dadurch in die Irre führen, dass Sie so tun, als sondern nur mit hoch entwickelten Effizienztechnologien ginge es immer nur um die Kernenergie, will ich sagen: gestillt. Das unterschlagen Sie in diesem Zusammenhang. Es ging ganz konkret um die Kosten im Zusammenhang (Monika Ganseforth [SPD]: Von welchem Be- mit der Braunkohle in Deutschland. Nach Ihren Vorstel- richt sprechen Sie eigentlich?) lungen waren als Investitionskosten für neue Braunkohle- kraftwerke 3 000 DM je Kilowatt anzusetzen, während Der Wirtschaftsminister hat dargelegt, dass die Reali- unsere Experten gesagt haben: Das ist für 1 800 DM zu sierung des 40-Prozent-Ziels auf dem Weg, den Sie gehen 20600 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001

Walter Hirche (A) wollen, 500 Milliarden DM kostet. Er hat nicht das Walter Hirche (FDP): – eine Vorreiterrolle in der (C) 40-Prozent-Ziel infrage gestellt, sondern dass Sie unbe- EU zu spielen. Die Grenze liegt nach den Bonner Emp- dingt diesen Weg gehen und unserer Volkswirtschaft diese fehlungen inzwischen sogar bei über 100 Prozent, weil enormen Kosten auftürmen wollen; und dies in einer Si- andere Länder – Frankreich und Spanien – Nachschläge tuation, in der wir aufgrund der Arbeitsmarktsituation, der in Bezug auf einen höheren CO2-Ausstoß bekommen ha- Entwicklung des Bundeshaushaltes und der Eigenkapital- ben. Das ist nicht in Ordnung. Auch wir Abgeordnete sind situation der Unternehmen sowie der Einkommenssitua- wie die Minister verpflichtet, Schaden vom deutschen tion der Arbeitnehmer wirtschaftliche und soziale Erwä- Volke abzuwenden. Das bedeutet, dass wir die wirtschaft- gungen anstellen sollten. lichen Folgen von Entscheidungen genauso wie die öko- logischen und sozialen Folgen abwägen müssen. Ich finde, es ist nicht in Ordnung, dass Sie sich – jeden- falls bisher – geweigert haben, über die Perspektiven des (Dr. Axel Berg [SPD]: Und zwar langfristig!) Energieberichts der Bundesregierung in der Kommis- Lassen Sie uns das neu versuchen. sion zu reden. Ich würde mich freuen, wenn das nachge- holt werden könnte. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Petra Bläss: Jetzt spricht für die Es ist völlig unstreitig, dass wir auch für die Generatio- PDS-Fraktion der Kollege Rolf Kutzmutz. nen nach uns sowie auf dem Globus insgesamt eine Ver- antwortung haben. Lassen Sie uns das daher nicht mit ein- seitigen Szenarien rechnen, sondern bringen Sie eine Rolf Kutzmutz (PDS): Frau Präsidentin! Meine Da- entsprechende Vielfalt auch in den Bericht hinein. Ich men und Herren! Sicher ist es ein Zufall, aber für mich stelle fest: In den unterschiedlichen Voten der Enquete- schon ein bemerkenswerter, dass wir heute den Zwi- Kommission lassen sich zwei Sichtweisen erkennen. – Das schenbericht der Energie-Enquete-Kommission und For- ist auch legitim und das will ich überhaupt nicht bestreiten. derungen nach einem langfristigen Energiekonzept debat- Das muss die Öffentlichkeit nur wissen. – Die eine, die rot- tieren und sich am selben Tag Koalition und Regierung zum wiederholten Male mit einigen Verbandsvertretern grüne Sichtweise, ist die vom Dogma der schlimmstmög- auf ein seit zwei Jahren auf der politischen Agenda ste- lichen Annahmen, von Pessimismus und Untergangs- hendes Kraft-Wärme-Kopplungsgesetz zu einigen ver- stimmung. suchen. (Widerspruch bei der SPD und dem BÜND- (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ NIS 90/DIE GRÜNEN) DIE GRÜNEN]: Das ist uns heute gelungen!) (B) (D) – Herr Brinkmann, sonst hätten Sie nicht vom IPCC das – Davon bin ich nicht so überzeugt. unwahrscheinliche Negativszenario gewählt. Er macht das Dilemma der Regierung und der sie tra- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) genden Koalitionsfraktionen insbesondere im Energiebe- Sie mussten das tun, um zu dem Instrument vom Staats- reich deutlich. Statt politische Konzepte für langfristige dirigismus zu kommen. und unverzichtbare Klimaschutzziele ohne Verlust an Lebensqualität vorzulegen, Konzepte also, die die Nach- (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ haltigkeit des Energiesystems im Zeitalter von Liberali- DIE GRÜNEN]: Jetzt lassen Sie einmal die Kir- sierung und Globalisierung sichern könnten, finden che im Dorf!) tagespolitisch motivierte Kungelrunden mit aus meiner Dieser Auffassung setzen wir nicht einfach die ge- Sicht zum Teil umweltpolitisch fatalen Folgen statt. ringstmögliche Änderung entgegen – das wäre ein biss- (Beifall bei der PDS) chen billig –, sondern wir sagen: Lassen Sie uns gemein- sam einen mittleren Pfad anstreben, damit insgesamt Natürlich plädieren auch wir für die Einbeziehung von Realismus herrscht. Der Bundeswirtschaftsminister teilt Sachverstand aus der Wirtschaft in die Vorbereitung und diese Auffassung. Ich gehe davon aus, dass der Bericht die Qualifizierung politischer Entscheidungen. Wir finden es Auffassung der Bundesregierung widerspiegelt, wie das aber abenteuerlich, wenn das Parlament zum bloßen im Vorwort des Berichts von Herrn Müller ausgeführt Notariat von Vereinbarungen eines kleinen intimen Her- wird. Ich begrüße es, dass der Bundeskanzler auf diese renkreises reduziert werden soll, von Vereinbarungen, die Weise deutlich gemacht hat, dass dies die Linie der künf- erstens zulasten Dritter geschlossen werden, nämlich zu- tigen Energiepolitik ist. Ich würde mir wünschen, dass die lasten der Masse der Stromverbraucher wie auch vieler Diskussion darüber dann in der Enquete-Kommission ge- Entwickler und Produzenten neuer effizienter Produkte führt wird. und Technologien, und zweitens in ihrer Bindung völlig einseitig sind. Deutschland hat sich verpflichtet – lassen Sie mich da- BDI-Präsident Rogowski und die Vertreter anderer mit schließen –, Verbände können sich zu viel verpflichten, umsetzen müssten es ihre Mitgliedsunternehmen. Hier gilt wie in Vizepräsidentin Petra Bläss: Herr Kollege Hirche, politischen Parteien: Kein Mitglied kann für die Unter- jetzt muss ich Sie bremsen. Sie haben die Redezeit weit schrift seines Parteivorsitzenden persönlich haftbar ge- überschritten. macht werden. Kurzum: Der Staat verteilt Geschenke; ob Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20601

Rolf Kutzmutz (A) die Gesellschaft dafür eine Gegenleistung der Be- meiner Sicht wider besseres Wissen – an der Hochrisiko- (C) schenkten erhält, bleibt letztlich dem Prinzip Hoffnung technologie Kernkraft fest. überlassen. (Kurt-Dieter Grill [CDU/CSU]: Das muss uns Wir meinen: An die Stelle des Diktats so genannten gerade jemand von der PDS sagen!) Konsenses muss endlich wieder konzeptionell fundierte Die PDS hat andere energiepolitische Vorstellungen. und demokratisch legitimierte Politik treten. Dazu gehört das Festhalten an langfristigen klimapoliti- (Beifall bei der PDS) schen Zielen, die auch durch den sofortigen Ausstieg aus der Atomenergie, den Ausbau des Anteils erneuerbarer Dazu könnte die Enquete-Kommission wichtige Voraus- Energien und der Kraft-Wärme-Kopplung und die Regu- setzungen schaffen. Nur leider scheinen sich die anderen lierung der liberalisierten Energiemärkte zugunsten lokal Fraktionen in einem Punkt einig zu sein, dass nämlich und regional effizienter Energieproduktion und -verwen- langfristige Klimaschutzziele kaum noch eine Rolle dung erreicht werden können. Dazu gehört auch die Un- spielen. Natürlich gibt es zwischen ihnen einen taktischen terstützung der Entwicklungsländer in der Schaffung ei- Streit. Morgen werden wir ihn bei der Debatte über ein ner nachhaltigen dezentral organisierten Energiebasis. Gesetz zur jahrzehntelangen Betriebsgarantie für Das sind aus unserer Sicht wesentliche Bestandteile für Atomkraftwerke wieder erleben. Sarkastisch hat kürzlich eine verantwortliche Energiepolitik des 21. Jahrhunderts. einmal jemand gesagt: Die Betriebsgarantie hat eine so lange Laufzeit, dass manches Atomkraftwerk das Ende (Beifall bei der PDS) der Garantie wahrscheinlich nicht erleben dürfte. Vizepräsidentin Petra Bläss: Nächster Redner ist Es ist schon bezeichnend, dass sich in der Enquete- der Kollege Dr. Axel Berg für die SPD-Fraktion. Kommission weder die Regierungsparteien noch die kon- servative Opposition eindeutig über die Nichtnachhaltig- keit des gegenwärtigen globalen wie des nationalen Dr. Axel Berg (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolle- Energiesystems äußern wollten. ginnen und Kollegen! Die Regierungskoalition hat sich immer wieder ernsthaft um Konsens in der Enquete- (Zuruf von der CDU/CSU: Du warst doch nie Kommission bemüht. da!) (Beifall der Abg. Monika Ganseforth [SPD]) – Lieber Kollege, ich bin Vertreter, und wenn wir mal eine so große Fraktion haben wie ihr, dann geht ein Vertreter Herr Hirche, die Enquete macht keine Tagespolitik. Des- auch dann hin, wenn die anderen da sind. Also rede nicht wegen haben wir gesagt, dass der Bundeswirtschaftsmi- so einen Blödsinn, halte dich jetzt zurück. nister erst dann in unsere Runde kommen soll, wenn un- (B) sere Szenarien vorliegen. Erst dann macht es Sinn, mit (D) (Beifall bei der PDS – Zuruf von der CDU/CSU: ihm zu sprechen, wenn wir seine mit unseren Szenarien Dann hau nicht so auf den Putz!) vergleichen können. Die PDS musste sie in einem Sondervotum auf die ent- Einiges ist uns gelungen, aber es gab auch viele faule sprechenden Ergebnisse des Wissenschaftlergremiums Kompromisse. Das ist schon wahr. Leider war das bei den der Klimarahmenkonvention aufmerksam machen, die Themen Globalisierung und Liberalisierung auch der Sie alle nicht wahrhaben wollen, ebenso auf die Tatsache, Fall: Erst haben wir wochenlang diskutiert und mühsam dass Nachhaltigkeit weder durch Liberalisierung noch Kompromisse gefunden, doch dann meinten Sie, meine durch Globalisierung im Selbstlauf zustande kommt. Herren von der CDU/CSU und FDP, ein Minderheitsvo- tum nach dem Motto abgeben zu müssen: Globalisierung Für eine diesem Ziel angemessene Re-Regulierung lie- und Liberalisierung sind prima, der Markt wird es schon gen die Vorschläge meiner Fraktion seit August auf dem richten. Wenn man bei diesen Themen so platt wie die Op- Tisch. Die mit der Globalisierung weiter verschärfte Spal- position von rechts argumentiert, dann besitzt man bei rea- tung der Welt, auch in Energiereiche und Energiearme, len Herausforderungen keine Handlungsfähigkeit mehr. muss endlich durch eine neue Entwicklungszusammenar- beit überwunden werden. Die Industrieländer als Haupt- (Kurt-Dieter Grill [CDU/CSU]: Ach du lieber verantwortliche des bisherigen Klimawandels müssen Gott!) den umfassenden Einstieg der Entwicklungsländer in ein Wir von der SPD haben versucht, ein recht differen- Solarenergiezeitalter bezahlen. Das käme im Übrigen ziertes Bild der Globalisierung zu zeichnen. Wir werden allen Seiten am billigsten, durch Verzicht auf zentrale uns weiterhin mit den positiven und den negativen Aspek- Netze und das Ermöglichen eigenständiger ländlicher ten des Prozesses auseinander setzen und ihn, soweit es in Entwicklung. unseren Möglichkeiten steht, auch gestalten. Natürlich Meine Damen und Herren, leider bleibt bisher nur ein führt das zu der Frage: Wo liegen für ein Hochtechnolo- Fazit: Umrisse einer konsistenten Energiepolitik sind gieland wie Deutschland die Chancen in diesen Prozes- bisher weder in der Regierungspolitik noch in der Ener- sen? Man wird doch diesem Thema nicht dadurch gerecht, gie-Enquete-Kommission sichtbar geworden. Die Re- dass man, wie die CDU/CSU es tut, einfach behauptet: gierungsfraktionen konnten in ihrer Zerstrittenheit keine Globalisierung ist prima. gemeinsame Energiestrategie entwickeln. Die konserva- (Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Sehr rich- tive Opposition hat keine überzeugenden Antworten auf tig! – Kurt-Dieter Grill [CDU/CSU]: So einfach die Herausforderung des Klimawandels und hält – aus ist Ihr Weltbild!) 20602 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001

Dr. Axel Berg (A) Liebe Kolleginnen und Kollegen, es war ein mühsamer enz zu erhöhen, erneuerbare Energien voranzubringen und (C) Weg, ein paar Gemeinsamkeiten zu finden. Nach wie vor Energie, zum Beispiel auch durch Wärmedämmung, einzu- trennt uns in der Nachhaltigkeitsdebatte sehr viel von sparen. Wenn wir das alles tun, schaffen wir Profite und Jobs der Opposition. Die wichtigsten Punkte sind dabei die im Inland und erobern neue Exportmärkte. Themen Naturschranken, Gleichrangigkeit der drei Di- (Franz Obermeier [CDU/CSU]: Wer verdient mensionen des Nachhaltigkeitsbegriffs und Atomenergie. das Geld? – Kurt-Dieter Grill [CDU/CSU]: Das Wir kommen doch nicht daran vorbei, dass letztendlich der Mensch in die Abläufe der Natur eingebunden ist. Da- ist ja unglaublich!) her führt auch kein Weg, so unangenehm er auch sein Wir verringern unsere Abhängigkeit vom Ausland, scho- mag, an der Erkenntnis vorbei, dass die drei Dimensionen nen die Umwelt und unsere Zahlungsbilanz. der Nachhaltigkeit eben nicht gleichrangig sein können. Ziel der SPD ist und bleibt es, die Kohlendioxidemis- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) sionen in Deutschland von 1990 bis 2020 um 40 Prozent Wenn Grundregeln der Ökologie nicht beachtet wer- und bis 2050 um 80 Prozent zu reduzieren; das ist schlicht den, wird sich die Natur in Form von Schäden rächen, die ein Gebot für das Überleben der Menschen auf diesem wir später unter Einsatz von viel Geld wieder reparieren Planeten. Das sagen übrigens auch die 500 besten Wis- müssen, wenn es denn überhaupt geht. Beim Ozonloch senschaftler der Welt, die im Intergovernmental Panel on beispielsweise scheint die Menschheit die Notbremse ge- Climate Change versammelt sind. rade noch rechtzeitig gezogen zu haben; dieses Problem Angesichts der langfristigen Reinvestitionszyklen auf scheinen wir in den Griff zu bekommen. Beim Erhalt der dem Energiesektor müssen wir jetzt konsequent die Wei- Artenvielfalt haben wir schon verloren. In der Gesund- chen in Richtung Nachhaltigkeit stellen. Die Bedenken- heitspolitik predigen wir immer: Vorbeugen ist besser als träger finden sich – man glaubt es kaum – auf der rechten Heilen. Bei Energiefragen hat diese Forderung schon fast Seite bei der Opposition. den Ruch von Ketzerei, weil sie mit Eingriffen in die üb- lichen Einflusssphären und das Business as usual verbun- (Franz Obermeier [CDU/CSU]: Und Dr. Müller! den ist. Wir von der SPD wollen niemandem etwas weg- Jetzt haben wir einen Verbündeten!) nehmen, aber wir erwarten, dass das Primat der Politik in Wo gibt es denn so etwas? Früher dachte ich immer, dass einer Frage beachtet wird, die für das Überleben der die Opposition die Regierung jagt; aber unsere Opposi- ganzen Menschheit wichtig ist. tion bremst ununterbrochen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Doch nun zurück zu unseren Gemeinsamkeiten: Fossile DIE GRÜNEN) Energieträger sind zwar noch reichlich vorhanden. Wenn (B) Der Versuch der CDU/CSU, die Alternative „Atom- wir sie aber alle verbrauchen – in diesem Punkt sind wir (D) energie oder Klimawandel“ nach dem Motto aufzubauen, uns in der Kommission einig –, haben wir eine schlechte mit einem Restrisiko müssten wir nun einmal leben, ginge Luft. Das ist so ähnlich wie bei einem opulenten Buffet: allenfalls noch an, wenn wir keine Optionen hätten. Nur Wenn man zu viel isst, liegt es einem schwer im Magen. ist der Punkt: Es gibt jede Menge Optionen. Alle sind be- Die Schwellen- und Entwicklungsländer wollen auch am reits erfunden und hochinteressant. Sie von der rechten Buffet teilnehmen, was auch in Ordnung ist. Wenn aber Opposition bieten dem Kranken die Wahl zwischen Pest alle in gleicher Weise an dem Buffet teilnehmen, wird uns und Cholera an, obwohl es doch eigentlich um die Wahl irgendwann das ganze Restaurant um die Ohren fliegen. zwischen Pest und Gesundheit ginge. Deswegen liegt in der Energiepolitik eine so wichtige Dennoch möchte ich hier auch betonen, dass es sehr Aufgabe. Wir müssen dafür sorgen, dass die Menschen zu wohl bemerkenswerte Übereinstimmungen in der En- Wohlstand kommen und Hunger und Armut auf der Welt quete-Kommission gab, so zum Beispiel in der Feststel- besiegt werden. Dies kann nur gelingen, wenn wir nach- lung, dass unser Energiesystem nicht nachhaltig ist. Diese haltige, zukunftsfähige Lösungen finden. Ansonsten wird konsensuelle Erkenntnis ist von großer Bedeutung, denn die Erde kaputtgehen und mit ihr die Menschen. sie fordert uns alle zum Handeln auf. Weiterhin sind wir Meine Damen und Herren, Aufgabe der Industrie wird uns einig, dass ein zentrales Schlüsselelement für die es in den nächsten Jahren sein, Produkte zu entwickeln, Nachhaltigkeit die Internalisierung der externen Kos- die sich durch geringeren Verbrauch bei effizienterer ten ist. Unter diesen Vorzeichen verstehe ich umso weni- Leistung und durch die Nutzung erneuerbarer Energien ger, warum die Opposition nach wie vor gegen die Öko- auszeichnen. Herr Grill, Sie irren: Niemand sperrt sich ge- steuer ist. gen Clean-Coal-Technologies. Selbstverständlich sind (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des wir für die besten Technologien. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Kurt-Dieter Grill [CDU/CSU]: Haben Sie den Die Klimakatastrophe hat bereits begonnen. Zwei Drittel Vorschlag von Herrn Wodopia einstimmig ab- des Treibhauseffekts sind vom Menschen gemacht. Für gelehnt?) Klima- und Ressourcenschutz zu kämpfen ist Friedenspoli- – Ich habe nichts davon mitbekommen, dass jemand in der tik und Krisenprävention: Wir haben jetzt die Wahl, entwe- Enquete-Kommission gesagt hätte, dass das Quatsch ist. der Milliarden in Armeen zu stecken, um unsere Öltanker zu schützen, jedenfalls solange es noch Öl gibt, oder mit dem (Kurt-Dieter Grill [CDU/CSU]: Sie haben das gleichen Geld Technologien weiterzuentwickeln, um Effizi- eindeutig abgelehnt!) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20603

Dr. Axel Berg (A) – Dann weisen Sie es mir nach! Ich bin anderer Meinung; Kolleginnen und Kollegen, wir haben nie gesagt, dass (C) ich kann mich an nichts dergleichen erinnern. Globalisierung immer prima ist. Unsere Formulierung zu diesem Thema lautet: Die Globalisierung beinhaltet für (Kurt-Dieter Grill [CDU/CSU]: Ich glaube Ihnen, dass Sie sich nicht erinnern können! – die Menschen enorme Chancen, aber auch Risiken. Die Franz Obermeier [CDU/CSU]: Das ist nicht neu!) Aufgabe der Regierungen ist es, einen entsprechenden Rahmen zu schaffen, damit die Risiken gemindert werden Es geht nicht nur darum, dass die Industrie weniger können, so es überhaupt möglich ist. Rohstoffe verbraucht und ihren CO2-Ausstoß mindert – das tut die Industrie bereits –, sondern auch darum, dass (Beifall bei der CDU/CSU) sie schon aus Eigeninteresse darauf setzt, dass Güter und Es gibt im Rahmen der gesamten Auseinanderset- Dienstleistungen der Zukunft innovativ und emissions- zungen in der Enquete-Kommission ein ganz zentrales mindernd sind, die sich dann auch verkaufen lassen. Die Konfliktfeld, nämlich dass Rot-Grün nicht bereit ist, die Industrie der erneuerbaren Energien ist jetzt noch ein Gleichrangigkeit der drei Dimensionen des Leitbildes kleines Pflänzchen; um es heranwachsen zu lassen, gibt es der Nachhaltigkeit zu akzeptieren. staatliche Subventionen. Aber politische Unterstützung gibt es nur so lange, bis die erneuerbaren Energien selbst (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ reife Früchte tragen. DIE GRÜNEN]: Ein schlimmer Vorwurf!) Die Innovationen der Industrie werden nicht zuletzt Ich sage Ihnen von Rot-Grün: Sie stehen mit dieser Auf- mit Blick auf die Kioto-Instrumente zum Exportschlager fassung völlig alleine. Deutschlands werden; davon bin ich überzeugt. (Lachen bei der SPD – Monika Ganseforth [SPD]: Das ist doch nicht wahr! Wir haben eine Vizepräsidentin Petra Bläss: Herr Kollege Berg, Anhörung dazu gemacht! Da waren Sie wohl ich muss Sie jetzt an die Redezeit erinnern. nicht dabei! Selektive Wahrnehmung!) Es gibt den Abschlussbericht der Enquete-Kommission Dr. Axel Berg (SPD): Ein letzter Satz: Neue Ideen und „Schutz des Menschen und der Umwelt“ aus der 13. Le- unser Wissen sind der wichtigste Rohstoff unserer Zu- gislaturperiode, in dem diese Gleichrangigkeit eindeutig kunft. Ich hoffe, dass wir in unserem Endbericht etwas bes- enthalten ist. ser zusammenkommen werden, als es bisher der Fall war. Weiter nenne ich den Abschlussbericht des Energie- Ich danke Ihnen. dialogs 2000. Herr Bundesminister, ich darf daraus zitieren: (B) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ In der Praxis bedeutet die Verwirklichung des (D) DIE GRÜNEN) Nachhaltigkeitsprinzips, dass ökonomische, ökolo- gische und soziale Aspekte gleichermaßen beachtet Vizepräsidentin Petra Bläss: Jetzt spricht der Kol- werden. lege Franz Obermeier für die Fraktion der CDU/CSU. Auch der Nachhaltigkeitsrat der Bundesregierung gibt uns in unserer Auffassung in seinem Dialogpapier vom Franz Obermeier (CDU/CSU): Frau Präsidentin! 15. November dieses Jahres Recht. Dort steht geschrie- Kolleginnen und Kollegen! Herr Dr. Berg, Ihre Rede war ben: amüsant. Nachhaltige Entwicklung heißt, den nachfolgenden (Zuruf von der SPD: Sie war gut!) Generationen in Deutschland und in der Welt ein intaktes ökologisches, soziales und ökonomisches Es war ihr deutlich anzumerken, dass Sie den Sinn der En- Gefüge zu hinterlassen und dabei Umweltgesichts- quete-Kommission überhaupt noch nicht erfasst haben. punkte gleichberechtigt mit sozialen und wirtschaft- (Monika Ganseforth [SPD]: Herr Obermeier, lichen Gesichtspunkten zu berücksichtigen. verteilen Sie doch keine Zensuren!) Weiter heißt es: Sie haben dargelegt, dass Sie in den Sitzungen eine große Nachhaltigkeitsstrategien sind keine Umweltpläne. Konsensbereitschaft an den Tag gelegt hätten. Sie haben Sie sind mehr. Sie wollen alle drei Dimensionen der sich sogar dazu verstiegen, uns vorzuwerfen, dass wir an Nachhaltigkeit umsetzen. Zwischen den drei Dimen- dem Kapitel „Globalisierung und Liberalisierung“ mitge- sionen Ökologie, Soziales und Wirtschaft besteht arbeitet, zum Schluss aber ein abweichendes Papier vor- eine gegenseitige Abhängigkeit. Keine Säule kann gelegt hätten. Ich weiß auch, dass Sie sich nur schwer an isoliert stehen, um das „Haus der Nachhaltigkeit“ zu Vorgänge erinnern können, die ein paar Tage zurücklie- tragen. gen. Bei der Behandlung dieses Kapitels haben wir schon im Plenum Auseinandersetzungen geführt. Sie haben Ihre (Monika Ganseforth [SPD]: Das will auch Mehrheit ausgenutzt, was uns veranlasst hat, uns selbst zu niemand!) positionieren. Ein generelles „Primat der Ökologie“ gibt es ebenso (Lachen bei der SPD – Dr. Axel Berg [SPD]: wenig wie einen grundlegenden Vorrang des Wirt- Legendenbildung!) schaftens oder sozialer Belange. 20604 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001

Franz Obermeier (A) Diese drei Dokumente sind Beleg Ihrer Schieflage in Sie tun gelegentlich so, als ob die CDU/CSU keine er- (C) dieser Frage. neuerbaren Energien fördern will. (Beifall bei der CDU/CSU) (Peter Dreßen [SPD]: So ist es! – Dr. Axel Das Primat der Ökologie ist ein Kernproblem in unse- Berg [SPD]: Nur nicht konsequent!) rer gesamten Auseinandersetzung in der Enquete-Kom- Erneuerbare Energien wurden schon zu Zeiten der Kohl- mission. Sie wollen nicht akzeptieren, dass wir drei Regierung massiv gefördert. Wir stehen noch heute zur gleichrangige Dimensionen haben, die wir in einem Förderung der erneuerbaren Energien. Diskussionsprozess gegeneinander abwägen und dann da- rüber demokratisch entscheiden sollten. Wir müssen aber auch zusehen, dass die Fördermenge – die Förderung muss volkswirtschaftlich rentabel sein – Als dritten Punkt nenne ich: Ihr Blick, den Sie in der nicht zu groß wird, damit es durch die erneuerbaren Enquete-Kommission bei jeder Sitzung an den Tag legen, Energien nicht zu einer echten Belastung kommt. Rot- ist viel zu sehr auf die nationale Energiebetrachtung ein- Grün sage ich: Auch die Energiekosten sind ganz ent- geengt. Wir müssen begreifen, dass Energiepolitik global zu sehen ist. Wenn wir die Klimafrage wirklich ernst neh- scheidend für den volkswirtschaftlichen Erfolg eines men, dann müssen wir uns mit den globalen Themen aus- Landes. Es wird häufig unterschätzt, dass auch die Ener- einander setzen. giepreise ausschlaggebend für den wirtschaftlichen Er- folg sind. Es ist heute schon einmal gesagt worden: Deutschland (Dr. Axel Berg [SPD]: Öl wird immer teurer!) trägt zur CO2-Emission nur ganze 3,6 Prozent bei. Wir müssen sehen, dass es Länder auf der Welt gibt, die einen – Die Theorie, dass Öl immer teurer wird – auch durch enormen wirtschaftlichen Aufschwung haben werden. Ich Sonderereignisse –, wird aktuell widerlegt. Es gibt also nenne nur die beiden Länder – es gibt noch eine ganze überhaupt keinen Grund, dies heute zu sagen. Reihe anderer Länder – China und Indien. Wenn es uns nicht gelingt, mit modernsten Technologien eine bezahl- Ich möchte noch ein Wort zur Kohle sagen: Wer sagt, bare und ausreichende Energieversorgung für diese Län- dass man in Deutschland aus der fossilen Energie ausstei- der zu installieren, dann können wir in Deutschland die gen werde, muss wissen, dass damit ein Technologie- Klimaprobleme zwar auf Null zurückführen, wir werden bereich tangiert wird, der in bestimmten Bundesländern aber das Weltklimaproblem nicht in den Griff bekommen. unseres Landes eine erhebliche Rolle spielt. (Beifall bei der CDU/CSU) (Jörg Tauss [SPD]: Das müssen Sie der FDP sagen!) (B) Wenn der Bundeswirtschaftsminister in seinem Ener- (D) giebericht feststellt, dass wir uns nicht „vom Vorreiter Deutschland ist in der Kohletechnologie – sowohl in der zum Einzelgänger“ entwickeln dürfen, dann hat er natür- Gewinnung als auch in der Verarbeitungstechnologie – lich Recht; denn Einzelgänger mag niemand. Streber sind mit an der Weltspitze. Wir unterstützen Rot-Grün nicht, auf der Welt nicht beliebt. Ein solches Verhalten können wenn sie propagiert, dass sie aus der Kohletechnologie wir uns nicht leisten. Wir müssen sehen, dass wir mit un- aussteigen wird. seren Zielen, mit unseren Technologien und mit unseren Instrumenten eine vernünftige Energiepolitik auch für die (Peter Dreßen [SPD]: Wer sagt denn das? – Länder machen, die sich jetzt wirtschaftlich entwickeln. Monika Ganseforth [SPD]: Das sagt Herr Als vierter Punkt stört mich an Rot-Grün ganz massiv, Müller im Saarland!) dass Sie bei allen Diskussionen immer technikbezogen Als kleine Nachhilfe für meinen Kollegen Berg erin- diskutieren. nere ich an den Antrag des Sachverständigen Wodopia, (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ der in der Enquete-Kommission mit der Mehrheit von DIE GRÜNEN]: Was ist denn das für ein Vor- Rot-Grün abgelehnt wurde. Wir als Minderheit haben für wurf?) diesen Antrag gestimmt. Herr Berg, ich empfehle Ihnen, dass Sie das Protokoll noch einmal nachlesen, damit Sie Bezüglich der Rolle des Staates sagen Sie immer, dass er sich das wieder vergegenwärtigen. sich ganz konkret auf einzelne Techniken konzentrieren soll, um mithilfe dieser entsprechende Ziele zu erreichen. Meine Damen und Herren, ich möchte noch ein Wort Diese Art des Staatsdirigismus ist völlig unangemessen. zur Rolle des Staates sagen: Der Staat soll nach unserer Der Staat sollte sich auf das Festlegen von Rahmenbedin- Auffassung geeignete Rahmenbedingungen vorgeben gungen beschränken. und nicht in spezielle Energietechnologien eingreifen. Er Nun komme ich zur rot-grünen Strategie der drei E: muss marktwirtschaftlichen Instrumenten den Vorzug ge- Einsparung, Effizienz und erneuerbare Energien. Bei der ben. Ich denke beispielsweise an den gesamten Bereich Einsparung und der Effizienzsteigerung gibt es Poten- der Selbstverpflichtung. Er muss zusehen, dass es funk- ziale. Die zurückliegende Zeit hat bewiesen, dass es in tioniert. Darüber hinaus muss er das Ordnungsrecht als diesen Bereichen gut weitergehen kann und dass die ge- Ultima Ratio betrachten. Die Entscheidungen, welche samte technologische Entwicklung in beiden Bereichen Technologien entsprechend dieser Anreize wirklich zum dazu führen wird, dass auch der Verbrauch von Primär- Einsatz kommen, sollten dem Markt und den Akteuren energie und -energieformen zurückgehen kann. überlassen werden. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20605

Franz Obermeier (A) Lassen Sie mich zum Abschluss noch ein Wort zur fernt sind. Da sind wir uns auch einig. Wir könnten aber (C) Enquete-Kommission, bezogen auf den internen Bereich, mit der Arbeit in der Enquete-Kommission weiter sein, sagen. wenn nicht von der rechten Seite des Hauses leider immer wieder versucht würde, alte, verlorene Schlachten erneut zu schlagen. Vizepräsidentin Petra Bläss: Das müsste aber auf- grund der Zeit wirklich nur eines sein. (Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Die FDP!) Dazu gehört zum einen der Streit um die Zukunft der Franz Obermeier (CDU/CSU): Es sind nur noch ein Atomenergie. paar Sätze. (Franz Obermeier [CDU/CSU]: Den haben wir überhaupt nicht geführt! Kein einziges Mal!) Vizepräsidentin Petra Bläss: Nein, ein Satz. Es kostet sehr viel Zeit und Kraft, in der Enquete-Kom- mission über Jahre immer wieder darüber zu diskutieren. Franz Obermeier (CDU/CSU): Ich möchte mich bei In der Vergangenheit hat der Streit über diese Energie, de- den Sachverständigen für die weitgehend sehr sachbezo- ren Anteil an der Primärenergie in Deutschland etwas gene Arbeit bedanken. Ich habe auch allen Grund, mich mehr als 10 Prozent beträgt, die Erarbeitung der Maßnah- bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Sekreta- men für eine konsistente Energienutzung und -bereitstel- riats für ihre vorzügliche Arbeit, die sie für uns leisten, zu lung in Deutschland blockiert. bedanken. (V o r s i t z: Vizepräsidentin Dr. Antje Herzlichen Dank. Vollmer) (Beifall bei der CDU/CSU) Wir waren der Meinung, dieser Streit müsste jetzt beendet sein; aber Sie tragen ihn leider wieder in die Enquete- Vizepräsidentin Petra Bläss: Die nächste Rednerin Kommission hinein. ist die Kollegin Monika Ganseforth für die SPD-Fraktion. (Franz Obermeier [CDU/CSU]: Kein einziges Mal!) Monika Ganseforth (SPD): Frau Präsidentin! Sehr – Wenn Sie das nicht mehr machen wollten, wäre das sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Warum es so lange schön. Ich denke nur an die Szenarien, von denen Sie und gedauert hat und wie schwer es war, diesen Bericht zu er- auch Herr Hirche gesprochen haben. Das ist evident und arbeiten, spiegelt die heutige Debatte wider. (B) das können Sie nicht wegdiskutieren. (D) Ich möchte aber gleich am Anfang meiner Rede auch (Beifall des Abg. Dr. Axel Berg [SPD]) im Namen meiner Fraktion allen, die in der Enquete- Kommission mitgearbeitet haben, vor allen Dingen den Ein zweites Beispiel dafür, dass die alten Schlachten Wissenschaftlern, den wissenschaftlichen und sonstigen erneut geschlagen werden – auch da waren wir, wie ich Mitarbeitern, danken. Es war wirklich eine schwierige Ar- denke, schon einmal weiter –, ist, dass Sie anfangen, die beit. Risiken durch die Klimaveränderungen zu hinterfragen und zu verharmlosen. Die Wissenschaft weist nach wie (Beifall bei der SPD) vor mit großer Mehrheit nachdrücklich darauf hin, dass Es gibt eine inzwischen über 20-jährige Tradition der das Energierisiko nicht kleiner geworden ist, sondern dass Energie-Enquete-Kommissionen. In der 9. Wahlperiode, sich der Verdacht, dass wir ein großes Risiko eingehen, er- ab 1980, gab es die Enquete-Kommission „Zukünftige härtet hat, dass es Naturschranken gibt, die man nicht Kernenergiepolitik“. In der 11. und 12. Wahlperiode, von ohne dramatische Folgen für unsere Erde und für die 1987 bis 1994, haben die Klima-Enquete-Kommissionen nachfolgenden Generationen überschreiten darf. im Dialog zwischen Wissenschaft und Politik, wie es sich Sie erkennen diese Naturschranken nicht an. Das ist für Enquete-Kommissionen gehört, die Grundlagen für eine neue Qualität der Diskussion. die Lösung der Probleme aufgrund der Treibhausgasemis- sionen gelegt, die notwendigen und möglichen Maßnah- (Franz Obermeier [CDU/CSU]: Das ist men für die Bereiche Energie, Verkehr, Landwirtschaft Willkür!) und Wälder festgelegt und für den Bundestag Empfeh- Selbst die Kompromissformulierung, die wir Ihnen ange- lungen ausgesprochen. boten haben, wie in vielen anderen Bereichen statt von Inzwischen, besonders nach dem Regierungswechsel Naturschranken lieber von Leitplanken zu sprechen, da vor drei Jahren, wurde damit begonnen, diese Empfeh- diese Bezeichnung vielleicht etwas weicher ist, haben Sie lungen umzusetzen. Minister Müller hat vorhin in seiner nicht akzeptiert. Damit sind wir wieder einen großen Rede darauf hingewiesen, dass in diesen drei Jahren eine Schritt rückwärts gegangen. In den alten Klima-Enquete- ganze Menge passiert ist. Kommissionen, denen ich angehört habe, waren wir uns über alle Parteigrenzen hinweg einig, dass es diese Natur- Wir müssen aber nach den bisher vorliegenden Er- schranken gibt. kenntnissen der neuen Enquete-Kommission feststellen, dass wir national und vor allen Dingen international von (Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Da einer nachhaltigen Energieversorgung noch sehr weit ent- waren wir besser!) 20606 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001

Monika Ganseforth (A) Dies hat uns in der Kommission viel Zeit und Kraft ge- Ich möchte dem, was bereits von den Kolleginnen und (C) kostet. Dabei ist eigentlich alles klar. Eine nachhaltige Kollegen gesagt worden ist, noch einen Gedanken hinzu- und zukunftsfähige Energiepolitik muss ökonomische, fügen und insbesondere an die Adresse der Kollegen un- ökologische und soziale Aspekte gleichermaßen berück- serer Fraktion sagen: Wir müssen uns in der nächsten Zeit sichtigen – das ist richtig –, aber sie muss auch die Natur- verstärkt auf einen Bereich konzentrieren, den wir in der schranken beachten, die auf der ökologischen Seite gege- ersten Periode der Enquete-Kommission nach meinem ben sind, was durch naturwissenschaftliche Erkenntnisse Eindruck noch nicht deutlich genug bedacht haben. Das untermauert wird. Das ist ein Fakt, der auch von Ihrer ist die Frage: Woran wollen wir eigentlich messen, dass Seite anerkannt werden müsste, dem Sie sich aber ver- wir in unserer Gesellschaft innovationsfreudig sind, und schließen. wie wollen wir unsere FuE-Politik neu ausrichten? Zwischen den drei Säulen Ökonomie, Ökologie und (Zustimmung bei der SPD) Soziales gibt es in weiten Bereichen Übereinstimmung. Sie stehen nicht in Konkurrenz zueinander, sondern sind Ein Indikator – so haben wir gemeinsam in der En- weitgehend deckungsgleich. Eine nachhaltige Energie- quete-Kommission formuliert – ist zum Beispiel der Mit- politik muss zum Beispiel auf Atomenergienutzung mit teleinsatz. Wie viel Mittel geben wir, um die Forschung ihren Risiken verzichten. Sie muss auf lange Sicht aus den im Bereich effizienter Technologien zu verbessern? Wenn fossilen Energien aussteigen. Sie muss Energieeffizienz man sich die Statistiken ansieht, sind wir – so muss ich in der gesamten Energiekette erzielen. Dazu gehören bes- vorsichtig sagen – erst am Beginn eines Weges. Der Wis- te Kraftwerkstechnik genauso wie eine vernünftige Iso- senschaftsrat hat 1999 in einem Gutachten zur Energie- lierung der Gebäude und beste Geräte. Es hieß vorhin, die forschung festgestellt, was wir alle wissen – aber ich will Energieproduktivität habe unter Ihrer Regierung um es hier wiederholen –: dass die Energieforschung, die 2 Prozent im Jahr zugenommen. Wir liegen Gott sei Dank Energietechnologien, die Energiewirtschaft in Deutsch- inzwischen deutlich höher, aber es reicht noch nicht. Die land nicht nachhaltig sind. Das hat mit falschen Entschei- Energieeffizienz muss noch verbessert werden. dungen zu tun, die in der Vergangenheit gefällt worden Schließlich muss der forcierte Ausbau der erneuerba- sind. Und weil in der Vergangenheit falsche Entscheidun- ren Energien in der ganzen Palette erfolgen. Dazu gehört gen in der Energiepolitik gefällt worden sind, müssen wir Wind, dazu gehören Wasser, Biomasse, Geothermie. Al- jetzt umsteuern. Wir brauchen einen deutlichen Mit- les, was auf diesem Gebiet zu holen ist, muss entwickelt telaufwuchs insbesondere im Bereich der Effizienztech- und auf den Markt gebracht werden. Das ist sowohl öko- nologien und der Energiespartechnologien. nomisch als auch ökologisch und auch sozialverträglich In der Enquete-Kommission ist der Streit immer um (B) und nachhaltig. Dass eine solche nachhaltige, zukunfts- (D) fähige Energieversorgung, also die Energiewende, nicht die Frage gegangen, wie wir eigentlich Angebots- und allein national, sondern international umgesetzt werden Nachfrageseite miteinander in die Balance bringen wol- muss, versteht sich von selbst. len. Wir haben auch heute in den Redebeiträgen im We- sentlichen von der Angebotsseite her diskutiert. Wir müs- Ich möchte den wichtigen Spruch wiederholen, den ich sen aber noch sehr viel stärker als in der Vergangenheit zum ersten Mal von Willy Brandt gehört habe, der aber darüber nachdenken, was wir eigentlich im Energie- wahrscheinlich anderswoher stammt und heute noch dienstleistungsbereich und bei der Effizienz tun müssen. wichtig ist: „Global denken, lokal handeln!“ Darin bildet sich meiner Meinung nach die Aufgabe der Energie-En- (Monika Ganseforth [SPD]: Sehr richtig!) quete-Kommission ab. Das macht deutlich, was wir unter „nachhaltig“ und „zukunftsfähig“ verstehen. Ein weit reichender Klimaschutz – so hat die Enquete- Kommission formuliert – bei gleichzeitigem Atomaus- Ich hoffe, dass wir im Fortgang der Arbeit weniger stieg ist nur erreichbar, wenn die durchschnittliche Stei- Kontroversen und mehr Gemeinsamkeiten im Interesse gerung der Energieeffizienz pro Jahr um mindestens 1 bis dieser Maxime haben. 1,5 Prozent höher liegt als der historische Trend, der bei Schönen Dank. etwa 1,6 Prozent liegt. Das heißt im Klartext: Wir müssen das Tempo etwa verdoppeln. Das wiederum bedeutet: Wir (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ müssen in der Forschungspolitik wirklich neue Prioritäten DIE GRÜNEN) setzen. Das muss haushaltswirksam werden. Deswegen sage ich das auch an uns, an die Regierungsfraktionen: Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat Wir müssen dazu einen Beitrag leisten. Denn wir dürfen jetzt der Abgeordnete Ulrich Kasparick. nicht übersehen, dass der gesamte Bereich der Energie- forschung, über den wir sprechen, nach dem Urteil des Ulrich Kasparick (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Wissenschaftsrates mittlerweile ein Volumen hat, das so Kolleginnen und Kollegen! Für die Zuhörer kurz zur Er- groß ist wie das der Biotechnologie. Wir sprechen über ei- klärung: Was Sie hier erleben, ist der Versuch der Aus- nen mittlerweile hochindustriellen Wirtschaftszweig, der wertung eines Zwischenberichts einer Kommission. Sie der Informations- und Kommunikationstechnologie merken vielleicht, dass die Art der Diskussion, die die gleichwertig ist. Es geht um einen milliardenschweren Kommissionsarbeit in der letzten Zeit bestimmt hat, hier Markt, der in Deutschland leider völlig zersplittert ge- fortgesetzt wird. Das ist nicht immer ganz zielführend. handhabt wird. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20607

Ulrich Kasparick (A) Es gibt erste Ansätze, dagegen vorzugehen. Ich freue Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der (C) mich, dass insbesondere das Bundesministerium für Bil- Abgeordnete Ernst Dieter Rossmann. dung und Forschung in diesem Bereich vorangeht, (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD): Frau Präsiden- tin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Kürzel PISA das Gespräch mit den Kollegen aus den anderen Ministe- steht für die größte Bildungsstudie, die es jemals gegeben rien sucht und dass man versucht, neue Querschnittsauf- hat. Daran waren mehr als 200 000 Schülerinnen und gaben zu formulieren. Das Gespräch zwischen den Häu- Schüler im Alter von 15 Jahren in 31 Ländern beteiligt. sern muss vorangebracht und verbessert werden, weil uns Die Ergebnisse sind für Deutschland leider ein lehrreiches die Zersplitterung, die wir in Deutschland in der Energie- Desaster, weshalb diese Studie mit Recht in der Öffent- forschung haben, nicht weiterhilft. Sie ist nicht ziel- lichkeit viel Aufmerksamkeit und in der Politik viel Re- führend. Deswegen wollen wir als Parlamentarier dabei zeption gefunden hat. helfen, dass der Dialog auf diesem Gebiet vorankommt und wir zu zielführenden Beschlüssen kommen. Es ist gut, dass auch der Bundestag darüber diskutiert. Denn die Ergebnisse, die ich in sieben Punkten knapp an- Der Wissenschaftsrat hat 1999 – an der Situation hat sprechen möchte, sagen aus: Wir haben in Deutschland im sich nichts Wesentliches geändert – im Bereich der Ener- Vergleich zu anderen Nationen in dieser Welt, was spezi- gieforschung für die folgenden drei Jahre, also bis 2002, ell die Lesekompetenz, aber auch andere Kompetenzen im einen Mittelaufwuchs um 30 Prozent auf der Basis des mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich angeht, Einsatzes von 1997 vorgeschlagen. Wir sind von diesem einen Stand, der sich leider im unteren Sechstel bewegt. Ziel weit entfernt. Wir haben in Deutschland vor allen Dingen eine Gruppe Ich möchte zum Schluss noch eine kurze Bemerkung von mehr als 20 Prozent junger Menschen, die ein niedri- machen: Wir Parlamentarier sollten uns für die Zukunft ges Niveau an Lesekompetenz und Bildungskompetenz im vornehmen, das, was wir zurzeit auf der europäischen weiteren Sinne aufweisen. Wir haben in Deutschland eine Ebene erleben, nämlich dass wir in der Energieforschung besonders große Streuung an Leistung, ohne dass wir uns sozusagen den Kalten Krieg, den viele für beendet gehal- an der Spitze besonders hervortun. Wir haben im Vergleich ten haben, fortsetzen, zu beenden. Ich finde, es wäre eine zu anderen Ländern offensichtlich ein Schulsystem, das sehr reizvolle parlamentarische Aufgabe, dafür zu kämp- durch eine starke Trennung nicht dafür sorgt, die Selektion, fen, dass wir den Euratom-Vertrag nun endlich unter par- die sich in der Gesellschaft abbildet, aufzuheben. Wir ha- lamentarische Kontrolle bekommen, ben in Deutschland ungenügende Leistungen bei der Inte- gration von zuwandernden Familien und deren Kindern. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des (B) Außerdem gibt es in Deutschland speziell ein Problem hin- (D) BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) sichtlich der Geschlechter: Junge Männer sind offensicht- um dann die Frage zu beantworten: Wofür wollen wir ei- lich nicht besonders leseinteressiert und -kompetent. gentlich welche Mittel ausgeben? Das sollte uns allen ins Diese Studie stellt Sachverhalte dar, die schon länger Stammbuch geschrieben werden. Das ist eine sehr reiz- in unserer Gesellschaft Unbehagen verursacht haben, volle Aufgabe und ich freue mich darauf. auch bei Bildungspolitikern, und zwar durch die TIMSS- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Studie und weitere Untersuchungen in anderen Feldern des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) untermauert. Daher ist es gut, wenn wir uns in der Dis- kussion hierauf nicht parteipolitisch einstellen, sondern wenn wir hiermit unaufgeregt und vor allen Dingen ko- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Ich beende da- operativ umgehen. mit die Aussprache. An dieser Stelle können wir auf das von unserer Bil- Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf dungsministerin eingeleitete und – das will ich ausdrück- Drucksache 14/7509 zur federführenden Beratung an den lich sagen – von anderen Bildungspolitikern konstruktiv Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- aufgenommene Forum Bildung zurückgreifen. Die Arbeit heit und zur Mitberatung an den Ausschuss für Wirtschaft dieses Forums Bildung in über zweieinhalb Jahren hilft und Technologie und an den Ausschuss für Bildung, For- uns jetzt. Es sind schon Handlungsfelder, Leitlinien und schung und Technikfolgenabschätzung zu überweisen. Schwerpunkte beschrieben worden. Die Frühförderung Die Vorlagen auf Drucksachen 14/7287 und 14/7814 sol- und speziell die Sprachförderung, die Individualisierung len an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse der Förderung, die Benachteiligtenförderung, die Er- überwiesen werden. Gibt es dazu anderweitige Vor- höhung der Unterrichtsqualität, die Erweiterung der Ge- schläge? – Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überwei- staltungsspielräume der Schulen und schließlich auch die sungen so beschlossen. Lehrerbildung wurden in den Mittelpunkt gerückt. Ich rufe Zusatzpunkt 15 auf: (Beifall bei der SPD) Aktuelle Stunde Auf der Grundlage der zwölf Empfehlungen, die ich auf Verlangen der Fraktion der SPD hier gebündelt habe, hat sich die Kultusministerkonferenz Haltung der Bundesregierung zu den Ergebnis- relativ schnell sen der PISA-Studie sowie zur Umsetzung der (Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Und Empfehlungen des Forums Bildung gut!) 20608 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001

Dr. Ernst Dieter Rossmann (A) – und gut – auf eine Zusammenstellung von sieben Hand- Angelika Volquartz (CDU/CSU): Frau Präsidentin! (C) lungsmöglichkeiten, deren Verwirklichung jetzt kurzfris- Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kolle- tig eingeleitet werden soll, einlassen können. Dies gen! „Sind deutsche Schüler doof?“ Diese Frage stellt der geschah parteiübergreifend; dies möchte ich hier aus- „Spiegel“ in dieser Woche in seiner Titelstory. Sie kom- drücklich sagen, um nicht mit billiger parteipolitischer men – davon sind wir sicher alle gemeinsam überzeugt – Münze zu zahlen. Die Kultusministerkonferenz hat aber nicht dümmer auf die Welt als Schülerinnen und Schüler auch gesagt, dass es dabei nicht belassen werden darf. Da- in den übrigen Ländern. Wir Bildungspolitiker müssen al- mit nimmt sie den Geist des Forums Bildung auf. lerdings die Bedingungen dafür schaffen, dass sie es in den ersten 15 Jahren ihres Lebens auch nicht werden, da- Dieser Geist muss für uns zweierlei bedeuten: Jeder mit der Rest des Lebens gut funktionieren kann. muss das Seinige tun. Der Bund sollte nicht über die Wir wissen allerdings nicht erst seit der letzten Woche, Schulen und über die Länder reden; die Länder sollten seit Ergebnisse der PISA-Studie vorliegen, welche vom Bund nichts Unbilliges erfahren. Wir müssen die Zu- Schwierigkeiten wir seit Jahren in den Schulen durchgän- ständigkeiten wahren, aber im Rahmen der Zuständigkei- gig haben. Hätte man mehr Praktiker vor Ort gefragt, dann ten auf beiden Feldern aktiv werden. Wir sollten das nicht würden sich einige heute vielleicht nicht wundern. Viele, vorschnell tun. Es muss uns eine Mahnung sein, dass der die tatsächlich damit umgehen, wundern sich nicht. Bildungsforscher Jürgen Baumert, Projektleiter für Deutschland, gesagt hat, am meisten beunruhigten ihn Wir haben gestern im Bildungsausschuss über die Er- jetzt die Menschen, die behaupten, sie hätten Patentre- gebnisse des Forums Bildung diskutiert. Insgesamt – da- zepte. rauf ist schon hingewiesen worden – hat das Forum Bil- dung zwölf Empfehlungen für die Bildung in Deutschland In Übereinstimmung mit der KMK und dem Forum ausgesprochen. Viele dieser Empfehlungen betreffen die Bildung sage ich: Wir müssen diese Studie genau lesen Schulen. Mit Blick auf PISA sind vor allem die Empfeh- und daraus weitere Fragen ableiten. Damit sind wir von lungen hervorhebenswert, die dazu aufrufen, unsere Kin- der sozialdemokratischen Seite bei einem ersten Hand- der früher und individueller zu fördern und zu fordern. lungsfeld, das die Zuständigkeit des Bundes berührt: der (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Verstärkung der Bildungsforschung. Allerdings soll dies nicht, wie das jetzt geplant ist, in Ein zweites Handlungsfeld, das die Zuständigkeit des den Kindertagesstätten geschehen. Dazu wären Vorschu- Bundes berührt, ist die Verstärkung der Bemühungen um len notwendig. Es ist besonders bedauerlich, dass bei- Chancengerechtigkeit und Chancengleichheit im Sinne spielsweise in Schleswig-Holstein unter einer rot-grünen von Bildungsbeteiligung auch schwächerer sozialer (B) Regierung die Vorschulen abgeschafft worden sind. Das (D) Schichten mit einem geringeren Bildungsstand. Dafür ha- lässt sich mit diesen Ergebnissen schlecht in Einklang ben wir in der Praxis schon sehr viel getan. bringen. Ein drittes Feld ist heute Morgen im Zusammenhang Französische Kinder sind in der Regel mit fünf Jahren mit dem Zuwanderungsgesetz diskutiert worden: Wie ge- alphabetisiert, deutsche mit durchschnittlich sieben Jah- hen wir mit den Anforderungen an Schüler um, die ren. Ich muss Ihnen deshalb nicht sagen – Sie wissen es sprachlich, die kulturell, die schulisch zu integrieren sind? auch –, wer bei PISA besser abgeschnitten hat. Wir müs- Welche Beiträge dazu können Länder und Bund gemein- sen also umdenken. Deshalb begrüße ich es ausdrücklich, sam erbringen? dass sich anscheinend auch in Ländern, in denen Sozial- demokraten regieren, PISA zeigt uns, dass andere Länder in Europa diesen Prozess offensichtlich erfolgreich gestalten konnten. Sie (Jörg Tauss [SPD]: Oh mein Gott!) haben ihre Bildungsanstrengungen auf längere Sicht so die Erkenntnis durchgesetzt hat, dass man Kindern nicht konzentriert, dass sie kein lehrreiches Desaster haben, wie die Kindheit raubt, wenn man ihnen bereits in der Grund- es Deutschland jetzt erleben musste. Hermann Lange, der schule Wissen vermittelt. Zuständige in der Kultusministerkonferenz, hat es so auf (Beifall bei der CDU/CSU) den Punkt gebracht: Die gute Botschaft von PISA ist, dass man die Schule und das Bildungswesen verbessern kann – Ich will Ihnen ein Beispiel nennen. In Seth im Kreis wenn man es gemeinsam und langfristig tut und sich nicht Segeberg in Schleswig-Holstein ist vor drei Jahren an kleinen Widerhaken zerstreitet. tatsächlich der Vorschlag gemacht worden, die Grund- schulklassenstufen von 1 bis 4 aufzulösen und nur noch In diesem Geiste möchten wir diese Debatte führen und Lerneinheiten zu bilden, in denen die älteren Kinder die auch in Handlung umsetzen. jüngeren Kinder mit unterrichten. Das, Frau Ministerin, Danke. wäre sicher auch nach Ihrem Empfinden nicht der richtige Weg, um mehr Leistung zu bringen. (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS) (Zurufe von der SPD) – Ich kann verstehen, dass Sie sich aufregen. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat Es ist daher richtig, dass erfahrene Kultusminister im jetzt die Abgeordnete Angelika Volquartz. Forum Bildung darauf dringen, endlich wieder die Leis- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20609

Angelika Volquartz (A) tungsbereitschaft der Kinder schon in der Grundschule zu in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle spielen, (C) wecken. Es ist absolut nicht im Interesse der Kinder, wenn einzusetzen. wie in Schleswig-Holstein die Schulen entscheiden kön- nen, ob sie ab Klassenstufe 3 Noten geben oder nicht. Wir Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Frau Kollegin, brauchen Vergleichbarkeit. Deshalb muss dies verbind- Sie haben nur fünf Minuten Redezeit und haben bereits lich sein. Daher plädieren wir des Längeren schon dafür, mehr als sechs Minuten gesprochen. dass ab Ende der Klassenstufe 2 Noten erteilt werden.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Angelika Volquartz (CDU/CSU): Frau Präsidentin, neten der FDP) ich komme zum Schluss: Wir brauchen motivierte Lehre- Auch das ist ein Weg, um den Eltern und den Kindern klar rinnen und Lehrer. Dafür wollen wir alle kämpfen. zu machen, wo sie stehen, damit sie das nicht raten müs- (Beifall bei der CDU/CSU) sen. Wir wollen die Lehrer nicht – wie Gerhard Schröder – als Bei der PISA-Studie liegen, wie schon gesagt, über- faule Säcke beschimpfen. Es sind positive Kräfte, die für durchschnittlich viele deutsche Schülerinnen und Schüler unsere Kinder arbeiten. In diesem Sinne lassen Sie uns im untersten Leistungsbereich. Es kommt deshalb darauf alle zusammenarbeiten. an, die weniger Leistungsstarken individuell zu fördern und die Starken zu fordern. Danke. Ein Viertel der deutschen Schülerinnen und Schüler (Beifall bei der CDU/CSU – Zurufe von der haben bei PISA extrem schwache Leseleistungen gezeigt. SPD: Peinlich! – Das war eine 6!) Ohne Lesekompetenz kann man aber schwer weitere er- forderliche Kompetenzen erwerben. Was sind die Ursa- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Ich möchte da- chen dafür, dass dieser Mangel an Lesekompetenz vor- rauf hinweisen, dass in den Aktuellen Stunden wirklich handen ist? Immer weniger Schülerinnen und Schüler nur fünf Minuten gesprochen werden soll, damit es Schlag bzw. Kinder lesen in ihrer Freizeit. 42 Prozent der auf Schlag geht. Es sind keine richtigen Reden, die hier 15-Jährigen empfinden Lesen als Zumutung. In immer gehalten werden. mehr Familien ersetzen Fernseher und Videospiele die Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Reinhard Loske. Bücher.

Dieser Realität müssen wir uns stellen. Deshalb müs- Dr. Reinhard Loske (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (B) sen wir in den Schulen zwar nicht technikfeindlich wer- Keine richtigen Reden – danke für die Ermutigung, Frau (D) den, aber parallel dem Sprechen, dem Diskutieren, dem Präsidentin. Lesen und auch dem Gedichtelernen wieder eine größere Aufmerksamkeit widmen. Das ist kein Widerspruch, son- Ich wollte auch nicht über Hagrid und Dumbledore, dern eine Ergänzung dazu. Flitwick und andere sprechen, obwohl es durchaus sinn- voll wäre, das zu tun. Ich will, um dem Ernst der Sache (Beifall bei der CDU/CSU) gerecht zu werden, sagen: Das Erschreckende an dieser Weil eben schon in der Grundschule die Weichen ge- Studie ist, dass wir im Bereich der Lesekompetenz – im stellt werden, muss dort auf die Kulturtechniken Lesen, umfassenden Sinne von „literacy“ – so große Schwierig- Schreiben und Rechnen ganz besonderer Wert gelegt keiten in Deutschland haben. Wir haben diesen Bereich in werden. Das alles wissen wir eigentlich seit Jahrzehnten. Deutschland lange für einen spezifischen Kompetenzbe- Das ist keine Neuigkeit. Aber wir sollten doch in allen reich gehalten. Die kritische Aneignung von Wissen ist Ländern wieder stärker darauf achten. aber leider nicht in dem Maße verwirklicht, wie wir uns das alle gewünscht haben. Wir sollten auch ein Phänomen, das wir derzeit erle- ben, nutzen: das Harry-Potter-Phänomen. „Harry Potter“ Als Zweites müssen wir die Grundeinsicht. „Nur wer ist für die Kinder eine tolle Geschichte. Das ist etwas, was über Lesekompetenz verfügt, kann sich eigenständig fort- sie lesen und was man als Leseanreiz nehmen sollte. bilden.“ zur Grundlage unserer gesamten Bildungspolitik machen. Das bedeutet, dass dem Lesen ein wesentlich (Jörg Tauss [SPD]: Ihr CSU-Kollege will es höherer Stellenwert zugemessen werden muss. Ich finde verbieten! Wissen Sie das?) es gut, dass wir heute zu diesem Thema eine Aktuelle Stunde haben. Es ist nicht nur ein landespolitisches, son- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Tauss, las- dern auch ein bundespolitisches Thema. sen Sie die Kollegin zum Ende kommen. Wir sollten allerdings – Frau Kollegin, dies klang bei Ihnen etwas heraus – versuchen, nicht wieder die alten Angelika Volquartz (CDU/CSU): Herr Tauss, da sind Grabenkämpfe zu führen. wir ausnahmsweise unterschiedlicher Meinung. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Ich begrüße es, dass das Forum Bildung ebenso wie die KMK den Weg einschlagen wird, mehr für die Leistung Die PISA-Studie hat uns nämlich gelehrt, dass wir bei vie- der Kinder zu tun und sich für mehr Ganztagsschulen, die len Themen sozusagen Schattenkonflikte geführt haben. 20610 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001

Dr. Reinhard Loske (A) Die Frage, ob das nach zwölf oder 13 Jahren er- liegt. Kein Wunder, dass eure Verlegenheit größer ist (C) reicht wird, oder die Frage nach einem eingliedrigen oder als eure Neugierde. dreigliedrigen Schulsystem sind bestenfalls randständige Das ist eine Form von Schule, die wir nicht wollen. Probleme und keinesfalls der Kern des aufgezeigten Pro- blems. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- FDP) SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) Wir wollen eine Schule, in der der Unterricht nicht im Die Frage ist: Was sollen wir jetzt tun? Ich glaube, wir 45-Minuten-Takt abläuft, sondern sich der Zeitrahmen an haben in Deutschland ein Unterrichtssystem, das sich über den Unterrichtsinhalten orientiert. Wir wollen eine Schule, Jahrzehnte entwickelt hat. Es geht von der Vorstellung aus, die den Schülern möglichst umfassende Erfolgserlebnisse dass alle Kinder in der gleichen Zeit das Gleiche lernen ermöglicht. Wir wollen eine Schule, in der die Lehrer ge- sollen. Das ist schon bei Erich Kästner in seiner Ansprache meinsam die Verbesserung des Unterrichts in Angriff neh- zum Schulbeginn nachzulesen. Bei ihm heißt es: men, also eine Kultur der Supervision. Es ist sehr wichtig, Da sitzt ihr nun, alphabetisch oder nach Größe sor- dass sich ein Lehrer darüber informiert, wie seine Kollegin tiert. oder sein Kollege den Unterricht gestaltet; denn nur dann kann er neue Erkenntnisse in den eigenen Unterricht ein- Das ist zwar heute nicht mehr ganz der Fall, aber auch fließen lassen. Wir wollen eine Schule, die Leistungsforde- heute wird noch davon ausgegangen, dass Gleichaltrige in rungen mit einem lernunterstützenden Klima verbindet. Wir ihrem Lernprozess gleich weit sind, gleiche Kapazitäten wollen eine Schule, in der sich Lehrer und Schüler glei- haben und nach gleichen Kriterien gefördert werden müs- chermaßen wohl fühlen. Wir wollen, dass es um die Schule sen. Das ist aber nicht der Fall. herum soziale Netzwerke, Freiwilligenarbeiten, Patenschaf- Wir brauchen in unseren Schulen eine Pädagogik, die ten und anderes mehr gibt. Wir wissen, dass solche Maß- der Unterschiedlichkeit der Kinder stärker gerecht wird. nahmen vor allen Dingen für die Migranten wichtig sind. Das erfordert von den Lehrerinnen und Lehrern die Fähig- Zum Schluss bleibt mir noch nur zu fragen: Was kann keit zur Diagnose des unterschiedlichen Förderbedarfs der Bund tun? Erstens. Im Bereich der Bildungsforschung der Kinder. Die Unterschiedlichkeit des Förderbedarfs müssen Antworten auf die Fragen gefunden werden, muss sich auch im Unterricht widerspiegeln. Die Kinder warum es so große Unterschiede gibt und wo die Ursachen müssen nach ihrer Individualität gefördert werden. Das ist dafür liegen. Hier hat der Bund eine Aufgabe zu erfüllen. sicherlich ein starkes Argument für den Ausbau von Ganz- Zweitens. Der Bund muss auch mit dafür sorgen, dass tagsschulen, aber nicht im Sinne von nachmittäglichen die Lehrqualität verbessert wird. Hier sollten Bund und (B) Verwahranstalten, sondern als Institutionen, in denen Bil- (D) Länder eng zusammenarbeiten. Wir sollten das Sinus- dung betrieben wird. Programm zur Verbesserung des naturwissenschaftlichen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Unterrichts, das wir damals als Antwort auf die TIMSS- und bei der SPD) Studie verabschiedet haben, ausdehnen. Das wirklich Beängstigende an dieser Studie – das ist Wir sollten uns des Weiteren Gedanken darüber ma- das eigentliche Problem – ist jedoch, dass sie aufzeigt, wie chen, wie die Lehreraus- und vor allen Dingen die Leh- sozial selektiv unser Bildungssystem ist. Wir hätten das rerweiterbildung verbessert werden kann; alle miteinander nicht geglaubt. Es ist beispielsweise so, (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- dass 50 Prozent der Kinder von Eltern der obersten Ein- SES 90/DIE GRÜNEN) kommens- und Bildungsschicht ein Gymnasium besu- chen, wohingegen nur 10 Prozent der Kinder von Eltern, denn es ist ja nicht so, dass man dann, wenn man einmal die zum unteren Viertel gehören, höhere Schulen besu- Lehrer ist, für alle Zeiten alles weiß. Wenn man ein guter chen. Das heißt: Die soziale Selektion unseres Bildungs- Lehrer sein will, dann muss man auch selber immer ler- systems ist zu hoch. Das kann nicht in unser aller Interesse nen. Das ist wichtig. liegen. Das müssen wir ändern. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN SES 90/DIE GRÜNEN und der FDP) und bei der SPD) Ich möchte nur noch sagen – ich bin sofort fertig, Frau Die Frage ist, welches Konzept von Schule wir verfol- Präsidentin –: Ähnlich wie meine Vorrednerin bin auch gen. Vielleicht sollte man ex negativo sagen, welche Art ich der Meinung, dass der Beruf des Lehrers einer der von Schule wir nicht haben wollen. Ich komme in diesem wichtigsten in einer Gesellschaft ist. Wir sollten deswe- Zusammenhang noch einmal auf Erich Kästner zurück, gen diesem Beruf mehr Wertschätzung entgegenbringen. der dies in seiner Ansprache zum Schulbeginn wirklich Wir sollten aber auch eine Kultur der Weiterbildung ein- sehr schön beschrieben hat. Ich zitiere wörtlich: fordern. Der Prozess des Lernens ist niemals abge- schlossen. Auch als Lehrer ist man immer Lernender. Früchtchen seid ihr, und Spalierobst müsst ihr wer- den! Aufgeweckt wart ihr bis heute, und einwecken Danke schön. wird man euch ab morgen! So, wie man´s mit uns ge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN tan hat. Vom Baum des Lebens in die Konservenfa- und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der brik der Zivilisation, – das ist der Weg, der vor euch CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20611

(A) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat Bildungsgipfel. Wenn die Bildungs- und Kultusminister (C) jetzt die Abgeordnete Cornelia Pieper. der Länder mit ihren zum Teil richtigen Ansätzen bil- dungspolitischer Reformen nicht weiterkommen, weil sie von den Finanzministern der Länder blockiert werden, Cornelia Pieper (FDP): Frau Präsidentin! Meine Da- dann darf man sich doch einmal fragen, warum das so ist. men und Herren! Wer hätte das gedacht, aber die PISA- Studie bestätigt es: Das Volk der Dichter und Denker hat Hier kann man nur an die Ministerpräsidenten und den Lesen und Schreiben verlernt. Bundeskanzler appellieren, das Thema Bildung zur Chef- sache zu erklären. (Zuruf von der SPD: Vorsicht, Vorsicht!) Namens meiner Fraktion fordere ich die Finanzmi- Das ist für mich das schlimmste Zeugnis, das man Bil- nister der Länder auf, Investitionen in die Köpfe endlich dungspolitikern eines Landes ausstellen kann. Das ist für ernst zu nehmen mich als Bildungspolitikerin die bitterste Nachricht, die ich mir überhaupt vorstellen kann. Aber alles Debattieren (Beifall bei der FDP) – nicht nur im Bundestag, sondern auch in den Landtagen und in den Haushalten Freiräume für Zukunftsinvestiti- und in der Öffentlichkeit wird über die Ergebnisse der onen zu schaffen. Studie diskutiert – nützt nichts; denn nicht Debattieren, sondern Handeln ist nach den Ergebnissen der PISA-Stu- (Jörg Tauss [SPD]: Also kein Vorziehen der die angesagt! Steuerreform! Das Geld in die Schulen stecken!) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Das sage ich auch ganz gezielt noch einmal an die Bun- der CDU/CSU) desregierung. Frau Bulmahn, Sie haben wirklich ehr- lichen Herzens versucht, diesen Weg zu gehen, aber diese Bildung ist ein Freiheitsthema. Durch eine gute Aus- kleine Kraftanstrengung reicht, glaube ich, nicht aus. Wir bildung eröffnen wir jungen Menschen neue Lebenschan- brauchen eine große Kraftanstrengung für Zukunftsinves- cen. Bildung ist auch die soziale Frage des 21. Jahrhun- titionen. derts. Ich frage mich nach den Ergebnissen der PISA-Studie in der Tat: Wie sozial gerecht ist unser Bil- (Beifall bei der FDP) dungssystem eigentlich noch, wenn man – wie auch in der Wir müssen – das haben wir hier immer deutlich gemacht – 16. Sozialerhebung des Studentenwerkes – nachlesen noch mehr in Bildung investieren. Auch das ist eine wich- kann, dass von 100 Kindern, die von ihrer sozialen Her- tige Erkenntnis aus der PISA-Studie. kunft her aus den unteren Schichten der Gesellschaft kommen, gerade einmal 33 auf das Gymnasium gehen Wir müssen uns darüber hinaus auch über Strukturen (B) und nur noch acht die Hochschule besuchen? unterhalten. Die Arbeitsweise der Kultusministerkon- (D) ferenz muss von Grund auf reformiert werden. Mit dem (Zuruf von der SPD: Deswegen haben wir die Einstimmigkeitsprinzip bei der Beschlussfassung werden BAföG-Reform gemacht, aus keinem anderen wir nicht weiterkommen. Nicht der kleinste gemeinsame Grund!) Nenner zwischen den Bundesländern, sondern das größte Hier muss noch sehr viel getan werden, wenn wir – das ist gemeinsame Vielfache muss unsere Bildungspolitik be- unser Anliegen – für Chancengleichheit in der Bildung stimmen. sorgen wollen. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP) Zu Recht haben wir gefordert – auch das ist eine Er- Angesichts der Tatsache, dass das deutsche Bildungs- kenntnis aus der PISA-Studie –, dass es einen nationalen system in den letzten Jahren und Jahrzehnten Jugendliche Bildungsbericht geben muss, damit man endlich ver- – sie machten immerhin einen Anteil von 12 Prozent aus –, gleichbare Daten hat. Konsequente Weiterentwicklung die keine Berufsausbildung haben, und Schulabgänger – ihr und Sicherung der Qualität von Unterricht und Schule auf Anteil lag bei 20 Prozent –, die nicht ausbildungsfähig sind, der Grundlage verbindlicher Standards, das muss jetzt si- hervorgebracht hat, muss man fragen: Was haben wir in den chergestellt werden. Daher gibt es Anlass, denke ich, dass vergangenen Jahren falsch gemacht? Bei der Beantwortung dieses Hohe Haus einen gemeinsamen Antrag für einen dieser Frage müssen wir ehrlich miteinander umgehen. Wir nationalen Bildungsbericht auf den Weg bringt. sollten fernab aller ideologischen Scheuklappen, Frau Wir wollen auch die Arbeit der Bund-Länder-Kom- Volquartz, die Diskussion darüber führen und die entspre- mission für Bildungsplanung und Forschungsförderung chenden Konsequenzen ziehen. Nur dann werden wir die stärken. Sie muss stärker als bisher in die Erarbeitung Zukunftsfähigkeit und die Qualität unserer Schulen ver- grundlegender Bildungsprogramme und in die Durch- bessern. führung von Modellprojekten wie dem derzeit laufenden (Beifall bei der FDP und der SPD sowie bei Ab- Modellprojekt „Naturwissenschaftlicher Unterricht“ ein- geordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- bezogen werden. NEN) Liebe Frau Volquartz, ich habe Ihre Argumentation, In der Tat kommt es darauf an – das ist die wichtigste was gerade die pädagogischen Ansätze und die Erziehung Erkenntnis, die meine Fraktion und ich aus der PISA-Stu- im Kindergartenbereich anbelangt, mit großem Befrem- die gewonnen haben –, dass wir als Bildungspolitiker im den gehört. Eines ist durch die PISA-Studie klar gewor- Bund deutlich machen: Wir brauchen einen nationalen den: Wir müssen mehr für den Elementar- und den 20612 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001

Cornelia Pieper (A) Primarbereich tun. Nach meiner Kenntnis besuchen mehr Geht jetzt ein Ruck durch die Gesellschaft? Ich weiß (C) als 90 Prozent der Kinder in Belgien, Spanien, Frankreich, nicht, aber wenn wir ehrlich sind, müssen wir zugeben: Italien, Luxemburg, den Niederlanden und im Vereinigten Kaum einer hat die 800 Seiten schon wirklich analysiert. Königreich – anders als in Deutschland – bereits im Alter Auf der anderen Seite: Was ist an den Ergebnissen der von vier Jahren einen Kindergarten oder eine Vorschul- PISA-Studie neu? Vieles ist seit Jahren bekannt. Nun re- einrichtung. det sich eine Ebene damit heraus, dass die andere Ebene (Beifall bei der FDP) die Verantwortung trage. Das geschieht nach dem Motto: Schraps hat den Hut verloren – wer hat ihn? Die Bil- Das war letztlich auch eine Ursache dafür, dass diese Kin- dungsministerin kann nicht viel machen, weil die Länder der bessere Leistungen aufzuweisen haben als Kinder im zuständig sind. Stattdessen gibt es viel Papier mit Emp- deutschen Bildungssystem. Auch hier ist Handeln gefragt. fehlungen aus den Konsensrunden des Forums Bildung Auch das erfordert eine finanzielle Kraftanstrengung. Da und viele Modellprojekte. dürfen wir nicht nur reden, sondern da müssen wir auch handeln. Auch die Kultusministerkonferenz hat sehr schnell zentrale Handlungsfelder ausgemacht: von der besseren (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Förderung lernschwacher Schüler über das Erkennen „schwacher Leser“ bis hin zu neuen Schul- und Lernzeit- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Frau Kollegin, regelungen und der Verpflichtung zur Weiterbildung für das wäre ein schöner Schlusssatz gewesen. Pädagogen. Andere Rezepte, die durch die Medien geis- tern, plädieren für mehr Wettbewerb, weil das egalitäre deutsche System nichts bringe, oder sie versteigen sich Cornelia Pieper (FDP): Frau Präsidentin, ich be- gar zu der Diagnose, dass der hohe Ausländeranteil die danke mich für den Hinweis. deutschen Durchschnittswerte drücke. Wie es scheint, ist Zu diesem Thema gäbe es noch viel mehr zu sagen. keine Schlussfolgerung zu abwegig, als dass nicht im Lassen Sie mich bitte nur noch einmal den Appell an Sie Schweinsgalopp oberflächliche Begründungszusammen- richten, dieses Thema ideologiefrei zu diskutieren hänge hergestellt würden. Ich finde, so geht das nicht. (Zuruf von der SPD: Und als Sie regiert Die Befunde sind zu gravierend, als dass sie durch ei- haben?) lig zusammengestrickte Patentrezepte und ein Herum- doktern an Symptomen behoben werden könnten. Herr und nicht ständig ideologische Debatten anzuzetteln, Herr Kollege Rossmann, Sie haben Recht: Eine Anhörung Tauss; kann uns Politikern und Politikerinnen auch dazu dienen, (B) (Jörg Tauss [SPD]: Ich habe doch gar nichts genau das Gegenteil davon zu tun. (D) gesagt!) Auf dem Prüfstand steht nicht nur das deutsche Schul- denn solche werden die Bildungspolitik in Deutschland system, sondern das Bildungssystem insgesamt. Sicher ist ganz bestimmt nicht verbessern. es nicht falsch, früher und besser zu fördern, praxisnäher zu unterrichten, Lehrer besser auszubilden usw. Das (Jörg Tauss [SPD]: Jetzt trifft’s wieder mich!) Wichtigste aber, was die Studie meiner Meinung nach zu- Vielen Dank. tage gefördert hat, ist, dass es kein Argument für das in Deutschland favorisierte mehrgliedrige System gibt; denn (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten selbst die so „Ausgelesenen“ erreichen nur knappe der CDU/CSU) Durchschnittswerte. Wer sich ein bisschen auskennt, der weiß: Ohne Breite gibt es keine Spitze. Frühzeitige Sepa- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat rierung hilft also weder den Begabten noch dem Durch- jetzt die Abgeordnete Maritta Böttcher. schnitt. Im Gegenteil: Die Schülerschaft wird gespalten und soziale Schichtungen werden reproduziert.

