Plenarprotokoll 13/30

Deutscher

Stenographischer Bericht

30. Sitzung

Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995

Inhalt:

Tagesordnungspunkt I: CDU/CSU 2150 B Fortsetzung der zweiten Beratung des Dr. F.D.P. . . . . 2151 D von der Bundesregierung eingebrach- ten Entwurfs eines Gesetzes über die Einzelplan 07 Feststellung des Bundeshaushaltsplans Bundesministerium der Justiz (Druck- für das Haushaltsjahr 1995 (Haus- sachen 13/507, 13/527) haltsgesetz 1995) (Drucksachen 13/50, 13/414) in Verbindung mit

Einzelplan 06 Einzelplan 19 Bundesministerium des Innern (Druck- Bundesverfassungsgericht (Drucksache sachen 13/506, 13/527) 13/527) Gunter Weißgerber SPD 2153 D in Verbindung mit Manfred Kolbe CDU/CSU 2156 A Einzelplan 33 (Köln) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 2158A Versorgung (Drucksachen 13/524, 13/527) Detlef Kleinert (Hannover) F.D.P. . . . 2159C Volker Beck (Köln) BÜNDNIS 90/DIE in Verbindung mit GRÜNEN 2159D Uta Titze-Stecher SPD ...... 2160 B Einzelplan 36 Dr. Uwe-Jens Heuer PDS 2161 B Zivile Verteidigung (Drucksachen Dr. Susanne Tiemann CDU/CSU . . . 2162B 13/525, 13/527) Dr. Herta Däubler-Gmelin SPD 2164 A Uta Titze-Stecher SPD 2131 D Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Dr. Klaus-Dieter Uelhoff CDU/CSU . . 2136A Bundesministerin BMJ 2166B Uta Titze-Stecher SPD 2136C CDU/CSU 2167 B- Günter Graf (Friesoythe) SPD . . . 2137A Hermann Bachmaier SPD 2167 D Rezzo Schlauch BÜNDNIS 90/DIE GRÜ SPD 2168 B NEN 2138D Einzelplan 11 F.D.P. 2140C Bundesministerium für Arbeit und PDS 2143C Sozialordnung (Drucksachen 13/511, , Bundesminister BMI 2145A 13/527) Dr. Winfried Wolf PDS . 2147B Dr. Konstanze Wegner SPD 2169 B Otto Schily SPD . . . . . . . . . 2148A Hans-Joachim Fuchtel CDU/CSU 2172 C II Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. , Mittwoch, den 29. März 1995

Uta Titze-Stecher SPD 2174 A Roland Sauer (Stuttgart) CDU/CSU . . . 2232B Annelie Buntenbach BÜNDNIS 90/DIE Uta Titze-Stecher SPD 2232 C GRÜNEN 2174D Kristin Heyne BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 2234 D Dr. F.D.P 2175B, 2192D Dr. Dieter Thomae F.D.P 2236B Ina Albowitz F.D.P. 2178A Dr. PDS 2237 C Dr. Heidi Knake-Werner PDS 2179D , Bundesminister BMG 2238 C, 2243 C CDU/CSU . . . 2181 D Monika Knoche BÜNDNIS 90/DIE GRÜ Antje Hermenau BÜNDNIS 90/DIE NEN 2239 A 2182C GRÜNEN Klaus Kirschner SPD 2239 D 2184D Dr. Gisela Babel F.D.P Klaus Kirschner SPD ...... 2243 A Dr. Norbert Blüm, Bundesminister BMA 2186A () BÜNDNIS 90/ Einzelplan 16 DIE GRÜNEN 2187C Bundesministerium für Umwelt, Natur- (Bremen) BÜNDNIS 90/ schutz und Reaktorsicherheit (Druck- DIE GRÜNEN ...... 2189C sachen 13/516, 13/527) Dr. Norbert Blüm CDU/CSU 2190A Eckart Kuhlwein SPD 2244 A SPD 2190 B Arnulf Kriedner CDU/CSU 2247 A CDU/CSU 2191 A Kristin Heyne BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 2249 A Hans-Joachim Fuchtel CDU/CSU . . . 2194A Steffen Kampeter CDU/CSU 2250C Horst Seehofer CDU/CSU 2195A Birgit Homburger FD P. 2250D Jürgen W. Möllemann F.D.P. 2196D Rolf Köhne PDS 2253 A Heiner Geißler CDU/CSU ...... 2197 C Dr. , Bundesministerin BMU ...... 2253D Einzelplan 30 Ulrike Mehl SPD 2256 A Bundesministerium für Bildung, Wis- Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach) CDU/ senschaft, Forschung und Technologie CSU ...... . . . . 2257 C (Drucksachen 13/522, 13/527) Uta Titze-Stecher SPD 2258 B Dieter Schanz SPD 2200 D Steffen Kampeter CDU/CSU 2204 C Einzelplan 25 Antje Hermenau BÜNDNIS 90/DIE GRÜ Bundesministerium für Raumordnung, NEN 2206B Bauwesen und Städtebau (Drucksachen Dr. F.D.P 2207 C 13/521, 13/527) Dr. Ludwig Elm PDS 2209 A Dr, Rolf Niese SPD 2259C CDU/CSU 2210B CDU/CSU . . 2262D Dr. Jürgen Rüttgers, Bundesminister Dieter Pützhofen CDU/CSU 2263 B BMBF ...... ...... 2211 C Franziska Eichstädt-Bohlig BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 2265 C Einzelplan 17 Jürgen Koppelin F.D.P 2267 A Bundesministerium für Familie, Senio- ren, Frauen und Jugend (Drucksachen Klaus-Jürgen Warnick PDS 2268 C 13/517, 13/527) CDU/CSU 2269 B Siegrun Klemmer SPD . . . . 2215A Dr. Klaus Töpfer, Bundesminister BMBau 2271 A Peter Jacoby CDU/CSU ...... 2219B Einzelplan 12 Andrea Fischer (Berlin) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ...... 2221 A Bundesministerium für Verkehr (Druck- Heinz Lanfermann F.D.P 2222 B sachen 13/512, 13/527) 2274 B Heidemarie Lüth PDS 2223 D Hans Georg Wagner SPD - , Bundesministerin BMFSFJ 2224 C Albert Schmidt (Hitzhofen) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 2278B, 2280 C Christel Hanewinckel SPD 2226 A Bartholomäus Kalb CDU/CSU 2279 B Maria Eichhorn CDU/CSU 2227 C Rainder Steenblock BÜNDNIS 90/DIE Einzelplan 15 GRÜNEN ...... 2281D . . . . 2283 B Bundesministerium für Gesundheit Bartholomäus Kalb CDU/CSU (Drucksachen 13/515, 13/527) Dr. Dionys Jobst CDU/CSU 2283 D Gerhard Rübenkönig SPD ...... 2228 D F.D.P. . . . . . .. . 2284 B Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995 III

Dirk Fischer () CDU/CSU . . . 2285 C der, die Opfer des von Nazi-Deutsch- , Bundesminister BMV 2287B land ausgegangenen Aggressionskrie- ges wurden (Drucksache 13/965) . . 2315 A Einzelplan 13 Nächste Sitzung 2315 C Bundesministerium für Post und Tele- kommunikation (Drucksachen 13/513, 13/527) Anlage 1 Hans Martin Bury SPD 2289 D Liste der entschuldigten Abgeordneten . 2317* A Carl-Detlev Freiherr von Hammerstein CDU/CSU 2294 C Dr. Manuel Kiper BÜNDNIS 90/DIE GRÜ Anlage 2 NEN 2296C Zu Protokoll gegebene Rede zu Tagesord- Jürgen Koppelin F.D.P 2298 A nungspunkt I 22 (Haushaltsgesetz 1995 - Gerhard Jüttemann PDS 2299 B Einzelplan 12 - Bundesministerium für Dr. Wolfgang Bötsch, Bundesminister Verkehr) BMPT 2300C Dr. PDS 2317* A Einzelplan 10 Bundesministerium für Ernährung, Anlage 3 Landwirtschaft und Forsten (Druck- sachen 13/510, 13/527) Zu Protokoll gegebene Rede zu Tagesord- Ilse Janz SPD 2302D nungspunkt I 23 (Haushaltsgesetz 1995 - Einzelplan 13 - Bundesministerium für Bartholomäus Kalb CDU/CSU 2307 B Post und Telekommunikation) Ulrike Höfken-Deipenbrock BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 2309 C Elmar Müller (Kirchheim) CDU/CSU , 2318* A Dr. Günther Maleuda PDS . . . . 2310 D Meinolf Michels CDU/CSU 2311D , Bundesminister BML 2313A Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Rede zu Tagesord-

Erweiterung der Tagesordnung 2315A nungspunkt I 24 (Haushaltsgesetz 1995 - Einzelplan 10 - Bundesministerium für Er- Zusatztagesordnungspunkt: nährung, Landwirtschaft und Forsten) Beratung des Antrages der PDS: Ein ladung von Repräsentanten aller Län Jürgen Koppelin F.D.P. ...... 2319* C

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30. Sitzung

Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995

Beginn: 9.00 Uhr

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Guten Morgen! Zum Einzelplan 06 liegen sieben Änderungsan- Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Sitzung ist er- träge der Gruppe der PDS vor. Zu einem Änderungs- öffnet. antrag hat die Gruppe beantragt, namentlich abzu- stimmen. Nach unserer Geschäftsordnung kann eine Wir setzen unsere Haushaltsberatungen fort. namentliche Abstimmung nur von einer Fraktion oder von mindestens 34 Abgeordneten verlangt wer- Ich rufe die Einzelpläne 06, 33 und 36 auf: den. Ob der Antrag der PDS das erforderliche Quo- rum erreicht, werde ich nach der Aussprache feststel- Einzelplan 06 len. Bundesministerium des Innern Außerdem hat die PDS zum Einzelplan 33 zwei Än- - Drucksachen 13/506, 13/527 - derungsanträge eingebracht. Zwei weitere Ände- Berichterstattung: rungsanträge zum Einzelplan 06 sind von der PDS Abgeordnete Dr. Klaus-Dieter Uelhoff angekündigt. Ina Albowitz Uta Titze-Stecher Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für Oswald Metzger die gemeinsame Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann Einzelplan 33 verfahren wir so. Versorgung Ich eröffne die Aussprache. Als erste spricht die - Drucksachen 13/524, 13/527 - Kollegin Uta Titze-Stecher. Berichterstattung: Abgeordnete Carl-Detlev Frhr. von Hammerstein Uta Titze-Stecher (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Ina Albowitz Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich, daß trotz Uta Titze-Stecher des Schneetreibens doch eine ganze Reihe von Ihnen Oswald Metzger den Weg hierher gefunden hat.

Einzelplan 36 (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Ex tra Zivile Verteidigung Ihretwegen!) - Drucksachen 13/525, 13/527 - Ich habe heute morgen auf dem Weg hierher einen Kollegen meiner eigenen Fraktion vor dem tiefen Berichterstattung: Sturz in den Schnee bewahrt. Der Name wird nicht Abgeordnete verraten. Carl-Detlev Frhr. von Hammerstein Ina Albowitz Gestatten Sie im Zusammenhang mit der verbun- Uta Titze-Stecher denen Debatte zu immerhin drei Einzelplänen zwei Oswald Metzger Vorbemerkungen: „Der Haushalt des Innenministers Die Beschlußempfehlungen des Haushaltsaus- ist das in Zahlen dokumentierte Eingeständnis von schusses liegen auf den Drucksachen 13/506, 13/524, Hilflosigkeit, Pleiten, Pannen, Unfähigkeiten, man- 13/525 und 13/527 vor. gelnder Sensibilität und in nicht wenigen Bereichen schlichter politischer Dummheit." So lautete im No- Zum Einzelplan 06 liegen zwei Änderungsanträge vember 1993 das vernichtende Urteil meines Vorgän- und zum Einzelplan 36 liegt ein Änderungsantrag gers in der Berichterstattung des Einzelplans 06. Sie der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vor. kennen alle den verehrten Kollegen Purps. 2132 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995

Uta Titze-Stecher Damals konnte der zuständige Innenminister noch menhang bringen. Für eine solche Entgleisung ist als Novize gelten; denn er war gerade hundert Tage auch der hessische Wahlkampf keine Rechtfertigung. im Amt. Heute allerdings gibt es kein Mitleid, Herr Kanther. Sie sind 14 Monate im Amt, gestählt und ge- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- härtet durch Wahlen. Sie sind zu einem echten Über- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN zeugungstäter geworden. und der PDS)

(Beifall bei der CDU/CSU - Erwin Mar Denn in meinen Augen darf sich ein biederer Mi- schewski [CDU/CSU]: Sehr gut!) nister, für den ich Sie halte, nicht zu einer solchen Um so schlimmer, wenn ich die Einschätzung meines Sache hinreißen lassen, d. h. zündeln, ohne sich den Kollegen von damals teile. Vorwurf anhören zu müssen, daß er auch als Brand- stifter angesehen werden kann, von der Anbiede- (Zurufe von der CDU/CSU) rung an rechtsnationale Stammtischbrüder und de- ren Parolen 50 Jahre nach Kriegsende einmal ganz - Beruhigen Sie sich bitte, Kollegen von der rechten zu schweigen. Seite! Zweite Vorbemerkung: Der Haushalt zeichnet sich Zurück zum öffentlichen Dienst: Sie wissen, Herr insbesondere durch mangelnden Mut zu echten Minister, daß die Reform zwingend ist. Zum einen Strukturreformen und in allen drei zur Debatte ste- zwackt uns die finanzielle Lage. Ich will nur folgen- henden Einzelplänen durch unverantwortliche Kon- des andeuten: Die Pensionsleistungen des Bundes zeptionslosigkeit aus. Ich werde das in Einzelfällen werden im Jahre 2030 nach einer soliden Prognose belegen. des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung satte 165 Milliarden DM betragen; wir sind heute Der Einzelplan 06 umfaßt zwar nur - wir sind bei schon bei 35 Milliarden DM jährlich angelangt. Das Milliarden - knappe 8,5 Milliarden DM, doch es heißt, wir sind gezwungen, den öffentlichen Dienst lohnt sich, einen näheren Blick auf die Verteilung zu reformieren. Zweitens wissen Sie, Herr Kanther, des Volumens zu werfen. Der Geschäftsbereich des auch, daß wir unter den Druck der EU geraten; denn Bundesministeriums des Innern gleicht einem orien- unser breitgefächertes Beamtenwesen widerspricht talischen Basar, was die Vielfalt seiner Aufgaben be- in Teilen dem Europäischen Vertragsrecht, auch dem trifft. Art. 48 des EWG-Vertrags, der Freizügigkeit der Ar- beitnehmer herstellt. Ich will nicht alle Kapitel vorlesen. Damit Unkun- dige wissen, worum es geht: Es geht um Verfas- (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Das ist sungs- und Staatsrecht, Verwaltung, innere Sicher- doch längst geregelt im Gesetz, Frau Kolle- heit, Polizei, zivile Verteidigung, Informationstech- gin! Längst geregelt!) nik, Datenschutz, Kommunalwesen, Statistik, aber auch um die wichtigen Bereiche Sport, Kultur, Me- Ich denke, aus all diesen Gründen ist es dringendst dien, soweit bundesrelevante Thematik angesagt ist. erforderlich, daß Sie das, was Sie bereits in der Be- Wir finden in diesem Einzelplan sowohl die Gauck richterstatterrunde versprochen haben, die Vorlage Behörde als auch das Bundesamt für die Anerken- eines Konzepts bis zum Frühsommer, einlösen. nung ausländischer Flüchtlinge, die Bewilligungen für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte - (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Rolf Herr Waffenschmidt ist da - und die Zuweisungen Kutzmutz [PDS]) für die Stiftungen der politischen Parteien. Sie werden Verständnis dafür haben, daß ich mich Ich denke, daß es höchste Zeit ist, den hoheitlichen angesichts dieser Fülle auf exemplarische Beispiele Bereich zu definieren. Denn warum, in Kuckucks Na- in meiner Kritik beschränke. Wir führen ja nicht erst men, müssen denn Archivare, Bibliothekare, ja sogar in den letzten Monaten die Debatte über die drin- Tierpfleger in zoologischen Gärten verbeamtet sein? gend notwendige Reform des öffentlichen Dienstes, Gutachten zum Thema moderner Staat und effiziente (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Verwaltung liegen zur Genüge vor, beispielsweise Fragen über Fragen!) von der Friedrich-Ebert-Stiftung. - Der Minister hat nachher Zeit, diese Fragen zu be- Warum, Herr Minister, erfolgt keine Umsetzung? antworten. Sonst fehlt Ihnen doch nicht der Mut, wenn Sie etwa den Aufwuchs beim Bundesgrenzschutz mit der Zeigen Sie Mut, Herr Minister, alte Zöpfe abzu-- wachsenden Zahl illegaler Grenzgänger begründen schneiden, das Alimentationsprinzip aufzugeben, die müssen oder wenn Sie keine Berührungsängste zei- Privilegien einzelner Gruppen zu beschneiden. Ich gen, im rechtsextremen „Deutschlandmagazin" ein erinnere nur an die Vorzugsstellung der Beamten bei Interview zu geben, der Anpassung der Beihilfevorschriften im Rahmen (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Das ist der Pflegeversicherung. Ich will niemanden abschaf- ein alter Hut! - Dr. [CDU/ fen; ich will das effiziente System noch effizienter CSU] : Unerhört!) machen. in dem Sie Ausländer in Deutschland mit Begriffen (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: wie Umtriebe und Verbrecherverbände in Zusam Sie hecheln hinter uns her!) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995 2133