Maritta Böttcher (PDS): Frau Präsidentin! Meine lie- PISA macht deutlich, dass eine hohe Gesamtleistung ben Kolleginnen und Kollegen! Plötzlich zieht hektische und eine geringe Leistungsstreuung gleichzeitig erreicht Betriebsamkeit in die Bildungsamtsstuben. werden können. Auch wenn Leistungsunterschiede ver- schiedene Ursachen haben können – vom sozioökono- (Zuruf von der CDU/CSU: Weihnachten mischen Hintergrund über Schulressourcen bis hin zu kommt!) Curricula und Unterrichtsorganisation –, so werden sie Es ist hart: Internationale Bildungsforscher haben dem doch in einigen Ländern innerhalb der Schulen aufge- deutschen Bildungswesen ein sattes „versetzungsgefähr- fangen. Für Deutschland gilt dagegen ein signifikanter det“ ins Zeugnis geschrieben. Ausfälle auf der ganzen Li- Zusammenhang zwischen Leistungsunterschieden und nie. Schlagartig werden die Apologeten der Haushalts- Schulformen; denn innerhalb der Schulen wurden relativ kürzungen und Lehrerstelleneinsparungen aktiv, mahnen homogene Leistungen festgestellt. umgehend Reformen an und stellen sich an die Spitze der Offensichtlich produziert die Selektion einen gravie- Bewegung: Haltet den Dieb! Plötzlich wissen alle ganz renden Mangel an individueller Förderung. Im Mittel- genau, was wir eigentlich brauchen. Die Heuchelei kennt punkt steht nicht das Kind mit seinen individuellen Fähig- keine Grenzen. keiten, Neigungen und Lernmöglichkeiten, sondern Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20613

Maritta Böttcher (A) häufig seine so genannte Passgenauigkeit für die eine oder Erstens. In allen drei untersuchten Bereichen liegen die (C) andere Bildungseinrichtung. Ebendieses Aussortieren er- Ergebnisse für die 15-Jährigen in Deutschland unter dem klärt die schockierenden PISA-Befunde für Deutschland: OECD-Durchschnitt. Besonders gravierend und beson- Spitzenwerte bei der Diskrepanz zwischen guten und ders erschreckend finde ich, dass über 20 Prozent der schlechten Schülern und beim Zusammenhang zwischen deutschen Schülerinnen und Schüler beim Verstehen von sozialem Hintergrund und Bildungserfolg. Texten – denn darum geht es im Kern – nur die niedrigste Das ist das eigentliche Politikum: Es gibt kein Land, in Leistungsstufe erreichen oder diese sogar verfehlen. dem ungünstige Bildungsvoraussetzungen aufgrund der (Ulrike Flach [FDP]: Die lesen immer die sozialen Herkunft so stark wie in Deutschland durch- Kultusministertexte!) schlagen. Verstärkt wird dieser Effekt durch den unter- schiedlichen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Zweitens. In kaum einen anderem Land wird so früh Status der verschiedenen Schulen. In stärker integrierten differenziert wie bei uns. Es fallen aber auch in kaum ei- Systemen ist dieser Zusammenhang nicht so deutlich aus- nem anderen Land die Leistungen von starken und geprägt. Schulpolitik und Schulen können also eine ent- schwachen Schülerinnen und Schülern so weit auseinan- scheidende Rolle beim Ausgleich sozioökonomischer Be- der wie bei uns. Anderen Ländern ist es offensichtlich er- nachteiligungen spielen. heblich besser gelungen, Spitzenleistungen mit einem ins- gesamt höheren Leistungsniveau zu verbinden. (Beifall bei der PDS) Drittens. Unser Schulsystem produziert nicht nur Der internationale Vergleich zeigt eindrucksvoll, dass schwache Leistungen, es ist auch ungerechter als die ein insgesamt hohes Leistungsniveau durchaus mit der meisten anderen. In kaum einem anderen vergleichbaren Förderung aller Leistungsgruppen durch langes gemein- Land entscheidet die soziale Herkunft so sehr über den sames Lernen in integrierten Systemen vereinbar ist. Schulerfolg und den Bildungsweg und damit auch über Dazu braucht es Bedingungen: vom Kindergarten mit pädagogischem Auftrag – was etwas anderes ist als eine Lebenschancen. Vorschule, wie sie an der Küste gerade abgeschafft wurde, Viertens. Bei der Förderung von Kindern und Jugend- Frau Volquartz – bis hin zu qualifiziertem und motivier- lichen ausländischer Herkunft schneiden Staaten mit einer tem Personal und den entsprechenden Lehr- und Lern- ähnlichen Einwanderungsstruktur erheblich besser ab als bedingungen. Mit weniger Geld, wie es die Finanzmi- Deutschland. Das größte Problem ist dabei wiederum die nister kürzlich vorgeschlagen haben, ist das alles unzureichende Lesekompetenz – betreffend das Verstehen allerdings nicht zu machen, es sei denn, Deutschland will von Texten –, also das Fehlen einer grundlegenden Fähig- auch auf dem Gebiet der Bildungsfinanzierung die keit, die für die Integration in unsere Gesellschaft uner- (B) Schlusslaterne übernehmen. lässlich ist. (D) Die Botschaft muss also heißen: individuelle Förde- Das sind die wichtigsten und wesentlichsten Ergebnisse. rung für alle statt Auslese, und das von Anfang an. Hier schließt sich der Kreis: Am Ende sind wir uns wieder ei- Die Mängel, die ich genannt habe, sind uns aber seit nig. Wir müssen gemeinsam überlegen, was jetzt die längerem bekannt. Bereits die Vorgängeruntersuchung, wichtigsten Aufgaben sind, die es relativ zügig zu lösen die TIMSS-Studie, hat gezeigt, dass wir unser Bildungs- gilt – allerdings nicht in Schnellschüssen –, und was mit- wesen grundlegend erneuern müssen, dass wir auch die tel- und längerfristige Aufgaben sind. Wir müssen das Weichen anders stellen müssen. Genau aus diesem Grund Problem an der Wurzel packen, statt länger an Symp- habe ich vor zwei Jahren die Verantwortlichen in den Län- tomen herumzudoktern. dern, die Länderminister – egal, ob von CDU oder SPD –, die Arbeitgeber, die Gewerkschaften, Wissenschaftler (Beifall bei der PDS sowie des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]) und auch Jugendliche sowie Vertreter der Kirchen im Forum Bildung an eine Art runden Tisch zusammen- geholt. Sie können sicher sein: Es war keine leichte Auf- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat gabe. jetzt die Frau Bundesministerin Edelgard Bulmahn. (Ulrike Flach [FDP]: Das glaube ich wohl!)

Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung Im Forum haben wir eines geschafft – das ist ein Gut, und Forschung: Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lie- das wir uns erhalten sollten –: Wir haben die politischen ben Kolleginnen und Kollegen! Das deutsche Bildungs- Grabenkämpfe wirklich eingestellt. Die Grabenkämpfe system ist dringend reformbedürftig. Dieses Ergebnis der sind ad acta gelegt worden. PISA-Studie muss uns alle alarmieren. Ein Land mit der (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wirtschaftlichen und politischen Bedeutung Deutschlands DIE GRÜNEN) gehört in die internationale Spitzengruppe der Bildungs- nationen und darf sich nicht mit OECD-Mittelmaß oder Wir haben über die Zuständigkeitsgrenzen hinweg ge- gar mit einer Position darunter zufrieden geben. meinsam Empfehlungen erarbeitet, die von allen unter- stützt und getragen werden und von denen wir alle sagen: (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE In diese Richtung muss es gehen; diese notwendigen Ver- GRÜNEN, der FDP und der PDS) änderungen müssen wir in den kommenden Jahren errei- Welche Mängel hat unser Bildungssystem? chen. 20614 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001

Bundesministerin Edelgard Bulmahn (A) Wir können es uns nicht noch einmal leisten, über Jahre Wir müssen die Chancen der neuen Medien im Klas- (C) hinweg darüber zu diskutieren, ob man das Abitur in senzimmer besser nutzen; denn es ist kein Widerspruch, zwölf oder in 13 Jahren erreichen sollte. mit den neuen Medien zu arbeiten und zu lesen. Eine Aus- und Weiterbildungsoffensive für unsere Lehrerinnen und (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der Lehrer ist dafür sicherlich eine ganz wichtige Vorausset- CDU/CSU und der FDP) zung. Es ist selbstverständlich, dass diejenigen, die leh- Das sind offenbar nicht die Kernfragen. Das zeigt die ren, sich natürlich auch weiterbilden müssen. PISA-Studie ganz deutlich. Deshalb gilt es jetzt, diese Die schwierige Arbeit von Lehrerinnen und Lehrern wichtigen Ergebnisse, die wir auf dem Tisch liegen haben, – ich stimme den Kollegen, die das gesagt haben, zu – zügig umzusetzen und nicht die nächsten zehn Jahre da- braucht mehr gesellschaftliche Anerkennung. mit zu verbringen, zu erörtern, ob das nun zu 90 oder zu 95 Prozent richtig ist. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ CDU/CSU, der FDP und der PDS) DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP und der PDS) Wir dürfen unsere Schulen nicht allein lassen. Wenn ich sage, dass Leben in die Schulen gebracht werden muss, so Denn dies würde bedeuten – lassen Sie mich das klar heißt das gleichzeitig, dass sich auch diejenigen, die in der sagen –, dass wir Lebenschancen von Hunderttausenden Kommunalpolitik, in den Betrieben, in den Vereinen und von Jugendlichen wieder verspielen und nicht ausrei- Organisationen Verantwortung tragen, für Kinder und Ju- chend ausschöpfen. gendliche und damit auch für Schulen mitverantwortlich Ich habe gesagt, die Empfehlungen liegen auf dem fühlen müssen. Tisch. Der wichtigste Punkt ist, dass unsere Kinder nicht Last, but not least: Wir wollen unseren Schulen mehr erst in der Lehre oder auf der Universität, sondern schon im Selbstständigkeit geben, sie vom bürokratischen Ballast Kindergarten und in der Grundschule stärker gefördert und befreien und sie durch mehr Eigenverantwortung für ihre gefordert werden müssen. Die Neugier und die Wissbe- schwierige Aufgabe, für die Zukunft stärken. gier, die Kinder in diesem Alter haben, müssen auch be- friedigt werden. Wir müssen darauf eingehen. Gerade hier (Beifall bei der SPD) müssen ihre sprachlichen Fähigkeiten gefördert werden. Wie wichtig und notwendig all dies ist, liebe Kollegin- Ich sage ganz offen: Ich würde mich sehr freuen, wenn El- nen und Kollegen, zeigen die Länder, die die besten Er- tern ihren Kindern zu Weihnachten ein tolles Buch schen- gebnisse erreicht haben: Finnland in Europa, Kanada ken – egal, ob Harry Potter oder Erich Kästner. (B) international. In diesen Ländern sind all die Vorausset- (D) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ zungen gegeben, die ich genannt habe. Wir können also DIE GRÜNEN) von anderen Ländern lernen, was wir besser machen kön- nen. Mit einem flächendeckenden Netz von Ganztagsschu- len – auch das hat die Studie gezeigt – können wir soziale (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ausgrenzung und Bildungsbarrieren abbauen. Wir kön- Ich habe nur einige der Punkte genannt, auf die wir uns nen damit auch Sprachkompetenz erhöhen und individu- im Forum Bildung verständigt haben. Die Verständigung elle Begabung, die wir brauchen, besser fördern. Lernen auf gemeinsame Ziele – lassen Sie mich das noch einmal braucht Zeit, auch das ist eigentlich eine Grundweisheit. sagen – ist ein riesiger Erfolg. Eine solche Verständigung Ganztagsschulen leisten außerdem einen wichtigen Bei- hat es in den 80er- und 90er-Jahren nicht gegeben. Ich trag zur besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie. wünsche mir, dass dieses Fundament erhalten bleibt und (Ulrike Flach [FDP]: Geben Sie denn auch dass wir auf dem Weg, den ich beschrieben habe, weiter Geld dafür?) vorangehen können. Die Bundesregierung wird dies tun. Die Zahl der Jugendlichen ohne Schulabschluss und Wir haben mit dem neuen BAföG dafür Sorge getra- ohne anerkannte Berufsausbildung muss dringend ge- gen, dass Bildungsbarrieren aufgrund finanzieller Ver- senkt werden. 1998 blieben 15 Prozent der Jugendlichen hältnisse abgebaut werden, dass Bildungsbarrieren für Ju- und der jungen Erwachsenen bei uns ohne abgeschlossene gendliche aus sozial benachteiligten Familien verringert Berufsausbildung. Diesen Menschen müssen wir mit werden. Wir haben mit dem Sofortprogramm JUMP und guten Qualifizierungsangeboten eine zweite und, wenn mit dem Ausbildungskonsens Jugendlichen eine zweite nötig auch eine dritte Bildungschance geben, wie wir es und eine dritte Chance gegeben. Wir haben mit den So- mit dem JUMP-Programm auch tun. zialpartnern die berufliche Bildung modernisiert und wir haben viele Modellversuche finanziert, um gerade den Ju- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gendlichen, die es in der Schule nicht geschafft haben, ei- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der nen Anschluss zu bieten. Wir haben erheblich mehr Geld CDU/CSU) in Bildung und Forschung investiert, allein in den letzten Jahren bis 2002 über 20 Prozent. Dieser Weg ist richtig Wir wollen das Bildungspotenzial junger Ausländer und diesen Weg gilt es jetzt fortzusetzen. besser erschließen. Grundfertigkeiten wie Lesen und Schreiben der deutschen Sprache sind dafür eine ent- Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen, PISA scheidende Voraussetzung. steht für uns in Deutschland heute nicht mehr nur für ei- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20615

Bundesministerin Edelgard Bulmahn (A) nen schiefen Turm, sondern zugleich für ein Bildungssys- Dezember verschiedene Konsequenzen zur Verbesserung (C) tem mit schwerer Schlagseite. Dem Turm dürfen wir ge- der schulischen Situation vorgeschlagen, die ganz deut- trost seine Schlagseite lassen, aber in der Bildung müssen lich die Handschrift der Union tragen. wir vieles gerade rücken. Die Bundesregierung wird das (Beifall bei der CDU/CSU – Jörg Tauss auch in den kommenden Jahren mit Nachdruck und Ener- [SPD]: Oh, oh, oh!) gie tun. Die CDU hat übrigens mit ihren bildungspolitischen Vielen Dank. Leitsätzen bereits Ende letzten Jahres den Aufbruch in die (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ lernende Gesellschaft gefordert. DIE GRÜNEN) (Jörg Tauss [SPD]: Selektion!)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat – Ich weiß nicht, ob Sie sich, Herr Tauss, noch entsinnen. jetzt die Abgeordnete Bärbel Sothmann. Anscheinend nicht. Wir alle wissen: Erfolgreiches Lernen setzt Erziehung Bärbel Sothmann (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau voraus. Diese Erziehung beginnt im Elternhaus. Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Erst (Zuruf der Abg. Dr. Ruth Fuchs [PDS]) TIMSS, nun PISA – das Ergebnis: eine deutsche Bil- dungskatastrophe. „Nicht zukunftsfähig“ heißt es. Das ist – Sie stören mich. nichts Neues. (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU) Die deutschen Jugendlichen liegen im bisher größten Deshalb sind Kompetenz und Erziehungsfähigkeit der internationalen Leistungsvergleich abgeschlagen weit Eltern durch Beratung und Weiterbildung zu stärken. hinten. Getestet wurden die Lesekompetenz sowie die mathematische und die naturwissenschaftliche Grundbil- (Beifall bei der CDU/CSU) dung. Bei der Lesekompetenz geht es um die Fähigkeit, Die Vorschulerziehung im Kindergarten muss verbessert angelesenes Wissen kreativ bei realistischen Alltagspro- werden. Bereits hier müssen wir Kinder aus Zuwanderer- blemen einsetzen zu können. Frau Ministerin, Sie haben familien, sozial schwächer gestellte sowie lernschwache das eben auch eindrucksvoll gesagt. Kinder besser integrieren. Gezielter Deutschunterricht ist Bemerkenswert ist, dass der Leistungsabstand in besonders für Kinder aus Zuwandererfamilien ein Muss. Deutschland zwischen den leistungsschwächsten und leis- (Beifall bei der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: tungsstärksten Jugendlichen am größten unter allen (B) Machen wir gerade! Stimmen Sie unseren Plä- (D) OECD-Staaten ist. Deutschland gelingt es also anschei- nen zu!) nend nicht wie anderen Ländern, die schwachen Schüler zu fördern und die Bildungsdefizite von sozial schwachen In diesem Zusammenhang ist es auch wichtig, Herr Tauss, Familien auszugleichen. Dieses Bild passt gut zu den Kla- das Alter für den Familiennachzug von Kindern aus Zu- gen deutscher Unternehmen und Hochschulen, dass die wandererfamilien auf zehn Jahre zu senken. Später ist deutschen Schulabgänger allzu oft nicht einmal richtig le- nämlich eine Integration kaum noch oder überhaupt nicht sen, schreiben und rechnen können – und dies im Zeital- mehr möglich. ter der Globalisierung, im Zeitalter der Wissens- und In- (Beifall bei der CDU/CSU) formationsgesellschaft, in einer Zeit, in der das Schlagwort vom lebenslangen Lernen den Takt angibt, Bereits in der Grundschule muss auch wieder mehr auf die Leistung geschaut werden. Es muss Schluss sein mit (Beifall bei der CDU/CSU) der Auffassung, Kinder brauchen keine Zensuren. Das in einem Land, das kaum Rohstoffe hat, dessen Kapital Motto muss lauten: Fördern und fordern! zumindest bisher in seinen Köpfen bestand, in einem (Beifall bei der CDU/CSU – Zurufe von der Land, das als Hightechland mit Spitzenprodukten „Made SPD) in Germany“ Weltruf erlangt hat. Wir brauchen Mindeststandards zur Sicherung der Unter- Die Folgen des Bildungsnotstands: Der jetzt schon be- richtsqualität und spätestens beim Abitur bundesweit ver- stehende Fachkräftemangel wird sich weiter verschärfen, gleichbare Leistungsbewertungen wie in anderen Staaten. wir werden den internationalen Anschluss im Hightech- Die Lehrinhalte müssen praxisorientierter sein. Sie sind bereich verlieren und uns letztendlich auch von unserer vor allem auch den Erfordernissen der Arbeitswelt anzu- Wohlstandsgesellschaft verabschieden müssen, wenn es passen. Neben Lesen, Schreiben und Rechnen müssen so weitergeht. auch Fremdsprachen und Schlüsselqualifikationen wie (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Lernfähigkeit, Selbstständigkeit und Medienkompetenz so früh wie möglich vermittelt werden. Denn reines Fach- Meine Damen und Herren, unsere Jugendlichen sind wissen veraltet heute viel zu schnell; das wissen wir alle. nicht dümmer als die Jugendlichen in anderen Ländern. Sie haben diese Ohrfeige nicht verdient. Deshalb müssen Wir brauchen außerdem mehr Ganztagsunterricht, eine wir jetzt schnell und sachgerecht handeln. An guten Rat- bessere Eliteförderung, mehr und besser aus- und fortge- schlägen fehlt es ja nicht. Die Kultusministerkonferenz bildete Lehrer, eine Unterrichtsgarantie und mehr Geld hat kurz nach Veröffentlichung der PISA-Studie Anfang für die Bildung, mehr Investitionen in die Bildung. 20616 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001

Bärbel Sothmann (A) Dass Maßnahmen wie diese greifen, zeigt das Beispiel Das Bildungssystem in Deutschland braucht mehr (C) anderer Staaten, aber auch von einigen unionsregierten Wettbewerb. Das sage ich nicht, weil Olaf Henkel dies zu- deutschen Bundesländern, zum Beispiel von Bayern und fällig heute sagte, sondern weil wir mit den Ergebnissen Baden-Württemberg. der PISA-Studie die Quittung für Qualitätsstau, für feh- lenden Mut und für Gleichmacherei zulasten der Schwa- (Beifall bei der CDU/CSU – Lachen des Abg. chen erhalten haben. Dabei geht es übrigens nicht darum, Jörg Tauss [SPD]) Bildung zu privatisieren, sondern darum, die bildungspo- Die Leistungen der Schüler sind dort offensichtlich besser litische Verantwortung des Staates effektiv zu organisie- als in vielen rot-grün-regierten Ländern, Herr Tauss. ren. Dieser Aspekt ist für die Zukunft entscheidend. Ge- rade in Ostdeutschland ist die Entwicklung von einem (Manfred Grund [CDU/CSU]: Bei Herrn Tauss staatlich-zentralistisch organisierten Bildungssystem hin hätte selbst Bayern nichts genützt!) zu einem pluralistischen Bildungssystem mit mehr pä- Ich bin sicher, dass die für 2002 erwarteten Ergebnisse der dagogischer Freiheit wichtiger denn je. Schaut man sich PISA-Studie für die einzelnen Bundesländer dies bestäti- an, wie gering ausgeprägt die Zustimmung zur Demokra- gen werden. tie unter jugendlichen Schülerinnen und Schülern in Ost- deutschland im Vergleich zu Westdeutschland ist, dann So peinlich die PISA-Studie ist, meine Damen und wird deutlich, wie wichtig es ist, die Demokratie in unse- Herren, sie zeigt uns den Weg, wie auch unsere Jugend ren Schulen zu stärken. wieder für den internationalen Wettbewerb fit werden kann. Ich hoffe sehr, dass der Schock von PISA jetzt ei- Die Entwicklung von Demokratieverständnis in der nen harten Wettbewerb zwischen den Bundesländern um Schule ist für die Entwicklung der Demokratie im Staat aus- das leistungsfähigste Schulsystem auslöst. Das wünsche schlaggebend. Auch die Zahlen über rechtsextreme Einstel- ich uns und den Schülern. lungen und vor allen Dingen über das Hinnehmen solcher Einstellungen bei Jugendlichen, aber auch in der Schule (Beifall bei der CDU/CSU – Jörg Tauss [SPD]: selbst sprechen eine eindeutige und alarmierende Sprache. Ausgerechnet Baden-Württemberg! Mein lie- ber Mann! – Gegenruf des Abg. Manfred Grund Wir brauchen Schulen, die kreativ und frei sein können [CDU/CSU]: Ausgerechnet Tauss!) und sich nicht an Vorschriften messen. Die Ministerin hat auf die Autonomie der Schule hingewiesen. Da geht es um Eigenverantwortung sowie um Transparenz der Angebote Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat und Leistungen der Schulen, die sich dem Vergleich stel- jetzt die Abgeordnete Katrin Göring-Eckardt. len müssen. Da geht es um Gestaltungsfreiheit, um eigene Entscheidungsrechte bis hin zur Personalhoheit. Die ein- (B) (D) Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- zelne Schule kann nur qualitätssichernd arbeiten, wenn NEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kol- sie wirklich Verantwortung übernehmen kann. legen! Frau Sothmann, mit dem Satz „Sie stören mich“ (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN haben Sie uns fast eine Lehrvorführung von Frontalunter- sowie bei Abgeordneten der SPD) richt und Abmeierei gegeben, wie es sie hoffentlich nur noch an wenigen Schulen Deutschlands gibt. Der Staat kann dafür nur Rahmenbedingungen schaffen, damit alle Schülerinnen und Schüler gleiche Bildungs- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN so- chancen erhalten und Bildungshindernisse abgebaut wer- wie bei Abgeordneten der SPD – Bärbel den. Sothmann [CDU/CSU]: Ich habe mich ja selbst kaum noch gehört! Das war das Problem! – Wir haben heute einen Anteil der Hortbetreuung an un- Angelika Volquartz [CDU/CSU]: Sie hat ja seren Schulen von gerade einmal 30 Prozent, obwohl wir Recht!) genau wissen, dass die Schule als Ganztagsschule mit ent- sprechenden Erziehungskonzepten den Anspruch erfüllt, Ich glaube, dass die Schule in unserem Land vor allem nicht nur Lern-, sondern auch Lebensort zu sein. Natür- an einem krankt: an zu viel Beharrungsvermögen. Des- lich tragen die Elternhäuser Verantwortung. Aber da, wo wegen bin ich sehr froh darüber, dass das, was die Frau sie sie nicht wahrnehmen oder nicht wahrnehmen können, Ministerin hier über das Forum Bildung gesagt hat, uns steht der Staat in der Pflicht. zumindest die Chance eröffnet, dass es damit ein Ende hat und dass es Bewegung gibt, zumal wir uns an diesem Angesichts der Tatsache, dass es inzwischen Länder Punkt offensichtlich einig sind. gibt, die jedes Kind am Anfang der Schulzeit mit einem Musikinstrument ausstatten, sollten wir uns zumindest (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN fragen, was damit für Erfolge erzielt werden. Denn die und bei der SPD) Fähigkeit zur Gemeinsamkeit wird beispielsweise auch An der Debatte, die wir heute führen, finde ich proble- durch gemeinsames Musizieren erlernt. matisch – das hat mit dem Ergebnis der Studie zu tun –, (Jörg Tauss [SPD]: Sehr gut!) dass Pluralismus und Beförderung der freiheitlichen Bür- Frau Ministerin, ich glaube, das ist mindestens so wichtig gergesellschaft, die in der Schule zu Hause sein sollten, wie die Einführung von Computern an allen Schulen. angesichts fehlender Primärfähigkeiten fast in den Hin- tergrund treten. Auch das muss Thema dieser Debatte (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sein. sowie bei Abgeordneten der SPD) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20617

Katrin Göring-Eckardt (A) Das ist nur ein Beispiel. Dazu passt auch, wie in den „Stuttgarter Nachrichten“ (C) zu lesen war, dass für den bayerischen Ministerpräsiden- Können wir denn wirklich wollen, dass Kinder aus so- ten Stoiber die schlechten Ergebnisse offensichtlich damit zial schwachen oder aus Migrantenfamilien zwar beim zu erklären sind, dass in Deutschland zu viele türkische gruseligsten Fernsehfilm von „RTL“ mitreden können, Kinder zu wenig Deutsch können. nicht aber, wenn es um den goldenen Drachen der Weisheit, um den kleinen König Dezember oder um die Auch andere Industrieländer haben eine hohe Zahl von Qualität von Nimbus 2000, dem Flugbesen von Harry Ausländerkindern in der Schule, die zu Hause oft eine an- Potter, geht? dere Sprache sprechen als die, die in der PISA-Studie un- tersucht wurde. Gleichwohl gelingt es Ländern wie Nor- Es gibt noch ein anderes Thema, das den Osten wegen, Schweden, Österreich und der Schweiz, bei fast Deutschlands betrifft. Es geht nämlich um die Frage, wie gleichen Problemen eine deutlich bessere Förderung hin- gesellschaftlicher Wandel gestaltet wird. Es gibt einen zubekommen. Mögliche Erklärungen sind: mehr Förde- Stau an den Schulen im Osten. Die Lehrerinnen und Leh- rung schon im Kindergarten, rer in Ostdeutschland, von denen sich einige wirklich bemühen, etwas voranzubringen, haben wenig Chancen, (Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD]) dieses tatsächlich zu tun, weil sie in Lehrerkollegien ar- Ganztagsschulen, in denen die Kinder länger am Tag mit beiten, die sich seit zehn Jahren nicht mehr verändert und anderen Kindern die Sprache des Gastlandes sprechen, damit nicht verjüngt haben, weil sie in Lehrerkollegien ar- beiten, deren alte Methoden nur sehr mühsam durch neue (Beifall des Abg. Jörg Tauss [SPD]) ersetzt werden, bei denen Demokratie keine Rolle spielt sowie spezieller Förderunterricht. und bei denen reine Wissensvermittlung stattfindet. Hier muss in der Tat etwas geschehen – und zwar sehr schnell, Frau Volquartz und Frau Sothmann, auch der Ruf nach sonst haben wir die Zukunft der ostdeutschen Länder auch mehr Benotung hilft uns nicht weiter. an dieser Stelle verbaut. Es geht um Erziehungsziele wie (Bärbel Sothmann [CDU/CSU]: Nicht nach die Fähigkeit zur Gemeinschaft und Selbstbestimmung, mehr, sondern überhaupt!) wie die Vermittlung der Fähigkeit, Konflikte zu verarbei- ten und die eigene Leistungsfähigkeit sowie eigene Leis- Sie nehmen zum Beispiel schlichtweg nicht zur Kenntnis, tungsgrenzen zu kennen. dass es Finnland – ein Land, das mit am besten abge- schnitten hat – den einzelnen Schulen bis zur neunten Gerade in den ostdeutschen Ländern wird es auf Plura- Klasse überlässt, ob sie überhaupt und wie sie benoten. lismus ankommen. Es wird ferner darauf ankommen, Sie interpretieren einseitig parteipolitisch, sodass es fast auch freie Schulen – also Schulen, die nicht in staatlicher (B) unerträglich ist. (D) Trägerschaft sind – zu fördern und mit Finanzmitteln auszustatten, die es ermöglichen, dass nicht weiter Schul- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ geld bezahlt werden muss. Wenn man sich einmal die Er- DIE GRÜNEN) folge dieser Schulen im Rahmen der PISA-Studie ansieht, Wir müssen doch zur Kenntnis nehmen, dass die von dann kann man sagen, dass dort gerade die Fähigkeiten den Kindern in die Schule mitgebrachten Probleme – es vorhanden sind, deren Fehlen wir sonst beklagen. Viel- geht um die Probleme der Orientierung und die Probleme leicht wird uns das weiterhelfen. aufgrund der häuslichen Beanspruchung – den Unterricht Ich habe meinen Sohn angerufen und gefragt, was wir belasten und einen über den Unterricht hinausgehenden tun sollen, wenn uns nichts mehr einfällt, um aus dem Aufwand verlangen. Von daher trägt es sowohl bei den El- vorhandenen Reformstau herauszukommen. Er hat ge- tern als auch bei den Schülern und den Lehrern zur Frus- sagt: Sagt einfach Alohomora. – Das ist der Zauberspruch, trierung bei, wenn Sie nur mehr Erziehung und Leistung der alle Türen öffnet. einfordern, gleichzeitig aber die Bedingungen, unter de- nen Schule stattfindet, nicht verändern. Wir müssen doch Vielen Dank. die Bedingungen, aufgrund deren es zu schlechten Ergeb- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nissen kommt – dies müssen wir zur Kenntnis nehmen –, und bei der SPD) ändern. (Bärbel Sothmann [CDU/CSU]: So ist es!) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat – Eben. Wir dürfen es aber nicht so einseitig interpretie- jetzt die Abgeordnete Brigitte Wimmer. ren, wie Sie das machen. Das führt in die Irre. Es ist schlichtweg nicht zu übersehen, dass in all den Brigitte Wimmer (Karlsruhe) (SPD): Frau Präsiden- Ländern, die besser abschneiden, Ganztagsschulen die Re- tin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Damen gel sind. Die Menschen in der Bundesrepublik und spezi- und Herren von der Union, wer die Ergebnisse der PISA- ell in den Ländern, in denen Ihre Partei regiert, sind wirk- Studie so einseitig parteipolitisch interpretiert, der trägt lich arm dran, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. garantiert nicht zur Lösung der Probleme bei. (Zuruf von der CDU/CSU: Das steht nicht in (Beifall bei der SPD – Heinz Wiese [Ehingen] dem Bericht! – Weiterer Zuruf von der CDU/ [CDU/CSU]: Was haben wir denn jetzt schon CSU: Lesen Sie einmal den „Spiegel“! Dann wieder verbrochen?) wissen Sie, was los ist!) 20618 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001

Brigitte Wimmer (Karlsruhe) (A) In Baden-Württemberg zum Beispiel sind ganze 112 von Für die SPD-Fraktion sage ich: Wir sind Bundesbil- (C) den 4 500 allgemeinbildenden Schulen Ganztagsschulen. dungspolitiker, umsetzen müssen es die Länder – das ist Wenn das nicht ärmlich ist, dann weiß ich nicht, was man wohl wahr. Wir können aber Wünsche und Bitten äußern. als ärmlich bezeichnen kann. Deshalb kann ich nur sagen: Kolleginnen und Kollegen in (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ den Ländern, Bildungspolitiker und Finanzpolitiker, in- DIE GRÜNEN) terpretiert die PISA-Studie bitte dahin gehend, dass wir mehr Ganztagsschulen brauchen, weil diese einen Beitrag In Bayern und zugegebenermaßen auch in einigen sozialde- zur Chancengleichheit in unserem Land leisten. mokratisch regierten Ländern sieht es nicht viel besser aus. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Angelika Volquartz [CDU/CSU]: In allen!) DIE GRÜNEN) – Nein, nicht in allen. Es gibt einige Länder – ich nenne als Stichworte Hamburg, Bremen und Rheinland-Pfalz –, Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat in denen die Ergebnisse hier sehr viel besser sind. jetzt der Abgeordnete . Deswegen bin ich sehr froh, dass das Forum Bildung in Gestalt der Ministerin gemeinsam mit Herrn Zehetmair Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land) (CDU/CSU): Frau geschrieben hat: Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Lebenschancen werden zunehmend durch den Grad sehr verehrten Damen und Herren! „Unser Bildungssys- von Bildung und Qualifizierung bestimmt. Die Fol- tem genießt traditionell einen guten Ruf.“ So lautet der gen von Chancenungleichheit in Bildung und Aus- erste Satz der Präambel zu den abschließenden Empfeh- bildung sind daher heute erheblich einschneidender lungen des Forums Bildung von Ende November dieses als vor 30 Jahren. Jahres. Das Bildungssystem hat die Voraussetzungen dafür Eine Woche später war es schon vorbei mit den Illu- zu schaffen, dass alle Menschen, unabhängig von sionen vom vermeintlich guten Ruf unseres Bildungssys- ihrem Geschlecht, ihrem sozialen und wirtschaft- tems; denn mit der PISA-Studie hat die OECD Deutsch- lichen Hintergrund und ihrer ethnischen und kultu- land den Kassenzettel für die 68er ausgestellt, zumindest rellen Herkunft, Bildungsangebote wahrnehmen im Bildungsbereich. können, die ihren Interessen und Fähigkeiten ent- sprechen. Förderung von Chancengleichheit bedeu- (Beifall bei der CDU/CSU – Lachen bei der tet insbesondere die Überwindung von Barrieren, die SPD – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: (B) einer gleichberechtigten Teilnahme an Bildung und Was ist das denn für ein Unsinn? Dass Sie sich (D) einer optimalen Förderung entgegenstehen. dafür nicht zu dumm sind!) Dafür sind Ganztagsschulen hervorragend geeignet, weil Die Feststellungen von Tatbeständen in der PISA-Studie sie ein anderes pädagogisches Konzept haben. sind in der Tat Momentaufnahmen einer langfristigen Ent- (Beifall bei der SPD) wicklung, die nicht überrascht. Einige Vorrednerinnen und Vorredner haben darauf schon hingewiesen. Ganztagsschulen wären unzulänglich, wenn es durch sie nur zu einer Verlängerung der Schule bis in den Nach- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Der mittag hinein kommen würde. Mithilfe der Ganztags- bildungspolitische Karneval findet jetzt hier schulen besteht die Chance, durch eine andere Struktur statt!) des Unterrichts, der Freizeit und des sozialen Lernens eine Wenigstens den verantwortungsbewussten pädagogi- Schule zu realisieren, die den heutigen Bedürfnissen der schen Führungskräften selbst war klar, dass durch die Kinder angemessen ist. Dazu sind freilich die Erarbeitung ständige Verschlechterung der Rahmenbedingungen das eines anderen Schulkonzepts und die Erweiterung des Lernen der Schüler erschwert wird. Lehrerkollegiums notwendig. Ich bin zum Beispiel davon überzeugt, dass das Lehrerkollegium dann auch sehr viel (Hans-Werner Bertl [SPD]: Schade, dass wir mehr sozialpädagogisch ausgebildet werden muss. keine Noten vergeben dürfen!) Zum Schluss möchte ich auf einen Bericht in der „Ber- Schuldig an dem heutigen Desaster ist sicherlich nicht liner Morgenpost“ vom Dienstag hinweisen. Dort steht nur eine Gruppe allein. Die Wertestrukturen, wie sie ein wunderschöner Bericht über die Wilhelm-von-Steu- früher bestanden, haben sich verändert, bestehen so nicht ben-Gesamtschule in Potsdam. Eine Schülerin sagt auf mehr. die Frage, was sie denn von ihrer Schule halte: (Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Vor allen Ganz toll. Hier kann ich lernen und gleichzeitig Dingen in den 80ern und 90ern!) Hausaufgaben machen. Komme ich dann nach Hause, habe ich meine Freizeit. Die Schule ist insofern ein Spiegelbild unserer Gesell- schaft. Notwendig ist daher – darauf weise ich besonders Das findet sie und das finden ihre Eltern gut. Die Schul- hin – eine ehrliche, ideologiefreie Analyse der gesell- leiterin sagt: „Vom guten Schulklima profitieren alle.“ schaftlichen Entwicklung, insbesondere aber der Ent- (Siegfried Scheffler [SPD]: Das ist auf den wicklung des Bildungssystems in den vergangenen Punkt gebracht!) 30 Jahren. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20619

Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land) (A) Die Lehrer sind als Erziehungsersatz für das fehlende, PISA-Studie sind lediglich Versuche, ihr bisheriges Ver- (C) ehemals Werte vermittelnde Elternhaus überfordert. Die sagen zu vertuschen. Die Schüler sind nicht für die Anzahl der intakten Elternhäuser nimmt seit Jahrzehnten ideologischen Spielchen der Bildungspolitiker und Ver- ab. Wir müssen wissen – das ist wichtig –, dass Lehrer bandsvertreter da, sondern die verantwortlichen Bil- nicht die Versäumnisse des Elternhauses ausgleichen kön- dungspolitiker und Verbandsvertreter sind dafür da, für nen. eine ordentliche Bildung der Schüler Sorge zu tragen. (Beifall bei der CDU/CSU) (Zuruf von der SPD: Grottenschlecht ist der Mann!) Die Schulpolitiker haben schließlich im Einvernehmen mit den Gewerkschaften, Lehrerverbänden, Elternbeirä- Jeder junge Mensch hat doch, und zwar ohne Rück- ten usw. – es waren alle dabei – die Spaßschule eingeführt. sicht auf Herkunft und wirtschaftliche Lage, das Recht auf eine seinen Begabungen entsprechende Erziehung und (Hans-Werner Bertl [SPD]: Was?) Ausbildung. Daran müssen sich die Verantwortlichen In den Grundschulen wurden die Noten abgeschafft, ein- endlich orientieren, statt ständig zu meinen, durch geführt wurden Spielecken statt Lernangeboten, Ku- Gleichmacherei etwas erreichen zu können. Akzeptieren scheln statt Motivieren, menschliche Nähe statt Leis- Sie endlich, dass es unterschiedliche Niveaus gibt, auch tungsanreizen. bei den Menschen, bei Kindern und bei Älteren, (Lachen bei der SPD – Wilhelm Schmidt [Salz- (Dr. Reinhard Loske [BÜNDNIS 90/DIE gitter] [SPD]: Jetzt werden wieder alle Vorur- GRÜNEN]: Bei Redebeiträgen auch!) teile präsentiert! Das ist so lächerlich!) und betreiben Sie endlich eine vernünftige Elitenförde- – Ich glaube schon, dass Sie das nicht hören wollen, aber rung! es sind Tatsachen. (Beifall bei der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Nein! [Salzgitter] [SPD]: Bei der PISA-Studie für Ab- Das ist einfach Blödsinn!) geordnete wäre er durchgefallen!) Ehrliche Benotungen gibt es nur noch selten, allenfalls noch „gut“ und „sehr gut“, wie übrigens auch bei Ar- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat beitszeugnissen. Die Noten sind daher, wo noch vorhan- jetzt die Abgeordnete Christel Humme. den, nicht mehr ehrlich und haben ihre Funktion als Leistungsbarometer und insbesondere als Leistungsanreiz Christel Humme (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kol- (B) für die Schüler verloren. legen und Kolleginnen! „Deutschland: Setzen! Sechs!“ – (D) Die Bildungspolitiker haben in der Vergangenheit mit diesem niederschmetternden Zeugnis der PISA-Stu- durch ständige Veränderungen die schulische Unterforde- die steht scheinbar unser gesamtes Schulsystem und rung von Schülern zum Leitbild erhoben. Die verbreitete – mehr noch – unser gesamtes Erziehungssystem zur Dis- Orientierung der Lernziele und der Förderung an den position. Letzten in den Klassen unterfordert natürlich viele „Setzen! Sechs!“ ist auch das Zeugnis für jahrzehnte- Schüler. lange ideologisch geprägte Auseinandersetzungen über Nicht umsonst hat die „Bild“-Zeitung am 6. Dezember unsere bildungspolitischen Leitlinien, geschrieben – ich zitiere –: (Zuruf von der SPD: Das ist wohl wahr!) (Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) wie wir sie gerade auch in der vorhergehenden Rede Kinder wollen lernen, hören konnten. Opfer sind die heute 15- und 16-jährigen Schüler und Schülerinnen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Und es gibt keine unmotivierten Erstklässler. Dazu wer- manche Abgeordnete der CDU!) den sie erst gemacht: von Lehrern und von einem Schulsystem, dem Leistung verdächtig zu sein Das belegt die PISA-Studie eindeutig. Sie sind 1985 ge- scheint. boren, und zwar geboren in eine Gesellschaft, die die El- tern mit ihrem Erziehungsauftrag im Wesentlichen allein Wo die „Bild“-Zeitung Recht hat, hat sie Recht. gelassen hat. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – La- (Zuruf von der SPD: Verkohlte Jugend!) chen bei der SPD – Wilhelm Schmidt [Salzgit- ter] [SPD]: Die „Bild“-Zeitung ist die Leitkul- Sie sind Opfer konservativer Leitlinien in der Bildungs-, aber auch in der Familienpolitik. tur der CDU/CSU-Bildungspolitiker!) Frühkindliche Erziehung in Kindertagesstätten und Der Leistungsgedanke muss also wieder Eingang in die Ganztagsschulen galten immer – für manche, wie Herrn Schulen finden. Das Motto muss heißen: Fordern, for- Fischer, bis heute – als Teufelswerk. PISA dagegen – dern, fordern – und nicht nur fördern. wenn Sie diese Studie gelesen hätten, Herr Fischer, wüss- Die jetzt gemachten wortreichen Verbesserungsvor- ten Sie das – belegt: Sie sind die zentralen Voraussetzun- schläge der Verantwortlichen als Konsequenz aus der gen für erfolgreiches Lernen. Das ist fast überall auf der 20620 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001

Christel Humme (A) Welt bekannt. Nur in Deutschland glaubte man jahrzehn- strengungen besonders auf den Bereich der frühkindli- (C) telang, mit einem Familienleitbild weiterzukommen, das chen Förderung. nicht zukunftstauglich war und ist. Die Rollenzuweisung Nehmen wir uns an den Kanadiern ein Beispiel! Be- war – und ist bei einigen immer noch – eindeutig: die Mut- greifen wir PISA nicht als niederschmetterndes Zeugnis, ter als Hüterin der Kinder und der Vater als Ernährer der sondern als Chance! Familie. Soziale Kontakte für Kinder mussten privat or- ganisiert werden. Damit blieb die Förderung der Kinder (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Privatangelegenheit. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Während sich die einen eine ideologisch geprägte Aus- einandersetzung über Ganztagsbetreuung und Ganztags- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat schulen lieferten, machten andere Kasse: mit einem Nach- jetzt der Abgeordnete Gerhard Friedrich. mittagsangebot an Nachhilfe. Studienkreise, Klubs für (Hans-Werner Bertl [SPD]: Jetzt müssen Sie Kids und so weiter glichen gegen Bezahlung aus, was aber viel gutmachen! – Wilhelm Schmidt [Salz- Schule und Elternhaus nicht vermochten. Kein Wunder gitter] [SPD]: Jetzt nicht noch mal die „Bild“- also, wenn PISA belegt, dass in keinem anderen Land die Zeitung!) soziale Herkunft so entscheidend für die Bildungschan- cen ist wie in Deutschland. Dr. Gerhard Friedrich (Erlangen) (CDU/CSU): Frau Es ist höchste Zeit zum Umdenken. Wir haben seit der Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich be- Regierungsübernahme begonnen, neue Wege in der Bil- wundere solche Kolleginnen wie Frau Wimmer, die uns dungs- und in der Familienpolitik zu beschreiten. Für uns schon heute mitgeteilt hat – manche haben gesagt, wir hät- Familienpolitiker und Familienpolitikerinnen ist Chan- ten noch nicht alle Informationen zur Kenntnis genom- cengleichheit das primäre Ziel. Wir wollen die Gleich- men –: In Finnland ist alles in Ordnung. stellung von Frauen und Männern, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf und die Bildungsbeteiligung von Kin- (Jörg Tauss [SPD]: Wir bewundern dafür dern und Jugendlichen unabhängig von ihrer sozialen Fischer!) Herkunft. Ich weiß nicht, wie die Verhältnisse in Finnland sind. Laut Viele Reformen für Familien haben wir bekanntlich „Focus“ – zufällig habe ich mir die entsprechende Seite schon verabschiedet. Doch die wichtigste Voraussetzung herausgerissen – gibt es dort erstens einen ganz geringen für die Umsetzung unserer Ziele ist eine gute Betreuung Ausländeranteil. Zweitens steht dort wörtlich: und Förderung unserer Kinder in Ganztagseinrichtungen. Nur Kindern, die die Landessprache beherrschen, (B) Die PISA-Studie bestärkt uns in unseren familienpoli- wird der Schulbesuch gestattet. (D) tischen Zielen, nimmt sie doch die letzten Zweifel, dass Frau Kollegin, ich weiß nicht, ob das stimmt. Aber Eltern Rabenmütter und Rabenväter sind, wenn sie ihre seien Sie einmal etwas vorsichtiger mit Ihren Aussagen. Kinder in eine Ganztagsbetreuung geben. Ganztagsbe- Wenn das stimmt, dann sind die dort ja unwahrscheinlich treuung ist nicht nur ein Service für Eltern, sondern ins- ausländerfreundlich. besondere eine Chance für Kinder. Kindertageseinrich- tungen, Horte und Ganztagsschulen sind vor allem Orte (Beifall bei der CDU/CSU) von Bildung und Förderung. Warten Sie einmal die Feinanalyse ab, wenn wir die bei- Das Forum Bildung ist schon vor der Veröffentlichung den Systeme miteinander verglichen haben. der PISA-Studie zu gleichen guten Ergebnissen gekom- Kollege Rossmann, der als Erster zu diesem Thema ge- men. Wir haben das ja vorhin hören können. sprochen hat, hat gesagt, es sei ein Desaster festgestellt Bildungspolitik ist Familienpolitik und Familienpoli- worden. Andere sprechen von einem Schock. Ich möchte tik ist auch Bildungspolitik. Dabei ist uns klar: Die Ver- denjenigen Recht geben, die sagen: Das, was jetzt heraus- besserung des deutschen Bildungssystems ist nicht zum gekommen ist, wussten wir im Prinzip. Nulltarif zu haben. Wenn wir den Anschluss an die inter- (Beifall bei der CDU/CSU) nationale Spitze gewinnen wollen, müssen wir mehr in Bildung investieren. Die Bundesregierung kann aber Seit 1997 liegt uns die TIMSS-Studie vor, die zu ähnli- nicht allein für mehr Ganztagsbetreuung sorgen. Deutsch- chen Ergebnissen kam. Ich bin in keinen neuen Schock- land zum Spitzenreiter in Sachen Bildung zu machen ist zustand geraten. Problematische Feststellungen sind viel- gemeinsame Aufgabe von Gemeinden, Ländern und mehr bestätigt worden. Die Diagnose wird mit jedem Bund. Ein föderatives Gipfeltreffen von kommunalen internationalen Leistungsvergleich genauer. Spitzenverbänden, Ländern und Bund wird Anfang des Ich bin dagegen, pauschal zu sagen, wir seien fürchter- Jahres 2002 auch dafür die notwendigen Weichenstellun- lich schlecht. gen vornehmen. (Zurufe von der SPD: Ja!) Liebe Kollegen und Kolleginnen, Kanada, ein Spitzen- reiter in der PISA-Studie, gehörte vor wenigen Jahren Unser Durchschnitt ist statistisch gesehen im unteren Mit- selbst noch zum Mittelmaß. Den Kanadiern ist es inner- telfeld angesiedelt. Aber das betrifft nicht alle Schülerin- halb kurzer Zeit gelungen, ihr Bildungswesen erfolgreich nen und Schüler. Wenn ich es richtig verstanden habe, so zu machen. Dabei konzentrierten die Kanadier ihre An- fehlt uns eine ausgesprochene Elite. Das hängt wohl da- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20621

Dr. Gerhard Friedrich (Erlangen) (A) mit zusammen – ich will das aber gar nicht fordern –, dass da nicht hinein; ich will es auch nicht. Eine Ganztags- (C) bei uns kaum Privatschulen existieren. schulpflicht soll es nicht geben. Darüber hinaus haben wir eine Gruppe Leistungsstar- (Beifall bei der CDU/CSU) ker, die der entsprechenden Größe in anderen Ländern Eine letzte Anmerkung zur FDP. Wir haben in der Bil- durchaus vergleichbar ist. Ich entschuldige mich doch nicht für alles. Es gibt doch nicht nur Versager in unseren dungspolitik ab und zu Probleme zusammenzukommen. Schulen und den Ländern. Die Frau Kollegin Pieper hat gesagt: Wir brauchen einen nationalen Bildungsgipfel. Beantragt ist ein nationaler (Jörg Tauss [SPD]: Ja!) Bildungsbericht. Erwähnt worden ist eine große Offen- Das eigentliche Problem ist die zu große Gruppe der sive. Ich sage dazu: ausgesprochen Leistungsschwachen. Erstens. Wir haben gelernt, dass es nicht vor allem um (Beifall bei der CDU/CSU) mehr Geld, sondern um die Inhalte und Ziele von Bildung geht. Diese setzt sich aus Kindern zusammen, die aus so ge- nannten einfachen Verhältnissen und speziell aus Zuwan- (Ulrike Flach [FDP]: Das eine schließt das an- dererfamilien stammen. In diesem Zusammenhang müssen dere nicht aus!) wir überlegen: Was können wir tun? Mein Kollege Axel Darum ist der große Milliardensegen ein ziemlicher Un- Fischer hat Recht, wenn er sagt – dies ist nicht im Sinne ei- sinn. nes Vorwurfes, sondern als objektive Feststellung ge- meint –: Als Erstes einmal haben die Familien versagt. – Zweitens. Eine national einheitliche Lösung ist nicht Die Schulen schaffen es nicht, diese Dinge aufzuarbeiten unbedingt eine gute Lösung. Deshalb bin und bleibe ich und den Betroffenen zu helfen, über die Barrieren, die ein Anhänger von Wettbewerb auch zwischen den Schul- sich ihnen aufgrund ihrer Herkunft stellen, hinwegzu- systemen der Länder. Die internationalen Vergleichs- kommen. Die Schulen werden es auch nicht bei allen studien werden, wie schon die TIMSS-Studie, diesen schaffen. Aber sie müssten bei der Lösung dieses Pro- Wettbewerb verschärfen. Einige müssen ihre Bildungs- blems besser werden. konzepte ändern oder der Wähler ändert die Zusammen- setzung der entsprechenden Landesregierungen. Jetzt ist man sich offensichtlich hinsichtlich des Re- zeptes einig, was man am Beschluss der Kultusminister- Vielen Dank. konferenz und an dem sieht, was Frau Ministerin (Beifall bei der CDU/CSU) Bulmahn mit Herrn Zehetmair und all ihren Kolleginnen (B) und Kollegen im Forum Bildung verabschiedet hat. Wir (D) brauchen möglichst früh mehr individuelle Förderung, Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Als Letzter hat vielleicht sogar schon im Kindergarten und in der Vor- der Kollege Jörg Tauss das Wort. schule, spätestens aber in der Grundschule; da sind wir uns doch einig. Jörg Tauss (SPD): Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle- Doch es gibt auch gewisse Unterschiede: Frau Minis- gen! Herr Kollege Friedrich, ich stimme Ihnen zu: Wenn terin Bulmahn sagt, sie sei gegen eine frühe Selektion. wir über PISA reden, sollten wir nicht nur dramatisieren. Frau Böttcher von der PDS hat gesagt, sie sei gegen eine Was ist geschehen? 15-Jährige wurden einem internatio- Auslese. Wenn ich Kinder individuell fördern möchte, nalen Test der Lese-, Rechen- und Schreibkompetenz un- kann ich doch nicht die Leistungsstarken und die Leis- terworfen und haben dabei schlecht abgeschnitten. Übri- tungsschwachen in einer Gruppe zusammenfassen. gens, Herr Kollege Fischer, wurden diese Kinder alle (Beifall bei der CDU/CSU) geboren, als gerade Herr Kohl, der „Alt-68er“, regierte. Zu seiner Regierungszeit gingen sie auch in die Schule. An welchem Niveau orientiere ich mich denn dann bei meinem Unterricht? (Angelika Volquartz [CDU/CSU]: Länderkom- petenz! Keine Bundespolitik!) Ich muss noch mehr lachen, wenn ich lese: Frau Mi- nisterin Bulmahn ist gegen Selektion. – Gleichzeitig Aber lassen wir dies heute einmal beiseite und reden wir möchte Niedersachsen die Orientierungsstufe abschaffen. über die tatsächlichen Probleme. (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Ja, genau!) Die Kompetenzen Lesen, Rechnen und Schreiben kann man erwerben. Ich selbst bin übrigens ein Beispiel dafür, Also die Ministerin von Niedersachsen ist da nicht Ihrer wie hoffentlich alle hier. Meinung. (Ulrike Flach [FDP]: Da sind wir uns nicht so In einem Punkt sind wir uns einig: Wer individuell för- sicher, Herr Tauss!) dern will, braucht mehr Zeit. Deshalb sind auch wir – da haben wir uns bewegt – für mehr Ganztagsschulen. Aus Ich gebe zu: Das hat in einem gewissen Alter zu Tränen familienpolitischer Sicht geht es eigentlich nur um die geführt. Selbstverständlich müssen wir darüber nachden- Ganztagsbetreuung, um Frauen zu ermöglichen, Beruf ken, wie wir solche Kulturtechniken – da geht es noch und Familie zu vereinbaren. Die SPD in Bayern ist für nicht um Bildung – unseren Kindern besser vermitteln flächendeckende Ganztagsschulen. Meine Kinder wollen können, damit sie dann zu besseren Ergebnissen kommen. 20622 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001

Jörg Tauss (A) Deswegen halte ich auch Sport und Musik für wichtige Die sozialdemokratisch geführte Regierung hat das durch- (C) Fächer. Dort lernt man Ausdauer und Konzentration. geführt. (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des Der zweite Punkt, Herr Kollege Friedrich, bei dem Sie Abg. Dr. Reinhard Loske [BÜNDNIS 90/DIE meines Erachtens zu völlig falschen Ergebnissen kom- GRÜNEN]) men, betrifft die Ausländerfrage. Auch Herr Stoiber nutzt Das sage ich als Mitglied des Kulturausschusses bewusst. die Gelegenheit, um gegen den Zuzug zu polemisieren. Genau diese Fächer wurden übrigens in Baden-Württem- Die PISA-Studie sagt nicht, dass wir ein Problem mit Kin- berg, aber nicht nur dort, als Steinbruch genutzt. Auch da- dern haben, die mit ihren Eltern zu uns kommen. Wir ha- rüber sollten wir nachdenken und uns nicht mit billigen ben ein Problem mit der unzureichenden Integration von Erklärungen aufhalten. Es wurde gerade dort gespart, wo bereits in Deutschland geborenen Kindern. Die Kinder, es im Unterricht um Kreativität geht. Ich halte dies für ein die hier geboren sind, Herr Friedrich, werden unzurei- Problem. chend gefördert. Deswegen ist nicht die Zuwanderung das Problem, sondern die Integration. Daher möchte ich Sie, Frau Kollegin Volquartz hat gefragt, warum Finnland wenn es um Integration geht, bitten, mit uns vernünftig zu so gut ist. Eine Erklärung dafür ist, dass es dort bereits in sprechen und nicht mit 80 Änderungsanträgen zu versu- frühen Jahren, im frühkindlichen Bereich, Gruppenarbeit chen, an Stammtischen gegen Ausländerintegration zu gibt. Eine Lehrerin, die befragt wurde, wie die Erfolge polemisieren. Das verträgt sich nicht mit der Zukunft. dort erzielt würden, hat gesagt: Die Kinder helfen sich ge- genseitig. – Genau dagegen haben Sie hier polemisiert. (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Das finde ich schade. GRÜNEN und der PDS) (Beifall bei der SPD und der PDS) Die Frau Ministerin hat dankenswerterweise auf das Forum Bildung hingewiesen, an dem auch Herr Lassen Sie uns doch einmal solche Dinge anschauen! Zehetmair teilnimmt. Darüber bin ich froh: Wenn er heute Vielleicht können sie uns auch hier weiterhelfen. da gewesen wäre, hätte er sich bei manchen Ihrer Aus- Ich glaube, wir sollten jetzt nicht den Selektionsgedan- führungen, Herr Kollege Fischer, vielleicht ein bisschen ken ideologisch befrachten, wie es von Ihrer Seite gesche- geniert. Ich schätze ihn sehr. Er ist ein anständiger Kon- hen ist. Vielmehr sollten wir uns den anderen Punkten von servativer, mit dem man über Bildungspolitik reden kann PISA zuwenden. Da ist festgestellt worden – ich zitiere und mit dem man weiter reden muss und sollte. wörtlich –: Es gelingt dem deutschen Schulsystem ver- (Zurufe von der CDU/CSU) gleichsweise schlechter als anderen Schulsystemen, sozial und familiär bedingte ungünstige Schülervoraussetzungen – Sie haben doch sicherlich nichts gegen anständige Kon- (B) auszugleichen. – Das ist die eigentlich schlimme Botschaft servative. Auch ich bin in vielen Punkten nicht mit ihm ei- (D) von PISA. Anderes kann man lernen. Aber wenn das Sys- ner Auffassung. tem die sozial und familiär bedingten ungünstigen Voraus- setzungen der Schüler nicht ausgleicht, dann sollten wir Es sollte zu keinen Schnellschüssen kommen. Herr darüber reden und nicht darüber, wie man schon im frühes- Westerwelle ist heute nicht anwesend. Es fällt übrigens ten kindlichen Alter über Noten selektieren könnte. Die- auf: Er ist bei Bildungsdebatten nie dabei. Er diskutiert jenigen, die schlechte Startvoraussetzungen haben, wür- darüber nur in Talkshows. Vielleicht könnte er einmal den nämlich dabei aussortiert. Dieses Aussortieren führt zu kommen. Ich hätte nichts dagegen. Herr Markl von der der unglaublichen Spanne, die wir zwischen Leis- Deutschen Forschungsgemeinschaft hat es auf den Punkt tungsstärkeren und Leistungsschwächeren haben. In kei- gebracht: erst denken, dann reden. Das ist das, was ich für nem Land ist die Differenz zwischen den Leistungs- das Protokoll Herrn Westerwelle mit auf den Weg geben schwächeren und den Leistungsstärkeren so groß wie bei möchte. uns. Das muss doch zu denken geben. Das sollte nicht zu Zentralismus ist keine Lösung. Wir sollten vernünftig mehr Selektion, sondern zu mehr Nachdenken führen. über den Wettbewerb der Bundesländer reden. Wir sollten (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nicht über Frau Schavans Begriff der Spaßgesellschaft DIE GRÜNEN) und über deren Ende reden. Ich selbst habe eine Zeit lang in Kanada gelebt. Kanada ist eine Spaßgesellschaft. Was Baden-Württemberg angeht: Ich selbst habe als Trotzdem sind dort die Schülerinnen und Schüler im Er- Schüler Baden-Württemberg durchlitten. Sie brauchen gebnis besser. Schule kann doch auch Spaß machen. Da- mir hier nichts zu erzählen. Ich glaube, jeder hat in gegen ist nichts einzuwenden. Lassen Sie uns dafür sor- der Schule auch einmal gelitten, nicht nur in Baden- gen, dass wir eine Schule haben, die Spaß macht. Württemberg. Das gebe ich zu. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Bitte sehen Sie einmal die Fakten: Rheinland-Pfalz war des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der das Land, das mit Ganztagsschulen begonnen und mit PDS) pädagogischen Konzepten gearbeitet hat. Das ist keine Aufbewahrung. Nehmen wir einmal das Positive zur Nicht nur den Schülerinnen und Schülern soll sie Spaß Kenntnis. Dass am Anfang die FDP, Frau Kollegin Flach, machen – es gibt auch viel Ärger –, sondern auch den Leh- in den Koalitionsverhandlungen dagegen war, ist nicht rerinnen und Lehrern. schlimm und vergessen. Was für mich ganz wichtig ist – das würde ich gerne als (Manfred Grund [CDU/CSU]: Wie groß- letzten Satz anmerken, Frau Präsidentin –: Wir haben zügig!) schon bei der Besoldung unserer Lehrer ein Problem. Ein Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20623

Jörg Tauss (A) Gymnasiallehrer wird immer mehr als ein Hauptschul- Ich bedanke mich auch für die erfreuliche kollegiale (C) lehrer an einer sozialen Brennpunktschule verdienen. Das und konstruktive Atmosphäre im Ausschuss, die mir die kann es nicht sein, Arbeit als Vorsitzende leicht und angenehm macht. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten DIE GRÜNEN) der SPD) nicht weil der Gymnasiallehrer zu viel verdient, sondern Schließlich danke ich dem Ältestenrat, der es nach vielem weil wir auch die Leistung, die Lehrerinnen und Lehrer an Hin und Her ermöglicht hat, den im Juni übergebenen Be- solchen Schulen bringen, würdigen müssen. Wenn wir das richt noch im Jahre 2001 in letzter Sekunde zu beraten, tun, haben wir insgesamt eine bessere Schule. sodass wir ihn nicht erst im Laufe des Jahres 2002 debat- tieren müssen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der (Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP) PDS) Da mir als Vorsitzende zur Einführung nur 5 Minuten Redezeit zur Verfügung stehen, nur einige Schlaglichter: Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Die Aktuelle Die Arbeit des Petitionsausschusses trägt nicht nur parla- Stunde ist damit beendet. mentarischen Charakter, sondern dient der Umsetzung des Grundrechts auf Petition nach Art. 17. Tausende ha- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf: ben das Petitionsrecht als wesentliches Element demo- Beratung des Berichts des Petitionsausschusses kratischer Teilhabemöglichkeit erkannt. Für uns als Par- (2. Ausschuss) lamentarier ist diese Arbeit ein Seismograph, der für unsere gesamte Arbeit unabdingbar ist; denn Beschwer- Bitten und Beschwerden an den Deutschen den der Bürgerinnen und Bürger sind Elemente einer Ge- Bundestag setzesfolgenabschätzung und Gesetzesfolgenkontrolle. Die Tätigkeit des Petitionsausschusses des Sie dienen daher der Kontrolle unserer eigenen Arbeit, die Deutschen Bundestages im Jahr 2000 ich persönlich als Hilfe begreife. Ich möchte einen selbst- – Drucksache 14/5882 – bewussten mündigen Bürger und nicht einen deutschen Michel mit Schlafmütze. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Widerspruch höre (Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und der FDP) (B) ich nicht. Dann ist so beschlossen. (D) Der Jahresbericht macht deutlich: Es gibt Beschwer- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst die den, die Unterlassen und Trägheiten im Handeln der Ver- Abgeordnete Heidemarie Lüth. waltung aufzeigen, es gibt aber auch Bitten, die auf die Gesetzgebung zielen. Erstmalig in der Geschichte des Heidemarie Lüth (PDS): Frau Präsidentin! Liebe Bundestages hat im vergangenen Jahr die Zahl der Bitten Kolleginnen! Liebe Kollegen! Als Erstes möchte ich mich zur Gesetzgebung mit über 11 000 die der 9 000 Be- bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Ausschuss- schwerden überstiegen. Hinzu kommt, dass die Legisla- dienstes der Unterabteilung Petitionen ganz herzlich be- tivpetitionen eine andere Qualität haben; sie werden oft danken. nicht im stillen Kämmerlein erdacht. Vielmehr schließen sich Bürgerinnen und Bürger auf der Grundlage des (Beifall im ganzen Hause) Art. 17 Grundgesetz kollektiv zusammen, um sich an die An vier Zahlen möchte ich diesen Dank quantitativ, Volksvertretung zu wenden. Durch Unterschriften und aber natürlich auch qualitativ belegen. Im Jahr 2000 wur- Postkartenaktionen haben sich 1,3 Millionen Menschen den über 13 000 Petitionen abschließend bearbeitet und an uns gewandt. Ich denke, das sollten wir als hohe Wert- über 20 000 Petitionen wurden neu an den Petitionsaus- schätzung unserer Arbeit begreifen. schuss überwiesen. Über 12 000 Nachträge gab es durch (Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten Petentinnen und Petenten und über 7 000 Stellungnahmen der SPD und der CDU/CSU) der Regierung mussten bewertet und in guter Qualität in Lassen Sie mich noch ein Weiteres sagen: Mit dem Pe- die Vorbereitung der Arbeit der Abgeordneten eingebracht titionsausschuss sind die Bürgerinnen und Bürger ganz werden. nah am Parlament; sie sind direkt am Gesetzgeber. Auch den Kolleginnen und Kollegen des Petitions- Während ein Bürgerbeauftragter nur ein Vermittler zwi- ausschusses sage ich Dank. Sie haben in vielen Stunden schen Bürger und Parlament ist, ist der Petitionsausschuss für Bürgerinnen und Bürger gearbeitet und viel dafür ge- Teil des Parlaments und damit Repräsentant. Deshalb ist tan, dass das Ansehen des Bundestages bei der Bevöl- unsere Verantwortung in der Bearbeitung der Petitionen kerung steigt, ohne dass wir deswegen im Rampenlicht – insbesondere wenn sie gesetzgeberischen Charakter ha- stehen. ben – so hoch. Ich denke, das sollten sowohl die Regie- rung als auch die Fraktionen stärker begreifen. Manche (Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten Petitionen, die wir den Fraktionen zur Kenntnisnahme der SPD) überweisen, gehen manchmal den Gang eines Schläfers. 20624 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001

Heidemarie Lüth (A) Ein weiterer Gedanke: Im Petitionsausschuss besteht Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat (C) der unbedingte Wille, jede Petition ordnungsgemäß und jetzt der Abgeordnete Bernd Reuter. sachgerecht zu bescheiden, auch wenn wir uns im Aus- schuss häufig mit ihnen in großen Sammelübersichten im Bernd Reuter (SPD): Frau Präsidentin! Meine sehr Schweinsgalopp befassen müssen. Ich möchte aber beto- verehrten Kolleginnen und Kollegen! Wenn ich die letz- nen: Die Masse der Arbeit wird nicht in dem Ausschuss ten 21 Jahre meiner Tätigkeit im Petitionsausschuss geleistet, sondern findet im Vorfeld durch den Ausschuss- Revue passieren lasse, dann komme ich zu dem Ergebnis, dienst und die Berichterstatterinnen und Berichterstatter dem sicherlich meine Kolleginnen und Kollegen zustim- statt. men werden: Unser Petitionsrecht hat sich bewährt. Petenten wollen immer wissen: Was passiert mit mei- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP ner Petition, wenn sie positiv beschieden ist und an die und der PDS) Bundesregierung überwiesen wird? Um das dem Petenten deutlich zu machen, haben wir in diesem Jahresbericht 20 666 Petitionen wurden im Jahr 2000 beim Peti- erstmals eine Rubrik aufgenommen, die aufzeigt, wie die tionsausschuss des Deutschen Bundestages eingereicht. Regierung Berücksichtigungs- und Erwägungsbeschlüsse Das bedeutet im Vergleich zum Vorjahr eine Zunahme von des Petitionsausschusses und damit des Bundestages um- 13 Prozent. Schon der sozialdemokratische Reichs- gesetzt hat. In vielen Fällen haben wir positive Ergebnisse tagsabgeordnete Biedermann hat in einer Sitzung des erreicht. Wir alle wissen aber – ich möchte das auch den Reichstages im Jahre 1928 gemahnt: „Gegenüber dem anderen Kollegen sagen –: Häufig müssen wir scharf Formalrecht muss das lebendige Recht den Vorrang be- „nachwaschen“. Denn aufgrund eines Beschlusses des haupten.“ Daran arbeiten wir noch heute; denn angesichts Bundestages geschieht häufig gar nichts. Vielmehr der im Berichtszeitraum 2000 eingereichten über 20 000 schließen sich noch Obleutegespräche an. Regierungs- Petitionen ist die Mahnung des Kollegen Biedermann bis vertreter werden in den Petitionsausschuss nicht eingela- heute unverändert aktuell. Das ist aber kein Zeichen von den, sondern geladen, um vor den Mitgliedern des Peti- Demokratieverdrossenheit; Frau Lüth hat in diesem Punkt tionsausschusses ihre Meinung zu einer bestimmten vollkommen Recht. Wir können heute feststellen, dass Petition zu begründen. wir auch mit unserer Arbeit im Petitionsausschuss zur Ak- Lassen Sie mich aber auch erwähnen, dass es ein Mi- zeptanz des Bundestages in der Bevölkerung beigetragen nisterium gibt, über dessen Verhalten wir häufig nicht nur haben. betrübt, sondern sogar auch empört sind. Es ist das Haus Auch ich möchte auf die Bedeutung des Petitionsaus- des Ministers Schily. Gerade die vielen Petitionen, die schusses hinweisen. Er ist eine gute Schule für neue Ab- (B) sein Ministerium betreffen, bearbeiten wir mit großer geordnete. Aber das funktioniert nur dann, wenn erfah- (D) Sorgfalt und Zurückhaltung. Trotzdem werden die meis- rene Kolleginnen und Kollegen sozusagen das starke ten Petitionen, die zur Erwägung oder Berücksichtigung Gerippe des Ausschusses bilden. Allerdings ist die Ar- überwiesen werden, nicht berücksichtigt. Aber vielleicht beitsbelastung der neuen Kollegen und Kolleginnen sehr hat der Innenminister demnächst einmal die Gelegenheit, hoch. Deswegen kann ich nicht verstehen, dass bei der in unseren Ausschuss zu kommen und sich einmal an- konstituierenden Sitzung des Deutschen Bundestages zuhören, wie wir seine Arbeit bewerten. 1998 in Berlin festgestellt wurde, dass die Zahl der Mit- (Beifall bei der PDS und der CDU/CSU sowie glieder des Petitionsausschusses gesenkt werden muss, bei Abgeordneten der FDP) weil nicht in ausreichendem Maße Kolleginnen und Kol- legen bereit waren, im Petitionsausschuss mitzuarbeiten. Die Frau Staatssekretärin ist ja ein häufiger Gast in unse- Das kann auf Dauer nicht so bleiben; denn je weniger Ab- rem Ausschuss. geordnete im Petitionsausschuss mitarbeiten, desto mehr (Jutta Müller [Völklingen] [SPD]: Ein lieber muss der einzelne Abgeordnete – ich schaue hierbei vor Gast!) allen Dingen den Kollegen Hohmann an – arbeiten. Deswegen bin ich der Meinung – dafür möchte ich wer- – Ja, auch ein lieber Gast. Das kann ich ausdrücklich be- ben –, dass wir mehr junge Abgeordnete, die in das Parla- stätigen, Kollegin Müller. ment gewählt werden, für eine aktive Mitarbeit im Peti- Lassen Sie mich zum Abschluss meiner Rede sagen: tionsausschuss gewinnen müssen. Der Petitionsausschuss muss mehr sein als die oberste Welch hohen Stellenwert schon die Abgeordneten der Stelle für Beschwerden. Das wollen und müssen wir auch Nationalversammlung, die sich 1848 in der Frankfurter sein. Aber der Petitionsausschuss muss noch mehr zur Paulskirche konstituiert hat, dem Petitionsrecht einge- aktiven Schnittstelle zwischen dem demokratischen Par- räumt haben, zeigt die Geschäftsordnung für die lament und den sich in Form von Petitionen demokratisch Constituierende Nationalversammlung. In § 18 dieser Ge- engagierenden Bürgerinnen und Bürgern werden. Ich schäftsordnung heißt es: glaube, wir sind im vergangenen und in diesem Jahr in dieser Hinsicht einen Schritt weitergekommen. Dem Petitionsausschuss ist ein bestimmter Tag in jeder Woche zur Vorlegung seiner Berichte einzu- Vielen Dank. räumen. Erst nach völliger Erledigung dieser Be- (Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten richte kann zur anderweitigen Tagesordnung über- der SPD, der CDU/CSU und der FDP) gegangen werden. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20625

Bernd Reuter (A) Auch im Hinblick auf die Tatsache, dass wir erst so lange Verfügung steht, an 600 000 Opfer im In- und Ausland ge- (C) Zeit nach der Übergabe des Berichts diskutieren, will ich zahlt werden konnten, ist ein großer Erfolg. diese Regelung nicht wieder einführen. Ein bisschen mehr Ich will aber noch etwas Kritik üben. Ich freue mich, Zeitnähe zur Übergabe wäre bei einer solchen Debatte dass noch zwei leibhaftige Vertreter der Bundesregierung aber schon angezeigt. anwesend sind. Das sind aber auch die Treuen, die immer (Beifall bei Abgeordneten aller Fraktionen) in den Ausschuss kommen. Ich will diese beiden bitten, meinen Appell, den ich hier schon im vergangenen Jahr Bei aller Kritik, die notwendig ist, muss man auch er- vorgetragen habe, weiterzugeben. Ich bitte die Damen freuliche Tendenzen aufzeigen. Zum Beispiel kann man und Herren Minister und Staatssekretäre, nicht alles, was feststellen, dass die Bundesregierung nach Kräften ver- die Ministerialbürokratie aufschreibt, unreflektiert zu un- sucht, die qualifizierten Beschlüsse des Petitionsaus- terschreiben. Nicht selten erlebe ich es nämlich, dass das schusses umzusetzen. Selbst bei Petitionen, die als Mate- ein bisschen an der Sache vorbeigeht. rial an die Bundesregierung überwiesen wurden, haben wir in jüngster Zeit viele positive Rückmeldungen be- (V o r s i t z: Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf kommen. Ich will ein Beispiel nennen. Seiters) Ein Petent aus Baden-Württemberg setzte sich für den Am meisten ärgert es uns, wenn wir arrogante Stellung- Bau einer Ortsumgehung ein. Trotz Baureife und Ein- nahmen erhalten nach dem Motto – ich sage es einmal mit stufung in den vordringlichen Bedarf konnte die Maß- sehr deutlichen Worten –: Da könnte ja jeder kommen. nahme nicht in das Fernstraßeninvestitionsprogramm Was bildet ihr euch eigentlich ein? aufgenommen werden. Laut Stellungnahme des zuständi- (Beifall im ganzen Hause) gen Ministers für Verkehr hat das Land Baden-Württem- berg keinen finanziellen Spielraum mehr für dieses neue Die Mütter und Väter des Grundgesetzes haben dem Straßenbauvorhaben. Der Ausschuss überwies die Peti- Petitionsrecht einen hohen Rang zugewiesen. Deshalb tion im September 2000 dennoch mit der Bitte um bevor- dürfen die Petenten auch nicht irgendwelche Sanktionen zugte Aufnahme in zukünftige Fernstraßeninvestitions- erleben. Wir haben schon gehört oder gelesen, dass es in programme und siehe da: Im Oktober 2001 konnte der einer großen Bundesbehörde heißt, der Petent würde Staatssekretär mitteilen, dass bereits im April mit der Bau- großen Schaden erleiden, wenn er seine Petition nicht maßnahme begonnen worden war und dass sie 2006 fer- zurücknehmen würde. Das muss in Zukunft abgestellt werden. tig gestellt werden kann. – Das zeigt, dass eine Petition sehr wohl zum Erfolg führen kann. Wir sind dankbar, (Beifall im ganzen Hause) wenn die Regierung das in dieser Form macht. Das war Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte noch sa- (B) ein schöner und schneller Erfolg im Interesse der Bürger. (D) gen, dass wir im Grunde eine Arbeit leisten, die zwischen (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Frust und Lust eingebettet ist. Natürlich muss man an dieser Stelle auch immer wie- (Günther Friedrich Nolting [FDP]: Große der deutliche Worte der Kritik finden. Frau Lüth hat das Spannbreite!) schon getan. Zur Ehrenrettung des Ministeriums von Otto Frust ist in der Tat manchmal auch dabei. Aber wir haben Schily will ich nur sagen: Es gibt nicht selten auch Peti- auch Spaß und Freude an dem, was wir tun. tionen, bei denen wir gern helfen wollen, bei denen uns aber die gesetzlichen Rahmenbedingungen daran hindern Ich will am Schluss zur Erheiterung noch etwas Kurioses und auch das Ministerium nicht aus dem gesetzlichen vortragen, weil wir heute Abend ja so schön unter uns sind. Korsett heraus kann. Solche Petitionen müssen aber dazu (Heiterkeit) führen, dass das Parlament darüber nachdenkt, Gesetze zu ändern, damit wir in der Lage sind, den Menschen zu hel- Ein Petent fordert ein Verbot der Schneckenfallen mit al- fen. koholhaltigem Bier, da die Schnecken von Igeln gefressen würden, die sich dann, wenn sie besoffen seien, nicht mehr (Beifall bei der SPD und der PDS sowie bei Ab- zusammenrollten und leichte Beute für andere seien. Igel geordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- stünden unter Naturschutz und Schneckenfallen funktio- NEN) nierten auch mit alkoholfreiem Bier, so schreibt der Petent. Ich will noch ein Beispiel vortragen, das mich persön- Darum fordert er ein Verbot von Schneckenfallen mit al- lich besonders gefreut hat. Dass wir jetzt eine Stiftung koholhaltigem Bier oder den Verkauf des Flaschenbieres „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ haben, ist nur mit einem entsprechenden Warnhinweis. mit darauf zurückzuführen, dass wir viele Jahre lang eine (Heiterkeit – Beifall bei der SPD) große Zahl von Petitionen dazu hatten. Dass es nach lan- ger Zeit gelungen ist, diese Stiftung zu gründen, verdan- Ich bin der Meinung, dass wir auch diese Petition ernst ken wir auch dem Beschluss des Deutschen Bundestages, nehmen müssen. Das machen wir. der unter dem Druck dieser Petitionen mit großer Mehr- Ich habe noch den lieben Kolleginnen und Kollegen, heit gefasst worden war. Dass im Sommer dieses Jahres die in so vorbildlicher Weise im Ausschuss wirken, dem mit der Auszahlung der Entschädigungen für Zwangsar- Ausschussdienst und unseren Mitarbeiterinnen und Mit- beiter begonnen werden konnte und bis Ende dieses Jah- arbeitern in den Fraktionen, die bei der Erledigung der res 2,5 Milliarden DM, ein Viertel der Summe, die zur umfangreichen Arbeit mithelfen, Dank zu sagen. 20626 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001

Bernd Reuter (A) Auch nach 21 Jahren Mitgliedschaft in diesem Aus- schwerden ist für mich ein Hoffnungszeichen dafür, dass (C) schuss ist meine Motivation noch immer hoch, dort mit- sich die Menschen im Lande sehr wohl für Politik inte- zuwirken. Ich kann mich den Worten des Bürgerbeauf- ressieren; denn im Hinblick auf bestimmte Gesetzesände- tragten von Rheinland-Pfalz, meines Freundes Ulli Galle, rungen oder neue Gesetze bekommen wir sehr konkrete nur anschließen: und konstruktive Vorschläge. Es ist ein Geschenk, wenn man mit seiner Arbeit an- Der Bereich Arbeit und Soziales ist am stärksten fre- deren Menschen helfen darf! quentiert: Immerhin 44 Prozent der Petitionen haben sich Schönen Dank. mit dem Politikfeld des Arbeits- und Sozialministeriums beschäftigt. Allerdings muss man hierzu immer wieder (Beifall im ganzen Hause) feststellen: In der hohen Zahl der Eingaben aus diesem Be- reich spiegelt sich eine große Unzufriedenheit der Bürge- Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters: Ich gebe rinnen und Bürger mit der augenblicklichen Politik wider. nunmehr dem Kollegen Hubert Deittert das Wort. Er (Susanne Kastner [SPD]: Das musste jetzt kom- spricht für die CDU/CSU-Fraktion. men! – Gegenruf des Abg. Günther Friedrich Nolting [FDP]: Das musste jetzt wirklich kom- Hubert Deittert (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine men!) lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren den Jah- Die Bürger haben sich sehr wohl an die großen Verspre- resbericht 2000 des Petitionsausschusses. Unser Ausschuss chungen, die jetzt nicht eingehalten werden, aus dem ist die Nahtstelle zwischen Parlament und Bürger. Die Men- Jahre 1998 erinnert. Diese Dinge werden zusätzlich durch schen im Lande sehen das so; denn sie machen von dem Pe- die Wirtschafts- und Arbeitsmarktdaten bestätigt. titionsrecht regen Gebrauch. Wir sind gut beraten, wenn wir dem Petitionsausschuss im Parlament den Stellenwert zu- Eine große Zahl von Petitionen betrifft die Steuergesetz- billigen, der ihm eigentlich zukommt. Dort zeigt sich die gebung, vor allem die Ökosteuer. Die Ökosteuer hat viele Bürgernähe des Parlaments. Wir können in diesem Aus- Menschen im Land berührt. Argumente sind immer wieder, schuss ein ganzes Stück Politikverdrossenheit aufbrechen. dass die Ökosteuer vor allen Dingen die sozial Schwachen Die Arbeit im Petitionsausschuss verlangt von uns Ab- trifft und diese keinerlei Kompensationsmöglichkeiten ha- geordneten einen wahnsinnigen Zeit- und Arbeitsauf- ben. Dies sind Arbeitslose, Sozialhilfeempfänger oder Rent- wand. Die Medien und die Öffentlichkeit interessieren ner. Die Ökosteuer sei – so sagen viele Petenten – unausge- sich allerdings nur in Ausnahmefällen dafür; deswegen ist wogen, verkehrs- und umweltpolitisch nicht sinnvoll, sozial dieser Arbeitsbereich zur politischen Profilierung wenig ungerecht. Ich denke, das sollte die Regierung und die (B) geeignet. Möglicherweise rührt daher das schwache Inte- Mehrheitsfraktionen im Deutschen Bundestag einmal zum (D) resse von Kolleginnen und Kollegen, in diesem Aus- Nachdenken bringen. Wenn sie schon nicht auf die Opposi- schuss mitzuarbeiten. Vielleicht ist der eigentliche Grund tion hören, dann vielleicht auf die Bürger. aber auch das frühe Aufstehen am Mittwochvormittag. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Ich denke, dass diese Aufgabe allerdings sehr befriedi- Wir haben eine große Zahl von Sammelpetitionen mit gend sein kann; zumindest für mich ist sie es. Der Petiti- Unterschriftenlisten. Schwerpunkte sind die Bereiche onsausschuss ist nämlich eine Stelle, an der man eine Kindergeld, Verkehr, das Parteiengesetz, das Psychothe- schnelle Rückkopplung hat. Wir beschäftigen uns mit der rapeutengesetz. Sehr viele Petitionen betreffen – den Be- gesamten Palette der Politik. Wir bekommen einen un- reich hat der Kollege Reuter angesprochen – die Entschä- heimlich guten Einblick in die sozialen und wirtschaftli- digung von NS-Zwangsarbeitern. Hier haben wir Gott chen Verhältnisse im gesamten Land. sei Dank durch die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung Für mich ist wichtig, dass es in diesem Ausschuss über und Zukunft“ eine zufrieden stellende Lösung gefunden. Parteigrenzen hinweg das ehrliche Bemühen gibt, eine Ich denke, das ist ein großer Erfolg der Arbeit des Parla- Lösung für den betreffenden Petenten zu finden. In die- ments, vor allem des Petitionsausschusses. sem Zusammenhang möchte ich den Kolleginnen und Kollegen für die Zusammenarbeit herzlich danken. Ein Es gibt allerdings immer wieder einzelne Petitionen besonderer Dank gilt auch den Mitarbeiterinnen und Mit- von deutschen Zwangsarbeitern, die in den letzten arbeitern des Ausschussdienstes; denn ohne ihre gewis- Kriegsjahren oder nach dem Kriege Zwangsarbeit geleis- senhafte und gründliche Zuarbeit wäre unser Ausschuss tet haben. Für diese haben wir keine zufrieden stellende nicht arbeitsfähig. Herzlichen Dank! Lösung. Ich stelle mit Bedauern fest, dass dieses Thema für die Koalitionsfraktionen im Ausschuss zu heiß ist, um (Beifall im ganzen Hause) es zu diskutieren und nach einer vernünftigen Lösung zu Für das Jahr 2000 ist eine erhebliche Steigerung der suchen. Ich gebe zu, das Thema ist unbequem und nicht Anzahl der Eingaben – Herr Reuter hat eben die Zahl ge- einfach, aber es verdient unsere Aufmerksamkeit. Unsere nannt; es waren 13 Prozent mehr, insgesamt 20 666 Peti- Anträge wurden im Ausschuss leider immer von der tionen – zu verzeichnen. Das zeigt, dass die Menschen im Mehrheit überstimmt. Lande dieses Angebot annehmen. Wir sind gut beraten, es (Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der entsprechend zu pflegen. CDU/CSU: Sehr bedauerlich! – Zuruf von der Der deutliche Anstieg der Anzahl von Anregungen zur SPD: Warum habt ihr das nicht gemacht, als ihr Gesetzgebung im Verhältnis zu dem von Bitten und Be- an der Regierung wart?) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20627

Hubert Deittert (A) Wenn man einen Blick auf die regionale Herkunft der Belangen der Menschen und den Belangen der Natur ab- (C) Petitionen wirft, stellt man fest, dass interessanterweise wägen muss, haben die Belange der Menschen Vorrang. das Saarland mit 102 Petitionen auf 1 Million Einwohner Ich danke Ihnen. das Land mit den wenigsten Eingaben ist und beispiels- weise Sachsen-Anhalt ein Land mit sehr vielen Eingaben (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ist. Hier ist man schon einmal versucht, diese Zahlen mit der Farbe der jeweiligen Landesregierung zu verbinden. Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters: Das Wort Dies will ich aber heute nicht vertiefen. hat der Kollege Helmut Wilhelm, Bündnis 90/Die Grü- Meine Kolleginnen und Kollegen, wir haben Kontakte nen. zum Petitionsausschuss des Europäischen Parlaments gepflegt. Eine Delegation hat den Deutschen Bundestag Helmut Wilhelm (Amberg) (BÜNDNIS 90/DIE besucht. Es wurde vor allem die europäische Grund- GRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kol- rechte-Charta diskutiert. Inzwischen ist das Petitionsrecht legen! Die Debatte zum Jahresbericht 2000 musste nach auf europäischer Ebene in Art. 44 der Charta der Grund- den fürchterlichen Ereignissen des 11. September mehr- rechte der Europäischen Union verankert. Ich denke, das fach verschoben werden. Manchen mögen Petitionen an- ist ein gutes Zeichen für die weitere Entwicklung Euro- gesichts der aktuellen Herausforderungen der Politik da- pas. her als Luxus aus einer unbeschwerten Zeit erscheinen. Aber gerade jetzt müssen wir uns mit dem beschäftigen, Lassen Sie mich noch kurz einige Beispiele aus mei- was die Menschen in ihrem Alltag umtreibt. Wenn man nem Arbeitsbereich im Ausschuss anführen. Ein Beispiel jetzt wieder zu Recht den Ruf nach einer gerechteren Welt ist eine Ortsumgehung in Ratzeburg, Schleswig-Hol- hört, sage ich: Genau daran, an einer gerechteren Welt, ar- stein. Diese Petition hat uns lange beschäftigt. Die Bun- beiten wir hier im Petitionsausschuss jeden Tag Stück für desregierung und die Landesregierung hatten die Planung Stück und ganz konkret. praktisch eingestellt, weil der Rechnungsprüfungsaus- schuss des Bundestages bemerkt hatte, das Kosten-Nut- Auch die Befassung mit fehlerhaften Rentenbeschei- zen-Verhältnis sei zu ungünstig. Wir haben uns die Sache den oder mit Lärmschutz an Schienenwegen trägt dazu vor Ort angesehen und miteinander festgestellt, dass diese bei, zu demonstrieren, wie wir leben wollen und was wir Umgehung dringend notwendig ist, nicht nur zum Schutz uns von niemandem zerstören lassen wollen. Dazu gehört ein politisches System, das den Willen, die Sorgen und der dort wohnenden Menschen, sondern auch zum Schutz Nöte eines jeden Einzelnen ohne Ansehen der Person, der der historischen Bausubstanz. Bei dem Ortstermin wurde Religion oder der Herkunft respektiert. „Es ist die Demo- ein neuer Vorschlag vorgelegt, der sehr viel versprechend (B) kratie, die als Sprache hören lässt, was bisher nur als (D) ist. Bundesregierung und Landesregierung haben zuge- unartikulierter Lärm der Sprachlosen vernommen sagt, diesen Vorschlag gründlich zu prüfen und nach Mög- wurde“, sagte der Philosoph Platon. In diesem Sinne ist lichkeit einer Lösung zuzuführen. Ich denke, dies ist ein der Petitionsausschuss Sprachrohr der Bürger und zu- hoffnungsvolles Zeichen. gleich Hörrohr für das vielleicht manchmal etwas schwer- Einen weiteren Ortstermin gab es in Sachsen. Dieser hörige Parlament. betraf die Autobahn A 72. Hier gab es gegensätzliche Die parlamentarische Demokratie in Deutschland stellt Auffassungen. In dem Ortstermin zusammen mit den Ver- die Pflicht des Staates, sich mit Problemen und Bitten, mit tretern des sächsischen Petitionsausschusses wurde eine den von den Menschen empfundenen Ungerechtigkeiten Linie gefunden, die wir gemeinsam verfolgen konnten. zu befassen, in Art. 17 des Grundgesetzes ganz weit Ich will noch ein Beispiel aus meiner Heimatregion an- nach vorne. Es ist gut, festzustellen, dass wir in einem sprechen. Es geht um die A33. Hier lag eine Sammelpe- Land leben, in dem nicht nur der Staat verpflichtet ist, die Bürger ernst zu nehmen, sondern in dem auch die Men- tition mit einer großen Unterschriftenliste vor. Die Bürger schen ihre staatliche Verfassung beim Wort nehmen und setzten sich für den schnellen Lückenschluss – es geht dieses Recht immer selbstverständlicher und selbstbe- noch um etwa 25 Kilometer – dieser Autobahn ein. wusster nutzen. Die Zahl der Eingaben an den Deutschen (Annelie Buntenbach [BÜNDNIS 90/DIE Bundestag ist im Berichtszeitraum auf 20 666 Eingaben GRÜNEN]: Es gibt auch andere Bürger!) gestiegen. Die Landesregierung Nordrhein-Westfalen hat das Plan- Ich möchte beispielhaft auf einige interessante Petitio- feststellungsverfahren angehalten. Wir haben diese Peti- nen der letzten Zeit eingehen; denn hier leistet der Petiti- tion als Material an die Bundesregierung überwiesen. onsausschuss wertvolle und gute Arbeit. Er konnte auch Ich habe die Hoffnung, dass das Planfeststellungsver- im zurückliegenden Berichtsjahr – über die zahlreichen fahren jetzt wieder in Bewegung kommt, nachdem teil- gesetzgeberischen Initiativen hinaus – in vielen Einzel- weise abenteuerlich über Naturschutzgesichtspunkte fällen konkret und handfest helfen. diskutiert worden ist, und dass die Menschen Vorrang (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN haben vor Fledermäusen, Kammmolchen und sonstigen und bei der SPD) Dingen. Eine Petentin aus Nordrhein-Westfalen beschwerte Ich unterstreiche: Naturschutz ist wichtig und wird von sich darüber, dass ihr die BfA wiederholt die Gewährung mir auch sehr unterstützt. Wenn ich aber zwischen den einer Rente wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit 20628 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001

Helmut Wilhelm (Amberg) (A) verweigert habe. Der Petitionsausschuss schaltete das gewiesen worden: Im Jahr 2000 hat es fast 21 000 Einzel- (C) Bundesversicherungsamt ein. Aufgrund der Überprüfung eingaben gegeben. Das ist in den vergangenen 20 Jahren gemäß § 44 Sozialgesetzbuch X stellte die BfA doch noch der dritthöchste Wert und bedeutet im Verhältnis zum Be- einen Zahlungsanspruch auf Rente fest. Die Rente wurde richtszeitraum davor eine Steigerung um fast 14 Prozent. ab 1. Mai 2000 in Höhe von 1 779 DM gezahlt, die Nach- Frau Vorsitzende, ich stimme mit Ihnen überein, dass es zahlung betrug mehr als 100 000 DM. auf der einen Seite erfreulich ist, dass sich die Bürgerin- nen und Bürger an den Petitionsausschuss und damit an Ein Mann nahm den tragischen Tod eines Mädchens das Parlament wenden. Sie sind also nicht politikverdros- zum Anlass, beim Petitionsausschuss das Verbot von sen, sondern vertrauen darauf, dass die Politik ihnen hilft. Frontschutzbügeln an Geländewagen, den so genannten Es ist aber, wie ich denke, andererseits auch ein Signal Bullenfängern, zu fordern. Sie alle kennen diesen unsin- dafür – das muss man mitberücksichtigen –, dass in unse- nigen Schnickschnack an Geländewagen, die teilweise rem Land noch einiges im Argen liegt. Hier muss Abhilfe wie Panzerfahrzeuge aussehen. Das mag in der argentini- geschaffen werden. schen Pampa zweckmäßig sein; auf unseren Straßen bedeuten sie nur ein deutlich erhöhtes Unfallrisiko, ins- (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der besondere für Kinder. Der Ausschuss sah das auch so und PDS) hat den Bundesverkehrsminister aufgefordert, tätig zu Auch ich will mich bei den Mitarbeiterinnen und Mit- werden. Es freut mich, dass der Minister im Hinblick auf arbeitern des Ausschussdienstes dafür bedanken, dass eine zügige Verabschiedung einer entsprechenden diese große Anzahl an Petitionen auch deshalb so zügig EU-Richtlinie tätig geworden ist. bearbeitet werden konnte, weil die Mitglieder des Se- Meine Damen und Herren, in seiner Jahresbilanz kretariats uns in vorbildlicher Weise zuarbeiten und un- kommt der Ausschuss zu der Feststellung – ich zitiere aus sere Arbeit dementsprechend gut vorbereiten. Ich habe die dem Bericht –, „dass die Bundesregierung nach wie vor Feststellung gemacht – ich denke, das kann ich auch ins- bemüht ist, alle ihr gebotenen Mittel und Möglichkeiten gesamt für den Petitionsausschuss sagen –, dass die auszuschöpfen, um ihr zur Berücksichtigung oder Erwä- Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter trotz der großen Belas- gung überwiesenen Petitionen nachzukommen.“ Darüber tung stets freundlich sind und zügig weiterhelfen. Ich freue ich mich, denn das war in der Vergangenheit nicht kann auch hier den Dank wie der Kollege Reuter an die immer der Fall. Als Mitglied des Petitionsausschusses eigenen Mitarbeiter weitergeben. Auch ihnen gegenüber verstehe ich mich jedoch in erster Linie als Anwalt der Pe- muss einmal ein Dank ausgesprochen werden. Genauso tenten, als Anwalt der Bürger und nicht als Vertreter einer möchte ich mich auch bei der Vorsitzenden bedanken, Regierungsfraktion. Darum möchte ich noch den Schluss- dass sie kollegiale Arbeit im Ausschuss ermöglicht. Schließlich möchte ich mich auch bei allen anderen Kol- (B) absatz des oben angeführten Zitats aus dem Jahresbericht (D) bringen: Auch wenn das Resümee vor diesem Hinter- leginnen und Kollegen dafür bedanken, dass fraktions- grund im Berichtsjahr positiv ausfällt, ist der Petitions- übergreifend gearbeitet und Hilfe gesucht wird. ausschuss weiterhin darauf bedacht, den Antworten der (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie Bundesregierung auf Berücksichtigungs- und Erwä- bei Abgeordneten der SPD und der PDS) gungsbeschlüsse besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Ich will noch kurz die Statistik ansprechen: Es ist Darum bitte ich auch meinen Parteifreund, Bundesum- schon bemerkenswert, dass bei rund 43 Prozent der Ein- weltminister Trittin, an die Petition zu denken, die Kin- gaben dem Petenten durch Rat, Auskunft oder Material- der- und Jugendgruppen eingereicht hatten und in der sie beschaffung sofort geholfen werden konnte und dass in die Bundesregierung aufforderten, stärker als bisher et- rund 8 Prozent der Fälle den Anliegen der Petenten ent- was gegen den Ozonsmog zu unternehmen. Der Peti- sprochen wurde. Das bedeutet, dass gut 50 Prozent der Pe- tionsausschuss hat dieser Eingabe stattgegeben. titionen positiv erledigt werden. Meine Damen und Herrn, ein starkes Petitionsrecht Allerdings fällt auch auf, dass im vergangenen Jahr und ein starker Petitionsausschuss befördern die prak- über 50 Prozent der Petitionen aus den östlichen Bundes- tische, alltägliche Umsetzung von Bürgerrechten in Tau- ländern gekommen sind. Dies ist auf der einen Seite er- senden von Fällen. Dafür möchte ich mich bei Ihnen, liebe freulich, weil es zeigt, dass unsere Mitbürgerinnen und Kolleginnen und Kollegen, dem fleißigen und kompeten- Mitbürger in Ostdeutschland immer wieder neue Vor- ten Ausschussdienst und vor allem bei den Bürgerinnen schläge und Anregungen auf den verschiedensten Feldern und Bürgern ganz herzlich bedanken. der Politik einbringen, dass sie sich insofern aktiv an der Weiterentwicklung unseres Landes beteiligen und damit Vielen Dank. auch Demokratie leben. Aber dieser hohe Anteil zeigt (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, auch, dass die Menschen gerade in Ostdeutschland von er- bei der SPD und der PDS) heblichen Sorgen geplagt werden, deren wir uns beson- ders annehmen müssen. Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters: Nun gebe (Beifall bei der CDU/CSU und der PDS) ich dem Kollegen Günther Nolting, FDP, das Wort. Bereits angesprochen wurde die Vielzahl der Petitio- nen aus dem Zuständigkeitsbereich des Bundesministeri- Günther Friedrich Nolting (FDP): Herr Präsident! ums für Arbeit und Sozialordnung. Gegenstand dieser Meine Damen und Herren! Es ist hier schon darauf hin- Petitionen war insbesondere die Einführung der Sozial- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20629

Günther Friedrich Nolting (A) versicherungspflicht für geringfügige Beschäftigungs- Wehrpflicht. Die Wehrpflicht ist sicherheitspolitisch nicht (C) verhältnisse. Als FDP-Bundestagsfraktion haben wir von mehr zwingend notwendig; damit entfällt auch ihre Legi- Anfang an stets auf die Schwachstellen dieser Regelung timation. Die Wehrgerechtigkeit ist nicht mehr gegeben. aufmerksam gemacht. Die Praxis hat mittlerweile gezeigt, Die Wehrpflichtigen werden für die neuen Aufgaben der dass die Gesetzesänderung weder zu mehr Arbeitsplätzen Bundeswehr nicht mehr eingesetzt: weder in den Einsatz- noch zu einer nennenswerten Entlastung der Sozialkassen gebieten auf dem Balkan noch zur Terrorismusbekämp- beigetragen hat. Das haben auch die Petenten gesehen, fung im Ausland. Das heißt, auch hier muss die Bundes- weshalb sie diese Regelung kritisieren. Daher fordern wir regierung endlich handeln, und zwar jetzt und nicht erst die Bundesregierung noch einmal auf, diese unsinnige dann, wenn eine höchstrichterliche Entscheidung vor- Regelung zurückzunehmen. liegt. Auch hier sind die Bürgerinnen und Bürger der Bun- Meine Damen und Herren, noch ein Satz zur so ge- desregierung bereits ein gutes Stück voraus. Ich hoffe, nannten Ökologiesteuer: Auch hierzu haben wir eine dass wir auch hier bald zu Änderungen kommen und den Reihe von Petitionen bekommen. Die Bürger setzen sich Anliegen der Petenten Rechnung tragen können. insbesondere mit der Einführung der Stromsteuer sowie Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. der Erhöhung der Mineralölsteuer auf Kraftstoffe, Heizöl und Gas kritisch auseinander, die ja in erster Linie die so- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) zial Schwachen treffen: die Arbeitslosen, die Sozialhilfe- empfänger und die Rentner. Ähnlich benachteiligt sind Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters: Es spricht auch die Behinderten, die keinen Ausgleich für die Nach- die Kollegin Jutta Müller, SPD-Fraktion. teile bekommen, die ihnen dadurch entstehen, dass sie zur Erhaltung ihrer Mobilität auf das Auto angewiesen sind. Ebenso häufig sind wir zu Recht dafür kritisiert worden, Jutta Müller (Völklingen) (SPD): Herr Präsident! dass der ÖPNV nicht in hinreichendem Maße von der so Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben eben gehört, genannten Ökologiesteuer ausgenommen worden ist. dass sich gemäß der Statistik sehr viele Menschen immer Deswegen sagen wir dazu – hier stimmen wir mit den vie- noch und immer wieder an den Petitionsausschuss wen- len Petenten überein –: Die Ökologiesteuer ist sozial un- den. Das freut uns, weil es zeigt, dass ein großes Vertrauen gerecht sowie verkehrs- und umweltpolitisch nicht sinn- in dieses Parlament besteht. voll; sie ist weder „öko“ noch logisch. Ich möchte heute ein paar Dinge aufgreifen, die mich (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) immer sehr ärgern. Ich glaube nämlich, dass es sich zum Teil um Petitionen handelt, die uns eigentlich gar nicht Meine Damen und Herren, als Mitglied des Verteidi- hätten erreichen müssen. Ich habe mehrfach Akten auf (B) gungsausschusses möchte ich die Petitionen zur unter- (D) dem Tisch gehabt, bei denen ich gedacht habe, dass daraus schiedlichen Besoldung in Ost und West sowie zur Frage gar keine Petition hätte werden müssen, wenn man vor Ort der Wehrpflicht ansprechen. den vorhandenen Spielraum genutzt und die Dinge an Ort Die FDP-Bundestagsfraktion fordert seit langem, die und Stelle geregelt hätte. Besoldung in Ost und West schrittweise anzugleichen; (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE entsprechende Anträge haben wir eingebracht. Diese An- gleichung entspricht dem Leitgedanken der Armee der GRÜNEN und der PDS sowie bei Abgeordne- Einheit im Jahre zwölf nach der Wiedervereinigung. Die ten der CDU/CSU) Bundesregierung hat es bis jetzt nicht geschafft, eine Per- Ich möchte Ihnen ein paar Beispiele präsentieren, die spektive für die Angehörigen der Bundeswehr zu schaf- zeigen, wie die Praxis aussieht. Ich möchte zunächst ei- fen. Die Zielmarke der Regierung endet bei 90 Prozent. nen Bereich als positives Beispiel erwähnen, in dem die Dabei sind die Arbeitsleistungen, die die Angehörigen der Anzahl der Petitionen drastisch zurückgegangen ist. Es Bundeswehr in Leipzig oder Rostock erbringen, nicht bei gab des Öfteren große Probleme bei der Erteilung von 90 Prozent, sondern wie in Hamburg oder Koblenz bei Visa, vor allen Dingen dann, wenn ein Visum im Ausland 100 Prozent angesiedelt. abgelehnt wurde. Das Problem hat sich aus der Tatsache (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: ergeben, dass die Ablehnung nicht begründet wurde. So- Das gilt aber nicht nur für die Bundeswehr!) mit hatte der Antragsteller überhaupt keine Chance, even- tuelle Mängel abzustellen. – Wenn Sie an dieser Stelle einen Zwischenruf machen, Frau Kollegin, dann bedenken Sie bitte, dass die An- Nach einem sehr konstruktiven Gespräch im Aus- gehörigen der Bundeswehr mit gleicher Ausbildung und schuss mit dem Staatsminister Volmer – er ist leider heute Qualifikation am gleichen Arbeitsplatz arbeiten, aber nicht anwesend; aber vielleicht können ihm die Kollegin- nach wie vor unterschiedlich besoldet werden. Hier sind nen und Kollegen Staatssekretäre das ausrichten – waren Sie als Koalition und als rot-grüne Regierung gefragt, wir sehr erfreut, zu erfahren, dass es zwischenzeitlich Ver- diese Ungleichgewichte endlich abzuschaffen. änderungen in der Verwaltungspraxis gegeben hat. Wenn ein Visum abgelehnt wird, wird die Ablehnung jetzt be- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) gründet. Somit haben der Antragsteller oder auch die ein- Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Ab- ladende Familie vor Ort – das sind meistens diejenigen, schluss noch etwas zur Wehrpflicht sagen. Viele Peten- die sich an uns wenden – die Möglichkeit, eventuelle ten fordern wie die FDP-Fraktion die Aussetzung der Formfehler zu beheben. 20630 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001

Jutta Müller (Völklingen) (A) Wir sehen die Wirksamkeit dieser Änderung an der An- seit einem Jahr gar nicht mehr bei ihrem Mann sei. Da- (C) zahl der Eingaben. Im Jahre 1999 gab es noch 1 000 Peti- raufhin sagte die Familienkasse, dass der Mann dann auch tionen im Bereich des Auswärtigen Amtes. Diese Zahl ist seit einem Jahr zu Unrecht Kindergeld erhalten hat, und für das Jahr 2000 auf unter 400 zurückgegangen. Ich forderte dieses Geld zurück. denke, das hat sehr viel damit zu tun, dass sich die Men- schen nicht mehr an den Petitionsausschuss wenden müs- Der arme Mensch hat umgehend angerufen und gesagt, sen, sondern das vor Ort selber klären können, wenn ein dass das nicht richtig sei. Er habe zwar das Kindergeld be- Besuchervisum abgelehnt wird. kommen, es aber nicht behalten, sondern weitergegeben. Er bekam daraufhin die behördliche Auskunft, er möge (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ doch bitte das Kindergeld an die Familienkasse zurück- DIE GRÜNEN) zahlen – es ging um einen Betrag von 4 000 DM –, seine Zufriedenheit kann man in einigen Gesellschaften nur Frau könne dann eine Nachzahlung beantragen und es schwer allein dann erreichen, wenn man als Frau geboren ihm wieder zurückgeben. wurde. Ob aus religiösem Fanatismus oder ob aus tradi- (Heiterkeit bei der SPD) tionellen Gründen: In einigen Ländern und Regionen die- ser Welt gelten die Menschenrechte nicht für Frauen. Da- – Ja, ja. Sie lachen. Dieser arme Mensch hat den Behör- rauf weisen uns immer wieder Organisationen wie den geglaubt und hat das getan. Als die Frau die Nach- beispielsweise Amnesty International schon lange hin. zahlung beantragt hat, wurde ihr erklärt, dass die Frist für die Beantragung verstrichen sei, sie hätte diese viel früher Der Petitionsausschuss wurde im vergangenen Jahr beantragen müssen. noch einmal auf dieses Problem durch eine Petition auf- merksam gemacht, die von mehr als 100 000 Menschen (Susanne Kastner [SPD]: 4 000 DM weg! unterstützt wurde. In ihr wurde gefordert, die frauen- Glaube nie den Behörden!) spezifische Verfolgung als Asylgrund anzuerkennen und Somit war das Geld weg. den ausländerrechtlichen Abschiebeschutz zu verbessern. Jeder, dem man das erzählt hat, hat gesagt: Das kann Es gab daraufhin ein sehr langes Verfahren. Wir hatten doch wohl nicht wahr sein, das ist doch wohl ein Schild- dank der Staatssekretärin die Möglichkeit gehabt, im Aus- bürgerstreich. schuss mit dem Präsidenten des Bundesamtes für die An- erkennung ausländischer Flüchtlinge, aber auch mit damit An dieser Stelle muss ich mich einmal bei unserer Kol- befassten Entscheiderinnen selbst zu sprechen. Mittler- legin Margot von Renesse bedanken, die uns sehr gehol- weile werden die Spielräume besser genutzt. Das neue fen hat, weil wir wirklich juristischen Beistand in dieser Zuwanderungsgesetz, das heute Morgen auf den Weg ge- Sache brauchten. Der Verstand hat uns nämlich gesagt, (B) bracht wurde, wird – so hoffe ich – dieser Petition Rech- dass das alles eigentlich nicht wahr sein kann. Das Minis- (D) nung tragen. terium hat uns ständig erklärt, dass das so sein muss. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Susanne Kastner [SPD]: Welches Ministerium DIE GRÜNEN) war das?) Nichtsdestotrotz will ich Ihnen noch ein Beispiel prä- – Es war das Finanzministerium; die Vertreter sind heute sentieren, das zeigt, wie Verwaltungshandeln manchmal nicht anwesend. – Wir haben es mittlerweile geschafft, nicht im Sinne des Bürgers durchgeführt wird und wo wir dass dieser Mensch sein Geld zurückerhalten hat. Aber sehr viel nachhelfen müssen. In diesem Fall geht es um immerhin hat es auch zwei Jahre gedauert. ein Ehepaar mit zwei Kindern in Rheinland-Pfalz, also so- zusagen die klassische deutsche Familie. (Susanne Kastner [SPD]: Hat er die Zinsen auch zurückerhalten?) (Dr. Ruth Fuchs [PDS]: Mit zwei Kindern?) – Ich hoffe doch. Es wurde eine einvernehmliche Lösung – Ja, mit zwei Kindern. – Irgendwann hat sich das Ehe- gefunden. paar entschlossen, sich zu trennen. Die Trennung ist eini- germaßen gut vonstatten gegangen. Man hat der Einfach- Das ist für mich so ein Beispiel, wo ich mich frage, ob heit halber vereinbart, dass der Mann Unterhalt zahlt und so etwas überhaupt in den Petitionsausschuss kommen dass das Kindergeld weiterhin über den Arbeitgeber des muss. Hätte man das nicht vor Ort anders regeln können? Ehemanns ausgezahlt wird und dieser es an seine Ehefrau Ich habe noch ein letztes kleines Beispiel: Es ging um weitergibt. die Witwe eines Soldaten, die Versorgungsbezüge aus (Susanne Kastner [SPD]: Oder auch nicht!) der Besoldungsgruppe A 14 begehrt hat. Das hat man vor Ort abgelehnt mit der Begründung, dass der Mann erst – Das hat er immer getan. Die Ehefrau hat eine eides- zwei Jahre vor seinem Tod befördert worden sei. Wir ha- stattliche Versicherung abgegeben, dass sie das Geld im- ben das nachgeprüft. Es hat sich ergeben, dass der Ehe- mer bekommen hat. mann bereits sieben Jahre auf diesem Posten tätig war. Diese Ehe wurde nach einem Jahr geschieden. Die Nach dem so genannten Versorgungsreformgesetz und ei- Frau hat neu geheiratet und bei der Familienkasse bean- ner Übergangsregelung dazu standen dieser Frau die Ver- tragt, dass das Kindergeld über den Arbeitgeber des neuen sorgungsbezüge selbstverständlich zu. Auch hier frage ich Mannes ausgezahlt wird, woraufhin die Familienkasse mich, ob das wirklich der Petitionsausschuss bearbeiten gefragt hat: Scheidung? Die Frau erklärte, dass sie bereits muss. Die Behörde vor Ort muss doch die Gesetze kennen Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20631

Jutta Müller (Völklingen) (A) und den Leuten helfen können. Sie muss Dienstleister und Beschwerden ... an die Volksvertretung zu wenden“, wie (C) Servicezentrum sein. es in Art. 17 des Grundgesetzes heißt. (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Gewiss ist der Petitionsausschuss keine Superrevisi- GRÜNEN, der CDU/CSU und der PDS) onsinstanz. Der Petitionsausschuss hat auch keine exeku- tiven Befugnisse, wie das mancher von den Petenten Es geht mir nicht darum, die Verantwortung vom Peti- meint, hofft oder wünscht. tionsausschuss auf die jeweils zuständigen Behörden zu verlagern. Jede Institution muss ihre Aufgaben nach bes- (Bernd Reuter [SPD]: Und keinen Minister als tem Wissen und Gewissen erfüllen. Das ist nur möglich, Gegenpart!) wenn man sich auf den Bürger zu bewegt. Es scheint in Behörden eine Reflexhaltung zu geben: Sobald ein Bür- – Richtig. – Der Petitionsausschuss wird von den oberen ger kommt und etwas beantragt, heißt es zunächst, dass Zehntausend unserer Gesellschaft sicher nicht gebraucht. das alles nicht geht. Ich denke, diese Reflexhaltung muss Sie verfügen über Geld, Macht, Einfluss und Verbindun- sich ändern. Wenn der Bürger etwas begehrt, muss gesagt gen. Nein, der Petitionsausschuss ist eher ein Ausschuss werden: Wir prüfen einmal, ob das geht, und wenn wir der kleinen Leute. Er ist oft eine Art Notnagel, eine Art helfen können, dann tun wir es auch. letzte Instanz. Sagte zu Zeiten Friedrichs des Großen der Müller von Sanssouci: „Es gibt noch Richter in Berlin“, Unser Ausschusssekretariat würde dadurch sehr ent- so kann heute der Bürger auf den Petitionsausschuss als lastet. Die Kolleginnen und Kollegen des Sekretariats ha- letzten Ansprechpartner im offiziellen Berlin hoffen. Jähr- ben sehr viel zu tun und müssen oft auch knifflige Fälle in lich tun das in rund 20 000 Fällen Bürgerinnen und Bür- angemessener Zeit bearbeiten. Wir werden oft kritisiert, ger, die ihre Petitionen hierher schicken. weil es so lange dauert. – Jetzt leuchtet der Präsident. Über die hier geschilderten Schicksale stehen wir un- (Heiterkeit – Susanne Kastner [SPD]: Herr mittelbar, ständig und in einzigartiger Weise in Verbin- Präsident, Sie leuchten! Es ist Weihnachts- dung mit den Menschen in unserem Land. Wir sind sozu- zeit!) sagen ein vorgeschobener Posten des Bundestages. Wir sind ein Sensorium für legislative Fehlentwicklungen und Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters: Ich muss für administrative Härten. Der Staat ist, wie Friedrich jetzt leider auch eine Reflexhandlung vornehmen. Nietzsche sagt, „das kälteste aller kalten Ungeheuer“. Dass unser Staat nicht zu einem solchen Ungeheuer dege- neriert, dazu gibt es auch den Petitionsausschuss. Aus die- Jutta Müller (Völklingen) (SPD): Ich möchte es ser Aufgabe gewinnen wir unser Selbstbewusstsein. nicht versäumen, mich in einem letzten Schlusssatz beim (B) Sekretariat für die Zuarbeit zu bedanken; denn diese Vor- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie (D) arbeit ist uns bei der Entscheidungsfindung eine wesent- bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNIS- liche Hilfe. Ich denke, dass das auch ein fraktionsüber- SES 90/DIE GRÜNEN und der PDS) greifender Standpunkt ist. Nebenbei gesagt: Die Arbeit des Petitionsausschusses Herzlichen Dank. macht auch Freude, weil sie von allen Kolleginnen und Kollegen ganz überwiegend sehr sachbezogen wahrge- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE nommen wird. Zu dieser Freude trägt auch unsere Aus- GRÜNEN und der PDS sowie bei Abgeordne- schussvorsitzende bei, die ohne Bossallüren zugleich als ten der CDU/CSU) Mutter der Kompanie fungiert. (Beifall im ganzen Hause) Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters: Nun gebe ich das Wort dem Kollegen Martin Hohmann, CDU/CSU- Die Ausschussentscheidungen werden durch die her- Fraktion. vorragende Vorarbeit des Ausschussdienstes mit Freifrau Dr. von Welck an der Spitze sehr erleichtert. Martin Hohmann (CDU/CSU): Herr Präsident! Sehr (Beifall im ganzen Hause) verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Petitionsaus- Drei Dinge aus der Arbeit des Petitionsausschusses schuss ist nicht der Nabel der Welt. Im Gegensatz zum möchte ich kurz ansprechen: Erstens. Besonders bei Asyl- Haushaltsausschuss bewegen wir keine Milliarden. Im rechtsentscheidungen bringen Sie als Kolleginnen und Gegensatz zum Innenausschuss beeinflussen wir kein so Kollegen der Regierungsfraktionen uns als Oppositions- hochemotionales Thema wie die Zuwanderung. Im Ge- abgeordnete manchmal in ein Dilemma. Sie tendieren gensatz zum Forschungsausschuss stellen wir nicht die nämlich bei Ihren Mehrheitsentscheidungen, so manches Weichen für revolutionäre technische oder biomedizini- Mal jedenfalls, mehr zu gutmenschlicher Gesinnungs- sche Neuerungen. ethik als zu Recht und Gesetz. Der Opposition fällt dann Unsere mediale Präsenz und Wirksamkeit ist eher ge- die ungewohnte Aufgabe zu, die rechtlich korrekte Stel- ring. Mit anderen Worten: Man könnte uns für eine graue lungnahme eines rot oder grün geführten Ministeriums Maus unter den Bundestagsausschüssen halten. So sehen gegen die rot-grüne Ausschussmehrheit zu stützen. wir uns aber nicht. Denn immerhin wahrt der Petitions- (Bernd Reuter [SPD]: So ist das Leben!) ausschuss ein Grundrecht: „das Recht, sich einzeln oder in Gemeinschaft mit anderen schriftlich mit Bitten oder – So ist das Leben. 20632 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001

Martin Hohmann (A) Zweitens. Die Petition eines Finanzbeamten aus Fulda die Bürgerinnen und Bürger sorgen mit ihren Bitten und (C) wies auf Arbeitsüberlastung und deswegen verringerten Beschwerden für frische Luft in unserer Demokratie. Gründlichkeitsgrad der Bearbeitung von Steuerbeschei- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN den hin. Zu Recht machte er geltend, dass eine bessere und bei der SPD) Personalausstattung der Finanzämter eine Milliarden- summe in die Staatskasse bringen würde. Mit ihren Hinweisen auf Mängel, ihren Bitten um Ver- besserung und ihren Forderungen zur Gesetzgebung er- (Jutta Müller [Völklingen] [SPD]: Sie regieren möglichen sie es uns, dem Parlament, eine bessere und doch in Hessen! Dann stellen Sie doch die Fi- bürgerfreundliche Politik zu machen. In etlichen Fällen nanzbeamten ein! Das ist doch Ländersache!) konnten wir, wie der Jahresbericht zeigt, – eine ganze Drittens. Noch immer ungelöst ist die Wiedergutma- Reihe von Fällen sind heute in der Debatte auch schon ge- chung für verschleppte Deutsche und deutsche Zwangs- nannt worden – ganz konkret helfen. arbeiter. Am Schicksal von Gustav Ullrich aus Helmstadt Ich möchte an dieser Stelle auf unsere schwierige Ar- wurde dies deutlich. In sowjetischer Kriegsgefangen- beit im Bereich des Asyl- und Ausländerrechts einge- schaft wurde er 1948 zu 25 Jahren Zwangsarbeit im Bes- hen, wo wir einiges erreichen konnten. Ein konkretes Bei- serungslager verurteilt. In Workuta am Polarkreis und in spiel ist die erfolgreich abgeschlossene Eingabe eines der sowjetischen Stadt Asbest hatte er zu schuften. Viele Vaters, der für drei seiner in der Türkei lebenden Kinder seiner Kameraden haben das Lager nicht überlebt, viele Visa beantragt hat. Das Auswärtige Amt hatte seine ur- sind inzwischen gestorben. Die Missachtung seiner Ver- sprüngliche Weigerung zunächst damit begründet, dass gangenheit als deutscher Häftling in sowjetischer Gefan- die Kinder in der Türkei sozial integriert seien und die genschaft durch den deutschen Staat hat ihn betroffen ge- Mutter in der Türkei ja die nächste Bezugsperson sei. macht und enttäuscht. Durch das Petitionsverfahren konnte dann aber ermit- Wenn wir – das ist meine große Bitte an die Regie- telt werden, dass die Mutter unbekannt verzogen war und rungskoalition – ausländischen Zwangsarbeitern, die un- die drei Kinder inzwischen bei einem Onkel wohnten, ter dem NS-Regime gelitten haben, Entschädigungen zah- dessen Haus nach einem Erdbeben unbewohnbar gewor- len, dann sollten wir auch deutsche Zwangsarbeiter, die den war. Nach einer erneuten Prüfung der Sachlage hat unter dem Stalin-System gelitten haben, in gleicher Weise dann die Botschaft in Ankara schließlich die Visa zur Fa- zu berücksichtigen versuchen. milienzusammenführung für die drei Kinder erteilt. Ohne den Petitionsausschuss wäre dies ganz sicher nicht ge- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) schehen. Gustav Ullrich hat seine Enttäuschung mit ins Grab ge- (B) Andere Beispiele aus der Arbeit betreffen strukturelle (D) nommen. Während des Petitionsverfahrens – deswegen Verbesserungen. Zu nennen sind die asylrechtlichen La- darf ich den Namen hier einmal erwähnen – ist er im letz- geberichte des Auswärtigen Amtes, die neu konzipiert und ten Monat verstorben. verbessert wurden. Die Visumspraxis der Auslandsvertre- Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, tun tungen wurde liberalisiert. Die Forderung nach Anerken- wir bitte gemeinsam etwas für die letzten überlebenden nung der nicht staatlichen und auch der geschlechtsspezi- deutschen Zwangsarbeiter! Tun wir etwas für mehr Ge- fischen Verfolgung ist aufgegriffen worden. rechtigkeit für die kleinen Leute! Dennoch kommt der Petitionsausschuss bei der Frage (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) der Gewährung von Asyl auch immer wieder an seine rechtlichen Grenzen. In oft sehr bitteren und tragischen Einzelfällen konnten wir nicht helfen. Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters: Ich gebe das Wort der Kollegin Annelie Buntenbach, Bündnis 90/Die Ich will in diesem Zusammenhang ein Beispiel für wei- Grünen. teren dringenden Handlungsbedarf nennen, nämlich die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention in Deutschland und die Rücknahme der Vorbehalte gegen Annelie Buntenbach (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- die Konvention. Der Ausschuss hat eine entsprechende NEN): Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Petition der Flüchtlingsorganisation Pro Asyl und anderer Wir haben ja heute alle wunderbare Zitate. Auch ich will der Bundesregierung zur Berücksichtigung überwiesen. mit einem Zitat beginnen: „Die unangenehmen Düfte der Mit der Umsetzung der Konvention könnten im deutschen heiligen Institutionen sind mir in die Nase gestiegen.“ Ausländer- und Asylrecht einige der zahlreichen Schutz- Dies hat der Schriftsteller Hans Henny Jahn einmal ge- lücken geschlossen werden. schrieben. Er meinte damit seine Erfahrungen mit Büro- kratie und „Gerichtsmaschinen“, wie er es ausgedrückt Das ist für uns als Parlament und insbesondere als Pe- hat. titionsausschuss so wichtig, dass wir hier immer wieder nachsetzen werden. Auch uns im Petitionsausschuss ist im zurückliegen- den Berichtsjahr allzu oft der unangenehme Duft aus ver- (Beifall bei Abgeordneten der PDS) staubten Amtsstuben, von mangelhaften Gesetzen oder So steht es etwa im Widerspruch zu den Bestimmungen ihrer fehlerhaften Ausführung entgegengeweht. Aber wir der UN-Kinderrechtskonvention, wenn Kinderflüchtlinge haben keinen Grund, uns angewidert abzuwenden; denn in der Praxis in Deutschland mehrere Monate in Abschie- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20633

Annelie Buntenbach (A) behaft verbringen und dort wie Erwachsene behandelt von Eingaben der Bürgerinnen und Bürger bearbeitet; die (C) werden. Nach Erkenntnissen des Ausschusses gibt es für Zahlen wurden bereits genannt. unbegleitete minderjährige Flüchtlinge keine uneinge- Einer der Schwerpunkte unserer Arbeit war wiederum schränkte Teilnahme an der sozialen Infrastruktur in die Auseinandersetzung mit Problemen und Unzuläng- Deutschland. Zum Beispiel erfolgt die gesundheitliche lichkeiten im Zusammenhang mit der Herstellung der Versorgung nur eingeschränkt. Die Unterbringung und deutschen Einheit. Immer wieder beschäftigen uns Betreuung in Jugendhilfeeinrichtungen nach dem Kinder- Ungerechtigkeiten bei den Renten, im Zusammenhang und Jugendhilfegesetz ist nicht gewährleistet. Insbeson- mit dem Vermögensgesetz, bei familienrechtlichen Rege- dere darf die Inanspruchnahme von Kinder- und Jugend- lungen wie dem Versorgungsausgleich und bei der Aner- hilfe nicht länger ein Ausweisungsgrund sein. kennung der beruflichen Biografien in der DDR. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Hier hat meine Fraktion, die PDS, im Bundestag einen bei der SPD und der PDS) deutlichen Schwerpunkt ihrer Arbeit gesetzt. Ich freue Dieser Schritt ist längst überfällig; denn gerade denje- mich, dass immer mehr Bürgerinnen und Bürger unseren nigen Flüchtlingen, die am meisten auf Schutz angewie- Einsatz für die innere Einheit Deutschlands anerkennen sen sind, nämlich Kindern und Jugendlichen, darf die Un- und honorieren. Aber die meisten Probleme, mit denen terstützung nicht verweigert werden. Kinderflüchtlinge wir uns im Petitionsausschuss konfrontiert sehen, sind dürfen in Deutschland nicht länger Kinder ohne Rechte natürlich keine spezifisch ostdeutschen Probleme. Lärm- sein. schutz, Mobbing am Arbeitsplatz, Bau von Umgehungs- straßen, Kindergeld, Versicherungsleistungen und vieles (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, mehr – einiges wurde bereits genannt – tangieren die In- bei der SPD und der PDS) teressen vieler Bürgerinnen und Bürger. Liebe Kolleginnen und Kollegen, unsere Arbeit für Neben der Bearbeitung der einzelnen Petitionen haben Verfolgte und Flüchtlinge ist in den letzten Wochen, nach wir auch die Verantwortung, das parlamentarische Petiti- den Ereignissen des 11. September, nicht einfacher ge- onswesen weiterzuentwickeln, die gesellschaftlichen und worden und ich habe die große Sorge, dass uns in Zukunft politischen Veränderungen zu berücksichtigen, das zu- Erfolge noch schwerer werden. Denn es sind schnell und nehmende Engagement vieler Menschen am demokra- leicht gemachte Punkte in der Öffentlichkeit, wenn jetzt tisch-parlamentarischen Willensbildungsprozess aufzu- unter dem Eindruck der fürchterlichen Terroranschläge greifen und umzusetzen. allenthalben gefordert wird, die Visabestimmungen zu Gerade im Zusammenhang mit dem weiteren Zusam- überprüfen, die Einreise- und Aufenthaltsmöglichkeiten (B) menwachsen Europas und der bevorstehenden Erweite- (D) für Flüchtlinge einzuschränken und die Maßnahmen zur rung der Europäischen Union müssen wir uns immer wie- Aufenthaltsbeendigung zu verstärken. der ins Gedächtnis rufen, dass unsere parlamentarische Aber gerade hier dürfen nicht Unschuldige und Unbe- Form der Bearbeitung der Eingaben nicht selbstverständ- teiligte getroffen werden; denn es wird kein einziger Ter- lich ist. Im Gegenteil: Wir sind ein umzingeltes Land, rorist an seinen Untaten gehindert, wenn Kindern kein Vi- ringsum in den anderen Staaten überwiegt das Modell von sum erteilt wird, um zu ihren Eltern zu kommen, oder Bürgerbeauftragten, auch Ombudsleute genannt. wenn hier lebende Flüchtlinge nicht ausreichend medizi- Das Modell der parlamentarischen Petitionsbearbei- nisch versorgt werden. tung hat in der Bundesrepublik eine lange Tradition. Es (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, hat sich bewährt und wir sollten an ihm festhalten. bei der SPD und der PDS) (Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten Im Gegenteil: Es kommt gerade jetzt darauf an, eine der SPD) humanitäre Orientierung zu bewahren. Ich glaube, dass Ich unterstreiche ausdrücklich die Ausführungen der Vor- der Blick des Petitionsausschusses auf den Einzelfall, auf sitzenden des Petitionsausschusses dazu und zu der be- das konkrete Schicksal, dabei helfen kann, genau hinzu- sonderen Bedeutung der Legislativpetitionen. schauen und nicht pauschal zu urteilen. In diesem Zusammenhang unterstreiche ich auch die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, besondere Bedeutung der gemeinschaftlich von einer bei der SPD und der PDS) Vielzahl von Menschen an das Parlament gerichteten Ein- gaben. Die massenhafte Unterstützung von Legislativpe- Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters: Das Wort titionen zeigt uns, wie das Interesse von Bürgerinnen und hat die Kollegin Heidemarie Ehlert, PDS-Fraktion. Bürgern steigt, aktiv am demokratischen Verfahren mit- zuwirken, sich mit Ideen und Vorschlägen einzubringen und dadurch die Volksvertretungen zu aktivieren. Das Heidemarie Ehlert (PDS): Herr Präsident! Liebe Kol- sollten wir nicht nur begrüßen, sondern weiter fördern. leginnen und Kollegen! Auch ich möchte natürlich mit ei- nem herzlichen Dank an die Mitarbeiterinnen und Mitar- (Beifall bei der PDS) beiter des Ausschussdienstes und an die Kolleginnen und Nicht das Jammern und Wehklagen über tatsächliche Kollegen des Petitionsausschusses beginnen. Selbstver- oder vermeintliche Politikverdrossenheit sind gefragt, ständlich haben wir auch im Jahr 2000 eine große Anzahl sondern Schritte zur Verbesserung der demokratischen 20634 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001

Heidemarie Ehlert (A) Mitgestaltungsmöglichkeiten. Deshalb brauchen wir in Hier zeigt sich auch, dass der Petitionsausschuss das rich- (C) der Petitionsarbeit zukünftig noch mehr Transparenz und tige Gremium ist, um solche Dinge anzugehen. Öffentlichkeit. Wir brauchen mehr Dialogmöglichkeiten, Frau Kollegin Ehlert, wenn Sie fordern, dass die Re- gerade im Bereich der Massenpetitionen. Unser Vorschlag gierung begründen muss, wenn sie bestimmte Petitionen, dafür liegt in Form eines Entwurfes eines Petitionsgeset- die ihr zur Berücksichtigung überwiesen wurden, nicht zes vor. umsetzt, dann möchte ich darauf verweisen, dass Sie dies Im Jahresbericht 2000 haben wir erstmalig das Schick- stets nachlesen können. Denn dies bekommen wir ja sal der Petitionen dokumentiert, die wir zur Berücksichti- schriftlich geliefert. Dann besteht natürlich die Möglich- gung oder zur Erwägung an die Bundesregierung keit, sich damit politisch auseinander zu setzen. überweisen. Auch darauf ist die Vorsitzende des Petiti- Zweitens. Ich möchte Ihnen gerne sagen, dass vom onsausschusses bereits eingegangen. Ich sage dazu aus- Prinzip her die Möglichkeit besteht, zu jeder Petition eine drücklich: Wir brauchen mehr Möglichkeiten, als nur die Debatte zu führen. Ich würde es besser finden, wenn De- Ergebnisse festzustellen und zu veröffentlichen. Deshalb batten zu konkreten politischen Petitionen stattfinden schlagen wir in unserem Gesetzentwurf vor, dass die Bun- könnten. Die Debatten wären dann vielleicht etwas inte- desregierung vor dem Parlament und vor der Öffentlich- ressanter als die jährlich wiederkehrenden Diskussionen keit begründen und rechtfertigen muss, wenn sie dem Vo- zum Jahresbericht, die sehr viele Ähnlichkeiten auf- tum des Bundestages nicht folgen will. weisen. (Beifall bei der PDS) (Beifall bei der SPD und der PDS) Für die Vielzahl der Petitionen, die der Regierung als Ich bin seit 1983 in diesem Ausschuss, und zwar aus Material und den Fraktionen zur Kenntnis überwiesen Überzeugung. Das liegt zum einen daran, dass ich dort werden, bietet sich eine solche Einzelaufführung nicht an. mehr Kollegialität zwischen den Fraktionen feststelle, als Allerdings sollte für Massen- oder Mehrfachpetitionen das in anderen Ausschüssen der Fall ist. Man kann manch- und andere Petitionen von überdurchschnittlicher politi- mal besser gemeinsam Menschen helfen. Zum anderen scher Bedeutung versucht werden, vergleichbare Zusam- hat man durch die Arbeit an den Petitionen – das ist schon menstellungen zu fertigen und zu veröffentlichen. gesagt worden – den direkten Draht zu den Bürgern. Das In der Koalitionsvereinbarung von SPD und Bünd- ist sehr wichtig. Dazu möchte ich sagen: Es ist sehr är- nis 90/Die Grünen von 1998 wurde ein deutliches Mehr gerlich, dass die Bearbeitung von Petitionen oft Jahre, ja an Transparenz versprochen. Viele Bürgerinnen und Bür- Legislaturperioden dauert. Man kann nicht verstehen, ger, die Petitionen einreichen, beziehen sich auf diese Ver- welche Energie man manchmal aufwenden muss, um (B) einbarung. Hier besteht die Chance, zu zeigen, dass und manche Dinge aufs richtige Gleis zu bringen. (D) in welcher Form Wahlversprechen eingehalten und um- Die Sache mit dem Kindergeld ist schon angespro- gesetzt werden. chen worden. Sie hat zwei Jahre gedauert. Herr Kollege Mit Petitionen nehmen die Bürgerinnen und Bürger die Deittert, bei der Ortsumgehung Ratzeburg hat es fast Möglichkeit in Anspruch, die Wahlversprechen der Par- zehn Jahre gedauert, seitdem der Bundestag den ersten teien beim Wort zu nehmen und aus den Reaktionen von Beschluss zur Berücksichtigung getroffen hat. Viele Pe- Parlament und Regierung bei den nächsten Wahlen Kon- tenten resignieren. Sie fassen überhaupt nicht mehr nach, sequenzen zu ziehen. Und das – so ein inzwischen geflü- weil sie denken: Das Thema ist irgendwo im Sande ver- geltes Wort – ist auch gut so. laufen oder verschwunden. Ich danke. Der erste Ortstermin in Ratzeburg hat deutlich ge- macht, dass hier eine Notwendigkeit besteht und dass es (Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten Möglichkeiten der Realisierung gibt, und zwar im Ge- der SPD) gensatz zur Befragung des Regierungsvertreters im Aus- schuss. Damit sind wir damals nicht weitergekommen. Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters: Der Kollege Ich kann jetzt direkt an den Verkehrsminister appellieren, Reinhold Hiller, SPD-Fraktion, hat nun das Wort. dass er diese Petition zum Erfolg führt; denn das ist eine gute Gelegenheit, hier extra darauf hinzuweisen. Reinhold Hiller (Lübeck) (SPD): Herr Präsident! Inzwischen haben wir festgestellt, dass sich alle im Meine Damen und Herren! Zunächst zu Ihnen, Herr Kol- Hause einig sind. Die Möglichkeit, dass hier – ich sage es lege Hohmann. Ich kann mich an ungezählte Petitionen in einmal so – Ministerialbeamte die Bälle von Kiel nach mehreren Legislaturperioden erinnern, die eine Entschä- Berlin hin und her werfen, besteht nun nicht mehr, nach- digung für Zwangsarbeiter, aber auch für andere Opfer dem gefordert wurde, dies gemeinsam anzugehen. Dies forderten. Leider konnten sie damals nicht umgesetzt wer- ist ein gutes Beispiel für den Petitionsausschuss, dass man den. Das muss man dieser Regierung anrechnen: Sie hat beim Bohren der dicken Bretter lange gemeinsam arbei- das getan, und zwar in dem Wissen, dass es bei einer sol- ten muss, bevor man zum Erfolg kommt. chen Gesetzgebung keine Gerechtigkeit für alle geben (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten kann. Dafür verdient sie ein Lob. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der (Beifall bei der SPD) CDU/CSU, der FDP und der PDS) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20635

Reinhold Hiller (Lübeck) (A) Ich kann mich auch an die Petition einer mittelständi- als die Arbeit in anderen Ausschüssen. Die Arbeit hat auch (C) schen Lübecker Firma aus meinem Wahlkreis erinnern. Es eine hohe Erfolgsquote. Das wird oft nicht gesehen, geht hat jahrelang gedauert, um eine bürokratische Regelung aber aus dem Bericht hervor. Ich habe die Kollegialität be- zur Begrenzung des Branntweinmonopols – ich will den reits angesprochen. Diese ist besonders wichtig, wenn Fall gar nicht nennen – aufzuheben. Davon waren circa man in der Opposition ist, weil man ja zunächst die Mehr- 50 Arbeitnehmer betroffen, die durch Bürokratenwillkür heit überzeugen muss. Das wissen wir auch, weil wir es um ihren Job gebracht wurden. Der Petitionsausschuss hat 16 Jahre lang erlebt haben; ich habe in diesem Zusam- dies in Ordnung gebracht. Ich muss sagen: Die Mitarbei- menhang bereits ein Beispiel genannt. ter sind wieder eingestellt worden. Was kann uns mehr Unsere Arbeit findet international viel Beachtung. Wir freuen als das? haben sehr oft Besuche von Delegationen, die sich über Ich muss etwas relativieren. Zu diesem Thema haben die Arbeit unseres Ausschusses informieren wollen. Auch wir einmal eine Debatte gehabt. Ich habe sehr scharfe das ist wichtig. Worte für Finanzminister Waigel gefunden. Inzwischen Das Letzte ist: Die Arbeit macht Freude, weil der Kon- weiß ich, dass dieses Problem gar nicht zur politischen takt zu den Betroffenen etwas enger ist als in anderen Aus- Leitung vorgedrungen ist. Darin liegt ein weiteres Pro- schüssen. Dies alles sind gute Gründe, allen Beteiligten blem: Die Dinge, die wir an die Ministerien überweisen, im Ausschuss, aber natürlich auch unseren Mitarbeitern werden von der politischen Leitung nicht ernst ge- und dem Sekretariat herzlichen Dank für die gute Zusam- nommen. menarbeit zu sagen. Hier ist es jemand gewesen, der offensichtlich Freude (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten an bürokratischen Verordnungen hatte, die ohne Sinn und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der Verstand waren. Die Parlamentarische Staatssekretärin CDU/CSU, der FDP und der PDS) Hendricks hat dieses Problem gelöst. Das Ergebnis habe ich Ihnen bereits geschildert. Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters: Als letzte Gegen solche Probleme bei komplizierten Themen an- Rednerin in dieser Debatte hat nun die Kollegin Katharina zukämpfen ist für uns nicht immer leicht. Das ist der ent- Reiche, CDU/CSU-Fraktion, das Wort. scheidende Moment, wo ich mich auch bei den Mitarbei- tern des Ausschussdienstes bedanke, die uns bei diesen Petitionen helfen. Katherina Reiche (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In einem Punkt möchte ich An diesen Beispielen kann man erkennen, wie viel Ge- mich meinen Vorrednern anschließen. Auch ich sage (B) duld notwendig ist, um im Petitionsausschuss erfolgreich einen herzlichen Dank an die Mitarbeiterinnen und (D) arbeiten zu können. Deshalb ist es besonders ärgerlich Mitarbeiter des Ausschussdienstes, ohne die es diesen – es hat sich etwas zum Besseren geändert, aber das Pro- Jahresbericht 2000 nicht gäbe. Je länger ich im Petitions- blem ist nicht gelöst –, dass die Bundesregierung Berück- ausschuss mitarbeite, desto mehr weiß ich die unermüdli- sichtigungsbeschlüsse nicht umsetzt. Natürlich muss sie che, fast schon akribische Arbeit des Ausschussdienstes das nicht. Aber wie sollen wir den Bürgerinnen und Bür- zu schätzen. Vielen Dank an Sie, Sie leisten einen wichti- ger erklären, dass es, wenn der Deutsche Bundestag etwas gen Beitrag zum Funktionieren unseres Parlamentes, aber entscheidet, Vollzugsdefizite gibt? Das ist sehr schwierig. auch einen Beitrag zur demokratischen Kultur in unserem Ich sage, dass damit die Glaubwürdigkeit in die Politik Land. insgesamt Schaden nimmt, vielleicht die Bundesregie- rung weniger, aber dafür das Parlament, das nicht ernst Auch ich möchte – Kollege Nolting hat es bereits an- genommen wird. gesprochen – feststellen, dass der Anteil der Petenten aus den neuen Ländern, die sich an den Ausschuss wenden, Ein weiteres positives Beispiel ist die Möglichkeit der steigt. Auch dies ist ein Zeichen dafür, dass viele Men- Sozialversicherung für die Seeleute. Es handelt sich da- schen aus der ehemaligen DDR ihr Recht wahrnehmen, bei um eine Petition, die schon seit Jahren, über mehrere Entscheidungen zu hinterfragen und überprüfen zu lassen. Legislaturperioden läuft. Es wird kaum eine Möglichkeit Viele wollen mit ihren Vorschlägen aktiv die Demokratie gefunden, der Eingabe gerecht zu werden. Ich habe erst mitgestalten und versuchen auf diesem Weg, mit der Po- heute einen Brief aus dem Finanzministerium bekommen, litik in Dialog zu treten. wonach es im Zusammenhang mit dieser Petition erneute Schwierigkeiten gibt. Ich glaube, dass diese Petition nie Ich möchte Ihnen von einer Petition berichten, die sich erledigt werden wird. Trotzdem konnte bereits vielen mit dem Rehabilitierungsverfahren eines Bürgers aus den Menschen geholfen werden. Das aufgeworfene Problem neuen Ländern beschäftigt und exemplarisch die bis heute ist bei den Leuten, die politisch mit dieser Materie zu tun andauernde Ungleichbehandlung der Opfer politischer Verfolgung in der ehemaligen DDR verdeutlicht. Der Pe- haben, im Bewusstsein. Dazu hat auch dieser Ausschuss tent war in der ehemaligen DDR wegen kirchlicher Frie- etwas geleistet. Vorwürfe, Beschlüsse des Petitionsaus- densarbeit in politischer Haft und wurde 1984 von der schusses seien nicht umgesetzt worden, treffen sowohl Bundesrepublik Deutschland freigekauft. Mit seiner Peti- das Parlament als auch die Regierung. tion forderte er eine Überprüfung der Haftentschädigung Zum Schluss möchte ich Folgendes sagen: Die Peti- und eine Ehrenpension für Verfolgte der DDR-Diktatur. tionsarbeit ist sehr wichtig für die Menschen direkt. In- Mit einem solchen Anliegen haben sich weit über 40 wei- sofern ist die Arbeit im Petitionsausschuss etwas anders tere Bürgerinnen und Bürger an uns gewandt. 20636 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001

Katherina Reiche (A) Dazu kommen Menschen, die in der Sowjetischen Be- senhausen am vergangenen Sonntag. Ich hätte mir ge- (C) satzungszone unter Verfolgung und Inhaftierung durch wünscht, dass bei der Eröffnung dieser Ausstellung, mit die sowjetische Besatzungsmacht litten. Wie Sie wissen, welcher der etwa 60 000 deutschen Gefangenen und der war die Forderung nach einer Ehrenpension in Höhe von 12 000 Toten gedacht wird, auch hochrangige Vertreter monatlich 1 000 DM sowie eine Erhöhung der Kapital- der Bundesregierung teilgenommen hätten. Das war nicht entschädigung für die Haftopfer von derzeit 600 DM der Fall. auf 1 000 DM für Verfolgte der DDR-Diktatur auch Ge- genstand eines Gesetzentwurfs, der von der CDU/CSU- Es darf in Deutschland nicht hingenommen werden, Fraktion eingebracht wurde, nämlich dem 3. SED-Un- dass sich Opfer der Diktatur und Unrechtsherrschaft der rechtsbereinigungsgesetz. Die Petition wurde wie der ehemaligen sowjetischen Besatzungsmacht als Verlierer Gesetzentwurf mit der rot-grünen Mehrheit abgelehnt. Ich und Ausgestoßene fühlen, während die ehemaligen Täter fand es enttäuschend, dass beide Regierungsfraktionen in das politische Bett von Landesregierungen steigen. Ich keinerlei Entgegenkommen gezeigt haben. frage mich schon jetzt, wann eventuell ein zukünftiger PDS-Kultursenator in Berlin die erste Gedenkstätte für (Jutta Müller [Völklingen] [SPD]: Was haben Opfer von DDR-Willkür und des SED-Unrechtsregimes Sie denn bei der Haftentschädigung gemacht?) schließen wird. So wurde die Ablehnung der Petition unter anderem da- Von der jetzigen Entscheidung geht folgendes falsche mit begründet, dass die Ehrenpension in den Opferver- Signal aus: Anpassung an ein Regime lohnt sich bis zur bänden selbst nicht thematisiert worden sei. Ich frage Rente; Widerstand und das Einsetzen für Menschenrechte mich, ob man mit Scheuklappen durch das Land gereist bringen Nachteile mit sich. Das ist falsch. ist; denn seit 1999 haben sich die Opferverbände wie der Verein zur Aufarbeitung von Folgeschäden der SED-Dik- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) tatur, der Bund der Stalinistisch Verfolgten oder auch der Es gab kein demokratisches Petitionsrecht in der DDR. Kurt-Schumacher-Kreis mehrfach um eine entsprechende Deshalb sind das Wirken des Petitionsausschusses und die Regelung bemüht. Auch in einer internen Anhörung un- öffentliche Wertschätzung des Petitionsrechts für alle serer Fraktion am 8. März dieses Jahres haben die Opfer- Bürgerinnen und Bürger nicht hoch genug einzuschätzen. verbände ihre Forderung nach einer Ehrenpension be- kräftigt. Vielen Dank. Meine Damen und Herren von der Koalition, Sie haben (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- zeitgleich dem 2. Anspruchs- und Anwartschaftsüber- neten der FDP) führungsgesetz zugestimmt und das 3. SED-Unrechtsbe- (B) reinigungsgesetz abgelehnt. Sie tragen damit die Verant- Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters: Ich schließe (D) wortung dafür, dass diejenigen, die für Freiheit und die Aussprache. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10 a Demokratie unter schwierigen Bedingungen, unter den bis 10 e sowie den Zusatzpunkt 16 auf: Bedingungen einer Diktatur, gekämpft haben, heute leer ausgehen und teilweise von der Sozialhilfe leben müssen, 10. a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- während viele ehemalige Privilegierte des SED-Staates richts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und wie unter anderem ehemalige Mitarbeiter der Staatssi- Wohnungswesen (15. Ausschuss) cherheit, die die Diktatur zu verantworten hatten und von ihr profitierten, die gespitzelt und unterdrückt haben, für – zu dem Entschließungsantrag der Abgeord- ihr Wirken belohnt werden. neten Dirk Fischer (Hamburg), Dr.-Ing. (Jutta Müller [Völklingen] [SPD]: Was ist Dietmar Kansy, Dr. Klaus W. Lippold (Offen- denn mit den Blockflöten?) bach), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU zu der Unterrichtung durch die In diesen Zusammenhang gehört auch die Feststellung, Bundesregierung dass die Opfer der beiden deutschen Diktaturen im ver- gangenen Jahrhundert von Rot-Grün unterschiedlich be- Verkehrsbericht 2000 handelt werden. Die Ablehnung der vorhin erwähnten Pe- Integrierte Verkehrspolitik: Unser Konzept tition wurde mit dem Hinweis begründet, dass eine für eine mobile Zukunft Ehrenpension zu einer nicht sachgerechten Differenzie- rung im Hinblick auf andere Opfer, insbesondere im Hin- – zu dem Antrag der Abgeordneten Dirk Fischer blick auf die zur Zeit des Nationalsozialismus Inhaftier- (Hamburg), Dr.-Ing. Dietmar Kansy, Dr. Klaus ten, führen werde. Ich meine, dass es nicht möglich sein W. Lippold (Offenbach), weiterer Abgeordne- kann, Opfer der SED-Diktatur im Vergleich mit denen ter und der Fraktion der CDU/CSU der NS-Herrschaft zu klassifizieren oder zu deklassieren. Konzept für die zukünftige Finanzierung So schwierig der Vergleich zwischen beiden Diktaturen der Bundesverkehrswege ist: Jeder Tote, Verfolgte oder Verletzte ist einer zu viel. – Drucksachen 14/5081, 14/4688 (neu), (Beifall bei der CDU/CSU) 14/5317, 14/7448 – Ein weiteres Beispiel hierfür ist die Eröffnung der Berichterstattung: Dauerausstellung über das sowjetische Speziallager Abgeordnete Klaus Hasenfratz Nr. 7/Nr. 1 im früheren Konzentrationslager Sach- Reinhard Weis (Stendal) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20637

Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters (A) b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Berichterstattung: (C) Wolfgang Börnsen (Bönstrup), Dirk Fischer Abgeordnete Reinhard Weis (Stendal) (Hamburg), Eduard Oswald, weiterer Abgeord- Wilhelm Josef Sebastian neter und der Fraktion der CDU/CSU Albert Schmidt (Hitzhofen) Mehr Sicherheit durch Kreisverkehre Horst Friedrich (Bayreuth) Dr. Winfried Wolf – Drucksache 14/7452 – Überweisungsvorschlag: ZP 16 Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) Friedrich (Bayreuth), Hans-Michael Goldmann, Ausschuss für Gesundheit Dr. Karlheinz Guttmacher, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk Fischer (Hamburg), Eduard Oswald, Dr.-Ing. Kfz-Steuer für schwere LKW auf EU-Mindest- Dietmar Kansy, weiterer Abgeordneter und der niveau absenken – schadstoffarme LKW för- Fraktion der CDU/CSU dern Deutsche Verkehrsinfrastruktur auf EU- – Drucksache 14/7325 – Osterweiterung vorbereiten Überweisungsvorschlag: – Drucksache 14/7455 – Finanzausschuss (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

d) Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- Zum Gesetzentwurf der Bundesregierung liegen ein regierung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Änderungsantrag der Fraktion der PDS sowie ein Ent- zes zur Einführung von streckenbezogenen schließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU vor. Gebühren für die Benutzung von Bundesau- Interfraktionell ist für die Aussprache eine Stunde ver- tobahnen mit schweren Nutzfahrzeugen einbart worden. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist – Drucksachen 14/7013, 14/7087 – so beschlossen. (Erste Beratung 192. Sitzung) Ich eröffne die Aussprache und gebe als erstem Redner das Wort dem Kollegen Reinhard Weis (Stendal) für die aa) Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- Fraktion der SPD. (B) schusses für Verkehr, Bau- und Wohnungs- (D) wesen (15. Ausschuss) Reinhard Weis (Stendal) (SPD): Herr Präsident! – Drucksache 14/7822 – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich, dass wir Berichterstattung: heute das Gesetz zur Einführung der LKW-Maut auf Bun- Abgeordnete Reinhard Weis (Stendal) desautobahnen verabschieden werden. Wilhelm Josef Sebastian Albert Schmidt (Hitzhofen) (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Das wird sich Horst Friedrich (Bayreuth) erst später herausstellen!) Dr. Winfried Wolf Damit machen wir den Weg für eine Neuordnung und eine Neuorientierung in der europäischen Güterverkehrspoli- bb) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Aus- tik frei. schuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung Hinter dem sperrigen Titel „Gesetz zur Einführung von – Drucksache 14/7823 – streckenbezogenen Gebühren für die Benutzung von Berichterstattung: Bundesautobahnen mit schweren Nutzfahrzeugen“ ver- Abgeordnete Dietrich Austermann birgt sich durchaus eine verkehrspolitische Revolution. Dr. Günter Rexrodt Wir verabschieden heute ein hoch innovatives Konzept, Dr. Uwe-Jens Rössel das den künftigen Güterverkehr in Europa prägen wird. Dr. Elke Leonhard Innovativ ist das gesamte Konzept. Wir vollziehen damit Franziska Eichstädt-Bohlig ein Stück weit einen Systemwechsel von der reinen Steu- erfinanzierung der Verkehrsinfrastrukturen hin zu einer e) Beratung der Beschlussempfehlung und des zumindest anteiligen Nutzerfinanzierung. Berichts des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (15. Ausschuss) zu dem Antrag (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ der Abgeordneten Horst Friedrich (Bayreuth), DIE GRÜNEN) Hans-Michael Goldmann, Dr. Karlheinz Die Debatten im Ausschuss haben gezeigt, dass dies von Guttmacher, weiterer Abgeordneter und der allen Fraktionen so gesehen wird. Fraktion der FDP Das Konzept ist einfach und überzeugend. Wer weit Keine Abgabenerhöhung durch LKW-Maut fährt und die Verkehrsinfrastruktur viel benutzt, zahlt – Drucksachen 14/7072, 14/7821 – auch mehr. Wer die Bundesautobahnen in höheren Maße 20638 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001

Reinhard Weis (Stendal) (A) abnutzt, zum Beispiele in 40-Tonnen-LKW, entrichtet uns bereits beschlossene Anti-Stau-Programm mit einem (C) eine höhere Gebühr als derjenige, der mit geringerer Volumen von 7,4 Milliarden DM, das ab dem Jahr 2003 Achslast die Straßen weniger beschädigt. Der LKW, der bis 2007 abgewickelt wird, soll aus diesem Mautaufkom- die Umwelt in hohem Maße mit Schadstoffen belastet, men bezahlt werden. Wer die Zahlen der mittelfristigen zahlt mehr als der, der den neuesten Stand der Abgasrei- Finanzplanung kennt, weiß, dass diese Ausgaben für die nigungstechnik einsetzt. Das Prinzip der Nutzerfinanzie- Verkehrsinfrastruktur tatsächlich on top eingesetzt wer- rung führt auch endlich dazu, dass die ausländischen den. LKW angemessener an der Finanzierung unserer Ver- Natürlich hat es auch den Wunsch gegeben, eine kehrsnetze beteiligt werden. Zweckbindung in das Gesetz hineinzuschreiben. Wir ha- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ben uns dagegen entschieden. Die Zweckbindung der DIE GRÜNEN) LKW-Maut zur Finanzierung von Verkehrsinfrastruktur lässt sich besser durch die Institution einer Verkehrsin- Innovativ ist der Systemwechsel auch im Hinblick auf frastrukturfinanzierungsgesellschaft darstellen. unser erklärtes Ziel, den Güterverkehr auf der Schiene bis zum Jahr 2015 zu verdoppeln. Man kann es den Skep- (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: So kann tikern in Ihren Reihen gar nicht oft genug sagen: Die man das auch umschreiben!) Verlagerung des Güterverkehrs von der Straße auf die Der Entwurf für ein entsprechendes Gesetz wurde gestern Schiene hat nichts mit Schwärmerei zu tun. Die Wirklich- im Bundeskabinett verabschiedet und wird einen weiteren keit ist, dass der Straßengüterverkehr bislang viel zu bil- Meilenstein bei der Reform der Verkehrspolitik darstel- lig ist. Dies ist unter anderem ein Grund dafür, dass der len. Schienengütertransport bei weitem hinter den an ihn ge- richteten Erwartungen zurückbleibt. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Wenn es nur so wäre, Herr Kollege, dann hätten Sie viel- Natürlich wird die LKW-Maut deutlich in das Preisge- leicht sogar Recht!) füge des europäischen Transportmarkts eingreifen. Straßengütertransport ist derzeit zu billig – ich erwähnte – Es gibt mehrere Gründe. Einen wichtigen Grund habe es schon –; er deckt seine Kosten nicht und das kommt ei- ich genannt und das ist die Kostenstruktur. Ein LKW fährt ner aufwendigen Subventionierung durch den Steuerzah- heute mit einer Jahresvignette zum Preis von 2 500 DM ler gleich. Dies wird sich künftig ändern. Straßengüter- rund 100 000 Kilometer weit. Ein Güterzug kommt für transport und damit die Frachtrate wird künftig einen diesen Betrag gerade einmal quer durch Deutschland. angemessenen, einen kostenorientierten Preis haben. (B) (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ An dieser Stelle ist es unvermeidlich, über die beste- (D) DIE GRÜNEN]: So ist es! Leider wahr!) henden Wettbewerbsverzerrungen auf dem europä- Insofern schafft die LKW-Maut endlich mehr Chancen- ischen Transportmarkt zu sprechen. Diese Wettbewerbs- gleichheit zwischen den Verkehrsträgern. verzerrungen – wir sind mit dem Gewerbe darüber im Gespräch gewesen – sind seit Jahren bekannt. Allerdings (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sind sie eher schärfer geworden, als dass sie abgebaut DIE GRÜNEN) worden wären. Unsere europäischen Nachbarn haben in Innovativ ist die Einführung der entfernungsabhängi- den letzten Jahren zu einem Subventions- und Steuer- gen LKW-Maut darüber hinaus auch in technischer Hin- dumpingwettbewerb angesetzt. Jetzt ist der richtige Mo- sicht. Es ist ein faszinierendes Projekt, auf das unsere ment, um die Wettbewerbsbedingungen in Europa für das Nachbarstaaten mit großen Erwartungen schauen. Darin heimische Gewerbe fairer zu gestalten. steckt großes Innovations- und Investitionspotenzial. Das (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ist ein milliardenschwerer Markt über Europa hinaus. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wir können stolz darauf sein, dass wir damit dem An- spruch, führende Industrienation in Europa zu sein, ge- Es ist deshalb unabdingbar, eine mit dem EU-Recht ver- recht werden. trägliche Lösung zu finden, um die fiskalischen Nachteile für das deutsche Transportgewerbe abzubauen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Renommierte Wissenschaftler haben nach profunden Untersuchungen die durch schwere LKW tatsächlich ver- Die Mauthäuschenstationen im europäischen Ausland, ursachten Wegekosten auf Bundesautobahnen abge- an denen jeder von uns schon Stunden seines Urlaubs bei schätzt. Aufgrund dieser Abschätzungen halten sie bei glühender Hitze zugebracht hat, vielleicht auch eher einem mittleren Wert eine Mauthöhe von 29,3 Pfennig durchlitten hat, muten dagegen doch sehr antiquiert an. – gewöhnen wir uns ruhig schon an die neue Währung: von 15 Cent – für angemessen. Dieses Gutachten liegt (Hans-Günter Bruckmann [SPD]: Wie wahr! dem Deutschen Bundestag, zumindest dem Verkehrsaus- Wie wahr!) schuss, noch nicht vor. Was wir darüber bisher erfahren Nüchtern betrachtet gewinnen wir mit der LKW-Maut haben, klingt zwar plausibel; gleichwohl wird der Deut- neue Investitionsspielräume. Bei etablierten Mauterhe- sche Bundestag diese Rechnung im Einzelnen noch sehen bungssystemen werden wir mit Mauteinnahmen von wollen. Damit verbinde ich die Bitte an das Ministerium, knapp 7 Milliarden DM jährlich rechnen können. Das von uns die entsprechenden Informationen zu geben. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20639