Uta Titze-Stecher Da wir schon einmal beim Kapitel „Mut" sind, ge- Apropos BKA und Kriminalität: Wir wissen, daß die statten Sie mir eine Bemerkung zu den sogenannten Gesamtkriminalität sinkt, auch wenn die Gewalt Spaziergängern der Nation. Das sind die Spitzenpoli- nicht abnimmt. Das heißt, die Zahl der Straftaten tiker und Spitzenbeamten, die im Bund und in den geht laut offizieller Kriminalstatistik zurück, auch Ländern in den vorzeitigen politischen Ruhestand wenn Sie, Herr Minister, Ende Januar auf einer Ta- geschickt werden. gung in Wiesbaden zum Thema „Wertewandel und innere Sicherheit" das blanke Gegenteil davon be- (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Gramke!) hauptet haben, nach dem Motto, daß „nicht sein Diese Sache läßt sich diese Regierung pro Jahr kann, was nicht sein darf". Offensichtlich paßt eine 46 Millionen DM kosten. Kriminalstatistik nur dann in die Landschaft, wenn sie die Forderung nach immer mehr und immer (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: In Hessen schärferen Gesetzen unterstützt. Klar ausgedrückt: und Nordrhein-Westfalen; das ist richtig! - Der Bürger soll subjektiv Angst empfinden, sie sub- Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: jektiv schlimmer empfinden, als objektiv gerechtfer- Hessen vorn!) tigt ist. Nur wissen wir selbst, daß man subjektive 77 Spitzenbeamte wurden in den ersten zehn Jahren Angst auch durch noch so viel Statistik niemandem der Kohlschen Regierung gefeuert, weil die Chemie nehmen kann. nicht stimmte. Das kann ja nur ein schlechter Witz (Zuruf von der CDU/CSU: Vor allen Dingen, sein. wenn Sie sie ständig schüren!) (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Auch die SPD nimmt die neuen Zahlen durchaus GRÜNEN und der PDS) nicht zum Anlaß für eine Entwarnung. Nur haben wir Abschließend - ich bin sicher, ich finde den Beifall andere Ansätze, Herr Minister. Immerhin erinnere auch bei der rechten Seite - sei versöhnlich gesagt: ich mich, daß wir bei der Diskussion über das Verbre- Selbstverständlich weiß die SPD, daß die deutsche chensbekämpfungsgesetz 1994 von Ihnen das Argu- Verwaltung ihre beachtliche Leistungsfähigkeit und ment hörten, das sei ja nur ein Einstieg für weitere Qualität gerade bei der deutschen Vereinigung unter Verschärfungen, weil Sie von einer weiterhin stei- Beweis gestellt hat. Aber das reicht nicht. Es gilt genden Massendelinquenz ausgingen. Nun gut; die jetzt, sie fit zu machen und den veränderten Bedürf- Realität ist anders. nissen in Staat und Gesellschaft anzupassen. Was ich Nur frage ich Sie, wie Sie es Ihrem Koalitionspart- jetzt sage, gehört auch zum Thema Standortdebatte: ner verklickern wollen, daß Sie a) bereits in der Vor- Wir halten die Reform des öffentlichen Dienstes auch bereitung für ein Verbrechensbekämpfungsgesetz, für eine Voraussetzung für einen effektiven und Teil 2 sind und b) dort datenschutzrechtliche Ein- funktionierenden Privatsektor. schränkungen vorgesehen haben. Wir wissen, daß Wie verträgt sich allerdings die Forderung nach ei- die Gewaltbereitschaft, wie schon erwähnt, besorg- niserregend zugenommen hat. Wir denken, daß ner schlanken Verwaltung - das bedeutet ja nun wohl: Abbau von hierarchischen Strukturen, dezen- zweierlei notwendig ist, im Gegensatz zu Ihnen, Herr trale und eigenverantwortliche Erledigung von Auf- Minister, erstens Gegensteuern durch ein Bündel von gaben - mit der Tatsache, daß beispielsweise, Herr sozialen, präventiven und repressiven Maßnahmen, Minister, im Rahmen der Neuorganisation des Bun- damit wir Gewalt bereits bei der Entstehung be- kämpfen, zweitens eine inhaltliche und organisatori- deskriminalamts zwei Hauptabteilungen geschaffen wurden? Selbst der Bundesrechnungshof - er ist ja sche Neukonzeption aller mit Polizeibefugnissen nun wirklich unser bester Ratgeber - kritisiert die ausgestatteten Bundeseinrichtungen, BKA, Bundes- vierstufige Gliederung des BKA unterhalb der Amts- grenzschutz, Zoll- und Finanzbehörden, damit Rei- leitung mit dem Argument, diese Konstruktion ver- bungs- und Kompetenzverluste bei der Bekämpfung längere Entscheidungs- und Informationswege. Dem der länderübergreifenden Kriminalität nicht auftre- kann man nur zustimmen. ten können. natürlich ein- (Beifall bei der SPD - Erwin Marschewski In diese neue Konzeption ist Europol [CDU/CSU]: Die haben keine Ahnung da zubinden. Allerdings stellen wir uns vor, daß es mit von!) operativen Befugnissen ausgestattet ist und zum Kernstück der internationalen Kriminalitätsbekämp- - Das sagen Sie bitte mal Ihren Kollegen im Rech- fung wird. nungsprüfungsausschuß. (Beifall bei der SPD)

(Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Trotzdem Bei der Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität,- haben die keine Ahnung!) Herr Minister, tragen Sie ein erhebliches Maß an Mit- schuld. Warum unterstützen Sie denn nicht die SPD- Der Verzicht auf die erwähnten beiden Hauptab- Forderung nach Abschaffung der steuerlichen Ab- teilungen würde finanzielle Mittel freimachen für die setzbarkeit von Schmier- und Bestechungsgeldern? Übernahme Auszubildender. Aber wir haben ja ge- stern in der Debatte schon mitgekriegt: Sie sorgen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- sich mehr um die Häuptlinge und weniger um die In- ten der PDS) dianer. Die Bundesregierung - ich sage das einmal ganz (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE drastisch - fördert mit ihrer Weigerung praktisch die GRÜNEN und der PDS) Ausbreitung der organisierten Kriminalität im In- 2134 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995

Uta Titze-Stecher und Ausland. Ja, sie begünstigt über geltendes Steu- ternähme. Ich nenne in diesem Zusammenhang errecht aktives Bestechungsverhalten. Nicht nur das: stichpunktartig folgende Forderungen: die Schaf- Sie fördert damit auch korruptives Verhalten von fung eines eigenständigen Aufenthaltsstatus für aus- Amtsträgern. Ich denke, das sollten wir nicht unter- ländische Ehepartner, der B-Status für Kriegs- und stützen. Bürgerkriegsflüchtlinge, die Regelung des Zuzugs von Ausländern durch ein Einwanderungsgesetz, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne das diesen Namen verdient, und die Möglichkeit des ten der PDS) Erwerbs der doppelten Staatsbürgerschaft. Das jüngste Husarenstück aus Ihrem Hause darf (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Dann ha- ruhig „dilettantisch" genannt werden. Wenn es nicht ben wir ein anderes Land! Dann ist so schlimm wäre, würde man hier ja lachen können. Deutschland nicht mehr Deutschland!) Auf Grund schwerer politischer Fehler der Bundesre- gierung bei der Neuordnung im Telekommunika- Da werden Sie uns an Ihrer Seite haben. Ich mahne tionsbereich - Stichwort „unkontrollierte Lizenzver- auch die dringende Reform des überfälligen Staats- gabe" - haben sich die Funktelefone zum abhörsi- angehörigkeitsrechts aus den Zeiten des Dritten cheren paradiesischen Reservat für Schwerkriminelle Reichs an. gemausert. Offensichtlich haben kommerzielle Inter- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- essen absoluten Vorrang vor sicherheitspolitischen ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Notwendigkeiten. Daß ich mit diesem Verdacht nicht ganz falsch liege, beweist die Beantwortung eben Seit 1992 fordert der Innenausschuß einstimmig, dieser Frage durch die Bundesregierung im Innen- also mit den Stimmen der Koalition, ein Gesamtkon- ausschuß. Da hieß es wörtlich: Abhörmöglichkeiten zept für die Neuordnung der zivilen Verteidigung hätten die Wettbewerbsfähigkeit der Bundesrepublik mit allen sich daraus ergebenden Konsequenzen für Deutschland im Bereich der mobilen Kommunikation Personal- und Stellenpläne. Bis heute liegt nur - das gefährdet. muß man sich auf der Zunge zergehen lassen - ein endgültiger Zwischenbericht vor. Erst gab es einen ( [SPD]: Unglaublich!) Zwischenbericht, dann einen endgültigen Zwischen- Da kann ich nur sagen: Das ist ein Skandal. bericht. Wir warten auf den endgültigen Bericht, Herr Minister. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne (Beifall bei der SPD) ten der PDS) Sie ignorieren damit die Beschlußlage des Parla- Eine Ohrfeige für Sie, Herr Minister - symbolisch ments, obwohl Haushaltsberatungen stattgefunden gesprochen -, ist aber auch, wenn private Netzanbie- haben und obwohl wir durch teilweise Sperrung ver- ter mit der Abhörsicherheit ihrer Netze Werbung be- sucht haben, die Berichtsvorlage zu erzwingen. Bis treiben mit der wunderschönen Folge, daß große jetzt Fehlanzeige! Sie schaffen also Strukturen durch Teile des Drogenhandels, aber auch die logistische Stellenabbau, -umbau, -umsetzungen und Budgetie- Kommunikation rechtsradikaler Gruppen inzwischen rung, anstatt umgekehrt nach Vorlage eines Kon- per Funktelefon läuft und gesteuert wird. zepts diese Dinge in Angriff zu nehmen. Das offen- Als Haushälterin fordere ich Sie dringend auf, die bart in meinen Augen ein etwas leicht gestörtes Ver- erforderlichen Nachinvestitionskosten auf gar keinen hältnis zum parlamentarischen System. Da kann ich Fall aus der Bundeskasse mit Steuergeldern zu be- nur sagen: In gewohnter Manier brüskiert der kan- gleichen. tige Innenminister das Parlament. (Ina Albowitz [F.D.P.]: Was hat eigentlich Als Haushälterin bin ich - ich sage das, damit der Innenminister damit zu tun?) keine Mißverständnisse im Raume stehenbleiben - fürs Sparen, aber an der richtigen Stelle und in ange- Noch eine Bitte: Entkräften Sie die Befürchtungen messener Höhe. Warum müssen - ich greife hier den der Länder - dies liegt auf dem Tisch -, Sie wollten Antrag der GRÜNEN auf, der heute morgen vorlag - nach und nach Bundesgrenzschutz und Bundeskri- z. B. beim Objekt Marienthal/Eifel - besser bekannt minalamt zu einer Bundespolizei ausbauen, obwohl unter Regierungsbunker - 11 Millionen DM allein dies, wie Sie wissen, grundgesetzwidrig ist. Sie sa- angeblich für die Unterhaltung angesetzt werden? gen etwas anderes; aber sagen Sie einmal, daß Sie Oder ist die Zahl von 200 Bewachungskräften für das nicht im Sinne haben. Wenn Sie die Machtba- den Ausweichsitz der Bundesregierung gerechtfer- lance in diesem sensiblen Bereich zugunsten des tigt? Die Frage ist, ob das Ganze überhaupt noch not- Bundes ändern wollen, geht das nur mit den Ländern wendig ist. und nicht gegen die Länder. Und weiter: Warum reduzieren und plafondieren - (Beifall bei der SPD) Sie die Mittel des Kulturhaushaltes, nicht hingegen Das dürfte Ihnen das Kompetenzgezerre um den Ab- die Mittel nach § 96 des Bundesvertriebenengeset- schiebestopp für die Kurden ja hinlänglich klar ge- zes - immerhin satte 30 Millionen DM - in angemes- macht haben. sener Weise? Die veränderten politischen Gegeben- heiten in Osteuropa erfordern eine völlig neue Kon- Wir denken, daß es dem inneren Frieden in diesem zeption aller Institutionen und aller Programme. Das Lande allemal dienlicher wäre, wenn die Bundesre- heißt, die gesamte Kiste gehört auf den Prüfstand. gierung verstärkte Anstrengungen für ein friedliches Beispielsweise die Bundeszuwendungen an die Stif- Zusammenleben von Ausländern und Deutschen un tung Ostdeutscher Kulturrat und an die Kulturstif- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995 2135

Uta Titze-Stecher tung der deutschen Vertriebenen sollten nicht nur - Sie können sich äußern, Frau Albowitz. wegen des allgemeinen Sparzwangs reduziert wer- den, sondern auch in Anbetracht der Tatsache, daß (Ina Albowitz [F.D.P.]: Ja, das werde ich heute, 50 Jahre nach Kriegsende, der Blick nach tun!) vorne auf die künftigen Generationen wichtiger ist Auf der anderen Seite werden großzügig Mittel an als der Blick nach hinten. Auch da sind wir in der alle möglichen Organisationen vergeben, die von Pflicht. sich selber behaupten, deutsche Kultur in Osteuropa (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne zu fördern. Trotz jahrelanger Recherchen von Bun- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN desrechnungshof und Staatsanwaltschaft ist es bis und der PDS) heute schwer, den Mantel des Schweigens über fehl- gelaufene und undurchsichtige Geschäfts- und Ver- Eine Umschichtung der Mittel für ein Regionalför- gabepraktiken bei der Projektrealisierung aufzudek- derprogramm Kultur könnte den dringenden Nach- ken. holbedarf der Kultur in den strukturschwachen Grenzregionen an der deutschen Ostgrenze decken. Neuestes Beispiel im Zusammenhang mit den Aus- Nach jahrelangen Verhandlungen zwischen Bund gaben für Rußlanddeutsche - vor zwei Wochen in und Ländern ist die Sache kurz vor der Umsetzung „Spiegel" -: Ein evangelisches Gemeindezentrum im geplatzt. Es wäre bei gutem Willen der Koalition und Omsk - Herrn Waffenschmidt werden die Ohren auch - zugegeben - bei vernünftiger Projektauswahl klingen - sollte zu 90 % vom Bund bezahlt werden. möglich gewesen, den Einstieg in diese Kulturförde- Unter Druck der russischen Baumafia geraten, haben rung in einer Größenordnung von 10 bis 20 Millionen Sie sich, Herr Waffenschmidt, über den Tisch ziehen DM bereits beim Haushalt 1995 zu wagen. lassen. Sie sind für mich ein personifiziertes Haus- haltsrisiko geworden. Um dem Argument der Koalition gleich vorzugrei- fen: Hier ist keinesfalls eine Wiederauflage der Zo- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE nenrandförderung gemeint. Hier geht es nur darum, GRÜNEN und der PDS - Widerspruch bei daß der Bund den Ländern gegenüber gemachte Zu- der CDU/CSU) sagen schlicht und einfach ohne ausreichende Be- gründung zurückgenommen hat. Um es klar zu sagen: Dieser Ausdruck stammt aus dem Ministerium selbst - nicht von mir. Die SPD hält auch die von der Bundesregierung beschlossenen 690 Millionen DM für die Bundeskul- (Joseph Fischer [] [BÜNDNIS 90/ turförderung für unvereinbar mit den Verpflichtun- DIE GRÜNEN]: Aha!) gen aus Art. 35 des Einigungsvertrages. Dieser pla- Ich komme zum Schluß. Angesichts der erhebli- fondierte Betrag reicht in keinem Falle aus, um kultu- chen Fehlentwicklungen der in die GUS fließenden relle Einrichtungen von gesamtstaatlicher Bedeutung Unterstützungsleistungen halten wir die gesamte auch unter dem Aspekt der regionalen Ausgewogen- Konzeption der Bundesregierung, mit hohem finan- heit zu sichern und zu fördern. ziellen Einsatz die Deutschstämmigen zum Verblei- Nun komme ich zur Berliner Kulturförderung: Un- ben zu bewegen, für in weiten Teilen gescheitert. ter Berücksichtigung der Hauptstadtfunktion wurden Wolga-Projekte sind - wie wir alle wissen - allenfalls trotz nachweislichen Bedarfs von 148 Millionen DM geeignet, Ausreisewillige hinzuhalten, eröffnen aber lediglich 28 Millionen DM festgelegt - und das nur - wie die Zahlen verdeutlichen - keine Perspektive. auf Druck der SPD, um das einmal öffentlich zu ma- Wir sehen die Aussiedlerprogramme für Deutsche chen. in der Ukraine schlicht als gescheitert an. Deswegen (Zuruf von der SPD: Eine Schande ist das!) fordern wir Sie auf, einen detaillierten Bericht über die Förderung und vor allem die Einschätzung der - Das sehe auch ich als Schande an. Ich halte das für geplanten Projekte abzugeben. eine eklatante Verletzung von § 5 Abs. 2 des Bonn- Berlin-Gesetzes, in dem der Bund ausdrücklich zu- Ich denke, die wenigen angeführten Beispiele ver- sagt, das Land Berlin bei den ihm vom Bund zur deutlichen, warum wir die Einzelpläne 06 und 36 ab- Wahrnehmung der gesamtstaatlichen Repräsentation lehnen und uns bei dem Einzelplan 33 - Versorgung - vereinbarungsgemäß übertragenen besonderen Auf- der Stimme enthalten werden. Sie tragen zu eindeu- gaben zu unterstützen. tig die Handschrift dieses Innenministers - und dies zum Teil ohne Rücksicht auf parlamentarische Be- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE schlüsse und Forderungen sowie ohne Konzepte. Die GRÜNEN und der PDS) Prioritäten - besonders im Bewilligungsteil, aber- Ebenso wortbrüchig handelt der Bundesinnenmi- nicht nur in diesem - halten wir für unvertretbar. nister im Bereich des Sports. Die Koalition hat den Neue überfällige Konzepte stehen aus. seit 15 Jahren reifenden Plan zur Errichtung eines Ein gravierender Vorwurf: Existenz, Zielsetzung, deutschen Sportmuseums zunichte gemacht, obwohl in dem zuständigen Fachausschuß, dem Sportaus- Aufgaben und finanzielle Dimensionierung von eini- schuß, die Fragen der Finanzierung und der Folgeko- gen Bundesbehörden und einigen Instituten im Ge- sten einvernehmlich unter den Fraktionen und mit schäftsbereich des Bundesministeriums des Innern dem Sport geklärt waren. sind nicht nur nach Meinung der Berichterstatterin und der SPD, sondern sogar nach Meinung des Bun- (Ina Albowitz [F.D.P.]: Das ist nicht wahr!) desrechnungshofs unzeitgemäß. 2136 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995

Uta Titze-Stecher

Aus diesen Gründen lehnen wir die bereits er- Dr. Klaus - Dieter Uelhoff (CDU/CSU): Fragen darf wähnten Einzelpläne 06 und 36 mit Entschiedenheit ich der Kollegin Titze-Stecher nie abschlagen. ab. (Zurufe von der CDU/CSU - Unruhe) (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS - Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Wir wollen den Purps wieder Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Jetzt fragt die Kol- haben!) legin Titze-Stecher.