Reinhard Weis (Stendal) (A) Bei der Bewertung haben allerdings auch wir die Wir können bei allen Problemen des Transportge- (C) EU-Richtlinie 1999/62/EG zu beachten. Sie zwingt die werbes, die wir anerkennen, aber auch nicht darum Bundesregierung, bei der Ermittlung der Verkehrswege- herumreden, dass es im Straßengütertransportgewerbe kosten sozusagen mit dem spitzen Bleistift zu rechnen. Überkapazitäten gibt. Eine Marktbereinigung wird Natürlich gibt es die Idee, die Mauthöhe willkürlich he- unvermeidlich sein, damit heute noch gesunde unterneh- raufzusetzen, um eine größere Lenkungswirkung zu er- merische Existenzen im Transportgewerbe auch weiterhin zielen oder um einen größeren Spielraum zum Ausgleich eine gute Perspektive für die Zukunft haben können. Auch fiskalischer Nachteile des Gewerbes zu gewinnen. Wir die Finanzierung eines guten Harmonisierungsschrittes kennen diese Diskussion auch aus der Anhörung zur durch die Bundesregierung wird daran nichts ändern. LKW-Maut. Das ist nicht realistisch. Die Mauthöhe kann man nicht aushandeln. Sie muss auch anspruchsvollsten Um es klar zu sagen: Uns liegt an einem starken Trans- Überprüfungen standhalten und notfalls gerichtsfest sein. portgewerbe, das es nicht nötig hat, finanziell sozusagen auf der Felge zu fahren. Ausflaggung, das heißt ein Ver- Nach unseren Erkenntnissen bietet die nun vorgeschla- drängungswettbewerb von deutschen durch ausländische gene Mauthöhe genügend Luft, um neue Investitions- Nummernschilder, wäre für die deutsche Wirtschaft die spielräume zu erschließen und gleichzeitig einen Harmo- schlechteste aller möglichen Lösungen. nisierungsschritt zu finanzieren. Nach Lage der Dinge kommt hierfür unter anderem auch eine begrenzte Mine- (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Genau das ralölsteuerrückerstattung infrage. Die Gespräche über beschließen Sie mit dem Gesetz!) Umfang und Modell werden mit dem Gewerbe zu inten- Verlagerung heißt deshalb Verlagerung auf die Schiene sivieren sein. und nicht Verlagerung auf ausländische LKW. Wenn aber der Eindruck erweckt werden soll, dass eine (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Vollkompensation für die LKW-Maut angemessen ist, DIE GRÜNEN) wie es die FDP in ihrem Antrag und die CDU/CSU in ihren bisheringen Debattenbeiträgen suggeriert haben, so Eine letzte ernst zu nehmende Sorge gilt den so ge- ist das unredlich. Das muss ich in Ihre Richtung sagen. nannten Ausweichverkehren. Wir haben deshalb die Bundesregierung in unserem Antrag gebeten, umgehend (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Abhilfe zu schaffen, falls sich der LKW-Verkehr an ein- DIE GRÜNEN – Renate Blank [CDU/CSU]: zelnen Orten auf nachgeordnete Straßen verlagert. Warum ist das unredlich?) Wir haben darüber hinaus die Bundesregierung gebe- Die Vollkompensation wird nicht einmal vom betroffenen ten, dem Deutschen Bundestag erstmals nach zwölf Mo- Gewerbe selbst gefordert. Es wäre schlicht lächerlich, das naten und dann alle drei Jahre Auskunft darüber zu geben, (B) Geld einmal gewissermaßen im großen Topf umzurühren (D) ob es zu nennenswerten Ausweichverkehren gekommen und dann am Ende alles nur neu zu verteilen. ist und wie die Bundesregierung reagiert hat. Wir hoffen, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ damit die Bedenken, die zum Beispiel von der Bundes- DIE GRÜNEN) vereinigung der kommunalen Spitzenverbände vorgetra- Eine volle Abgabenneutralität liefe dem wesentlichen gen wurden, ausräumen zu können. Ich bitte deshalb um Zweck der Maut, nämlich der gerechten Wegekostenanlas- Zustimmung zu unserem Gesetz. tung, völlig zuwider. Ich empfehle deshalb dringend, den Noch ein Wort zu den Anträgen der CDU/CSU und zu FDP-Antrag abzulehnen. den Kollegen der CDU/CSU-Fraktion. Nehmen Sie bitte Insgesamt hat die rot-grüne Koalition gegenüber dem endlich einmal zur Kenntnis, was diese Bundesregierung heimischen Transportgewerbe eine gute Leistungsbilanz. und die Koalitionsfraktionen seit 1998 zur Herstellung von Planungssicherheit und zur Finanzierung von Ver- (Lachen des Abg. Horst Friedrich [Bayreuth] kehrsinfrastrukturen des Bundes bereits geleistet haben [FDP]) und auch weiter leisten werden. Wir haben einiges dafür getan, die Wettbewerbsverhält- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nisse zu verbessern: DIE GRÜNEN – Dirk Fischer [Hamburg] (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Für alle an- [CDU/CSU]: Alles ungedeckte Wechsel! – deren außerhalb Deutschlands, das stimmt!) Manfred Grund [CDU/CSU]: Das haben wir gesehen!) Wir haben mit dem Gesetz zur Bekämpfung der illegalen Beschäftigung die einheitliche Fahrerlizenz geschaffen; Wir haben die Verkehrsinvestitionen auf Rekordhöhe die Bundesregierung hat sich bei den Beitritts- gebracht und wir werden sie dort halten. Die letzten Haus- verhandlungen für lange Übergangsfristen stark gemacht; haltsjahre belegen das. Die Politik der Vorgängerregie- bei der Anpassung der neuen AfA-Tabellen wurde auf rung hatte die Verkehrsinvestitionen im Wesentlichen als eine Verlängerung der Abschreibungsfristen verzichtet Sparkasse der Nation betrachtet. Das ist Ihre Verantwor- und die 30 Milliarden DM Entlastung des Mittelstandes tung. durch die Steuerreform kommen auch dem mittelstän- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ disch organisierten deutschen Verkehrsgewerbe zugute. DIE GRÜNEN – Dirk Fischer [Hamburg] (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ [CDU/CSU]: Völliger Quatsch! Sie haben DIE GRÜNEN) 5 Milliarden DM gestrichen!) 20640 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001

Reinhard Weis (Stendal) (A) Damit hat diese Bundesregierung endlich Schluss ge- tenstich und die vollständige Durchfinanzierung bis zur (C) macht. Und mit den bereits verabschiedeten Investitions- Verkehrsfreigabe. programmen zur Verkehrsinfrastruktur haben wir Sicher- (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ heit über ein Investitionsvolumen von insgesamt DIE GRÜNEN]: Unzulässige Vorratspla- 83 Milliarden DM geschaffen. nung!) Schließlich arbeiten wir mit Hochdruck an einer Neu- Diese Zahlen stammen aus dem Bericht der Pällmann- auflage des Bundesverkehrswegeplans. Kommission, die von Ihrem Minister und nicht von der (Lachen bei der CDU/CSU – Dirk Fischer Opposition eingesetzt worden ist. [Hamburg] [CDU/CSU]: Der sollte doch in die- ser Legislaturperiode kommen!) Zur Bewältigung dieser finanziellen Herausforderung war es sinnvoll, die gewerblichen Nutzer der Verkehrs- Wir werden den alten, völlig unterfinanzierten Bundes- wege stärker an der Finanzierung zu beteiligen. Die verkehrswegeplan nicht einfach fortschreiben, sondern frühere reine Haushaltsfinanzierung reichte für die Fi- ihn auf eine neue Grundlage stellen. nanzbedarfe teurer Infrastruktur nicht mehr aus. Sie (Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Wer hat musste durch Nutzerentgelte ergänzt werden. den in die nächste Legislaturperiode verscho- Der erste Einstieg in die Nutzerfinanzierung war die ben?) zeitbezogene LKW-Gebühr. Die Umstellung auf eine – Das ist wohl wahr, aber Sie wissen, dass Ihrer bis zum elektronisch erhobene streckenbezogene LKW-Straßen- Jahre 2012 oder 2015 gelten sollte. benutzungsgebühr ist schon von unserer früheren Bun- desregierung eingeleitet worden. Bundesverkehrsminis- (Beifall der Abg. Franziska Eichstädt-Bohlig ter Wissmann hat wesentliche Vorarbeiten bis hin zur [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Dirk Fischer Lösung der datenschutzrechtlichen Probleme [Hamburg] [CDU/CSU]: Auf die Schippe wol- len wir uns nicht nehmen lassen!) (Beifall bei der CDU/CSU – Eduard Oswald [CDU/CSU]: So ist es gewesen! Eine wertvolle Der Deutsche Bundestag wird sich damit befassen, sobald Arbeit!) die Vorarbeiten abgeschlossen sind. und durch den Großversuch auf der A 555 zwischen Wir werden auch in den nächsten Jahren unsere Infra- Bonn und Köln auch die Erprobung der möglichen tech- strukturpolitik auf hohem finanziellen Niveau fortsetzen. nologischen Lösung durchgeführt. Ich bitte Sie deshalb mit gutem Gewissen, die Anträge der (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ (B) CDU/CSU mit den Drucksachennummern 14/5081 und (D) 14/5317 abzulehnen. DIE GRÜNEN]: Was ist denn aus dem Wissmann geworden? Von dem hört man gar (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nichts mehr!) DIE GRÜNEN) Über den Grundsatz wird also nicht gestritten. Gleiches gilt für den Änderungsantrag der PDS-Frak- tion, der heute für die zweite Lesung eingebracht worden Allerdings ist Ihr Gesetzentwurf, Herr Minister ist. In ihm sind die gleichen Argumente für eine Auswei- Bodewig, ohne die Zweckbindung des Gebührenaufkom- tung der Mautpflicht auf Fahrzeuge ab 3,5 Tonnen, zur mens für unsere Straßeninfrastruktur völlig verfehlt. Begrenzung von Verlagerungseffekten und zur Lenkungs- (Beifall des Abg. Eduard Oswald [CDU/CSU]) wirkung der Maut, die wir schon gestern im Ausschuss mit unserer Gesetzesbegründung entkräftet haben, enthal- Die Erlöse aus der heutigen LKW-Vignette in Höhe ten. von etwa 800 Millionen DM pro Jahr werden bei der vom Minister angekündigten Mauthöhe von durchschnittlich Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. 29,3 Pfennig pro Kilometer auf fast 7 Milliarden DM pro (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Jahr mehr als verachtfacht. Dieser Hinweis nur, damit DIE GRÜNEN) man sich über die Dimension der zusätzlichen Belastung des Straßengüterverkehrs in unserem Lande klar wird. Nachvollziehbar sollen aber nach 2003 – also alles nach Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters: Ich erteile der nächsten Bundestagswahl – nur ganze 750 Millio- dem Kollegen Dirk Fischer, Hamburg, für die CDU/CSU- nen DM über das Anti-Stau-Programm in den Bundes- Fraktion das Wort. fernstraßenbau zurückfließen. Das heißt, hier wird kräftig abkassiert und es gibt wenig zurück. Dirk Fischer (Hamburg) (CDU/CSU): Herr Präsi- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – dent! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Die Fi- Annette Faße [SPD]: Besser als nichts!) nanzmittel für Verkehrsinfrastruktur müssen dem tatsäch- lichen Bedarf angepasst werden. Wie viel Geld nach 2003 – also wieder nach der nächs- ten Bundestagswahl durch – in Wahrheit – viele neue (Beifall bei der CDU/CSU) Konzessionsmodelle, die Sie angekündigt haben, in den Allein im Straßenbau warten baureife Projekte mit einem sechsstreifigen Autobahnausbau investiert werden soll, ist Volumen von über 35 Milliarden DM auf den ersten Spa- bisher überhaupt nicht erklärt worden. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20641

Dirk Fischer (Hamburg) (A) Das Ziel der Wegekostendeckung durch die Nutzer Ich sage allen ganz deutlich: Wenn der Wähler Sie am (C) der jeweiligen Verkehrswege ist in Ordnung. Quersub- 22. September 2002 nicht hindern würde, ventionierungen zu anderen Infrastrukturbereichen lehnt meine Fraktion aber strikt ab, da dies dem Prinzip der ge- (Annette Faße [SPD]: Das ist widersprüch- rechten Wegekostenanlastung völlig widerspricht. lich!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – wären Sie heute in einem Jahr vielleicht schon bei Widerspruch bei der SPD) 37 Pfennig pro Kilometer. Dann ginge es munter nach oben, denn nach den Wahlen sind alle Hemmschwellen Verkehrsträger, deren Einnahmen die Infrastrukturkosten weg. nicht decken, bedürfen weiterhin einer ergänzenden Haushaltsfinanzierung. (Reinhard Weis [Stendal] [SPD]: Bleib doch mal bei den Realitäten!) (Eduard Oswald [CDU/CSU]: So ist es!) Wo bleibt eigentlich der wettbewerbsverträgliche Hier sieht der Gesetzgeber ja offenbar überragend wich- Ausgleich für das deutsche Transportgewerbe? tige Gründe der Gemeinschaft, warum er dort, anders als bei der Binnenschifffahrt, die hundertprozentige Wegekos- (Beifall bei der CDU/CSU) tendeckung nicht einfordert. Der Chef des Bundeskanzleramtes, Herr Steinmeier, hat Schon gar nicht darf die Maut als Wegesteuer für den im letzten Jahr die notwendige Entlastung im Rahmen des Bundeshaushalt missbraucht werden, was von Ihnen auch Mautgesetzes für den deutschen Straßengüterverkehr als beabsichtigt wird. Ausgleich für den existenzgefährdenden Anstieg der Mi- neralölsteuer angekündigt. Im Gesetzentwurf ist aber (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) überhaupt nichts geregelt worden, auch nicht zeitgleich an Sie ist eben keine Steuer. Die Maut wird nicht ohne Ge- anderer Stelle. genleistung von einem öffentlich-rechtlichen Gemeinwe- sen zur Erzielung von Einnahmen erhoben; das ist die (Annette Faße [SPD]: Das wollte man auch Steuerdefinition. Vielmehr wird sie aufwandsbezogen für nicht im Gesetz!) die Benutzung der Straßeninfrastruktur bezahlt. Wie der Kanzler, so sein Stabschef: Es gilt das gebrochene Der Minister hat freimütig von einem Kilometersatz Wort. von 29,3 Pfennig gesprochen, aber dem Parlament jede (Ulrich Heinrich [FDP]: So ist es!) Auskunft darüber verweigert, auf welcher Kostenstruktur diese Festlegung beruht und auf welchen Annahmen und Ohne die zwingend erforderliche Entlastung sind Öko- (B) Gewichtungen von Wegstrecke und Zahl der LKW in den steuer plus Straßenmaut ein Vernichtungspaket für unsere (D) einzelnen Gewichts- bzw. Schadstoffklassen das Einnah- mittelständischen Güterverkehrsunternehmen. mesoll von 6,9 Milliarden DM entwickelt worden ist. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Wo bleibt da die Annette Faße [SPD]: Das ist falsch! – Weiterer Transparenz?) Zuruf von der SPD: Wo bleibt da die Wahrheit?) Es ist eine bewusste Missachtung des Parlamentes, Tausende Arbeitsplätze stehen auf dem Spiel. Es gibt nur eines: Die Entlastung muss her, um „gleiche steuerliche (Annette Faße [SPD]: Was?) Bedingungen für einen fairen internationalen Wettbewerb jährliche Mauteinnahmen in Höhe von 6,9 Milliarden DM zu schaffen“. Das ist dem Bericht der Pällmann-Kommis- zu verkünden, dem Fachausschuss aber das zugrunde lie- sion, in dem ausdrücklich die Kfz- und Mineralölsteuer gende Rechenmodell vorzuenthalten, genannt werden, wörtlich entnommen. (Annette Faße [SPD]: Das ist doch nicht wahr! – Die Wettbewerbsbedingungen für das deutsche Gü- Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: So sind sie!) terkraftverkehrsgewerbe dürfen sich nicht weiter ver- da die Mauthöhe in Abhängigkeit von Achszahl und Schad- schlechtern. Schon heute weist Deutschland unter Be- stoffklasse bislang noch nicht beziffert werden könne. rücksichtigung der gesamten Betriebskosten je LKW und Jahr mit über 195 000 DM den dritthöchsten Wert in der (Zuruf von der CDU/CSU: Hört! Hört!) Europäischen Union auf. Nur Großbritannien und Öster- Wie und was haben Sie, Herr Minister, da eigentlich ge- reich liegen darüber. rechnet? Der Wettbewerbsnachteil deutscher LKW beträgt bis (Ulrich Heinrich [FDP]: Unglaublich!) zu 13 500 DM pro Jahr bzw. bis zu 15 500 DM pro Jahr unter Einbeziehung von Steuererstattungen anderer EU- Geben Sie zu, dass der Wunsch war, die Einnahmen mög- Mitgliedstaaten, wie sie zum Beispiel in Holland üblich lichst hoch zu treiben. Eigentlich habe ich den Eindruck, sind. Die Unterschiede bei allen relevanten Steuern und die 6,9 Milliarden DM sind Ihnen immer noch zu wenig, Gebühren müssen beseitigt werden. denn der Hauptfeind der rot-grünen Koalition ist nun ein- mal der LKW. (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Jawohl!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Reinhard Weis [Stendal] [SPD]: Das ist aber Wettbewerbsverzerrende Beihilfen und Ausnahmerege- Unsinn!) lungen müssen verschwinden. Insbesondere muss die 20642 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001

Dirk Fischer (Hamburg) (A) Kfz-Steuer auf ein EU-Mindestmaß abgesenkt werden. legen! Verehrter Kollege Fischer, ich glaube, Sie haben (C) Auch bei den Abschreibungsregelungen besteht dringend das mit den Schaustellern irgendwie falsch verstanden. Harmonisierungsbedarf. Diese wollten zwar von der LKW-Maut entlastet werden, aber nicht, dass Sie hier als Schausteller auftreten und ver- Alle Faktoren müssen auch im Lichte der EU-Ost- suchen, deren Job nachzuahmen. erweiterung gesehen werden. Unumgänglich sind klare Richtlinien, die in der Übergangszeit Wettbewerbsunter- (Horst Friedrich [Bayreuth]) [FDP]: Das könn- schiede aufgrund niedrigerer Lohnkosten, Sozial- und ten Sie im Zweifel besser, Herr Kollege Steuerabgaben in den Beitrittsländern ausgleichen. Schmidt!) Glauben Sie nicht, meine Damen und Herren auf der Das Gesetz, das heute auf der Tagesordnung steht und Regierungsbank, dass Ihr Gesetzentwurf Verkehr von der das wir in zweiter und dritter Lesung beraten und be- Straße auf die Schiene verlagert! Den Zahn hat Ihnen mit schließen werden, ist ein Kernstück einer zukunftsfähigen ihren deutlichen Aussagen die Pällmann-Kommission ge- Mobilitätspolitik. Es handelt sich nicht einfach nur um ein zogen. neues Finanzierungsinstrument, das hier eingeführt wer- den soll, sondern es geht um eine Neuausrichtung der Ver- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- kehrswegefinanzierung in einem ganz zentralen Punkt. neten der FDP) (Ulrich Heinrich [FDP]: Jetzt dramatisieren Vielmehr stehen jederzeit Fahrzeuge aus anderen EU- Sie aber gerade!) Mitgliedsländern und dem osteuropäischen Raum in den Startlöchern, um zur Aufgabe gezwungene deutsche – Ich glaube, Sie haben noch nicht ausreichend verstan- LKW zu ersetzen. den, dass hier ein Paradigmenwechsel eingeleitet wird, verehrter Herr Kollege. Aufgrund internationaler Erfahrungen müssen Bun- desautobahnen, die der innerstädtischen Erschließung (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Den haben dienen, von der Mautpflicht ausgenommen werden. Dies wir schon, bevor Sie da waren, eingefordert, haben Sie nicht durchdacht und deswegen nicht geregelt; Herr Kollege Schmidt!) der Bundesrat hat es moniert. Sie sind nicht darauf einge- Es handelt sich im Wesentlichen um drei Ziele, die die- gangen. In einem Bundesland wie Berlin, wo es aus his- ses LKW-Maut-Gesetz verfolgt. Erstens geht es darum, torischen Gründen einen hohen Anteil an Stadtautobah- Chancengleichheit im Verkehrsmarkt bei der Wegekos- nen gibt, werden darunter die Lebensqualität, die tenrechnung zu schaffen und bestehende Wettbewerbs- Ökologie und die Verkehrssicherheit schwer zu leiden ha- verzerrungen bei der Wegekostenrechnung zu beseitigen. ben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (B) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – (D) sowie bei Abgeordneten der SPD) Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Jawohl!) Das geschieht mit diesem Gesetz. Die Schienenmaut gibt es schon lange, nämlich seit der Bahnreform. Nur heißt sie Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss. im Schienenbereich anders; sie heißt Trassenpreis. Die Der Gesetzentwurf zur LKW-Maut muss in wesentlichen LKW-Maut gab es bisher nicht, infolgedessen ist es Punkten nachgebessert werden, bevor wir ihm zustimmen höchste Zeit, dass endlich auch LKW Kilometer für Kilo- könnten. meter die von ihnen genutzte Fahrbahn und all die Abnut- (Annette Faße [SPD]: Nein!) zungserscheinungen, die damit verbunden sind, durch ein entsprechendes Entgelt bezahlen. In einem Punkt sind Sie uns in letzter Minute gefolgt. Erst wollten Sie den Schaustellern die Befreiung streichen und (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auch noch dieses Gewerbe kaputtmachen. Gott sei Dank sowie bei Abgeordneten der SPD) sind Sie uns gefolgt. Andere Änderungen sind unver- Das zweite Ziel ist das Ziel der Verursachergerech- zichtbar. Wir haben deswegen Änderungsanträge gestellt tigkeit. Die LKW-Maut ist so, wie sie jetzt auch von den und einen Entschließungsantrag vorgelegt. Gutachtern vorgeschlagen wird, keine Fantasierechnung, Die deutsche Volkswirtschaft kann nicht auf den LKW sondern eine präzise Auflistung dessen, was an Schäden und die Beschäftigten in den Führerhäusern können nicht entsteht und insoweit an Kosten verursacht wird – nicht auf ihre Arbeitsplätze verzichten. Deshalb dürfen diese mehr und nicht weniger. Etwas anderes würde in Brüssel Betriebe nicht vernichtet werden. Es muss dringend etwas auch gar nicht genehmigt werden. geschehen, um diese Betriebe zu retten. Der Grundsatz ist ebenso einfach wie klar: Wer ab- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) nutzt, bezahlt. Dies bedeutet, dass erstmals auch auslän- dische LKWs, die von Grenze zu Grenze durch Deutsch- land donnern und kaputte Straßen hinterlassen, für jeden Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters: Für die Kilometer zur Kasse gebeten werden. Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht der Kollege Albert Schmidt aus Hitzhofen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Albert Schmidt (Hitzhofen) (BÜNDNIS 90/DIE Die Größenordnung, um die es hier geht, zeigt, dass der GRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kol- Nachholbedarf enorm ist. Bisher kostet die Jahresvignette Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20643

Albert Schmidt (Hitzhofen) (A) für einen schweren LKW, einen 40-Tonner, in Deutsch- Drittens ist das System zielgenau. Das ist entschei- (C) land 2 500 oder 2 700 DM; das ist sozusagen der Preis für dend. Es wird nicht nur nach der Achszahl und dem Ge- die Eintrittskarte in das deutsche Streckennetz. Ein pro- wicht, sondern auch nach den Emissionen differenziert. fessionell genutzter Truck fährt locker seine 120 000 bis Auf diese Weise schaffen wir einen Anreiz für eine tech- 130 000 Kilometer pro Jahr. Das heißt, der Spediteur zahlt nisch-ökologische Innovation. pro Fahrzeug und Kilometer bisher 2 Pfennig Nutzungs- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gebühr. Das ist lächerlich gering und deckt niemals die und bei der SPD) Kosten. Deswegen haben diejenigen Recht, die sagen, die Autobahnen seien heute nichts anderes als subventio- Je sauberer der Motor ist und je weniger Emissionen das nierte Warenlager, Fahrzeug verursacht, desto günstiger schaut die Rech- (Beifall bei der SPD) nung aus. Diejenigen, die hierin investieren, werden be- lohnt; wer seinen alten Stinker behalten will, soll in Gottes weil es billiger ist, das Zeug auf dem LKW durch die Ge- Namen auch dafür bezahlen. gend zu fahren, anstatt selbst ein Lager zu unterhalten. Ich verhehle nicht, dass es für uns, die grüne Fraktion, (Renate Blank [CDU/CSU]: Irgendwann muss auch ein, zwei offene Fragen gibt, die wir genau im Auge die Ware transportiert werden, Kollege behalten werden. Das erste Problem ist die Beschränkung Schmidt!) der Mauterhebung nur auf die Autobahn. Die Befürchtung, Das dritte Ziel dieses Gesetzes sind die Verlagerung dass wir insbesondere in hoch belasteten Ortsdurchfahrten von Verkehr von der Straße auf die Schiene und das Bin- zusätzliche Ausweichverkehre von der gebührenpflichti- nenschiff sowie die Verkehrsvermeidung, zum Beispiel gen Autobahn auf die gebührenfreie Bundesstraße bekom- die Vermeidung von Leerfahrten. Ich will damit nicht sa- men werden, ist nicht von der Hand zu weisen. gen, dass jede Leerfahrt vermeidbar ist; das ist logistisch (Ulrich Heinrich [FDP]: Das kannst du verges- gar nicht möglich. Aber wenn erstmals die Nutzung des sen!) Fahrwegs spürbar Geld kostet, werden natürlich ganz an- dere Kalkulationen von den logistischen Planern ange- Der Deutsche Städte- und Gemeindebund hat diese Be- stellt. Dann rechnet es sich im Zweifel sehr wohl, einmal fürchtung ausgesprochen. Unter dem gegenwärtigen eu- auf die Schiene oder das Binnenschiff zu gehen, weil man ropäischen Recht sehen wir allerdings keine Möglichkeit, dort keinen Kostennachteil im Vergleich zur Straße mehr das gesamte Straßennetz ad hoc in ein solches System ein- zu befürchten hat. zubeziehen. Ich füge hinzu, dass die Verlagerung – hier sind wir, (Lachen des Abg. Ulrich Heinrich [FDP]) (B) glaube ich, einer Meinung, Herr Kollege Friedrich – nicht Wir sind froh, dass mit der in § 1 des Gesetzentwurfs (D) allein durch die Höhe der Maut beeinflusst wird. Das be- enthaltenen Klausel zumindest dort, wo Sicherheitspro- hauptet niemand; in diesem Punkt hat Pällmann Recht. bleme auftauchen könnten, die Möglichkeit geschaffen Nur in dem Dreiklang von fairen Wegekostenrechnungen, wird, die klassischen Ausweichrouten auf dem Verord- Ausbau des Schienengüterverkehrs und Qualitätsverbes- nungswege in die Bemautung einzubeziehen. Wir werden serung auf der Schiene werden wir eine Verkehrsverlage- die Entwicklung hier sorgfältig beobachten. Unser Ziel rung bekommen. Ohne LKW-Maut sind wir aber völlig ist, nach dem Schweizer Modell das gesamte Straßennetz chancenlos und bekommen nicht einmal einen Einstieg in verursachergerecht zu bemauten. Der LKW verursacht die Verlagerung. doch nicht deswegen weniger Schäden, weil er die Auto- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bahn verlässt und auf der Bundesstraße fährt. Er verur- und bei der SPD) sacht so und so Schäden und Kosten und sollte daher ei- gentlich überall bezahlen. Deswegen geht es hier nicht nur um ein Finanzie- rungsinstrument, sondern um eine völlig neue Systema- (Ulrich Heinrich [FDP]: Gucken Sie doch hin! tik, die neuen Zielen folgt. Im Grunde ist es ein System- Die fahren doch auch jetzt nicht raus! Das ist wechsel – das ist vom Kollegen Reinhard Weis schon doch idiotisch, was Sie erzählen!) angesprochen worden – weg von einer reinen Steuerfi- Wir werden die Auswirkung der Maut aufgrund ihrer nanzierung hin zu einer Nutzerfinanzierung. Ich gehe da- Höhe, wie sie sich jetzt abzeichnet, sehr genau beobach- von aus, dass dies im Grundsatz unbestritten ist. ten. Das Ergebnis muss sich aus einer rationalen Rech- Darüber hinaus bietet das Instrument so, wie es in die- nung ergeben und darf sich nicht auf einen Wunschzettel sem Gesetz und in der folgenden Verordnung ausgestaltet gründen. Wir wollen in jedem Fall den ökologischen Len- wird, Feinsteuermechanismen, die wir dringend brau- kungseffekt. Deshalb werden wir auf dem Wege eines chen. Erstens wird die Erfassung weitgehend automatisch Monitorings, also durch das Auswerten der realen Vor- erfolgen, auch wenn es eine mechanische Einbuchung ge- gänge, spätestens zwölf Monate nach Einführung – von da ben wird. Der Verkehrsfluss wird also nicht aufgehalten. an periodisch alle drei Jahre – gemeinsam im Bundestag Zweitens ist das System diskriminierungsfrei. Es wird zu überprüfen haben, ob die gesetzten Ziele auf diese also niemand bevorzugt oder benachteiligt. Weise ausreichend erreicht werden. (Ulrich Heinrich [FDP]: Passt auf, dass ihr noch Lassen Sie mich noch ein Wort zur Verwendung der jemanden für Steuern habt! Die hauen doch alle Einnahmen sagen. Es ist völlig unbestritten, dass die Ein- ab!) nahmeverluste, die der Bundesfinanzminister durch die 20644 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001

Albert Schmidt (Hitzhofen) (A) Abschaffung der LKW-Vignette erleidet, natürlich ausge- halb sinnvoll, weil wir die ökologische Steuerungsfunk- (C) glichen werden müssen. Es ist auch völlig unbestritten, tion über die Differenzierung nach Emissionen künftig in dass die Systemkosten für die Einführung und für die Kon- der LKW-Maut selbst haben werden und dafür die Kraft- trolle auf Einhaltung der Mautpflicht von den Einnahmen fahrzeugsteuer nicht mehr brauchen. abzuziehen sind. Aber danach soll der Großteil der Ein- nahmen in ein integriertes Verkehrssystem reinvestiert (V o r s i t z: Vizepräsidentin ) werden, verehrter Herr Kollege Fischer. Ich will aber auch hinzufügen, wie es nicht geht. Für (Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Das ist mich ist der intellektuelle Höhepunkt der vorliegenden nicht schlüssig, was Sie sagen!) Anträge zur LKW-Maut wieder einmal der Antrag der FDP-Fraktion „Keine Abgabenerhöhung durch LKW- Ich möchte Sie darauf hinweisen, dass am 12. Septem- Maut“. Denn dort heißt es unter Punkt zwei: ber dieses Jahres die Europäische Kommission in dem ak- tuellen Weißbuch zur Verkehrspolitik ausdrücklich gesagt Die Umstellung der Straßenbenutzungsgebühr darf hat, dass es nicht nur richtig und zulässig, sondern auch für das deutsche Güterkraftverkehrsgewerbe insge- zielführend ist, die Reinvestition auf die gesamte Palette samt nicht zu einer Abgabenerhöhung führen. der Verkehrsträger zu verteilen, (Ulrich Heinrich [FDP]: Richtig!) (Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Das ist Die Umstellung soll also belastungsneutral sein. In dem- meine Meinung!) selben Antrag steht nur fünf Zeilen weiter unter Punkt vier damit die Schiene so ertüchtigt wird – die Kommission die bahnbrechende Forderung: spricht sogar von einer Revitalisierung der Schiene –, dass Die Einnahmen aus der streckenbezogenen LKW- sie nachher den Güterverkehr wirklich aufnehmen kann. Maut sind zweckgebunden für den Straßenbau ein- Es nützt ja die schönste Bemautung nichts, wenn die Bahn zusetzen. nicht leistungsfähiger wird. Genau dafür sorgen wir. Wir erfüllen damit heute schon, was das Weißbuch der EU (Ulrich Heinrich [FDP]: Richtig!) vorgibt. Liebe Kollegen, wenn die LKW-Maut belastungsneu- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN tral eingeführt werden soll, dann gibt es keine Einnahmen. und bei der SPD – Dirk Fischer [Hamburg] Man kann doch nicht sagen, sie darf niemanden etwas [CDU/CSU]: Warum ist es denn die Sache des kosten, aber es müssen zig Milliarden mehr für den LKW-Unternehmers, das zu bezahlen?) Straßenbau herauskommen. Das ist Hexeneinmaleins!

(B) Ich will noch ein Wort zum Thema Harmonisierung Vielleicht sollte ich etwas gnädiger sein; denn es ist (D) bzw. Entlastung für das Gewerbe sagen. Ich halte es für bald Weihnachten und in dieser Zeit darf man sich etwas grundfalsch, in einen Subventionswettlauf mit den Nie- wünschen. Man könnte sich zum Beispiel wünschen, dass derländern, den Italienern und den Franzosen nach dem es mehr Straßenbau gibt, den niemand bezahlen muss. Motto zu treten: Wenn die ihren Unternehmen bei der Mi- Unter diesem Blickwinkel sollte man den Antrag etwas neralölsteuer entgegenkommen, dann tun wir das auch. großzügiger beurteilen. Wenn wir so anfangen, führt das zu einem Steuerdum- ping, das letztlich allen Finanzministern Europas schaden Wir werden uns solchen Klamaukanträgen nicht an- wird. Im Gegenteil: Wir müssen darauf bestehen, dass die schließen. Wir machen seriöse und berechenbare Politik, Beschlüsse des Ecofin-Rates, dass nämlich die Subven- (Lachen bei der FDP – Dr. Karlheinz tionen der anderen Länder zum Jahresende 2002 tatsäch- Guttmacher [FDP]: Der war gut!) lich auslaufen, auch umgesetzt werden. Dann können wir aber am 1. Januar 2003 nicht mit Subventionen anfangen. die ökologisch zielführend, ökonomisch verantwortlich und verkehrspolitisch sinnvoll ist. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Dirk Fischer [Hamburg] Ich danke und wünsche frohe Weihnachten. [CDU/CSU]: Das haben wir schon oft gehört!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Lieber Kollege Fischer, sollten aber Zweifel daran be- und bei der SPD) stehen, dass es die Nachbarländer ernst meinen, und soll- ten sie mit ihren Subventionen weitermachen, dann muss Vizepräsidentin Anke Fuchs: Jetzt hat der Kollege man von deutscher Seite die Zähne zeigen und deutlich Horst Friedrich für die FDP-Fraktion das Wort. machen, dass man nicht auf diese Weise mit Beschlüssen umgehen kann. Horst Friedrich (Bayreuth) (FDP): Frau Präsidentin! (Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Die Meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen! Wir Bundesregierung hat doch zugestimmt! Der sind uns in dem Ziel, die Finanzierung umzustellen, Klimmt hat doch weiteren Ausnahmen zuge- durchaus noch einig. Um der Historie tatsächlich Genüge stimmt, statt sich zu widersetzen!) zu tun, lieber Kollege Weis, möchte ich sagen, dass dies Ich bin sehr dafür, dass die Kraftfahrzeugsteuer im von uns in der letzten Periode schon angedacht wurde. Ich LKW-Gewerbe auf das europäische Mindestniveau ge- erinnere mich allerdings noch an die erregten Zwi- senkt wird. Hier besteht Einmütigkeit. Das ist schon des- schenrufe der Kollegin Elke Ferner, die Ihre Vorgängerin Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20645

Horst Friedrich (Bayreuth) (A) war und dies als Teufelszeug weit von sich gewiesen und schaftlichen Aus. Deswegen muss ich Ihnen ehrlich sa- (C) abgelehnt hat. gen, dass mir Ihr Interview in der „Verkehrsrundschau“ vor einigen Tagen als ein klatschender Schlag in das Ge- (Ulrich Heinrich [FDP]: Aha!) sicht der Betroffenen erscheint. Insofern brauchen Sie uns nicht zu belehren, dass dies ein (Ulrich Heinrich [FDP]: Es sind viele kleine Paradigmenwechsel sei. Wir haben eigentlich damit be- Existenzen, die kaputtgehen!) gonnen. Dort haben Sie behauptet, dass es Ihnen gar nicht um die (Beifall bei der FDP) vollständige Schließung einer angeblichen Lücke gehe Herr Kollege Schmidt und Herr Minister Bodewig, Ihr – ich betone: angeblichen –, sondern darum, dass der vorliegender Gesetzentwurf muss sich allerdings daran LKW aus Ihrer Sicht seine Kosten nicht voll deckt. Das messen lassen, ob das, was darin steht, tatsächlich mit wird durch andere Gutachten zumindest bezweifelt. dem korrespondiert, was Sie selbst dem deutschen Ge- Wie leichtfertig Sie die ganze Angelegenheit tatsäch- werbe mehrfach zugesichert haben, dass es nämlich die lich angehen, ist daran zu sehen, dass Sie verharmlosend entsprechenden Ausgleichsmaßnahmen gibt. davon sprechen, dass sich durch die Umstellung der (Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Das ist LKW-Maut die Preise für Lebensmittel in Deutschland Etikettenschwindel!) nur um 1 Pfennig bis 2,5 Pfennig pro Kilo erhöhen wür- den und dass der Preis für ein Fernsehgerät – unter der An- Wir sind nun schlauer geworden: Wenn man den nahme, dass es vorher 2 000 DM kostet – um 35 Pfennig durchschnittlichen Fernverkehr eines LKW zugrunde steigen würde. Das sei aus Ihrer Sicht nicht wettbewerbs- legt, kann man aufgrund der vor einigen Tagen bekannt verzerrend. Ja, vielleicht nicht für den Verbraucher, gewordenen Mauthöhe von einer Belastungserhöhung von rund 30 000 DM im Jahr sprechen. Herr Minister, (Ulrich Heinrich [FDP]: Aber für den Wettbe- nach den von Ihnen bereits in dieser Periode beschlosse- werber im Transportgewerbe!) nen Maßnahmen – Ökosteuer, nicht ausreichende Steuer- aber bestimmt für den deutschen Transportunternehmer. reform, nicht vorhandene Kompensation der Sozial- versicherungsbeiträge, die sich ja erhöhen und nicht Herr Minister, ich glaube, dass Sie sich mit dieser Dar- reduzieren – und den Verschlechterungen des Arbeits- stellung nun endgültig aus der ernsthaften Diskussion rechtes für die kleinen und mittelständischen Trans- über die Zukunft des deutschen Transportgewerbes ver- portunternehmer kommt nun der nächste Genickschlag abschiedet haben. Von den mit der Einführung der LKW- für das deutsche Gewerbe, nämlich die Umstellung der Maut von Ihnen mehrfach vollmundig angekündigten LKW-Maut – das ist beschlossen – ohne die entsprechen- größtmöglichen Harmonisierungsschritten im europä- (B) den Ausgleichsmaßnahmen. ischen Rahmen ist nichts als heiße Luft geblieben. Ob- (D) wohl Sie zwölf Monate Zeit hatten, sind Sie noch nicht (Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: So ist einmal in der Lage, rechtzeitig und vor allen Dingen es!) gleichzeitig mit Ihrem Gesetzentwurf zur Umstellung der Herr Minister Bodewig, dies geschieht, während andere Maut die entsprechenden Entlastungsvorschläge vorzule- Länder wie Frankreich, Belgien, Italien und die Nieder- gen. Die von uns bereits mehrfach beantragte Reduzie- lande ohne jegliche Bedenken – auch gegen jeden Ecofin- rung der Kfz-Steuer auf das europäisch mögliche Min- Ratsbeschluss – ihr jeweiliges nationales Gewerbe schüt- destmaß – unter Berücksichtigung moderner Motoren –, zen. haben Sie in dieser Periode schon zweimal abgelehnt (Ulrich Heinrich [FDP]: Die sind ja nicht (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) blöd!) und am Mittwoch im Ausschuss bereits zum dritten Mal; Die Tinte unter dem Treueschwur, keine Ausgleichs- ich nehme an, heute wieder. maßnahmen in den Ländern einzuführen, war noch nicht Herr Minister, wer soll Ihnen draußen denn noch glau- einmal trocken, als diese Länder genau das beschlossen ben, dass Sie es mit der von Ihnen selbst angekündigten haben. Und die deutsche Bundesregierung stellt sich auf Reduzierung der Kfz-Steuer – zuletzt am 18. Oktober, am den Standpunkt, dass man sich das bis 2002 einmal anse- Jahrestag des BGL hier in Berlin – noch ernst meinen? hen kann, um dann vielleicht mit dem Finger zu drohen Wer soll Ihnen noch glauben, Herr Minister, dass Sie und zu sagen: Wenn ihr dann nicht aufhört, dann führen ernsthaft an einer weiteren Reduzierung der Mineralöl- auch wir sie vielleicht ein! Für das deutsche Gewerbe ist steuer arbeiten, wenn Sie noch nicht einmal zur Kenntnis es dann wahrscheinlich zu spät. nehmen wollen, dass die Niederlande bereits jetzt an- gekündigt hatten – ich habe von Ihnen keinen Wider- Herr Minister Bodewig, Sie nehmen dabei billigend in spruch gehört –, mit Einführung der LKW-Maut die Mi- Kauf, dass Sie als Totengräber für das deutsche Güter- neralölsteuer um 15 Prozent zu senken – wohlgemerkt in kraftverkehrsgewerbe in die Geschichte der Verkehrspo- den Niederlanden, wo bereits seit vielen Jahren Steuerer- litik dieses Landes eingehen werden. mäßigungen von bis zu 15 Pfennig pro Liter Diesel für das (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Gewerbe gewährt werden, ohne dass irgendjemand etwas dagegen unternimmt. Das mag in Ihrer persönlichen Bilanz nur ein kleiner Ma- kel sein, für sehr viele der mittelständischen Unternehmer (Reinhard Weis [Stendal] [SPD]: Schön, dass in Deutschland führt diese Art der Politik aber zum wirt- Sie daran gedacht haben!) 20646 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001

Horst Friedrich (Bayreuth) (A) Und das alles geschieht vor dem vagen Hintergrund, dass Vizepräsidentin Anke Fuchs: Für die PDS erteile (C) man damit Güter auf die Schiene verlagern könne. ich dem Kollegen Winfried Wolf das Wort. (Ulrich Heinrich [FDP]: Das ist ja lachhaft!) Dr. Winfried Wolf (PDS): Sehr geehrte Frau Präsi- Wenn Sie schon der Opposition im Deutschen Bundes- dentin! Werte Kolleginnen! Werte Kollegen! Es gab hier tag nicht glauben wollen, dann wäre es doch wenigstens von den Koalitionsparteien große Worte von einem sinnvoll, sich in aller Ruhe noch einmal die Vorschläge Glanzstück, das hier vorliege, und von einer Verkehrsre- der Pällmann-Kommission zu Gemüte zu führen, die Sie selbst bzw. Ihr Haus haben einsetzen lassen. volution. (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Wir setzen sie doch um!) DIE GRÜNEN]: Revolution hat niemand ge- sagt!) Dort haben Sie sehr deutlich aufgelistet bekommen, warum die Einführung der Maut nach Streckenbezogen- Wir sollten den Gesetzentwurf nüchtern an den Hauptzie- heit kein einziges Kilogramm von der Straße auf die len messen, nämlich Chancengleichheit herzustellen und Schiene verlagern wird. für Waffenparität zwischen den Verkehrsträgern und eine wirkliche Anrechnung der realen Kosten zu sorgen. (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Nein! Das stimmt nicht! Da (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ wette ich mit Ihnen um 5 DM!) DIE GRÜNEN]: Wegekosten!) Das ist und bleibt ideologischer Wunschtraum. Da muss Ich glaube, dass wir in der Diskussion über dieses Ge- sich zunächst aufseiten der Bahn Gravierendes verändern. setz einen Vergleich zwischen der Maut als solcher und der Maut als rot-grünem Gesetz ziehen können. Das erin- (Beifall bei der FDP) nert ein bisschen an den Vergleich zwischen dem Sozia- Deswegen sage ich Ihnen: Dieses Gesetz bleibt das, lismus und der DDR. Es gibt eine Karikatur aus dem was es von Anfang an war: ein schlichtes Abkassiermo- Jahre 1990, die Sie wahrscheinlich gesehen haben, eine dell für das deutsche Straßenverkehrsgewerbe vor dem Postkarte, die zeigt, wie Marx und Engels vor den Trüm- Hintergrund, den Straßenverkehr in Deutschland, koste mern der DDR stehen und sagen: „War halt nur so ‘ne es, was es wolle, teurer zu machen. Idee“. (Annette Faße [SPD]: Das ist falsch!) Die Maut ist eine gute Idee, wenn sie wirklich in die Richtung der Ziele geht, die hier genannt werden; aber ich Sie haben keine Entlastung für das deutsche Straßenver- (B) denke, dass das nicht der Realität entspricht. Die konkrete (D) kehrsgewerbe, keine Zweckbindung der Einnahmen, Sie Maut, wie sie hier angedacht ist, ist eine Mischung aus ei- nutzen das Geld für die Finanzierung anderer Verkehrs- ner Bagatellsteuer – in dieser Auffassung unterscheide ich träger, und das alles mit einem kleinen zusätzlichen Ab- mich sehr deutlich von dem Kollegen Friedrich –, weil sie gabeopfer für das deutsche Straßenverkehrsgewerbe von in der Höhe, die hier debattiert wird, die Ziele in der Rea- schätzungsweise rund 7 Milliarden DM ab 2003. lität nicht erreichen kann, Diese Politik, Herr Minister, sind wir nicht bereit mit- (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ zutragen. Als Bestattungsunternehmer des deutschen Gü- DIE GRÜNEN]: Das ist eine Verzehnfachung terkraftverkehrsgewerbes müssen Sie die Suppe schon al- des heutigen Niveaus! Das nennen Sie Baga- lein auslöffeln. Dieses Gesetz werden wir mit großer telle!) Überzeugung ablehnen, weil es aus unserer Sicht ein falscher Schritt ist, weil Sie dem deutschen Straßenver- und aus elektronischer Wegelagerei, sicherlich etwas mo- kehrsgewerbe die Antwort schuldig bleiben, wie Sie es derner als in den Mauthäuschen, die genannt worden sind. entlasten wollen. Diese Zusage haben Sie dem Gewerbe Am Ende wird sie auf ein Stück Protektionismus hinaus- selbst gegeben. laufen; dann werden deutsche LKW doch stärker entlas- tet und ausländische behindert werden. Herr Kollege Weis, ich bin durchaus bereit, bei Ge- werbeveranstaltungen in den Wettbewerb mit Rot-Grün (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ zu treten, wer denn nun die bessere Verkehrspolitik ge- DIE GRÜNEN]: Was für ein Quatsch!) macht hat. Der Verweis in Ihrem Entschließungsantrag, dass es ei- (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ nen beispiellosen Subventions- und Steuersenkungswett- DIE GRÜNEN]: Sie versprechen allen alles! lauf unserer Nachbarn gegeben habe, bedeutet doch auch, Sie versprechen jedem mehr Geld und mehr dass am Ende, wenn das deutsche LKW-Gewerbe ent- Straßen! Wie soll das denn gehen? So blöd sind lastet werden wird, die anderen nachziehen und den Wett- die nicht, dass sie Ihren Versprechungen glau- lauf verlängern werden. ben!) (Beifall bei der PDS – Albert Schmidt [Hitzho- Dieser Diskussion stelle ich mich mit großer Ruhe und fen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Natür- Gelassenheit. Ich glaube, das können wir beruhigter sehen lich! Das habe ich ja schon gesagt!) als Sie; denn Ihre Bilanz ist deutlich schlechter. Ich glaube, dass die Maut in dieser konkreten Form die (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Zielsetzungen nicht realisieren kann, und zwar aus drei Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20647

Dr. Winfried Wolf (A) Gründen. Erstens sind die technischen Parameter die dass Kollege Weis, als er über das Ziel einer Verdoppe- (C) falschen, zum Beispiel in Bezug auf die Begrenzung ab lung des Verkehrs bei der DB Cargo sprach, deswegen 12 Tonnen – 50 Prozent der Zerstörungen auf den Straßen relativ stockend war. werden von LKW ab 3,5 Tonnen angerichtet –, aber auch (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ in Bezug auf die relativ fiktive Beschreibung, dass erst die DIE GRÜNEN]: Er hat „Schienengüterfern- Achszahl maßgeblich sei und nicht das Gesamtgewicht verkehr“ gesagt, nicht „DB Cargo“!) für LKW. – Auch andere Unternehmen auf der Schiene werden nicht (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ das aufholen können, was die DB Cargo verliert. DIE GRÜNEN]: Natürlich ist auch das Gewicht maßgebend!) Zum Schluss. Die PDS ist gnadenlos konstruktiv. Das Zweite ist – das ist vorhin auch von dem Kollegen (Lachen bei der SPD) Albert Schmidt genannt worden – die Beschränkung auf Wir haben konkrete Änderungsanträge gestellt. Bei kon- Bundesautobahnen. Es ist ziemlich eindeutig, dass die kreten Punkten, von denen auch Sie von der SPD und von Beschränkung zu massenhaftem Ausweichverkehr den Grünen wissen, dass genau das die wunden Punkte führen wird. Es gibt bereits eine Umfrage vom Deutschen sind, haben wir vorschlagen, Abänderungen vorzuneh- Städtetag, nach der ein Drittel aller befragten Städte kon- men, damit aus einer guten Idee eine gute Praxis wird und kret beschreiben können, in welchen ihrer Bereiche es es hinterher nicht wieder heißen wird: „War halt so eine durch die LKW-Maut massenhaften Ausweichverkehr Idee gewesen.“ dieser Art geben wird. Danke schön. Das Dritte betrifft die Mittelverwendung. Ein Groß- teil der Einnahmen wird realiter im Rahmen des Anti- (Beifall bei der PDS) Stau-Programms und damit auch in Richtung des Straßen- ausbaus und der Verflüssigung des Straßenverkehrs Vizepräsidentin Anke Fuchs: Nun erteile ich der eingesetzt werden. Ich glaube, dass die CDU/CSU und die Kollegin Renate Blank für die CDU/CSU-Fraktion das FDP hier beruhigt sein können. Wort. (Beifall bei der PDS) Ich verweise darauf, dass das Umweltbundesamt aus- Renate Blank (CDU/CSU) (von Abgeordneten der drücklich darauf hinwies, dass die Mittel für den Um- CDU/CSU mit Beifall begrüßt): Frau Präsidentin! Meine weltschutz und für andere Verkehrsnetze eingesetzt wer- Damen und Herren! Neben der LKW-Maut diskutieren (B) den können. Das wäre wirklich zielführend im Sinne von wir ja heute noch über andere Dinge. Daher komme ich (D) Verlagerung und im Sinne von Chancengleichheit. zuerst auf unseren Antrag „Mehr Sicherheit durch Kreis- verkehre“ zu sprechen. Kreisverkehre gewinnen zuneh- (Beifall bei der PDS) mend an Bedeutung und dienen der Verkehrssicherheit. Sie sagen, die Zielsetzung sei Chancengleichheit und Vor allem kleine Kreisverkehrsplätze sind im Vergleich Verlagerung. Ich möchte darauf hinweisen, dass in Ihrem mit den herkömmlichen Knotenpunkten ohne Licht- Entschließungsantrag steht, dass es mehr Chancengleich- signalanlagen, die sich leider zu Unfallschwerpunkten heit geben wird. entwickelt haben, wesentlich sicherer. Die erhöhte Ver- kehrssicherheit kommt dabei allen Verkehrsteilnehmern (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ zugute: Autofahrern, Radfahrern und Fußgängern. Wir DIE GRÜNEN]: Richtig, ja!) sollten uns deshalb mit einem Sonderprogramm für Kreis- Bei all dem, was bisher von Ihnen vorgelegt wurde, ist verkehrsplätze in Deutschland im Interesse der klar: Bei der jetzigen Ungleichheit der Verkehrsträger Verkehrssicherheit beschäftigen. kann es niemals Chancengleichheit geben. (Beifall bei der CDU/CSU) (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ Meine Damen und Herren, mit unserem Antrag, die DIE GRÜNEN]: Wegekosten!) deutsche Verkehrsinfrastruktur auf die EU-Osterwei- Was die Verlagerung betrifft, möchte ich auf den Klar- terung vorzubereiten, soll der Bedarf für Straße und text im Verkehrsbericht, über den wir hier auch diskutie- Schiene erarbeitet und mit den Anrainerstaaten abge- ren, hinweisen, in dem auf Seite 46 wörtlich steht: „Der stimmt werden. Straßengüterfernverkehr verzeichnet eine Zunahme bis Ich habe den Eindruck, dass Sie die Infrastruktur- 2015 um 70,8 Prozent“, und zwar bereits mit Unterstel- anbindung zu den Beitrittskandidaten verschlafen. Wie lung einer LKW-Maut. Das heißt, das Ministerium geht sonst könnte es passieren, dass Sie dem Weiterbau der A 6 davon aus, dass der Straßenverkehr trotz der LKW-Maut so wenig Bedeutung beimessen und Bahnchef Mehdorn in den nächsten 15 Jahren um über 70 Prozent wachsen erlauben, Zugverbindungen zu streichen? Der Gleisabbau wird. kommt dann auch noch! Für den Fall, dass jemand ernsthaft sagt, es käme Vielleicht ist Ihnen noch nicht bewusst – vielleicht gleichzeitig zu einem schnelleren Wachstum des Schie- wollen Sie es auch nicht wahrhaben –, dass der wachsende nenverkehrs: Jeder, der sich konkret die DB Cargo an- Güterverkehr mit solchen Maßnahmen kaum auf die sieht, weiß, dass das wirklich lächerlich ist. Ich glaube, Schiene verlagert werden kann, sondern nach wie vor per 20648 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001

Renate Blank (A) LKW auf der Straße stattfindet. Staus mit enormen Kos- – Nein, das sind keine Luftbuchungen, sondern das ist die (C) ten sind vorprogrammiert. Wahrheit. Nun zum Bundesverkehrswegeplan und zur Finanzie- Das Anti-Stau-Programm und das Maßnahmenpaket rung von Verkehrsinfrastruktur. Der dritte Verkehrsminis- „Bauen jetzt – Investitionen beschleunigen“ sind Ankün- ter in dieser Legislaturperiode – immerhin hat er es ge- digungen aus dem vergangenen bzw. aus diesem Jahr und schafft, ein Jahr im Amt zu bleiben; wer weiß, wie lange werden, wenn überhaupt, erst ab dem Jahr 2003 wirksam. noch, wenn er mit seiner Bahnpolitik weiter zwischen den Ich kann mir angesichts dieses Maßnahmenpaketes nicht Stühlen von Schröder und Mehdorn sitzt – ist und bleibt verkneifen, darauf hinzuweisen, dass Minister Bodewig ein Ankündigungsminister: Programme, nichts als Pro- noch im Oktober im Ausschuss weitere private Konzes- gramme und seit neuestem ein Maßnahmenpaket, aber sionsmodelle ausdrücklich ablehnte. Jetzt hat er zehn Pro- kein Geld, um Staus zu beseitigen und die brachlie- jekte aus dem Hut gezaubert, die er der Einfachheit und gende Bauwirtschaft anzukurbeln! 1 Milliarde DM schafft Verwirrung halber Betreibermodelle nennt, die aber 10 000 bis 12 000 Arbeitsplätze. nichts anderes als private Konzessionsmodelle sind. Wir fallen auf dieses Täuschungsmanöver nicht herein. Im Verkehrsbericht werden dem Bundesverkehrs- wegeplan ganze 16 Seiten gewidmet. Leider liegt ein Zum Schluss möchte ich noch eine Bemerkung ma- neuer Bundesverkehrswegeplan immer noch nicht vor, chen: Frau Staatssekretärin Mertens hat vor kurzem bei obwohl man mit dem Versprechen angetreten war, noch in einem Vortrag von den vier in der Verkehrspolitik wich- dieser Wahlperiode einen total überarbeiteten Plan vorzu- tigen V gesprochen: vermeiden, verlagern, verbessern und legen. Jetzt spricht man von 2003 und der Minister wird verteuern. zitiert, dass es wahrscheinlich das Jahr 2004 werden wird. (Dr. Winfried Wolf [PDS]: Vertuschen!) (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ Bei uns hieße ein V übrigens nicht verteuern, sondern ver- DIE GRÜNEN]: Haben Sie schon was zum netzen, was wesentlich wichtiger und verbraucherfreund- Transrapid gesagt?) licher ist. Ich füge ein weiteres V hinzu: vernichten. Alle Sie sollten sich überhaupt keine Gedanken über den Programme, die uns vorgelegt wurden, können vernichtet nächsten Bundesverkehrswegeplan machen, ja sogar die werden; sie sind und bleiben Makulatur, wenn nicht mehr Arbeit daran einstellen; denn den nächsten Bundes- Geld für die Finanzierung der Verkehrsinfrastruktur zur verkehrswegeplan werden wieder wir erstellen. Verfügung gestellt wird. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – (Beifall bei der CDU/CSU) Reinhard Weis [Stendal] [SPD]: In der Zwi- Zur Erinnerung: Alle Bundesländer, auch die rot-rot schenzeit sind offensichtlich auch Sie der Mei- (B) oder rot-grün regierten, haben auf der letzten Verkehrs- (D) nung, dass er verändert werden muss!) ministerkonferenz im Oktober 2001 einvernehmlich fest- Totales Chaos herrscht in Ihren Programmen. Oder gestellt, dass für den Straßenbau rund 4 Milliarden DM, sind Sie vielleicht der Meinung, dass es genügt, Pro- für den Schienenbau rund 3 Milliarden DM und für die gramme zu schreiben, um damit die Opposition, die Wirt- Wasserstraßen 500 Millionen DM an zusätzlichen Mitteln schaft und die Journalisten zu täuschen? Uns jedenfalls gebraucht würden, um einen notwendigen und sachge- können Sie nicht hinters Licht führen. rechten Aus- und Neubau von Verkehrsmaßnahmen zu ge- währleisten. Diese Aussage sollte den Verkehrsminister Zu den einzelnen Programmen: Die Maßnahmen des nachdenklich machen und zum Handeln bewegen. Was Investitionsprogramms 1999 bis 2002 enden nicht 2002, macht er stattdessen? – Er fährt die Propaganda hoch und sondern erst 2010 oder noch später. Ein Blick in die Zu- die Bauleistungen herunter und lässt sich sogar die in die- sammenfassung dieses Programms reicht aus, um das so- sem Jahr nicht verbauten Schienenmittel in Höhe von fort zu erkennen. Bis 2002 sind knapp 5 Milliarden DM rund 1,5 Milliarden DM vom Finanzminister abnehmen. weniger vorgesehen als im gleichen Zeitraum in unserer Das zeigt die Schwäche des Ministers und seiner Staats- Finanzplanung. Aufgrund dieses Programms mit seinem sekretäre. finanziellen Engpass hagelte es Proteste von allen Bun- desländern, die baureife Projekte in der Schublade haben. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dann sind Ihnen die Erlöse aus der Veräußerung der UMTS-Lizenzen ins Haus geschneit – die Vorarbeiten Vizepräsidentin Anke Fuchs: Nun erteile ich dem wurden von uns geleistet – und Sie haben mit einem Zu- Bundesminister für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen, kunftsinvestitionsprogramm – vom Verkehrsminister na- Herrn Bodewig, das Wort. türlich als tolle Leistung verkündet – den Straßenbau- haushalt für insgesamt drei Jahre um 2,7 Milliarden DM Kurt Bodewig, Bundesminister für Verkehr, Bau- und aufgestockt. Im Vergleich zu unserer Finanzplanung feh- Wohnungswesen: Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen len bis Ende 2002 immer noch rund 2,2 Milliarden DM. und Kollegen! Es gab eine ganze Reihe von Verkehrsmi- (Reinhard Weis [Stendal] [SPD]: Es war wie in nistern, die an dem Projekt einer streckenbezogenen der DDR: Da haben die Planzahlen gestimmt LKW-Gebühr gearbeitet haben. Ich erinnere daran, dass und der Laden ist zusammengebrochen! – Bundesminister Warnke 1990 einen Versuch gestartet hat. Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ Dieser ist übrigens daran gescheitert, dass der EuGH die DIE GRÜNEN]: Luftbuchungen!) Kompensationswirkung als Hinderungsgrund beschrie- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20649

Bundesminister Kurt Bodewig (A) ben hat. Ich weise darauf hin, weil das in dieser Debatte Alle drei Punkte haben etwas mit fairem Wettbewerb (C) vielleicht eine Rolle spielen könnte. zu tun. (Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Aber Jetzt höre ich, wie Sie Krokodilstränen weinen. Herr die Zweckbindung war im Gesetz!) Friedrich, Herr Fischer, Sie sind also die Schutzheiligen Der Vorsitzende Richter hat übrigens damals in seiner Be- des Gewerbes. Ich finde Ihr kurzes Gedächtnis doch sehr gründung ausdrücklich auf das mangelnde Handling hin- bemerkenswert. Wer hat denn das Speditionsgewerbe gewiesen; auch das sollte man sich noch einmal vor Au- 1995 in die Liberalisierung und in die volle Kabotage ge- gen führen. trieben, ohne jegliche Absicherungsmaßnahme und ohne dem Gewerbe die Chance zu geben, sich auf die neue Si- Danach arbeiteten die Minister Zimmermann, Krause, tuation einzustellen? – Das waren Sie! Wissmann, Müntefering und Klimmt weiter an diesem Vorgang. Sie alle hatten Recht: Die Maut muss kommen; (Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Quatsch! denn sie ist notwendig. Deswegen danke ich meinen Vor- Das war von der Europäischen Union beschlos- gängern. Ich freue mich, dass wir es heute schaffen, das sen! – Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Wer hat durchzusetzen. denn vorher die Kfz-Steuer gesenkt?) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Denken Sie nach! Dann werden Sie erkennen, wie Sie an DIE GRÜNEN) der derzeitigen Situation mitgewirkt haben. Herr Fischer, Sie sprachen vom Kollegen Wissmann. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ich glaube, dass dieser Großversuch in Bonn nicht von DIE GRÜNEN – Dirk Fischer [Hamburg] Erfolg gekrönt war und dass Ihnen die politische Kraft [CDU/CSU]: Das war 1985 von der Europä- fehlte, eine LKW-Maut nicht nur anzudenken, sondern sie ischen Gemeinschaft beschlossen worden! Das auch durchzusetzen. war nur die Umsetzung!) (Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Quatsch! Wir haben umgesteuert. Die Steuerreform der Bun- Da wurden die verschiedenen Technologien desregierung entlastet auch das Transportgewerbe. Das ist getestet!) sehr wichtig. Jeder einzelne Transportunternehmer kann die Entlastung bei der Einkommensteuer errechnen. Das Die Koalitionsfraktionen handeln anders. Sie setzen ein sollten Sie nicht wegwischen. wesentlich erfolgreicheres, innovatives technisches Mo- dell ein. (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Deswegen sind die so begeistert von der Steuerreform! – (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (B) Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Weil sie (D) DIE GRÜNEN) nicht mehr die Vignette bezahlen müssen!) Ich hatte eben gesagt: Alle Verkehrsminister waren sich einig, dass die Maut kommen muss. Sie ist nämlich Weitere Entlastungsmaßnahmen sind bereits ergriffen aus verschiedenen Gründen längst überfällig: worden: Erstens. Der LKW-Verkehr, und zwar der Schwerlast- Ich nenne erstens die Beibehaltung der Berücksichti- verkehr, wird damit an der Finanzierung der Wegekosten gung der Kosten für die Verpflegung des Personals bei der beteiligt. Darüber wurde im europäischen Maßstab, aber Mehrwertsteuererstattung – Stichwort: Vorsteuerabzug. auch in Deutschland immer diskutiert. Jetzt wird das um- Das haben wir gemacht. gesetzt. (Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Das ist Zweitens. Wir verbessern die Wettbewerbsgleichheit doch alles Status quo! Das hatten wir doch zwischen Straße und Schiene. Auch das ist sinnvoll. Herr schon! Das hat es immer gegeben! Der Vorsteu- Kollege Fischer, den Hinweis auf die Binnenschifffahrt erabzug ist uralt! Das ist nichts Neues!) würde ich noch einmal überdenken; ich verweise auf die Zweitens. Die AfA-Richtlinien berücksichtigen die Mannheimer Schifffahrtsakte. Ich glaube, dass Sie da Situation des Gewerbes. Ihren Horizont erweitern können. Drittens. Ich glaube – jetzt komme ich zum wichtigsten (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Punkt –, dass wir mit dem Gesetz zur Bekämpfung der il- DIE GRÜNEN – Dirk Fischer [Hamburg] legalen Beschäftigung im gewerblichen Güterkraftver- [CDU/CSU]: Was hat das westdeutsche Kanal- kehr gemeinsam eine Kraftleistung vollbracht haben, die system mit der Mannheimer Akte zu tun? Sie in Ihrer gesamten Zeit nicht auf den Weg gebracht ha- Nichts! Gar nichts!) ben und die die wirksamste Maßnahme gegen eine Wett- Drittens. Erstmalig werden ausländische LKW für die bewerbsverzerrung ist. Der Einkommensunterschied im Nutzung der Autobahnen in Deutschland mit den vollen Verhältnis zu bestimmten osteuropäischen Staaten beträgt Wegekosten belastet. Das hat es nie gegeben. Immerhin nämlich 1:20. Hier haben wir das Gewerbe ganz ent- geht es um 20 bis 30 Prozent. Das ist eine wirksame Maß- schieden geschützt. Das Gewerbe erkennt das übrigens nahme gegen Dumping und Billigangebote. auch an. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) DIE GRÜNEN) 20650 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001

Bundesminister Kurt Bodewig (A) Trotzdem ist es notwendig, mit dem Gewerbe über eine Lassen Sie das Thema Weitergabefähigkeit nicht zu (C) europäische Steuerharmonisierung zu sprechen. Das kurz kommen. Die zu erwartenden Preissteigerungen aus werde ich tun. Dies habe ich angekündigt; wir werden dies der Umsetzung der LKW-Maut führen zu einer Preisstei- jetzt umgehend umsetzen. Denn wir müssen die europä- gerung von unter 0,15 Prozent. Das ist bei einem Kilo- ische Komponente berücksichtigen. Ich habe eben auf die gramm Obst 1 Pfennig. Bei einem Fernseher sind es europäische Dimension hingewiesen, an der dieses Vor- 34 Pfennig. haben schon einmal gescheitert ist. Ich werde deswegen (Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Das sehr deutlich machen: Wir müssen hier EU-kompatible hängt doch von der Entfernung des Transportes Regelungen treffen. Das ist das Gebot der Stunde. Das ab!) schützt auch das Gewerbe; denn solche Regelungen ha- ben Bestand. – Natürlich. Herr Fischer, das ist doch die Idee der entfernungsabhängigen LKW-Maut. Ich habe die Senkung der Kfz-Steuer auf das europä- ische Mindestniveau deswegen angeboten – das müssen (Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Wie viel wir mit den Ländern besprechen –, weil sie eine Chance Kilometer haben Sie denn für Ihr Rechenbei- bietet. Das ist EU-kompatibel; denn ein Element der Kfz- spiel zugrunde gelegt? 10? 10 000?) Steuer, nämlich die Bewertung des Emissionsverhaltens – Herr Fischer, es ist gut. der Fahrzeuge, ist substanzieller und systematischer Be- standteil der LKW-Maut. Deswegen ist dieser Weg gang- (Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Sie bar. Ich appelliere an die Länder, auf einem solchen Weg schweigen sich aus! Das ist unseriöse Propa- mitzugehen. Auch das ist ein Punkt, den wir miteinander ganda!) besprechen werden. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Vizepräsidentin Anke Fuchs: Herr Kollege Fischer, DIE GRÜNEN) eigentlich hat der Herr Minister das Wort. Dann, Herr Fischer, will ich Ihnen beim Erkenntnisge- (Zurufe von der CDU/CSU) winn gern helfen. Wegekosten kann man nicht willkürlich festsetzen. Es gibt eine europäische Richtlinie von 1999, Kurt Bodewig, Bundesminister für Verkehr, Bau- und die Ihnen eigentlich bekannt sein müsste. Wohnungswesen: Herr Fischer, Sie dürfen sich weiter er- (Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Auf- eifern. Es sollte nur nicht von meiner Redezeit abgehen. wandsbezogen! Das habe ich doch gesagt!) Deswegen werde ich jetzt weiterreden. (B) Wegekosten müssen die reale Abnutzung beschreiben, die (Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Ich (D) durch den Schwerlastverkehr erfolgt. kann Ihnen das anhand der Blätter beweisen! Das ist ein Ankündigungs- und Propagandami- (Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Der nister!) Aufwand!) Lassen Sie mich noch einmal das Ziel beschreiben. Das Herr Dr. Wolf, auch Ihr Wunsch ist nicht zu realisieren. Ziel heißt: Wir wollen den Verkehr bewerten und die Ab- Das europäische Recht ist eindeutig. So lange das Weiß- nutzung von Straßen durch den Schwerlastverkehr end- buch nicht umgesetzt worden ist – erst als Weißbuch, dann lich berechnen. Das hat eine positive Wirkung; denn diese in einer europäischen Richtlinie, die in nationales Recht Bewertung führt dazu, dass wir mehr investieren können, umgesetzt werden muss –, gilt dies. Deswegen werden und zwar richtig. Es geht um zusätzliche Einnahmen, die wir uns gesetzeskonform verhalten. Denn dies ist not- wirksam für den Erhalt und den weiteren Ausbau der Ver- wendig, wenn wir dieses wichtige Projekt realisieren wol- kehrswege verkehrsträgerübergreifend eingesetzt wer- len. den. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Das, Frau Blank, werden wir um das Betreibermodell DIE GRÜNEN) ergänzen. – In einer ruhigen Stunde werde ich Ihnen das Die Wegekosten wurden von Prognos und dem Institut erklären. für Wirtschaftspolitik und Wirtschaftsforschung der Uni- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ versität Karlsruhe genau ermittelt. Diese werden sich auf DIE GRÜNEN) 6,6 Milliarden DM belaufen. Dies bedeutet eine durchschnittliche Maut von 15 Cent, also 29,3 Pfennig, je Das Betreibermodell hat nämlich die Wirkung, dass wir gefahrenen Kilometer. Hier wird noch zwischen 10 Cent zusätzlich privates Kapital zur Lösung von Verkehrseng- und 17 Cent differenziert. Das heißt, es gibt einen Anreiz, pässen auf der Basis dieses und anderer Gesetze mobili- in emissionsarme Fahrzeuge zu investieren; denn die Dif- sieren können. Das ist eine intelligente Lösung. Sie be- ferenz zwischen 10 Cent und 17 Cent kann jeder Unter- dauern wahrscheinlich, dass sie Ihnen nicht eingefallen nehmer errechnen. Auch Sie sollten das tun. Ich glaube, ist. dass dies eine ganz wichtige umweltpolitische Steue- Dann will ich noch auf einen Punkt eingehen, den ich rungswirkung hat. bei Ihrer Diskussion ganz interessant finde: die Frage der (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Verlagerung auf das nachgeordnete Straßennetz. Sie wis- DIE GRÜNEN) sen, dass wir die LKW-Maut im derzeitigen europäischen Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20651

Bundesminister Kurt Bodewig (A) Rechtszustand nur für die Benutzung der Autobahn erhe- Ich denke daran, dass wir ein Verkehrssystem brauchen, (C) ben dürfen. Wir haben die Verlagerungswirkung unter- bei dem alle Verkehrsträger optimal zusammenarbeiten. sucht. Unsere Institute sagen, dass es eine Bandbreite zwi- Ich denke nicht in Kategorien von Feind und Freund. Ich schen 1 und 3 Prozent gibt. Aber weil auch 3 Prozent eine will die Probleme lösen und zu einem Ergebnis kommen, Belastung sein können, haben wir im Gesetz die Mög- das Sie nie zustande gebracht haben. lichkeit vorgesehen, auch Teile von Bundesfernstraßen Vielen Dank. – das lässt das europäische Recht zu – sehr flexibel ein- zubeziehen, nämlich im Rahmen einer Rechtsverordnung. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Die Struktur dieses Gesetzes ist deswegen so besonders DIE GRÜNEN) wichtig, weil wir in der gemeinsamen Arbeit mit den Län- dern auf mögliche Verlagerungseffekte schnell reagieren Vizepräsidentin Anke Fuchs: Als letztem Redner in können. dieser Debatte erteile ich dem Kollegen Wilhelm Josef Nun komme ich zu der Frage: Welche Wirkung wird Sebastian das Wort. die Abgabe auf den Verkehr haben? Wir alle wissen, dass es ein ungeheures Verkehrswachstum gibt. Studien auf der Wilhelm Josef Sebastian (CDU/CSU): Frau Präsi- Basis des Jahres 1997 mit einem Zeithorizont bis 2015 ge- dentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Minister, hen von 64 Prozent aus. Wir brauchen steuernde Elemente Sie haben davon gesprochen, dass es Schutzheilige des und können uns Leerverkehre in dem Maße wie bisher Gewerbes gebe. Der Heilige Sebastian ist in vielen Re- nicht mehr erlauben. gionen Deutschlands zwar Schutzheiliger der Schützen, Wir brauchen natürlich die Motivation, dass Trans- aber auch ich will mich hier für das Gewerbe einsetzen. porte gebündelt werden, Laderaum besser genutzt wird Sie sagen zu Recht, die Maut müsse kommen. Aber so, und Transporte mit geringeren Kilometerleistungen zu wie Sie sie jetzt planen, ist sie falsch. Der heutige Tag ist realisieren sind. Auch dies ist ein wichtiges Element im für das Gewerbe ein schlechter Tag; denn auch nach der Sinne von verbundenen Verkehren und logistischen Ge- zweiten und dritten Lesung des Entwurfs eines Gesetzes samtkonzeptionen. zur Einführung einer streckenabhängigen LKW-Maut ist Ich würde gerne Ihre Art der Oppositionsrechnung et- festzustellen: Es ist eine politische Fehlleistung der rot- was näher beleuchten. Sie nehmen einen etwas eigenarti- grünen Bundesregierung. gen Vierschritt vor: Sie fordern erstens eine geringe Maut- Wir hatten bei der ersten Lesung noch die Hoffnung, höhe, weil jede Maut eine Belastung darstellt. Sie fordern dass sich die Regierungsfraktionen einsichtsfähig zeigen (B) zweitens viele Ausnahmen bei Strecken, die bemautet würden. Wir glaubten, dass die Erkenntnisse aus der An- (D) werden sollen; Sie haben eben den Stadtring genannt. Das hörung in den Gesetzentwurf einfließen würden. Wir ha- bedeutet weniger Einnahmen. Drittens fordern Sie die ben uns in diesem Punkt gewaltig getäuscht. Sie haben höchste Geldrückgabe; Sie sprachen eben von Belas- nichts dazugelernt und wollen heute eine Maut einführen, tungsneutralität. Viertens fordern Sie die höchsten Infra- ohne dafür zu sorgen, dass die betroffene Branche eine strukturausgaben, die nur möglich sind. Ich glaube, mit Chance hat, im internationalen Wettbewerb zu bestehen. dieser mathematischen Formel haben Sie es erreicht, der jetzigen Regierung 1,5 Billionen Bundesschulden zu hin- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) terlassen. Dieses Ergebnis beruht auf der Art des Rech- Eine dringend notwendige Umfinanzierung fehlt völlig. nens, wie Sie es betreiben. Das ist in der Anhörung – Sie waren dabei – sehr deutlich (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ so vorgetragen worden. DIE GRÜNEN) Die Zeit reicht leider nicht, um in aller Breite auf die In diesem Zusammenhang erwarte ich Seriosität. Un- gesamtwirtschaftliche Belastung durch das neue Gesetz sere seriöse Berechnung lautet: Nettomehreinnahmen aus einzugehen. Ich möchte an dieser Stelle jedoch feststel- der Maut werden in ein Anti-Stau-Programm investiert, len: Es besteht die große Gefahr – Dirk Fischer hat das das die wichtigsten Engpässe beseitigt. Wir werden durch schon vorgetragen –, dass viele kleine mittelständische Unternehmen in Deutschland sozusagen ins Gras beißen. Investitionen – in diesem Punkt stimme ich Ihnen, Frau Auch wenn auf unseren Straßen von ausländischen LKW Blank, zu – Arbeitsplätze sichern, und zwar pro 1 Milli- die gleiche Maut zu bezahlen ist, bleibt unter Berücksich- arde DM an Investitionen 10 000 bis 12 000 Beschäftigte. tigung der übrigen Abgabenbelastungen der Wettbe- Ich bin stolz darauf, wenn uns das gelingt, weil wir damit werbsnachteil für Betreiber deutscher LKW bestehen. Die etwas für die Menschen tun. Das ist unsere Aufgabe. angekündigte Senkung der Kfz-Steuer auf das europä- Lassen Sie mich abschließend sagen: Herr Fischer und ische Mindestniveau ist nur ein kleiner Schritt in die rich- ebenso Frau Blank haben in der gestrigen Regierungsbe- tige Richtung. fragung vom Hauptfeind Auto gesprochen. Ich denke Sie, Herr Minister, und Sie, liebe Kolleginnen und Kol- nicht in solchen Kategorien. legen der Regierungsfraktionen, wissen, dass der Schlüs- (Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Das ist sel zur Harmonisierung auf europäischer Ebene die Mi- eine Tatsache! Fragen Sie einmal das Ge- neralölsteuer ist. An dieses Thema gehen Sie aber aus werbe!) ideologischen Gründen nicht heran. Im Gegenteil: Zur 20652 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001

Wilhelm Josef Sebastian (A) heutigen Einführung der LKW-Maut kommt noch die Er- Minister, Sie müssen sich mit Ihren Vorstellungen in der (C) höhung der so genannten Ökosteuer zum 1. Januar 2002. Bahnpolitik durchsetzen. Sie lassen – das sage ich Ihnen deutlich – die deutsche Straßengüterbranche ausbluten, Es gilt, Wege zu finden, die in Übereinstimmung mit dem europäischen Recht die Benachteiligung des deut- weil Sie sich gegen Bahnchef Mehdorn nicht durchsetzen schen Gütertransportgewerbes abmildern. Sie wissen, können. Der Güterkraftverkehr darf nicht zur Melkkuh für dass die Vorschläge der Gewerbeverbände im Hinblick alle anderen Verkehrsträger werden. Aber genau dazu ma- auf die Anrechnung der Mineralölsteuer im Raum stehen. chen Sie ihn. Sie tun weiterhin nichts Wesentliches, um Wir setzen unsere Hoffnung zumindest darauf, dass die die Position der deutschen Brummis im globalisierten Prüfung auf europäischer Ebene Ihre Handlungsfähigkeit Wettbewerb zu verbessern. hier noch etwas beflügeln wird. Es ist heute kein guter Tag für das Transportgewerbe. Die von Ihnen vorgesehene Mauthöhe bedeutet für ei- Das vorliegende Gesetz ist unvollständig. Ich sage vo- nen durchschnittlichen deutschen LKW eine Abgabenlast raus, dass wir uns schon in allernächster Zukunft wieder von 33 500 DM pro Jahr – Tendenz steigend –, ohne dass mit diesem Gesetz beschäftigen müssen, damit es – mög- eine Möglichkeit zur Kostenkompensierung oder zur Um- licherweise – nachgebessert wird. finanzierung besteht. Die Niederlande haben angekündigt Es gab noch andere Dinge – Dirk Fischer hat das deut- – das ist schon einmal gesagt worden; ich möchte es trotz- lich gemacht –, die wir angemahnt haben. Es müssen be- dem wiederholen, weil es mir sehr wichtig ist –, bei Ein- stimmte Autobahnabschnitte aus der Mautpflicht heraus- führung einer LKW-Maut die Mineralölsteuer um 15 Pro- genommen werden. Es ist zu befürchten, dass zum zent zu senken. Frankreich will seine Unternehmen bis Beispiel in Berlin ein Chaos ausbricht, wenn die Maut auf mindestens 2005 nicht mit weiteren Erhöhungen belasten. der gesamten Stadtautobahn erhoben werden sollte. An- Was tun Sie? – Nichts! dererseits muss auch auf Bundesstraßen, die als Schleich- Es besteht die große Gefahr, dass viele unserer Trans- wege genutzt werden können, eine Maut erhoben werden. portunternehmen aufgrund der zusätzlichen Belastungen Ich denke, hier müssen noch eine Menge Probleme gelöst nicht überleben werden und dass dadurch 100 000 Ar- werden. beitsplätze verloren gehen. Die Vorstellung, dass Zusatz- Wir können das Gesetz, das Sie heute verabschieden kosten auf die transportierten Güter abgewälzt werden werden, nicht mittragen; denn wir halten das Gesetz in der können, ist falsch. Sie haben in Ihrer Propagandaschrift jetzigen Fassung für falsch. einige Beispiele mit Bananen, Joghurts, Schuhen und Fernsehern aufgelistet. Herr Minister, hier haben Sie mit Vielen Dank. Zitronen gehandelt! Die Annahme stimmt nämlich nicht. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (B) Die Verlader werden sich den billigsten Transporteur aus- (D) suchen. Der wird in Zukunft aus dem Ausland kommen. Vizepräsidentin Anke Fuchs: Ich schließe die Aus- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sprache. Wer die Hoffnung hat, dass durch die Einführung der LKW-Maut zukünftig weniger LKW auf bundesdeut- Wir kommen jetzt zu einer Reihe von Abstimmungen, schen Autobahnen fahren, hofft vergebens. Es werden ge- zunächst zu Tagesordnungspunkt 10 a. Wir kommen zur nauso viele LKW wie früher fahren. Nur werden weniger Beschlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau- deutsche Nummernschilder auf bundesdeutschen Auto- und Wohnungswesen auf Drucksache 14/7448. bahnen zu sehen sein. Die ausländischen Nummernschil- Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschluss- der werden in der Überzahl sein. Angesichts dieser ge- empfehlung den Entschließungsantrag der Fraktion der fährlichen Entwicklung heißt es gegenzusteuern. CDU/CSU zum Verkehrsbericht 2000 der Bundesregie- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) rung auf Drucksache 14/5081 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltun- Die Umstellung von der Steuerfinanzierung auf die gen? – Bei Enthaltung der PDS, Zustimmung von SPD Nutzerfinanzierung entspricht zwar auch der – das haben und Bündnis 90/Die Grünen sowie Ablehnung von wir immer wieder deutlich gemacht – von uns gewollten CDU/CSU und FDP ist die Beschlussempfehlung ange- Richtung. Richtig ist auch die verursachergerechte Anlas- nommen. tung der Wegekosten. Diese muss dann aber für alle Ver- kehrsträger gelten, also auch für Wasserstraßen und Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Schienen. Eine Subventionierung der anderen Verkehrs- Antrags der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksa- träger mit dem Aufkommen aus der LKW-Maut lehnen che 14/5317 mit dem Titel „Konzept für die zukünftige Fi- wir daher grundsätzlich ab. Unser Antrag, dass es keine nanzierung der Bundesverkehrswege“. Wer stimmt für Quersubventionen geben darf, wurde von der Regie- diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltun- rungskoalition abgelehnt. Sie haben schlicht und einfach gen? – Auch diese Beschlussempfehlung ist angenom- Ihre ordnungspolitischen Hausaufgaben nicht gemacht. men. Deshalb versagen Sie in verkehrs- und wirtschaftspoliti- Tagesordnungspunkte 10 b und 10 c. Interfraktionell scher Hinsicht erneut! wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksa- Auch wir sind für die Stärkung des Verkehrsträgers chen 14/7452 und 14/7455 an die in der Tagesordnung Schiene. Aber das muss politisch gestaltet werden. Herr aufgeführten Aussschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20653

Vizepräsidentin Anke Fuchs (A) einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Über- schäftsordnung (1. Ausschuss) zu dem Antrag (C) weisungen so beschlossen. auf Genehmigung zur Durchführung eines Strafverfahrens Tagesordnungspunkt 10 d. Wir kommen zur Abstim- mung über den von der Bundesregierung eingebrachten – Drucksache 14/7863 – Gesetzentwurf zur Einführung von streckenbezogenen Wir kommen sofort zur Abstimmung. Der Ausschuss Gebühren für die Benutzung von Bundesautobahnen mit für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung schweren Nutzfahrzeugen, Drucksachen 14/7013 und empfiehlt auf Drucksache 14/7863, die Genehmigung zu 14/7087. erteilen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Der Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Gegenprobe! – Enthaltungen? – Dann ist die Beschluss- empfiehlt unter Buchstabe A seiner Beschlussempfehlung empfehlung angenommen. auf Drucksache 14/7822, den Gesetzentwurf in der Aus- Nun geht es mit den Überweisungen weiter. Wir kom- schussfassung anzunehmen. men zunächst zu Zusatzpunkt 16. Interfraktionell wird Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der PDS Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/7325 an die auf Drucksache 14/7846 vor, über den wir zuerst abstim- in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- men. Wer stimmt für den Änderungsantrag der PDS? – Ge- schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der genprobe! – Das hat nicht ganz gereicht. Der Änderungs- Fall. – Dann ist die Überweisung so beschlossen. antrag ist abgelehnt. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf: Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzei- Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- chen.– Gegenprobe! – Enthaltungen? – Der Gesetzent- gebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur wurf ist in zweiter Beratung angenommen. Änderung und Ergänzung vermögensrechtlicher und anderer Vorschriften (Zweites Vermögens- Dritte Beratung rechtsergänzungsgesetz – 2. VermRErgG) und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem – Drucksache 14/7228 – Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Ge- genprobe! – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist ange- Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) nommen. Finanzausschuss (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen DIE GRÜNEN) Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder Ich eröffne die Aussprache. (B) Wir kommen nun zur Abstimmung über den Ent- (D) schließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU auf Druck- Die Reden sind alle zu Protokoll gegeben.1) sache 14/7848. Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dage- gen? – Enthaltungen? – Der Entschließungsantrag ist bei Ich schließe die Aussprache. Enthaltung der FDP abgelehnt. Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent- Der Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen wurfs auf Drucksache 14/7228 an die in der Tagesordnung empfiehlt unter Buchstabe B seiner Beschlussempfehlung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit auf Drucksache 14/7822 die Annahme einer Entschlie- einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überwei- ßung. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Ge- sung so beschlossen. genprobe! – Enthaltungen? – Gegen die Stimmen von CDU/CSU und FDP ist die Entschließung angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf: Tagesordnungspunkt 10 e. Wir kommen zur Beschluss- Erste Beratung des von den Abgeordneten Norbert empfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau- und Woh- Geis, Erwin Marschewski (Recklinghausen), nungswesen auf Drucksache 14/7821, zu dem Antrag der Wolfgang Bosbach, weiteren Abgeordneten und Fraktion der FDP mit dem Titel „Keine Abgabenerhöhung der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Ent- durch LKW-Maut“. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag wurfs eines Gesetzes zur Verbesserung des auf Drucksache 14/7072 abzulehnen. Wer stimmt für diese Schutzes der Bevölkerung vor angedrohten und Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – vorgetäuschten Straftaten Die Beschlussempfehlung ist angenommen. – Drucksache 14/7616 – Liebe Kolleginnen und Kollegen, interfraktionell ist Überweisungsvorschlag: vereinbart, die heutige Tagesordnung um die Beratung Rechtsausschuss (f) der Beschlussempfehlung des Ausschuss für Wahlprü- Innenausschuss fung, Immunität und Geschäftsordnung zu einem Antrag Ich eröffne die Aussprache. auf Genehmigung zur Durchführung eines Strafverfah- 2) rens zu erweitern und jetzt sofort als Zusatzpunkt 26 auf- Die Reden sind alle zu Protokoll gegeben. zurufen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Ich schließe die Aussprache.

Dann rufe ich den Zusatzpunkt 26 auf: Beratung der Beschlussempfehlung des Aus- 1) Anlage 2 schusses für Wahlprüfung, Immunität und Ge- 2) Anlage 3 20654 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001

Vizepräsidentin Anke Fuchs (A) Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent- – Drucksache 14/7438 – (C) wurfs auf Drucksache 14/7616 an die in der Tagesordnung Überweisungsvorschlag: aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überwei- Entwicklung (f) sung so beschlossen. Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen- Nun rufe ich den Tagesordnungspunkt 13 sowie Zu- abschätzung satzpunkt 17 auf: Haushaltsausschuss Ich eröffne die Aussprache. 13. Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN einge- Die Reden sind alle zu Protokoll gegeben.2) brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung Ich schließe die Aussprache. des Gesetzes zur Förderung eines freiwilligen so- zialen Jahres und anderer Gesetze (FSJ-Förde- Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf rungsänderungsgesetz – FSJGÄndG) Drucksache 14/7438 an die in der Tagesordnung aufge- – Drucksache 14/7485 – führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung Überweisungsvorschlag: so beschlossen. Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung Verteidigungsausschuss Ich rufe die Tagesordnungspunkte 15 a und 15 b auf: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kurt- Entwicklung Haushaltsausschuss Dieter Grill, Dr. Peter Paziorek, Klaus-Jürgen Hedrich, weiterer Abgeordneter und der Fraktion ZP 17 Beratung des Antrags der Abgeordneten Gerhard der CDU/CSU Schüßler, Ina Lenke, Ernst Burgbacher, weiterer Globale Strategie gegen Wassermangel als in- Abgeordneter und der Fraktion der FDP ternationales Konfliktpotenzial Deutschland braucht gesetzliche Rahmenbe- – Drucksache 14/7437 – dingungen für einen allgemeinen Freiwilligen- Überweisungsvorschlag: dienst Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) – Drucksache 14/7811 – Auswärtiger Ausschuss (B) Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und (D) Überweisungsvorschlag: Landwirtschaft Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Rechtsausschuss Entwicklung Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen- b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dagmar abschätzung Schmidt (Meschede), Adelheid Tröscher, Brigitte Ausschuss für Kultur und Medien Adler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der Ich eröffne die Aussprache. SPD sowie der Abgeordneten Dr. Angelika Köster- Die Reden sind alle zu Protokoll gegeben.1) Loßack, Hans-Christian Ströbele, Kerstin Müller (Köln), Rezzo Schlauch und der Fraktion des Ich schließe die Aussprache. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf Wasser als öffentliches Gut und die Bedeutung den Drucksachen 14/7485 und 14/7811 an die in der Ta- von Wasser in der deutschen Entwicklungszu- gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. sammenarbeit Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist – Drucksache 14/7484 – die Überweisung so beschlossen. Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 14 auf: Ich Entwicklung (f) eröffne die Aussprache. Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und 14. Beratung des Antrags der Abgeordneten Erika Landwirtschaft Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Reinhardt, Klaus-Jürgen Hedrich, Dr. Norbert Blüm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der Ich eröffne die Aussprache. CDU/CSU Die Reden sind alle zu Protokoll gegeben.3) Zusagen zum globalen HIV/Aids- und Gesundheitsfonds einhalten und Aids-Impf- Ich schließe die Aussprache. stoffforschung stärker fördern

2) Anlage 5 1) Anlage 4 3) Anlage 6 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20655

Vizepräsidentin Anke Fuchs (A) Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf Ich eröffne die Aussprache. (C) den Drucksachen 14/7437 und 14/7484 an die in der Ta- Die Reden sind alle zu Protokoll gegeben.2) gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist Ich schließe die Aussprache. die Überweisung so beschlossen. Interfraktionell wird die Überweisung der Gesetzent- würfe auf den Drucksachen 14/7758 und 14/763 an die in Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf: der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla- gen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Dann ist die Überweisung so beschlossen. gebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung schadensersatzrechtlicher Vorschrif- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf: ten Beratung des Antrags der Abgeordneten Eva – Drucksache 14/7752 – Bulling-Schröter, Dr. Winfried Wolf, Uwe Hiksch Überweisungsvorschlag: und der Fraktion der PDS Rechtsausschuss (f) Ausbau der Donau zwischen Straubing und Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Vilshofen ökologisch gestalten – Drucksache 14/7196 – Ich eröffne die Aussprache. Überweisungsvorschlag: Die Reden sind alle zu Protokoll gegeben.1) Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ich schließe die Aussprache. Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent- Haushaltsausschuss wurfs auf Drucksache 14/7752 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit Ich eröffne die Aussprache. einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überwei- Die Reden sind alle zu Protokoll gegeben.3) sung so beschlossen. Ich schließe die Aussprache. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 17 a und 17 b auf: Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/7196 an die in der Tagesordnung aufge- a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- (B) gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neurege- verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung (D) lung des Waffenrechts (WaffRNeuRegG) so beschlossen. – Drucksache 14/7758 – Wir danken den Abgeordneten, die ihre Reden zu Pro- Überweisungsvorschlag: tokoll gegeben haben. Innenausschuss (f) (Beifall) Sportausschuss Rechtsausschuss Stellen Sie sich vor, sie hätten alle noch reden wollen! Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Dann hätten wir lange getagt. Landwirtschaft Ausschuss für Tourismus (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Wir danken der Präsidentin, b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten dass sie die Debatte ganz allein bestritten hat!) Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung Wir sind damit am Schluss der heutigen Tagesordnung. des Waffengesetzes – Drucksache 14/763 – Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes- tages auf morgen, Freitag, den 14. Dezember 2001, 9 Uhr, Überweisungsvorschlag: ein. Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend. Innenausschuss (f) Rechtsausschuss Die Sitzung ist geschlossen. Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft (Schluss: 21.39 Uhr) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

2) Anlage 8 1) Anlage 7 3) Anlage 9

Berichtigung 207. Sitzung, Seite IV Anlage 2 und 20495 (D); erster Satz: Statt „Dr. Edith Niehuis“ ist „Gudrun Schaich-Walch (BMG)“ zu lesen.

Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20657

(A) Anlagen zum Stenographischen Bericht (C) Anlage 1

Liste der entschuldigten Abgeordneten

entschuldigt bis entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich Abgeordnete(r) einschließlich

Altmann (Aurich), BÜNDNIS 90/ 13.12.2001 Dr. Schwarz-Schilling, CDU/CSU 13.12.2001 Gila DIE GRÜNEN Christian Behrendt, Wolfgang SPD 13.12.2001* Siemann, Werner CDU/CSU 13.12.2001 Berninger, Matthias BÜNDNIS 90/ 13.12.2001 Simmert, Christian BÜNDNIS 90/ 13.12.2001 DIE GRÜNEN DIE GRÜNEN Bierling, Hans-Dirk CDU/CSU 13.12.2001** Stünker, Joachim SPD 13.12.2001 Dr. Blank, CDU/CSU 13.12.2001** Dr. Süssmuth, Rita CDU/CSU 13.12.2001 Joseph-Theodor Türk, Jürgen FDP 13.12.2001 Bulling-Schröter, Eva PDS 13.12.2001 Wieczorek-Zeul, SPD 13.12.2001 Frankenhauser, CDU/CSU 13.12.2001 Heidemarie Herbert * für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver- Friedrich (Altenburg), SPD 13.12.2001 sammlung des Europarates Peter ** für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlametnarischen Ver- sammlung der NATO Hauer, Nina SPD 13.12.2001 Hauser (Bonn), CDU/CSU 13.12.2001 Norbert Anlage 2 (B) Hempelmann, Rolf SPD 13.12.2001 Zu Protokoll gegebene Rede (D) Hiksch, Uwe PDS 13.12.2001 zur Beratung des Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung und Ergänzung vermögensrecht- Dr. Hoyer, Werner FDP 13.12.2001 licher und anderer Vorschriften (Zweites Ver- mögensrechtsergänzungsgesetz – 2. VermRErgG) Imhof, Barbara SPD 13.12.2001 (Tagesordnungspunkt 11) Dr. Jens, Uwe SPD 13.12.2001 Jünger, Sabine PDS 13.12.2001 Hans-Joachim Hacker (SPD): Der Deutsche Bun- destag hat sich seit der Wiedervereinigung am 3. Oktober Kraus, Rudolf CDU/CSU 13.12.2001 1990 in einer Vielzahl von Fällen mit der Regelung der so genannten offenen Vermögensfragen befasst. Die Novel- Dr. Küster, Uwe SPD 13.12.2001 lierung des Vermögensrechts war infolge der notwendi- Lippmann, Heidi PDS 13.12.2001 gen Verzahnung von Regelungsbereichen des Vermö- gens- und Entschädigungsrechts nicht einfach. Leider Lörcher, Christa fraktionslos 13.12.2001* – auch das muss einmal gesagt werden – sind die verab- schiedeten Gesetze für die Betroffenen nur noch schwer Michels, Meinolf CDU/CSU 13.12.2001 zu überschauen. Aber bei aller Kompliziertheit der Mate- Mosdorf, Siegmar SPD 13.12.2001 rie ist und bleibt der Gesetzgeber gefordert, erneut zu no- vellieren, wenn offensichtlich ein Klarstellungserforder- Nahles, Andrea SPD 13.12.2001 nis besteht oder Regelungslücken geschlossen werden müssen. Dr. Pfaff, Martin SPD 13.12.2001 Diesem Erfordernis entspricht der von der Bundesre- Rübenkönig, Gerhard SPD 13.12.2001 gierung vorgelegte Entwurf eines Zweiten Vermögens- rechtsergänzungsgesetzes. Es hat sich gezeigt, dass ge- Schenk, Christina PDS 13.12.2001 setzliche Regelungen zum Teil missverständlich Schlee, Dietmar CDU/CSU 13.12.2001 formuliert wurden. Dieser Zustand soll durch den Gesetz- entwurf beseitigt werden und im Übrigen sollen unbillige Schmitz (Baesweiler), CDU/CSU 13.12.2001 Rechtskonstellationen zugunsten von Anspruchsberech- Hans Peter tigten verbessert werden. 20658 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001

(A) Es geht konkret um die Änderung des Gesetzes zur gen des Vermögensgesetzes zurück. Bereits bei zurück- (C) Regelung offener Vermögensfragen, des Entschädigungs- liegenden Gesetzesnovellierungen sind im Wege der gesetzes, des Ausgleichsleistungsgesetzes und des NS- Klarstellung Unbilligkeiten beseitigt worden. Mit der vor- Verfolgtenentschädigungsgesetzes. gesehenen Änderung des § 6 Abs. 1 Satz 2 des Entschädi- gungsgesetzes erfolgt die notwendige Klarstellung hin- Ich kann nicht auf alle, schon gar nicht auf die ledig- sichtlich der Anrechnung erhaltener Gegenleistungen der lich redaktionellen Änderungen gesetzlicher Normen ein- Betroffenen, um eine doppelte Erfassung zu vermeiden. gehen. Ich will daher nur die wichtigsten Ziele, die dem Gesetzentwurf zugrunde liegen, ansprechen. Sie sehen, auch elf Jahre nach der Wiedervereinigung bieten das Vermögensgesetz und die anderen von der No- Eine solche Frage sehe ich in der Änderung des § 2 vellierung betroffenen Gesetze interessanten juristischen Abs. 1 des Vermögensgesetzes. Bislang haben Berech- Diskussionsstoff, vor allen Dingen für die Berichterstat- tigte wegen der Erbausschlagung keine vermögensrecht- ter. Ich bin mir sicher, dass das Bundesjustizministerium lichen Ansprüche, wenn eine Vermögensschädigung den uns in bewährter Weise mit Fachkompetenz zur Seite ste- Erblasser getroffen hatte. Dieses ist offenkundig unbillig hen wird. und wird von den Berechtigten als Weiterbestehen einer so genannten kalten Enteignung empfunden. An dieser Stelle richte ich einen Appell an den Bun- desrat, das Gesetzgebungsverfahren zu unterstützen. Die Die vorgesehene rechtliche Regelung hebt diese Be- Ablehnung des Gesetzentwurfes durch den Bundesrat nachteiligung auf, ohne dass andere Privatpersonen aus sollte nicht das letzte Wort sein; denn mit der beabsich- einer etwaigen Berechtigtenstellung verdrängt würden. tigten Regelung wird für die betroffenen Berechtigten ma- Im Weiteren: Bereits in der Vergangenheit hat es im terielle Gerechtigkeit geschaffen, die schwerer wiegt als Zusammenhang mit der Novellierung des Vermögensge- eine in Kauf zu nehmende zusätzliche Belastung der Ver- setzes eine Diskussion zu der Frage von Ansprüchen auf waltung. Bei der Beratung zur Änderung der beiden SED- Bruchteilseigentum gegeben. Die dies betreffende Rege- Unrechtsbereinigungsgesetze im Vermittlungsausschuss lung im § 3 Abs. 1 des Vermögensgesetzes bedarf einer am 6. Dezember 2001 haben die Länder dokumentiert, Klarstellung, wie das Erfordernis „mehr als den fünften dass ihnen Gerechtigkeit wichtiger ist als der Abbau von Teil der Anteile“ zu verstehen ist, wenn Beteiligungen an Verwaltungskapazitäten. Dieser Grundsatz sollte auch für Unternehmen bei einem Berechtigten zusammentreffen. den Regelungsbereich des vorliegenden Gesetzentwurfes Die Bundesregierung will mit dem vorliegenden Gesetz- gelten. entwurf klarstellen, dass Anteile an verschiedenen Mutterunternehmen zu addieren sind, wenn sie heute in Andrea Voßhoff (CDU/CSU): Wieder einmal hat die (B) einer Hand zusammenfallen. Dieses ist konkret bei An- Bundesregierung die rechtspolitische Wundertüte geöff- (D) sprüchen der Rechtsnachfolger der früheren Weimarer net und präsentiert uns erneut nach der Devise „alle Jahre Gewerkschaften der Fall, die von den Nazis enteignet wieder“ – denn das letzte Mal ist gerade ein Jahr her – ei- worden sind und deren Vermögen dem NS-Staat einver- nen bemerkenswerten Fächer von Änderungen im Ver- leibt wurde. Die von der Bundesregierung vorgeschla- mögensgesetz und im Entschädigungs- und Ausgleichs- gene Lösung führt in der Konsequenz und der Intention leistungsgesetz. Es fällt mir dazu der schon oft stra- des Vermögensgesetzes folgend zu einer Wiedergutma- pazierte Ausspruch der rot-grünen Bundesregierung zu chung von NS-Unrecht. Dieser Ansatz wird von der SPD- Beginn der Legislaturperiode ein, man wolle „nicht alles Bundestagsfraktion nachdrücklich unterstützt. anders, aber vieles besser“ machen. Ich wollte dieses Ver- Genauso unterstützen wir die vorgesehene Änderung sprechen eigentlich nicht weiter zitieren; vorliegender des § 31 Abs. 1 Buchstabe c des Vermögensgesetzes, wo- Gesetzentwurf zwingt aber dazu, auf diese vollmundige nach zukünftig ein Erbschein, der für die Geltendma- Aussage nochmals einzugehen. Denn besser kann man es chung vermögensrechtlicher Ansprüche benötigt wird, kaum darstellen, wie die Rechtspolitik von Rot-Grün zur generell gebührenfrei sein soll. Bislang gilt diese Rege- Salamitaktik degradiert wird. Besser kann man es kaum lung bereits für Fälle der NS-Verfolgung und ich finde es darstellen, wie Rot-Grün Rechtsklarheit und Rechtsfrie- richtig, dass der Regelungsbereich auch auf vermögens- den in den Eigentumsfragen der neuen Länder zusätzlich rechtliche Ansprüche außerhalb des § 1 Abs. 6 des Ver- strapaziert. Besser kann man es kaum darstellen, wie sich mögensgesetzes ausgedehnt wird, weil in diesem Bereich die vom Kanzler Schröder versprochene Chefsache „Auf- auch eine Wiedergutmachung für Unrecht erfolgt. bau Ost“ offenbar in einer Arbeitsbeschaffungsmaß- nahme für die Vermögensämter erschöpft. Die vorgesehene Regelung des § 4 Abs. 1 des Vermö- gensgesetzes, wonach künftig die Teilrestitution nicht Bereits mit dem Vermögensrechtsergänzungsgesetz mehr ausgeschlossen sein soll, weil der Zugang zum öf- aus dem Jahr 1999 haben wir uns mit umfangreichen Än- derungen des Vermögensgesetzes beschäftigt und mit fentlichen Verkehrswegenetz fehlt, greift auf eine be- dem Grundstücksrechtsänderungsgesetz aus dem Jahr währte Regelung im § 27 des Sachenrechtsbereinigungs- 2000 ebenfalls. Jedesmal warnten die Länder vor dem gesetz zurück. immensen Verwaltungsmehraufwand für die Vermö- Im Gesetzentwurf wird erneut die Opfergruppe der gensämter. Insbesondere beim Grundstücksrechtsände- Zwangsausgesiedelten angesprochen. Sie sind zu Recht rungsgesetz haben wir dies auch in der damaligen An- als Opfer von DDR-Verwaltungsunrecht rehabilitiert hörung von Vertretern der Vermögensämter gehört, die worden und erhalten ihr Vermögen nach den Bestimmun- mit mehr als deutlichen Appellen auf die Bearbeitungssi- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20659

(A) tuation hingewiesen haben. Nun sollte materielle Ge- bereits jetzt entsprechende Schreiben der betroffenen (C) rechtigkeit nicht an dem zur Umsetzung erforderlichen Wohnungswirtschaft. Es mutet auch schon befremdlich an, Verwaltungsmehraufwand scheitern – gar keine Frage! wenn offenbar der Staatsminister Schwanitz im Februar 2001 die Landesregierungen auffordert, die offenen Ver- Aus dem Rechtsgedanken der aktuellen Entscheidung mögensfragen des Entschädigungsgesetzes bis zum Ende des Bundesverfassungsgerichtes zu den so genannten des Jahres 2003 abzuarbeiten und Sie mit diesem Gesetz- „kalten Enteignungen“ mag man auch über die Auswei- entwurf gleichzeitig nichts unversucht lassen, mit neuen tung der Rechtsnachfolge bei der Geltendmachung von Rechtsänderungen die zuständigen Ämter nicht nur rechts- Restitutions- bzw. Entschädigungsansprüchen nachden- politisch in Atem zu halten, sondern sie über Jahre hinaus ken. Die dazu in diesem Entwurf vorgeschlagene Rege- erneut zu belasten. lung ist deshalb sicher auch diskussionswürdig. Änderun- gen aber, die im Jahre elf nach der Wiedervereinigung Darüber hinaus verweist die Bundesregierung selbst vorgenommen werden, zudem die Vermögensämter alles hinsichtlich der Kostenfolge dieses Gesetzesentwurfes in allem bereits einen hohen Erledigungsaufwand aus- auf Mehrbelastungen für die kommunalen Haushalte hin. weisen, sollten mit besonderem Augenmerk bedacht wer- Bei der Interessenabwägung darf auch die Belastbarkeit den; denn sie beeinträchtigen durch erneute Ausdehnung der Kommunen nicht endlos ausgedehnt werden. Auch der Rechtsfolgen den Rechtsfrieden und die Rechtsklar- die von Ihnen beabsichtigte Erweiterung der Auskeh- heit in den neuen Ländern. Letztere ist durch die komple- rungspflicht von Nutzungsentgelten in § 7 des Vermö- xen Regelungen des Vermögensrechtes eh nur schwer gensgesetzes der Wohnungswirtschaft gegenüber den Re- auszumachen und sollte deshalb durch weitere Änderun- stitutionsberechtigten wird die Wohnungswirtschaft in gen nicht noch mehr beeinträchtigt werden. Millionenhöhe belasten. Außerdem sollten wir immer auch ein Ziel im Auge ha- Im Übrigen müssen Sie auch noch die Frage beant- ben, den Abschluss der Vermögensauseinandersetzung in worten, warum Sie diese Änderungen nicht auch bereits den neuen Ländern und damit das Ende der notwendigen in den bereits genannten Gesetzesinitiativen miteinge- Sonderregelungen. Daran kann und muss man mit Vorlage bracht haben. Allein die sicher für Betroffene erfreuliche dieses Gesetzentwurfes teilweise erhebliche Zweifel ha- Absicht, Erbscheine kostenfrei zu stellen, dürfte ja wohl ben. Zwar heißt es in der Begründung des Entwurfes, es nicht erst jetzt notwendig geworden sein. Darüber hinaus handele sich um Klarstellungen und in Einzelfällen um ge- betreffen die Gegenstandswerte von Erbscheinen in der rechtere Lösungen bestehender Rechtsfolgen. Das klingt Regel den gesamten Nachlass und dabei muss es sich ja gut, bei näherer Betrachtungsweise wird deutlich, was nicht nur um Restitutionsansprüche handeln. Rot-Grün aber damit meint. Denn allein mit dem erneuten Es ist schon auch bemerkenswert, wie einmütig der Bun- (B) Anlauf, nämlich der Bündelung von Splitteranteilen an desrat diesen Gesetzentwurf komplett abgelehnt hat und (D) Unternehmen, starten sie nichts anderes, als den erneuten wie beratungsresistent die Bundesregierung in ihrer Ge- Versuch einer gezielten Ausweitung der Restitution, von genäußerung darauf reagiert hat. Wir werden uns daher mit der ja wohl augenscheinlich insbesondere gewerkschafts- der von der Bundesregierung behaupteten Regelungsnot- eigene Immobiliengesellschaften profitieren würden. wendigkeit dieser Detailänderungen in den Beratungen Dieses Ansinnen ist ja nicht neu, auch wenn die Um- auseinander zu setzen haben. Größtenteils überzeugen die setzung diesmal in leicht abgewandelter Form erfolgt. geltend gemachten Argumente nicht, denn sie stehen in kei- Bereits mit dem Grundstücksrechtsänderungsgesetz ist nem Verhältnis zu den zu erwartenden Folgen. ein solcher Versuch gestartet worden, letztlich dann aber im Vermittlungsausschuss im September 2000 geschei- Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- tert. NEN: Der Entwurf des Zweiten Vermögensrechtsergän- Die Damen und Herren von den Regierungsfraktionen zungsgesetzes sieht zahlreiche Einzeländerungen von sind offenbar sehr hartnäckig, wenn es um eine bestimmte Vorschriften des Vermögens- und Entschädigungsrechts Gruppe von Restitutionsberechtigten geht, nämlich den vor. Es enthält auch Änderungen des Ausgleichsleistungs- Gewerkschaften. Ich will ja gar nicht in Abrede stellen, und des NS-Verfolgtenentschädigungsgesetzes. dass eine solche Ausweitung der Restitution auch be- Es handelt sich um eines der vielen – es ist sicherlich gründbar wäre. Aber wie viele Restitutionsbegehren, die nicht das letzte – Korrekturgesetze zu der insgesamt nicht uns von anderen Betroffenen immer wieder erreichen, gelungenen Regelung des Vermögensrechts in den neuen wären es dann auch? Ich erinnere aber auch an die Aus- Ländern. Hier hat sich die Regierung Kohl ein juristisch führungen der Sachverständigen in der damaligen An- von Anfang an mangelhaftes Denkmal gesetzt. Leider ist hörung. Sie warnten vor den verwaltungstechnischen es zu spät für eine grundlegende Neugestaltung insge- Auswirkungen einer solchen Regelung, deren Erledigung samt. Nach elf Jahren bleibt nur die Möglichkeit der Kor- die Vermögensämter noch über Jahrzehnte beschäftigen rektur der Korrektur. würde. Die Gesetze, über die wir heute sprechen, haben nicht Auch wenn Sie die Anforderungen an die Bündelung den Beifall des Bundesrates gefunden. Für die Verwaltun- von Splitteranteilen an Unternehmen diesmal etwas höher gen ist es offenbar sehr schwer, die notwendigen Neurege- gesetzt haben, die Hemmnisse im Grundstücksverkehr und lungen in der Praxis umzusetzen. Das gilt vor allem für die finanziellen Auswirkungen zu Lasten der ostdeutschen laufende oder bereits abgeschlossene Verfahren. Die Bun- Wohnungswirtschaft dürften evident sein. Dies belegen desregierung hat Recht, wenn sie in ihrer Gegenäußerung 20660 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001

(A) feststellt, dass die Belange der materiellen Gerechtigkeit Vermittlungsausschuss gescheitert, wie wir meinen, auch (C) und der Arbeitsbelastung für die Verwaltung gegeneinan- zu Recht. der abgewogen werden müssen. Die allzu sehr am Wohl Wir sind jedoch durchaus bereit, die Frage der materi- der Verwaltung orientierten Bedenken des Bundesrates ellen Berechtigung entsprechender Zuordnungen zu prü- müssen dazu zunächst konkretisiert und belegt werden. fen, wollen aber auch sichergestellt haben, dass die kom- Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Ent- munale Wohnungswirtschaft in den neuen Bundesländern schädigung bei kalten Enteignungen muss in der weiteren Diskussion berücksichtigt werden. hierdurch nicht benachteiligt wird. Wir werden jedoch auch dem Vorwurf nachgehen, dass durch die vorgese- Wir halten unsere Kritik an dem Prinzip „Rückgabe hene Zurechnung eine bestimmte Gesellschaftsgruppie- vor Entschädigung“ voll aufrecht. Das war eine Fehlent- rung bevorzugt werden soll. scheidung. Die Alteigentümer wurden und werden zu Un- recht bevorzugt. Aber dennoch: Die abgenötigte Erbaus- Natürlich werden wir auch das ablehnende Votum des schlagung darf nicht anders behandelt werden als eine Bundesrates in unsere Überlegungen mit einbeziehen, Enteignung. Das hat das höchste deutsche Gericht auch so wenn wir zurzeit auch nicht nachvollziehen können, festgestellt. Die Fragwürdigkeit der Generalentscheidung warum die Alteigentümer nach den Vorstellungen des des damaligen Gesetzgebers ist keine Rechtfertigung für Bundesrates benachteiligt werden sollen. Insoweit scheint eine willkürliche Differenzierung. Gleiches darf nicht un- uns der Lösungsansatz der Bundesregierung zu Art. 1 Nr. 1, gleich behandelt werden. also die Änderung des § 2 Abs. 1 Satz 1 des Vermögens- gesetzes, konsequenter zu sein. Aber auch hier möchten Die Notwendigkeit gesetzlicher Klarstellungen er- wir eine genaue Prüfung im rechtstatsächlichen Bereich gibt sich beispielsweise aus dem vorgesehenen neuen vorgenommen sehen. Abs. 2 des § 6 des Entschädigungsgesetzes. Die gel- tende Regelung ist für die geplagten Opfer der Zwangs- Die vorgesehene Klarstellung in Art. 1 Nr. 7, die die aussiedlung aus den Grenzgebieten mehr als misslich. Verringerung von Gebühren für Erbscheinerteilungen be- Sie lässt in der Tat eine doppelte Anrechnung der ge- trifft, wird von uns begrüßt. Dies gilt insbesondere des für währten Gegenleistungen an den Betroffenen zu. Dieses die Bemessung des Gegenstandswertes maßgeblichen Be- Ergebnis ist nicht hinnehmbar. Wir wissen doch alle, in wertungszeitpunktes. Hier hat es sehr unterschiedliche welchem Zustand die Betroffenen ihr Eigentum zurück- Rechtsprechungen gegeben und aus Gerechtigkeitsgrün- bekommen haben. Wenn sie die Entschädigungsleistun- den kann nur der Wert der Ausgleichsleistungen zugrunde gen zurückzahlen müssen, dann muss klar sein, dass sie gelegt werden, denn sonst könnte die Gebühr für Erb- nur an den Entschädigungsfonds zahlen und an niemand scheinerteilung höher sein als die tatsächlich zugrunde anderen. gelegte Ausgleichsleistung. (B) (D) Selbstverständlich müssen im weiteren Gang der Be- Im Gesetzgebungsverfahren sollte im Übrigen geprüft ratungen Vorbehalte des Bundesrates geklärt werden. Ob werden, ob eine Regelung aufgenommen werden kann, es beispielsweise wirklich unumgänglich ist, an der ge- dass der Erwerb nach § 3 Ausgleichsleistungsgesetz von planten Gebührenbefreiung für die Erbscheinerteilung der Grunderwerbsteuer befreit ist. in den verbleibenden vermögensrechtlichen Verfahren Wir begrüßen, das dieser vorliegende Gesetzentwurf festzuhalten, wird noch zu klären sein. Der Verweis auf noch in dieser Legislaturperiode in das Bundesgesetzblatt die Sonderregelung nach dem Bundesentschädigungsge- gebracht werden soll. Dabei ist sicherlich auch noch der setz für NS-Opfer als Begründung für die Gebührenfrei- Widerstand des Bundesrates zu überwinden. Ich hoffe heit für Alteigentümer sollte im Lichte der Ausführun- sehr, dass sich dabei der Bundesrat nicht nur von fiskali- gen in der Stellungnahme des Bundesrates noch einmal schen Gesichtspunkten leiten lässt, sondern auch stärker überdacht werden. Es gibt einiges zu beraten. Fangen als in seiner bisherigen Stellungnahme von Gerechtig- wir an! keitsüberlegungen.

Rainer Funke (FDP): Der vorliegende Entwurf eines Dr. Evelyn Kenzler (PDS): Der Berg der Änderungen Zweiten Gesetzes zur Änderung und Ergänzung vermö- und Ergänzungen der Regelungen, mit denen die Eigen- gensrechtlicher Vorschriften wird im Grundsatz von der tumsordnung der DDR in den Geltungsbereich des BGB FDP-Fraktion begrüßt. Es hat sich in der Tat gezeigt, dass überführt werden soll, wird immer höher. Wenn ich es rich- mit dem zurzeit geltenden Vermögensrecht Wertungswi- tig sehe, gab es zum Vermögensgesetz bisher zwei Vermö- dersprüche festzustellen sind, die zu unbilligen Ergebnis- gensrechtsänderungsgesetze, ein Vermögensrechtsanpas- sen zulasten der Alteigentümer führen und demgemäß be- sungsgesetz, ein Vermögensrechtsbereinigungsgesetz und seitigt werden müssen. ein Vermögensrechtsergänzungsgesetz. Von den vielen be- Dennoch wird bei der Beratung im Rechtsausschuss gleitenden Gesetzen und Verordnungen rede ich erst gar gründlich zu prüfen sein, wie die Auswirkungen der No- nicht. Das Ganze hat beinahe den Umfang des BGB ohne vellierung, insbesondere auf die Wohnungswirtschaft und dessen immanente Logik. Selbst Experten haben Mühe, dort besonders auf die kommunale Wohnungswirtschaft den Durchblick zu behalten. Für die Betroffenen ist das sein werden. Dies gilt besonders für die Regel der Addi- Paragraphengestrüpp undurchdringlich – und schon des- tion von Kleinstbeteiligungen beim so genannten doppel- halb völlig ungeeignet, die innere Einheit Deutschlands ten Durchgriff. Diese Zusammenzählung von Kleinstbe- voran zu bringen. Nun soll noch ein zweites Vermögens- teiligungen war in der Vergangenheit letztlich auch im rechtsergänzungsgesetz hinzukommen. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20661

(A) Die letzte Ursache für den Wirrwarr ist der verhäng- Regelungen in Ausnahmekonstellationen für Alteigentü- (C) nisvolle Grundsatz „Rückgabe vor Entschädigung“, dem mer zu unbilligen Entscheidungen führen. nicht nur die Koalitionsfraktionen, sondern auch die SPD- Ich möchte vorweg betonen, dass die Bundesregie- Fraktion zugestimmt haben. Die derzeitige Justizministe- rung natürlich an einer zügigen Bearbeitung der vermö- rin, Frau Däubler-Gmelin, hielt den Grundsatz damals für „vernünftig“. Aber der „Fluch der bösen Tat“ verfolgt uns gens- und entschädigungsrechtlichen Verfahren sehr bis heute. Ich weiß, dass der Grundsatz nicht mehr rück- interessiert ist. Dem Bundesrat ist insofern uneinge- gängig zu machen ist. Aber ich muss daran erinnern. Ein schränkt zuzustimmen. Zügig werden die Verfahren aber gerechter Ausgleich zwischen Alteigentümern und Er- nur dann abgeschlossen, wenn über die Entscheidungen werbern und der Rechtsfrieden sind immer noch nicht der Vermögensämter möglichst wenig Streitigkeiten ent- hergestellt. stehen. Denn diese können sich über Jahre hinziehen und belasten Rechtssuchende, Behörden und Gerichte glei- Nun stehen wir vor der Situation, dass sich die Bun- chermaßen. Solche Streitigkeiten sollen die vorgeschla- desregierung die Ablehnung ihres Gesetzentwurfs durch genen Klarstellungen und Verbesserungen verhindern den Bundesrat eingehandelt hat. Ich frage mich, wie helfen. schlecht das BMJ mit seinen Partnern in Berlin und den ostdeutschen Bundesländern zusammen gearbeitet hat, Weil die zügige Abwicklung der Verfahren vor allem dass es zu dieser Situation kommen konnte. Der Bundes- dazu dient, Rechtsfrieden und materielle Gerechtigkeit rat hat aus meiner Sicht durchaus Gründe für seinen Be- herzustellen, ist eine Selbstkontrolle der vermögens- schluss. Die von der Regierung vorgeschlagenen Neue- rechtlichen Vorschriften auch noch heute geboten, wo rungen führen in der Tat zu einer beträchtlichen Mehr- der größere Teil der Verfahren bereits abgeschlossen ist. belastung der Ämter zur Regelung offener Vermögensfra- Ich kann daher nicht verstehen, dass der Bundesrat die gen. Der Bundesrat sieht auch keine inhaltliche Notwen- Priorität offenbar allein in der Verfahrenserledigung digkeit dafür. Die Bundesregierung hält dagegen, die sieht und selbst dann kein Verständnis für unsere Vor- „materielle Gerechtigkeit“ und die Vermeidung von Un- schläge zeigt, wenn sie in diesem sensiblen Bereich al- billigkeit für die Alteigentümer wiege schwerer als die Ar- lein der Vermeidung von ungerechten Verfahrensergeb- beitsbelastung der Verwaltung. nissen dienen. Nun soll der Bundestag entscheiden, wer Recht hat. Wenn gesetzliche Regelungen zu widersprüchlichen Das Gefeilsche im Vermittlungsausschuss ist schon vor- oder unbilligen Ergebnissen für die Alteigentümer führen, programmiert. Die Kompromisse werden wieder nicht zu muss der Gesetzgeber prüfen, ob und wie eine Korrektur einer abschließenden Regelung führen. Ein Arbeitsbe- vorgenommen werden kann, auch wenn sich die Verwal- schaffungsprogramm für Richter und Rechtsanwälte! tung dann in Randbereichen auf eine geänderte Rechts- (B) lage einstellen muss. (D) Inzwischen hat das Bundesverfassungsgericht mit sei- nem Beschluss vom 10. Oktober in einem Punkt ein Ich möchte das an zwei Beispielen verdeutlichen: klärendes Wort gesprochen und uns – wie nicht selten – ein Stück Arbeit und Entscheidung abgenommen. § 1 Erstens. Die Praxis hat über Fälle zu entscheiden, in Abs. 3 des Entschädigungsgesetzes ist nach diesem Be- denen einem Alteigentümer zu DDR-Zeiten zunächst schluss verfassungswidrig und nichtig. Bürger, die ein ein Grundstück durch unlautere Machenschaften entzo- Grundstückserbe wegen dessen Überschuldung ausge- gen worden ist. Der selbe Eigentümer hatte nun außer- schlagen haben, erwerben einen Entschädigungsan- dem noch ein Mietshaus. Nach seinem Tode hat der spruch. Ich halte das für eine angemessene Entscheidung, Erbe die Erbschaft ausgeschlagen, weil die nicht kos- weil ich weiß, welche panische Angst manchen DDR- tendeckenden Mieten zu einer Überschuldung geführt Bürger befiel, wenn die Erbschaft eines überschuldeten hatten. Nach § 1 Abs. 2 des Vermögensgesetzes erhält Mietsgrundstücks auf sie zuzukommen drohte. Ein sol- der anspruchsberechtigte Erbe heute zwar das Miets- cher Bürger soll gerechter- und billigerweise eine Ent- haus zurück. Im Übrigen bleibt es aber bisher bei den schädigung erhalten. Wirkungen der Erbausschlagung, sodass er nicht als Rechtsnachfolger des ursprünglichen Eigentümers an- Wir werden im Rechtsausschuss Gelegenheit haben, gesehen wird. Das bedeutet, dass er keine Wiedergut- mit Betroffenen und Experten Genaueres zu beraten. Ich machung für die Vermögensschädigung erhält, die habe noch erheblichen Klärungsbedarf, bevor ich meine seinem Rechtsvorgänger aufgrund unlauterer Machen- endgültige Position festlege. schaften in der DDR zugefügt worden waren. Das zu- erst dem Erblasser entzogene Grundstück bekommt er Dr. Herta Däubler-Gmelin, Bundesministerin der deshalb nicht zurück. Justiz: Der heute in erster Lesung zu beratende Gesetz- Ich denke, dieses Ergebnis kann man dem Betroffenen entwurf betrifft Regelungen auf dem Gebiet der offenen nur schwer erklären. Mit der in § 2 Abs. 1 des Vermö- Vermögensfragen in den neuen Bundesländern. Mit dem gensgesetzes vorgeschlagenen Änderung wollen wir dies Entwurf werden vor allem zwei Anliegen verfolgt, näm- korrigieren. lich zum einen dort Klarstellungen vorzunehmen, wo sich gezeigt hat, dass missverständliche Formulierungen ver- Zweitens. Teilgrundstücke sollen künftig auch dann mögensrechtliche Verfahren behindern oder zu unzutref- an die Alteigentümer zurückgegeben werden können, fenden Ergebnissen führen können und zum anderen ge- wenn sie nicht mit dem öffentlichen Wegenetz verbunden rechtere Lösungen zu ermöglichen, wo die geltenden sind. 20662 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001

(A) Nach höchstrichterlicher Rechtsprechung bekommt In einem anderen – ebenfalls schon bekannten – Be- (C) der Alteigentümer unter Umständen einen Teil eines ur- reich haben wir den bereits diskutierten Regelungsvor- sprünglichen Gesamtgrundstücks nicht zurück, weil schlag in seinem Anwendungsbereich stark einge- dieser Teil vom öffentlichen Wegenetz durch einen schränkt: Es geht um die Erweiterung der Verpflichtung Grundstücksstreifen abgetrennt wird. Die Gerichte sehen zur Herausgabe von Nutzungen auch dann, wenn das hier einen Fall der rechtlichen Unmöglichkeit der Rück- Mietgrundstück nach dem Investitionsvorranggesetz ver- gabe. Den abgetrennten – hinteren – Grundstücksteil be- wendet wird. Mit der Beschränkung auf die Verfahren hält nach dieser Rechtsprechung derjenige, der durch die nach § 21 und § 21 b Investitionsvorranggesetz sind wir DDR-Schädigung begünstigt worden war; das ist regel- der Wohnungswirtschaft entgegen gekommen. Zugleich mäßig die öffentliche Hand. drängt sich aber in diesen Verfahren die Parallele zur Rückgabe nach dem Vermögensgesetz auf, weil auch hier In der Sachenrechtsbereinigung wird ein solches Pro- im Ergebnis eine Rückübertragung auf den Alteigentü- blem gelöst: Das Sachenrechtsbereinigungsgesetz gibt mer erfolgt, nur eben in einem anderen Verwaltungsver- dem Hinterlieger einen Anspruch auf Einräumung einer fahren. Dienstbarkeit. Ich meine, es liegt hier nahe, auf dieses In- strument zurückzugreifen: nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Vermö- Auch bei diesen InVorG-Verfahren besteht die Gefahr, gensgesetz (neu) soll künftig die Rückgabe nicht mehr an dass sie sich länger hinziehen. In der Zwischenzeit ver- der fehlenden Anbindung zum öffentlichen Wegenetz fallen die Häuser, wenn die Mieten nicht reinvestiert wer- scheitern. den. Dem Alteigentümer werden dann nicht nur die Miet- erträge vorenthalten, sondern er erhält sein Haus auch Berechtigte Interessen der geschädigten Alteigentü- noch wertgemindert zurück. Diese Schieflage wollen wir mer dürfen nicht allein deshalb unberücksichtigt bleiben, beseitigen. weil sonst eine zusätzliche Arbeitsbelastung für die Ver- Die Belastung der Wohnungsbauunternehmen durch waltungsbehörden entsteht. Es ist vielmehr geboten, die diese Neuregelung hält sich in Grenzen, weil der An- Belange der materiellen Gerechtigkeit einerseits und der spruch binnen eines Jahres nach bestandskräftiger Fest- Arbeitsbelastung der Verwaltung andererseits gegenei- stellung der Berechtigung geltend zu machen ist. In vie- nander abzuwägen. Dies haben wir im vorliegenden Ent- len Verfahren aus der Vergangenheit ist diese Frist bereits wurf getan. Wir haben Vorschläge unterbreitet, die einer- verstrichen. seits Ergebnisse vermeiden, die für die Alteigentümer un- billig oder nicht mehr nachvollziehbar sind und die Abschließend zum Vermögensgesetz möchte ich da- andererseits nicht dazu führen, dass auf die Behörden rauf aufmerksam machen, dass inzwischen auch allein der eine unvertretbare Mehrbelastung zukommt. Zeitablauf nach der Wiedervereinigung rechtliche Ände- (B) rungen dringend fordert. In immer mehr Fällen kann eine (D) Es trifft zu, dass der vorliegende Entwurf Vorschläge Wiedergutmachung nicht mehr gegenüber den Geschä- aufgreift, die nicht neu in der Diskussion sind. Dazu ha- digten selbst erfolgen, weil diese vorher versterben. Denn ben wir uns aber veranlasst gesehen, weil es um die Wie- wider Erwarten sind elf Jahre nach der Vereinigung noch dergutmachung von NS-Unrecht geht. Ich meine die Er- immer nicht alle Rückübertragungsverfahren entschieden gänzung der Regelung zum so genannten doppelten worden, von den Entschädigungsverfahren ganz zu Durchgriff. Hier sollen in verstärktem Maße verfolgungs- schweigen. Unter diesen Umständen ist nicht länger ver- bedingt entzogene Anteile an Mutterunternehmen addiert tretbar, dass die Rechtsnachfolger eines verstorbenen werden können. Diese Regelung wirkt sich sicher für die SBZ- oder DDR-Geschädigten auch noch Gebühren dafür gewerkschaftlichen Nachfolgeorganisationen – BIO – zahlen müssen, um sich dafür legitimieren zu können, das aus, bezieht aber alle NS-Verfolgten ein. Verfahren bis zu einer Entscheidung weiter zu führen, die eigentlich der Geschädigte selbst hätte erhalten sollen. Die vorgeschlagene Regelung ist ein Kompromiss zwi- schen den berechtigten Anliegen der NS-Verfolgten und Es ist nach § 31 Abs. 1 c Vermögensgesetz bereits gel- dem Vertrauen der Verfügungsberechtigten – vor allem tendes Recht, dass NS-Verfolgte einen Anspruch auf Er- der Wohnungswirtschaft – darauf, dass überhaupt keine teilung beschränkt kostenfreier Erbscheine haben. Wenn Addition kleinerer Anteile erfolgen werde: Die Anteile an sich Rechtsnachfolger allein durch die Höhe der Ge- verschiedenen Unternehmen sollen nur dann addiert wer- bühren davon abschrecken lassen, das Verfahren weiter zu den, wenn der NS-Verfolgte auch ohne diese zusätzlichen führen, kann dadurch sogar verhindert werden, dass eine Anteile schon einen Anspruch auf Einräumung von Wiedergutmachung überhaupt erfolgt. Das kann nicht Bruchteilseigentum hatte. Sie werden diesem ohnehin richtig sein; deshalb sollen in diesen Fällen für die DDR- bestehenden Anspruch also nur hinzugezählt. Für die Ver- Geschädigten dieselben Regeln wie für NS-Verfolgte gel- fügungsberechtigten wird damit sichergestellt, dass Ver- ten und auch für sie die Erteilung des Erbscheins kosten- mögenswerte, die bislang völlig frei von Restitutionsan- frei erfolgen. sprüchen waren, restitutionsfrei bleiben. Das gilt auch in Der Gesetzentwurf enthält ferner Regelungen für das allen Fällen, in denen die Restitution schon bestandskräf- Entschädigungsgesetz. Hier werden vor allem Klar- tig abgelehnt wurde. Ein Wiederaufgreifen dieser abge- stellungen zu den Berechnungs- oder Anrechnungs- schlossenen Verfahren wird es aufgrund der vorgeschla- grundlagen bei der Bemessung von Entschädigungsleis- genen Regelung daher nicht geben. Damit wird zur tungen getroffen. Diese greifen zum Teil eine bereits Planungssicherheit für die Wohnungswirtschaft beige- zwischen Bund und Ländern abgestimmte Verwaltungs- tragen. praxis auf. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20663

(A) Anlage 3 getäuschte Gefahren verbreitet, kann keine Nachsicht für (C) sich in Anspruch nehmen. In diesen Fällen müssen Poli- Zu Protokoll gegebene Reden zei und Justiz unnachsichtig ihrer Aufgabe nachkommen. zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Wir sollten uns aber auch davor hüten, den Menschen Verbesserung des Schutzes der Bevölkerung vor vorzugaukeln, dass eine Anhebung des bisherigen Straf- angedrohten und vorgetäuschten Straftaten (Ta- rahmens auf bis zu fünf Jahren Freiheitsstrafe schon ge- gesordnungspunkt 12) eigenet wäre, Abhilfe und hinreichende Abschreckung zu schaffen. Wichtig ist, die Täter schnell zu fassen und vor Gericht zu stellen und sie so zu bestrafen, wie dies bis- Hermann Bachmaier (SPD): Wir sind uns sicherlich lang meines Erachtens in hinreichendem Umfange ge- darüber einig, dass diejenigen, die unter Ausnutzung der schehen ist. Wenn potenzielle Täter wissen, dass sie mit Ängste und Sorgen der Menschen als so genannte Tritt- unnachsichtiger Ahndung und mit erheblichen Schaden- brettfahrer gefährliche Straftaten vortäuschen und die Be- ersatzansprüchen zu rechnen haben, werden sie vielleicht völkerung in Angst und Schrecken versetzen, empfindlich doch noch von ihren kriminellen und zynischen Vorha- bestraft werden müssen. Die bislang vorliegenden Urteile ben abgehalten. Wer allerdings den Eindruck zu er- zeigen, dass die Justiz mit kriminellen Trittbrettfahrern wecken versucht, wie Sie dies in der Überschrift Ihres auch nicht gerade zimperlich umgeht. Das ist auch gut so. Gesetzentwurfes zum Ausdruck bringen, dass man nur Freiheitsstrafen, die nicht zur Bewährung ausgesetzt wer- den Strafrahmen des § 126 StGB erweitern muss, um die den, sind an der Tagesordnung. Allerdings haben die bis- Bevölkerung zu schützen, der streut den Menschen Sand herigen Urteile auch gezeigt, dass der in § 126 StGB ge- in die Augen. Ich glaube, Sie wären gut beraten, endlich setzte Strafrahmen durchaus ausreicht, um strafrechtlich einmal darüber nachzudenken, dass man mit rein symbo- angemessen zu reagieren. Schließlich kommt bei Strafta- lischen strafrechtlichen Verschärfungen herzlich wenig ten dieser Art auch noch die Anwendung weiterer Straf- bewirken kann. Die notwendigen Stragesetze haben wir. vorschriften wie die des § 145 d StGB, also das Vortäu- Es gilt, die Täter zu fassen und sie zur Verantwortung zu schen einer Straftat, die Körperverletzungsdelikte und ziehen. Dennoch werden wir Ihren Gesetzentwurf gründ- auch der Bedrohungstatbestand des § 241 StGB in Be- lich, zügig und auch unvoreingenommen prüfen und tracht. Zusammengenommen reicht unseres Erachtens beraten und deshalb selbstverständlich auch der heute nach bisherigen Erfahrungen das vorliegende strafrechtli- vorgesehenen Überweisung an den zuständigen Rechts- che Instrumentarium aus, um auf diese gefährlichen und ausschuss und den mitberatenden Innenausschuss zu- verwerflichen Straftaten angemessen zu reagieren. Ent- stimmen. scheidend ist aber in diesen Fällen, dass Täter, die gewis- senlos Straftaten vortäuschen, um andere in Angst und (B) Schrecken zu versetzen, schnell gefasst und auch zügig vor Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU): Es liegt schon eine (D) Gericht gestellt werden. Dies ist dank der gründlichen Ar- Weile zurück, als in Deutschland Trittbrettfahrer auf das beit der Polizei auch in vielen, wenn nicht gar den meisten Wohlwollen ihrer Mitbürger rechnen konnten. Das war Fällen geschehen, obwohl die Täter in aller Regel unter vor gut fünf Jahrzehnten, als man in Berlin und in den an- dem Schutz der Anonymität ihr hässliches Handwerk be- deren vom Krieg zerstörten Städten auf die Trittbretter der treiben. Nicht vergessen darf man natürlich auch, dass den Waggons aufsprang, um in überfüllten Zügen aufs Land Betroffenen dann, wenn die Täter gefasst sind, ein um- zu fahren, und dies nicht zum Vergnügen, sondern eher als fangreiches zivilrechtliches Instrumentarium zur Verfü- Überlebensstrategie. Doch dies ist Geschichte. Inzwi- gung steht, um angemessenen Schadenersatz bis hin zu re- schen sind nicht nur die Züge schneller und komfortabler lativ hohen Schmerzensgeldern zu erlangen. Gerade in geworden, die Trittbretter sind mehr oder weniger ver- derartigen Fällen neigen unsere Zivilgerichte nicht dazu, schwunden, aber der Begriff hat sich gehalten. Heutzu- Schmerzensgelder allzu knapp zu bemessen. Auch die ho- tage ist der Trittbrettfahrer aber zum Synonym für eine hen Kosten, die der öffentlichen Hand durch den Schutz ganz besondere Spezies Mensch geworden. Dies sind der Betroffenen, kostenintensive Polizeieinsätze und be- Männer und Frauen, die ein klammheimliches Vergnügen trächtlichen Aufwand für Gutachten entstehen, können ge- dabei empfinden, mit der Sorge und Furcht ihrer Mitbür- genüber den Tätern geltend gemacht werden. Die meisten ger ein übles Spiel zu treiben. Dies sind Männer und Polizeigesetze enthalten hierzu ausdrückliche Regelun- Frauen, die einen Kick aus ihrer anonymen Macht gewin- gen. Danach sind die Verantwortlichen zum Ersatz aller nen, ihre Mitbürger in Angst und Panik zu versetzen. Dies der Polizei entstandenen Kosten verpflichtet. Hierzu sind Männer und Frauen, die eine Straftat nachahmen zählen auch die entstandenen Auslagen. Diese Auslagen oder – was noch häufiger der Fall ist – dies zumindest vor- umfassen alle durch den Einsatz entstandenen Kosten. Sie täuschen oder androhen. Diese besondere Spezies unserer schließen auch alle Leistungen ein, die der Polizei im Zu- Mitbürger braucht ein klares Stoppsignal. Und dieses sammenhang mit den von ihr getroffenen Maßnahmen an Stoppsignal wollen wir als CDU/CSU mit dem vorliegen- Dritte gezahlt werden müssen. den Gesetzentwurf setzen. Wir sind deshalb der Meinung, dass die bisherigen In- Sicherlich gibt es den Trittbrettfahrer nicht erst seit strumentarien tragfähig genug sind, um gegen verantwor- dem 11. September dieses Jahres. Jeder Kommissar, der tungslose Trittbrettfahrer so energisch vorzugehen, dass einen Kindermörder sucht, kennt die Spinner und Wich- sich eine Nachahmung nicht empfiehlt. Wer die ohnehin tigtuer, die weitere Taten ankündigen. Und auch die Feu- vorhandenen Ängste und Sorgen der Menschen noch da- erwehrleute kennen seit Jahren den falschen Alarm bei durch steigert, dass er weiteren Schrecken durch vor- Nacht. 20664 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001

(A) Nach spektakulären Verbrechen oder Katastrophen sichtlich von den Trittbrettfahrern gewollt und verursacht (C) taucht halt – und nicht nur in unserem Land – diese be- worden. sondere Spezies der Trittbrettfahrer auf. Und aus diesem Als Christdemokraten wollen wir aus der unheilvollen Grund gibt es in unserem Strafgesetzbuch nicht erst seit Serie von Vorfällen dieser Art die Konsequenzen ziehen. gestern auch den § 126 und den § 145 d. Wir wollen gegen diejenigen, die man verharmlosend als Viele Bürger empfinden den 11. September aber auch Trittbrettfahrer bezeichnet, härter vorgehen. Wer in der an diesem Punkt als Zäsur. Früher war man sicherlich et- gegenwärtigen Situation Straftaten androht oder vor- was geneigter, Nachsicht zu üben, und die Höchststrafe täuscht, seine Mitbürger in Angst und Schrecken versetzt, für die „Störung des öffentlichen Friedens durch An- Feuerwehrleute und Polizeibeamte bindet und diese damit drohung von Straftaten“ wurde kaum verhängt. Die Be- von ihren eigenen Aufgaben abhält, der begeht kein Ka- reitschaft unserer Mitbürger, nach dem 11. September valiersdelikt mehr, sondern der entfaltet – ich sage dies anonyme Briefe, gefüllt mit Puderzucker, Milzbrand- ganz klar und eindeutig – eine kriminelle Energie, die Drohungen per Telefon oder falsche Notrufe „lustig“ zu auch hart bestraft werden muss. Unser Gesetzentwurf finden und diese nur als schlechten Scherz abzutun, ist in- sieht daher vor, die Strafdrohung des § 126 StGB zu er- zwischen aber bei null angekommen. Die Botschaft ge- höhen. Unser Entwurf bringt deutlich zum Ausdruck, dass genüber Politik und Justiz ist klar und eindeutig: Null To- Delikte von solch hoher Sozialschädlichkeit schwerer ge- leranz gegenüber Trittbrettfahrern! ahndet werden müssen, als dies der bisherigen Praxis ent- spricht. Bisher waren diese Taten im Höchstmaß mit ge- Die Drohung eines jungen Mannes aus Nordrhein- ringerer Strafe bedroht als ein Ladendiebstahl nach § 242 Westfalen „Das World Trade Center ist weg – jetzt ist StGB oder eine Sachbeschädigung nach § 303 StGB. Und Frankfurt dran“ wurde vor kurzem mit acht Monaten Ge- das wollen wir ändern. fängnis geahndet. Ich kenne keinen, der Kritik an diesem Urteil übt. Wer auf dem Trittbrett eines Zuges namens Thüringen hat parallel im Bundesrat einen Gesetzes- „Terrorismus“ mitfährt, der darf sich nicht wundern, wenn antrag eingebracht, der nicht nur eine Anhebung der er von den Gegenmaßnahmen, den Zug aufzuhalten, auch Strafandrohung auf fünf Jahre, sondern auch die Ein- etwas abbekommt. Und für alle potenziellen Nachahmer führung einer Mindeststrafe von einem Jahr vorsieht. Da- lautet die Botschaft ganz eindeutig: Null Toleranz gegen- mit wird aus einem Vergehen ein Verbrechen. Dies hätte über Trittbrettfahrern! auch zur Folge, dass bereits der Versuch einer solchen Straftat oder die Verabredung von mehreren Personen zu Aber zur ehrlichen Bestandsaufnahme der Gegenwart einer solchen Tat verfolgt werden kann, ohne dass dies im gehört auch die klare Erkenntnis, dass die bisherige Straf- Gesetz ausdrücklich erwähnt sein muss. Ich werbe sehr androhung – vielleicht auch die Praxis im Justizalltag – dafür, dass wir in den Ausschußberatungen uns darüber (B) offensichtlich nur unzureichend die erhoffte Ab- verständigen sollten, ob eine solche Charakterverschie- (D) schreckungswirkung entfaltet hat. Anders lässt es sich bung vom Vergehen zum Verbrechen für dieses Delikt sonst kaum erklären, dass seit Einführung des Sondermel- sinnvoll ist. dedienstes für Milzbrandverdachtsfälle über 4 000 Ver- Leider haben nicht nur wir es mit den unverantwortli- dachtsfälle bis zum heutigen Tage gemeldet wurden. Lei- chen Aktionen der Trittfahrer zu tun. Auch unsere Nach- der sind es keine Einzelfälle, sondern offenbar ein barn trifft es – und sie handeln. Bis jetzt droht in Massenphänomen, dass verantwortungslose Menschen Großbritannien Trittbrettfahrern, die weißes Pulver ver- Briefe oder Pakete mit weißen, pulverförmigen Substan- schicken und damit einen Milzbrand-Alarm auslösen, im zen füllen, um beim Empfänger den Anschein zu er- Höchstfall eine Haftstrafe von sechs Monaten. Das briti- wecken, er setze sich einer Milzbrandgefahr aus. Diese sche Anti-Terrorismus-Gesetz sieht nun Haftstrafen in verantwortungslosen Zeitgenossen treiben nicht nur ihre Höhe von bis zu sieben Jahren für Trittbrettfahrer vor. Mitbürger in Angst und Schrecken, sondern lösen auch Eine entsprechende Novelle hat bereits Österreich verab- – wie wir in den letzten Monaten gesehen, erlebt und er- schiedet und eine Erhöhung der Strafandrohung vorge- litten haben – Großeinsätze von Polizei und Feuerwehr nommen. aus, die ebenso unser aller Steuergeld kosten, wie die Un- tersuchungen in den Speziallaboren. Der Polizei, der Feu- Ich hoffe, dass wir in diesem Hause zügig unseren Ge- erwehr und allen anderen, die über viele Wochen ganz setzentwurf beraten werden. Unsere Mitbürger erwarten außergewöhnlichen Belastungen ausgesetzt waren und in es, dass wir bald den Trittbrettfahrern dieses eindeutige dieser Zeit weit mehr als nur ihre Pflicht taten, sei von die- Stoppsignal setzen. ser Stelle ganz herzlich gedankt. Der Schaden beschränkt sich aber nicht nur auf den öf- Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): fentlichen Bereich. Wenn Bürokomplexe, Bahnhöfe oder Die so genannte Trittbrettfahrerei der letzten Wochen und Flughäfen geschlossen werden müssen, sind Tausende Monate ist eine widerwärtige Begleiterscheinung der von Mitbürgern hiervon betroffen und selbstverständlich schrecklichen Terrorakte vom 11. September. Wir sind auch materiell wie immateriell geschädigt worden. uns darin wohl alle einig: Vorgetäuschte Anthrax-Briefe oder unwahre Bombendrohungen sind kein schlechter Ich glaube, die Sozialschädlichkeit dieses Verhaltens Witz! Sie versetzen Menschen unnötig in Angst und ist uns allen in den vergangenen Wochen verstärkt wieder Schrecken und sie verursachen extreme Kosten für das bewusst geworden. Und die „Störung des öffentlichen Gemeinwesen. Deshalb muss klar sein: Trittbrettfahrerei Friedens“ – wie es im Gesetz heißt – ist mehr als offen- verdient eine harte und zügige Bestrafung durch unsere Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20665

(A) Justiz. Genau das geschieht auch: Vereinzelte Gerichts- Im aktuellen Zusammenhang mit den Milzbrandfällen (C) entscheidungen in den vergangenen Wochen haben ge- hat das Problem mit den Trittbrettfahrern allerdings eine zeigt, dass die geltende Rechtslage durchaus ausreicht, neue, erschreckende Dimension erhalten. Polizei, Feuer- um den Tätern angemessen und schmerzhaft ihr Unrecht wehr, Katastrophenschutz, Labore und Institute werden vor Augen zu führen. durch immer neu auftauchende vorgetäuschte Milzbrand- fälle regelrecht lahm gelegt. In unerträglicher Weise wird Deshalb ist Ihr Gesetzentwurf, den Sie uns vorgelegt haben, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der hier mit den Ängsten der Bürgerinnen und Bürger ge- Union, schlichtweg überflüssig. Es ist ja bei Ihnen im spielt. Die Sicherheitsdienste werden dringend gebraucht, Übrigen auch immer dasselbe Ritual: Bei den Straftaten, um der neuen Sicherheitslage in Deutschland angemessen die gerade in der Öffentlichkeit – aus welchen Gründen zu begegnen. Dieser Aufgabe können sie aber nur unzu- auch immer – in aller Munde sind, fordern Sie immer so- reichend gerecht werden, da viele Ressourcen für die gleich eine Erhöhung der Strafrahmen. Als ob das ir- Milzbrandverdachtsfälle gebraucht werden. Diese gendetwas bringen würde! Legen Sie doch endlich mal Einsätze sind nicht nur mit einem hohen Personalaufwand Ihre populistischen Reflexe ab! Gaukeln Sie doch den verbunden, sondern darüber hinaus auch mit erheblichen Menschen nicht vor, dass den Gerichten in diesem Land Kosten. angeblich der angemessene Strafrahmen für die Ahndung Der Staat muss gegenüber diesen Tätern angemessen dieser Delikte fehlt! Das stimmt einfach nicht und Sie reagieren. Trittbrettfahrer müssen die ganze Härte der wissen das auch! Ich kann Ihnen nur sagen: Gesetzent- Gesetze zu spüren bekommen. Unsere Rechtsordnung würfe dieser Natur sind schlichtweg unseriös und die Be- sieht dafür insgesamt mehrere Möglichkeiten vor. Zum fassung damit ist eine Zeitverschwendung für uns Parla- einen können gegenüber diesen Tätern Schadensersatz- mentarier! ansprüche geltend gemacht werden. Dies schließt auch Unser Strafgesetzbuch enthält für solche Trittbrettfah- die Kosten für den Einsatz von Polizei und anderen rer-Handlungen – je nach den Umständen des Einzelfal- Behörden mit ein. Zum anderen gibt es im Strafrecht zahl- les – eine ganze Reihe von einschlägigen Straftatbestän- reiche Tatbestände, die gegenüber Trittbrettfahrern zur den mit teilweise erheblichen Strafandrohungen: Der Anwendung kommen können. Ich denke hier beispiels- § 126 Abs. 1 beispielsweise sieht für eine Störung des öf- weise an die Störung des öffentlichen Friedens durch fentlichen Friedens durch Androhung von Straftaten eine Androhung von Straftaten, das Vortäuschen einer Straftat Höchststrafe von drei Jahren Gefängnis. Nach Abs. 2 der- oder an die Bedrohung. Das Strafrecht bietet also durch- selben Vorschrift wird die friedensstörende Vortäuschung aus geeignete Antworten, um dem Problem der Trittbrett- der rechtswidrigen Tat eines anderen ebenso mit bis zu fahrer zu begegnen. drei Jahren Haft bestraft. Diese Freiheitsstrafe kann auch (B) Das schnelle Rufen nach einer Erhöhung des Straf- (D) demjenigen blühen, der nach § 145 d Strafgesetzbuch eine rahmens ist hier fehl am Platze und wird dem Problem nur Straftat vortäuscht. Der Straftatbestand der Bedrohung in unzureichend gerecht. Wir brauchen in diesen Fällen § 241 Strafgesetzbuch ermöglicht ebenfalls eine Haft bis vielmehr eine schnelle Verurteilung der Straftäter. Das be- zu einem Jahr. Oft sind gleich mehrere dieser Tatbestände schleunigte Verfahren eignet sich hierfür besonders. Nur in Tateinheit verwirklicht. wenn die Strafe auf dem Fuße folgt, wird sie weitere Den Tätern blüht ja nicht nur die strafrechtliche Ahn- Nachahmungstäter abschrecken. Verurteilungen zu mehr- dung. Trittbrettfahrerei kann auch verdammt teuer monatigen Freiheitsstrafen ohne Bewährung sind der werden. Denn neben den strafrechtlichen Konsequenzen richtige Weg. Wichtig ist, dass hier die Bürgerinnen und drohen den Trittbrettfahrern zivilrechtliche Schadenser- Bürger mit den Organen des Staates gemeinsam bekun- satzansprüche und überdies die öffentlich-rechtliche Kos- den, dass das Vortäuschen einer widerwärtigen Straftat tenersatzpflicht für den unbegründeten Einsatz von Poli- keinerlei Billigung durch die Gesellschaft erfährt. Die zei und anderen Behörden. Ich empfehle zum Beispiel da Medien können durch zurückhaltende Berichterstattung mal einen Blick in die diversen Polizeigesetze der Länder, zusätzlich helfen. die insoweit ausdrückliche Regelungen enthalten, zum Wenn CDU/CSU in ihrem Gesetzentwurf dennoch Beispiel Art. 9 Abs. 1 BayPAG in Verbindung mit § 1 Nr. 1 eine Erhöhung des Strafrahmens fordern, müssen sie BayPolKV. schlüssig darlegen, wie sie die unabhängigen Richter Das Problem bei der Trittbrettfahrerei ist also nicht die dazu zwingen wollen, den Strafrahmen in seiner Er- fehlende Sanktionsmöglichkeit, wie uns dies heute die höhung auch anzuwenden. Alle Erfahrungen sprechen Union vorgaukeln will. Die Schwierigkeit besteht für die dagegen. Es handelt sich um einen absolut untauglichen Strafverfolgungsbehörden vielmehr darin, der Täter über- Vorschlag. haupt habhaft zu werden. Denn bei einem absenderlosen Brief gefüllt mit Waschpulver verlaufen die Ermittlungen Dr. Evelyn Kenzler (PDS): Mit den Ängsten von Men- meist im Sande. Da hilft das Schrauben an der Strafrah- schen zu spielen ist perfide und durch nichts zu recht- men-Schraube überhaupt nichts! fertigen. Ganz gleich aus welchen Motiven, mit welchen Mitteln und welchen Zielen verharmlosend als Tritt- Jörg van Essen (FDP): Das Unwesen der Trittbrett- brettfahrer bezeichnete Täter ihre Mitmenschen in Angst fahrer ist leider nicht neu. Schon seit vielen Jahren erre- und Schrecken versetzen: Auch Pseudo-Terroristen sind gen wir uns über Trittbrettfahrer, die in spektakulären Ent- konsequent zur Verantwortung zu ziehen. Ich teile inso- führungsfällen versuchen, das Lösegeld zu ergaunern. fern voll und ganz die Sorge der CDU/CSU-Fraktion, 20666 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001

(A) die in ihrem Gesetzentwurf zum Ausdruck kommt. Doch Anlage 4 (C) wie leider so oft, geht unsere Meinung über die vernünf- tige Behandlung bzw. Lösung eines Problems ausei- Zu Protokoll gegebene Reden nander. zur Beratung: Zu dem vorliegenden Gesetzentwurf kann ich kurz ge- – des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des fasst nur sagen: Problem benannt, in der Lösung verrannt Gesetzes zur Förderung eines freiwilligen so- und bei den Alternativen ohne Fantasie. Apropos Fanta- zialen Jahres und anderer Gesetze (FSJ-För- sie: Fällt Ihnen denn bei gesellschaftsschädlichem Ver- derungsänderungsgesetz – FSJGÄndG) halten immer nur die Straferhöhung ein? Sollte eine christliche und soziale Partei vor das Strafen nicht – Antrag: Deutschland braucht gesetzliche zunächst andere sozialintegrative Überlegungen und Vor- Rahmenbedingungen für einen allgemeinen schläge stellen? Eine geänderte sozialethische Bewer- Freiwilligendienst tung, von der Sie in ihrem Entwurf sprechen – wenn dies (Tagesordnungspunkt 13 und Zusatztagesord- überhaupt zutrifft –, muss doch nicht zwangsläufig zu nungspunkt 17) schärferen Strafrechtssanktionen führen.