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster Uta Titze - Stecher (SPD): Herr Kollege Uelhoff, be- spricht der Kollege Dr. Klaus-Dieter Uelhoff. stätigen Sie, daß im Haushaltsentwurf keineswegs Anhebungen von A7 nach A8 in der von Ihnen ange- (Zuruf von der CDU/CSU: Jetzt gibt es eine gebenen Größenordnung vorgesehen waren, daß wir anständige Haushaltsrede!) erst in der Bereinigungssitzung über Personalia diese Kiste zu Ende brachten, weil der Antrag der SPD vor- Dr. Klaus - Dieter Uelhoff (CDU/CSU): Verehrte lag, weil der Antrag der GRÜNEN vorlag, und weil Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und vor allem die Betroffenen selbst, der Bundesgrenz- Herren! Es ist schon ein abenteuerliches Szenario, schutz, massiv Druck gemacht haben? was unsere im übrigen geschätzte Kollegin Titze- Stecher hier vorführt. Dr. Klaus - Dieter Uelhof (CDU/CSU): Frau Kollegin (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - Titze-Stecher, ich bin ja kein Neuling in dieser Frage, Widerspruch bei der SPD) und ich weiß, wie die Polizeien der Länder besoldet In welchem Land leben wir eigentlich? Die Bundes- werden. Mir ist genau wie Ihnen und anderen Kol- regierung ist für Korruption zuständig? legen aufgefallen, daß hier ein objektiver Mißstand vorliegt, daß nämlich die Polizeibeamten der Länder (Erneuter Widerspruch bei der SPD) - die Länder klagen ja immer, sie hätten so wenig Geld - wesentlich besser besoldet werden und auch Sie unterstützt die organisierte Kriminalität? in der Struktur des Stellenkegels besser dastehen als Meine Damen und Herren von der Opposition, der Bundesgrenzschutz. dann setzen Sie die Bundesregierung, wenn es denn so ist, in den Stand und geben Sie ihr auch die recht- (Otto Schily [SPD]: Das haben Sie aber spät lichen, die sächlichen, die finanziellen und die orga- gemerkt!) nisatorischen Möglichkeiten, daß dieses alles abge- Genau dies war für mich der Anlaß, in Gesprächen stellt wird. mit dem Bundesinnenminister, mit den Vertretern (Beifall bei der CDU/CSU - Widerspruch des Bundesgrenzschutzes, mit der Arbeitsgruppe In- bei der SPD) nen unserer Fraktion, gemeinsam mit der Koalition und dann auch Gott sei Dank gemeinsam mit Ihnen, Sie sind doch die Nein-Sager in diesem Fall. verehrte Frau Kollegin Titze-Stecher, Meine sehr verehrten Damen und Herren, selbst (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Die SPD hat die geschätzte Kollegin Titze-Stecher muß es sich auf den Antrag gestellt!) der Zunge zergehen lassen, wenn eine hier völlig un- bekannte Kollegin, eine gewisse Abgeordnete Bruni und gemeinsam mit den GRÜNEN diese Anhebun- Irber, in der Zeitung vor wenigen Tagen verkündet, gen durchzusetzen. Sie hätten sich diese Frage er- auf Grund gemeinsamer Anstrengungen der SPD- sparen können. Hätten Sie mich meinen Text weiter Haushaltsgruppe - federführend sel, so wird erläu- sprechen lassen, dann hätte ich genau diesen Punkt tert, diese Frau Irber - sei es gelungen, Besoldungs- genannt, daß wir in wenigen Punkten der inneren Si- anhebungen beim Bundesgrenzschutz durchzuset- cherheit Gott sei Dank auch noch gemeinsam han- zen. deln können, weil dies für die Motivation des Bun- desgrenzschutzes ganz entscheidend ist. Meine Damen und Herren, das ist doch abenteuer- lich! Wer kennt denn diese Abgeordnete? Die Kolle- (Beifall bei der CDU/CSU) gin Titze-Stecher Ich will in diesem Zusammenhang auch noch eine (Unruhe bei der SPD) Anmerkung an die Bundesregierung machen, nicht ist Gott sei Dank selbst mit dabei gewesen, als wir es nur an den Innenminister, sondern auch an den Fi-- in einer gemeinsamen Anstrengung erreicht haben - nanzminister: Eigentlich hätte ich erwartet, daß sich bei mir im Dienstzimmer ist der Anfang gesetzt wor- ein solches Mißverhältnis nicht im Etatentwurf der Regierung niedergeschlagen hätte. Ich erwarte jetzt, den - , für den Bundesgrenzschutz 3 000 Stellen von A 7 nach A8 anzuheben, und nicht eine gewisse Kol- daß sich auch eine Durchschlüsselung dessen, was legin Irber, die niemand hier im Hause kennt. wir begonnen haben, im nächsten Etat niederschlägt.

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Kollege Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Kollege Uel- Uelhoff, gestatten Sie eine Frage der Kollegin Titze hoff, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kol- Stecher? legen Graf? Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995 2137

Dr. Klaus-Dieter Uelhoff (CDU/CSU): Bitte schön, Meine Damen und Herren, ich kann in der Kürze Herr Kollege. der Zeit - ich habe, obwohl ich Hauptberichterstatter bin, leider nur zehn Minuten - nicht auf all das einge- hen, was die Kollegin Titze-Stecher gesagt hat. Des- Günter Graf (Friesoythe) (SPD):Herr Kollege, wür- halb will ich ein paar weitere Themen nur stichwort- den Sie zur Kenntnis nehmen, artig ansprechen. (Dr. Helmut Lippelt [BÜNDNIS 90/DIE Zum Sport. Der Bundeskanzler hat dem Sport be- GRÜNEN]: Nein! - Heiterkeit beim BÜND reits 210 Millionen DM zugesagt. Wir haben diesen NIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der Betrag im Haushaltsausschuß abgesichert, weil wir PDS - Dr. Klaus-Dieter Uelhoff [CDU/CSU]: es für angemessen halten, daß für Hochleistungs- Doch, ich nehme es gern zur Kenntnis!) sport und Bundesleistungszentren Mittel in diesem Umfang bereitgestellt werden und so auch auf Bun- daß die Innenpolitiker der SPD-Bundestagsfraktion desebene Flagge gezeigt wird. Wir haben eine quali- in all den Jahren der Vergangenheit im Innenaus- fizierte Sperre ausgesprochen, um den Spitzenver- schuß des Deutschen Bundestages stets gefordert ha- bänden des Sports die Chance zu geben, strukturelle ben, nun endlich das Personalstrukturgesetz durch- Defizite in Eigenregie zu beseitigen. Wir wünschen zusetzen, in dem es darum geht, daß der Bundes- uns darüber hinaus - dies als Anregung an das In- grenzschutz an die Entwicklung in den Landespoli- nenministerium - auch bei der Trainerförderung eine zeien angepaßt wird, und das seit 1974, daß aber un- Plafondierung. Denn es kann nicht angehen, daß der sere Anträge mit permanenter Boshaftigkeit in den Bund die Rolle der Arbeitgeber übernimmt. Dies soll- entsprechenden Ausschußberatungen abgelehnt ten die Sportverbände selbst machen. worden sind? Wir haben den Ansatz für das Institut für Ange- wandte Trainingswissenschaft in und die Dr. Klaus-Dieter Uelhoff (CDU/CSU): Herr Kollege Forschungs- und Entwicklungsstelle für Sportgeräte, Graf, dies nehme ich zur Kenntnis. Aber nehmen Sie FES, in Berlin gegenüber dem Regierungsentwurf bitte auch zur Kenntnis, daß eine gewisse Kollegin um 1 Million DM erhöht. Bruni Irber, die sich hier als federführend darstellt, überhaupt nichts damit zu tun hat. (Engelbert Nelle [CDU/CSU]: Das ist gut so!) (Heiterkeit bei der CDU/CSU - Otto Schily [SPD]: Immerhin ist sie nun durch Sie be Und was noch wichtiger ist: Wir haben den Vermerk kannt geworden!) „künftig wegfallend" aufgehoben und damit die Vor- aussetzungen geschaffen, daß sich die Forscher jetzt Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist auf ihre eigentlichen Aufgaben konzentrieren kön- schon wichtig, daß dem Bundesgrenzschutz durch nen. eine solche gemeinsame Aktion deutlich gemacht (Beifall des Abg. Engelbert Nelle [CDU/ wird, CSU]) (Unruhe) Eine letzte Bemerkung zum Bereich des Sports: daß er sich auf die Koalition und in diesem Falle auch Wir sind durchaus der Meinung - daran lassen wir auf alle Kollegen des Bundestages verlassen kann. keinen Zweifel -, daß sich der Bund an den Investi- tionen des Sportmuseums in Köln beteiligen muß. Er Das Schengener Abkommen ist, wie wir wissen, in wird sich daran beteiligen, weil er das versprochen diesen Tagen in Kraft getreten, und der Bundes- hat. Allerdings muß im Vorfeld absolut sicher sein, grenzschutz hat bereits im Vorfeld hervorragende Ar- daß die Stadt Köln oder das Land Nordrhein-Westfa- beit geleistet, len den Bund freihalten von jedem Pfennig Bet riebs- (Anhaltende Unruhe) kosten und Kosten für den laufenden Unterhalt. Lei- wenn er etwa im Pfälzer Wald in den letzten Wochen der haben der Oberbürgermeister gezielt - (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Ein guter Mann!) Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Kolleginnen und und der Oberstadtdirektor der Stadt Köln drei Kolle- Kollegen, hier kann kein Mensch mehr etwas verste- gen - dem Kollegen Niese, der Kollegin Albowitz hen. Ich bitte jetzt zuzuhören! und mir - mitgeteilt, daß die Stadt Köln diese Zusi- cherung natürlich nicht geben wird. Deshalb erwar- ten wir eine Klärung der Angelegenheit. Wie ich- Dr. Klaus-Dieter Uelhoff (CDU/CSU): - über 1 600 höre, hat sich auch der Bundesinnenminister hier Personen aufgegriffen hat, die aus Südosteuropa, aus helfend und vermittelnd eingeschaltet. der Levante und aus dem Maghreb kommen. Der Bundesgrenzschutz hat ja nicht das friedliche Trei- Ein weiterer Punkt, den ich stichwortartig anspre- ben der Elwetritsche im Pfälzer Wald gestört, son- chen möchte - er ist von meiner Vorrednerin in einer dern Verbrecherbanden, Schlepperbanden und die alten, nicht korrekten Form dargestellt worden -, Drogenmafia, aufgespürt. Ich bin sehr dankbar dafür, nämlich den Schutz und die Hilfe für die deutschen daß wir hier deutlich Flagge zeigen können. Innere Minderheiten in Mittel- und Osteuropa sowie die Sicherheit beginnt beim einzelnen Polizeibeamten Vertriebenen: Im Haushalt des Bundesministers des und bei seiner Motivation. Innern sind Mittel für die Kulturarbeit unserer hei- 2138 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995

Dr. Klaus-Dieter Uelhoff matvertriebenen Mitbürgerinnen und Mitbürger so- Eine letzte Anmerkung zu dem wichtigen Thema wie für die Unterstützung deutscher Minderheiten in Kunst und Kultur in den neuen Bundesländern Mittel- und Osteuropa, auch in Rußland, enthalten. -58 Millionen DM. Ich muß schon sagen - Stiftung Diese Haushaltsmittel sind leider immer wieder Ge- Weimarer Klassik, Bauhaus Dessau, Bach-Archiv genstand kontroverser Diskussionen in den Aus- Leipzig, Luther-Stätten, Lessing-Gedenkstätte Ka- schüssen und auch hier im Plenum. Ich meine, ge- menz usw. -: Wir Berichterstatter haben unsere erste rade in den letzten Jahren nach den 1990 und 1991 Berichterstatterreise zu einigen dieser Leuchttürme abgeschlossenen Verträgen hat sich der verständi- deutscher Kultur in Ostdeutschland gemacht und uns gungsstiftende Charakter dieser Haushaltsmittel ge- davon überzeugen können, daß das Geld der Steuer- zeigt. zahler hier hervorragend angelegt ist und sachkun- dig verwaltet wird. Wir konnten ein wenig von dem (Parl. Staatssekretär Dr. Horst Waffen Reichtum der Kultur und der Geschichte erleben, die schmidt: Sehr gut!) jetzt nach der Einheit unseres Vaterlandes auch den Mitbürgern aus Westdeutschland wieder ohne Sie haben dazu beigetragen, daß sich unsere heimat- Mauer und Stacheldraht zugänglich ist. Ich war mit vertriebenen Mitbürgerinnen und Mitbürger aus der unserer Landtagsfraktion aus Rheinland-Pfalz 1983 Neugestaltung der Beziehungen zu unseren östli- auf den Spuren Martin Luthers in der damaligen chen Nachbarn nicht ausgegrenzt gefühlt haben. Im DDR. Es ist schon ein Unterschied, Luthers Geburts- Gegenteil: Sie sind Brücke zur Verständigung, insbe- haus in Eisleben 1983 erlebt zu haben, ertragen zu sondere gegenüber Polen und gegenüber der Tsche- haben und jetzt Luthers Geburtshaus in Eisleben ge- chischen Republik. sehen zu haben, mit viel Liebe, mit viel Feinfühlig- Unsere Heimatvertriebenen haben gelernt, mit den keit und Sensibilität gestaltet. abgeschlossenen Verträgen zu leben, sie auch als Meine Damen und Herren, wir alle haben Grund, Chance zu begreifen, sich mit einzubringen in das für die Einheit Deutschlands dankbar zu sein. Werk der Verständigung und der Versöhnung. Für uns, meine Damen und Herren, stehen diese Haus- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) haltsmittel nicht zur Disposition. Für mich persönlich ist dieser Teil des Kulturetats des (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Innenministers einer der - ich sage es jetzt sehr sa- lopp - Highlights. Ich bin dankbar dafür, daß wir alle Lassen Sie mich abschließend - nicht nur weil die- daran teilhaben können. ser. Bereich schön ist, sondern weil er unglaublich wichtig ist - noch ein paar Anmerkungen zum Kul- Meine sehr verehrten Damen und Herren, der turhaushalt des Innenministers machen. 792 Mil- Haushaltsplan des Innenministers ist wohldurch- lionen DM beträgt die Summe der eingesetzten Mit- dacht. Er ist gut strukturiert. Dies gilt übrigens auch tel, 40 % davon gehen in die deutsche Hauptstadt, - das darf ich für meinen Kollegen Freiherr von Ham- Berlin. Das ist ein stolzer Betrag, der dem Histori- merstein sagen - für den Einzelplan 36. Das Zivil- schen Museum, dem Rundfunkorchester, Chören, schutzkonzept liegt vor. Ruhe ist eingekehrt. Wir hal- der Filmakademie, der Festspiel GmbH und den vie- ten es für angemessen und angebracht, Sie alle zu len Maßnahmen der Stiftung Preußischer Kulturbe- bitten, dem Einzelplan 06 und dem Einzelplan 36 zu- sitz zugute kommt. Ich würde mir wünschen, daß die zustimmen. 330 Millionen DM, die im Haushalt der Regierung bereits vorgesehen waren - wir haben diesen Betrag (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) um weitere 30 Millionen DM aufgestockt -, nicht als „lachhaft" hingestellt werden, wie dies der Kulturse- nator von Berlin, Roloff-Momin, in einer unglaubli- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster spricht der Kollege Rezzo Schlauch. chen Formulierung getan hat. Die Qualifikation „lachhaft" in bezug auf 30 Millionen DM Steuergel- der erinnert mich allerdings an das andere Unwort Rezzo Schlauch (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): des letzten Jahres, „Peanuts", das allerdings privat- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das wirtschaftlich erwirtschaftetes Geld betraf und nicht Bundesinnenministerium mit Herrn Minister Kanther Steuermittel des deutschen Steuerzahlers. an der Spitze soll nach dem Willen der Regierungs- fraktionen mit 8,5 Milliarden DM ausgestattet wer- 30 Millionen DM haben wir zusätzlich auf die den. Es stellt sich aus bündnisgrüner Oppositions- 330 Millionen DM, die ohnehin für den Haushalt in sicht die Frage, wie Herr Kanther seine Aufgaben in Berlin vorgesehen waren, draufgelegt. Ich meine, den verschiedenen Zuständigkeitsbereichen erfüllt man muß überall anerkennen, daß das Geld nur ein- - bzw. wie sie denn besser zu erfüllen wären. mal verteilt werden kann. Ich würde mir wünschen, daß auch die Berliner Kulturpolitiker jetzt ihren Bei- Eine Kernaufgabe des Innenministers ist die Auf- trag zu einer kritischen Bestandsaufnahme leisten rechterhaltung der inneren Sicherheit, im Wörter- und uns im Haushaltsausschuß sagen - darum haben buch „Staat und Politik" wie folgt definiert: wir die Mittel qualifiziert gesperrt -, für welche kon- kreten Maßnahmen, die hauptstädtischen Charakter Innere Sicherheit ist in der Regel Schutz, Gefahr- haben, diese 30 Millionen - es sind genau 28 Mil- losigkeit, Verläßlichkeit und Abwehr von Gefah- lionen, die wir gesperrt haben - verwandt werden ren für Individuen, aber auch für politische, so- sollen. ziale und wirtschaftliche Ordnung. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995 2139