Da die CDU/CSU in Sachen Finanzen sich traditionell Dieter Dzewas (SPD): für überaus kompetent hält: Wieso schreiben Sie in Ihrem Gesetzentwurf, dass seine Umsetzung keine Kosten ver- „Ich kann besser mit Menschen umgehen, habe ge- ursachen würde? Von den Vertretern Ihrer Partei wird lernt, sie zu verstehen und auf sie einzugehen. Die doch immer wieder darauf hingewiesen, wie hoch die Achtung vor dem Menschen steigt, auch die Achtung Kosten für den Strafvollzug sind. Wenn es um Ausländer vor dem Alter und das Umgehen mit dem Tod. Ich geht, die in deutschen Strafvollzugsanstalten einsitzen, habe gelernt, andere Meinungen zu tolerieren.“ höre ich stets diesen Hinweis mit erhobener Stimme. So lautet die deutliche Aussage einer Absolventin eines Oder geht es Ihnen mit der vorgeschlagenen Strafer- freiwilligen sozialen Jahres, nachzulesen in der „Untersu- höhung nur um Abschreckung? Dann muss ich aber lang- chung zum Freiwilligen Sozialen Jahr“, die vom Bundes- sam zu dem Schluss kommen, dass sich die CDU/CSU familienministerium 1998 – und zwar noch vor dem Re- – zumindest in der Rechtspolitik – als Abschreckungs- gierungswechsel – veröffentlicht wurde. partei geriert. Freiwilliges Engagement ist eines der Fundamente, auf Ich bin der Meinung, dass unsere Rechtsordnung ein denen unsere Gesellschaft aufgebaut ist. Eine zivile bür- (B) ausreichendes Instrumentarium an Kriminalstrafen als gerliche Gesellschaft hat ohne das ehrenamtliche und frei- (D) auch zivilrechtliche Schadenersatzregelungen für solche willige Zutun ihrer einzelnen Mitglieder keine Zukunft. Fälle bereithält. Polizei und Justiz haben bislang unter Gerade im Internationalen Jahr der Freiwilligen sollten Beweis gestellt, dass sie in der Lage sind, schnell und an- wir uns das vor Augen führen. gemessen zu reagieren. Auch wenn ich nicht davon über- zeugt bin, dass hohe Strafen potenzielle Nachahmungs- Die Studie „Ehrenamt, Freiwilligenarbeit und bürger- täter abschrecken, möchte ich aber keine Zweifel schaftliches Engagement“ von 1999 fördert zutage: Be- aufkommen lassen, dass in solchen Fällen eine empfind- sonders junge Mitbürgerinnen und Mitbürger zwischen liche Bestrafung erfolgen muss. Nicht zuletzt sollen die 14 und 24 Jahren sind mit 37 Prozent überdurchschnittlich Täter sowohl für alle Schäden als auch für die angefal- oft und gerne freiwillig engagiert. Das zeigen auch die lenen Kosten der Maßnahmen zur Gefahrenabwehr auf- Zahlen: Etwa 13 000 junge Menschen leisten jedes Jahr kommen. ein freiwilliges soziales oder freiwilliges ökologisches Jahr. Aber abgesehen von den notwendigen rechtlichen Re- aktionen ist eine öffentliche Ächtung solcher Handlungen Etwa 91 Prozent der Teilnehmerinnen und Teilnehmer nicht minder wichtig. Ich würde mir wünschen, dass eines freiwilligen Jahres beurteilen ihr Jahr als sehr posi- insbesondere die Medien durch eine verantwortungs- tiv oder positiv. Auch das ist in der Studie zum FSJ nach- bewusste Berichterstattung mit dazu beitragen, Nachah- zulesen. Für fast alle Jugendlichen ist der Freiwilligen- mungstaten tendenziell zu verhindern. Da in der Vergan- dienst richtungsweisend für ihre soziale Kompetenz und genheit auch Jugendliche mehr oder weniger unbedarft die berufliche Entwicklung. Einzelne oder gar die Öffentlichkeit aus unterschied- Wir können sehen, dass junge Freiwillige in ihrer über- lichsten Motiven „erschreckt“ haben, müssen aber auch wältigenden Mehrheit sehr zufrieden mit dem FSJ und die Eltern und Lehrer gerade in diesen Tagen ihre Verant- FÖJ sind. Das zeigt auch, dass die Nachfrage nach Frei- wortung wahrnehmen. Sie sollten überzeugend deutlich willigenplätzen seit Jahren das Angebot übersteigt. Wir machen, dass anonyme Drohungen mit Angst- und sehen darin aber keinen Grund sich auszuruhen. Stattdes- Schreckenspotenzial keine Dummejungenstreiche oder sen wollen SPD und Bündnis 90/Die Grünen das Engage- alberne Mädchenscherze sind. ment junger Mitbürgerinnen und Mitbürger weiter Ob das Strafrecht diese Tätergruppe abschreckt, halte fördern. Das von uns eingebrachte FSJ-Förderungsände- ich für sehr zweifelhaft. Aber vielleicht schreckt sie die rungsgesetz unterstützt junge Leute beim freiwilligen En- CDU/CSU. gagement. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20667

(A) Wir flexibilisieren die Dauer des Dienstes, dessen Viertens. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf treten (C) Höchstdauer 18 Monate (12 + 6) beträgt, und ermöglichen wir in der Frage der Konversion des Zivildiensts von der die Ableistung in zeitlichen Abschnitten von mindestens Phase des Redens in die Phase des Handelns. 3 Monaten innerhalb eines Gesamtzeitraums von 2 Jah- Mit der Ermöglichung, FSJ und FÖJ anstelle des Zivil- ren. Die Förderung des Freiwilligendienstes im Ausland dienstes zu leisten, erhöhen wir die Attraktivität der Frei- erweitern wir auf Länder außerhalb Europas. willigendienste. Wir bewegen uns weg vom Charakter des Wir erhöhen die berufsqualifizierende Bedeutung des verordneten Dienstes wie dem Wehrdienst oder dem Zi- freiwilligen Jahres. Mit dem In-Kraft-Treten unseres FSJ- vildienst und öffnen neue Felder, die auch individuelle in- Förderungsänderungsgesetzes erhalten Freiwillige nach teressenorientierte Schwerpunktsetzungen zulassen. Ableistung des Dienstes ein Zeugnis mit der Aufnahme Mit einigen Sätzen möchte ich noch auf den mitzube- berufsqualifizierender Merkmale ihrer Tätigkeit. ratenden Antrag der FDP-Fraktion eingehen. Dieser ist in Wir stärken die Freiwilligendienste und machen sie at- seiner Form eher eine beliebige Ansammlung von Allge- traktiver: meinplätzen und sicher keine Alternative zum vorliegen- den Gesetzentwurf. Für zukünftige Vorhaben enthält er Erstens. Wir erweitern die Möglichkeiten, in welchen aber einige diskussionswürdige Vorschläge, die allerdings Bereichen sich junge Freiwillige engagieren können. Wir mit den Ergebnissen der Enquete-Kommission „Zukunft öffnen neben den klassischen Bereichen wie sozialen des Bürgerschaftlichen Engagements“ abgeglichen wer- Dienstleistungen, dem Gesundheits- und Pflegebereich den sollten. auch die Felder Kultur, Sport, Denkmalpflege und Ju- gendhilfe. Im kulturellen Bereich heißt das beispielsweise Unser Gesetzentwurf dagegen ist ein Angebot an junge die Hilfe in Bibliotheken, Musikinitiativen oder Museen, Menschen, an eine gesellschaftlich engagierte Genera- in der Denkmalpflege die Unterstützung restaurativer und tion, an junge Leute, die etwas bewegen wollen, sich ein- pflegender Maßnahmen. bringen möchten und dafür wertvolle Zeit opfern. Und ich denke, es herrscht Konsens im ganzen Hause: Wir müssen Für viele junge Männer und Frauen sind die neu auf- junge Freiwillige mit aller Kraft unterstützen. genommen Bereiche eine echte Alternative zum klassi- schen FÖJ oder FSJ. Viele Jugendliche sind gerne im sportlichen Umfeld zuhause und mit gesteigerter Freude Thomas Dörflinger (CDU/CSU): 34 Prozent aller in diesen Bereichen aktiv. Wir zeigen mit der Ausweitung Deutschen über 14 Jahre engagieren sich in irgendeiner Form ehrenamtlich. Die Debatte, die wir heute über die der Dienste auch unsere Anerkennung der Leistungen. Zukunft der Freiwilligendienste führen, ist für die CDU/ Zudem machen wir als Gesellschaft deutlich, dass wir CSU-Bundestagsfraktion daher auch Anlass, zunächst an junge engagierte Menschen brauchen und schätzen. (B) die vielen Bürgerinnen und Bürger ein herzliches Wort (D) Auch die Flexibilisierung der Dienste und die Ableis- des Dankes und der Anerkennung zu sagen. tung in Blöcken von 3 Monaten innerhalb eines Zeitraums Alle Parteien in diesem Hohen Haus haben ein gemein- von 2 Jahren erhöht deren Attraktivität. Gerade junge sames Ziel, nämlich die Bürgerinnen und Bürger, die sich Menschen fühlen sich oft überfordert, wenn man ihnen für Gemeinschaft und Gesellschaft einbringen möchten, in eine Dienstzeit von 12 Monaten anbietet. Viele reagieren ihrem Bemühen zu stärken und zu ermutigen und daneben reserviert angesichts dieses langen Zeitraums, einige ste- die Rahmenbedingungen so zu verändern, dass möglichst hen ihm gar ablehnend gegenüber, obwohl sie das Enga- viele andere es ihnen gleichtun. Die Erwartungen sind gement selbst befürworten. Die Antwort darauf heißt – auch mit Blick auf das, was Rot-Grün 1998 in ihre Ko- Flexibilisierung, und diese erfolgt in Absprache mit den alitionsvereinbarung hineingeschrieben haben – groß. In Einsatzstellen. diesem Zusammenhang bleibt festzuhalten, dass die Bun- Zweitens. Wir ersetzen das Mindestalter für die Ableis- desregierung erst nach massivem Druck aus der Opposi- tung eines freiwilligen Jahres durch den Zeitpunkt des tion dazu bereit war, bei der Übungsleiterpauschale eine Endes der Vollzeitschulpflicht. Das bedeutet, dass nun Verbesserung in die Wege zu leiten und nun nach langem auch Absolventen von Haupt- und Realschulen nahezu Warten die versprochenen Verbesserungen bei den Frei- unmittelbar nach ihrer Schulzeit ein FSJ oder FÖJ begin- willigendiensten versucht in Angriff zu nehmen. nen können. Es ist richtig und zwischen Regierung und Opposition Drittens. Mit dem neuen § 14c Zivildienstgesetz regeln unstrittig, die gesetzlichen Bestimmungen zum Freiwilli- wir, dass anerkannte Kriegsdienstverweigerer in Zukunft gen Sozialen und zum Freiwilligen Ökologischen Jahr un- nach ihrer Anerkennung ein freiwilliges soziales oder ter einem Dach zusammenzufassen und die Regelungen freiwilliges ökologisches Jahr als Ersatz für den Zivil- zu vereinheitlichen. Dies ist auch ein Beitrag zu mehr dienst ableisten können. Auch hier gilt: Das FSJ kann in Transparenz und Effizienz und findet durchaus unsere den Bereichen liegen, die beispielsweise im kulturellen Unterstützung. Trotzdem bietet der Gesetzesentwurf, den oder sportlichen Spektrum liegen. Voraussetzung ist eine uns die Bundesregierung heute vorlegt, in mehrfacher mindestens 2 Monate längere Verpflichtung als bei Zivil- Hinsicht Anlass zur Kritik. dienstleistenden. Bevor nun die Einwände kommen: Die Da ist zunächst die Absicht, FSJ und FÖJ zukünftig Plätze für Zivildienstleistende in Freiwilligendiensten auch als geleisteten zivilen Ersatzdienst nach dem Zivil- werden zusätzlich zu den schon vorhandenen angeboten. dienstgesetz anzuerkennen; eine auf den ersten Blick viel- Es wird kein Gerangel um freie Plätze geben. leicht einleuchtende Regelung, die aber in mehrfacher 20668 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001

(A) Hinsicht mit Problemen behaftet ist. Lassen Sie mich auf Die insbesondere von Rot-Grün immer und immer (C) einige Punkte detailliert eingehen: wieder geforderte Gleichbehandlung von Wehr- und Zi- vildienst findet mindestens an einer Stelle nicht statt. In Erstens. Sie vermengen zwei Dinge miteinander, die der derzeit gültigen Fassung des Wehrpflichtgesetzes ist von ihrer Grundstruktur zu unterschiedlichen Gebieten die Einberufung zur Bundeswehr frühestens nach Voll- gehören, nämlich Pflicht- und Freiwilligendienst. Es wird endung des 17. Lebensjahres möglich. So steht es in § 5 gleich deutlich werden, dass wir auf mehreren Feldern in Abs. 1 a. Im nun zur Änderung anstehenden § 2 Abs. 4 des die Bredouille geraten. „Gesetzes über die Verweigerung des Kriegsdienstes mit Zweitens. Nur anerkannte Wehrdienstverweigerer der Waffe aus Gewissensgründen“ soll jedoch geregelt kommen in den Genuss dieser neuen Regelung. Wer sein werden, dass der Antrag auf Kriegsdienstverweigerung FSJ oder sein FÖJ vor der Musterung leistet, kann seinen schon sechs Monate vor Ablauf des 17. Lebensjahres ge- Beitrag für die Gesellschaft nicht als Zivildienst anerken- stellt werden kann. nen lassen. Dies wird insbesondere für Absolventen der Ein letzter Punkt. Die Kosten für die öffentlichen Hauptschule zutreffen. Haushalte werden von Ihnen auf dem Titelblatt der Drittens. Würden wir eine pure Regelung für die Frei- Drucksache 14/7485 mit ,,Keine“ angegeben. Meine dies- willigendienste treffen, wäre es in der Tat zu begrüßen, bezügliche Frage im Ausschuss blieb durch die Ministe- dass dieser Dienst auch in kulturellen oder sportlichen Be- rin und die anwesenden Mitarbeiter des Hauses unbeant- reichen oder zum Beispiel in der Denkmalpflege erbracht wortet. Sie selbst schreiben aber in der Begründung zu werden kann. Wir waren uns aber über die Fraktionsgren- Art. 3 Nr. 2 Abs. 4 des Gesetzentwurfs, dass der Zuschuss zen in der Diskussion über die Zukunft des Zivildienstes an die Träger, die Zivildienstleistende im Rahmen des ge- einig, dass der Zivildienst zukünftig insbesondere auf den planten § 14 c Zivildienstgesetz, also im FSJ oder FÖJ Dienst am Menschen konzentriert werden solle. Da aber einsetzen, oftmals nicht kostendeckend sei, weswegen der die genannten Bereiche zukünftig auch für den Zivildienst Zuschuss entsprechend der Kostenentwicklung im Zivil- Anrechnung finden sollen, ist klar: Diesen Konsens ver- dienst jährlich angepasst werden könne. Also so ganz lassen Sie mit dem nun vorgelegten Gesetzentwurf, und kann das mit der Haushaltsneutralität nicht übereinstim- dies findet unsere Zustimmung nicht. men. Hier hätten wir gerne etwas Genaueres gehört. Viertens. Die Anerkennung von FSJ und FÖJ als Zivil- Die vereinbarte Anhörung im nächsten Jahr und die dienst wirft ganz offensichtlich ein Problem in der ren- Beratungen im Ausschuss bieten Gelegenheit, notwen- tenversicherungsrechtlichen Gestaltung auf, da der Zivil- dige Verbesserungen am Entwurf vorzunehmen. Die dienstleistende in der gesetzlichen Rentenversicherung CDU/CSU-Bundestagsfraktion ist hierbei zu einer kon- de jure als „Beschäftigter“, der junge Mann im FSJ aber struktiven Mitarbeit bereit. (B) als „Auszubildender“ behandelt wird, was mit unter- (D) schiedlichen Entgeltpunkten in der Rentenversicherung seinen Niederschlag findet. Nun hätte man das auf die ein- Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- fachste Art lösen können, indem man dem jungen Mann NEN): Die Zukunft unseres Landes und unserer Demo- im FSJ einfach für die Zeit, in der er sich im Zivildienst kratie wird wesentlich davon abhängen, ob sich in unse- befindet, auch den rentenrechtlichen Status eines rem Land eine lebendige Zivilgesellschaft entwickelt. Zivildienstleistenden zuerkannt hätte. Dies hätte freilich Freiwilliges Engagement ist der „soziale Kitt, der die Ge- zur Folge gehabt, dass die Rentenversicherungsbeiträge sellschaft zusammenhält. des Zivildienstleistenden im FSJ auch vom Bund hätten Im Internationalen Jahr der Freiwilligen ist die Verbes- getragen werden müssen. Sie haben mit dem heute vorge- serung der Rahmenbedingungen für freiwilliges Engage- legten Gesetzesentwurf die andere Variante gewählt: Der ment durch die Bundesregierung angesagt. Freiwilliges Zivildienstleistende im FSJ verbleibt zwar im Status des Engagement von Jugendlichen darf nicht länger ausge- Freiwilligen, erhält aber die Rentenversicherungsbeiträge bremst werden. Gerade dies leistet die Novelle, und das nur in der Höhe, die auch der Zivildienstleistende, der sich sage ich hier insbesondere an die Adresse der FDP, die nicht im FSJ befindet, erhält. So wälzen Sie einen Teil der sich die Konzepte von Bündnis 90/Die Grünen in ihrem Rentenversicherungsbeiträge für die Zivildienstleisten- Antrag zu Eigen gemacht hat. Bislang war mir diese in- den, die eigentlich der Bund zu tragen hätte, auf die Kasse haltliche Übereinstimmung noch nicht bekannt. der gesetzlichen Rentenversicherung ab. Dies werden wir nicht mittragen. Es gibt für das Freiwillige soziale und ökologische Jahr mindestens doppelt bis dreifach so viele Bewerber und Gerade an dem letzten Punkt zeigt sich, dass die Ver- Bewerberinnen, die sich bundesweit oder international mengung von Freiwilligendiensten und Zivildienst nicht engagieren wollen, wie Plätze vorhanden sind. Wir wer- der richtige Weg ist. Nicht nur wegen der gerade geschil- den mit der Umsetzung des FSJ/FÖJ-Gesetzes hierfür ei- derten rentenversicherungsrechtlichen Problematik im nen vernünftigen Rahmen schaffen, der die positiven For- Zivildienst, sondern auch, weil zukünftig ein Freiwilli- derungen der Länder beinhaltet und noch darüber hinaus gendienst erster Klasse und ein Freiwilligendienst zweiter geht. Klasse entsteht – je nachdem, ob ein junger Mann sich entscheidet, sein FSJ entweder als Zivildienst anerkennen Bei aller Euphorie über das freiwillige Engagement der zu lassen oder aber nicht. Bürger und Bürgerinnen bleibt es für uns wichtig, dass diese freiwillige Tätigkeit arbeitsmarktneutral wirkt. Lassen Sie mich einen weiteren Kritikpunkt nennen, Wenn wir von den Menschen Engagement fordern, ist der den ich bereits im Ausschuss angesprochen habe: Staat in der Verantwortung, ihnen dafür einen Rahmen zu Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20669

(A) bieten. Junge Freiwillige müssen zusätzlich zum grund- sellschaft, die sich demokratischen Werten verpflichtet (C) sätzlichen Bedarf der Träger beschäftigt werden. Alles an- und damit dem Rassismus, dem Antisemitismus und dere hätte aus jugendpolitischer Sicht nachhaltig negative rechtsradikalen Tendenzen Widerstand entgegensetzen. Konsequenzen. Bündnis 90/Die Grünen lehnen es ab, Ju- gendlichen im Namen des Gemeinwohls das Gefühl zu geben, als „billige Arbeitskraft“ oder eben als „sozialer Ina Lenke (FDP): Die Bundesregierung ist mit dem Ausfallbürge“ missbraucht worden zu sein. großen Versprechen angetreten, eine bessere Förderung von Freiwilligendiensten auf den Weg zu bringen. Übrig Grundlage des Gesetzes ist für Bündnis 90/Die Grünen geblieben sind Änderungen zum freiwilligen sozialen der Lerncharakter des freiwilligen Jahres. Für uns steht Jahr und zum freiwilligen ökologischen Jahr. Das ist zu fest, dass Jugendliche nach der Schule bis zu ihrem 27. Le- wenig. Die Staatssekretärin hat die Vorlage lediglich als bensjahr in sozialen und ökologischen Bereichen ein so- „ersten Schritt“ bezeichnet. In dieser Legislaturperiode zial abgesichertes freiwilliges Jahr machen können. Die drückt sich also die Bundesregierung vor einer konzep- Öffnung für die Einsatzfelder Kultur und Sport sollen tionellen Neugestaltung gesetzlicher Rahmenbedingun- ebenfalls im Gesetz festgelegt werden. gen für einen allgemeinen Freiwilligendienst. Freiwillige brauchen einen Status. Also ist ihre Absi- Der Gesetzentwurf der Regierungskoalition verbessert cherung in der Sozialversicherung unabdingbar. Für die in einigen Punkten den gesetzlichen Rahmen zur Ableis- Auslandsdienste ist es unabdingbar, die Träger einzubin- tung eines freiwilligen sozialen oder ökologischen Jahres. den, sie aber nicht zusätzlich zu belasten. Für Freiwillige Die FDP begrüßt, dass FSJ und FÖJ Ersatz zum Zivil- im In- und Ausland gilt, dass das Kindergeld weiter be- dienst sein werden. Bessere Rahmenbedingungen für all- zahlt wird. gemeine Freiwilligendienste und bürgerschaftliches En- Die Erfahrung und Kompetenz, die Jugendliche im gagement werden durch diesen Gesetzentwurf jedoch freiwilligen Jahr erhalten, soll nachvollziehbar werden. nicht geschaffen. Angesichts der gebotenen Diskussion Deshalb wollen wir ein Zertifikat, das ihre Arbeit doku- um die Aussetzung der Wehrpflicht und dem damit zur mentiert. Disposition stehenden Zivildienst gilt es, einen gänzlich neuen Rahmen für freiwilliges bürgerschaftliches Enga- Parallel zur praktischen Erfahrung gibt es einen fest- gement zu schaffen. gelegten Rahmen von pädagogischer Begleitung und Pro- jektarbeit, der von den Jugendlichen selbst bisher als sehr Was die Änderungen für einen freiwilligen Dienst im positiv bewertet wird. Die einheitliche Regelung der In- Ausland angeht, werden wir bei der Anhörung Anfang und Auslandstätigkeiten in unterschiedlichen Bereichen nächsten Jahres besonders nachfragen, ob die vorgeschla- gewährt den Jugendlichen die Chance, ihre Erfahrungen genen Regelungen ausreichend sind. Wie sich der Entwurf (B) gleichwertig zu sehen und zu nutzen. Die schulische Vor- auf die Erteilung von Visa- und Arbeitserlaubnisse sowie (D) bildung darf hier kein Kriterium sein. steuerrechtlich in außereuropäischen Gastländern aus- Freiwilliges Engagement bedeutet für viele Jugendli- wirkt, ist derzeit unklar. Weil der Entwurf die vollständige che praktische Erfahrung und Orientierung bei der späte- Sozialversicherungspflicht fordert, könnten in einigen ren Berufswahl. Die Anerkennung des freiwilligen Diens- Gastländern Komplikationen auftreten. Auch, dass die tes als Zivildienst soll es jungen Männern ermöglichen Vor- und Nachbereitung und Sprachkurse nur hier im In- Erfahrungen zu sammeln, ohne dem Zwangscharakter des land durchgeführt werden sollen, halte ich im Rahmen Zivildienstes zu unterliegen. von internationalen Begegnungen für nicht praktikabel. Für uns ist es wichtig, dass hier eine gangbare Per- Die FDP hat heute einen eigenen Antrag eingebracht, spektive für die Konversion des Zivildienstes geschaffen der unsere Position aufzeigt. Wir wollen, dass rechtliche wird. Dabei ist festzustellen, dass einerseits im sozialen Grundlagen für einen allgemeinen Freiwilligendienst in Sektor Arbeitsplätze geschaffen werden müssen und an- Deutschland geschaffen werden, die grenzüberschrei- dererseits das soziale Engagement der Zivildienstleisten- tende Freiwilligendienste besonders für junge Menschen den durch die freiwillige Tätigkeit erhalten bleibt. zur Stärkung von Toleranz, Solidarität und Partizipation im Rahmen eines europäischen Aufbauwerks erleichtern, Die Chancen des freiwilligen Engagements im Ausland rechtliche und institutionelle Hindernisse abbauen und liegen in den Erfahrungen der Jugendlichen mit Erinne- das gemeinschaftliche Aktionsprogramm „Jugend“ ent- rungsarbeit. Junge Menschen, die mit Holocaust-Überle- sprechend dem Beschluss des Europäischen Parlaments benden arbeiten oder wichtige Aufgaben in Gedenkstätten und des Rates unterstützen, sowie den Beschluss Nr. 1 übernehmen, die in interkulturellen Einrichtungen in Is- 686/98/EG der Europäische Union umsetzen. rael, in Polen, in Tschechien oder in Bosnien arbeiten, leis- ten mit ihrem Freiwilligendienst einen entscheidenden Freiwilliges Engagement muss sich für die Freiwilli- Beitrag zur Demokratisierung unserer Gesellschaft. gen, aber auch für die Dienststellen lohnen. Dazu sollen auf Trägerseite Verwaltungshindernisse und Kostenfakto- Über die Unterstützung der Länder freuen wir uns ren abgebaut werden, aufseiten der Freiwilligen nicht nur bei der Umsetzung des Gesetzes außerordentlich. Bünd- für Ableistende eines freiwilligen sozialen oder ökologi- nis 90/Die Grünen sehen in den Ländervorschlägen auch schen Jahres, sondern für alle freiwilligen Engagierten ihr dasAngebot, die Schaffung neuer Stellen zu unterstützen. mindestens einjähriger Dienst als Zivildienst anerkannt, Junge Freiwillige sind – und da herrscht Einigkeit zwi- Fortbildungsmöglichkeiten geschaffen und Qualifikatio- schen Bund und Ländern – wichtige Multiplikatoren und nen zertifiziert werden. Auf internationaler, dabei beson- Multiplikatorinnen auf dem Weg zu einer starken Zivilge- ders auf europäischer Ebene sind Regelungen zu schaffen, 20670 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001

(A) die es Freiwilligen im In- und Ausland ermöglichen, sich Besonders kritisch steht die PDS den Regelungen ge- (C) unbürokratisch überall zu engagieren. genüber, die aus dem Pflichtdienst Zivildienst auf Frei- willigendienste übertragen werden sollen. Damit wird der Ich fordere die Bundesregierung auf: Überprüfen Sie Identität von Freiwilligendiensten und der gesellschaftli- Ihren zaghaften Gesetzentwurf und schaffen Sie endlich chen Anerkennung der Dienste Schaden zugefügt. Das Regelungen, die freiwilliges Engagement tatsächlich at- grundsätzliche Ziel der Bundesregierung, Freiwilligen- traktiv machen und ihnen Anerkennung zuteil werden lassen! dienste zu fördern, wird damit konterkariert. Freiwilli- gendienste müssen „freiwillig“ bleiben! Das Bundesamt für Zivildienst darf deshalb keinerlei Aufsicht über Frei- Monika Balt (PDS): Bürgerschaftliches Engagement willigendienste führen können. und Freiwilligenarbeit sind zweifelsfrei wichtig für die Entwicklung der Zivilgesellschaft. Durch den persönli- Die Folge dieser Regelungen wird sein, dass es zu ei- chen Einsatz leisten junge Freiwillige einen wichtigen nem Verdrängungswettbewerb zwischen jungen Frauen Beitrag zur Verbesserung des sozialen Klimas und über- und zivildienstpflichtigen jungen Männern in den Ein- nehmen Verantwortung über den eigenen Lebensraum satzstellen und bei den Trägern kommt. Das läuft im Übri- hinaus. Der vorliegende Gesetzesentwurf zielt auf eine gen der Gender-Mainstreaming-Richtlinie der EU zuwi- Verbesserung der Rahmenbedingungen für die Freiwilli- der. Aus unserer Sicht besteht ein erheblicher gendienste im freiwilligen sozialen und ökologischen Überarbeitungs- und Korrekturbedarf der vorliegenden Jahr. Gesetzesnovelle. Nun betonen Sie immer wieder, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, dass das freiwillige Dr. Christine Bergmann, Bundesministerin für Fa- Engagement gegen Erwerbsarbeit abzugrenzen sei. Die milie, Senioren, Frauen und Jugend: Junge Menschen Dienste sollen Lerndienste sein. Wenn dem doch so wäre! wollen sich freiwillig engagieren. Nun sind doch die Ursachen, die 1954 zu den Überle- Wir wissen, dass 37 Prozent der jungen Menschen in gungen eines freiwilligen sozialen Jahres und 1964 zum Deutschland freiwillig engagiert sind. Das ist überdurch- entsprechenden Gesetz geführt haben, nicht behoben. schnittlich viel im Vergleich zu den anderen Altersgrup- Ganz im Gegenteil: Der Mangel an Lehrstellen und Aus- pen. Das verdient unsere Anerkennung. bildungsplätzen sowie der Personalmangel im pflegeri- Wir legen deshalb am Ende des Internationalen Jahres schen und sozialen Bereich sind angestiegen. Gleiches der Freiwilligen eine Reform und Ausweitung der Frei- gilt für das freiwillige ökologische Jahr. Hinzu kommt das willigendienste für Jugendliche auf den Tisch. Das heißt: gravierende Problem der Massenarbeitslosigkeit, bei dem (B) kein wirtschaftlicher oder politischer Lösungsansatz er- Erstens. Wir weiten die Einsatzfelder aus. (D) kennbar ist. Um dem Ganzen den sozialen „Sprengstoff“ Zweitens. Wir ermöglichen die Freiwilligendienste zu zu nehmen, sind das freiwillige soziale und das freiwillige gleichen Bedingungen auch im nichteuropäischen Aus- ökologische Jahr anstelle arbeitsmarktpolitischer Instru- land. mentarien zur Schaffung von Ausbildungs- und dauerhaf- ten Arbeitsplätzen ein idealer Ersatz, der zudem noch die Drittens. Wir geben den Freiwilligendiensten eine Ori- Arbeitslosenstatistik schönt. entierungsfunktion für einen zukünftigen Beruf. Außerdem sind die Stellen des freiwilligen sozialen Das freiwillige soziale Jahr gibt es seit 1964. Das frei- und des freiwilligen ökologischen Jahres sehr niedrig be- willige ökologische Jahr wurde 1993 eingeführt. Diese zahlte und verstärken den Trend zum Niedriglohnsektor. Freiwilligendienste sind bei den Jugendlichen in den letz- Nicht hinnehmbar ist das Vorhaben – wie im Begrün- ten Jahren immer beliebter geworden. Wir haben die An- dungsteil des Gesetzentwurfes zu lesen –, das Taschen- gebote in den vergangenen Jahren kontinuierlich ausge- geld der Freiwilligen auf das Niveau des Kindergeldes ab- weitet: von 7 100 Jugendlichen im Jahr 1993 auf heute zusenken. rund 13 200. Das ist eine Steigerung um 85 Prozent. Aber noch immer übersteigt die Nachfrage deutlich das Ange- Die zeitliche Verlängerung des freiwilligen sozialen bot. Der Freiwilligendienst in sozialen und ökologischen Jahres liegt sicherlich auch im Interesse der Dienstleis- Tätigkeitsfeldern wird von den jungen Menschen genutzt, tenden. Allerdings kritisieren wir die Flexibilisierung um Einblicke zu bekommen, Erfahrungen zu sammeln nach Blöcken. Das schafft einen ungerechtfertigten büro- und mitzuhelfen. Die meisten Teilnehmerinnen und Teil- kratischen Mehraufwand für die Träger. Die pädagogi- nehmer haben in dieser Zeit den ersten engen Kontakt mit sche Betreuung wird aufgrund der Erhöhung der Zahl der dem beruflichen Alltag. Sie lernen das Arbeitsleben ken- zu Betreuenden zur Farce. nen, sei es im Krankenhaus, auf der Pflegestation oder Sie wollen die Tätigkeitsfelder der Freiwilligendienste beim Schutz des Wattenmeeres. Sie machen wichtige per- ausweiten: auf kulturelle und sportliche Bereiche sowie sönliche Erfahrungen im Umgang mit Menschen. auf den Denkmalschutz. Auf den ersten Blick ist daran Am Ende beurteilen 91 Prozent der Teilnehmerinnen nichts zu kritisieren. Um das zu finanzieren, wäre es aber und Teilnehmer ihr freiwilliges Jahr mit sehr gut oder gut. sinnvoll – so wie es Bündnis 90/Die Grünen wollten, sich aber nicht durchsetzen konnten –, die frei werdenden Mit- Für viele junge Leute ist ihre Erfahrung während des tel des Zivildienstes in den Topf der Freiwilligendienste freiwilligen sozialen und ökologischen Jahres richtungs- einzustellen. weisend für ihre berufliche Zukunft. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20671

(A) Die Freiwilligendienste helfen also bei der Berufsent- Lassen Sie mich abschließend noch auf Folgendes hin- (C) scheidung. Deshalb ist es auch so wichtig, dass noch weisen: Wir wollen den Zivildienst und die Freiwilligen- stärker berufsorientierende und berufsqualifizierende dienste in Zukunft stärker miteinander verzahnen. Des- Elemente in die Freiwilligendienste aufgenommen wer- halb wird das Zivildienstgesetz künftig vorsehen, dass den. Die Freiwilligen sollen zukünftig ein Zertifikat er- anerkannte Kriegsdienstverweigerer anstelle des Zivil- halten, mit dem sie ihre erworbenen Kompetenzen und dienstes auch ein freiwilliges soziales oder freiwilliges Erfahrungen ausweisen können. Dieses Zertifikat soll ökologisches Jahr neuer Prägung ableisten können. den Einstieg in die Ausbildungs- und Berufswelt er- Der vorliegende Gesetzentwurf entwickelt den Frei- leichtern. willigendienst für Jugendliche weiter und gibt ihm neue Mit dem vorliegenden Gesetz machen wir die Freiwil- Impulse. Er wird damit den unterschiedlichen Interessen- ligendienste auch flexibler. lagen von Jugendlichen gerecht und trägt dazu bei, die Rahmenbedingungen für freiwilliges Engagement in un- Wir schaffen Möglichkeiten, den Dienst künftig in serem Land zu verbessern. Blöcken, zum Beispiel drei Monate, abzuleisten, inner- halb einer Spanne von 24 Monaten. Auch eine freiwillige Verlängerung um bis zu sechs Monate über die Höchst- Anlage 5 dauer von zwölf Monaten hinaus wird möglich. So sollen junge Menschen in die Lage versetzt werden ihr freiwilli- Zu Protokoll gegebene Reden ges Engagement so zu gestalten, dass es in ihre persönlich Lebensplanung hineinpasst. zur Beratung desAntrags: Zusagen zum globalen HIV/Aids- und Gesundheitsfonds einhalten und Ich habe bereits darauf hingewiesen: In den letzten Jah- Aidsimpfstoffforschung stärker fördern ren hatten wir immer mehr Bewerberinnen und Bewerber (Tagesordnungspunkt14) als Plätze beim freiwilligen sozialen und ökologischen Jahr. Das werden wir ändern. Wir werden im nächsten Frank Hempel (SPD): Jede Minute infizieren sich Jahr die Zahl der Plätze für die beiden Freiwilligendiens- mehr als 10 Menschen mit dem HI-Virus. Jeden Tag ster- te um 50 Prozent erhöhen und mit 5 Millionen Euro zu- ben mehr als 8 000 Menschen an den Folgen von Aids; sätzlich ausstatten. Das ist eine deutliche Steigerung. jede Minute stirbt ein Kind daran. Wir alle sind uns wohl Wir werden die Einsatzfelder für die Freiwilligendienste einig über die Dringlichkeit, diese Epidemie mit allen uns erweitern. Künftig kann das freiwillige soziale Jahr auch zur Verfügung stehenden Mitteln zu bekämpfen und hof- in der Jugendarbeit des Sports, in Verbänden und Vereinen fentlich bald zu besiegen. (B) absolviert werden. Doch bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Unsere Auf- (D) Außerdem haben wir im September diesen Jahres ein gabe muss es sein, diesen Weg so kurz wie möglich zu hal- Modellprojekt „Freiwilliges Soziales Jahr im kulturellen ten. Der Fokus liegt hierbei, der globalen Problemlage Bereich“ begonnen. angemessen, auf den Ländern des südlichen Afrikas, die besonders unter der Belastung durch HIV/Aids zu leiden Mit dem vorliegenden Gesetz berücksichtigen wir haben: Es handelt sich hierbei sowohl um eine menschli- auch das große Interesse von Jugendlichen, einen freiwil- che, als auch um eine ökonomische Tragödie. Doch ge- ligen Dienst im Ausland zu absolvieren. rade in den letzten Monaten ist uns bewusst geworden, dass auch die Situation in anderen Regionen der Welt, wie Seit 1993 kann der Freiwilligendienst auch im europä- zum Beispiel in China, Indien und der GUS – hier beson- ischen Ausland abgeleistet werden. ders in der Ukraine und in Russland – an Brisanz zuge- Wir werden die Freiwilligendienste künftig zu den nommen hat. gleichen Bedingungen auch in außereuropäischen Län- Zu China waren Schlagzeiten zu lesen wie zum Bei- dern ermöglichen. Damit fördern wir die Weltoffenheit spiel. „Am Rand des Abgrunds bricht China mit dem und den Dialog zwischen den Kulturen, die wir in unserer Aids-Tabu“ oder „China gibt Aids-Epidemie zu“. Nach Gesellschaft brauchen. Jahren der Tabuisierung scheint sich die chinesische Mit dem neuen Gesetz stellen wir die jungen Men- Regierung der Bedrohung bewusst zu werden. Zwar ist die Prävalenzrate aufgrund der hohen Bevölkerungszahl schen, die ihr freiwilliges soziales oder ökologisches Jahr – gleiches gilt auch für Indien – relativ gering, doch neu- im Ausland ableisten, denen im Inland gleich. Sie erhal- ste Zahlen dokumentieren 600 000 HIV-infizierte Chine- ten die gleiche Absicherung in der Sozialversicherung sinnen und Chinesen. Mit der Enttabuisierung der Aids- und bei der Zahlung von Kindergeld. problematik sind Staaten wie China und Indien auf dem Bei der Weiterentwicklung der Freiwilligendienste ist richtigen Weg, den Kardinalfehler der Vergangenheit zu unser Ziel, die Dienste für alle Jugendlichen bereitzu- vermeiden; nämlich die Epidemie lange zu verheimlichen stellen und ihnen die tatsächliche Teilnahme durch ge- und zu verharmlosen. Wir müssen diese Staaten dabei in- eignete Angebote zu ermöglichen. So wollen wir, dass tensiv unterstützen und sie auch zu mehr Eigen- in Zukunft die Absolventen von allen Schularten, vor al- initiative bewegen. lem auch Hauptschulabsolventen, eine größere Rolle Ich möchte nicht zum x-ten Mal gebetsmühlenhaft die spielen. Deshalb ist künftig der Schulabschluss Voraus- globalen Statistiken anführen. Diese sind uns gerade jetzt, setzung für den Zugang und nicht mehr das Mindest- zwei Wochen nach dem internationalen Welt-Aids-Tag alter. noch im Gedächtnis. 20672 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001

(A) Vielmehr frage ich mich, was an dem Antrag der den heute und morgen in Brüssel diskutiert. Aus Sicht der (C) CDU/CSU neu ist. Schon Mitte des Jahres hat die Koali- deutschen Verhandlungsdelegation besteht bei der Pro- tion einen Antrag zur Förderung der Aidsbekämpfung in gramm- und Finanzverantwortlichkeit noch umfangrei- Entwicklungsländern vorgelegt (14/6320 vom 20. Juni cher Diskussionsbedarf. 2001). Dieser fand, bei Enthaltung der CDU/CSU Frak- Nun möchte ich Ihnen noch einige wichtige Punkten tion, breite Zustimmung in diesem Hause. der Verhandlungen erläutern: Das verantwortliche Gre- Zudem ist der Zeitpunkt des CDU/CSU-Antrags aus mium-Board soll Entscheidungen grundsätzlich im Kon- zwei Gründen sehr ungünstig gewählt. Ich möchte ihnen sens treffen. Die Entscheidungsfindungsmethode wird auch erläutern warum: Erstens hat die FDP-Fraktion beim jetzt stattfindenden Treffen verhandelt. Über den schon am 14. November 2001 eine Kleine Anfrage mit der Sitz des neu einzurichtenden Sekretariats, das den Ver- Überschrift „Finanzielle Unterstützung für den Global waltungsrat bei seiner Arbeit unterstützt, ist noch keine and Health Fonds“, Drucksache 14/7516, an die Bundes- abschließende Entscheidung getroffen worden. Zur Dis- regierung gestellt, in der einige Fragen aufgeführt sind, kussion standen Genf – WHO –, Paris – Weltbankbüro –, die ihre Forderungen des Antrags betreffen. Hätten Sie es Südafrika und Belgien. Die Präferenz der Mehrheit der abwarten können, wären sie heute schlauer: Laut einer In- Verhandlungspartner und der deutschen Delegation war formation des Sach- und Sprechregisters des Deutschen Genf. Bundestages geht Ihnen die Beantwortung schon morgen Grundsätzlich sollen aus Mitteln des Fonds hauptsäch- zu. Schauen Sie ruhig noch einmal in Ihre Postfächer, be- lich bestehende nationale Programme und Gesundheits- vor Sie in den wohlverdienten Weihnachtsurlaub fahren. pläne finanziert werden, die Mittelzuweisung soll in Ra- Aber aufgrund des schlechten Timings können zwei- ten erfolgen und sich an nachweisbaren Erfolgen tens auch hierbei nicht alle Fragen geklärt werden, denn orientieren. Eine Kofinanzierung der internationalen dieser 14. Dezember 2001 ist nicht nur in unserem Hause Bemühungen zur Bereitstellung eines Impfstoffs gegen ein wichtiges Datum bei der Diskussion der globalen die HIV-Infektion wird, entgegen der Verhandlungen im Aidsproblematik, sondern auch für die internationalen Vorfeld, explizit ausgeschlossen. Dies wird zum Beispiel Verhandlungen zum Global Fund to fight Aids, Tubercu- von der Deutschen Aids-Stiftung und der International losis and Malaria, GFATM. Denn heute ist der letzte Ver- Aids Vaccine Initiative grundsätzlich begrüßt. Hiermit handlungstag zum GFATM in Brüssel. Die Ergebnisse der soll sichergestellt werden, dass der Bereich Prävention Transitional Working Group, TWG, zur Ausgestaltung des und Behandlung in Entwicklungsländern, den internatio- Fonds werden uns in Kürze vorliegen und die entspre- nal zur Verfügung stehenden Mitteln entsprechend, aus- chende Institution, die für die Verwaltung des Fonds ver- reichend finanziert wird. Somit haben andere Organisa- antwortlich sein wird, soll schon Anfang 2002 ihre Arbeit tionen – zum Beispiel oben genannte – den Freiraum, sich (B) aufnehmen. Alle Verhandlungspartner sind sich der Wich- intensiv für die Förderung einer entwicklungsländerspe- (D) tigkeit und der Dringlichkeit ihrer Aufgabe bewusst und zifischen Impfstoffentwicklung einzusetzen. sie sind bemüht, noch dieses Jahr Ergebnisse vorzulegen. Als Antragsteller kommen nur Länder mit bestimmten Also liebe Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU- Voraussetzungen infrage. Kriterien werden sein: Armut, und FDP-Fraktion, haben sie noch einige Tage Geduld, Prävalenzrate, die potenzielle Verbreitungsgeschwindig- dann werden Sie über die Ergebnisse der Verhandlungen keit und die positive Einstellung der Regierung aktiv im informiert werden können und schon bald werden die ers- Kampf gegen Aids, Tuberkulose und Malaria mitzuwir- ten Maßnahmen im Rahmen des Global Funds umgesetzt. ken. Für alle, die es nicht abwarten können, werde ich vorab Hiermit wird die Eigenanstrengung der Entwicklungs- einige Informationen zum Stand der Verhandlungen ge- länder angesprochen, die von der CDU/CSU in ihrem An- ben. Diese sind allerdings auf dem Stand des letzten, trag gefordert wird. Dass diese in den bilateralen Projek- zweiten TWG-Treffens in Brüssel vom 22. bis 24. No- ten der deutschen Entwicklungszusammenarbeit schon vember 2001. eingefordert wird, können sie voraussetzen. Aber es ist gut, dass sie noch einmal darauf hinweisen. Hier scheint An den bisherigen Beratungen unter dem von VN-Ge- überfraktionelle Einigkeit zu herrschen. Seien sie gewiss, neralsekretär Kofi Annan berufenen Vorsitzenden, dem dass dies auch die Kriterien des BMZ sind. Ein weiterer ugandischen Minister Dr. Kiyonga, nehmen Vertre- Punkt, den Sie in ihrem Antrag in diesem Zusammenhang terinnen und Vertreter aus 17 Industrieländern, 11 Ent- ansprechen, ist Aufklärung und Stärkung des Gesund- wicklungsländern, 5 internationalen Organisationen und heitssektors: Würden sie sich die Positionspapiere des 6 Nichtregierungsorganisationen bzw. Wirtschaftsverbän- BMZ genauer anschauen und dies mit den bilateralen Pro- den teil. Verhandlungsgegenstand waren auf der letzten jekten vergleichen, könnten sie feststellen, dass diese For- Sitzung die Strukturen und Modalitäten des GFATM. derung nur den Status quo wiedergibt. Wenn sie allerdings Hierbei hat man sich auf einen 18-köpfigen Verwaltungs- Verbesserungsvorschläge haben, wie man die bestehen- rat unter Teilhabe von Nichtregierungsorganisationen den Maßnahmen optimaler umsetzten kann, sind Ihnen geeinigt. Als Trustee des Fonds soll die Weltbank beauf- die Verantwortlichen sicherlich dankbar. tragt werden. Ausstehende Entscheidungen zur Rechts- grundlage, Entscheidungsstruktur, Arbeitsmodalitäten, Der zeitlichen Notwendigkeit Rechnung tragend soll Treuhänderschaft sowie Verantwortlichkeit für die Durch- nach der 3. Verhandlungsrunde der TWG die Verteilung führung und Rechnungslegung – hiermit ist generell die der Finanzmittel schon Anfang 2002 beginnen. Damit es Programm- und Finanzverantwortlichkeit gemeint – wer- nicht zu weiteren Verzögerungen kommt, ist eine Option Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20673

(A) die Förderung bereits bestehender HIV/Aids-, Tuberku- und kann Ihnen versichern, dass dies bereits umgesetzt (C) lose- und Malaria-Programme von UMAIDS und der wird. Ein Entwicklungsansatz, der dabei auf einer über- WHO sowie die sofortige Finanzierung von Programmen geordneten Ebene ansetzt, ist die Gemeindeförderung. zum Einsatz von antiviralen Medikamenten. Durch die Teil davon sind integrative Kinder- und Jugendprojekte, Nutzung vorhandener Strukturen können hohe Imple- die auf den ersten Blick nicht primär der HIV/Aids- mentierungskosten eingespart werden. bekämpfung dienen. Doch dies täuscht. Denn die Förde- rung von Integration der Kinder und Jugendlichen in be- Die abschließende Verhandlung findet heute und mor- stehenden Gemeindestrukturen verhindert die Isolation gen in Brüssel statt. Hätten die Damen und Herren der der „Kinder in schwierigen Lebenslagen“ in Waisenhäu- CDU/CSU-Fraktion noch einige Tage Geduld gehabt, lä- sern. Denn die Nichtaufnahme von Kindern, deren Eltern gen uns die Ergebnisse der Abschlussverhandlungen der an Aids gestorben sind, durch Verwandte oder Nachbarn TWG vor und einige Ihrer Einwände wären wahrschein- ist kein Ergebnis des Nicht-Wollens, sondern des Nicht- lich obsolet. Könnens. Vergessen Sie nicht, dass es sich in den be- Abschließend werde ich noch Stellung nehmen zu Ih- troffenen Gesellschaften selten um Einzelkinder han- rer Forderung nach mehr Initiative für „Aidswaisen“. delt. Meist sind es fünf, sechs oder mehr Kinder, die Vorab möchte ich bemerken, dass diese Bezeichnung für durch den Tod der Eltern in eine psychisch und materiell viele Kinder und Jugendliche zum Stigma wird. Zwar ha- schwierige Lebenslage geraten. Ist ein Bruder oder ben auch wir noch vor einem halben Jahr in unserem An- vielleicht eine Schwester alt genug und durch die mate- trag von „Aidswaisen“ gesprochen, doch wir lernen dazu. riellen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen in Lassen sie uns also diese Kinder, wie im EZ-Jagon der der Lage, die Geschwister großzuziehen, dann werden GTZ üblich, doch besser „Kinder in schwierigen Lebens- diese Kinder nicht noch weiter belastet, indem sie aus lagen“ nennen. Denn Kinder und Jugendliche sind nicht ihrem noch bestehenden Familienverband gerissen nur passive Opfer, indem ihre Eltern an durch Aids verur- werden. sachten Krankheiten sterben; sie sind ebenso direkt davon Letztlich ist zu betonen, dass das Thema „Aids- betroffen. Schon als Säugling werden viele von ihren bekämpfung in Entwicklungsländern“ nicht nur von uns Müttern infiziert. Des Weiteren führen infizierte Blutkon- Entwicklungspolitikern immer wieder auf die Tagessord- serven oder die Mehrfachnutzung von Spritzen zur Über- nung gerufen werden muss. Wir brauchen mehr Sensibi- tragung von HIV. Und vergessen Sie nicht, dass sexuelle lisierung gerade in unserer Bevölkerung für dieses HIV-Übertragung in vielen Ländern, besonders in Afrika Thema, auch wenn bei uns die Infektionsrate stagniert südlich der Sahara, aufgrund traditioneller Verhaltenswei- oder sogar rückläufig ist. Wir alle leben in „einer Welt“ sen schon wesentlich früher möglich ist. Besonders und die Zahlen von Neuinfektionen in Osteuropa, insbe- Mädchen sind davon betroffen, da sie in vielen Regionen sondere im Hinblick auf die EU-Osterweiterung, sollten (B) schon mit zwölf Jahren oder früher verheiratet werden. (D) uns mahnen, nicht nachzulassen im weltweiten Kampf ge- Häufig an wesentlich ältere Männer, die vorher schon gen diese Pandemie. viele sexuelle Kontakte hatten und dadurch einer höheren Infektionsgefahr ausgesetzt waren. Dr. Hansjörg Schäfer (SPD): Uns allen ist klar: Die Um der Gefahr einer „Jugend ohne Zukunft“ entge- Bedrohung durch Aids wird eine der größten Herausfor- genzuwirken, müssen wir allen Kindern und Jugendli- derungen der Menschheit im 21. Jahrhundert sein. Die ge- chen Zukunftsperspektiven bieten. Es ist nicht damit ge- ringe, offensichtlich sogar abnehmende Sensibilität für tan, sich auf Projekte für „Aidswaisen“ zu beschränken. dieses Problem setzt uns immer wieder in Erstaunen. Ver- Damit würden wir das Problem eher verschärfen. Ich drängung oder Fehleinschätzung sind die größten Gefah- sage ihnen auch warum: Erstens wird mit einer gezielten ren im Kampf gegen Aids. Innerhalb von zehn Jahren wird Förderung nur dieser Gruppe von Kindern und Jugendli- die Zahl der Infizierten möglicherweise die Milliarden- chen das Schicksal derjenigen völlig ausgeblendet, deren grenze erreichen – eine Größenordnung, die angesichts Eltern, HIV-infiziert oder nicht, noch leben. Damit über- des menschlichen Leids und der notwendigen medizini- ließen wir die Nicht-Waisen ihrem Schicksal. Doch ge- schen Versorgung unvorstellbar ist. rade Kinder und Jugendliche sind für grundlegende Ver- haltensänderungen noch offen. Wogegen sich ihre Väter Drei Wege müssen gleichberechtigt gegangen werden: meist sträuben, kann bei der jungen Generation noch Er- erstens Prävention, zweitens Therapie und drittens Imp- folg versprechend umgesetzt werden. Mehr Waisenhäu- fung. ser zu bauen kann nicht die Lösung sein. Diese immen- Am weitesten fortgeschritten sind die Möglichkeiten sen Finanzmittel werden besser in Projekten der Kinder- der Prävention, das heißt: Aufklärung, Verwendung von und Jugendförderung eingesetzt, denn hier können sie, Kondomen und Gebrauch von sterilen Spritzen. Das Um- wie in einem anderen Punkt ihres Antrags ja gefordert, denken in männlich geprägten Gesellschaften kommt nur präventiv wirken und zur Vermeidung der HIV-Verbrei- schwer voran. Gleichwohl liegt in der Prävention zurzeit tung beitragen. Dies ist jedoch schon längst Bestandteil die größte Chance, die Weiterverbreitung in großem Um- der deutschen bilateralen Entwicklungszusammenarbeit fang einzudämmen. Dies zeigt vor allem die Entwicklung des BMZ. Hier tragen Projekte, die Aidsbekämpfung in den westlichen Industrienationen. Dort waren eindeu- nicht im Titel führen, erheblich zur Verbesserung der Si- tig mehr Infektionen befürchtet worden. tuation bei. Ich erinnere Sie gerne nochmals an den An- spruch der deutschen Entwicklungszusammenarbeit, Die Therapie von Aids hat große Fortschritte gemacht. Aidsbekämpfung als Querschnittsaufgabe zu betrachten Sie ist jedoch immer noch sehr teuer, aufwendig und führt 20674 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001

(A) leider noch nicht zur Heilung. Es ist noch nicht abzuse- Erika Reinhardt (CDU/CSU): Innerhalb von weniger (C) hen, wann es Therapien geben wird, die zur definitiven als 20 Jahren ist Aids zur weltweit tödlichsten Infektions- Genesung führen. Die Diskussion um die Kosten von krankheit geworden. Jeden Tag sterben mehr als 8 000 Men- Aidstherapien für die Dritte Welt hat uns alle in den letz- schen an Aids! Jede Stunde infizieren sich fast 600 Men- ten Monaten beschäftigt. Insbesondere die Schaffung der schen und jede Minute stirbt ein Aidskind. Allein in den notwendigen Infrastruktur, die wirtschaftlichen Folgen vergangenen vier Jahren hat sich die Zahl der an der Aids-Pandemie für die Dritte Welt werden uns noch HIV/Aids-Infizierten von knapp 30 Millionen auf über sehr lange beschäftigen. 40 Millionen erhöht. Und wenn man bedenkt, dass Der dritte Weg, die Impfung gegen HIV, ist noch lange 70 Prozent nichts von ihrer Infektion wissen, wird deut- nicht zu Ende. Kein Mensch kann bisher absehen, wann lich, wie alarmierend diese Zeichen sind. uns ein Impfstoff zur Verfügung stehen wird. Jede Debatte im Parlament ist ein Stück Bewusstseins- Es ist also eine stark verkürzte Denkweise, allein oder bildung. Darüber hinaus liegen uns zahlreiche Beschlüsse vor allem auf die Möglichkeit einer Impfung zu setzen. des Bundestages und Aktionspläne der EU vor. Das heißt, Wer dies tut, erzählt den Menschen die Unwahrheit und an Papieren und guten Absichten mangelt es nicht. Aber riskiert unvorstellbares Leid. was ist aus all dem geworden? Wo hat die Bundesregie- rung konkret und fassbar gehandelt? Ich sage noch einmal: Alle drei Wege müssen gleich- zeitig gegangen werden. Das hat natürlich auch einen Frankreich, die USA und Großbritannien haben bereits großen Einfluss auf die Verwendung der bestehenden auf der UN-Sondergeneralversammlung im Juni dieses Ressourcen. Gleichwohl ist selbstverständlich auch die Jahres ihre finanzielle Zusage zum dort beschlossenen Entwicklung eines Impfstoffes von großer Bedeutung, Fonds klar benannt. Die Bundesregierung hat dieses weil einzig die Impfung mittelfristig eine realistische Fondsprojekt bislang werbewirksam verkauft, aber kon- Chance auf einen Schutz vor einer HIV-Infektion bietet. kret wenig getan. Der Kanzler verkündete im Beisein von Es muss allerdings auch gewährleistet werden, dass Impf- Kofi Annan Ende Juni 2001 einen deutschen Beitrag in stoffe für die Dritte Welt erreichbar sind. Höhe von 300 Millionen DM zum Aidsfonds. Alle Zei- tungen haben über diese mit vielen Hoffnungen verbun- Es gibt zurzeit etwa 90 potenzielle Impfstoff-Mög- dene Zusage berichtet. Medienwirksamkeit ist die eine lichkeiten. Es gibt sogar die Aussicht auf einen Mehr- Seite, solide verlässliche Politik aber die andere Seite. fach-Impfstoff, der die Subtypen A und B erreicht. In der Denn wie sollten wir es sonst werten, wenn gerade einmal Bundesrepublik werden zurzeit auch so genannte Aids- sechs Monate nach der Ankündigung des Kanzlers wir Vektor-Vakzine getestet. Sie sollen die Vermehrung des uns alle fragen müssen, wo im Haushalt diese 300 Milli- Erregers im Körper stoppen. Jedoch ist bisher keiner der onen DM eigentlich versteckt sind. (B) Impfstoffe Garant für einen Schutz. Es kann lediglich der (D) Eintritt der Krankheit verzögert werden. Tatsache ist, dass aktuell im BMZ-Etat ein deutscher Beitrag von 10 Millionen Euro ausgewiesen ist. Das sind Der Vorwurf, die Bundesregierung würde sich bei der nach Adam Riese 20 Millionen DM und keine 300 Milli- Impfstoffentwicklung nicht ausreichend engagieren, ist onen DM wie angekündigt. Bundeskanzler Schröder und jedenfalls falsch. Über den Einzelplan 23 wird der Beitrag Sie, Frau Ministerin, werden international an diesen der Bundesrepublik zur Verfügung gestellt – und zwar der 300 Millionen DM gemessen werden. Und wir halten es volle Betrag der zugesagten 300 Millionen DM. Die Ein- besonders in diesem Falle für Ihre moralische Pflicht, die zahlung in den Fonds erfolgt dann, wenn die Struktur und gegebene Zusage einzuhalten. die Arbeitsweise des Globalen Fonds zur Bekämpfung von Aids, Tuberkulose und Malaria – kurz: GFATM – Sicher kann man diesen Fonds auch kritisch betrach- feststehen. Das wird übrigens in allernächster Zeit passie- ten: Sind die Erwartungen zu hoch? Wird es ein bürokra- ren. Es wird den Haushaltsplan 2003 und die Finanzvor- tischer Wasserkopf? Nach welchen Kriterien soll die Mit- ausschau bis 2006 betreffen. In welcher Weise dies pas- telvergabe erfolgen? Wird es eine Selbstverpflichtung der siert, kann erst nach Abschluss der Verhandlungen fest- Länder geben? Oder die ganz konkrete Gefahr, dass bis- gelegt werden. Das BMBF wird ab 2002 ein medizini- lang Mittel der bilateralen Aidsbekämpfung in Zukunft sches Kompetenznetz für zunächst drei Jahre mit 6 Milli- dem Fonds zugeführt werden, weil es einfach werbewirk- onen DM pro Jahr fördern. Darüber hinaus hat das BMBF samer ist, darf man nicht außer Acht lassen. Es darf auch eine Aidsimpfstoff-Initiative mit einem Umfang von nicht passieren, dass dieser Fonds nach den ersten Ein- 50 Millionen in den nächsten fünf Jahren gestartet. Die zahlungen in den folgenden Jahren austrocknet. Das sind Absicht dieser Initiative ist es, Möglichkeiten für eine alles Fragen und Probleme, über die derzeit aktuell in präventive oder eine therapeutische Maßnahme zu finden. Brüssel diskutiert wird. Und ich hoffe im Namen aller Be- Bringt dies Erfolg, kann damit auch die Entwicklung ei- troffenen, dass in diesen Tagen Entscheidungen fallen, die nes endgültigen HIV-Impfstoffes möglich werden. Die wirkliche Fortschritte für die globale Aidsbekämpfung Bundesregierung unterstützt darüber hinaus andere For- sind. schungsvorhaben im Rahmen der institutionellen Förde- In diesem Zusammenhang wiederhole ich eine von uns rung und im Rahmen der Grundlagenforschung. häufig gemachte Forderung: Bei den Regierungsverhand- Ich stelle fest: Das Engagement der Bundesregierung lungen mit den Ländern der Dritten Welt muss das Thema ist sowohl finanziell als auch inhaltlich optimal. Andere Aids ganz oben stehen. Nur wenn es gelingt, bei den Re- Darstellungen sind reine Wichtigtuereien. Ihr Antrag, gierungen ein Bewusstsein dafür zu schaffen, wird es ge- liebe Kollegen von der CDU/CSU, enthält also nichts lingen, die Mauer des Schweigens zu durchbrechen und Neues und ist daher unter obiger Rubrik einzuordnen. zu Erfolgen zu gelangen. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20675

(A) Es ist richtig: Familienplanung, Gesundheit und Aids- Entwicklung eines Impfstoffes für Entwicklungsländer. (C) bekämpfung gehören zusammen. Aber mir fiel auf, dass Hinzu kommen weitere spezielle Forderungen an einen im Haushalt zahlreiche Projekte, die früher in die repro- Impfstoff für Entwicklungsländer. Er muss den spezifi- duktive Gesundheit fielen, heute unter der Überschrift schen Bedingungen in Dritte-Welt-Staaten standhalten HIV/Aidsbekämpfung zu finden sind. Aber dem Kind nur können: Er muss kostengünstig sein, auf die klimatischen einen anderen Namen zu geben, ohne die Mittel zu er- Bedingungen abgestimmt sein und leicht anwendbar, zum höhen, nenne ich Etikettenschwindel. Beispiel eine Schluckimpfung. Ein anderer Punkt ist das Programm mit der Pharmain- Der deutsche Beitrag zur Aidsimpfstoffforschung ent- dustrie zur kostenlosen Abgabe des Aidsmedikaments spricht heute weder der Dringlichkeit des Problems, noch Nevirapin. Wir haben das begrüßt. Aber wie sieht es nach dem wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und politischen einem Jahr der Ankündigungen aus? Das Programm läuft Gewicht Deutschlands. Denn Fakt ist: Ende 2000 ist die mehr als zögerlich, da es in den meisten Staaten – obwohl Bundesförderung für die Aidsimpfstoffforschung ausge- es schon spezifisch ausgesuchte Staaten sind – nicht mög- laufen. Wir fordern deshalb in unserem Antrag die Bun- lich ist, eine Tablette oder einen Tropfen der Medizin an desregierung auf, in der Impfstoffforschung für Entwick- die Frau und das Kind zu bringen, weil noch immer die lungsländer endlich aktiv zu werden. Die Experten sagen notwendigen Infrastrukturen fehlen und vorhandene nicht mir: Wir haben alle Werkzeuge in der Hand, was fehlt, entsprechend genutzt werden. sind die Mittel! Der auf der UN-Sondergeneralversammlung Aids ge- Was wir brauchen, sind: Ein Programm zur Beschleu- fasste Beschluss, die Zahl der Neuinfektionen bis 2015 nigung der Impfstoffentwicklung in Deutschland und ei- um ein Viertel zu senken, ist ein ehrenvolles, aber auch nen angemessenen Beitrag für die internationale Aids- sehr hohes Ziel, wenn man die rapide Ausbreitung von Vaccine-Initiative, die sich der internationalen Forschung HIV/Aids betrachtet. Ich nenne bewusst noch einmal die nach einem Impfstoff für die Entwicklungsländer ver- Zahlen: Jede Stunde infizieren sich fast 600 Menschen. In pflichtet hat. Dafür sind insgesamt 50 Millionen DM not- den vergangenen vier Jahren hat sich die Zahl der an wendig. Genau das fordern wir in unserem Antrag. HIV/Aids-Infizierten von knapp 30 auf über 40 Millionen Die Welt braucht einen Aidsimpfstoff, denn Therapie erhöht. und Prävention entfalten insbesondere in den Entwick- In Anbetracht der aufgezeigten Probleme bei der Ver- lungsländern nur eine sehr begrenzte Wirksamkeit. Es ist abreichung von Nevirapin, angesichts der hohen Zielvor- fünf vor zwölf. Ein südafrikanisches Sprichwort heißt: gaben der UN und vor dem Hintergrund der fast unge- Der beste Zeitpunkt, einen Baum zu pflanzen, war vor hemmten Ausbreitung von Aids in den vergangenen vier 15 Jahren; der zweitbeste Zeitpunkt ist heute! Genau so (B) Jahren muss man ehrlich sagen: Alle bislang ergriffenen verhält es sich mit der weltweiten Aidsepidemie und der (D) Maßnahmen zur Prävention und Therapie sind wichtig Impfstoffentwicklung: Sie zwingt uns alle zum sofor- und notwendig. Aber das Problem lösen können wir nur tigen Handeln. Ich bitte Sie im Interesse aller Betroffe- mit einem wirksamen Impfstoff. Ich bin überzeugt, dass nen über Parteigrenzen hinweg, unserem Antrag zuzu- wir hier alle einer Meinung sind. stimmen! Es muss endlich einmal bewusst werden: In den letzten fünf Jahren hat sich in der Aidsimpfstoffentwicklung Dr. Angelika Köster-Loßack (BÜNDNIS 90/DIE enorm viel getan. Es stimmt schon lange nicht mehr, dass GRÜNEN): HIV/Aids bedroht die öffentliche Gesundheit es unmöglich sei, einen Aidsimpfstoff zu bekommen. Ex- in einem bisher nicht gekannten Ausmaß. Die perten halten es für durchaus realistisch, bis zum Jahre wirtschaftliche, soziale und politische Entwicklung 2007 einen Impfstoff zu implementieren. Die Forschung ganzer Länder und Generationen ist existenziell gefähr- für den Impfstoff in Entwicklungsländern ist weiter, als in det. Dies ist insbesondere in den afrikanischen Ländern Deutschland angenommen wird: Die HIV-Subtypen in südlich der Sahara der Fall. Aber auch in Osteuropa und Entwicklungsländern sind nicht identisch mit den Subty- in Asien in Kambodscha, Indien und in China – breitet pen in Europa und Nordamerika. sich HIV/Aids mit rasanter Geschwindigkeit aus. Die Pharmaindustrie befasst sich aber fast ausschließ- Die WHO erwartet, dass im nächsten Jahrzehnt die Le- lich mit der Suche nach einem Aidsimpfstoff für Europa benserwartung in vielen Ländern südlich der Sahara um und Nordamerika. Hier spielt der wirtschaftliche Anreiz I7 Jahre auf nur 43 Jahren fällt. Mit einer erheblichen An- eine zentrale Rolle. Die Sonderarbeitsgruppe Aids bei der zahl an Aidswaisen erleben diese Länder schon jetzt eine Weltbank hat deshalb zu Recht von einem Marktversagen Gesellschaftskrise. Ohne eine gesunde, arbeitsaktive Be- in der Impfstoffentwicklung gesprochen. Die öffentliche völkerung sind die Aussichten auf eine tragfähige und er- Förderung ist unzureichend und die Anreize für private folgreiche soziale und wirtschaftliche Entwicklung so gut Investoren sind zu gering, da die Märkte in den Entwick- wie nicht mehr vorhanden. lungsländern, in denen die Epidemie ihr größtes Ausmaß Die Dramatik dieser Entwicklung hat UN-Generalse- hat, zu geringe Gewinnerwartungen versprechen. kretär Kofi Annan in diesem Jahr zu einem UN-Aids-Gip- Von allen öffentlichen Geldern, die für die Aids- fel bewogen und die G 8 hat in Genua die Einrichtung ei- bekämpfung weltweit ausgegeben werden, fließen nur nes globalen Gesundheitsfonds zur Bekämpfung von 2 Prozent in die Impfstoffentwicklung, von diesen 2 Pro- HIV/Aids, Malaria und Tuberkulose beschlossen. Es ge- zent wiederum nur ein verschwindend geringer Teil in die schieht also etwas, und die Bundesregierung beteiligt sich 20676 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001

(A) daran. 300 Millionen DM wurden für den Fonds vorgese- zuhalten und den globalen Gesundheitsfonds schnell und (C) hen. Dies ist ein erster bedeutender Schritt, um einen in- mit ausreichenden Mitteln einzusetzen. Daneben muss ternationalen Fonds mit anfänglich 1,5 Milliarden US- der Zugang zu lebensnotwendigen Medikamenten billiger Dollar einzurichten. Wichtig ist, dass der Fonds werden. Nur ein Bündel von verschiedenen Maßnahmen – vielleicht noch dieses Jahr – als globaler Fonds mit ei- kann der weiteren Ausbreitung dieser Krankheiten Ein- ner tragfähigen Struktur eingerichtet wird und dass dann halt gebieten. Vor Ort kann an wichtige Piloterfahrungen die versprochenen Gelder auch zügig eingezahlt werden. der deutschen Entwicklungszusammenarbeit angeknüpft Der vorgesehene deutsche Beitrag befindet sich in einer werden, zu denen modellhafte Maßnahmen wie die Ver- vergleichbaren Höhe mit anderen europäischen Ländern hinderung der Übertragung des Virus von Müttern auf und stellt etwas über 9 Prozent des Gesamtvolumens dar. Neugeborene in Sub-Sahara Afrika gehören. HIV/Aids, aber auch andere Krankheiten wie Malaria und Tuberkulose – und dies möchte ich hier noch einmal Ina Albowitz (FDP): Die Immunschwächekrankheit ganz besonders hervorheben, weil wir uns um diese Aids hat sich zu einer der größten Epidemien in der Ge- Krankheiten bisher viel zu wenig gekümmert haben – be- schichte der Menschheit entwickelt. Damit gehört die drohen die internationale Gesundheit als ein globales öf- Bekämpfung des HIV-Virus zu einer der Herausforderun- fentliches Gut. Mittelfristig hat sich die internationale Ge- gen des 21. Jahrhunderts. meinschaft darauf verständigt, die Zahl der TB- und die Die FDP beschäftigt sich seit langem intensiv mit die- Malariatodesfälle um 50 Prozent zu verringern. Die An- sem Thema, was sich zuletzt sowohl in Form eines Antra- zahl der HIV/Aids infizierten Menschen im Alter von 25 ges vom 4. Juli – Drucksache 14/6623 – als auch in Form und jünger soll um 25 Prozent gesenkt werden. Um dies einer Kleinen Anfrage vom 13. November – Drucksache zu erreichen, ist ein gut ausgestatteter und gut funktionie- 14/7516 – dieses Jahres an die Bundesregierung zur Un- render Gesundheitsfonds notwendig. Zu den anfänglich terstützung des Global Aids and Health Fund der Verein- 1,5 Milliarden Dollar werden erhebliche neue Beträge ten Nationen ausdrückte. Dabei ist die zunehmende Sorge hinzukommen müssen. um die Vernachlässigung durch die Bundesregierung bei Dies kann aber nicht der einzige Beitrag zur Bekämp- gleichzeitiger Verschärfung der Situation das eigentliche fung dieser Krankheiten sein. Vor allem die Pharmaunter- Problem bei uns. nehmen sind gefordert, auch einen essenziellen Beitrag zu Von weltweit 36 Millionen infizierten Menschen leben leisten. Die Erforschung von Impfstoffen muss intensi- 25,3 Millionen in den Ländern südlich der Sahara. In viert und gefördert werden und in den Entwicklungslän- Asien breitet sich die Immunschwächekrankheit vor al- der selbst, vor Ort, müssen infrastrukturelle Bedingungen lem in Indien und Kambodscha immer schneller aus: Al- geschaffen werden, sodass vorbeugende Maßnahmen (B) leine in Indien sind fast 4 Millionen Menschen infiziert. (D) greifen können und ein besserer Zugang zu Medikamen- Und die Krankheit scheint weiter um sich zu greifen. ten und Gesundheitsversorgung gewährleistet werden kann. Lebensverlängernde und lebensrettende Medika- Ein weiteres Land, welches sich in den letzten zehn Jah- mente gegen HIV/Aids sind von zentraler Bedeutung im ren extrem verändert hat, ist China. Marktöffnung führt Kampf gegen die Ausmaße der Krankheit. Bei der WTO- langsam zur gesellschaftlichen Öffnung. Neben der über- Ministerkonferenz in Doha wurden hinsichtlich des wiegend positiven wirtschaftlichen Entwicklung machen TRIPS-Abkommens Zugeständnisse an diejenigen Län- sich auch negative Auswirkungen bemerkbar: Alle 31 chi- der signalisiert, die einen nationalen Notfall im Bereich nesischen Provinzen haben Aidsfälle gemeldet. Anfang der öffentlichen Gesundheit nachweisen können. Damit des Jahres 2000 hatten sich bereits 1,4 Millionen Chinesen soll es erlaubt sein, die restriktiven und teilweise mono- mit dem Virus infiziert. Angesichts einer Population von polistischen Patentregeln in Einzelfällen aufzuheben und 1,2 Milliarden Menschen handelt es sich noch um einen billigere Kopieprodukte in den Entwicklungsländern geringen Anteil, könnte man meinen. Betrachtungen der selbst herzustellen. Im Falle, dass die Länder nicht über letzten zehn Jahre haben jedoch ergeben, dass die Anzahl eine eigene Pharmaindustrie verfügen, sind die Möglich- der mit dem HIV-Virus Infizierten von 5 800 Chinesen im keiten für den Import von Generika verbessert worden. Jahr 1985 auf 836 000 im Jahr 2000 angestiegen ist. Sollte Diese Resultate sind als sehr positiv zu bewerten. sich Aids in China mit dieser konstanten Geschwindigkeit weiter verbreiten, dann würde im Jahre 2010 ein Großteil Es besteht jedoch weiterhin Unklarheit über viele Teil- der chinesischen Bevölkerung mit dem Virus infiziert bereiche, zum Beispiel ab wann von einem Notfall die sein. Rede sein kann, der US-amerikanische Vorstoß, aufgrund weniger Milzbrandfälle den nationalen Notstand ausrufen Ähnlich verhält es sich in Osteuropa. Dort haben Dro- und existierende Patentregeln außer Kraft setzen zu wol- genkonsum und ungeschützter Geschlechtsverkehr zu ei- len, entfachte heftige Kontroversen. Außerdem bestehen nem rasanten Anstieg von HIV-Infektionen gerade bei Zweifel daran, ob die Signale der WTO-Tagung aus- jungen Menschen geführt. Diese Entwicklung hat gravie- schließlich für die in der Ministererklärung aufgezählten rende Folgen für unsere Gesellschaft, Politik und Wirt- Krankheiten gelten. schaft. Die wirksame Bekämpfung von HIV/Aids, Malaria Vor allem Kinder und Jugendliche leiden unter den und Tuberkulose stellt für die internationale Gemein- Auswirkungen der Epidemie, da sie häufig infiziert gebo- schaft also eine mehrfache Herausforderung dar: Es gilt ren werden und damit gar nicht erst das Erwachsenenalter nun für alle Akteure, die ursprünglichen Versprechen ein- erreichen oder schon früh verwaisen. Bei genauerer Be- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20677

(A) trachtung fällt zusätzlich auf, dass Frauen und Mädchen Meine Kritik bezieht sich aber vor allem auf Punkt 6. (C) besonders gefährdet sind. Unter jungen Menschen zwi- 50 Millionen DM sollen danach in einen Extra-Titel im schen 15 und 24 Jahren ist der Anteil der infizierten Einzelplan 23 eingestellt werden. Auch daran ist zunächst Mädchen und Frauen doppelt so hoch wie der ihrer männ- nichts auszusetzen. Wenn dann aber 30 Millionen DM da- lichen Altersgenossen. Allein im südlichen Afrika leben von in die einheimische Forschung fließen sollen und nur 12,2 Millionen infizierte Frauen im Vergleich zu 10,1 Mil- 20 Millionen in die International Aids Vaccine Initiative lionen infizierten Männern. Eine der Ursachen hierfür (IAVI), dann kann ich das nur mit Unverständnis zur liegt oft in den nicht vorhandenen Kenntnissen über Ver- Kenntnis nehmen. Waren es doch nicht zuletzt unsere hütungsmaßnahmen oder in der mangelnden Verfügbar- Pharmakonzerne, die Ihre Patente dazu benutzen wollten, keit von Kondomen. Für die deutsche Entwicklungspoli- den armen Staaten und Kranken des Südens immense Me- tik bedeuten diese Feststellungen, dass Hilfsmaßnahmen dikamentenpreise abzuzwingen. Wer die nicht bezahlen dringend und nachdrücklich verstärkt werden müssen. konnte oder kann, so die Logik dieses Vorgehens, der bleibt halt auf der Strecke. Sie werden verstehen, dass ich Genau an dieser Stelle setzt auch der Global Aids and nicht viel davon halte, diesen Firmen nun auch noch wei- Health Fund der Vereinten Nationen mit dem Ziel an, die tere Marktvorteile mittels öffentlicher Subventionen zu Immunschwächekrankheit Aids bis 2015 zu stoppen. Mit verschaffen. Viel besser wären diese Mittel für eine be- 300 Millionen DM steht die Bundesregierung hier bereits darfsorientierte öffentliche Forschung, am besten in ei- im Wort. Besonders wichtig ist die finanzielle Unterstüt- nem internationalen gesundheitspolitischen Rahmen, ein- zung der pharmazeutischen Forschung, damit ein wirksa- gesetzt. Denn nur der, der die Behandlung von Kranken mer Impfstoff gegen das HI-Virus entwickelt werden im Mittelpunkt seiner Forschungs- und Firmenaktivitäten kann. Internationale Zusammenarbeit von staatlichen, in- hat und nicht allein seine Marktdominanz und seine Pro- dustriellen und privaten Organisationen ist die Grundlage fite, kann, ja darf Partner der öffentlichen Entwicklungs- für den Erfolg auf diesem Gebiet. zusammenarbeit gegen HIV/Aids sein. Schließlich sind es Rot-grüner Kurzsichtigkeit entspricht allerdings die Steuergelder, über die wir hier entscheiden sollen. Tatsache, dass dieser notwendigen Maßnahme im Zusam- Das Medikament Nevirapine für die Behandlung HIV- menhang mit dem Fonds keine Rechnung getragen wird. infizierter schwangerer Frauen sollte gänzlich kostenfrei Wie sonst ließe sich erklären, dass keine Gelder aus dem gestellt werden. Es geht jetzt darum, den im März erziel- Fonds für Forschungszwecke bereitgestellt werden? Soll ten Spielraum bei der Lockerung der Patentrechte zu nut- das ehrgeizige Ziel, Aids bis 2015 zu stoppen, erreicht zen. Aber auch davon ist leider nichts zu lesen. Deshalb werden, muss die Bundesregierung einerseits ihren Ver- hoffen wir, im Rahmen der Beratungen den einen oder an- sprechungen nachkommen und die 300 Millionen DM in deren Punkt noch zu verändern. den Fonds einzahlen. Andererseits muss sich die Bundes- (B) regierung aber auch für die finanzielle Unterstützung der (D) pharmazeutischen Forschung aus Fondsgeldern stark ma- Anlage 6 chen. Nur die Kombination aus Projekten zur Bekämp- fung der Ausdehnung von Aids und der zukunftsorientier- Zu Protokoll gegebene Reden ten pharmazeutischen Forschung kann zum von den Vereinten Nationen angestrebten und wünschenswerten zur Beratung der Anträge: Ziel führen. – Globale Strategie gegen Wassermangel als inter- nationales Konfliktpotenzial Carsten Hübner (PDS): HIV/Aids ist unbestritten – Wasser als öffentliches Gut und die Bedeutung eine der größten Herausforderungen, vor denen viele von Wasser in der deutschen Entwicklungszu- Entwicklungsländer derzeit stehen – insbesondere in sammenarbeit Schwarzafrika und in Südostasien. 25 Millionen der welt- weit rund 36 Millionen HIV-Infizierten leben allein im (Tagesordnungspunkt 15 a und b) südlichen Afrika. Jährlich kommen noch immer mehrere Millionen dazu. Die PDS-Fraktion begrüßt deshalb Dagmar Schmidt (Meschede) (SPD): Heute möchte zunächst den Antrag von CDU/CSU – jedoch nicht ohne ich Sie mit einem trockenen, ernsten Thema kon- hinzuzufügen, dass die PDS vor einigen Monaten bereits frontieren, mit einer zentralen Zukunftsfrage: der Versor- einen Entschließungsantrag zu dieser Thematik und ins- gung der Menschen mit sauberem Trinkwasser. besondere zu Aidsmedikamenten eingebracht hat, der je- doch von allen anderen Fraktionen dieses Hauses abge- Ein trockenes, ernstes Thema? Alles in allem ist Was- ser in unserem Bewusstsein doch eher mit Spaß besetzt. lehnt wurde. Bei viel Zustimmung können wir dennoch Nur – wenn wir über den Tellerrand schauen, über be- nicht alles teilen, was Sie in Ihrem Antrag formuliert ha- stimmte Fakten nachdenken, die globale Zukunftsverant- ben. In Punkt 3 des Forderungsteils haben Sie zum Bei- wortung in den Blick nehmen, dann wird es ernst, bitter- spiel einen „konkreten“ Beitrag im Aidsfonds für die Be- ernst. treuung von Aidswaisen gefordert. Sie haben Recht, aber was bedeutet konkret? So wie Sie es formuliert haben, be- Einige trockene Fakten: Ein Fünftel der Menschheit deutet es rein gar nichts. Weder geben Sie an, wie hoch die hat heute schon keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser. Mittel sein sollen noch sagen Sie, welche konkreten Kassandra-Prognosen sehen diese Zahl bis 2050 auf ein Schritte folgen müssen. Das Wörtchen „konkret“ hätten Viertel anwachsen. Bevölkerungswachstum, Verstädte- Sie sich deshalb auch sparen können. rung, marode Leitungen, Verschmutzung, Übernutzung 20678 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001

(A) des Grundwassers, fortschreitende Wüstenbildung, ineffi- Zahlreiche Entwicklungsländer zeigen Erfolg verspre- (C) ziente Bewässerungslandwirtschaft – Gründe kennen wir chende Ansätze regionaler Wasserkooperation: die Nilan- reichlich! rainerstaatenkonferenz im September 2001 in Bonn, das gemeinsame Abkommen zwischen Pakistan und Indien Schon heute ist bakteriell verseuchtes Trinkwasser die zur Nutzung des Indus, Ansätze kooperativer, grenzüber- Hauptursache für oft tödlich verlaufende Krankheiten. schreitender Gewässernutzung im Nahen Osten. Das alles Zwei Millionen Menschen fallen ihnen jährlich zum Op- macht Hoffnung. fer, die überwiegende Mehrzahl davon sind Kinder unter fünf Jahren. Zahlreiche Millionenstädte verfügen über Auch von der Bonner Wasserkonferenz gehen wichtige keine oder nur unzureichende Abwassersysteme und Hoffnungssignale in die Welt: Kläranlagen. Was das für die Umwelt bedeutet, muss ich Erstens. Die Wasserproblematik ist einmal mehr in das Ihnen nicht sagen! Bewusstsein der Menschen gerückt. Die Hauptleidtragenden sind wieder einmal Frauen. Zweitens. Die Konferenz hat den Boden für Johannes- Zehn Kilometer lange Wege zum Wasserholen sind keine burg und das dritte Weltwasserforum in Japan bereitet. Seltenheit. Die Frauen könnten diese Zeit produktiver nutzen, zum Beispiel für die eigene Aus- und Fortbildung. Drittens. Selbst die Opposition hat mit einem kleinen Antrag zur Wasserfrage ihre Kooperation signalisiert. Wassermangel und Dürrekatastrophen verhindern die Entwicklung ganzer Regionen. Bereits 1990 stellte der Die Bundesregierung allerdings hat die Wasserfrage zu damalige UN-Generalsekretär Boutros-Boutros Ghali einem Schwerpunktthema gemacht. Das ist konkrete Frie- fest, Wasser werde in Zukunft so kostbar sein wie Öl. Als dens- und Präventionspolitik. Deutschland ist im Wasser- Ägypter weiß er, wovon er spricht. Rund 300 Millionen sektor mit bis zu 800 Millionen DM jährlich der größte Menschen hängen an der Lebensader Nil. In 20 Jahren europäische Geber. Aber Geld allein sagt nichts. Neben wird sich diese Zahl verdoppelt haben. der politischen Dimension müssen auch die ökologischen, ökonomischen und sozialen Aspekte globaler Struktur- Wenn dann der Sudan und Äthiopien einen größeren verantwortung beachtet werden. Anteil des Nilwassers für ihre geplanten Staudammpro- jekte einbehalten, gerät das seit 1959 verlässliche Nil- Die ökologische Dimension der Wasserfrage liegt in wasserabkommen ins Wanken. Heute schon sind die är- der nachhaltigen Bewirtschaftung. Die Kreislaufwirt- meren, an entfernteren Feldkanälen liegenden Fellachen schaft beim Wassermanagement folgt diesem Prinzip. Ge- gezwungen, ihre Felder mit salzhaltigem Drainagewasser genwärtig gehen 70 Prozent des weltweiten Süßwasser- zu versorgen und manchmal nehmen sie das nicht mehr verbrauchs auf die Landwirtschaft zurück. Hier liegen (B) gelassen hin. erhebliche Einsparpotenziale. Die „World Commission (D) on Dams“ hat Empfehlungen für die Prüfung von In der Türkei und in China sind durch gigantische Stau- Staudammprojekten erarbeitet, die endlich Gehör finden dammprojekte – mit all ihren sozialen und ökologischen müssen. Wie viele Konferenzen sind denn noch nötig, um Auswirkungen – regionale und innenpolitische Konflikte diese Erkenntnisse in die Köpfe von Entscheidungsträ- vorprogrammiert. Soziale Gemeinwesen werden durch gern im Norden und Süden zu transportieren? Umsiedlungen von Menschen in oft unvorstellbarer Größenordnung zerstört, Kulturlandschaften unwieder- Die ökonomische Dimension wirft die Frage nach der bringlich überflutet. Anrainer der unteren Flussläufe müs- Finanzierung auf. Ihr Antrag fordert ganz lapidar ausrei- sen mit weniger Wasser und damit einhergehend schlech- chende Mittel. Was ausreichend wäre, ist allen längst be- terer Qualität auskommen, von den nicht vorhersehbaren kannt: 180 Milliarden US-Dollar – jährlich! Mehr als das Auswirkungen auf die ökologischen und oft auch ökono- Doppelte des derzeitigen Finanzvolumens. Können Sie mischen Strukturen ganz zu schweigen. mir sagen, woher das Geld kommen soll? Lassen Sie Ihre Fantasie spielen und nicht nur Ihre omnipotenten An- Und wenn einer ganzen Stadt wie Sanaa das Wasser tragsmuskeln! ausgeht? In den letzten 30 Jahren ist diese Stadt zu einer Millionenstadt angewachsen, die ihre Wasser- und Ab- Allein durch staatliche Entwicklungspolitik sind die wasserprobleme nicht in den Griff kriegt. Nur 40 Prozent fehlenden 100 Milliarden US-Dollar nicht aufzubringen. der Bewohner sind an die öffentliche Versorgung ange- Kann es also ohne verantwortungsvolle Partnerschaft mit schlossen. Der Rest muss sich über Tankwagen mit ge- der Wirtschaft eine Lösung geben, eine Lösung, die den sundheitlich bedenklichem Wasser eindecken. Fäkalien Grundsatz beachtet, dass Wasser als öffentliches Gut nicht werden hauptsächlich über Sickergruben entsorgt. Die privatisierbar ist? knappen Grundwasservorkommen, aus denen sich jetzt Trinkwasser ist wie Atemluft lebensnotwendig. Die noch manche Privatbrunnenbesitzer versorgen, sind da- Grundversorgung mit sauberem Trinkwasser muss ge- mit in naher Zukunft unbrauchbar. Wer kann sich bei uns währleistet sein. Gestärkte, transparente staatliche Institu- eine solch hoffnungslose Situation vorstellen? tionen müssen – und sie tun es in den Entwicklungslän- Aber ohne Hoffnung kann man nicht leben. Es ist mög- dern bereits – im Einzelfall entscheiden, inwieweit die lich, durch regionale Kooperationen gemeinsame Lösun- Einbindung privater Investoren sinnvoll ist. Sie ist weder gen für die Nutzung grenzüberschreitender Gewässer zu unkalkulierbare Gefahr noch Allheilmittel. Alles in allem finden. So werden Konfliktpotenziale zu Entwicklungs- müssen Gebührenerhebungen den sozialen Verhältnissen potenzialen. Rechnung tragen. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20679

(A) Mit weiblichen Fachkräften, die eine größere Sensibi- an die Börse! Wasser als Handelsgut und von wenigen be- (C) lität gegenüber frauenspezifischen Problemen beim Um- herrscht – und wir Deutschen gehen mal wieder ganz gang mit Wasser erwarten lassen, gelingt es wohl eher, die vorne weg. Ein Vertreter der CDU im EU-Parlament ist lokale Bevölkerung einzubeziehen und somit die Nach- zurzeit der lauteste Rufer. Wenn es nach ihm ginge, hätte haltigkeit zu gewährleisten. das EU-Parlament schon längst beschlossen, dass die Wasserwirtschaft nur noch in private Hände gehört und je- Kommen wir nun zur sozialen Dimension. Wasser und der, der es wünscht, irgendwo einen Brunnen bohrt und Armut sind zwei Seiten ein und derselben Medaille. Wer das gewonnene Wasser in eine Sammelleitung einspeist. in Entwicklungsländern arm ist, hat keinen Zugang zu Diese Vorstellung ist jedoch so weit von jeglicher lokalen sauberem Trinkwasser, muss oft genug sein Wasser an der Agenda-Diskussion entfernt wie der Teufel vom Weih- Strasse zu überhöhten Preisen kaufen. Bis zum Jahr 2015 wasser. wollen wir die Armut in der Welt halbieren. Der Schlüs- sel dafür ist der Zugang zu sauberem Trinkwasser. Das Wasser ist kein beliebig handelbares Gut, nicht hier bei Engagement der Bundesregierung im Wassersektor ist uns und auch nicht anderswo. Uns muss allen klar sein, also Armutsbekämpfung par excellence. Dezentralisie- dass unser Umgang mit Wasser natürlich Auswirkungen rung, eigenverantwortliche Bewirtschaftung und Nutzung auf die anderen Regionen der Welt haben wird. Wir müs- traditionellen Wissens sind die Grundpfeiler dieser Poli- sen unseren Beitrag zu diesem für uns alle lebenswichti- tik. So wird die Zivilgesellschaft gestärkt und fit gemacht gem Thema leisten, indem wir unser Knowhow in den für den Politikdialog in Fragen regionaler Kooperation. Fragen „Wie schützen wir unser Wasser?“, „Wie bereiten wir unser Trinkwasser auf?“, „Wie behandeln wir unser Ich lade Sie ein, in der Wasserfrage mit uns gemeinsam Abwasser“ weitergeben. globale Verantwortung zu tragen für eine weitsichtige Entwicklungspolitik. Hier liegt das Potenzial und die Aufgabe für uns, Tech- nologien zu entwickeln und zu erproben, die an die natür- lichen und sozialen Bedingungen anderer Regionen ange- Petra Bierwirth (SPD): Ein Entspannungsbad am passt sind: innovative Technologien und Strategien, die Abend, nach dem wohlverdienten Feierabend. Eine Du- Städte und Regionen in die Lage versetzen, ihre Wasser- sche morgens für den Start in einen ereignisreichen Tag. infrastruktur aufzubauen, die vor allem die Menschen Ein oder zweimal im Jahr in den Urlaub. Äpfel aus Italien dauerhaft mit sauberem Trinkwasser versorgt, die das Ab- oder Neuseeland, zwei Autos, ein Haus und ein Berg von wasser sicher entsorgt. Das ist vorsorgendes und nachhal- Geschenken unterm Weihnachtsbaum. – Lebensqualität tiges Handeln. Hier eröffnen sich Chancen für deutsche nennen wir das. Unternehmen, ganz gleich, ob kommunale oder private. (B) Dafür verwenden und verbrauchen wir, circa 20 Pro- Hier liegt unser Beitrag zum Vermeiden von Krisen, zum (D) zent der Menschen der westlichen Wohlstandsgesell- Erhalt des Friedens. schaft, 80 Prozent der natürlichen Ressourcen. Dazu gehört auch das Wasser. Scheinbar können wir mit diesem Kurt-Dieter Grill (CDU/CSU): Vom 3. bis zum 7. De- Gut ja sorgloser umgehen als andere. Wir haben ja genug zember 2001 hat in Bonn die Internationale Süßwasser- davon. Für mich ist dies eine trügerische Sicherheit. konferenz im Sinne einer weltweit nachhaltigen Wasser- Bedenkt man, dass sich 60 Prozent der nutzbaren versorgung stattgefunden. Mit ihrem Empfehlungskata- Trinkwasserreserven in nur zehn Staaten befinden, kann log für die „Rio-plus-zehn“-Konferenz der Vereinten Na- ich Herrn Töpfer nur zustimmen, der vor noch nicht allzu tionen in Johannesburg im nächsten Jahr haben die langer Zeit sagte: „Die Frage, wie wir auf der Welt mit 2 300 Teilnehmer aus 145 Staaten ein Zeichen für eine ge- dem Wasser umgehen, wird an vielen Orten über Krieg rechtere Wasserversorgung auf der Welt gesetzt. Die und Frieden mitentscheiden“. Allerdings ist für mich der CDU/CSU dankt den teilnehmenden Staatsvertretern für Konflikt auf dem Feld der Trinkwasserversorgung schon die konstruktive und engagierte Arbeit. Die Union be- längst ausgebrochen, genauso wie auf dem Feld der Fi- grüßt darüber hinaus außerordentlich die Ergebnisse der nanzen und Gewinne. 600 Milliarden Dollar müssen nach Bonner Verhandlungen. Schätzungen der Weltbank in den nächsten zehn Jahren Die Internationale Süßwasserkonferenz hat die Bedeu- investiert werden, um die Wasserver- und Abwasserent- tung des Wassers als lebenswichtige und knappe Res- sorgung allein nur in den Entwicklungsländern zu sichern. source, aber auch als Konfliktpotenzial klar herausge- Kein Staat, keine Kommune, keine Stadt wird das allein stellt. Der Zugang zu sauberem Trink- und geeignetem realisieren können. Dazu wird natürlich die Zusammenar- Sanitärwasser, über den rund 2 Milliarden Menschen beit mit privaten Unternehmen erforderlich sein. Diese nicht verfügen, muss vor dem Hintergrund von Friedens- Zusammenarbeit muss aber die Menschen vor Ort mit ein- sicherung sowie wirtschaftlicher und sozialer Entwick- beziehen. Diese Zusammenarbeit muss ins flache Land lung ein zentraler Ansatzpunkt einer internationalen hineinreichen und nicht nur die lukrativen Ballungsräume Nachhaltigkeitsstrategie sein. Diese Dramatik wird noch umfassen – eine Zusammenarbeit also ganz im Sinne der zusätzlich dadurch verschärft, dass auch circa zwei Milli- lokalen Agenda. Leider sehe ich eine solche Entwicklung arden Menschen keinen Zugang zu Energie haben. Die zurzeit nicht gegeben. Bereitstellung von Wasser und Energie gehört neben der In meinen Augen soll die Wasserwirtschaft nach den Verfügbarkeit von Nahrung zu den existenziellen Fragen Vorstellungen einiger weniger ganz andere Wege be- der Menschheit und damit zu den Grundfragen einer stän- schreiten: weg von der kommunalen Mitsprache und ran dig wachsenden Weltbevölkerung: Die Teilnehmer der 20680 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001

(A) Internationalen Süßwasserkonferenz in Bonn haben inso- Welt um den Rio Grande, Colorado, vor allem aber in (C) fern gute Voraussetzungen für die Beratungen zur Was- Asien: So birgt das Wasser des Indus explosiven Kon- serproblematik in Johannesburg im kommenden Jahr ge- fliktstoff zwischen Indien und Pakistan. Gleiches gilt für schaffen, darüber hinaus aber auch einen eindeutigen das Wasser des heiligen Flusses Ganges. Das war bereits Auftrag erteilt. mehrfach Ursache für einen Eklat zwischen Indien und seinem östlichen Nachbarn Bangladesch. Die CDU/CSU wird durch die Ergebnisse der Süßwas- serkonferenz in ihrer Politik bestätigt. Sie hat bereits sehr Wasserknappheit ist auch die größte Gefahr für das früh und mit Nachdruck auf das Konfliktpotenzial der in- südliche Afrika. In zehn bis 30 Jahren könnten acht Staa- ternationalen Wasserversorgung hingewiesen und dieser ten in der Region extrem bedroht sein, sofern sich nicht Tatsache mit der Verknüpfung von außen- und sicher- ein solides Wassermanagement durchsetzt. Gesteigert heitspolitischen mit umwelt- und energiepolitischen Kon- wird das Konfliktpotenzial des Wassers nicht nur durch zepten Rechnung getragen. Die Ereignisse vom 11. Sep- unausgewogene machtpolitische Entscheidungen, son- tember haben die Relevanz einer weitsichtigen und dern vor allem auch durch das hohes Bevölkerungs- umfangseichen Gesamtbetrachtung von außen-, sicher- wachstum. Das bringt einen höheren Wasserbedarf mit heits-, umwelt- und entwicklungspolitischen Fragestel- sich und hat somit somit bereits existente Konflikte ver- lungen erneut unterstrichen. schärft. In dem Antrag „Globale Strategie gegen Wassermangel Das andauernde Bevölkerungs- und Wirtschaftswachs- als internationales Konfliktpotenzial“, der dem Deut- tum wird das Wasser im nächsten Jahrhundert auf jeden schen Bundestag in Verbindung mit dem Antrag von SPD Fall zum Thema Nummer eins machen. Experten aus ver- und Bündnis 90/Die Grünen „Wasser als öffentliches Gut schiedenen Weltinstituten gingen schon Ende der 80er- und die Bedeutung von Wasser in der deutschen Entwick- und Anfang der 90er-Jahre davon aus, dass in Zukunft das lungszusammenarbeit“ heute zur Beratung vorliegt, stellt Wasser die frühere Rolle des Erdöls als Konfliktgrund die Union daher fünf zentrale Forderungen mit Blick auf übernehmen würde. die „Rio-plus-zehn“-Konferenz in Johannesburg 2002 Nun zum Thema: Wege aus der Wasserkrise. Viele auf. Wasserreserven sind aufgebraucht, verschmutzt oder rei- Die Union spricht sich für die zügige Entwicklung ei- chen nicht mehr aus, um die wachsende Nachfrage nach ner globalen Strategie mit konkreten Aktionsprogrammen Süßwasser zu decken. Mit technischen Mitteln allein, für die nachhaltige Wasserpolitik im Rahmen der interna- zum Beispiel durch Meerwasserentsalzung, kann das Pro- tionalen Staatengemeinschaft aus. Unverzichtbar ist blem der unzureichenden Wasserversorgung langfristig ferner ein umfangreicher Know-how- und Kapital-Trans- nicht gelöst werden. Eine zukunftsfähige Wassernutzung (B) fer im Sinne einer effizienten Wasserbewirtschaftung in muss sich daher an den vorhandenen und erneuerbaren (D) Regionen ohne ausreichenden Zugang zu Süßwasser. Von Wasserressourcen orientieren. Internationale Vereinba- elementarer Bedeutung ist für die CDU/CSU darüber hi- rungen sind notwendig, um Konflikte um Wasser zu ent- naus die Entwicklung von Vorsorgestrategien und Kri- schärfen. senmanagement bei Dürre und Hochwasserereignissen. Wasser ist ein Schlüssel zur nachhaltigen Entwicklung. Die Stärkung der deutschen Verantwortung im Rahmen Nachhaltige Entwicklung ist für uns in allen drei Dimen- einer koordinierten und engagierten EU-Außenpolitik sionen bedeutsam: in der ökonomischen, der sozialen wie stellt eine weitere Forderung in unserem Antrag dar. auch in der ökologischen Dimension. Ohne Fortschritte Schließlich gilt es das internationale Wasserrecht im bei der Armutsbekämpfung werden sich viele Länder den Sinne einer verbindlichen Wassercharta sowie Streit- Umweltschutz nicht leisten können. Umgekehrt werden schlichtungsmechanismen im Rahmen einer zu stärken- wirtschaftlich leistungsfähige Gesellschaften ohne den UNEP weiterzuentwickeln. Gerade die Wasserfrage Beachtung der Grenzen des Ökosystems Erde und der Re- unterstützt alle Bestrebungen zum Aufbau einer wir- generationsfähigkeit natürlicher Ressourcen nicht zu- kungsvolleren „Global Governance“ und macht eine in- kunftsfähig sein. Die Einsicht, dass kein Land zu wirt- tensive Beteiligung Deutschlands im Rahmen der inter- schaftlichem Wohlstand kommen kann, wenn es Raubbau nationalen Staatengemeinschaft im Sinne einer an der Umwelt betreibt oder eine tiefe soziale Spaltung nachhaltigen Entwicklung dringend erforderlich. zulässt, hat in den vergangenen Jahren an Unterstützung gewonnen. Joachim Günther (Plauen) (FDP): „Wo das Wasser Nun zu den Globalen Strategien. Gravierender als die endet, endet auch die Welt“ – sagt ein Sprichwort aus den Misswirtschaft bei der Wasserversorgung in Entwick- Wüstenregionen Usbekistans. Dort, wo Wasserressourcen lungsländern ist die Vergeudung von Wasser in der Land- knapp sind, sind auch Nutzungskonflikte vorhersehbar. wirtschaft. Die meisten Entwicklungsländer halten an „Der nächste Krieg in der Region des Nahen Ostens dem politischen Ziel einer nationalen Selbstversorgung wird nicht um Öl, sondern um Wasser geführt werden“, mit Grundnahrungsmitteln fest. Dies führt jedoch zu ei- prophezeite der vormalige UN-Generalsekretär Boutros- nem unverantwortlichen Ausbau der Bewässerungsland- Boutros Ghali mit Blick auf den Nahen Osten. Nicht nur wirtschaft durch die subventionierte Bereitstellung von Israel und Jordanien liegen im Streit um das Wasser des Wasser oder durch Einfuhrhemmnisse für Agrarprodukte. Jordan, sondern auch die Türkei ist wegen des Euphrat- Eine verantwortungsvolle Problemanalyse muss daher zu und Tigriswassers mit dem Irak und Syrien im Konflikt. dem Schluss kommen, dass die Liberalisierung des Welt- Parallele Auseinandersetzungen finden sich in der neuen handels mit Nahrungsmitteln einen entscheidenden Bei- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20681

(A) trag zur Entschärfung regionaler Wasserknappheit liefern Naturschutzverbände, Gewerkschaften, aber auch Klaus (C) kann. Hier ist insbesondere die Europäische Union in der Töpfer als Chef des UNO-Umweltprogramms kritisch Pflicht, noch bestehende tarifäre und nicht tarifäre Han- zum privatwirtschaftlichen Engagement in diesem exis- delshemmnisse zu beseitigen. tenziellen Bereich der Entwicklungszusammenarbeit geäußert haben. Denn Liberalisierung und Privatisierung Parallel zu einer Reform der Agrarlandwirtschaft und einer Erhöhung des Einsparpotenzials müssen auch die führen weltweit zu einem Verlust der demokratisch legiti- sich aus einer Beteiligung der Privatwirtschaft ergeben- mierten Kontrolle, begünstigen die Monopolbildung und den Potenziale für eine Verbesserung der Trinkwasserver- verstärken die Abhängigkeit von ausländischen Kapital- sorgung genutzt werden. Auch hierzu ist in dem rot-grü- gebern. Internationale Konzerne sind ganz wesentlich an nen Antrag außer dem obligatorischen Verweis auf den Filetstücken interessiert, etwa in den Mega-Städten. öffentlich-private Partnerschaften nichts zu finden. Ge- Zur ländlichen Entwicklung werden sie jedoch keinen rade die Privatwirtschaft kann einen ganz wesentlichen Beitrag leisten. Machen wir uns nichts vor! Beitrag zur Entlastung des Wasserproblems leisten, wenn Bei etwa 1,2 Milliarden Menschen ohne Zugang zu ihr hierfür ausreichend Investitionsanreize geboten wer- sauberem Wasser zu erschwinglichen Preisen ist es Auf- den. Die erwähnte DIE-Studie zeigt, dass die wenigen gabe der öffentlichen Entwicklungskooperation, dieses Beispiele privat betriebener städtischer Wasserversor- Feld nicht den Geschäftemachern zu überlassen. Wasser gung in Entwicklungsländern wie zum Beispiel in Abid- ist Lebensgut, nicht Ware. Wir sollten das nicht vergessen. jan oder in Buenos Aires zeigen, dass diese Betriebe we- niger Wasserausfälle, geringere Leitungsverluste, einen besseren Gebühreneinzug und eine größere Kundenzu- Dr. Uschi Eid, Parlamentarische Staatssekretärin im friedenheit verzeichnen als ihre staatlichen Pendants. Bundesministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung: Rund 1,3 Milliarden Menschen haben keinen Zugang zu sauberem, unbedenklichem Wasser. Carsten Hübner (PDS): Frau Maria Iskandarani vom Außerdem sind circa 2,5 Milliarden Menschen nicht an Bonner Zentrum für Entwicklungsforschung hat unlängst eine brauchbare Abwasserbeseitigung angeschlossen – in der „Süddeutschen Zeitung“ darauf verwiesen, dass es und dies in einer Welt, in der es genug Wasser für alle gerade die ärmsten Bevölkerungsschichten in den Ent- Menschen gibt. Dies kann nicht hingenommen werden! wicklungsländern sind, die am meisten für ihr Trinkwas- Es ist eine Frage des politischen Wollens und Handelns, ser zu bezahlen haben. Denn sie sind in der Regel nicht an dass wir Wasser gerecht verteilen, dass wir Wasser effizi- die – oft subventionierte – öffentliche Wasserversorgung ent nutzen und dass wir die Belastbarkeit der Ökosysteme angeschlossen. Was nichts anderes heißt, als dass die Ar- beachten. (B) men Wasser bei Händlern zu unkontrollierten, oft hohen (D) Preisen kaufen, während die Reichen billiges Wasser aus Deutschland hat in der internationalen Wasserpolitik, der Leitung zapfen und damit ihre Gärten bewässern. auch unter dem Gesichtspunkt von Krisenprävention, eine Vorreiterrolle übernommen. Wir sind mit 600 bis 800 Mil- Daraus nun den Schluss zu ziehen, man sollte dann lionen DM jährlich der größte europäische Geber im doch gleich gänzlich auf eine Wasserversorgung durch die Wassersektor. Deshalb hatte die Bundesregierung vergan- öffentliche Hand verzichten, geht natürlich in die Irre. Im gene Woche auch zur Internationalen Süßwasserkonfe- Gegenteil: Worum es im Rahmen internationaler Ent- renz in Bonn eingeladen. Über 1 400 Delegierte, Beo- wicklungskooperation verstärkt gehen muss, ist die adä- bachterinnen und Beobachter aus rund 130 Staaten und quate und kostengünstige Versorgung gerade der Ärms- 50 internationalen Organisationen folgten der gemeinsa- ten, ist die Versorgung in den Elendsquartieren und im men Einladung des Umwelt- und des Entwicklungsminis- ländlichen Raum. Dringliche Aufgabe ist also eine sozial- teriums. Besonders möchte ich die über 70 Vertreterinnen verträgliche Basisversorgung. Und damit ist bekanntlich und Vertreter der Zivilgesellschaft erwähnen – von Nicht- kein Geschäft zu machen – so sehr momentan auch der regierungsorganisationen, Privatwirtschaft, Gewerkschaf- Markt als Allheilmittel und PPP als entwicklungspoliti- ten, Wissenschaft, Frauen- und Jugendorganisationen, in- sche Wunderwaffe gepriesen werden. Warum, belegen digenen Volksgruppen und Kommunen –, die bei dieser schon die Zahlen: Nach einer Studie der Unternehmens- Konferenz intensiv mit den Delegierten darüber disku- beratung Helmut Kaiser ist der Wassermarkt der größte tierten, wie die Wasserkrise abgewendet werden kann. Markt im Umweltbereich mit den höchsten Ertragspoten- zialen und Zuwachsraten von deutlich über 10 Prozent pro Die Ergebnisse der Süßwasserkonferenz in der letzten Jahr. Der Weltmarkt wird sich der Studie zufolge von 265 Woche bestätigen die von der Bundesregierung gesetzten Milliarden DM 1998 auf 555 Milliarden DM bis 2015 Schwerpunkte im Wasserbereich und den in der deutschen mehr als verdoppeln. Und daran wollen die Privaten ihren Entwicklungspolitik eingeschlagenen Weg: Anteil. Global Players sind vor allem die französischen Erstens. Die Konferenz hat bestätigt, dass die Zusam- Konzerne Vivendi und Suez. Auf Platz drei liegt seit menhänge von Armut und Wasser stärker in den Blick ge- Übernahme des englischen Wasserkonzerns Thames Wa- nommen werden müssen. Der Zugang zu Wasser ist eine ter die deutsche RWE. Und die erzielt mit ihrer Wasser- soziale Frage, Wasser und Armut stehen in einem Wech- sparte, die ganze drei Prozent am Umsatz ausmacht, sage selbezug: Viele Menschen sind arm, weil sie kein Wasser und schreibe 12 Prozent des Gewinns. haben, vor allem auf dem Lande. Aber noch mehr Men- Es ist also durchaus nachvollziehbar, weshalb sich auf schen haben kein Wasser, weil sie arm sind. Es gilt also, der Bonner Wasserkonferenz Anfang Dezember NGOs, entschlossen für die Erreichung des internationalen Ziels 20682 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001

(A) der Halbierung der extremen Armut bis zum Jahr 2015 zu ten hat erfreulicherweise zu einem offenen und konstruk- (C) arbeiten. Mit dem Armutsbekämpfungsprogramm, das tiven Dialog geführt, den wir von bisherigen Konferenzen alle Politikbereiche in die Pflicht nimmt, hat die Bundes- nicht kannten. Gerade heute ist diese Art von ernsthaftem regierung eine wichtige Initiative ergriffen, welche mit Dialog entscheidend, denn nur gemeinsam können wir die Nachdruck umgesetzt wird und hilft, die internationalen Herausforderung im Wasserbereich meistern. Anstrengungen auch darauf auszurichten, den Anteil der Die Konferenz hat weitreichende und innovative Emp- Menschen, die keinen Zugang zu sicherem und bezahlba- fehlungen für den Weltgipfel für nachhaltige Entwicklung rem Wasser haben, zu halbieren. im nächsten Jahr in Johannesburg formuliert. Wir werden Die Konferenz hat zweitens bestätigt, dass Wasser ein mit unseren Partnern daran arbeiten, dass diese Empfeh- großes Potenzial für die Kooperation zwischen Staaten lungen in der Praxis, auch nach Johannesburg, umgesetzt und für regionale Entwicklung bietet. Der Nil, der zehn werden, damit aus Johannesburg ein Gipfel der Aktionen Länder von Ägypten und Sudan bis nach Äthiopien und und der Umsetzung wird – auch für die Menschen, die Tansania verbindet ist ein gutes Beispiel: Derzeit gibt es noch keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser haben. in dieser politisch instabilen, heterogenen und armen Re- gion kaum Dialog oder ökonomische Kooperation zwi- schen den Ländern. Das Wasser des Nils ist es, was diese Anlage 7 gänzlich verschiedenen Staaten derzeit zusammenbringt. Eine verstärkte Kooperation am Nil würde sich für alle Zu Protokoll gegebene Reden auszahlen, weit über die Frage des Wassers hinaus: eine gemeinsame Energieproduktion, eine effiziente landwirt- zur Beratung des Entwurfs eines Zweiten Geset- schaftliche Produktion. Gemeinsamer Ressourcenschutz zes zur Änderung schadenersatzrechtlicher Vor- und gemeinsame Schifffahrtswege können zur regionalen schriften Entwicklung und Integration beitragen. Als Anrainer vie- ler europäischer Flüsse – Rhein, Elbe, Oder, Donau – ver- Christine Lambrecht (SPD): Es ist oft so, dass Dinge fügt Deutschland über eine Menge von Erfahrungen in von großer Tragweite ohne die große Aufmerksamkeit diesen Fragen. Deshalb unterstützt die Bundesregierung stattfinden. So ist das auch mit der Neuregelung des Scha- das Bemühen der Nil-Anrainerstaaten um bessere Koope- densersatzrechts – dem Entwurf eines Zweiten Gesetzes ration durch Erfahrungsaustausch und Beratung. zur Änderung schadensersatzrechtlicher Vorschriften –, Drittens. Die Konferenz hat sich deutlich für neue Part- das wir heute in der Ersten Lesung beraten. Mit dem Ent- nerschaften ausgesprochen. Um alle Menschen mit Was- wurf wird das europäische Schadensersatzrecht moderni- ser zu versorgen, sind jährlich rund 180 Milliarden siert und an europäische Standards angeglichen. (B) (D) US- Dollar erforderlich – es stehen jedoch seitens der öf- Generell ist uns Sozialdemokratinnen und Sozialde- fentlichen Haushalte und der internationalen Staatenge- mokraten die rechtliche Besserstellung von Unfallopfern meinschaft jährlich nur rund 80 Milliarden US Dollar zur ein besonderes Anliegen. Ich habe die Gelegenheit ge- Verfügung. Um die Finanzierungslücke von 100 Milliar- habt, bereits am Anfang dieser Legislaturperiode eine An- den US Dollar zu schließen, brauchen wir einen aktiven hörung der SPD-Fraktion zur rechtlichen Besserstellung Privatsektor, der sich im Wasserbereich engagiert und in- von Verkehrsunfallopfern zu leiten. Diese Anhörung hat ves-tiert. Deshalb bemühen wir uns in der Entwicklungs- große Resonanz gefunden und viele Anregungen aus der zusammenarbeit um die Einbeziehung der Privatwirt- Praxis finden sich wieder in dem vorliegenden Entwurf. schaft, auch der deutschen Unternehmen. Seit dieser Zeit findet ein Dialog mit den Opferverbänden, Viertens. Die Konferenz hat auch bestätigt, dass der Versicherungen und Arzneimittelherstellern statt. Mit der Staat den ordnungspolitischen Rahmen setzen muss, in Neuregelung des Schadensersatzrechts unternimmt die dem sich die Privatwirtschaft bewegen kann. Lassen Sie rot-grüne Bundesregierung einen entscheidenden Schritt mich eines klar sagen: Eine Privatisierung von Wasser, zur Verbesserung des Schutzes der Opfer. Vor allem die unerschwingliche Wasserpreise für die armen Menschen Rechtsstellung von Opfern, die Körper- oder Gesund- oder die Gefährdung der Wasserressourcen darf es und heitsschäden erlitten haben, wird gestärkt. wird es nicht geben. Unsere Entwicklungspolitik hilft un- Ein wesentliches Anliegen des Entwurfs ist die Ver- seren Partnerländern dabei, diese zum Teil neuen staat- besserung der haftungsrechtlichen Situation von Kindern lichen Aufgaben besser und effizienter wahrzunehmen. im motorisierten Straßen- und Bahnverkehr. Die Alters- „Wasser, ein Schlüssel zur nachhaltigen Entwicklung“ schwelle für eine Haftung von Kindern im motorisierten so lautete der Titel der Süßwasserkonferenz. Die Konfe- Verkehr wird von derzeit sieben auf nunmehr zehn Jahre renz war Beleg dafür, wie ernst die Bundesregierung das heraufgesetzt. Somit wird auch ein Mitverschulden des Thema der nachhaltigen Entwicklung nimmt. Die Konfe- Kindes diesem erst ab zehn Jahren entgegengehalten wer- renz hat die Bedeutung von Wasser für die nachhaltige den können. Entwicklung illustriert, erneuert und bestätigt. Dies wer- Der Entwurf sieht eine Ausweitung von Schmerzens- ten wir als Bestätigung unserer Entwicklungspolitik, die geldansprüchen vor. Ein Anspruch auf Schmerzensgeld wir im Wasserbereich auf dem erreichten hohen Niveau wird es in Zukunft auch in Fällen der Gefährdungshaftung fortführen und verstetigen wollen. und der Vertragshaftung geben. Der Entwurf sieht eine Der offene und transparente Vorbereitungsprozess, die Bagatellgrenze vor, für die es in Zukunft kein Schmer- Einbeziehung aller Staaten, Organisationen und Beteilig- zensgeld geben soll. Hier muss jedoch in den jetzt anste- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20683

(A) henden Beratungen beachtet werden, dass dies zu keinem wie wir Parlamentarierinnen und Parlamentarier unsere (C) Ausschluss von berechtigten Ansprüchen für Verletzun- Arbeit. gen führt, die – wenn auch nicht unbedingt nach Art und Im Mittelpunkt der Missverständnisse steht der Begriff Dauer – nicht unerheblich sind. Hierzu zähle ich zum Bei- des „unabwendbaren Ereignisses“, der durch die Beru- spiel Verletzungen, die ein Kind durch einen Hundebiss fung auf „höhere Gewalt“, die auch im Bahnverkehr gilt, erleidet. ersetzt werden soll. Wie ist die derzeitige Rechtslage? Der Im Bereich des Schadensersatzrechts soll der Schaden- Entlastungsbeweis des unabwendbaren Ereignisses ist an ersatz zukünftig stärker daran ausgerichtet werden, ob strenge Voraussetzungen geknüpft und greift in der Praxis eine Schadensbeseitigung erfolgt und welchen Weg der selten. Der Autofahrer muss dafür nicht nur „fehlerfrei“, Geschädigte dafür bestreitet. So soll Umsatzsteuer als sondern absolut „ideal“ gefahren sein. Schadensbestandteil nur noch dann ersetzt werden, wenn Wenn also ein Autofahrer zum Beispiel mit seinem und soweit sie zur Wiederherstellung tatsächlich anfällt. PKW ein kleines Kind anfährt, dann haftet er nach stän- Einen Anspruch auf den Ersatz einer „fiktiven“ Umsatz- diger Rechtsprechung auch dann, wenn er lediglich steuer wird es nicht mehr geben. Höchstgeschwindigkeit gefahren ist und sich fehlerfrei Der Entwurf für ein neues Schadensersatzrecht sieht verhalten hat. Er müsste schon nachweisen, dass er mehr eigenständige Haftungsbestände für den gerichtlichen getan hat, was in den seltensten Fällen gelingt. Das heißt Sachverständigen und den Halter eines Anhängers vor. in der Konsequenz: Der Fahrer muss nachweisen, dass er selbst als Idealfahrer bei Anwendung höchster Sorgfalt, Die Halterhaftung im Straßenverkehr wird auf sämtli- Aufmerksamkeit und Geistesgegenwart den Unfall nicht che Insassen eines Kfz ausgeweitet. Diese kann dann hätte verhindern können. Und das nachzuweisen gelingt höchstens durch „höhere Gewalt“ und nicht mehr durch den Fahrern nur in den seltensten Ausnahmefällen. ein „unabwendbares Ereignis“ zum Ausschluss führen. Wir ändern die bestehende Rechtslage, um vor allem Auch im Bereich der Arzneimittelhaftung wird es we- die Rechtsstellung von Kindern im Straßenverkehr zu ver- sentliche Verbesserungen geben. Es muss in Zukunft ver- bessern. Denn Kinder sind im Straßenverkehr immer die hindert werden, dass in Fällen wie vor Jahrzehnten im Schwächsten. Deshalb dient die Abschaffung des „unab- Contergan-Fall die Primärhaftung der Hersteller nicht wendbaren Ereignisses“ dem rechtlichen Schutz von Kin- greift und stattdessen der Staat mit entsprechenden Ent- dern im Straßenverkehr. Es wäre nämlich bei der derzeit schädigungsgesetzen einspringen muss. Hier muss eine geltenden Rechtslage möglich, dass ein Kind angefahren Haftung des Herstellers sichergestellt werden. Die Stel- wird und keinen Pfennig Schadensersatz erhält. lung des Arzneimittelanwenders wird durch eine Beweis- lastumkehr und die Stärkung des Auskunftsanspruchs des Mit diesem Gesetzentwurf folgen wir den Empfehlun- (B) Arzneimittelanwenders gegen pharmazeutische Unter- gen des 38. Verkehrsgerichtstages. Auch das Europäische (D) nehmen gestärkt. So werden die typischerweise auftreten- Übereinkommen über Straßenverkehr kennt diese Entlas- den Informationsdefizite von Geschädigten behoben wer- tungsmöglichkeit nicht. Lassen Sie uns den vorliegenden den. Der Auskunftsberechtigte ist nämlich nicht in der Entwurf im Interesse der Betroffenen sachlich beraten. Lage, Wirkungen, Nebenwirkungen und Anzeichen hier- Wir sind auf dem richtigen Weg. für entsprechend einzuordnen. Alles in allem kann festgestellt werden, dass die Neu- Dr. Wolfgang Götzer (CDU/CSU): Mit der Reform regelung des Schadensersatzrechts, wie sie in dem Ent- des Schadensersatzrechtes greift die Bundesregierung wurf der Regierung vorliegt, entscheidende Schritte in eine aus der 13. Legislaturperiode stammende Vorlage Richtung der rechtlichen Besserstellung von Unfallopfern auf, mit der bereits die Regierung Kohl eine Neuregelung enthält. Ein besonderer Schutz kommt den Schwächsten auf diesem Gebiet in Angriff genommen hat. Ich freue in unserer Gesellschaft, den Kindern zu. Dass die Lobby mich, dass sich die Bundesregierung zu diesem der Kinder in unserem Land nicht sehr groß ist, konnten grundsätzlich richtigen Schritt durchringen konnte. wir auch in der Diskussion um dieses Gesetzesvorhaben Wir von der Union haben seinerzeit vor allem das Ziel wieder sehr deutlich merken. vor Augen gehabt, das Schadensersatzrecht realitätsnah Ein großes Wochenmagazin war sich nicht zu schade, sowie an den heutigen Erfordernissen orientiert festzu- lauthals zu verkünden, dass, wenn dieses Gesetz be- schreiben. Von dieser Zielsetzung sollten wir meiner An- schlossen werden würde, künftig bei Verkehrsunfällen sicht nach auch heute nicht abweichen. auch der Schuldlose einen Teil des Schadens mittragen Wir müssen bei dieser gesamten Problematik vor allem müsse. Da hat dann natürlich jeder Autofahrer schon den zwei wichtige Gesichtspunkte vor Augen haben. Auf der Sonntagsfahrer kommen sehen, der einem die Vorfahrt einen Seite ist dies der Anspruch der Bürger und der Wirt- nimmt. Der macht dann den schönen Kotflügel vom ge- schaft auf Rechtssicherheit und zum anderen das liebten Auto kaputt und über die ganze Rennerei mit der Bemühen, der Neuregelung eine gewisse Dauerhaftigkeit Werkstatt hinaus soll man dann auch noch ein paar Hun- zu geben. derter zur Reparatur dazugeben. Das ist natürlich Unsinn. Und gerade dieser Artikel – der übrigens vom betroffenen Wir haben mit dieser, in wesentlichen Teilen auf unse- Verband eine Woche später revidiert wurde – gibt einmal rem früheren Gesetzentwurf beruhenden Vorlage eine mehr Anlass zu der Bitte an die Damen und Herren von brauchbare Basis, auf der es gilt ein ebenso solides Bau- der Presse, ihre Aufgaben der Recherche und Auseinan- werk zu errichten. Lassen Sie mich heute in der ersten Le- dersetzung mit einem Thema genau so ernst zu nehmen, sung schwerpunktmäßig auf die wichtigsten Änderungen 20684 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001

(A) und aus unserer Sicht wichtigsten Kritikpunkte des Ent- tienten einen Auskunftsanspruch gegenüber dem Arznei- (C) wurfes in Kürze eingehen, da ja die Detailberatung im mittelhersteller einräumt. Wir sollten allerdings die Anre- Ausschuss und vor allem in den Berichterstatterge- gung des Bundesrates aufgreifen und überlegen, was ge- sprächen erfolgen wird. tan werden kann, um dem Geschädigten die Durchsetzung dieses Anspruches zu erleichtern. Der neue § 84 II des Entwurfes enthält eine Beweiser- leichterung in Form einer Kausalitätsvermutung, die dem Für wenig sinnvoll halte ich den in § 84 a I Satz 4 Patienten eine zu begrüßende beweisrechtliche Besser- AMG-Entwurf vorgesehenen Ausnahmetatbestand. Die- stellung beschert. § 84 II AMG-Entwurf schließt endlich ser bietet nämlich eine Handhabe, sich aller Auskunfts- die bisher bestehende Regelungslücke in den Fällen un- verpflichtungen zu entledigen, indem man sich als Produ- geklärter Kausalität bei der Anwendung mehrerer Arznei- zent hinter Geheimhaltungsinteressen verstecken kann. mittel. Im Klartext heißt das, dass die Vermutung, eines Es dürfte einem Unternehmen nicht schwer fallen, ein der genommenen Arzneimittel habe die Schädigung her- solches Geheimhaltungsinteresse vor dem Hintergrund vorgerufen, auch dann gilt, wenn ein gleichzeitig einge- der internationalen Konkurrenz zu konstruieren. nommenes Medikament ebenfalls als Schadensursache in Betracht kommt, ohne dass der Betroffene klären kann, Vorgeschlagen wurde von richterlicher Seite hier die welches der einzelnen Präparate denn nun konkret scha- Einführung einer Abwägungsklausel, um einen sachge- densursächlich war. Dies ist im Sinne eines umfassenden rechten Interessenausgleich herbeiführen zu können. Patientenschutzes grundsätzlich zu begrüßen, freilich Diese Abwägung wäre dann von den Gerichten vorzu- nicht unproblematisch. nehmen, um eine Entscheidung von unabhängiger Seite zu garantieren. Was, wenn medizinisch mehrere Medikamente not- wendig erscheinen und dann als schadensverursachende Im Interesse der Waffengleichheit wäre allerdings an- Medikamente zwei Produkte infrage kommen, von denen zuraten, dem Unternehmen seinerseits einen Auskunfts- nur bei einem Präparat die schädliche Wirkung wegen der anspruch gegen den Patienten zukommen zu lassen, da nötigen erhöhten Dosis als vertretbar gewertet werden sich der überwiegende Teil des Schadensablaufes in der kann? Dann stellt sich für das zweite Medikament, wel- Sphäre des Geschädigten abspielt. Ansonsten hätte der ches nicht den Anspruch erheben kann, nur in erhöhter Hersteller keine Chance, die in § 84 Abs. 2 AMG Entwurf Dosis wirken zu können, das Problem, bei ungeklärter vermutete Kausalität zu erschüttern. Die Kausalitätsver- Schadensursache ohne Regressmöglichkeit für den ge- mutung würde sich dann in eine bedenkliche Kausalitäts- samten Schaden haften zu müssen. Hier bedarf es nach fiktion verwandeln. meiner Einschätzung noch einer entsprechenden gesetzli- chen Regelung. Diese Regelungslücke darf nicht zulas- Da die Neuregelung des Schadensersatzrechtes mehr (B) ten der Geschädigten gehen. Zu überlegen wäre mögli- umfasst als nur das Arzneimittelrecht, möchte ich noch (D) cherweise eine solidarische Einstandspflicht der kurz zu Änderungen in anderen Rechtsgebieten Stellung pharmazeutischen Unternehmer, insbesondere in den Fäl- nehmen. len, in denen es dem Patienten nicht möglich ist, die an- Zur Neuregelung des Schmerzensgeldanspruches im gewandten Präparate namhaft zu machen. Diese Frage Allgemeinen: Wir stehen vor der Frage, ob wir grundsätz- wird in der weiteren Beratung und sicherlich im Rahmen lich immaterielle Schäden ersetzen wollen oder nicht. Die einer Sachverständigenanhörung zu erörtern sein. Schaffung einer einheitlichen Norm für den Ersatz imma- In dem geplanten neuen § 84 III Arzneimittelgesetz terieller Schäden in Form des neu gefassten § 253 BGB ist – AMG – wird die Darlegungs- und Beweislast dafür um- zu begrüßen. Die Befürchtung, dass bei uns dadurch dem gekehrt, dass die feststehenden schädlichen Wirkungen US-amerikanischen Recht vergleichbare Fälle eintreten eines Arzneimittels ihre Ursache im Bereich der Entwick- könnten, halte ich für unbegründet. Des Weiteren er- lung oder Herstellung haben. Danach soll künftig der scheint mir die Erstreckung der Gewährung von Schmer- pharmazeutische Unternehmer die Beweislast für den zensgeld auch auf Ansprüche aus Gefährdungshaftung Fehlerbereich tragen, was im Klartext heißt, dass er dar- und die Einbeziehung von vertraglichen Ansprüchen als legen und beweisen muss, dass die schädliche Wirkung sinnvoll. Die Ausweitung der Halterhaftung auf Kraft- des Mittels nicht im Bereich von Herstellung und Ent- fahrzeuge mit Anhängern ist zu begrüßen. wicklung liegt. Damit gehen wir einen großen und vor al- lem richtigen Schritt in Richtung wirksamer Patienten- Bedenklich dagegen erscheint jedoch, den Haftungs- schutz. ausschluss, der bisher im Falle eines „unabwendbaren Er- eignisses“ galt, künftig nur noch im Falle „höherer Ge- Doch sollten wir in diesem Zusammenhang eine wei- walt“ vorzusehen. Es ist bereits jetzt in der gerichtlichen tere Klarstellung in § 84 AMG aufnehmen. Diese betrifft Praxis schwer zu ermitteln und noch schwerer zu vermit- die Aufnahme mittelbar Geschädigter in den Schutzbe- teln, wann ein unabwendbares Ereignis vorliegt, nämlich reich dieses Paragraphen. Auf den ersten Blick ein schein- nur dann, wen auch ein besonnener und überdurch- bar nebensächliches Problemfeld, aus meiner Sicht aber schnittlicher Fahrer der Gefahr nicht hätte ausweichen unumgänglich, um denWirkungskreis des § 84AMG nicht können. Jedoch hat diese bisher geltende Regelung den unnötig einzuschränken. Die Gesetzesbegründung sieht Vorteil, dass der Schädiger wenigstens die Chance hatte, das zwar bereits vor, doch wäre wünschenswert, hier ein sich durch einen von ihm zu erbringenden Nachweis zu klarstellende Ergänzung im Entwurf selbst vorzunehmen. exculpieren. Die geplante Neuformulierung liefert ihn da- Eine erfreuliche Neuregelung erhält das Schadenser- gegen praktisch der Haftung ohne Entlastungsmöglich- satzrecht mit der Einfügung des § 84 a AMG, der dem Pa- keit aus und schafft zudem neue Auslegungsprobleme. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20685

(A) Der CDU/CSU-Fraktion ist es ein Anliegen, Kinder im schulden eines Dritten nicht nachweisen können. Profitie- (C) Straßenverkehr besser zu schützen und sie bei kinderty- ren werden davon vor allem Menschen, die Opfer von pischen Unfällen einerseits von Ansprüchen auf Scha- schweren Verkehrsunfällen geworden sind. densersatz freizuhalten und ihnen andererseits als Opfer Diese Reform des Schadensersatzrechtes ist seit lan- einen Schadensersatzanspruch zuzusprechen. Dies gilt gem überfällig. Rot-Grün bringt – wie so oft – endlich das auch für Hilfsbedürftige und andere Menschen. zustande, was die Opposition während ihrer Regierungs- Mit der geplanten Neuformulierung jedenfalls schießt verantwortung nicht geschafft hat. Wir erhöhen zum Bei- die Bundesjustizministerin weit über das Ziel hinaus. Es spiel in vielen Gesetzen die Haftungshöchstgrenzen: Der- ist nicht gerechtfertigt, den Autofahrer ausnahmslos für artige Anpassungen waren ja dringend notwendig. In Schäden haften zu lassen, für die er überhaupt nichts einigen Gesetzen war dies seit mehr als 20 Jahren nicht kann. Aus diesem Grund muss die geplante Neuregelung mehr geschehen. Schwarz-Gelb hat hier geschlafen. Wir vorerst auf die erwähnten Fälle beschränkt werden bzw. holen das nach. Bei einzelnen Personenschäden erhöhen – wie der Bundesrat anregt – es muss geprüft werden, ob wir die individuelle Haftungshöchstgrenze um mehr als das Ziel, Kinder, Hilfsbedürftige und ältere Menschen das Doppelte: Während bislang im Straßenverkehrsgesetz besser zu stellen, nicht auf andere Weise ermöglicht wer- der Kapitalbetrag für die Tötung oder Verletzung eines den kann. Menschen bei höchstens 500 000 DM lag, beläuft er sich künftig auf 600 000 Euro und 36 000 Euro Jahresrente. Begrüßenswert ist die geplante Ausweitung der Halter- Das ist nur angemessen. Die Praxis hat schließlich ge- haftung auf unentgeltlich beförderte Fahrzeuginsassen. zeigt, dass etwa bei einer schwerwiegenden Querschnitts- Damit wird eine Gesetzeslücke in sinnvoller Weise ge- lähmung der Betrag von 500 000 DM angesichts der ho- schlossen. hen Heilungskosten, des eingetretenen Erwerbs- und Ebenso findet auch die geplante Erhöhung der Haf- Unterhaltsschadens sowie des Schmerzensgeldes über- tungshöchstgrenzen für die Verletzung bzw. Tötung einer haupt nicht ausgereicht hat. Zu gering war auch der bis- oder mehrerer Personen im Straßenverkehr unsere Unter- herige Haftungshöchstbetrag bei mehreren Verletzten. stützung. Angesichts des stetig steigenden Risikos auf un- Wenn sich beispielsweise drei Schwerverletzte bislang seren Straßen ist hier aus meiner Sicht eine realitätsnahe 750 000 DM teilen mussten, war dies eindeutig zu wenig. Bewertung der Schadenshöhe unausweichlich. In wel- Wir haben deshalb bei einem Gesamtpersonenschaden die chen Grenzen diese Erhöhung stattzufinden hat, wird si- Grenze jetzt auf 3 Millionen Euro hochgeschraubt. cher noch ausgiebig diskutiert werden müssen; an der Für Opfer von Arzneimitteln schaffen wir mit diesem Zielsetzung jedoch sollte festgehalten werden. Gesetz endlich die nötigen Haftungserleichterungen. Ein Auskunftsanspruch gegen Behörde und Pharmaunterneh- (B) Eine problematische Thematik im Bereich des (D) Schmerzensgeldes betrifft die Entschädigung in Geld für men sowie eine angemessene Beweislastumkehr wird es den Betroffenen künftig ermöglichen, den Nachweis der die Verletzung von Persönlichkeitsrechten. Bisher hat der Kausalität zwischen Präparat und Schaden leichter zu Geschädigte zum Beispiel bei rechtswidrigen Abbildun- führen. Nicht erst der Vorfall Lipobay hat uns daran erin- gen oder ehrverletzenden Äußerungen in analoger An- nert, sondern schon seit dem HIV-Bluter-Skandal in den wendung des § 1004 BGB einen Anspruch auf Unterlas- 80er-Jahren wissen wir, wie schwer es für die Betroffenen sung der weiteren Verbreitung, oder, wenn dieses durch ist, ihre berechtigten Ansprüche auch tatsächlich gegen ein Presseorgan erfolgt, auf Gegendarstellung. die potenten Pharma-Unternehmen durchzusetzen. Ob darüber hinaus jedoch ein Schmerzensgeld verlangt Wir als Grüne werden deshalb in diesem Bereich auch werden kann, wird nicht erst seit gestern diskutiert. Das im Gesetzgebungsverfahren keine Aufweichungen zulas- Persönlichkeitsrecht wäre lückenhaft geschützt, wenn ten der Geschädigten mitmachen: Vorschläge etwa des man auf eine Sanktion verzichtet, die aus Sicht des Ge- Bundesrates, die Beweislastumkehr für die Erforderlich- schädigten ein wirksames Mittel zur Wiedergutmachung keit einer Auskunft wieder abzumildern oder sogar dem darstellt. In diesem Punkt sollten wir uns auf eine aus- Pharmaunternehmer einen Auskunftsanspruch gegenüber drückliche Klarstellung im Gesetz verständigen, so wie dem Patienten einzuräumen, halten wir für verfehlt. Sie wir es bei der Reform des Schuldrechts mit der cic und der widersprechen nicht nur dem Geist dieses opferfreundli- pvv getan haben. chen Gesetzes. Sie widersprechen teilweise auch dem, was der Bundesrat in der letzten Wahlperiode selbst in sei- Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): ner Stellungnahme ausgeführt hat. Man möge sich hierzu Rot-grüne Rechtspolitik steht für die Stärkung der Schwa- einmal die Drucksache 13/10766 in aller Ruhe zu Gemüte chen durch Recht. Diese Reform des Schadensersatzrech- führen. tes ist ein weiterer, eindrucksvoller Beleg hierfür. Wir ver- bessern die Rechtsstellung von Kindern im Straßenverkehr Rainer Funke (FDP): Bei dem vorliegenden Entwurf und wir verbessern auch die Rechtslage von Arzneimit- eines Schadensersatzänderungsgesetzes handelt es sich telgeschädigten. Überhaupt dient diese Reform der Opti- um eine der wichtigeren Gesetzesvorhaben der Bundes- mierung des Opferschutzes; denn durch die Ausweitung regierung, die auf Überlegungen und Vorarbeiten der ver- eines Schmerzensgeldanspruchs auch auf den Bereich der gangenen Legislaturperiode zurückgreifen. Umso mehr Gefährdungs- und Vertragshaftung helfen wir denjenigen, verwundert, dass die erste Beratung zu später Stunde mit deren Körper, Gesundheit, Freiheit oder sexuelle Selbst- kurzer Rededauer stattfindet, so, als ob es sich um ein bestimmung verletzt wird und die zum Beispiel das Ver- Gesetz „unter ferner liefen“ handelt. Genauso verwundert 20686 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001

(A) darf man darüber sein, dass diese grundlegenden Ände- Dasselbe gilt für die Fragen der Änderung der Sach- (C) rungen unseres Haftungsrechts erst nach über drei schadensabrechnung in § 249 BGB. Hier müssen Auswir- Jahren sozialdemokratischer Führung im Bundes- kungen auf die Kraftfahrzeugreparaturwerkstätten justizministerium vorgelegt werden, nachdem bereits in untersucht werden. Hier kann der geschädigte Kraftfahr- der letzten Legislaturperiode grundsätzliche Diskussio- zeughalter bei der Geltendmachung seines Schadens die nen um das Haftungsrecht stattgefunden haben. 16-prozentige Mehrwertsteuer nicht geltend machen, In der Sache wird es noch Diskussionen geben müssen. wenn er den Schaden – aus welchem Grund auch im- Insbesondere, was die Arzneimittelhaftung und die Ein- mer – nicht bei einer Vertragswerkstatt beseitigen lässt. führung eines allgemeinen Anspruchs auf Schmerzens- Insgesamt bedauern wir, dass diese grundsätzliche For- geld auch bei der Gefährdungshaftung anbelangt. derung unseres Schadensersatzrechtes in den letzten Die Verbesserung der Rechtsstellung von Kindern bei 4 Monaten dieser Legislaturperiode unter großem Zeit- Unfällen im Straßen- und Bahnverkehr dürfte dagegen druck im Rechtsausschuss behandelt werden muss. Dabei weitestgehend unstreitig sein. Hierbei handelt es sich um hat die Bundesregierung alle Zeit gehabt, rechtzeitig ei- eine sehr alte Forderung des Verkehrsgerichtstages, die nen entsprechenden Gesetzentwurf vorzulegen. nunmehr umgesetzt wird. Die Verschärfung der Kraft- fahrzeughalterhaftung muss noch auf ihre tatsächlichen Dr. Evelyn Kenzler (PDS): Dass die Rechte von Auswirkungen bei der Abrechnung von Kraftfahrzeug- Menschen gestärkt werden sollen, denen Schaden zuge- schäden überprüft werden. Insbesondere muss untersucht fügt worden ist, sei es durch Verkehrsunfälle, durch Arz- werden, ob die bisherige Regelung nicht aufgrund der neimittel oder andere Ursachen, kann ich nur begrüßen. Rechtsprechung ausreicht. Genauere Untersuchungen Abgesehen davon, dass die Regierung verzweifelt ko- über die Auswirkungen auf die Kraftfahrzeugversiche- stengünstige Punkte für den Wahlkampf sammelt, ist das rung sind dabei mit zu berücksichtigen. Grundanliegen der Frau Bundesministerin der Justiz wohl Zweifellos ist der Schwerpunkt dieses Gesetzesent- richtig. wurfs die Verschärfung der Arzneimittelhaftung. Auch hier muss im einzelnen in den Anhörungen untersucht Verbesserungen in der Arzneimittelhaftung zugunsten werden, welche Folgewirkungen die Erweiterung der des Geschädigten sind meines Erachtens erforderlich. Es Arzneimittelhaftung auf den Produktionsstandort gibt in der Tat unverhältnismäßig hohe Hürden im Arz- Deutschland, auf die Forschung, aber auch auf die Kosten neimittelgesetz, wenn ein geschädigter Bürger gegen ei- der Arzneien hat, denn zweifellos führt eine erweiterte nen Arzneimittelhersteller einen Schadensersatzanspruch Haftung zu höheren Kosten, die auch auf die Allgemein- durchsetzen will. Wie soll er beweisen, dass der Schaden auf Fehler bei der Entwicklung und Herstellung des Arz- (B) heit umgelegt werden. Die Neugestaltung der Arzneimit- (D) telhaftung führt auch zu einem Auskunftsanspruch und neimittels und nicht auf Fehler bei der Lagerung und beim damit zu einer Verbesserung der Beweissituation eines Versand zurückzuführen ist? Die Umkehr der Beweislast Geschädigten. Dies ist sicherlich auch im Sinne eines ver- ist in diesen Fällen angebracht. Auch die gesetzliche und besserten Verbraucherschutzes. Unverständlich ist je- durch den Hersteller widerlegbare Vermutung einer Kau- doch, dass dieser Auskunftsanspruch nicht nach dem Vor- salität zwischen Arzneimittel und eingetretenem Schaden bild des Umwelthaftungsrechtes gegenseitig ausgestaltet ist nach meiner Ansicht vernünftig. ist. Gerade bei der Wirkung von Medikamenten kommt es Die Einführung eines Anspruchs auf Schmerzensgeld doch nicht nur auf die Arzneien an, sondern auf die Ver- auch bei Gefährdungs- und Vertragshaftung muss man hältnisse beim Patienten, zum Beispiel das Zusammen- genau prüfen. Eine so weitgehende Änderung des Scha- wirken des eingenommenen Medikaments mit anderen densersatzrechts bedarf einer eingehenden Diskussion Medikamenten, oder auch auf den Gesundheitszustand unter Einbeziehung von Experten, zumal dies mit gra- des Patienten. Insoweit bedarf es intensiver Beratungen und Anhörungen. vierenden finanziellen Folgen verbunden ist. Wenn zukünftig das Schmerzensgeld auf ihrer Art und Dauer Sowohl im Arzneimittelgesetz, als auch in anderen Ge- nach nicht unerhebliche Verletzungen begrenzt werden setzen in denen Gefährdungshaftung vorgesehen ist, sieht soll, ist es nur logisch, die Haftungshöchstbeträge deut- der vorliegende Entwurf nunmehr die Einführung eines lich anzuheben, da bisherige Schmerzensgeldbeträge bei verschuldensunabhängigen Schmerzensgeldanspruchs schweren und schwersten Verletzungen nicht ausrei- vor. Dabei handelt es sich um eine gravierende Änderung chend sind. unseres Schadensersatzrechtes, eine Änderung, die von der Rechtsprechung, auch der Wissenschaft mit unter- Ich kann die Gründe für die vorgeschlagene Herauf- stützt wird. Dabei ist jedoch streitig, wie weit ein entspre- setzung der Deliktfähigkeit der Kinder von sieben auf chender Schmerzensgeldanspruch gehen soll. So hat der zehn Jahre nachvollziehen. Gerade in diesem Alter sind 62. Deutsche Juristentag 1998 sich dafür ausgesprochen, die Kinder im Straßenverkehr oft unberechenbar. Hinzu ein Schmerzensgeld im Rahmen der Gefährdungshaftung kommt, dass die rasante Verkehrsentwicklung in den nur bei „schwerwiegenden“ und „dauerhaften“ Körper- letzten Jahrzehnten ungleich höhere Anforderungen an und Gesundheitsschäden zu gewähren. Gleichzeitig hat er jeden Verkehrsteilnehmer stellt, die Kinder bis zu einem die jetzt von der Bundesregierung aufgegriffene Lösung bestimmten Alter nicht oder nur begrenzt erfüllen kön- ausdrücklich verworfen. Auch hier muss ergebnisoffen im nen. Dem sollte der Gesetzgeber Rechnung tragen. Frei- Rechtsausschuss diskutiert werden. Die FDP-Fraktion lich muss man dann auch die vorsätzliche Herbeiführung sagt insoweit durchaus konstruktive Mitarbeit zu. eines Schadens vom Haftungsausschluss ausnehmen. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20687

(A) Schließlich erwähne ich als zustimmungsfähig aus ab der Vollendung des siebten Lebensjahres haften. Nach (C) meiner Sicht die Erhöhung der allgemeinen Haftungs- Erkenntnissen der Entwicklungspsychologie sind Kinder höchstgrenzen. Diese Grenzen sind seit mehr als 20 Jah- in diesem Alter aufgrund ihrer physischen und psychi- ren nicht erhöht worden. Bei dem Anstieg aller Kostenin- schen Fähigkeiten aber noch nicht in der Lage, die beson- dizes in dieser Zeit ist eine solche Erhöhung überfällig. deren Gefahren des motorisierten Straßenverkehrs zu er- kennen und sich entsprechend zu verhalten. Dies ist Man wird im weiteren Gesetzgebungsprozess überprü- frühestens ab Vollendung des zehnten Lebensjahres der fen müssen, ob die vorgeschlagenen Neuerungen wirklich Fall. Deshalb wird die Altersschwelle für eine Haftung praktikabel sind, sich positiv für den Geschädigten aus- und Mithaftung im Straßen- und Bahnverkehr von sieben wirken und nicht da und dort die Versicherung der la- Jahre auf zehn Jahre heraufgesetzt. chende Dritte ist. So ist aus meiner Sicht die vorgeschla- gene Regelung betreffend die Umsatzsteuer ziemlich Zweitens. Ein weiteres zentrales Anliegen des Entwur- undurchsichtig. Ich hoffe, dass uns die Koalitionsfraktio- fes ist die Einführung eines allgemeinen Anspruchs auf nen und die Ministerin dafür ausreichende Zeit geben und Schmerzensgeld. Bisher besteht ein solcher Anspruch nicht wieder versuchen werden – wie in zurückliegenden grundsätzlich nur dann, wenn den Täter ein Verschulden Fällen –, diesen umfangreichen und für die Schadenser- trifft. Im Rahmen einer verschuldensunabhängigen Ge- satzpraxis sehr bedeutsamen Gesetzentwurf in Eile durch- fährdungshaftung, wie zum Beispiel im Straßenverkehrs- zudrücken. gesetz, gibt es bislang kein Schmerzensgeld. Das gilt auch für den Bereich der Arzneimittelhaftung und hat hier erst Meine Fraktion wird an der Vervollkommnung dieser vor wenigen Monaten im Zusammenhang mit Schäden Gesetzesinitiative konstruktiv mitwirken. durch das Arzneimittel Lipobay für Aufregung und Un- verständnis gesorgt. Dr. Herta Däubler-Gmelin (SPD): Mit dem Entwurf Schmerzensgeldansprüche sollen deshalb auf den Be- des Zweiten Schadensersatzrechtsänderungsgesetzes hat reich der Gefährdungshaftung und auf den Bereich der die Bundesregierung nach der Schuldrechtsmodernisie- Vertragshaftung ausgedehnt werden. Das ist zugleich ein rung eine zweite wichtige Reform des Zivilrechts auf den Beitrag zur Rechtsangleichung in Europa; denn in ande- Weg gebracht: Das deutsche Schadensersatzrecht wird ren europäischen Staaten ist dies längst selbstverständ- gründlich modernisiert und an die geänderten wirtschaft- lich. lichen Verhältnisse angepasst. Wenn man nun eine solche Ausweitung des Kreises der Die Schadensersatzvorschriften im Bürgerlichen Ge- Anspruchsberechtigten vornimmt, dann muss damit eine setzbuch sind seit ihrem In-Kraft-Treten im Jahr 1900 na- gewisse Einschränkung in Fällen von leichteren Verlet- (B) hezu unverändert geblieben. Durch den Wandel der letz- zungen einhergehen. Ohne eine solche Einschränkung (D) ten 100 Jahre sind Haftungslücken und Gerechtigkeits- würde man erhebliche Mehrkosten für die Versicherten- defizite aufgetreten, die wir schließen müssen. Dabei geht gemeinschaft riskieren. Einen Anspruch auf Schmerzens- es auch um die Entscheidung von Wertungsfragen: geld soll es deshalb nur geben, wenn die Verletzung unter Während bisher oftmals der Ausgleich von Vermögens- Berücksichtigung von Art und Dauer nicht unerheblich schäden im Vordergrund steht, wollen wir den Ausgleich ist. Für Bagatellverletzungen wird es also kein Schmer- von Personenschäden mehr in den Mittelpunkt des Scha- zensgeld mehr geben. Aber wir halten es für wichtiger, die densersatzrechts rücken. vorhandenen Mittel auf die wirklich Schwerverletzten zu Diese Ziele erreichen wir vor allem durch die folgen- konzentrieren, als für jede Schramme ein paar Mark als den Neuerungen: Schmerzensgeld zu gewähren. Erstens: Die haftungsrechtliche Situation von Kindern Drittens. Eine weitere wichtige Verbesserung ist die im Straßenverkehr ist zu verbessern. Anhebung der Haftungshöchstgrenzen, die in den Geset- zen mit einer Gefährdungshaftung vorgesehen sind. Die Zweitens: Der Anspruch auf Schmerzensgeld muss auf Haftungshöchstgrenzen müssen ausreichen, um auch ei- Fälle der Gefährdungshaftung und der Vertragshaftung nen durchschnittlichen Großschadensfall abzudecken. ausgedehnt werden. Dies ist etwa im Bereich des Straßenverkehrsgesetzes Drittens: Die Haftungshöchstgrenzen in Gesetzen mit schon lange nicht mehr der Fall. Dort fand die letzte Er- Gefährdungshaftung sind deutlich anzuheben. höhung vor mehr als 20 Jahren statt. Deshalb ist eine kräf- tige Anhebung notwendig, um die Haftungssummen an Viertens: Die Arzneimittelhaftung bedarf der Verbes- die zwischenzeitlich eingetretene wirtschaftliche Ent- serung. wicklung anzupassen. Und Fünftens: Die fiktive Abrechnung von Sachschä- Viertens. Der Gesetzentwurf sieht ferner im Bereich den soll auf ein vernünftiges Maß reduziert werden. der Arzneimittelhaftung erhebliche Verbesserungen für Lassen Sie mich auf diese Punkte im folgenden kurz diejenigen vor, die durch ein unvertretbares Arzneimittel geschädigt wurden. Dem Arzneimittelanwender soll kün- eingehen: ftig ein Auskunftsanspruch gegen den pharmazeutischen Erstens. Die Verbesserung der haftungsrechtlichen Si- Unternehmer und gegen die Zulassungsbehörde zustehen. tuation von Kindern im motorisierten Straßen- und Bahn- Denn der Geschädigte steht hier oft vor der Schwierigkeit, verkehr ist ein wesentliches und im Kern wohl auch un- dass das pharmazeutische Unternehmen über umfangrei- streitiges Anliegen des Entwurfs. Derzeit können Kinder che Informationen über die Art und Häufigkeit von 20688 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001

(A) Nebenwirkungen des Arzneimittels verfügt, die er selbst dem Aspekt der inneren Sicherheit zu „lebenslang kon- (C) nicht kennt. Außerdem wird die Situation des Geschädig- trollierten Bürgern“ gemacht zu werden, die sich ständig ten durch die Einführung von Beweiserleichterungen im für ihren Waffenbesitz rechtfertigen müssen. Bereich der Kausalität verbessert. Damit wird ein Stück Natürlich wollen wir jetzt mit dieser Novelle nicht nur „Waffengleichheit“ im Arzneimittelhaftungsprozess her- die systematischen und inhaltlichen Probleme bzw. Unge- gestellt. Ich halte diese Verbesserungen im Interesse der nauigkeiten ausmerzen, sondern auch das Waffenrecht un- Verbraucherinnen und Verbraucher für notwendig aber ter dem Aspekt der veränderten Sicherheitslage den auch für ausreichend. Gegebenheiten anpassen. Nach dem vom Bundesverwal- Fünftens. Lassen Sie mich nun noch auf die Änderung tungsgericht in über 30-jähriger Rechtssprechung bestätig- beim Ersatz von Sachschäden eingehen. Hier ist vorgese- ten Grundsatz: „So wenig Waffen wie möglich ins Volk“ hen, den Umfang der so genannten „fiktiven Abrechnung“ werden die Anforderungen für den Erwerb, den Besitz und einzuschränken. Fiktive Abrechnung kennen wir vor al- das Führen von Waffen so präzisiert, dass sie den berech- lem aus dem Bereich der Kfz-Schäden. Der Geschädigte tigten Sicherheitsbedenken der Bevölkerung angemessen legt dem Schädiger nur ein Schätzgutachten über die ver- Rechnung tragen. Der Umgang mit Waffen und Munition mutlichen Reparaturkosten vor, um sich den geschätzten durch Privatpersonen kann nicht schrankenlos sein. Betrag bar auszahlen zu lassen. Wenn er dann tatsächlich keine Reparatur vornimmt, macht er ein gutes Geschäft. Jeder Bürger, sofern er ein Bedürfnis nachweist und die Denn bei der fiktiven Abrechnung fließen über die ge- erforderliche Zuverlässigkeit gegeben ist, kann nach wie schätzten Reparaturkosten auch fiktive Umsatzsteueran- vor seinem Bedürfnis entsprechend Waffen und Munition teile in die Berechnung des Schadens ein. Anders als ein besitzen bzw. führen. Ich möchte hier unterstreichen: Die Unternehmer muss der Geschädigte diese Umsatzsteuer- Koalitionsfraktionen wollen weder die Jäger noch die anteile nicht an das Finanzamt abführen, sondern kann sie Sportschützen, aber auch nicht die Brauchtumsschützen selbst in die Tasche stecken. Das halten wir nicht für rich- oder Waffensammler bei ihrem Sport bzw. Hobby ein- tig, denn es führt faktisch zu einer Überkompensation. schränken, sondern sie für einen verantwortungsvollen Der Gesetzentwurf sieht deshalb vor, die Umsatzsteuer Umgang damit sensibilisieren. nur so weit zu ersetzen, als sie tatsächlich zur Schadenbe- Was ändert sich also? Als Erstes ist hier die systema- seitigung anfällt. Eine rein fiktive Umsatzsteuer soll nicht tische Trennung von Waffengesetz und Beschussgesetz zu mehr ersetzt werden. nennen. Während es bei dem neuen Waffengesetz primär Schon in der letzten Legislaturperiode wurde von der um die Regelung des Umgangs mit Waffen unter dem Ge- Vorgängerregierung ein gleichnamiger Gesetzentwurf sichtspunkt der öffentlichen Sicherheit geht, wird das Be- eingebracht, der in Fachkreisen und beim Bundesrat auf schussgesetz die Prüfung und Zulassung insbesondere (B) heftigen Widerstand stieß. Wir haben diesen Entwurf von Feuerwaffen, Böllern, Schussapparaten und Munition (D) gründlich überarbeitet und die ganz überwiegend positive im Interesse der Sicherheit für den Verwender und Dritte Stellungnahme des Bundesrates zeigt, dass wir auf dem regeln. richtigen Weg sind. Ich bin deshalb optimistisch, dass es Konkretisiert wurden im Waffengesetz folgende gelingen wird, den vorgelegten Entwurf zügig zu beraten Punkte: und abzuschließen. Erstens. Die Zuverlässigkeit als Voraussetzung für den Umgang mit Waffen und Munition. Ziel ist es, Personen Anlage 8 den Umgang mit Waffen oder Munition zu verwehren, die durch ihr Verhalten Anlass gegeben haben oder geben, an Zu Protokoll gegebene Reden ihrer Rechtstreue bzw. an ihrem sorgfältigem Umgang mit diesen gefahrenträchtigen Gegenständen zu zweifeln. zur Beratung des Entwurfs Zweitens. Die Anerkennung eines Bedürfnisses für den – eines Gesetzes zur Neuregelung des Waffen- Umgang mit erlaubnispflichtigen Waffen oder Munition. rechts (WaffRNeuRegG) Hier werden nicht nur die grundsätzlichen Modalitäten – eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Waf- der Anerkennung des Bedürfnisses festgelegt, sondern fengesetzes auch die bedarfsgerechte Ausstattung für Jäger und Sport- schützen. (Tagesordnungspunkt 17 a und b) Drittens. Die Anerkennungsverfahren für Schießsport- verbände. Da diese Verbände dafür zuständig sind, ihren Ernst Bahr (SPD): Die Neuregelung des Waffenge- Mitgliedern die schießsportliche Betätigung als Grund- setzes wird seit langem gefordert und gleichzeitig heftigst lage für die Anerkennung des Bedürfnisses zu bescheini- bekämpft; denn einerseits sehen die Befürworter der Re- gen und somit an der Erteilung waffenrechtlicher Erlaub- form derzeit vor allem Schwierigkeiten darin, das gel- nisse maßgeblich beteiligt sind, war es vor dem tende Waffenrecht bundeseinheitlich und wirksam anzu- Hintergrund sich ständig neu formierender Schießver- wenden. Durch die vielen Änderungen und Ergänzungen bände notwendig, Kriterien für ihre Anerkennung zu im Laufe der Zeit ist es unübersichtlich und kompliziert schaffen. zu lesen; viele wichtige Regelungen sind nicht dem Ge- setz selbst, sondern nur den Verordnungen zu entnehmen. Viertens. Die besondere Stellung der Erben. Der Erb- Andererseits befürchten die legalen Waffenbesitzer, unter fall ist mittlerweile der häufigste Waffenerwerbsgrund. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20689