Rezzo Schlauch Ein erfolgreicher Innenminister hätte demnach für Gewinnerzielungsmöglichkeiten und damit den Saft, weniger Gefahren, für mehr Schutz und für einen ho- von dem es lebt, abzudrehen. hen Grad an Verläßlichkeit zu sorgen. Sie, Herr Kan- ther, haben während Ihrer Amtszeit nicht mehr Si- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN cherheit, sondern mehr Unsicherheit produziert. sowie bei Abgeordneten der SPD und der PDS) Das subjektive Sicherheitsgefühl in der Bevölke- Benjamin Franklin hat gesagt: rung ist signifikant geschwunden, was sich schon daran zeigt, daß der private Sicherheitsmarkt als Der Mensch, der bereit ist, seine Freiheit aufzu- präziser Gradmesser hierfür wie nie zuvor in der BRD geben, um die Sicherheit zu gewinnen, wird bei- boomt. Und dies, Herr Kanther, trotz der von Ihnen des verlieren. vorangetriebenen und ins Werk gesetzten Verschär- fung der repressiven Instrumentarien wie das Geld- Sie sind auf dem besten Wege hierzu, mit verhäng- wäschegesetz oder das Verbrechensbekämpfungs- nisvollen Folgen für unsere Demokratie. gesetz. Auch Ihre zukünftig geplanten Maßnahmen, wie der Lauschangriff, werden daran nichts ändern. Ich komme zu einem Punkt, der quantitativ nicht Sie haben weniger Sicherheit geschaffen, gerade ins Gewicht fällt, qualitativ aber von hoher Bedeu- weil Sie in Ihrer blinden ideologischen Fixierung auf tung ist und auch davon zeugt, wes Geistes Kind die- die Repression, auf den starken Staat, auf sich selbst ser Innenminister und diese Regierung sind, als starken Mann, wie Sie sich gerne darstellen, Zu- (Widerspruch bei der CDU/CSU) sammenhänge falsch analysieren, diese im genann- ten Sinne ideologisieren und dann zu falschen, hilflo- nämlich zur Frage der Kulturförderung in Berlin. sen und unwirksamen Reaktionen kommen. Die jetzt eingestellten 28 Millionen DM, gesperrt noch dazu, reichen, wie wir alle wissen, hinten und (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) vorne nicht aus. Während des Kanzlers liebstes Kind, das Deutsche Historische Museum, mit einer völlig Ich möchte dies an vier Punkten deutlich machen. verstaubten nationalhistorischen Konzeption ver- Wenn sich, wie wir wissen, Bürgerinnen und Bürger schwenderisch ausgestattet wird, wird die lebendige in allererster Linie von der sogenannten Alltagskri- Berliner Kulturszene in ihrer Substanz bedroht. minalität, also von Wohnungseinbrüchen, Diebstäh- len aus Wohnungen und Pkws, Fahrrad- und Pkw- Daß wir heute unseren Antrag, der den Haushalt Diebstählen sowie Handtaschenrauben auf Straßen nicht erhöht, sondern der nur umschichtet, über- und öffentlichen Plätzen, bedroht fühlen, dann hel- haupt stellen müssen - auch das muß in diesem fen der große Lauschangriff, das Geldwäschegesetz Hause einmal gesagt werden -, verdanken wir übri- oder das Verbrechensbekämpfungsgesetz nicht. Da- gens just denjenigen, die sich hier als die angebli- mit schaffen Sie weniger Sicherheit für die betroffe- chen Wahrer von Berlin und des Ostens immer auf- nen Opfer und nicht mehr Sicherheit. spielen. 19:18 statt gehabter 18:18 hätte die Abstim- mung enden können, wenn die Vertreterin der PDS (Beifall des Abg. Joseph Fischer [Frankfurt] anwesend gewesen wäre. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] - Ina Albo- witz [F.D.P.]: Damit hat er recht! - Erwin (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Marschewski [CDU/CSU]: Leider falsch!) und der SPD)

Wenn Sie bei der Bekämpfung des organisierten Gehen Sie lieber in Sack und Asche, Frau Kollegin Verbrechens das Geschwister hiervon, nämlich die Höll und liebe Kolleginnen und Kollegen von der Korruption, ausblenden und, um Ihre eigene Wirt- PDS, als hier mit dem von Ihnen versaubeutelten An- schaftsklientel zu schonen, die steuerliche Absetz- trag schauzulaufen. barkeit von Schmiergeldern im In- und Ausland un- angetastet lassen, dann bleibt Ihr Kampf gegen das (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN organisierte Verbrechen unglaubwürdig und zahnlos und der SPD und bei Abgeordneten der mit gefährlichen Folgen für die Stabilität der Gesell- CDU/CSU sowie des Abg. Gerhard Zwe schaft und der Demokratie. renz [PDS])

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Während wir hier debattieren, marschiert die türki- sowie bei Abgeordneten der SPD und der sche Armee durch den von Kurden bewohnten Nord- PDS) irak, um mit deutschen Waffen ganze Dörfer plattzu- walzen. Dem Innenminister fällt dazu in einer Talk-- Wenn eine jahrelange Ausweitung und Verschär- runde am Sonntagabend nur ein, deutsche Waffen fung der Repression den Drogenkonsum nicht ein- würden lediglich bis zur Grenze eingesetzt. dämmt, sondern verbreitert, dann ist es doch aller- (Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN höchste Zeit, eine durch und durch gescheiterte re- und der SPD) pressive Kriminalpolitik durch Gesundheits- und Marktpolitik zu ersetzen, die Märkte harter Drogen Das Schlimme daran ist, daß Sie, Herr Kanther, nicht Schritt für Schritt auszutrocknen und so der Beschaf- naiv sind, sondern nur so tun, als ob. fungskriminalität, die in den Ballungszentren 50 % der Alltagskriminalität ausmacht, den Boden zu ent- (Uta Titze-Stecher [SPD]: Da lacht er ja sel ziehen und dem organisierten Verbrechen die hohen ber!) 2140 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995

Rezzo Schlauch Die Massaker der türkischen Polizei an den Alevi- Der Blick nach vorn, das wäre nicht dumpfe ten, der Einmarsch in den Irak und das Verhalten der Deutschtümelei, das ist geregelte Einwanderung, das türkischen Regierung gegenüber Herrn Kinkel, der ist doppelte Staatsbürgerschaft, allerdings in diesem Zusammenhang wieder einmal gezeigt hat, daß er im Vergleich zu Herrn Kanther (Ute Titze-Stecher [SPD]: Das sagen wir naiv bis zur Halskrause ist, auch!)

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN das ist Integration statt Ausgrenzung, das ist plurali- sowie bei Abgeordneten der SPD und der stische, offene Gesellschaft statt formierter Gesell- PDS) schaft, das ist Humanität statt Kantherscher Inhuma- nität, und das ist mehr lebendige Kultur. Diese Op- zeigen, daß die Halbwertszeit der Zusicherungen der tion, diesen Blick nach vorn haben Sie sich ideolo- türkischen Regierung auf wenige Tage zusammen- gisch verstellt. geschrumpft ist. (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Oh je!) Es ist nicht mehr nachzuvollziehen, in welch peinli- cher Form sich die Bundesregierung von dem men- Deshalb ist Ihr Beitrag zur Lösung der dringenden schenrechtsschindenden Regime der Türkei am Na- Probleme in unserer Gesellschaft zu dürftig. Wir leh- senring vorführen läßt. Abgesehen davon ist es auch nen diesen Etat und Sie als Innenminister ab. ein Skandal, mit welch läppischen Zusicherungen Sie, Herr Innenminister Kanther, sich von der türki- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schen Regierung abspeisen lassen. sowie bei Abgeordneten der SPD und der PDS) Die Garantie der Zusicherung eines Anwalts bei der Abschiebung steht unter dem Vorbehalt, daß die zuständigen Justizbehörden dies erlauben - wie wir Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort hat jetzt wissen, im Bereich der Staatssicherheitsjustiz ein völ- die Kollegin Ina Albowitz. lig willkürlicher Akt. Wer solche Vereinbarungen trifft, der ist nicht Wahrer und Förderer der inneren Sicherheit; er ist selber zum Sicherheitsrisiko gewor- Ina Albowitz (F.D.P.): Frau Präsidentin! Meine Da- den, men und Herren! Lieber Gott, Herr Schlauch, glau- ben Sie wirklich alles selber, was Sie hier verkündet (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, haben? bei der SPD und der PDS - Erwin Mar schewski [CDU/CSU]: Jetzt hast du aber al (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: les gesagt!) Der glaubt gar nichts!) zum Sicherheitsrisiko für die, für deren Sicherheit Sie Wie Sie die Bundesregierung bewertet haben, auch verantwortlich sind, für diejenigen, die im gu- kann ich aus Ihrer Sicht sogar noch nachvollziehen. ten Glauben auf die Garantie unserer humanen Aus unserer Sicht sieht das dezidiert anders aus. Rechtsordnung vor Verfolgung und Folter Schutz su- chen und statt dessen hier auf den Kumpanen ihrer (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ Häscher treffen. DIE GRÜNEN]: Fragen Sie die Frau Justiz- ministerin, was sie von ihrem Kollegen (Beifall des Abg. Joseph Fischer [Frankfurt] hält!) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Denn wenn man in der Koalition arbeiten und Ver- Meine Damen und Herren, diese Regierung antwortung übernehmen muß, sehen manche Pro- schmückt sich ja gern mit dem Anschein, als strebe bleme in dieser Welt ein bißchen anders aus, als sie zielbewußt die Modernisierung der Gesellschaft wenn man hier nur Utopia fordern kann. an, als stelle sie sich den Herausforderungen der Zu- kunft. Der Eindruck trügt. Betrachtet man das Innen- Meine Damen und Herren, aus den bisherigen De- ressort, sieht man Stillstand. Weltoffenheit paßt nun battenbeiträgen zum Haushalt 1995 ist deutlich ge- einmal nicht unter einen Stahlhelm. worden, daß die Koalition ihre strikten Sparbemü- hungen auch in dieser Wahlperiode konsequent fort- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, setzen will und muß. Dabei konnte der Einzelplan 06 bei der SPD und der PDS) natürlich nicht ausgenommen werden, doch ich glaube, wir haben nur Wasser gespart, ohne den Bo- - Eine moderne, weltoffene Einwanderungsgesell- den auszutrocknen. schaft, die wir eigentlich längst sind, die Sie nur nicht wahrnehmen wollen, schafft man nicht mit dem In dieser Woche, meine Damen und Herren, begin- Blick zurück. Dorthin fließen munter weiter Ihre Gel- nen die Tarifverhandlungen für den öffentlichen der und Sympathien, auch wenn wie im Falle des Dienst. Wir wünschen Ihnen, Herr Minister, und den Vereins des Deutschtums im Ausland längst der Bun- Verhandlungsführern von Ländern und Gemeinden desrechnungshof prüft und die Staatsanwaltschaft viel Erfolg, ermittelt. (Zuruf von der SPD: Und den Gewerkschaf- (Beifall der Abg. Uta Titze-Stecher [SPD]) ten!) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995 2141

Ina Albowitz allerdings mit dem Hinweis verbunden, daß wir zwar Ich glaube, da sind wir unisono, Herr Kollege Graf. den öffentlichen Dienst nicht aus der allgemeinen Wir sollten hier wirklich keine Geschichtsklitterung Einkommensentwicklung abkoppeln wollen, aber oder Wahrheitsdefinition betreiben. Die Koalition hat andererseits deutlich bewertet werden muß, daß ein sich sehr intensiv darum bemüht. Ich habe über- Arbeitsplatz bei der öffentlichen Hand in der heuti- haupt nichts dagegen, wenn die SPD und die GRÜ- gen Zeit ein besonderer Wert an sich ist. NEN nachziehen. Die Verantwortung für den Haus- halt aber trägt immer noch die Koalition. Dabei (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne würde ich es auch gerne belassen. ten der CDU/CSU) (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU - Große Sorgen bereitet uns die zunehmende Immo- Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ bilität der Beamten und Angestellten im Hinblick auf DIE GRÜNEN]: Darauf bestehen wir!) Versetzungsbereitschaft. Hier werden wir noch ihre Dringend erforderlich - aus meiner Sicht ist es in dieser Wahlperiode zu Reformen kommen müssen, schon fast peinlich, wie in dieser Frage vom Finanz- damit wir der Situation Herr bleiben, auch im Hin- minister geblockt wurde - ist es, die Ausstattung des blick auf das, was in den Jahren 1998/2000 auf uns Bundesgrenzschutzes mit modernen Kommunikati- zukommt. onstechniken zu verbessern. Der Einsicht des Aus- (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der schusses ist es zu verdanken, daß es mir gelungen CDU/CSU) ist, den ersten Schritt für ein Beschaffungsprogramm für Mobilfunktelefone und Autoradios zu tun. Es ent- In den Koalitionsvereinbarungen haben wir festge- behrt nicht einer besonderen Pikanterie, wenn auf schrieben, daß wir das geltende Haushaltsrecht fle- der einen Seite argumentiert wird, wir müßten der xibler anwenden und auch neue Formen der Bewirt- organisierten Kriminalität mit dem verstärkten Ein- schaftung von abgegrenzten Verwaltungsbereichen satz technischer Mittel begegnen, und auf der ande- erproben wollen. Zwei dieser Modellversuche gehö- ren Seite die Grenzschützer ihre Einsätze von der Te- ren in den Einzelplan 06, und zwar die Bundeszen- lefonzelle aus halten oder mangels billiger Autora- trale für politische Bildung und das Bundesamt für dios mit Verkehrsfunk unerwartet im Stau stehen. . Sicherheit in der Informationstechnik. Für beide Be- (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: hörden bietet sich in den kommenden zwei Jahren Zumal bei den Apparaten in den Telefon- die große Chance, eigenverantwortlich zu gestalten zellen oft das Kleingeld steckenbleibt! - Uta und zu wirtschaften. Ich hoffe, daß die Versuche er- Titze-Stecher [SPD]: Dem haben wir ja zu- folgreich sind, damit bald weitere folgen können. gestimmt! - Otto Schily [SPD]: Ist Ihnen das erst jetzt aufgefallen?) (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne ten der CDU/CDU) - Das ist mir schon öfter aufgefallen, Herr Kollege Schily. Deswegen habe ich auch nicht die Opposition Herr Kollege Fischer, ich gebe Ihnen irgendwann kritisiert, sondern den Finanzminister. einmal Nachhilfeunterricht. Vielleicht kann der Kol- lege Metzger das viel besser. Es ist nämlich auch sein (Karl Diller [SPD]: Der ist dann schuld!) Kind. Wir erwarten von der Regierung, daß das Pro- Die Sorge des Staates um die Sicherheit seiner Bür- gramm in den kommenden Jahren weiter ausgebaut ger, die Ermöglichung der Teilhabe der Bürger am wird. demokratischen Staatswesen und die Behandlung Bei aller Zufriedenheit, die man aus Bundessicht kultureller Angelegenheiten sind Schwerpunkte die- für den Etat im Bereich der inneren Sicherheit haben ses Etats, auf die ich näher eingehen möchte. kann, will ich hier deutlich machen, daß man die Si- cherheit der Bürger nicht erkaufen kann. Der Koali- Das nachvollziehbare Begehren der Bürger, in Si- tion ist es aber gelungen, diesen Schwerpunkt der In- cherheit ihre Freiheit ausleben zu können und einen nenpolitik vom Kopf auf die Füße zu stellen, fernab zuverlässigen Schutz vor Kriminalität durch den einer James-Bond-Mentalität. Staat zu erhalten, hat bei den Beratungen seinen Niederschlag gefunden. Der Bereich des Bundeskri- Meine Damen und Herren, meine Fraktion geht minalamtes mit den Schwerpunkten Informations- davon aus, daß ein die innenpolitischen Grundsätze technik, Europol, Personal wird jetzt mit widerspiegelnder Haushalt dem Bürger die Teilhabe 518,8 Millionen DM etatisiert. am demokratischen Staatswesen ermöglichen muß. - Hierunter verstehe ich besonders die Möglichkeit, Beim Bundesgrenzschutz haben wir jetzt daß sich die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes 2,73 Milliarden DM veranschlagt. Innerhalb eines politisch bilden bzw. weiterbilden können. Diesen Jahres wurde hier um 654 Millionen DM aufgestockt. Bereich decken zum großen Teil die politischen Stif- Diese Mehrausgaben dienen zur Schließung der Per- tungen und die vielen kleinen Weiterbildungsein- sonallücke und zur Steigerung der Attraktivität die- richtungen ab. Ihre Arbeit ist in der Regel nicht zu ses Dienstes. Daß wir von Haushaltsseite ein He- kritisieren, wie auch der Herr Bundespräsident erst bungsprogramm für rund 2 500 Polizeibeamte ein- vor wenigen Tagen festgestellt hat. stellen mußten, ist der erste Schritt des Gesamtpro- gramms, dem in den kommenden Jahren noch rund (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Sehr rich 9 000 Hebungen von A7 nach A8 folgen müssen. -tig!) 2142 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995

Ina Albowitz Ärgerlich ist aber, daß wir seit Jahren die Finanzie- noch einmal die notwendige Definition erstens der rung der Stiftungen nicht gesetzlich geregelt haben. Spitzenkulturförderung in Deutschland und zweitens der Formierung von Kulturkonzeptionen dringend (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und anmahnen. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Es ist schon ziemlich ernüchternd, meine Damen Meine Fraktion hat jetzt als Initiative einen um- und Herren, anzusehen, daß die ach so vornehme fangreichen Gesetzentwurf vorgelegt und lädt alle Kultusministerkonferenz immer mehr zu einer bun- Fraktionen dieses Hauses zu einer intensiven Diskus- desweiten Lehrerkonferenz gerät, die sich fast aus- sion und Debatte ein. schließlich mit Bildungsfragen beschäftigt, aber sich (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne den Erfordernissen von programmatischer Kulturar- ten der CDU/CSU) beit konsequent entzieht.

Wir sollten die kritischen Diskussionen in der Öffent- (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: lichkeit ernst nehmen und, bevor uns das Verfas- Leider wahr! - Otto Schily [SPD]: Ist der sungsgericht vorschreibt, was der Gesetzgeber zu Weng jetzt auch noch für die Kulturpolitik tun hat, selber unsere Hausaufgaben erledigen, da- zuständig?) mit wir endlich aus dem Geruch der Begünstigung herauskommen. In Nordrhein-Westfalen, wo demnächst Wahlen anstehen, kann man dies ja vielleicht mit dem mo- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne mentanen, alle Kräfte verzehrenden Glaubenskrieg ten der CDU/CSU und des Abg. Oswald um die Gesamtschule in Verbindung bringen. Nur, Metzger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) zu billigen ist dies in keinem Fall. Und was das Ver- halten bei der Finanzierung der Stiftung Preußischer Meine Damen und Herren, die Übereinstimmung Kulturbesitz angeht, stellt sich ja wohl die Frage, wie des Bürgers mit dem Staat, in dem er lebt, resultiert vertragstreu eigentlich die Länder sind. auch daraus, daß er sich in seinem Land kulturell und geistig gefordert fühlt. Ich habe in den bisheri- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) gen Haushaltsberatungen den Stellenwert insbeson- dere der Kultur immer deutlich angesprochen, den Auf einen besonderen Streitpunkt, meine Damen sie in einem demokratisch-föderalen Staatsgefüge und Herren, muß ich noch eingehen. Auch im Kultur- hat. bereich scheint die Berlin-Bonn-Sklerose immer noch weiterzugehen. Mit Argusaugen wird darüber ge- Auch in einer Zeit haushaltswirtschaftlicher Pro- wacht, mit keinem Pfennig schlechter dazustehen als bleme hat der Bund seine traditionellen Fördermaß- die jeweils andere Stadt und die in ihr geförderten nahmen als Beitrag zur Sicherung des notwendigen kulturellen Maßnahmen. Freiraums für Kunst und Kultur auf einem vertretba- ren Niveau fortschreiben können. So geisterten in der letzten Zeit Zahlen durch die Presse, die den konstruierten Gegensatz von Berlin- Die bisherigen Prioritäten der Kulturförderung in Gegnern und Bonn-Freunden neu aufleben lassen den alten Bundesländern sind nach 1992 neu bewer- sollten. Aus der Gesamtsumme von 352,3 Millionen tet worden und gleichzeitig bislang nicht etatisierte DM, die zur Förderung kultureller Einrichtungen Kultureinrichtungen in den neuen Bundesländern in und Vorhaben in Berlin für das laufende Jahr einge- die Bundesförderung einbezogen worden. stellt werden sollen bzw. eingestellt sind, wurde der Ich persönlich allerdings habe meine Zweifel, ob Sondertitel Berlinförderung für 1995 in Höhe von die bisherige Bewertung in den kommenden Jahren 30 Millionen DM herausgezogen und vergleichend hält oder ob wir nicht in einer Gesamtschau in relativ den im Rahmen des Hauptstadtvertrages für Bonn kurzer Zeit mit den Ländern gemeinsam Kriterien vorgesehenen Mitteln gegenübergestellt. Hier sollte entwickeln müssen, wie Spitzenkulturförderung im Meinung gemacht und Unruhe geschürt werden. Verhältnis Bund/Länder auszusehen hat. Fakt ist, daß in den Jahren 1991 bis 1994 rund Insgesamt verfügt der Innenminister jetzt über ei- 2 Milliarden DM in die Kulturförderung - ein- nen Etat von rund 1,5 Milliarden DM in diesem Be- schließlich der Übergangsfinanzierung und der Son- reich. Schwerpunkte sind Denkmalschutz, die Kul- dermittel aus dem Bundeshaushalt - geflossen sind. turförderung in den neuen Bundesländern, das Ge- Berlin erhält ab 1995 über den Länderfinanzaus- denkstättenkonzept Ost und die sogenannten Son- gleich erhöhte Zuwendungen und kann selber ent-- dermaßnahmen Ost. scheiden, wofür es diese erhöhten Sonderzuweisun- gen benutzen möchte. Die in einer Agenturmeldung vom 16. März kolpor- tierte Aufforderung der Ministerpräsidenten, der Die von uns eingestellten 30 Millionen DM ent- Bund solle sich weiter an der Kulturförderung in den sprechen im übrigen exakt dem Anteil, den das Land neuen Bundesländern beteiligen, ist eine ziemlich Berlin 1994 aus der Übergangsfinanzierung „Son- dümmliche Effekthascherei. Wir widmen uns dieser dertopf Unabhängige Kommission" erhalten hat. Aufgabe mit erheblichem personellen und finanziel- len Engagement. Wenn aber die Ministerpräsidenten (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: schon soviel Herzblut einfließen lassen, möchte ich Das ist doch was!) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995 2143

Ina Albowitz Wenn der Doppelhaushalt des Berliner Senats ein Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächste spricht Defizit von 148 Millionen DM hat, kann ja wohl der die Abgeordnete Ulla Jelpke. zuständige Kultursenator nicht allen Ernstes ange- nommen haben, daß wir seine Defizitberechnungen einfach abgleichen. Ulla Jelpke (PDS): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In diesen Tagen erhalten wir An- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) schauungsunterricht darüber, wie sich der Bundesin- Hier ist schon sein eigener Kopf gefragt. Die von uns nenminister die Lösung des Problems der Flücht- eingestellten zusätzlichen 30 Millionen DM aller- linge aus der Türkei vorstellt. Mit dem Kerkermei- dings als „lachhaft" zu bezeichnen, das ist ein Ni- ster der türkischen Regierung wollen Sie, Herr Kan- veau, meine Damen und Herren, angesichts dessen ther, Verträge darüber schließen, daß die Menschen- ich mir wünschen würde, daß der Regierende Bür- rechte in der Türkei eingehalten werden sollen. germeister dazu Stellung nimmt. Oder noch besser: Ihr strategisches Ziel ist aber völlig unabhängig Die Berliner Bürger sollten diesen Senator endlich von dem Erfolg dieser Politik. Ernsthaft glauben auch abwählen, denn das hat er längst verdient. Sie, Herr Kanther, meines Erachtens nicht daran, daß (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne die Türkei die Menschenrechte achten wird. Von da- ten der CDU/CSU) her setzen Sie alles daran, die Flucht der Menschen in die Bundesrepublik Deutschland zu verhindern. Die Berliner können sich aber darauf verlassen, daß wir den Hauptstadtvertrag, der ab 1996 gilt, ein- In dieser Beziehung ist der Bundesinnenminister halten werden, ebenso wie die Bonner wissen, daß meines Erachtens Pragmatiker: Wenn keine Flücht- der Bonn-Vertrag 1999 ausläuft. linge mehr hereinkommen, weil wir sie an unseren hochgerüsteten Außengrenzen abfangen, dann Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch braucht man auch nicht darüber zu streiten, ob ihre zwei Sätze zum Einzelplan 36 sagen. Ich kann die Herkunftsländer sicher sind oder nicht. Kollegin Titze ja verstehen. Wir haben den Innenmi- nister schon vor Jahren aufgefordert Die vorgelagerten Pufferzonen deutscher Asylpoli- tik müssen so gut funktionieren, daß der Flüchtlings- (Uta Titze-Stecher [SPD]: Seit 1992!) strom aus Kurdistan am Bosporus zum Stoppen - nein, noch länger, Uta -, kommt, daß der Flüchtlingsstrom aus Bosnien von unsichtbarer deutscher Hand in Kroatien aufgefan- (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Seit 1969 gen wird und daß Flüchtlinge aus Afrika keine bereits!) Chance mehr haben, legal oder illegal ein Flugzeug uns eine schlüssige Gesamtkonzeption vorzulegen. oder ein Schiff in Richtung Europa zu besteigen. Weil die Defizite in diesem Bereich so groß waren, hat der Finanzminister in den vergangenen Jahren Mit diesem Modell der „Festung Europa" gegen natürlich die Gunst der Stunde genutzt und den die Flüchtlinge wird Kanther zwar zum indirekten Haushalt plafondiert. Da nützt das Drumherumreden Büttel der Unrechtsregime, er hat sich damit aber al- überhaupt nichts; ich denke, das muß man in dieser ler rechtlichen und politischen Probleme der Ab- Offenheit auch ansprechen. schiebungen entledigt. Der Beamte des Bundes- grenzschutzes und sein rumänischer Kollege - quasi Seit 1992 hat der Haushaltsausschuß den Innenmi- auf Außenposten - werden zu Sachwaltern einer de nister aufgefordert, eine Gesamtkonzeption vorzule- facto abgeschafften bundesdeutschen Asylpolitik. gen. Frau Kollegin Titze, diese Gesamtkonzeption liegt vor. Der Innenminister hat die Koalitionsfraktio- Unter diesem Gesichtspunkt erfahren das eben in nen und den Ausschuß - die Ausschußvorlage ist im Kraft getretene Schengener Abkommen und die po- übrigen da - darüber auch informiert. Wir haben wäh- lizeiliche Zusammenarbeit in Europa ihre Bedeu- rend der Ausschußberatungen und in der Berichter- tung. statterrunde schon über die Konzeption geredet. Die absolute Sicherung dieser hochtechnisierten Daß sie im Innenausschuß und im Haushaltsaus- Außengrenze mit Wärmebild- und Nachtsichtgerä- schuß noch nicht abschließend beraten worden ist, ten, Computerterminals und Patrouillenbooten wird das, glaube ich, ist im Augenblick nicht zu kritisie- zur zentralen Aufgabe, desgleichen die finanzielle ren. Aber da wir in den kommenden Monaten keine und technische Polizeihilfe für die osteuropäischen Haushaltsberatungen haben, bleibt uns eine Menge Nachbarstaaten, aber auch der Ausbau von Sicher- Zeit, das nachträglich zu erledigen. heitsanlagen auf den Flughäfen und Seehäfen, die zu Außengrenzen erklärt werden, sowie der Auf- - Ich bedanke mich vor allem bei den Mitarbeiterin- und Ausbau des Schengener Informationssystems. nen und Mitarbeitern des Innenministeriums, hier Hierhin fließen die Summen aus dem Haushalt des vor allen Dingen bei denen des Haushaltsreferats. Innenministeriums in Höhe von zig Millionen. Die Mitarbeiter Ihres Hauses, Herr Innenminister, ha- ben in diesem Jahr mit zwei Haushalten Beachtliches Ich will hier nur anmerken: Es ist bezeichnend für zu leisten. Nur Haushälter wissen, was das heißt. Wir den Bundeshaushalt, daß im gleichen Atemzug leiden alle gemeinsam. durch die Novellierung des Asylbewerberleistungs- Ich bedanke mich. gesetzes den Flüchtlingen noch mehr Sozialleistun- gen zusammengestrichen werden sollen. Die Bun- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) desregierung unterstreicht damit ein weiteres Mal, 2144 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995

Ulla Jelpke daß sie gar nicht verbergen will, daß sie Menschen sten beispielsweise in den Vertriebenenverbänden wegen ihrer Hautfarbe und Herkunft benachteiligen an den Tag legt, sondern sie verdeutlichen die offene will. Sie übererfüllt damit die Forderungen der rech- Komplizenschaft der Bundesregierung. Fast 700 000 ten „Republikaner". DM hat die Bundesregierung der Landsmannschaft Ostpreußen 1994 zukommen lassen. (Beifall bei Abgeordneten der PDS) (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Sehr gut! Hochgezüchtet wird aber auch, wie es in diesem Bravo!) Haushalt zum Ausdruck kommt, ein gigantischer Po- lizeiapparat in und für Kerneuropa. Während die - Ja, hören Sie einmal, Herr Marschewski: Dies, ob- Grenzen innerhalb der Schengen-Staaten scheinbar wohl in deren Zentralorgan, dem „Ostpreußenblatt", fallen, setzt auch der grenzenlose große staatliche die Leugnung des Holocaust betrieben wird, obwohl Datentransfer ein. Mit aufwendiger Computertech- dort nach dem Anschlag auf die Synagoge in Lübeck nologie werden die Bürgerinnen und Bürger von den Schönhuber nach seinen Schmähungen gegen den Sicherheitsbehörden umfassend ausgeleuchtet und Vorsitzenden des Zentralrats der Juden offen vertei- erfaßt. In Spanien kann die dortige Polizei Auskunft digt wird und obwohl die Zeitung von Rechtsextremi- über alle möglichen Bürgerinnen und Bürger einho- sten durchsetzt ist. Der Bundesregierung ist dies len, deren Namen auf irgendeinem Wege in den egal. Sie nimmt lieber heftige Kritik entgegen, als Computer eingegeben worden sind, und sei es, weil auch nur ernsthaft die Sachverhalte prüfen zu wol- sie als Zeugen in Hamm ausgesagt haben. len, geschweige denn Konsequenzen zu ziehen. Es geht hier nicht um die Möglichkeit des even- Die Ausdehnung des Einflusses der „Neuen Rech- tuellen Mißbrauchs dieser staatlichen Machtfülle, die ten" ist eine Entwicklung, die viele Menschen zu tie- einzelne Beamte wie die rassistisch verhetzten Ham fer Sorge treibt. Der Kollege Pflüger von der CDU burger Polizisten oder Killerkommandos in der spani- beispielsweise spricht in diesem Zusammenhang so- schen Polizei haben. Nein, der normale Gebrauch gar davon, daß die Republik „driftet". Der den Libe- dieser Technologie, die hier stattfindende Machtzu- ralen nahestehende Politikprofessor Gessenharter sammenballung, ist das eigentliche Problem; denn spricht von einem möglichen „Kippen" der Republik. dieses Informationssystem basiert ja auf den Sicher- Beide meinen damit, daß es die „Neue Rechte" ge- heitsvorstellungen, die die Strategen der inneren Si- schafft hat, bestimmte Politikfelder, vor allem die cherheit im Kampf gegen die sogenannte organi- Asyl- und Flüchtlingspolitik, gravierend zu beein- sierte Kriminalität entwickelt haben. Kleine und flussen. große Lauschangriffe, Kontrollen, die nun hinter und nicht an den Grenzen stattfinden, sollen das dem Von diesen Entwicklungen hat das Bundesamt für Bürger und der Bürgerin eingeredete Unsicherheits- Verfassungsschutz nichts mitbekommen. Auf die Ge- gefühl aufheben. fahren durch die „Neue Rechte" angesprochen, ant- wortete die Bundesregierung 1994 auf eine Anfrage Meine Damen und Herren, 50 Jahre nach der Be- von mir: freiung vom Faschismus müssen wir erleben, daß der Zum Zwecke der Aufklärung und Öffentlich- Neofaschismus für dieses Land immer noch oder schon wieder eine große Bedrohung darstellt. Die keitsarbeit fanden und finden Ergebnisse Ein- Gewalt, die von ihm ausgeht, bewegt sich immer gang in Verfassungsschutzberichte, z. B. des Bun- noch auf einem hohen Niveau. Das große Geflecht des 1971. der neofaschistischen Gruppierungen ist weiterhin so Ich wiederhole: 1971. 24 Jahre lang wurde also vom gut wie unangetastet. Ich behaupte hier: Heute sind Bundesamt die „Neue Rechte" entweder gewollt wir so weit wie nie zuvor von der Realisierung des oder ungewollt übersehen. Beides kann aber nur zu Potsdamer Abkommens entfernt, nach dem der deut- dem Schluß führen: Der Etatansatz für das Bundes- sche Militarismus und Nazismus „ausgerottet" wer- amt muß gestrichen werden. den sollte. (Beifall bei der PDS) Die Verbote der neofaschistischen Kleinstgruppen in der letzten Zeit unterstreichen eher: Die wichtigen Zum Schluß noch zwei Anmerkungen. Erstens. Die rechtsextremistischen Organisationen und Einrich- PDS hat beantragt, die Zuschüsse für repräsentative tungen werden nicht verfolgt. Im Gegenteil, sie kön- kulturelle Einrichtungen in Berlin in Höhe von nen sich ausbreiten. Sie können ihren Einfluß aus- 30 Millionen DM auf 150,5 Millionen DM anzuheben dehnen und gehen Bündnisse mit dem Konservativis- und den Sperrvermerk zu streichen. Das ist nötig, um mus ein. In Denkfabriken wie dem Studienzentrum der Zerstörung der kulturellen Infrastruktur in Berlin Weikersheim, in Zeitungen wie der „Jungen Frei- entgegenzuwirken. Die Kollegen von den GRÜNEN - heit" wächst zusammen, was offenbar zusammenge- können also sehen: Wir haben gelernt. Sie können hört. Rechtsextreme Ideologen findet man bei der unserem Antrag heute zustimmen. Lektüre dieser Zeitung neben dem sächsischen Ju- (Beifall bei der PDS) stizminister Heitmann und dem Parlamentarischen Staatssekretär Lintner. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Frau Jelpke, bitte Wir haben für diese Haushaltsberatungen eine kommen Sie zum Ende. Reihe von Anträgen gerade zu diesem Bereich vorge- legt. Sie unterstreichen nicht nur die Zurückhaltung, die die Bundesregierung gegenüber Rechtsextremi Ulla Jelpke (PDS): Ich komme zum letzten Satz. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995 2145

Ulla Jelpke Zweitens. Wir haben auch in diesem Jahr wieder verwaltung das gesetzliche Handwerkszeug nicht die Bereitstellung von Mitteln für die parteinahe Stif- hinreicht, muß es zunächst geschaffen werden, ohne tung der PDS beantragt. Im Jahr 1993 wurden für die daß damit das Problem gelöst wäre. So herum ist die Stiftungen der Parteien in diesem Haus 645 Mil- Reihenfolge richtig. lionen DM ausgegeben. Die PDS wird aus dieser För- derung mit fadenscheinigen Begründungen heraus- Wenn wir über das Handwerkszeug sprechen, ist gehalten. ein wichtiger Punkt die Verbesserung der Möglich- keiten der Überwachung moderner Telekommuni- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) kationssysteme, die wir entsprechend dem techni- schen Fortschritt brauchen, um bei der Bekämpfung Wir fordern, daß auf jeden Fall auch die PDS Gelder der Kriminalität nicht Nischen entstehen zu lassen, zur Unterstützung einer Stiftung bekommt. die Verbrecher zu kontrollfreier Kommunikation mit- einander befähigen. Danke. (Beifall bei der PDS) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ordneten der F.D.P.)