(A) Die Zahl dieser Waffenbesitzer, die weder sachkundig der Brauchtumsschützen Rechnung tragen. Schließlich (C) sind, noch ein Bedürfnis für den Umgang mit Waffen ha- gibt es in Deutschland rund 4 Millionen legale Waffenbe- ben, steigt ständig. Um der Gefahr von Missbrauchsfällen sitzer. Vor allem aber wollten wir sinnlosen Verwaltungs- zu begegnen, wird das Erbenprivileg auf fünf Jahre be- aufwand – und damit unnötigen finanziellen Aufwand für grenzt. Die Aufnahme der Frist dient in erster Linie dazu, den Steuerzahler – vermeiden. der Industrie Gelegenheit zu geben, eine technische Lö- Mit dem nun von der Bundesregierung vorgelegten sung für ein Blockiersystem zu entwickeln, das die Schuss- Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Waffen- fertigkeit ererbter Waffen technisch unterbindet. rechts sollen vorgeblich Transparenz, Verständlichkeit Fünftens. Die sichere Aufbewahrung von Waffen und und Übersicht der komplizierten Rechtsmaterie erhöht so- Munition. Geregelt wird zukünftig nicht nur die sichere wie eine stärkere Einschränkung des missbräuchlichen Aufbewahrung von Schusswaffen und Munition, sondern Umgangs mit Waffen erreicht werden. Diese Ziele wur- auch von anderen Waffen wie zum Beispiel Hieb- und den jedoch verfehlt. Der Versuch, durch die Neuregelung Stoßwaffen, Reizstoffsprüh- oder Elektroschockgeräte. mehr Transparenz und Übersichtlichkeit zu schaffen, ist Vorgeschrieben ist auch die getrennte Aufbewahrung von auf ganzer Linie gescheitert. Der vom Ansatz vernünftige Schusswaffen und Munition. Darüber hinaus werden die Versuch einer Neuregelung wird durch eine Vielzahl un- derzeit geltenden Normen für ein Aufbewahrungsbehält- verständlicher Beschränkungen auch unter rechtsstaatli- nis zugunsten der europäischen Norm aufgehoben. chen Gesichtspunkten inakzeptabel. Es geht nicht um die Vereinfachung einer komplizierten Rechtsmaterie und um Sechstens. Restriktionen für Reiz-, Schreckschuss- eine bessere Handhabung vernünftiger Regeln durch Be- und Signalwaffen. Da diese Waffen heutzutage etwa die troffene und Behörden. Vielmehr geht es um die Gänge- Hälfte aller im Zusammenhang mit Straftaten sicherge- lung der Jäger und das Abwürgen des Schießsportes mit stellten Waffen ausmachen, haben wir hier insbesondere Schusswaffen bis hin zum Biathlon. auf Wunsch der Länder und der Polizei den so genannten „kleinen Waffenschein“ eingeführt. Während also für den Verschärfungen der waffenrechtlichen Regelungen Erwerb und Besitz von Gas- und Schreckschusswaffen sind dann sinnvoll, wenn dies aus Gründen der inneren Si- nur die Volljährigkeit der Person nachgewiesen werden cherheit erforderlich ist. Dies betrifft insbesondere Rege- muss, unterliegt das Führen dieser Waffen der Erlaubnis- lungen, die verhindern sollen, dass so genannte Schein- pflicht. Das heißt, die Zuverlässigkeit und die schützen einem Verein beitreten oder Vereine gründen, persönliche Eignung sind Voraussetzung. allein um sich Waffen zu beschaffen. Der Entwurf enthält jedoch eine Vielzahl neuer Regelungen, die den legalen Siebtens. Verbot von Wurfsternen und gefährlichen Waffenbesitzer erheblich beschränken, aber für die innere Messern. Aufgrund ihrer geringen Abmessungen können Sicherheit, also den Schutz vor den illegalen Waffenbesit- Wurfsterne leicht verdeckt, unauffällig getragen und (B) zern, den Kriminellen, letztlich nichts bewirken. Es wird (D) geräuschlos eingesetzt werden. Um einer Gefahr bei öf- eine Regelungs- und Kontrolldichte aufgebaut, die im fentlichen Veranstaltungen, Demonstrationen usw. entge- Hinblick auf die Forderungen nach einem schlanken Staat genzuwirken, wurde mit dem generellen Verbot der Wurf- und Entbürokratisierung nicht mehr nachvollziehbar ist. sterne Rechtsklarheit hinsichtlich ihrer waffenrechtlichen Nicht nur für den legalen Waffenbesitzer und die Ver- Einordnung geschaffen. bände, sondern auch für die Verwaltung führt die Neure- Im Laufe der parlamentarischen Beratungen werden gelung zu einer unnötigen Verstärkung des bürokratischen wir nochmals verschiedene Detailregelungen, wie zum Aufwands, der durch Gründe der inneren Sicherheit nicht Beispiel das Mindestalter von Kindern bei der Ausübung gerechtfertigt ist. Der Vollzugsaufwand wird einerseits für des Schießsports, die Höhe der Strafmaßschwelle als Be- die Behörden zu ganz erheblichen zusätzlichen Belastun- urteilungsgrundlage für die Zuverlässigkeit, aber auch die gen führen. Die logische Folge daraus sind erhebliche zu- Kontrolle der sicheren Aufbewahrung – ich denke hier an sätzliche Kosten für die Steuerzahler. Andererseits wird ein Zutrittsrecht nur in begründeten Verdachtsfällen –, ein Teil des Aufwands auf die betroffenen Sportverbände überprüfen, darüber diskutieren und entscheiden. Ich bin abgewälzt, die im Rahmen der ehrenamtlichen Tätigkeit jedoch überzeugt, dass dieser Entwurf insgesamt ein guter erhebliche Belastungen zu erwarten haben, und dies im Kompromiss zwischen den Interessen des Bundes, der internationalen Jahr des Ehrenamtes! Länder und auch den Verbänden, also letztlich der Waf- So traurig es ist: Restriktionen, wie sie hier vorgesehen fenscheininhaber selbst, darstellt. sind, können Tragödien nicht verhindern. Amokläufer kann man durch Regelungswahn nicht stoppen. Die Si- Hartmut Koschyk (CDU/CSU): Dass das Waffen- cherheitsprobleme in unserem Land liegen andernorts, recht dringend novelliert werden muss, ist unumstritten. nicht bei den legalen Waffenbesitzern, nicht bei den Jä- Dies gilt auch und gerade im Interesse der Anwender, da gern, Sport- und Brauchtumsschützen. Es entsteht der das geltende Waffenrecht mit dem Waffengesetz und den Eindruck, ein nicht vorhandenes Sicherheitsproblem wird dazugehörigen sechs Rechtsverordnungen im Hinblick vorgeschoben, um ein entschlossenes Vorgehen zur vor- auf Systematik und Regelungsgehalt äußerst kompliziert geblichen Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger zu de- ist. Das Waffenrecht transparenter und übersichtlicher zu monstrieren. Ich frage mich vor diesem Hintergrund: Vor gestalten war bereits Anliegen der letzten – unionsgeführ- wem sollen die Bürgerinnen und Bürger geschützt wer- ten – Bundesregierung. Wir wollten dabei sowohl den Si- den? Vor den rund 4 Millionen legalen Waffenbesitzern in cherheitserfordernissen als auch den berechtigten Anlie- Deutschland? Wir könnten uns über alle Maßen glücklich gen der Sportschützen, der Jäger, der Waffensammler und schätzen, wenn der Bevölkerung sonst keine Gefahren 20690 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001

(A) drohten! Der Gesetzentwurf geht ganz klar an potenziel- gerechtfertigte Verschärfung dar. Diese Bestimmung (C) len Tätergruppen vorbei und trifft stattdessen Jäger, Sport- würde Unfrieden in die Vereine tragen, die Abgabe un- und Brauchtumsschützen. richtiger Bescheinigungen provozieren und insgesamt dem Vereinsleben schweren Schaden zufügen. Zudem Ich möchte nun auf einige der aus unserer Sicht gra- würden die Behörden durch die eingehenden Meldungen vierendsten Mängel des Gesetzentwurfs eingehen: Die im und den dadurch ausgelösten Prüfungsbedarf im Hinblick Hinblick auf die Zuverlässigkeit geplanten Neuerungen auf einen Widerruf waffenrechtlicher Erlaubnisse erneut schießen über das Ziel hinaus. Es ist richtig, dass Perso- erheblich belastet. nen, die bereits schwere Straftaten begangen haben, ge- nerell und unwiderleglich als unzuverlässig gelten. Rich- Der Versuch, Wettbewerbsgleichheit mit anderen euro- tig ist auch, dass bei Mitgliedschaft in einem verbotenen päischen Sportschützen durch moderate Anpassung der Verein oder in einer vom Bundesverfassungsgericht ver- Altersgrenze herzustellen, droht zu scheitern. Wie sollen botenen Partei oder bei nachgewiesenen verfassungs- sich junge Menschen messen, wenn die einen mit 16 Jah- feindlichen Bestrebungen und bei massiv zutage getrete- ren bereits Meister sind, während andere – unter Aufsicht ner Gewalttätigkeit der Waffenbesitz nicht erlaubt wird. besonderer Jugendtrainer – gerade erst richtig beginnen Die Verkürzung der Frist für die Vornahme von Regel- dürfen? überprüfungen der Zuverlässigkeit von fünf auf drei Jahre Die die Munitionssammler betreffenden Regelungen ist aber völlig sinnlos und führt statt zu mehr Sicherheit des Gesetzentwurfs führen dazu, dass das Sammeln von nur zu mehr Verwaltungsaufwand. Dies gilt umso mehr Munition in Zukunft nicht mehr möglich sein wird. vor dem Hintergrund, dass legale Waffenbesitzer zu 99,9 Prozent unbescholtene und rechtstreue Bürger sind. All diese Beispiel zeigen die Praxisferne, die sich Nur ein minimaler Bruchteil aller Straftaten, nämlich durch den ganzen Entwurf zieht. Ich betone es noch ein- 0,04 Prozent, werden mit zugelassenen Waffen begangen. mal: Unsere Kritik richtet sich nicht gegen das Vorhaben, Für denjenigen, der ein Verbrechen plant, ist es jedoch ein das Waffengesetz zu novellieren. Der hier vorgelegte Ent- Leichtes, sich jede Art von Schusswaffen illegal zu be- wurf geht jedoch an der Wirklichkeit völlig vorbei und sorgen. Dagegen sollte der Rechtsstaat mit aller Entschie- kann daher in dieser Form unsere Zustimmung keinesfalls denheit vorgehen. finden. Durch die Umformulierung des Bedürfnisprinzips vom Zugangs- zur Umgangserfordernis wird der legale Waf- Cem Özdemir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die fenbesitzer durch Restriktionen gegängelt und diese Maß- späte Stunde dieser Aussprache wird der Bedeutung des nahme wird unter dem Markenzeichen der Bekämpfung Themas ganz gewiss nicht hinreichend gerecht. Die Re- des illegalen Waffenbesitzes und der Verbesserung der öf- form des Waffenrechts ist eine der wichtigen und großen (B) fentlichen Sicherheit verkauft. Hier wird der legale Waf- Projekte dieser Regierung. Nachdem einige Anläufe in (D) fenbesitzer zum Sündenbock einer verfehlten Kriminal- der Vergangenheit gescheitert sind, beginnt nun gewisser- politik. maßen der parlamentarische Endlauf. Das zeigt, wie handlungsfähig und entschlossen die rot-grüne Koalition Die Abschaffung der seit 25 Jahren bewährten Rege- in Sicherheitsfragen ist. lung der gelben Waffenbesitzkarte lehnen wir ab. Dies würde dazu führen, dass eine Einzelprüfung für jede Ein- Ich will an dieser Stelle ausdrücklich für die gute und zelladerlangwaffe nötig wird. Gerade in diesem Bereich freundschaftliche Zusammenarbeit mit den zuständigen ist aber aufgrund der Art der Waffen eine missbräuchliche Staatssekretären des Bundesinnenministers danken. Herr Verwendung nahezu ausgeschlossen. Körper und Herr Schapper haben hier einen sehr guten Job gemacht. Beide haben in den letzten Wochen ein we- Auch die Regelungen zum temporären Waffenbesitz nig unter unserer Hartnäckigkeit bei den Antiterrorgeset- halten dem Praxistest nicht stand. Selbst kurze Unterbre- zen gelitten – umso mehr haben sie sich hier ein besonde- chungen des Schießsportes oder der Jagdausübung, zum res Lob verdient. Das gilt auch für die Arbeitsebene im Beispiel bei beruflich bedingten Auslandsaufenthalten Haus. Mit Empörung weise ich hier die persönlichen An- oder wenn aus Altersgründen der Schießsport bzw. die griffe aus der Waffenlobby gegen einzelne Mitarbeiter Jagd nicht mehr regelmäßig ausgeübt wird, sollen zum zurück. Wegfall des Bedürfnisses und damit zum Widerruf der Waffenbesitzkarte führen. Diese Regelung ist mit Blick Die Koalition ist sich völlig einig, dass es uns nicht da- auf Globalisierung, Mobilität und Flexibilität der Arbeits- rum gehen kann, die Bürgerinnen und Bürger, die beruf- prozesse kontraproduktiv. lich oder in ihrer Freizeit mit Waffen umgehen, zu gängeln und zu bevormunden. Der übergroße Teil der Waffenbe- Abzulehnen ist auch die Verpflichtung der Vereine, der sitzer geht gesetzestreu und gewissenhaft mit den Geräten zuständigen Behörde die Sportschützen zu benennen, die um. Wir wollen auch nicht in die traditionelle Brauch- aus dem aktiven Schießsport ausscheiden. Die Melde- tumspflege eingreifen. Der Gesetzentwurf gibt keinen pflicht bezüglich inaktiver Sportschützen stellt angesichts Anlass zu dieser Sorge. Sollte sich im weiteren Verlauf der Regelung im Bereich der Jäger, bei denen zu Recht für der Diskussion hier die eine oder andere Unklarheit zei- den weiteren Besitz von Schusswaffen nur das Innehaben gen, lassen wir immer mit uns reden. eines gültigen Jagdscheins und nicht die tatsächliche Ausübung der Jagd vorausgesetzt wird, und der in § 4 Die Notwendigkeit einer grundlegenden Gesetzesän- Abs. 4 WaffG vorgesehenen wiederholten Bedürfnisprü- derung ist aber nach Überzeugung aller politisch Verant- fung innerhalb der ersten sechs Jahre eine sachlich nicht wortlichen unabweisbar. Gemeinsam mit den Innenminis- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20691

(A) tern des Bundes und der Länder fordern wir Grünen schon gen, und den berechtigten Interessen der Waffenbesitzer (C) seit vielen Jahren eine Änderung der waffenrechtlichen dar. Deshalb hat die FDP in der letzten Legislaturperiode Bestimmungen. Ziel ist es, die öffentliche Sicherheit der Bestrebungen der CDU/CSU und insbesondere der Bun- Bürger zu verbessern. Hier gibt es in der Praxis deutliche desländer, das Waffenrecht im Sinne einer weiteren Büro- Mängel. kratisierung zu verändern, verhindert. Tragische Ereignisse wie die Schüsse in Bad Reichen- Allerdings ist zuzugeben, dass eine Modernisierung hall, wo ein Jugendlicher mit der Waffe seines Vaters auf des Gesetzes in Richtung Vereinfachung durchaus wün- Passanten schoss und neben anderen auch den Schauspie- schenswert wäre. Dabei müssten die Interessen der Jagd- ler Günter Lamprecht traf, alarmieren uns alle. Weitere und Sportausübung einerseits und der inneren Sicherheit Zwischenfälle dieser Art, so erst vor wenigen Tagen in andererseits in einer vernünftigen Abwägung berücksich- Berlin, können nicht hingenommen werden. Wir müssen tigt werden. Die von der Bundesregierung vorgeschla- erkennen, dass gerade aus dem familiären Umfeld der Be- genen Änderungen des Waffenrechts sind dagegen nur sitzer immer wieder labile Menschen sich der Waffen im zum Teil sinnvoll. Sie führen insgesamt zu mehr Büro- Haus bedienen. Mit der Zuverlässigkeit des Besitzers al- kratie und zu Einschränkungen für die legalen Waffenbe- lein ist es daher nicht getan. Auch die Aufbewahrung der sitzer, ohne dass die Sicherheit der Bürger dadurch ent- Waffen und der Munition muss sicherer werden. Das Ge- scheidend verbessert werden würde. wehr gehört nicht auf das Sofa, sondern in ein abgesi- So ist etwa der so genannte kleine Waffenschein für chertes Behältnis. Gaspistolen abzulehnen. Es wäre damit ein hoher Verwal- Kritiker unseres Vorhabens, die uns in diesen Tagen tungsaufwand verbunden. Es besteht im Übrigen ein Be- recht emsig Briefe schreiben, bringen immer wieder vor, dürfnis insbesondere für Frauen, sich in Notwehrsitua- die meisten Straftaten würden ohnehin mit illegalen Waf- tionen mit Gaspistolen schützen zu können. fen begangen. Diese Aussage ist – vordergründig betrach- Millionenfach die Vorlage eines polizeilichen Füh- tet – richtig. In der Tat sind viel zu viele illegale Waffen rungszeugnisses zu verlangen geht zu weit. Stattdessen im Umlauf. Zu behaupten, eine Verschärfung der rechtli- könnte jeder, der eine solche Waffe in der Öffentlichkeit chen Bestimmungen bringe aber keinen erkennbaren führt, dazu verpflichtet werden, den Personalausweis mit Nutzen, ist auch nicht richtig. Jährlich verschwinden al- sich zu führen und sich damit gegenüber der Polizei aus- lein circa 6 000 „legale“ Waffen in die Illegalität. Gerade zuweisen. Diese einfache Maßnahme wäre sehr wohl wir- diese hohe Zahl spricht für präzisere und auch schärfere kungsvoll gegen Missbrauch. Im Übrigen könnte der Regelungen, deren Einhaltung besser kontrolliert werden Altbestand von etwa 10 Millionen Gaspistolen kaum re- muss. gistriert werden. Der riesige Verwaltungsaufwand ist (B) Das statistische Material in Deutschland ist leider un- nicht gerechtfertigt. (D) vollständig. Fachleute gehen aber davon aus, dass circa Das Waffenrecht muss auch den berechtigten Anliegen die Hälfte der so genannten Beziehungstaten bei Mord der Sportschützen, Jäger und Waffensammler in ange- und Totschlag mit legalen Waffen begangen wurden. Bei messener Weise Rechnung tragen. Nicht die in privatem aller Ungenauigkeit der Zahl kann darüber auch nicht Besitz befindlichen, legal zugelassenen Waffen, sondern hinweggegangen werden. Auch dies widerlegt all jene, die vielen illegal beschafften Waffen stellen das eigent- die sich einer Reform unter Hinweis auf die nicht regi- liche Problem der inneren Sicherheit dar. Die Bundes- strierten Waffen widersetzen. regierung setzt dagegen auf die Gängelung der Jäger und Unumgänglich sind auch höhere Anforderungen an die auf das Abwürgen des Schießsports bis hin zum Biathlon. persönliche Zuverlässigkeit des Waffenbesitzers. Glei- Der Vollzug dieses Gesetzes würde etwa 100 000 Arbeits- ches gilt für die Einführung des „kleinen Waffenscheins“ plätze in hochspezialisierten Berufen in konkrete Gefahr für Gas- und Schreckschusswaffen. Spring- und Fallmes- bringen. ser werden künftig ebenso verboten sein wie die tücki- Die Verbände der Sportschützen, der Deutsche Jagd- schen Wurfsterne. schutzverband und das Forum Waffenrecht waren im Vor- Sehr zufrieden bin ich auch, dass wir die Deckungs- feld des Gesetzgebungsverfahrens bereit, erhebliche Be- summe für die Pflichthaftpflichtversicherung nach dem lastungen auf sich zu nehmen, um zu einer vernünftigen bisherigen § 36 Abs. 1 von kläglichen 500 000 DM bei Reform zu kommen. Personenschäden und 50 000 DM für Sachschäden auf je Die Bundesregierung wäre gut beraten, auf diese Be- eine Million Euro erhöhen. Diese Verbesserung für die reitschaft einzugehen und ihren überbürokratischen Ge- Opfer trägt der Schwere der Zwischenfälle in den vergan- setzentwurf entsprechend anzupassen. Die FDP wird ver- genen Jahren Rechnung. suchen, in diese Richtung in den Ausschussberatungen Ich hoffe, dass wir im Ausschuss eine gute und frucht- Einfluss zu nehmen. bare Diskussion bekommen und wir gemeinsam mit dem Bundesrat alsbald dieses Reformvorhaben auf den Weg Ulla Jelpke (PDS): Der private Erwerb von legalen bringen können. Waffen ist durch das bestehende Waffenrecht vielfältig re- glementiert. Das ist auch gut so. Wir wollen keine US- Dr. Max Stadler (FDP): Das geltende Waffenrecht amerikanischen Verhältnisse. Weil aber diese Reglemen- stellt insgesamt einen ausreichenden Ausgleich zwischen tierung in vielen Gebieten schon da ist, sehen wir auch der staatlichen Verpflichtung, für innere Sicherheit zu sor- keinen Bedarf für die hier vorgeschlagene allgemeine 20692 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001

(A) Verschärfung des Waffenrechts. Um es klar und deutlich sigkeit der Besitzer solcher Waffen zu überprüfen. Wer (C) zu sagen: Das Verbot von Wurfsternen und besonders ge- solche Waffen in der Öffentlichkeit mit sich führen will, fährlichen Hieb- und Stoßwaffen tragen wir mit, ebenso muss vorher eine behördliche Erlaubnis, den „kleinen die Einführung eines kleinen Waffenscheins für Gas- und Waffenschein“, beantragen und erhalten. Auch das Verbot Schreckschusswaffen. Für eine allgemeine Verschärfung von Wurfsternen und gefährlichen Messern wie den so ge- der Restriktionen gegen den privaten Besitz von legalen nannten Butterflymessern ist richtig und erforderlich. Waffen, die auch Sportschützen, Jäger und vergleichbare Allerdings wird über die genauen Modalitäten, zum private Waffenbesitzer trifft und in wichtige Grundrechte Beispiel beim kleinen Waffenschein, noch zu sprechen eingreift, sehen wir aber keinen Grund. Das lehnen wir ab. sein. Die Gewerkschaft der Polizei hat im Mai darauf hin- Für eine derartige Verschärfung gibt es auch keine mate- gewiesen, dass von dem kleinen Waffenschein mögli- rielle Grundlage. cherweise 15 Millionen Gas- und AIarmwaffen erfasst Die Zeitung „Forum Waffenrecht“ hat vor kurzem eine werden. Allein die Ausstellung der dafür erforderlichen Untersuchung der polizeilichen Kriminalstatistik veröf- polizeilichen Führungsscheine würde einen erheblichen fentlicht. In dieser Untersuchung nennt sie folgende Zah- Arbeitsaufwand machen. len für das Jahr 2000: An Straftaten insgesamt wurden von Grundsätzlich kann das Problem der bewaffneten Kri- der Polizei 6,3 Millionen erfasst. Davon waren Gewalt- minalität nicht allein mit repressiven Mitteln bekämpft taten: 186 655. Von diesen Gewalttaten erfolgten mit werden. Das gilt insbesondere im Bereich der Jugendkri- Schusswaffenverwendung 19 292. Nur in 79 Fällen wur- minalität. Eines der großen Probleme ist hier sicherlich den von der Polizei am Ende legale Waffen sichergestellt, die allgemeine Gewalt in den Medien und in der Gesell- die bei solchen Straftaten zum Einsatz kamen. schaft. Wer auf internationale Probleme und Konflikte zu- Mit anderen Worten: Nur bei 0,31 Prozent aller im Jahr nehmend mit Militarismus, Krieg und Bomben setzt, wer 2000 begangenen Straftaten wurden überhaupt Schuss- auch bei innenpolitischen gesellschaftlichen Konflikten waffen eingesetzt. Und nur in 0,013 Prozent aller Strafta- eine Hau-drauf-Politik praktiziert und propagiert, statt die ten wurden legale Waffen verwendet. Das macht deutlich, Ursachen von Konflikten zu beseitigen und zu korrigie- wie unverhältnismäßig und sachlich unbegründet eine all- ren, der muss sich nicht wundern, wenn Jugendliche sich gemeine Verschärfung des Waffenrechts ist. Es gibt keine diese Propaganda und Politik auch im persönlichen Be- reale Notwendigkeit, gegen den legalen Waffenbesitz so reich zu Eigen machen. Eine friedliche Außenpolitik und breitflächig wie von den Regierungsparteien geplant, mit eine verantwortungsvolle Medien-, Jugend und Sozialpo- schärferen Gesetzen vorzugehen. litik sind langfristig bestimmt wirksamer bei der Zurück- drängung von Gewalt in der Gesellschaft als ein Ansatz, Der hier vorliegende Gesetzentwurf der Regierung der einfach nur auf schärfere Gesetze und mehr Repres- (B) sieht im Paragraph 36 sogar eine Einschränkung der Un- (D) sion setzt. verletzlichkeit der Wohnung vor. Bei begründeten Zwei- feln an der sicheren Aufbewahrung der Waffen und Mu- nition soll die Waffenbehörde auch gegen den Willen des Fritz Rudolf Körper, Parl. Staatssekretär beim Bun- Betroffenen die Wohnung betreten können. Das gilt nach desminister des Innern: Man glaubt es kaum, aber vor Paragraph 39 auch für Auskunftspflichtige, die Waffen- knapp zehn Jahren ist mit den Arbeiten an einer grundle- herstellung, Waffenhandel, eine Schießstätte oder ein Be- genden Novellierung des Waffenrechts begonnen worden. wachungsunternehmen betreiben. Die zuständigen Bereits in den beiden Legislaturperioden zuvor waren Ge- Behörden können auch hier zur Abwehr dringender Ge- setzentwürfe der alten Bundesregierung zur Teilnovellie- fahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung die Ar- rung des Waffengesetzes im Deutschen Bundestag nicht beitsstätten außerhalb der Betriebs- und Arbeitszeiten be- verabschiedet worden. Heute liegt nach diesem langen treten sowie die Wohnräume der Auskunftspflichtigen Vorlauf dem Bundestag der Regierungsentwurf eines Ge- gegen deren Willen betreten. Hier ist noch nicht einmal setzes zur Neuregelung des Waffenrechts vor. eine richterliche Anordnung erforderlich. Auch die Rück- Mit dem Gesetzentwurf soll das Anliegen präzisiert nahme der Waffenbesitzkarte soll nach Paragraph 44 sehr werden, aus Gründen der öffentlichen Sicherheit den pri- restriktiv gehandhabt werden. Schon eine kurze Unter- vaten Schusswaffenbesitz möglichst gut zu regulieren und brechung des Schießsports oder der Jagdausübung soll insgesamt sicherzustellen, dass Waffen nicht in falsche zum Wegfall der Waffenbesitzkarte führen. Ein Grund Hände geraten, um so die Bevölkerung wirksam zu schüt- dafür ist nicht ersichtlich. Für vertretbar halten wir dage- zen. gen die schärferen Restriktionen für Reizstoff-, Schreck- schuss- und Signalwaffen. Kernpunkte des Entwurfs sind daher bessere Auf- bewahrungsregelungen für Waffen und Munition, höhere Die so genannten Gas- und Schreckschusswaffen kom- Anforderungen an die Zuverlässigkeit der Waffenträger, men inzwischen in hohem Maße bei Straftaten im Bereich insbesondere Ausschluss des Waffenerwerbs durch Extre- der Bereich der Schwerkriminalität wie räuberischer Er- misten, ein sogenannter kleiner Waffenschein für das pressung, Geiselnahme und Ähnlichem Einsatz. Etwa die Führen von Gas- und Schreckschusswaffen in der Öffent- Hälfte aller im Zusammenhang mit Straftaten sicherge- lichkeit sowie restriktive Regelungen für Spring- und stellten Waffen sind solche Waffen. Diese Waffen sollen Fallmesser, Butterflymesser und Wurfsterne. nunmehr einer Meldepflicht unterliegen. Altbesitzer sol- len ihren Besitz anmelden müssen. Die zuständige Waf- Eine grundlegende Neuregelung des Waffenrechts ist fenbehörde bekommt so die Möglichkeit, die Zuverläs- dringend geboten. Denn die bestehende Regelung des Waf- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20693

(A) fenrechts, die aus den 70er-Jahren stammt, ist im Lauf der und des Gemeinwohls notwendig ist, das Waffenrecht neu (C) Zeit immer unübersichtlicher geworden. Durch viele klei- zu ordnen! Lassen wir uns nicht darauf ein, wenn – von nere und größere Korrekturen im Waffengesetz selbst und wem auch immer – auf Weiterwursteln plädiert wird; das in dem halben Dutzend Verordnungen hierzu sind die kla- Rad ist auch nicht dadurch erfunden worden, dass sich die ren Linien immer undeutlicher geworden. Folge hiervon Diskussion darum immer im Kreise drehte! Nutzen wir sind Unsicherheiten, teilweise auch Defizite im Vollzug. die Chance, dieses Projekt, in das schon von jeder Seite jede Menge Mühe, Geduld und Aufwand hineingesteckt Dazu kommt, dass Anlass besteht, im Interesse der wurde und das sonst droht, allmählich überreif zu werden, öffentlichen Sicherheit und Ordnung zwischenzeitlich endlich abzuschließen! eingetretenen negativen Entwicklungen etwa in der kriminellen Verwendung von bestimmten Hieb- und Stoßwaffen oder Gas- und Schreckschusswaffen entge- Anlage 9 genzutreten. Der Umfang des Gesetzes spiegelt die Komplexität der Zu Protokoll gegebene Reden zu regelnden Materie wider. Hier spielen Aspekte der öf- fentlichen Sicherheit, aber auch der Verwendersicherheit zur Beratung des Antrags: Ausbau der Donau eine gewichtige Rolle. Das machte es erforderlich, die zwischen Straubing und Vilshofen ökologisch ge- Regelung insgesamt neu zu konzipieren und zu struktu- stalten (Tagesordnungspunkt 18) rieren; aus diesem Grund soll das Waffenrecht künftig in ein Waffengesetz mit der Zielsetzung der öffentlichen Si- Annette Faße (SPD): Zur Bewältigung des prognos- cherheit und ein Beschussgesetz mit der Zielsetzung der tizierten Güterverkehrsaufkommens müssen die Poten- Verwendersicherheit aufgegliedert werden. ziale jedes einzelnen Verkehrsträgers voll ausgeschöpft Es nimmt nicht wunder, dass bei einem so umfassen- werden. Straße, Schiene und Wasserstraße müssen effizi- den Regierungsentwurf die Länder im Wege der Stellung- ent miteinander vernetzt werden. Die Güterverkehre nahme des Bundesrates eine Fülle von Anregungen und der Zukunft lassen sich nur mit Unterstützung der Binnen- Anmerkungen gemacht haben. Dank der intensiven schifffahrt bewältigen. Das Binnenschiff ist ein unverzicht- Abstimmung im gesamten Prozess des Gesetzgebungs- barer Verkehrsträger; nicht nur weil er umweltfreundlich ist, verfahrens kann ich feststellen, dass es sich bei der über- sondern auch weil er kostengünstig, energiesparend und si- wiegenden Zahl der Änderungs- oder Prüfwünsche um in cher ist. erster Linie regelungstechnische Vorschläge handelt, de- Ein zentrales Anliegen rot-grüner Verkehrspolitik ist nen aus Sicht der Bundesregierung in einer nicht uner- eine Verlagerung der Gütertransporte auf die umwelt- heblichen Anzahl gefolgt werden kann. freundlichen Verkehrsträger Schiene und Wasserstraße. (B) (D) Natürlich kann es bei der erwähnten Komplexität der Zwar erbringt die Binnenschifffahrt heute rund 90 Prozent Materie und der Vielfältigkeit der in Betracht zu ziehen- der Transportleistung der Eisenbahnen, dennoch hat sie den Interessen- und Güterabwägungen nicht ausbleiben, systembedingte Nachteile gegenüber den konkurrieren- dass es einzelne Eckpunkte gibt, bei denen nicht jeder voll den Verkehrsträgern. Zudem hemmen Defizite im Aus- zufrieden gestellt ist. In diesen Punkten geht von der bauzustand des deutschen Wasserstraßennetzes die ein- Mehrheit der Länder in der Stellungnahme des Bundesra- geschränkte Verfügbarkeit der Wasserstraßen sowie tes das Signal aus, den Regierungsentwurf im Interesse zusätzliche Kosten für Umschlag und Vor- bzw. Nachlauf der öffentlichen Sicherheit zu verschärfen. Die Vertreter bei gebrochenen Verkehren eine stärkere Verlagerung auf der Verbände hingegen wünschen sich mehr Großzügig- die Wasserstraße. Insbesondere weist das 7 300 Kilome- keit für den Erwerb und Besitz von Waffen. Aber es han- ter lange Netz der deutschen Binnenwasserstraßen regio- delt sich bei den kontroversen Punkten um eine über- nal sehr große Unterschiede hinsichtlich der Befahrbar- schaubare Menge. So bin ich guten Mutes, dass es keit auf. Wasserstraßen mit einem hohen Standard weisen gelingen wird, die von uns von Anfang an gesuchte Fahr- eine hohe Auslastung mit deutlichen Verkehrszuwächsen spur tragfähiger und ausgewogener Kompromisse, in de- auf. Dies trifft in erster Linie auf den Rhein zu, dessen An- nen auch die berechtigten Anliegen der Jäger, Sportschüt- teil 80 Prozent an der Gesamtverkehrsleistung der Bin- zen und anderer Interessengruppen angemessen zur nenschifffahrt beträgt. Geltung kommen, zu halten. Einer der wesentlichen Engpässe ist die Donauteil- Diese Zuversicht kommt nicht von ungefähr: Wir ste- strecke zwischen Straubing und Vilshofen. Hier hat die hen in ständigem Kontakt mit den Vertretern der Fraktio- Binnenschifffahrt durch den derzeitigen Ausbauzustand nen, der Länder und der Verbände, und wir versuchen, echte Nachteile gegenüber den anderen Verkehrsträgern zwischen den Positionen zu vermitteln, um sachgerechte Straße und Schiene. Vor dem Hintergrund der wirtschaft- Lösungen zu entwickeln. Dabei hat der lange Vorlauf die- lichen Entwicklung der osteuropäischen Staaten und der ser Waffenrechtsnovelle durchaus auch seine positiven damit verbundenen Zunahme der Verkehrsströme bleibt Nebeneffekte: Viele Probleme werden seit Jahren hin festzuhalten, dass das Transportaufkommen nicht allein und hergewälzt, sind von allen Seiten beleuchtet und von der Straße und der Schiene bewältigt werden kann. ausdiskutiert worden. Oftmals finden sich bereits in Um eine nennenswerte Verlagerung von der Straße auf früheren Legislaturperioden entwickelte Lösungsansätze, die Wasserstraße zu erreichen, hält die Binnenschifffahrt die jetzt fruchtbar gemacht werden können. zuverlässige ganzjährige Mindestabladetiefen für not- Deshalb appelliere ich an alle: Seien wir uns dessen wendig. Zurzeit kann die Binnenschifffahrt bei einer ge- bewusst, dass es im Interesse der öffentlichen Sicherheit mittelten Abladetiefe nur ein Drittel weniger als bei einer 20694 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001

(A) ganzjährigen Mindestabladetiefe von 2,50 Meter trans- mehr auch auf der Wasserstraße. Gerade hier ist mit einem (C) portieren. Diese Situation macht es für sie unmöglich, fest überproportionalen Wachstum zu rechnen. Für das Jahr kalkulierbare Tarife anzubieten. Dadurch meiden viele 2005 wird ein Aufkommen von kombiniertem Verkehr auf Verlader die Wasserstraße Donau. Effektive Verlage- der Wasserstraße von 14,6 Millionen Tonnen prognosti- rungseffekte sind damit nicht zu erwarten. ziert. Angesichts der Erfolge in der Vergangenheit und der Aufgrund der Richtungsentscheidung von 1996 über optimistischen Prognosen war und ist uns die stetige Er- den weiteren Donausausbau sind die möglichen fünf Aus- höhung der KV-Fördermittel ein besonderes Anliegen. bauvarianten hinsichtlich der ökologischen Auswirkun- Wir unterstützen die Binnenschifffahrt zusätzlich im Be- gen und der zu erwartenden Kosten eingehend untersucht reich der Ausbildung, der Schiffsbesetzung und des Mar- worden. Die Ergebnisse der Untersuchungen sind abge- ketings. Darüber hinaus müssen sowohl die nationalen als schlossen und im Schlussbericht der vertieften Untersu- auch die europäischen Wettbewerbsbedingungen weiter chungen zum Donauausbau ausgewertet worden. Auf der harmonisiert werden. Grundlage des Ergebnisses werden wir eine Entscheidung Die anstehende Anhörung zeigt, dass das Problem zu treffen haben, die den ökologischen Faktor verantwor- Straubing-Vilshofen vom Parlament ernst genommen tungsvoll einbezieht und die dem verkehrpolitischen Ziel wird. Nach Abschluss des Raumordnungsverfahrens, das von Rot-Grün, der verstärkten Verlagerung auf die Was- keine zusätzliche Zeitverzögerung beinhaltet, muss end- serstraße, genügen kann. Wir müssen uns dabei vor Au- gültig entschieden werden. Dies sind wir allen Beteiligten gen führen, dass eine verstärkte Verlagerung auf die Was- schuldig. Ich bin sicher, dass die Binnenschifffahrt mit un- serstraße auch dem Schutz der Umwelt dient. serem verkehrspolitischen Konzept gute Zukunftschan- Zur Unterstützung der Entscheidungsfindung wird der cen haben wird. Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen am 20. Februar 2002 eine Expertenanhörung durchführen. Brunhilde Irber (SPD): Lassen Sie mich zunächst Dort müssen alle noch offenen Fragen hinsichtlich der ein offenes Bekenntnis zum letzten Stück frei fließender Vertragslage und damit verbundener möglicher Rechtsan- Donau ablegen, ein Bekenntnis zu „meiner“ Donau. Als sprüche des Freistaates Bayern an den Bund geklärt wer- betroffene Abgeordnete, deren Wahlkreis seit Jahr- den. Für mich stellt sich insbesondere auch die Frage, in tausenden durch den Lauf der Donau wesentlich geprägt welcher Weise die einzelnen Varianten die Wirtschaftlich- wird, kann ich nicht nur für mich persönlich, sondern für keit der Binnenschifffahrt in einem vernünftigen Kosten- die vielen aufs Engste mit diesem Fluss verbundenen Nutzen-Verhältnis erhöhen können. Demgegenüber ste- Menschen in Niederbayern sprechen. hen die zu berücksichtigenden ökologischen Aspekte. Das ist ein schwieriger Grad, auf dem wir uns bewegen. Den- Das freie Fließen der Donau empfinden viele Men- (B) noch werden wir den Anforderungen an eine verantwor- schen wie ihren eigenen Herzschlag, ihren eigenen Atem. (D) tungsbewusste Entscheidung gerecht werden. Auch mir geht es so. Wer an und mit der Donau aufge- wachsen ist, wer von und mit ihr lebt, der weiß, dass die Die rot-grüne Bundesregierung hat im Rahmen ihrer Donau in ihrer jetzigen Gestalt mehr ist als eine Wasser- Verkehrspolitik deutlich gemacht, dass sie für einen ziel- straße, die zum Ausbau freigegeben wurde. Die Donau gerichteten Ausbau der Wasserstraßeninfrastruktur steht, zwischen Straubing und Vilshofen ist und gibt Leben. der in umwelt- und naturverträglicher Weise erfolgt. Gleichsam als „Arche Noah“ bildet sie für viele vom Aus- Dafür haben witr die entsprechenden Haushaltsmittel be- sterben bedrohte Pflanzen und Tiere einen letzten Le- reitgestellt. bensraum. Wegen der überragenden ökologischen Bedeu- Im Rahmen der Fortschreibung des Bundesverkehrs- tung sind große Teile als Schutzgebiete ausgewiesen, wegeplans werden derzeit acht Wasserstraßenprojekte un- darunter das Isar-Mündungsgebiet als bundesweit reprä- tersucht und bewertet. Bis zur Vorlage des neuen Bundes- sentatives Auen-Schutz-Gebiet. Durch die Meldung als verkehrswegeplans sichert das Investitionsprogramm Flora-Fauna-Habitat (FFH)-Gebiet genießt die Donau seit 1999 bis 2002 (IP) die notwendigen Investitionen in die kurzem auch den besonderen Schutz der europäischen wesentlichen Wassertraßenprojekte und die Instandhal- Naturschutzrichtlinien. Aber auch für die Menschen ist tung. Daneben leistet das Anti-Stau-Programm 2003 bis der Erhalt der Fließgewässer- und Auendynamik von er- 2007 (ASP) einen wichtigen Beitrag zur gezielten Er- heblicher Bedeutung – als Trinkwasserreserve, Hochwas- höhung der Leistungsfähigkeit der Infrastruktur. Für die serretentionsraum und naturnahes Erholungsgebiet. Wir Wasserstraßen sind im ASP insgesamt 460 Millionen wissen alle – und als tourismuspolitische Sprecherin der Euro zur Engpassbeseitigung im Wasserstraßennetz vor- SPD-Bundestagsfraktion lassen Sie mich das sagen –, gesehen. Uns ist klar, das wir die optimierte Teilhabe der dass naturnahe Erholung in intakten Landschaften einen Binnenschifffahrt im integrierten Verkehrskonzept nicht immer größeren touristischen und wirtschaftlichen Stel- allein mit Ausbaumaßnahmen erreichen können. In einem lenwert einnimmt. leistungsfähigen Wasserstraßennetz kommt der effizien- Dennoch ist uns klar, dass die Donau besser schiffbar ten Gestaltung der Schnittstellen zwischen dem Binnen- gemacht werden muss. Was angesichts der laufenden Dis- schiff, der Bahn und dem LKW eine wichtige Rolle zu. kussion aber immer wieder in Vergessenheit geraten ist: Hierzu trägt das Terminalkonzept der Bundesregierung Es wurden in den letzten Jahren bereits viele Verbesse- entscheidend bei. rungen durch rein flussbauliche Maßnahmen erreicht. Der kombinierte Verkehr ist der Wachstumsmarkt im Wenn wir trotzdem für weitere Optimierungen sind, dann Güterverkehr, nicht nur auf der Schiene, sondern immer deshalb, weil auch wir die Donau nicht nur als Naturidyll, Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20695

(A) sondern gleichzeitig als moderne Schifffahrtsstraße se- fragen in Auftrag gegeben, die zum Entsetzen der Auf- (C) hen, die im Rahmen des ökologisch Verträglichen und traggeber nur das bestätigen, was alle wissen: Die Men- Verantwortbaren leistungsfähig gehalten und gestaltet schen in Niederbayern wollen keine weitere Betonierung werden muss. Dies nicht zuletzt im Sinne einer intelligent der Donau. Die Zukunft der Donau darf nicht durch Trick- organisierten und umweltfreundlichen Verkehrspolitik. serei und Manipulation entschieden werden. Weder in Die Donau, der „Amazonas Bayerns“, wie sie völlig zu München noch in Berlin – auch das sage ich ganz deut- Recht genannt wird, soll also ausgebaut werden. So weit lich. herrscht Konsens. Seit Jahren scheiden sich aber die Geis- Die Tragweite der Ausbauentscheidung erfordert einen ter über das Wie: mit Staustufen oder ohne. breiten gesellschaftlichen Konsens und eine entspre- Meine Position und die Position der bayerischen SPD chende Behandlung im Deutschen Bundestag. Wir kön- ist klar: Es kann und darf nur ohne Staustufen gehen. Dass nen und dürfen es daher nicht akzeptieren, wenn Ministe- dies möglich und sinnvoll ist, beweisen die vom Bund und rialbeamte und nachgeordnete Behörden uns diese Arbeit dem Freistaat Bayern in Auftrag gegebenen „Vertieften im stillen Kämmerlein nur zu gerne abnehmen wollen. Es Untersuchungen“, deren Ergebnisse mittlerweile vorlie- ist daher ausdrücklich zu begrüßen, wenn sich der Deut- gen. Natürlich versucht jetzt die eine oder andere Seite, sche Bundestag mit einer Expertenanhörung über die Art die Ergebnisse für sich zurecht zu interpretieren. Was für des Donauausbaus am 20. Februar 2002 beschäftigen uns aber zählen muss, sind nicht Interpretationsspiel- wird. Bei dieser Anhörung wird es auch darum gehen, räume, sondern harte Fakten. Das Gutachten spricht hin- inwieweit die seitens der Schifffahrtsvertreter immer sichtlich der von uns favorisierten Variante A, also der wieder geforderten Ausbauparameter – im Wesentlichen Ausbauoption ohne Staustufen, eine eindeutige Sprache. handelt sich hierbei um eine ganzjährige Abladetiefe von Mit einem Kosten-Nutzen-Verhältnis von 8,3 schneidet 2,50 Metern bei Niedrigwasser –, tatsächlich verkehrs- Variante A mit Abstand am besten ab. Hinzu kommt die politisch notwendig sind. Unklar ist zudem die Vertrags- nachweislich beste ökologische Verträglichkeit. lage. Aus München höre ich ständiges Getöse, der Bund sei vertraglich zu eben diesen 2,50 Metern verpflichtet. Lassen Sie mich zwei weitere Argumente ansprechen, Definitiv Rechtsverbindliches hierzu konnte mir aber die im Ringen um die beste Ausbauvariante neu sind be- noch niemand vorlegen. Es gibt also noch genügend ziehungsweise bisher zu wenig im Blickfeld standen: In Klärungsbedarf. der am 4./5. September dieses Jahres verabschiedeten „Rotterdamer Deklaration“ wird eine Abladetiefe von Wenn wir – wie heute – die Frage des Donauausbaus 2,50 Metern an 60 Prozent der Tage eines Jahres gefor- zum ersten Mal im Plenum des Deutschen Bundestages dert. Dies kann ein Ausbau nach Variante A locker leisten. diskutieren, ist das ein erster und wichtiger Schritt in die richtige Richtung. (B) Außerdem wird der dreilagige Containerverkehr gefor- (D) dert. Damit rennt die ,,Rotterdamer Erklärung“ bei uns of- Den Damen und Herren von der PDS kommt das Ver- fene Türen ein. Wir reden seit Jahren dem steigenden dienst zu, diese Runde mit der Vorlage ihres Antrags eröff- Containerverkehr auf unseren Binnenwasserstraßen das net zu haben. Ich kann nicht verhehlen, dass Ihr Antrag Wort. Hier sind die größten Zuwachsraten zu erwarten. meinen Vorstellungen inhaltlich recht nahe kommt. Of- Hier lässt sich am meisten Verkehr von der Straße auf das fenbar wurde Ihr Antrag – obwohl Sie in Niederbayern Binnenschiff verlagern. Und der „angenehme“ Nebenef- parteipolitisch gar nicht existieren – durch Sachverstand fekt an der Sache: Die moderne Container- und Roll- direkt aus der Region gespeist. Nein – ich kritisiere das on/Roll-off-Schifffahrt benötigt wesentlich geringere gar nicht. Ich finde das nur bemerkenswert und im Sinne Fahrrinnentiefen als der herkömmliche Transport von eines staustufenfreien Ausbaus der Donau sogar für sehr Massengut mit oft veralteten Fahrzeugen. Auch für diese erfreulich. Ich hoffe nur, wenn es zum Schwur kommt, Binnenschifffahrt der Zukunft wären wir mit Variante A dass Ihre Fraktion dann auch geschlossen dementspre- bestens gerüstet. Die entscheidende Größe bildet hierbei chend abstimmen wird. – wie übrigens heute schon in vielen Fällen – nicht die Fahrrinnentiefe, sondern die Brückenhöhe. Hier besteht Dennoch: Ihr Antrag kommt meines Erachtens zu früh. zweifellos dringender Handlungsbedarf. Die Not leidende Ich werde daher zum jetzigen Zeitpunkt für eine Ableh- Bauindustrie wäre für ein solches Brücken-Bauprogramm nung votieren. Es muss uns, wie oben bereits erwähnt, um mehr als dankbar. eine fundierte und breit angelegte Entscheidungsfindung im Deutschen Bundestag gehen. Wir sollten da zunächst Dies sind in der gebotenen Kürze einige meiner und einmal die Ergebnisse der zitierten Expertenanhörung ab- unserer Argumente. warten. Mit Schnellschüssen können wir das Heer der Statt sich aber mit guten Argumenten auf der Basis der Ewiggestrigen, der Betonlobby, der Trickser und Manipu- Ergebnisse der „Vertieften Untersuchungen“ für die eine lierer ebenso wenig für uns gewinnen wie die vielen Ver- oder andere Lösung auszusprechen, fühlen sich diejeni- nünftigen aus den Reihen der Binnenschiffer. Gleiches gen auf den Plan gerufen, die eben diesen guten Argu- gilt für die Abgeordneten hier in diesem Hause. Der menten nicht zugänglich sind. Da werden plötzlich neue Schuss könnte zu leicht nach hinten losgehen. Wir brau- Verkehrsgutachten aus der Tasche gezogen, die beweisen chen eine breite und qualifizierte Mehrheit für den rich- sollen, dass durch eine komplett betonierte Donau we- tigen Umgang mit der Arche Noah und Wasserstraße sentlich mehr Güter zu Wasser transportiert werden könne „Donau“ sowie den dafür nötigen Haushaltsmitteln. oder – so der jüngste Husarenstreich der Bayerischen Dafür müssen wir uns aber die Zeit nehmen, die Dinge Staatsregierung – es werden für Steuergelder teure Um- verantwortungsbewusst und sachgerecht im Deutschen 20696 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001

(A) Bundestag zu diskutieren. Die Zukunft der niederbayeri- Straubing nicht isoliert gesehen werden darf. Schließlich (C) schen Donau und die dort lebenden Menschen haben es geht es hier um die Binnenschifffahrtsverbindung zwi- verdient. schen Nordsee und Schwarzem Meer. Die Donau ist die Verkehrsalternative der Zukunft und nach der Länge der zweitgrößte, nach der Wasserführung der bedeutendste Renate Blank (CDU/CSU): Um es gleich zu Anfang Strom Europas. Dies und die Verbindung über die Main- zu sagen: Die PDS-Fraktion ist mit dem vorliegenden An- Donau-Wasserstraße zum Rhein qualifizieren sie zu der trag auf dem falschen Dampfer und trägt lediglich zur fast einzigen Binnenwasserstraße im Netz der paneuropäi- „unendlichen Geschichte“ des Donauausbaus bei, ohne schen Verkehrskorridore. Die künftige verstärkte Ver- jedoch etwas inhaltlich Neues zu bieten. Das kann man kehrsnutzung der Donau und der Rhein-Main-Donau- von den SED-Erben wohl auch nicht verlangen. Also han- Wasserstraße, insbesondere auch im Hinblick auf die delt es sich um einen reinen „Schaufenster“-Antrag. MOE-Staaten, ist volkswirtschaftlich unverzichtbar. Ab- Wenn die PDS heute eine Staustufenlösung, trotz der hängig von der politisch-wirtschaftlichen Erholung im Ergebnisse des Gutachtens zum Donauausbau, aus „öko- unteren Donauraum wird der Güterverkehr im Verkehrs- logischen Gründen“ kategorisch – wenn es nicht um die korridor der Donau zwischen dem gemeinsamen Markt PDS ginge, würde ich fast sagen, gerade zu mit religiöser der Europäischen Union und den donaueuropäischen Inbrunst – ablehnt, dann torpediert sie damit die deutsche Ländern stark und nachhaltig wachsen. Eisenbahn- und Binnenschifffahrt! In diesem Zusammenhang sei ange- Straßengüterverkehr stoßen zunehmend an Grenzen. Die merkt, dass es wenig glaubwürdig ist, wenn die Honecker- Donau eröffnet die Chance, wachsende Verkehre wirt- Erben vorgeben, die Grünen ökologisch noch links über- schaftlich günstig und ökologisch schonend aufzunehmen holen zu wollen; die ökologische Katastrophe in der und verbindet als Rückgrat des europäischen Gütertrans- damaligen DDR, der Schaden an Natur und Mensch, die portsystems bedeutende nationale und internationale Verseuchung der Flüsse unter Verantwortung der PDS- Wirtschaftszentren, in deren Einzugsbereich 220 Milli- Vorgänger spricht eine deutliche Sprache. Dies sei noch onen Menschen leben. Von Straubing bis Vilshofen einmal in Erinnerung gerufen. erstreckt sich über 69 Flusskilometer jedoch leider ein „Nadelöhr“, das die Schifffahrt auf der gesamten Donau- Wenn sich die PDS in dem Antrag gegen einen not- Wasserstraße erheblich beeinträchtigt. Diese geringen Ki- wendigen Ausbau festlegt, dann muss sie den Menschen lometer sind der Störfaktor beim Aufbau einer europä- gleichzeitig sagen: Ihre Lösung bedeutet automatisch ein ischen Logistikkonzeption. „Ja“ zu einem zunehmenden LKW-Verkehr auf der Straße und setzt die Existenz von Binnenschifffahrtsunterneh- Meine Damen und Herren von der PDS, auch wenn Sie men und vieler Arbeitsplätze aufs Spiel! es nicht wahrhaben wollen: Entscheidend bleibt langfris- tig die freie Wahl der Verkehrsnutzer. Sie orientiert sich an Der Ausbau der Main-Donau-Wasserstraße wurde be- (B) den Transportkosten der Verkehrswege und ihrer Zuver- (D) reits seit 1921 in einer Reihe von Verträgen zwischen dem lässigkeit, das heißt der Möglichkeit, sie in Logistiksys- Deutschen Reich bzw. der Bundesrepublik Deutschland teme einzubinden. Für die Wasserstraße und speziell die und dem Freistaat Bayern festgelegt. Als man erkannte, Donau bedeutet dies, dass Verkehrswachstum und Ver- dass das angestrebte Ausbauziel zwischen Regensburg kehrsverlagerung nur dann erfolgreich sein werden, wenn und Vilshofen mit einer Niederwasserregulierung nicht das System Wasserstraße mit den landseitigen Zu- und Ab- erreichbar war, beschlossen die Vertragspartner 1966, läufen systematisch optimiert wird. Auch für die Donau auch diesen Streckenabschnitt mit Staustufen auszu- gilt: Jede Kette ist so stark wie ihr schwächstes Glied. Ein- bauen. Nachdem der Ausbau der insgesamt 750 Kilome- zelne Engpässe begrenzen die Auslastung und damit so- ter langen Main-Donau-Wasserstraße bis auf den 69 Ki- wohl die Wirtschaftlichkeit wie die ökologische Qualität lometer langen Donau-Abschnitt zwischen Straubing und der Binnenschifftransporte. Da die Transportentfernungen Vilshofen abgeschlossen war, entwickelte sich Anfang der bedeutend sind, ist dies besonders schwerwiegend. 90er-Jahre eine heftige Diskussion darüber, ob nicht auch mit rein flussregelnden Maßnahmen – also unter Verzicht Das Ifo-Institut München untersuchte im Auftrag der auf Staustufen – die Schifffahrtsverhältnisse in diesem Bayerischen Staatsregierung die Reaktionen des Marktes Nadelöhr hinreichend verbessert werden könnten. auf Niedrigwasser der deutschen Donau im Abschnitt Straubing–Vilshofen in den Jahren 1997/1998. Demnach So beschlossen 1996 der damalige Bundesverkehrsmi- gingen ein Drittel des echten Binnenschiffsverkehrs auf nister Wissmann und der bayerische Ministerpräsident Bahn und LKW. 80 Prozent der Betroffenen erklärten, Stoiber die Durchführung vertiefter Untersuchungen, de- nicht mehr das Schiff zu benutzen, solange das Risiko der- ren Ergebnisse als Grundlage für die politische Entschei- art gravierender Leistungseinschränkungen des Wasser- dung dienen sollten. weges bestehe. Die Wasserstandsschwankungen sind Im März diesen Jahres haben Vertreter der Donauan- doppelt so hoch wie im Rheingebiet. Im Wechselverkehr rainerstaaten in einer Konferenz im Bayerischen Ver- zwischen dem Rhein und der Donau ist die Auslastung der kehrsministerium bekräftigt, dass nur ein Ausbau mit ei- Schiffe – soweit sie die Engpassstelle passieren müssen – ner durchgehenden Abladetiefe von 2,5 Metern für die deshalb um über ein Drittel geringer als am Mittel- und Schifffahrt entscheidenden verkehrstechnischen Nutzen Oberrhein. Die Unfallhäufigkeit im Flaschenhals Strau- für die gesamte Strecke hat und deshalb mit Nachdruck bing–Vilshofen liegt fünffach höher als in der Gebirgs- angestrebt werden muss. strecke des Mittelrheins. Interessant ist: Der PDS-Antrag erwähnt mit keinem Ich habe ja durchaus Verständnis für die Besorgnis, die Wort, dass der Donauabschnitt zwischen Vilshofen und ich aber keinesfalls teile, dass mit einem Ausbau der Do- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20697

(A) nau nachteilige Eingriffe in die Landschaft verbunden der letzte frei fließende Abschnitt im schiffbaren Bereich (C) sein könnten. Der Engpass auf dem Abschnitt zwischen der deutschen Donau. Die außergewöhnliche Vielfalt an Straubing und Vilshofen bedeutet auf jeden Fall erhebli- Lebensräumen sorgt für einen selten gewordenen Reich- che Einschränkungen für die Binnenschifffahrt. tum von Flora und Fauna am und im Fluss. Auf einem halben Prozent der Landesfläche Bayerns kommen Ich erinnere mich allerdings noch sehr gut, wie groß 54 Prozent der gefährdeten und vom Aussterben bedroh- die Widerstände seinerzeit beim Bau des Main-Donau- ten Vogelarten und 85 Prozent der bedrohten Fischarten Kanals waren, als es um die Eingriffe im Altmühltal ging. vor. Voraussetzung für den hohen ökologischen Wert der Nach den vielen Jahren seit Fertigstellung des Kanals hat Donau zwischen Straubing und Vilshofen ist die natür- sich gezeigt, dass die landschaftspflegerischen Begleit- lich erhaltene Dynamik des Flusses. Nach erheblichem maßnahmen nicht nur zu einem Ausgleich der Eingriffe geführt haben, sondern die Landschaft durch eine insge- Druck von Bundesumweltminister Trittin auf die Bayeri- samt gelungene Einbettung der Wasserstraße sogar berei- sche Staatsregierung rang sich diese nach zahlreichen chert wurde. Auch wasserwirtschaftlich sind durch den Widerständen doch noch durch und meldete große Teile Kanalbau keine nachteiligen Auswirkungen festgestellt der Donauauen im betroffenen Bereich als FFH-Gebiet worden. nach Brüssel. Auch wenn infolge der Meldung die Do- nauauen noch nicht unter besonderem Schutz stehen, be- Wir müssen uns daher bei allen Streitigkeiten auf die steht – sowohl nach europäischem wie deutschem Recht – Fakten besinnen: Die Schifffahrt benötigt zur Erfüllung die Verpflichtung, sich nicht in Widerspruch zu ihrer transportlogistischen Funktionen dringend eine vorausgegangenem Verhalten zu setzen. Das heißt, die ganzjährig garantierte Abladetiefe von mindestens Donau zwischen Straubing und Vilshofen ist in einem 2,50 m. Diese Mindestabladetiefe, die keineswegs eine Zustand zu erhalten, der eine endgültige Schutzgebiets- Maximalforderung, sondern ja bereits einen Kompromiss ausweisung rechtfertigt. darstellt, schafft die unabdingbaren Voraussetzungen für die dringend notwendigen Verkehrsverlagerungen von Demgegenüber stehen jedoch Schifffahrtsinteressen. der Strasse auf den umweltfreundlichen Verkehrsträger Der 69 km lange Stromabschnitt ist eine der letzten ver- Binnenschiff. Nur dadurch können durchgängige interna- bliebenen Wasserstraßenabschnitte, der insbesondere bei tionale Logistikketten verlässlich ermöglicht werden. Da- Niedrigwasser zu erheblichen Problemen hinsichtlich der mit entscheidet man übrigens automatisch auch im Sinne Fahrrinnentiefe führt. Weiter ist der Abschnitt in Teilbe- der Ökologie. Die wissenschaftlich erstellten Gutachten reichen nur einspurig befahrbar, ein Begegnungsverkehr der ,,Vertieften Untersuchungen“ bestätigen die ökonomi- daher nur eingeschränkt möglich. Die rot-grüne Bundes- sche und ökologische Notwendigkeit des geforderten regierung hat sich bereits in der Koalitionsvereinbarung Ausbauziels. Aus Sicht der Schifffahrt lässt der Schluss- darauf festgelegt, durch Überarbeitung des Bundesver- bericht im Hinblick auf die Variante A an Deutlichkeit kehrswegeplans Verlagerungsmöglichkeiten hin zu um- (B) nichts zu wünschen übrig: Bei einem Ausbau mach Vari- weltverträglichen Verkehrsträgern wie Bahn und Binnen- (D) ante A bleiben die Verhältnisse an der Donau an 336 Ta- schiff zu fördern. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der gen – zum Teil deutlich – schlechter als am Rhein. Der sta- Wasserstraßentransport auf der Donau derzeit durch die tistische Zugewinn von 20 Zentimeter Abladetiefe bei weitgehende Sperrung der unteren Donau – in Novi Sad Niedrigwasser ist für die Schifffahrt irrelevant. Durch den liegen aus dem Kosovo-Krieg bekanntlich immer noch Einbau einer größeren Zahl von Buhnen und Leitwerken die Brücken im Fluss – niedriger als möglich und üblich sowie die erhöhte Fließgeschwindigkeit würde die Gefahr ist. Vor dem Kosovo-Krieg haben insbesondere die ost- von Havarien noch weiter steigen. Eine weitere Folge der europäischen Staaten Rumänien, Bulgarien, Ukraine und zahlreichen Einbauten wäre eine Erhöhung des Hochwas- Moldawien ihren Verkehr mit der EU zu einem hohen sers um 20 Zentimeter! Prozentsatz auf der Donau abgewickelt und dies wird Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün: Der Antrag auch in Zukunft wieder möglich sein. Trotzdem ist im ers- der PDS-Fraktion zeigt eigentlich sehr deutlich, dass sie ten Halbjahr 2001 in den bayerischen Donauhäfen der und die Bundesregierung nicht den Mut zum Handeln Schiffsumschlag um fast 15 Prozent angestiegen. Dem haben. trug die EU zwischenzeitlich Rechnung: Die Donau wurde in die transeuropäischen Netze aufgenommen. Der Donauausbau ist bei Rot-Grün umstritten, weshalb versucht wird, das Thema nun mit einer Anhörung, die im Als wenn dies der Probleme noch nicht genug wäre, Februar nächsten Jahres stattfinden wird, zu verschlep- muss auch die vertragsrechtliche Situation gewichtet wer- pen. SPD und Grüne vor Ort – in Bayern – sind anderer den. Die im Zusammenhang mit der Übernahme der Was- Meinung als der Verkehrsminister, der mal wieder zwi- serstraßen im Jahre 1921 durch das Reich übernommene schen den Stühlen sitzt und deshalb lieber untätig bleibt. Verpflichtung zu Unterhalt und Ausbau der Donau ist Die Fachleute sind sich einig, dass ohne den Donau-Aus- nach dem Krieg auf den Bund übergegangen. Im gleichen bau keine Verlagerung auf den umweltfreundlichen Ver- Jahr wurde zwischen Bayern und dem Reich ein Vertrag kehrsträger Binnenschiff erfolgen kann. Verkehrsminister über den Ausbau der Main-Donau-Wasserstraße – jedoch, Bodewig muss endlich auf den bayerischen Staatsminis- und dies wird für die Beurteilung der Ausbaupflichten un- ter zugehen und mit ihm besprechen, was zu tun ist und ter der gegebenen Haushaltssituation von besonderer Be- wie der Vertrag von 1996 zu erfüllen ist. Alle Vorarbeiten deutung sein, unter Finanzierungsvorbehalt der Finanz- sind gemacht, jetzt ist die Bundesregierung am Zug! lage von Reich (heute Bund) und Land – geschlossen. Bestätigt und weiter entwickelt wurde die vertragsrechtli- Helmut Wilhelm (Amberg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- che Situation im Duisburger Vertrag von 1966. Rechtlich NEN): Die Donau ist im Abschnitt Straubing–Vilshofen problematisch kann hier die Frage sein, ob unter dem 20698 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001

(A) Begriff „Kanalisierung“ wirklich nur ein Ausbau mit Natur eingreift und alles genau und genauestens prüft. (C) Schleusen zu verstehen ist – wie der Freistaat Bayern Doch irgendwann muss die Politik auch einmal entschei- meint – und, wenn ja, ob nicht aufgrund geänderter natur- den. Seit einem halben Jahr liegt nun der Abschlussbericht und umweltrechtlicher Bestimmungen eine Anpassung der WSD Süd vor und noch immer ist keine Entscheidung des Vertrages zu erfolgen hat. getroffen worden, weil die Ressortabstimmung zwischen BMVBW und BMU aussteht und auch das Land Bayern Verbleibt die Haushaltssituation des Bundes, die auf- weiter prüfen will. grund der Haushaltspolitik der CDU/CSU-geführten Kohl-Regierung die Bundesschulden in unerträgliche Der Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Höhen anwachsen ließ: Gerade dieser Grund zwingt zu hat gestern beschlossen, eine öffentliche Anhörung zum vom Kosten-Nutzen-Verhältnis geprägtem Ausbau. Der Donauausbau durchzuführen. Aber ich frage mich: Wel- Schlussbericht der Wasser- und Schifffahrtsdirektion gibt che neuen Erkenntnisse erhofft sich Rot-Grün nun eigent- bereits einen deutlichen Hinweis auf eine Ausbauvariante, lich durch diese erneute Anhörung? Die Fakten stehen die der besonderen Problematik Rechnung trägt. doch seit langem fest: Wir haben einen knapp 70 km lan- gen so genannten Flaschenhals, der die Binnenschifffahrt Wir, die gewählten Abgeordneten müssen und wollen auf diesem Teilabschnitt erheblich belastet, der Kosten versuchen, noch offene Fragen zu klären, um eine sach- verursacht und den Verkehr auf die Straße verlagert. Jeder gerechte Lösung zu finden. Wir sind es, die bei Aufstel- weiß, um den Verkehr in nennenswerter Größenordnung lung des Bundeshaushalts unter Berücksichtigung der auf das Wasser zu bringen, benötigt die Binnenschifffahrt Haushaltssituation die letztendliche Entscheidung haben eine ganzjährige Abladetiefe von 2,50 Meter. Diese Abla- werden. Eine Expertenanhörung der entsprechenden Bun- detiefe ist mit einem sogenannten ökologischem Super- destagsausschüsse wird uns die Grundlage dafür liefern. ausbau nicht zu erzielen. Wir brauchen also zwei Staustu- fen und diese Staustufen sind auch vertretbar, zumal die Hans-Michael Goldmann (FDP): Den heutigen Ta- ökologische Ausgleichsmaßnahmen zwingend Bestand- gesordnungspunkt „Ausbau der Donau zwischen Strau- teil eines solchen Ausbaus sein müssen. bing und Vilshofen ökologisch gestalten“, wie die PDS Ich weiß nun wirklich nicht mehr, welche neuen Er- meint, könnte man auch mit „Die unendliche Geschichte“ kenntnisse man sich angesichts dieser Fakten noch er- überschreiben – nur dass diese Geschichte nicht ansatz- hofft. Die Parlamentariergruppe Binnenschifffahrt war an weise so angenehm zu lesen ist wie das literarische Werk. der Donau; wir wissen um die Dinge. Ich finde es nicht gut, dass man die Motivation für dieses erneute Prüfver- Immer wieder wird von Vertretern aller Parteien be- fahren spürt. lm März steht eine Kommunalwahl in Bay- tont, dass die notwendige Verkehrsverlagerung keines- ern an und im September eine Bundestagswahl. Man wegs nur allein mit der Eisenbahn abgehandelt werden (B) glaubt, den Bürgern eine Pro-Ausbau-Entscheidung nicht (D) kann, sondern dass die Binnenschifffahrt der eindeutig zumuten zu können. Aber ich denke, dass so Politik ihrer ökologisch wertvollste Verkehrsträger ist. Trotzdem müs- Gesamtverantwortung nicht gerecht wird. sen wir leider feststellen, dass der Marktanteil der Bin- nenschifffahrt rückläufig ist und in Ostdeutschland sinkt, Ich bekenne mich hier ausdrücklich für die Ausbau- wie jetzt wieder in dem Bericht vom BMVBW über die variante D und ich werde mich weiterhin für eine schnelle Zukunft der deutschen Binnenschifffahrt unzweifelhaft Umsetzung dieser Empfehlung einsetzen. Ich halte alles zu lesen ist. Als Hauptursachen sind der mangelhafte andere gegenüber den Binnenschiffern für unverantwort- Ausbau des Wasserstraßennetzes speziell in den neuen lich. Und ich appelliere hier ganz bewusst an die Kolle- Ländern und die fehlende Harmonisierung im europä- ginnen und Kollegen aus der Parlamentariergruppe Bin- ischen Wettbewerb festgestellt worden. Und hier reiht nenschifffahrt. Machen Sie endlich Nägel mit Köpfen! Ja, sich die traurige unendliche Geschichte des Flaschenhal- Frau Faße, hier sind Sie ganz besonders gefordert. ses innerhalb der Donau zwischen Straubing und Vilsh- Leider gibt es noch immer keine Mitteilung der Bun- ofen nahtlos und problemauslösend für die deutsche Bin- desregierung darüber, wann endlich die Ressortabstim- nenschifffahrt ein. mung zwischen dem BMVBW und dem BMU zum Ab- Ich erinnere mich noch, wie der Beschluss der damali- schlussbericht der WSD Süd vorliegen wird. Ich halte die gen Bundesregierung und der bayerischen Staatsregie- Verzögerungspolitik der Bundesregierung für einen Skan- rung, den Main-Donau-Kanal zu bauen, beim politischen dal und für einen Schlag ins Gesicht der deutschen Bin- Gegner Empörung, Hohn und Spott auslöste. Da war von nenschifffahrt. Jeder, der überhaupt nur einigermaßen geschönten Verkehrsprognosen die Rede und die Ent- gucken kann, der weiß: Die Donau ist eine der wichtigsten scheidung war dem Spott bekannter Kabarettisten ausge- Wasserstraßen Europas. Ich bin sicher, wenn es sich um setzt. Inzwischen zeigt sich, dass die Prognosen bei wei- eine Autobahn handeln würde, dann wäre eine vergleich- tem übertroffen wurden. Und Ähnliches sage ich für den bare Engstelle schon längst beseitigt. Ich bin traurig und fehlenden Donausausbau voraus. Wohl noch kein deut- empört darüber und verstehe die Verärgerung in der Bin- sches Verkehrsprojekt wurde so lange geprüft, begutach- nenschifffahrt, weil die Bundesregierung sich nur in Sonn- tet, debattiert, hin und her geschoben, kleingeredet, groß- tagsreden zur Binnenschifffahrt bekennt, aber kaum Taten folgen lässt. Es reicht eben nicht, immer wieder den öko- gesprochen wie diese knapp 70 km lange Strecke der logischen Nutzen der Binnenschifffahrt herauszustellen Donau zwischen Straubing und Vilshofen. und ihr in einem Punkt wie dem absolut notwendigen Aus- Überhaupt keine Frage – ich bin ja völlig damit ein- bau der Donau die nötigen Rahmenbedingungen zu ver- verstanden – dass man natürlich nicht blindlings in die weigern. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 208. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 13. Dezember 2001 20699

(A) Rot-Grün verspielt Chancen der deutschen Binnen- Das prognostizierte Güteraufkommen kann schon mit (C) schifffahrt. Das ist nicht hinzunehmen. Ich fordere den der Variante A des gemeinsamen Berichts des Bundes und Ausbau der Donau im Flaschenhals zwischen Straubing des Freistaates Bayern über den weiteren Ausbau der Do- und Vilshofen jetzt. nau problemlos bewältigt werden. Die verbesserte Vari- ante A der flussbaulichen Lösung, wie sie Prof. Bernhardt vom Institut für Wasserbau- und Kulturtechnik in Karls- Dr. Winfried Wolf (PDS): Das Projekt Donauausbau ruhe vorgeschlagen hat, besitzt darüber hinaus noch zu- zwischen Straubing und Vilshofen steht vor Beginn des sätzliche Kapazitäten. Raumordnungsverfahrens. Dieser Flussabschnitt ist eines der letzten frei fließenden und naturnahen Bereiche der Zudem weist schon die Variante A das beste Nutzen- Donau. Seit Jahrhunderten wird der Fluss eingezwängt, Kosten-Verhältnis auf. Sie ist fast eine halbe Milliarde abgesperrt und umgeleitet. Angeblich gut für die Schiff- DM billiger als der Staustufenausbau. fahrt, aber mit Sicherheit verheerend für die natürliche Nur die flussbauliche Optimierung des Ist-Zustandes Umwelt. Nun versprechen wiederum Staustufen die Lö- stellt einen vergleichsweise schonenden und zumutbaren sung aller Probleme für die Binnenschiffer. Es sei ökolo- Eingriff in den Flusslauf der Donau dar. Nur für diese Va- gisch, weil Transport auf dem Wasser statt auf der Straße rianten ist absehbar, dass sie den hohen Anforderungen stattfindet, es schaffe Arbeitsplätze und damit Einkom- der europäischen Vogelschutz- und Flora-Fauna-Habitat- men. Richtlinie (FFH-Richtlinie) entsprechen. Ein schönes Bild, nur es ist ein Zerrbild. Die PDS ist Schließlich geht es um empfindliche und einmalige mit den Umweltverbänden der Überzeugung: Aufgrund Flussauen, um die Arche Noah der bayerischen Donau. der herausragenden Bedeutung dieses Gebietes für den Hier leben auf 0,4 Prozent der Fläche Bayerns über Natur-, Arten- und Ressourcenschutz, aber auch aus fi- 65 Prozent aller heimischen Vogelarten. Bis zu 50000 Was- nanziellen und verkehrspolitischen Gründen, ist ein Stau- servögel rasten dort im Winter. Über 50 verschiedene stufenausbau nicht hinnehmbar. Fischarten – fast so viele, wie vom gesamten Rhein bis an Die Fakten sprechen eine andere Sprache: Es geht den die Mündung – leben in diesem Flussabschnitt! Stausstu- Befürwortern einer Staustufenlösung nicht in erster Linie fen, wie sie die Varianten C, D1 und D2 vorsehen, würden darum, den Fluss schiffbarer zu machen, sondern darum, zudem die Gefahr von Hochwassern erhöhen. Durch sie den an solchen Großprojekten partizipierenden Bau- und würden die Retentionsräume eingeschränkt und durch die Ausrüstungsfirmen lukrative Aufträge zu verschaffen. Glättung der Abflussrinne eine Beschleunigung und Er- höhung potenzieller Hochwasserwellen bewirkt werden. Bei der geforderten Ausbautiefe von 2,80 bis 3,10 Me- Ohne kostenintensive Gegenmaßnahmen würde damit für ter scheint an den Planungstischen niemand von Gedan- die im Unterlauf der Donau wohnenden Menschen, ins- (B) ken einer kostengünstigen, geschweige denn umweltver- (D) besondere für den Raum Passau, die Gefahr und die Di- träglichen Lösung belästigt worden zu sein. Das Ergebnis: mension von Überschwemmungen steigen. Eine ganzjährige Befahrbarkeit des Flusses wird ange- strebt – koste es was es wolle. Besonders dann, wenn Letztlich müssten langfristig auch die Schiffe den Staatsknete jeden Kubikmeter Beton bezahlt und die Bi- Flüssen und nicht die Flüsse den Schiffen angepasst wer- lanzen der Flussbauer vergoldet. Da sind die heiligen Re- den. Durch den Einsatz von tendenziell kleineren Schif- geln der Marktwirtschaft plötzlich vergessen. fen könnten Güter flexibler, umweltschonender und schneller transportiert werden. Somit könnten auch klei- Alternative Untersuchungen, die jedoch vom Ver- nere Häfen angesteuert werden, um Ladung zu löschen kehrsministerium schlichtweg ignoriert werden, zeigen, oder aufzunehmen. Beispielsweise wären in diesem Fall, dass gegenüber dem Ist-Zustand auch mit schonenden vergleichbar den Gleisanschlüssen bei der Bahn, Häfen flussbaulichen Mitteln der Wasserstand deutlich erhöht an Produktionsorten vorstellbar. Dies könnte den erheb- werden kann. An mindestens 90 Prozent der Tage im Jahr lichen Hinterlandverkehr, der mit der Binnenschifffahrt beträgt dann die Fahrrinne 2,50 Meter. Die erreichbare häufig verbunden ist, vermindern und andererseits die Abladetiefe ist dann im Abschnitt Straubing–Vilshofen Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Binnenschifffahrt mindestens gleichwertig mit den Ablademöglichkeiten steigern. Somit würden tatsächlich Arbeitsplätze ge- am Mittelrhein und der österreichischen Donau. Die er- schaffen. reichbaren Fahrrinnenbreiten betragen bis auf zwei kurze Engstellen mit circa 65 Metern auf der gesamten Strecke Wir meinen, dies alles sind genug Argumente für einen circa 70 Meter und gewährleisten damit die Sicherheit des schonenden, flussbaulichen Ausbau der Donau, wie wir Schiffsverkehrs. ihn in unserem Entschließungsantrag vorschlagen.

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