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort hat der Ich merke an: Dies werden wir schnell umsetzen. Bundesminister des Innern, Herr Kanther. Ich merke weiter an: Dies steht für mich persönlich, auch wenn es in der Koalition noch streitig ist, in ei- nem Zusammenhang zum Abhören von Gangster- Manfred Kanther, Bundesminister des Innern: Frau wohnungen; denn wenn es auf Grund des techni- Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine schen Fortschritts immer schwieriger werden wird, Herren! Die innere Sicherheit zählt zu den wichtig- das - um dieses Bild zu gebrauchen - gesprochene sten Voraussetzungen für ein freiheitliches und fried- Wort im Fluge zu erwischen, muß man es den Tätern liches Zusammenleben in unserer Gesellschaft und von den Lippen ablesen. Das ist eine unverzichtbare damit zu den wichtigsten Fragen der Politik, die wir Entwicklung. Wir werden sehen, wie wir im Rahmen zu bewältigen haben. Bei der Bekämpfung der Krimi- der Novellierung des Gesetzes zur Bekämpfung der nalität, insbesondere ihrer bedrohlichsten Variante, organisierten Kriminalität auch mit diesem Vorgang der organisierten Kriminalität, besteht innerstaatlich, fertig werden. im Bereich der europäischen Kooperation und bei der internationalen polizeilichen Zusammenarbeit über (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ Europa hinaus bei sich schnell und ständig verän- DIE GRÜNEN]: Das gibt aber schöne Ab- dernden Gefährdungslagen immer neuer Hand- hörprotokolle, wenn man nur noch einen lungsbedarf. Die Koalition stellt sich dieser Heraus- hört und die anderen hinzuerfinden muß!) forderung mit einem ganzen Bündel von Maßnah- men, das an die erfolgreichen Entscheidungen der Der Bereich der inneren Sicherheit ist ein Parade- vergangenen Legislaturperiode anknüpft. beispiel für die Verantwortung der Länder im Bun- desstaat. Ihre Mitverantwortung ist gerade auf dem (Beifall bei der CDU/CSU) Gebiet des Polizeirechts, des Verfassungsschutzes und der Terrorismusbekämpfung enorm: Sie sind für Den Entwurf eines Gesetzes über das Bundeskri- Polizei und Justiz zuständig. minalamt hat die Bundesregierung als eine der er- sten Maßnahmen der neuen Legislaturperiode auf Ich appelliere deshalb von dieser Stelle aus an den Weg gebracht. Es muß so schnell wie möglich diese Mitverantwortung. Bund und Länder sind Si- verabschiedet werden. Nach der Koalitionsvereinba- cherheitspartner, und keiner kann seine Aufgaben rung sind weitere Maßnahmen zur Verbrechensbe- ohne den anderen bewältigen. Hier ist Kooperation kämpfung sofort anzugehen und das Gesetz zur Be- gefordert. kämpfung der organisierten Kriminalität sowie das Geldwäschegesetz auf der Grundlage von Erfah- Föderalismus bedeutet auch, daß sich Bund und rungsberichten und auch ersten praktischen Erfah- Länder nicht als Konkurrenten in einem nur einheit- rungen von Polizei und Justiz bis Anfang 1996 zu be- lich zu beackernden Feld verstehen, daß sie die Kom- werten und gegebenenfalls zu novellieren. Die Op- petenz des anderen nicht als Hemmschuh der eige- position ist selbstverständlich eingeladen, hier, im nen Aufgabenerfüllung betrachten, sondern im Inter- Bundesrat und in den Ländern, wo sie wesentliche esse der gemeinsamen Sache konstruktiv handeln. Mitverantwortung für die innere Sicherheit trägt, Er bedeutet auch, sich veränderten Sicherheitslagen mitzuwirken. ständig anzupassen, parteipolitische Ladenhüter wegzustellen und den staatlichen Sicherheitsauftrag (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) streng rational zu erfüllen.

Im ganzen gesehen gibt es einen erheblichen Be- Deshalb freue ich mich darüber, daß sich andeutet, darf bei der Ergänzung unseres Handwerkszeugs zur daß die Kriminalitätsrate im letzten Jahr geringfügig Verbrechensbekämpfung. Dabei ist der gelegentlich zurückgegangen ist. Nur: Daraus, verehrte Kollegen zu hörende Vorhalt, es gehe mir zuerst um Gesetze, von der SPD, auch nur den Ansatz eines Schlag- und das sei es dann, völlig falsch. Es geht immer stocks zum gegenseitigen Traktieren zu gewinnen, darum, vor allem in der Praxis mit der Kriminalität ist doch völlig abwegig. Wen wollen wir denn damit fertig zu werden. Aber wo im Bereich der Eingriffs- beruhigen, wenn wir - betreffend das Handwerks- 2146 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995

Bundesminister Manfred Kanther zeug und die Durchführung von Sicherheitspolitik - sionen beimessen. Denn es ist ein Freizügigkeitsab- sagen, daß die Zahl der Verbrechen und Straftaten kommen, und es ist ein Sicherheitsabkommen. Es vielleicht von 6,7 auf 6,5 Millionen im Jahr gesunken war auch nie etwas anderes gewollt. Der Schutz der ist? gemeinsamen Außengrenzen ist unverzichtbar und wird von uns äußerst ernst genommen. Rund 10 000 Das ist doch kein Anlaß zur Beruhigung, sondern Grenzschutzkräfte sind an den Übergängen und an lediglich der Ansatz einer erfreulichen Entwicklung, der grünen Grenze im Einsatz. Unsere Partner ver- die wir insbesondere auch auf die richtige Sicher- langen das von uns. heitspolitik dieser Bundesregierung zurückführen. Wir müssen auch sehen, daß der Schengen-Ge- (Beifall bei der CDU/CSU) danke, der 1985 geboren worden ist und der jetzt in Ich komme noch einmal darauf zu sprechen, daß die Praxis umgesetzt wird, mit einer weltgeschichtli- dabei Bund und Länder zusammengehören und daß chen Entwicklung in Europa, nämlich mit dem Zu- die Länder untereinander darauf achten müssen, daß sammenbruch des östlichen Machtsystems und der die Elemente der Sicherheitspolitik nicht auseinan- Herstellung von Freizügigkeit - legaler wie illegaler - , derdriften. Ich bin voller gutem Willen, aber ich muß zusammengetroffen ist. Wir müssen daher den darauf hinweisen, daß sich unsere Welt auf diesem Schengen-Gedanken unter diesen Sicherheitsaspek- Sektor unentwegt ändert - leider, und zwar nicht ten in der Praxis richtig umsetzen, worüber im west- zum Besseren -, daß neue Deliktsformen auf diesen lichen Europa Einvernehmen besteht. Markt kommen, daß die internationalen Zusammen- Dies stellt übrigens wiederum neue Anforderun- hänge stärker werden, daß die Kriminalitätsbekämp- gen an die Sicherheitspolitik der Länder; denn die fung nicht mehr zuvörderst in den eigenen Grenzen Eingriffsmöglichkeiten des Bundes und seiner Poli- gedacht werden kann, wenn es um die organisierte zei, der Grenzpolizei, gehen zurück, und die Länder Kriminalität geht. Darauf muß man sich auch in einer müssen den Sicherheitsschleier aus ihrer Kraft stel- föderalen Ordnung neu einstellen. Das ist das Peti- len. Ob sie das wie Bayern mit einem neuen Polizei- tum. recht tun oder im Rahmen ihres geltenden Rechts, ist Deshalb werden wir z. B beim Bundeskriminal- nicht Gegenstand des Urteils des Bundesinnenmini- amtsgesetz sehen, wieviel Bereitschaft auch bei der sters, aber notwendig ist der Sicherheitsschleier. SPD hier im Hause besteht, diesen modernen Ansatz Schlepper werden noch stärker versuchen, Aus- zu verfolgen. länder über die Binnengrenzen nach Deutschland (Otto Schily [SPD]: Und bei der F.D.P.!) einzuschleusen. Deshalb sind Schwerpunktkontrol- len an unseren Grenzen in Ausnahmefällen auch in - Herr Kollege Schily, es ist eben ein Zeichen in die Zukunft notwendig. Deshalb müssen wir auch die falsche Richtung, wenn jetzt im Bundesrat - wir wer- auswärtigen Beziehungen in den Dienst dieser Poli- den sehen, wie das übermorgen im Plenum des Bun- tik stellen. Wenn die jüngste Schlepperroute über Ita- desrats gehen wird - angesetzt wird, die wenigen lien und Südeuropa ins Elsaß und nach Süddeutsch- vorhandenen Möglichkeiten des Bundes über das land führt, bevorzugt deshalb, weil Italien als ein- Bundeskriminalamtsgesetz, die seit ungezählten Jah- ziges europäisches Land von Serbien-Montenegro, ren in diesem Gesetz stehen und von denen von allen also von Rest-Jugoslawien, kein Visum verlangt, Regierungen der Bundesrepublik sehr maßvoll Ge- dann ist doch offensichtlich, daß wir von unseren ita- brauch gemacht worden ist, abzuschneiden. Das lienischen Freunden hier eine Änderung erbitten zeigt, daß die veränderte Sicherheitslage gelegent- müssen. Dies nur als Beispiel für das Zusammenspiel lich unter einer allzu provinziellen Betrachtungs- in der Politik. weise verlorengeht. Ich bedanke mich für die von Herrn Kollegen Uel- Neben diese nationalen Maßnahmen tritt die Zu- hoff schon deutlich gemachte großzügige Behand- sammenarbeit in Europa, z. B. bei Europol, die wir lung des Bundesgrenzschutzes, einem wichtigen und im letzten Jahr weit vorangebracht haben. Sie ist si- in vieler Weise neu zu bewertenden Sicherheitsin- cher noch nicht voll ausgebildet, aber das liegt auch strument der deutschen Politik. Es liegt auf der nicht allein an uns. Die deutsche Politik ist hier bei Hand, daß dort noch mannigfaltige Umstellungen weitem großzügiger auf eine Zusammenarbeit mit notwendig sind. Die Grenze, die diese Einrichtung den Nachbarn, auch auf die Abgabe nationaler Sou- noch vor fünf Jahren bevorzugt zu bewachen hatte, veränitätsrechte, die für manchen unserer Nachbarn gibt es heute glücklicherweise nicht mehr: die De- noch eine so große Rolle spielen, eingestellt. markationslinie zwischen Ost und West. Natürlich Uns geht es zuallererst darum, daß die Kriminalität gibt es Eingewöhnungsschwierigkeiten bei der Über- bekämpft wird. Ob ein über die Grenze geflohener nahme so vieler neuer Aufgaben in kurzer Zeit. - Gangster in Straßburg oder in Kehl und von welcher Die Koalition macht selbstverständlich ihre Schul- Polizei festgenommen wird, ist mir verhältnismäßig arbeiten im Bereich Katastrophen - und Zivilschutz. egal, Hauptsache wir kriegen ihn. Deshalb sind wir Das Konzept liegt vor. Ich führe das jetzt im einzel- in diesen Fragen großzügiger. nen nicht näher aus. Es war mühsam, jetzt ist es aber (Beifall bei der CDU/CSU) gut. Es erfüllt die Aufgaben eines modernen Zivil- und Katastrophenschutzes in Zusammenarbeit mit Vor ein paar Tagen ist das Schengener Durchfüh- den Ländern, die sich bis jetzt bewährt hat. Außer- rungsabkommen in Kraft getreten. Es ist ganz wich- dem zeigt es unseren ernsthaften Willen, dort zu spa- tig, daß wir ihm auch in Zukunft seine beiden Dimen ren, wo wir dies können. Hunderte von Millionen Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995 2147

Bundesminister Manfred Kanther Mark werden eingespart, weil sich die Sicherheits- Manfred Kanther, Bundesminister des Innern: lage unter den Aspekten einer kriegsmäßigen Ver- Es zeigt sich wieder einmal, daß es selbst dann wüstung des Bundesgebietes Gott sei Dank wesent- keinen Sinn hat, mit Vertretern der PDS zu diskutie- lich verbessert hat. ren, wenn man aus Versehen einen Zwischenruf zu- läßt. Zu den wichtigen Projekten der nächsten Zeit ge- hört - worüber hier schon gesprochen worden ist - (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - die Novellierung des Staatsangehörigkeitsrechtes. Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ Diese schreitet voran. Wir werden das neue Rechtsin- DIE GRÜNEN]: Zwischenfrage! Zwischen- stitut der Kinderstaatszugehörigkeit zu einem taugli- rufe lassen Sie nicht zu! Eine schreckliche chen Instrument machen. Vorstellung: Anmeldung des Zwischenrufs beim Minister!) (Uta Titze-Stecher [SPD]: Es ist untauglich!) Für die Sicherheitspolitik, die ich Ihnen darstelle, Zu den wichtigen Projekten gehört auch die Novel- ist von Bedeutung, daß wir nicht allein den Staat als lierung des öffentlichen Dienstrechtes in breit ange- Handelnden be trachten. Die Gesellschaft hat wich- legter Form. Ich weise aber auch darauf hin, daß jede tige Aufgaben auf diesem Felde, ebenso der ein- Debatte zu kurz greift, die das öffentliche Dienst- zelne. Die Prävention ist das, was immer als erstes recht - vorzugsweise oder allein - als Beamtenrecht gefragt ist, ehe man sich der Polizei und den Gerich- und damit als Sache dieses Hauses versteht. Die Pro- ten zuwendet. Die gesellschaftlichen Phänomene bleme des öffentlichen Dienstrechtes ergeben sich im und die Erziehungsphänomene müssen uns beschäf- Tarifrecht ganz genauso wie dort, wo eine Regelung tigen. Wachsende Gewaltbereitschaft, zunehmende durch Gesetz erfolgt. Verrohung und die Tendenz zu rücksichtslosem Ver- (Ina Albowitz (F.D.P.): So ist es!) halten im Alltag sind Probleme, die nicht zuvörderst vom Staat bewältigt werden können, sondern bei de- Deshalb werden wir auch - diese Aufforderung nen auch der einzelne gefragt ist, wenn es darum kam eben auch von Frau Kollegin Albowitz - in den geht, wie er seine Kräfte in der Gesellschaft einsetzt. beginnenden und den weiteren Tarifverhandlungen Die Defizite, die sich ergeben, wenn etwas in der Ge- die Fragen der Modernisierung des Tarifrechts zu ei- sellschaft, in der Familie oder vom einzelnen gering ner wesentlichen Problematik machen. geachtet wird, können kaum oder nur sehr begrenzt und mit hohem Aufwand vom Staat ausgeglichen werden. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Minister, ge- statten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Der als Ergebnis der Haushaltsberatungen jetzt Dr. Wolf? vorliegende Entwurf des Bundeshaushalts 1995 bie- tet eine gute Grundlage für alle Bereiche der Innen- politik in diesem Jahr. Er bietet selbstverständlich Manfred Kanther, Bundesminister des Innern: Ich auch eine gute Grundlage im Bereich der Kulturpoli- habe nicht verstanden, aber bitte sehr. tik. Ich möchte noch klarstellen, was die Berliner Einrichtungen angeht. Von 690 Millionen DM Bundesmitteln werden 332 Millionen DM in Berlin Dr. Winfried Wolf (PDS): Zunächst: Ich stehe jetzt und für die dortigen Institutionen eingesetzt. Das seit vier Minuten und warte, daß ich meine Zwi- heißt nicht, daß wir dort schon am Ende aller Überle- schenfrage stellen kann. gungen wären. Noch ist die Bundesregierung nicht dort. (Zurufe von der CDU/CSU)

- Ich habe auf die Uhr gesehen. Ich möchte jetzt die (Ina Albowitz [F.D.P.]: Das Parlament auch Frage stellen, wenn Sie auf den niederen Rängen noch nicht!) bitte zur Ruhe kommen. Manches ist noch in der Entwicklung. Der Auftrag, (Unruhe bei der CDU/CSU und der F.D.P. - den sich die Bundesregierung hier selbst stellt, die Ina Albowitz [F.D.P]: Was ist das denn für hauptstädtische Kulturförderung zu ihrem Anliegen ein Ton?) zu machen, wird auch in Zukunft einen besonders herausragenden Platz in diesem Etat einnehmen. Die Frage lautet: Herr Kollege Kanther, haben Sie bei Ihrer Diskussion über moderne Formen der Kri- Ich danke allen, die an diesem Haushalt mitge- minalität auch die Schlepperroute untersucht, die wirkt haben, insbesondere auch für eine großzügige von Deutschland nach Österreich führt und auf der Bemessung der Aufwendungen, die für die innere Si- sich Herr Flick dem deutschen Fiskus entzogen hat, cherheit notwendig sind. Wenn ich daran denke, wie und haben Sie die Schlepperroute untersucht, die wir den Bundesgrenzschutz von seinen Einsatzmög- Herr Schneider gewählt hat, der 5 Milliarden DM in lichkeiten und der Attraktivität des Dienstes her aus- den Sand gesetzt hat, der kleine Firmen kaputtgehen gestattet haben, und ein guter Grund für die An- läßt und der mit seinen Rechtsanwälten in Deutsch- nahme besteht, daß das durch ein längeres Pro- land ganz offen kommunizieren kann, was dennoch gramm fortgesetzt wird, dann komme ich zu dem Er- nicht als irgendeine Form moderner Kriminalität gebnis, daß der Bund bei seiner Polizei seine ernsthaft von Ihnen verfolgt wird? „Schulaufgaben" gut gemacht hat. 2148 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995

Bundesminister Manfred Kanther Ich danke Ihnen. Wenn jedoch die Entfremdung zwischen Gese ll -schaft und Staat, die bereits gefährliche Ausmaße an- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - genommen hat, nicht weiter fortschreiten soll, sollten Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ wir gemeinsam alle Anstrengungen darauf verwen- DIE GRÜNEN]: Ich war immer der Mei den, die Modernisierung des Staates voranzubrin- nung, Schulaufgaben sind dazu da, daß sie gen. Leitmotiv in diesem Zusammenhang muß sein, nicht gemacht werden!) daß sich der Staat als Dienstleistungsunternehmen gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern versteht und nicht als Herrscher gegenüber den Untertanen. Präsident Dr. Rita Süssmuth: Als nächster spricht der Kollege Otto Schily. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Ba nane!) und der PDS) An intelligenten Reformmodellen und Reform- ideen fehlt es gewiß nicht. - Ich erinnere nur an die (SPD): Frau Präsidentin! Meine Damen Otto Schily Vorschläge aus den Kreisen der Gewerkschaft ÖTV. und Herren Kollegen! Die Innen- und Rechtspolitik - Wir müssen sie nur in die Tat umsetzen. Wir ver- der Bundesregierung leidet an Zwiespältigkeit, Un- kennen nicht, daß es für ein solch umfassendes Mo- entschlossenheit, zunehmender geistiger Verarmung dernisierungsvorhaben eines breiten politischen und Einfaltslosigkeit. Konsenses bedarf. Ich will durchaus auf Ihre Einla- (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Ba dung, Herr Kollege Scholz, zu einem Gespräch auf nane!) diesem Gebiet zurückkommen. Ich nehme dieses Ge- sprächsangebot ausdrücklich an. - Auch Sie, Herr Kollege Schäuble, leiden leider an Einfallslosigkeit, weil Ihnen seit einigen Monaten gar (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ kein anderer Zwischenruf einfällt. DIE GRÜNEN]: Das ist verdächtig! - Heiter- keit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und (Beifall bei der SPD - Joseph Fischer bei der SPD) [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er hätte mal „Ananas" sagen sollen!) „Stabilität durch Integration war das Erfolgsge- heimnis der alten Bundesrepublik", schrieb Warn- Herr Kanther flüchtet sich mit Vorliebe in forsche feed Dettling am 30. September 1994 in der Wochen- Sprüche und macht das Ganze dadurch nur noch zeitung „Die Zeit". Mittlerweile scheint diese Er- schlimmer. So kommt nirgends etwas Rechtes zu- kenntnis in Vergessenheit geraten zu sein. Innen- stande, nicht zuletzt auf Grund der unüberbrückba- und Rechtspolitik ist immer und in erster Linie eine ren Meinungsgegensätze zwischen der Bundesjustiz- Integrationsaufgabe, meine Damen und Herren Kol- ministerin und dem Bundesinnenminister. Herr Kan- legen. Herr Kanther ist dieser Aufgabe leider in kei- ther sagt hü, Frau Leutheusser-Schnarrenberger sagt ner Weise gewachsen. hott. So bleibt der Karren stecken. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Zuruf von der CDU/CSU): Das bedauern DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Sie?) PDS - Widerspruch bei der CDU/CSU) Weil sich die Koalitionäre offenbar hoffnungslos ar- Wer wie Herr Kanther Zuwanderung nur und aus- gumentativ verkeilt haben, konnte das Bundesjustiz- schließlich als Bedrohung und Unheil für unser Volk ministerium weder einen Gesetzentwurf zum § 218 wahrnimmt, statt die Notwendigkeit und auch die noch zur Vergewaltigung in der Ehe einbringen. Chancen der Zuwanderung einzusehen und zu be- greifen, hat ohnehin jeden Realitätsbezug verloren. (Ina Albowitz [F.D.P.]: Wieso zu § 218?) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Herr Kanther versteift sich auf die unsinnige For- DIE GRÜNEN) derung nach einer Verschärfung des Jugendstraf- rechts, während die von der SPD seit langem gefor- Herr Kanther hält noch immer krampfhaft an der Illu- derte Reform des Jugendstrafvollzugs auf sich war- sion fest, daß Deutschland kein Einwanderungsland ten läßt. Die Bundesregierung erweist sich als unfä- sei. Diese Behauptung wird schon durch ein kleines, hig zur Reform des Staatsangehörigkeitsrechts und unscheinbares Schildchen am Flughafen München zur Integration von Ausländern - ein politisches De- widerlegt, das den Weg zu folgendem Büro weist: bakel ohne Ende, meine Damen und Herren Kolle- Deutsche Grenzpolizei, Immigration. - gen. Was heißt es denn, daß inzwischen sieben Millio- (Beifall bei der SPD und beim BÜNDNIS 90/ nen Ausländer, die in ihrer Mehrzahl de facto längst DIE GRÜNEN) Inländer geworden sind, unter uns leben? Ist das keine Einwanderung? Haben Sie nicht begriffen, daß Bisher ist auch nicht, außer allerlei unverbindli- wir auf Grund des demographischen Wandels diese chen Ankündigungen, erkennbar, daß die Bundesre- Einwanderung nicht nur hinnehmen können, son- gierung die Kraft zu einer umfassenden Restrukturie- dern sogar dringend brauchen? Begreifen Sie noch rung staatlichen Handelns und zu einer Modernisie- immer nicht, daß es dem inneren Frieden dient, ja rung staatlicher Institutionen aufbringen könnte. daß es die Voraussetzung inneren Friedens ist, wenn Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995 2149

Otto Schily wir den hier auf Dauer lebenden Ausländern die Ein- Unsere türkischen Mitbürger haben Anspruch auf bürgerung erleichtern, ihnen stärkere Mitwirkungs- wirksamen Schutz ihrer körperlichen Unversehrtheit möglichkeiten verschaffen? Das ist die Vorausset- und von Hab und Gut. Die freundschaftlichen Ver- zung inneren Friedens. bindungen zwischen Türken und Deutschen dürfen auf keinen Fall Schaden nehmen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Gewiß - darin sind wir uns einig -: Eine unbe- GRÜNEN und der F.D.P.) grenzte Zuwanderung kann es nicht geben. Deshalb ist der Staat immer wieder vor die schwierige Auf- Unverkennbar, meine Damen und Herren, ist auch gabe gestellt, ob, unter welchen Voraussetzungen die Hilflosigkeit der Bundesregierung auf dem Ge- und für welche Zeitdauer Flüchtlinge aufgenommen biet der Verbrechensbekämpfung. Ihre schubartig werden können. Die aktuelle Diskussion um die Auf- wiederkehrende Gesetzgebungshektik kann nicht hebung des Abschiebestopps zugunsten von Kurden darüber hinwegtäuschen, daß sie kein schlüssiges ist ein Beispiel dafür. Einer sachgerechten Auseinan- Konzept zur Kriminalitätsbekämpfung hat. Die Bun- dersetzung mit diesen schwierigen Fragen verwei- desregierung setzt ausschließlich auf Repression statt gern wir uns nicht. Eine sorgfältige Auswertung des auf Prävention. Bei ihrem gesetzgeberischen Aktio- Ergebnisses der Anhörung des Innenausschusses nismus schert sie sich wenig um rechtsstaatliche muß stattfinden. Prinzipien, wenn beispielsweise die Befugnisse des BND bei der innerstaatlichen Strafverfolgung erwei- Eines geht aber nicht: die seltsame Arbeitsteilung, tert werden sollen. Dabei wird die notwendige, die wir bei der Bundesregierung beobachten: Herr strikte Abgrenzung der Strafverfolgung von geheim- Kinkel beschwört die Freundschaft mit der Türkei, dienstlicher Tätigkeit verwischt. Da, wo andererseits vertraut auf die Zusicherungen der türkischen Regie- gesetzgeberische Verschärfungen dringend erforder- rung und bezichtigt die Kurden pauschal der An- lich wären, sträubt sie sich aber, z. B. bei der Novel- schläge auf türkische Einrichtungen. Frau Leutheus- lierung des Geldwäschegesetzes. ser-Schnarrenberger erklärt: Nur wer schweigt, sei in der Türkei vor Verfolgung sicher. Herr Blüm entrüstet sich, die Kurden würden in der Türkei schlimmer als Am erfolgversprechendsten ist Kriminalitätsbe- Tiere behandelt. Herr Kanther macht sich ungerührt kämpfung dort, wie es Winfried Hassemer in einem zum Vorkämpfer von möglichst eiligen Abschiebun- kürzlich in der „Frankfurter Rundschau" veröffent- gen. - Das geht nicht zusammen, meine Damen und lichten Aufsatz präzise beschrieben hat, wo sie nicht Herren. in erster Linie auf normative, d. h. gesetzliche, son- dern auf technische und organisatorische sowie auf (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE soziale Prävention setzt. Wegfahrsperren bei Kraft- GRÜNEN und der PDS - Dr. Hermann Otto fahrzeugen sind der wirksamste Schutz vor Auto- Solms [F.D.P.]: Was macht Herr Schnoor? - diebstählen, Kontroll-, Aufklärungs- und Melde- Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Kennen Sie pflichten die beste Prävention gegen den strafbaren Herrn Schnoor?) Vertrieb von aidsverseuchten Blutkonserven, strenge Kontrollvorschriften die beste Prävention auch zur Und so ganz nebenbei verwirren Sie die Debatte zu- Verhinderung der Geldwäsche. Organisatorische sätzlich mit der Behauptung, der Abschiebestopp Prävention ist die beste Bekämpfung der Korruption. habe auch für Straftäter gegolten. Das ist Irreführung Ein Beispiel dafür ist die mehrfach erwähnte Ab- der Öffentlichkeit, meine Damen und Herren. schaffung der steuerlichen Begünstigung von (Ina Albowitz [F.D.P.]: Das ist doch nicht Schmiergeldzahlungen. Da, Herr Kollege Kanther, wahr!) sollten Sie nicht unbedingt nur auf die Familienerzie- hung und ähnliches setzen. Da ist in der Tat der Staat Angesichts der Eskalation der Kämpfe in den kur- gefordert. dischen Provinzen im Osten der Türkei ist besondere Sorgfalt bei der Prüfung von Abschiebungshinder- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE nissen vonnöten. Im Zweifel müssen wir in Deutsch- GRÜNEN und der PDS) land immer für die Menschenrechte eintreten. Das ist meine Überzeugung. Angesichts einer überregional und international (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE operierenden organisierten Kriminalitätsszene hat GRÜNEN und der PDS - Ina Albowitz die überregionale und internationale Zusammenar- [F.D.P.]: Nicht nur Ihre!) beit bei der Kriminalitätsbekämpfung erheblich an- Bedeutung gewonnen. Freilich: Den verbrecherischen, terroristischen Akti- vitäten der PKK ist mit Härte und Entschiedenheit entgegenzuwirken. Wer immer in Deutschland Gast- Die SPD hat dazu einen umfangreichen Maßnah- recht genießt, hat sich strikt an die hier geltenden menkatalog vorgelegt. Die Bundesregierung hat in Gesetze zu halten. Da gibt es für mich überhaupt kei- dieser Richtung kaum etwas zustande gebracht. Bei nen Zweifel. der internationalen Zusammenarbeit hapert es an al- len Ecken und Enden. Insofern hat es schon fast sym- (Beifall bei der SPD, sowie bei Abgeordne bolische Qualität, daß das sogenannte Schengener ten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/ Informationssystem, das Computerfahndungssystem DIE GRÜNEN) SIS, gestern für mehrere Stunden ausgefallen ist. 2150 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995

Otto Schily Das wichtigste Instrument zur Kriminalitätsbe- mich bei der Bundesregierung ausdrücklich dafür, kämpfung bleibt aber nach wie vor die soziale Prä- daß sie die Förderung von Ostdeutschland, die För- vention. Diese Einsicht bleibt der Koalition leider derung ostdeutscher Kultur weiterhin unterstützt. vollständig verschlossen. Dies ist eine gute Sache. Sie sollten sich daran ein Beispiel nehmen, Herr Kollege Schily; ich meine da- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE mit die ganze SPD. GRÜNEN und der PDS) (Beifall bei der CDU/CSU) Der Zusammenhang zwischen sozialer Verelendung, Obdachlosigkeit und geistiger Verödung einerseits In einem Punkt sind wir wiederum einer Meinung, und Zunahme von Kriminalität andererseits ist un- Herr Kollege Schily: Die Innenpolitik ist eine stän- übersehbar. Niemand sollte sich über seine Verant- dige Aufgabe, die Gewährleistung der inneren Si- wortlichkeiten täuschen. Wenn sich die Bundesregie- cherheit selbstverständlich. Sie haben von einem De- rung anschickt, die Sozialhilfeleistungen massiv zu bakel gesprochen, Herr Kollege Schily. Wissen Sie, kürzen, wird sie unweigerlich Kriminalität ernten. was für mich ein Debakel ist und was mich sehr be- Das ist nicht nur verantwortungslos, sondern auch drückt? Mich bedrückt sehr, Herr Kollege Schily, daß ökonomisch unsinnig; denn die Kriminalitätsbe- Sie von der Ausländer- und Asylpolitik, die wir bis kämpfung mit allen ihren Auswirkungen wird ein dato gemeinsam formuliert haben - ich denke an die Mehrfaches an Kosten verursachen gegenüber dem, gemeinsamen Asylverhandlungen -, immer mehr was vermeintlich an Kosten für Sozialhilfeleistungen Abstand nehmen. eingespart wird. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Immer neue Vorschläge zu Altfall- und Bleiberechts- GRÜNEN und der PDS) regelungen, generelle Abschiebestopps - das ist Prävention ist immer billiger als Repression. nicht die Politik, die weiterhin dazu führt, einen ver- nünftigen Asylrechtskompromiß in die Wirklichkeit Armut, Arbeitslosigkeit, Mangel an Ausbildungs- umzusetzen. plätzen, Wohnungsnot und nicht zuletzt kulturelle Verödung sind vor allem auch ein Nährboden für die Hierzu ein paar Worte: Erstens. Wir sind kein Ein- sich explosiv ausbreitende Jugendkriminalität. Wir wanderungsland, das vermehrte Zuwanderung an- werden den inneren Frieden nur wahren, wenn wir strebt. Ich meine, genau das Gegenteil ist der Fall. die soziale Situation von Jugendlichen nachhaltig Wir brauchen eine Begrenzung des illegalen Auslän- verbessern und ihnen mehr Freiräume für ihre Ent- derzuzugs. wicklung verschaffen. Zweitens - und jetzt hören Sie einmal zu, Herr Kol- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne lege Schily, und insbesondere Sie, Herr Kollege Fi- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN scher -: Deutschland ist ein ausländerfreundliches und der PDS) Land. Ich habe die Sorge, daß diese Ausländer- freundlichkeit beeinträchtigt werden kann, wenn wir Messen wir die Politik der Bundesregierung an die Grenze der Integrationsmöglichkeiten über- den drei klassischen Fragen Immanuel Kants: Was schreiten. Wir sollten versuchen, das nicht zu tun. können wir wissen? Was können wir tun? Was kön- nen wir hoffen? Die Antwort lautet dann: Erstens. Ein dritter wichtiger Punkt: Meine Verantwortung Wir wissen, daß die Bundesregierung nichts taugt. gilt in erster Linie den ausländischen Mitbürgern, die Zweitens. Die Bundesregierung muß so bald wie schon sehr lange in Deutschland wohnen. Unser Ziel möglich abgelöst werden. ist es, dafür zu sorgen, daß sie integriert werden in die Gesellschaft, in den Staat und in das Arbeitsle- (Ina Albowitz [F.D.P.]: Das hättet ihr gern!) ben. Deswegen ist es nicht gut, meine Damen und Herren, wenn Sie immer wieder versuchen, das Asyl- Drittens. Wir hoffen, daß sich das überall herum- recht zu unterlaufen. Herr Kollege Schily, meine Da- spricht. men und Herren der SPD, wenn Sie eine neue Altfall- Vielen Dank. regelung wollen, dann benachteiligen Sie ausdrück- lich diejenigen, die sich bisher rechtstreu verhalten (Anhaltender Beifall bei der SPD - Beifall haben, und begünstigen genau diejenigen, die das bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ nicht getan haben. DIE GRÜNEN und der PDS) (Beifall bei der CDU/CSU) Als letzter in dieser Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Der Asylkompromiß war friedensstiftend. Er hat- Debatte spricht der Kollege Erwin Marschewski. verhindert, daß die Nazis in die Parlamente einzo- gen. Dieser Asylkompromiß darf nicht beeinträchtigt (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ werden. Deswegen ist auch die Entscheidung der DIE GRÜNEN]: Hat das Neandertal wieder letzten Woche, als wir keine Verlängerung des Ab- Ausgang heute?) schiebestopps für Kurden beschlossen hatten, rich- tig. Wer individuelle Gerechtigkeit leisten will, der Erwin Marschewski (CDU/CSU): Frau Präsidentin! muß letzten Endes Einzelschicksale prüfen. Deswe- Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kol- gen ist es ganz schlimm, daß Länder wie Nordrhein- lege Schily, Sie haben Ihre Rede mit Kant geschlos- Westfalen Abschiebestopps entgegen der geltenden sen. Kant stammt aus Königsberg, und ich bedanke Rechtslage immer wieder verlängern. Diese Nichtbe- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995 2151

Erwin Marschewski achtung der gesetzlichen Vorschriften durch den In- Aber Sie kennen doch die Begriffe der 70er und nenminister in Nordrhein-Westfalen ist nicht mehr 80er Jahre: „totale Selbstverwirklichung", „Rund- hinnehmbar. Das ist klarer Rechtsbruch, meine Da- umfreiheit" und ähnliches. men und Herren! (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der CDU/CSU - Widerspruch DIE GRÜNEN]: Nur kein Neid! - Weitere bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE anhaltende Zurufe von der SPD und dem GRÜNEN - Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das nehmen Sie zurück!) - Meine Damen und Herren, Herr Kollege Fischer, - Frau Kollegin Matthäus-Maier, das ist klarer dies hat dazu beigetragen, das Rechtsbewußtsein ge- Rechtsbruch. Herr Kanther hat völlig recht: Das er- waltig zu mindern. Das ist unser Problem. mutigt radikale Kräfte. (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ Zu einem wichtigen Punkt - über den wir reden DIE GRÜNEN]: Sollen wir Ihnen einmal er müssen - der inneren Sicherheit: Ich freue mich, daß zählen, wie das ist, die totale Selbstverwirk der Bereich der inneren Sicherheit bei uns einen sehr lichung?) hohen Stellenwert einnimmt. Der Innenminister hat Jetzt komme ich einmal zu Ihnen, Herr Kollege Fi- darauf verwiesen, daß wir insbesondere im Bereich scher, des Bundeskriminalamtes und des Bundesgrenz- schutzes erhebliche Verbesserungen erreicht haben. (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ Mein herzlicher Dank gilt insbesondere Frau Albo- DIE GRÜNEN]: Bleiben Sie, wo Sie sind! witz von der F.D.P. und dem Kollegen Uelhoff. Sie ha- Kommen Sie nicht!) ben sich dafür eingesetzt, daß wir bei der Bezahlung der Sie ja nur Zwischenrufe machen, ohne sich ein- des Bundesgrenzschutzes beträchtlich zugelegt ha- mal zur Sache zu äußern. Wir haben beschlossen, das ben. Ich glaube, das ist eine gute Regelung. Bundeskriminalamt und insbesondere das Bundes- (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Wo bleibt amt für Verfassungsschutz in die Bekämpfung von der Dank an uns?) Rechtsradikalen intensiv einzubeziehen. Wir wollen, daß alles aufgewandt wird, um den Rechtsradikalis- Leider muß ich feststellen, daß die personelle und mus in diesem Lande zu bekämpfen. Was haben Sie materielle Ausstattung von Polizei und Justiz in den gemacht? Sie haben beschlossen - und durch Ihre Ländern beträchtliche Mängel aufweist. In Nord- Kollegen verkünden lassen -, dieses Bundesamt für rhein-Westfalen fehlen rund 10 000 Polizeibeamte. Verfassungsschutz, das wir gegen Nazis und Linksra- Ich habe den Eindruck, daß die technische Entwick- dikale einsetzen wollen, solle aufgelöst werden. Dies lung an manchen Gerichten - ich kenne mich da ein ist ein seltsames Verständnis der Gewährleistung in- bißchen aus - vorübergegangen ist. nerer Sicherheit und der Bekämpfung des Radikalis- mus von rechts und links. (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN): Da wird noch mit 01 be leuchtet und mit Kohle beheizt!) Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Kollege Mar- schewski, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kol- Dies ist nicht in Ordnung. Deswegen wäre es natür- legen Hirsch? lich viel besser, der Ministerpräsident dieses Landes würde sich darum kümmern, anstatt an alten Länder- kompetenzen festzuhalten. Es kann doch nicht sein, Erwin Marschewski (CDU/CSU): Bitte schön, Herr Günter Graf, daß die Vorfeldbeobachtung durch das Kollege Dr. Hirsch. Bundeskriminalamt daran scheitert, daß die Länder (Dr. Peter Struck [SPD]: Erwin, paß auf, der hierzu nein sagen. ist gefährlich für dich!) (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Mit dem Un sinn schaden Sie Rau auch nicht!) Dr. Burkhard Hirsch (F.D.P.): Herr Kollege Mar- schewski, an sich wollte ich Sie nicht unterbrechen, Wir machen eine andere Politik. - Herr Schily, Sie aber was Sie eben gesagt haben, fasziniert mich. können die Fortschritte nicht leugnen. - Wir haben das Gesetz zur Bekämpfung der organisierten Krimi- (Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast [SPD]: Uns nalität beschlossen. Wir haben das Geldwäschege- nicht!) setz beschlossen, wir haben das Verbrechensbe- Könnten Sie bitte etwas näher ausführen, wieso die kämpfungsgesetz beschlossen. Natürlich, es ist rich- Erziehung zur Selbständigkeit und zu Selbstbewußt-- tig: Die soziale Prävention gehört an die Spitze der sein die Kriminalität in unserem Land gefördert ha- Maßnahmen. ben soll? (Uta Titze-Stecher [SPD]: Dann machen Sie (Beifall der Abg. Cornelia Schmalz-Jacob doch mal was!) sen [F.D.P.] sowie bei der SPD, dem BÜND Das ist völlig richtig, darin sind wir einer Meinung. NIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS) Der Umstand, daß die Kriminalitätsquote in Deutsch- land sinkt - das ist kein Grund zur Beruhigung -, Erwin Marschewski (CDU/CSU): Herr Kollege zeigt doch auch, daß wir diese sozialen Fragen sehr Dr. Hirsch, es wäre das erste Mal, daß Sie eine solche ernst nehmen. Frage nicht gestellt hätten. Was ich gesagt habe, ist 2152 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995

Erwin Marschewski folgendes: Die totale Freiheit, die es unterläßt, junge ster geben, uns gegen deren internationale Verbin- Menschen dahin zu bringen, den Weg, auf den es dungen und gegen deren High-Tech-Möglichkeiten wirklich ankommt, selbst zu erkennen, wollen wir zur Wehr setzen. Europa soll ein Europa freier Bürger nicht. sein.

(Lachen bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/ Ich bin mit vielem zufrieden. Ich bin auch damit DIE GRÜNEN und der PDS - Dr. Peter zufrieden, daß wir im Rahmen der europäischen Poli- Struck [SPD]: Was ist das für ein Schwach zei zu Lösungen kommen. Nur, meine Damen und sinn?) Herren, da gibt es Verbesserungsbedarf. Ich denke, daß die Bundesregierung hier, gerade im Bereich der Dieses Leben bedeutet auch Selbstbeschränkung. Nacheile, einiges geleistet hat. Totale Freiheit mag richtig sein, aber ist dann nicht richtig, wenn sie die Freiheit des anderen beeinträch- Wir sind bereit - Herr Kanther hat es gesagt -, Herr tigt, wenn sie andere in Gefahr bringt. - Ich hoffe, Kollege Schily, Sie in die Gesamtverantwortung ein- mit dieser Beantwortung sind Sie zufrieden. zubinden. Das können wir gar nicht anders, weil Sie im Bundesrat die Mehrheit haben und weil die Län- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - der ausdrücklich für die Polizeien, für die Gerichte Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ verantwortlich sind. Sie wissen, daß wir in diesem DIE GRÜNEN]: Aber wie ist das jetzt mit Bereich nur Gesetze machen können, mehr nicht. der Selbstverwirklichung? Was stellen Sie sich unter „Selbstverwirklichung" vor?) Ich bin durchaus dafür, z. B. über eine neue Formu- lierung der Geldwäsche zu reden. Ich denke daran, Meine Damen und Herren, wir werden auf unse- den Vorstrafenkatalog zu erweitern. Wir müssen rem Weg fortfahren und das Verbrechensbekämp- über eine Beweiserleichterung nachdenken. Ob es fungsgesetz fortschreiben. Ich kann nicht verstehen, dann zur Beweislastumkehr kommt, weiß ich nicht. meine Kollegen von der SPD, daß Sie zum Thema Das könnte ein mögliches Ergebnis sein. Ich denke, Hauptverhandlungshaft im Vermittlungsausschuß daß wir auch die Verdachtsmeldepflicht bei Banken nein gesagt haben. Wir wollen Leute, wie das bei- ein wenig erweitern sollten. spielsweise in Oberhof geschehen ist, die ausländi- sche Gäste an Leib und Leben gefährden, sofort fest- Ich lade Sie herzlich ein, wie es auch der Bundesin- setzen, sofort bestrafen. Das ist doch ein wichtiger nenminister getan hat, mit uns gemeinsam diese Punkt. wichtigen Dinge der inneren Sicherheit zu regeln. Dabei muß es unser gemeinsames Bestreben sein, (Beifall bei der CDU/CSU) uns mit allen Möglichkeiten des Rechtsstaates der Gewalt und der Kriminalität zu erwehren. Innere Si- Ich glaube, es war nicht richtig, dies abzulehnen, cherheit - so sagen wir zu Recht - ist eine gesamtge- meine Damen und Herren. sellschaftliche Aufgabe.

Wir wollen weiterhin, Herr Kollege Hirsch - Sie Meine Damen und Herren, zu unserer Position: Wir können wieder eine Zwischenfrage stellen -, intensi- sind ein freies Land; wir sind ein Land, in dem es sich ver als bisher den Bundesnachrichtendienst in die zu leben lohnt, zu investieren lohnt, zu arbeiten Bekämpfung des Verbrechens einbeziehen. Wir wol- lohnt. Dies wird in Deutschland so bleiben, solange len die Rechtsposition des verdeckten Ermittlers stär- wir die Verantwortung haben, solange Manfred Kan- ken, und wir wollen den Einsatz technischer Mittel in ther Innenminister ist und wir gemeinsam die Innen- Wohnungen. Darum müssen wir ringen. Es kann politik in diesem Hause bestreiten. nicht richtig sein, daß Gangster frei herumlaufen, die unsere Kinder in die Drogensucht treiben, die Morde Ganz herzlichen Dank. auf Bestellung ausführen lassen. Dagegen müssen wir im Rahmen der organisierten Kriminalität vorge- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- hen. Deswegen brauchen wir nach einer intensiven ordneten der F.D.P.) Diskussion mit dem Koalitionspartner dieses techni- sche Mittel. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Meine Damen und Meine Damen und Herren, es ist völlig richtig: Wir Herren, ich schließe die Aussprache. brauchen auch die Möglichkeit, im Rahmen des Mo- bilfunks zu überwachen. Aber es müssen die techni- Wir kommen zu den Abstimmungen, und zwar zu- schen Einrichtungen dafür vorhanden sein. Darüber nächst zum Einzelplan 06. Dazu liegen zwei Ände- - haben wir im Ausschuß geredet. Dabei ist natürlich rungsanträge der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ganz wichtig, Herr Kollege Fischer, daß wir den Kri- NEN und sieben Änderungsanträge der PDS vor. minellen keinen Freiraum geben. Wir stimmen zunächst über die Änderungsanträge Ein Wort zu Europa. Wir freuen uns natürlich, daß der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ab. die Abkommen jetzt abgeschlossen sind. Wir bleiben bei dem Satz: Europa soll ein Europa der freien Bür- Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksa- ger werden und nicht ein Europa der Kriminellen. che 13/925? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Damit Deswegen sagen wir: Wir müssen eine Antwort auf ist der Änderungsantrag bei Gegenstimmen der die kriminellen Machenschaften europäischer Gang CDU/CSU, der SPD und der F.D.P. abgelehnt. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995 2153

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksa- Wir kommen zur Abstimmung über den Einzel- che 13/935? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Der plan 33. Dazu liegen zwei Änderungsanträge der Änderungsantrag ist mit den Gegenstimmen der Gruppe der PDS vor, über die wir zuerst abstimmen. CDU/CSU und der F.D.P. abgelehnt. Wer stimmt für den Antrag auf Drucksache 13/964? Wir kommen zu den Änderungsanträgen der PDS, - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist auch über die nicht namentlich abgestimmt werden soll. dieser Änderungsantrag bei Enthaltung des BÜND- NISSES 90/DIE GRÜNEN abgelehnt. Drucksache 13/938: Wer stimmt für den Antrag auf dieser Drucksache? - Gegenstimmen? - Enthaltun- Wer stimmt für den Antrag auf Drucksache 13/944? gen? - Der Antrag ist mit den Stimmen der SPD, der - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist auch CDU/CSU und der F.D.P. abgelehnt. dieser Änderungsantrag bei Enthaltung des BÜND- NISSES 90/DIE GRÜNEN abgelehnt. Drucksache 13/939: Wer stimmt für den Antrag? - Dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Wer stimmt für den Einzelplan 33 in der Ausschuß- Stimmen der CDU/CSU, der F.D.P. und der SPD bei fassung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Damit ist einigen Enthaltungen abgelehnt. der Einzelplan 33 bei Gegenstimmen der PDS und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN angenommen. Drucksache 13/940: Wer stimmt dafür? - Gegen- stimmen? - Enthaltungen? - Auch dieser Antrag ist Wir kommen zum Einzelplan 36, zivile Verteidi- gung. Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion mit den Stimmen der CDU/CSU und der F.D.P. bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auf Drucksache 13/888 weitgehender Enthaltung der SPD abgelehnt. vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für Drucksache 13/941: Wer stimmt dafür? - Gegen- den Änderungsantrag? - Gegenstimmen? - Damit ist stimmen? - Enthaltungen? - Der Antrag auf Drucksa- dieser Änderungsantrag bei Gegenstimmen der che 13/941 ist ebenfalls mit den Stimmen der CDU/ CDU/CSU, F.D.P. und SPD abgelehnt. CSU und der F.D.P. bei Enthaltung der SPD abge- Wer stimmt für den Einzelplan 36 in der Ausschuß- lehnt. fassung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Damit ist Drucksache 13/942: Wer stimmt dafür? - Gegen- der Einzelplan 36 bei Gegenstimmen der SPD, des stimmen? - Enthaltungen? - Dieser Antrag ist mit BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS ange- den Stimmen der CDU/CSU, der F.D.P. und der SPD nommen. bei Enthaltung des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN (Vorsitz: Vizepräsident Hans-Ulrich Klose) abgelehnt worden.

Wir kommen zur Drucksache 13/943. Wer stimmt Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Ich rufe auf: dafür? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Dieser Antrag ist mit den Stimmen der CDU/CSU, der F.D.P. Einzelplan 07 und der SPD bei Enthaltung des BÜNDNISSES 90/ Bundesministerium der Justiz DIE GRÜNEN abgelehnt. - Drucksachen 13/507, 13/527 - Wir kommen zum Änderungsantrag der Gruppe der PDS auf Drucksache 13/937. Wie bereits zu Be- Berichterstattung: ginn der Aussprache mitgeteilt, hat die PDS bean- Abgeordnete Gunter Weißgerber tragt, über diesen Änderungsantrag namentlich ab- Manfred Kolbe zustimmen. Dafür ist die Unterstützung von minde- Oswald Metzger stens 34 anwesenden Abgeordneten erforderlich. Ich Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) frage deswegen: Wer unterstützt den Antrag der PDS auf namentliche Abstimmung? - Ich sehe keine wei- Einzelplan 19 teren Abgeordneten. Bundesverfassungsgericht (Widerspruch) - Drucksache 13/527 - - Zwei. Dann sind wir bei 32 Abgeordneten. Damit Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für ist der Antrag auf namentliche Abstimmung abge- die gemeinsame Aussprache eine Stunde vorgese- lehnt. hen. - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist es so (Beifall bei der CDU/CSU) beschlossen. Ich komme damit zur Abstimmung über den Ände- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kol- rungsantrag der PDS auf Drucksache 13/937. Wer lege Gunter Weißgerber (SPD). stimmt dafür? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Da- mit ist dieser Antrag bei Enthaltung von SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN abgelehnt. Gunter Weißgerber (SPD): Herr Präsident! Ver- ehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Einzelplan 07 Wer stimmt für den Einzelplan 06 in der Ausschuß- hat, gemessen am Bundeshaushalt, ein Volumen von fassung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Damit ist 0,14 %. Daraus ergibt sich schon, daß er nicht Beute- der Einzelplan 06 bei Gegenstimmen der SPD und zügen irgendwelcher pauschaler Kürzungsgelüste des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie einzelnen anheimfallen kann. Enthaltungen angenommen. (Unruhe) 2154 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995

Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Herr Kollege die Kommunikationsverhältnisse noch immer misera- Weißgerber, einen Augenblick. bel. Das hätte für 1990/91 bedingt zutreffen können; für 1995 kann dies so nicht mehr hingenommen wer- Verehrte Kolleginnen und Kollegen, darf ich Sie den. Ich appelliere an alle Kolleginnen und Kollegen, um ein bißchen Fairneß gegenüber dem Redner bit- diesbezüglich einmal die verschiedenen Haushalts- ten? Würden diejenigen, die sich diese Debatte nicht pläne danach zu durchforsten, ob sie vom Inhalt und anhören möchten, bitte das Plenum verlassen? Lieber der Formulierung her überhaupt auf das, was wir wäre es mir natürlich, Sie blieben und würden Platz hier wollen, zutreffen. nehmen, damit ich unterscheiden kann, ob jemand aufsteht, um eine Zwischenfrage zu stellen, oder Es lohnt sich auch anzuschauen, inwieweit Formu- nicht. lierungen und inhaltliche Ausgestaltung der bundes- Würden Sie bitte meiner Bitte nachkommen, auch deutschen Wirklichkeit des Jahres 1995, des Jahres 3 in dem mittleren Gang? nach den Beschlüssen der Föderalismuskommission, entsprechen. Damals war es der Wille des Bundesta- Bitte, Herr Kollege Weißgerber. ges, verschiedene Bundesinstitutionen auf Ost- deutschland zu verteilen. Entsprechende Ausfüh- Gunter Weißgerber (SPD): Danke schön, Herr Prä- rungsgesetze fehlen bis zum heutigen Tage. Deshalb sident. ist es besonders wichtig, daß sich der damalige Wille des Gesetzgebers nun in den Präambeln der zu ver- Streichungen und Kürzungen, wie teilweise in an- teilenden Einrichtungen klar ausdrückt. deren großen Haushalten geschehen, könnten hier leicht zum Verschwinden des gesamten Geschäftsbe- (Beifall bei der SPD) reiches führen. Daran kann uns natürlich nicht gele- gen sein. Dennoch ist es uns gelungen, zu Einnahme- Ich danke meinen Mitberichterstattern und dem ge- steigerungen von 5,3 Millionen DM und zu Ausgabe- samten Ausschuß für die Zustimmung zu den ent- reduzierungen von 10,4 Millionen DM gegenüber sprechenden Aktualisierungen der Texte in der Aus- dem Regierungsentwurf zu kommen. schußfassung.

Für Ostdeutsche lohnt es sich noch immer, die ver- Damit komme ich zu den einzelnen Schwerpunk- schiedenen Haushaltsposten auf ihre Einheitswirk- ten im Bereich des BMJ hinsichtlich der Beschlüsse zu prüfen. Beispielsweise kann es 1995 nicht lichkeit der Föderalismuskommission. Der 5. Senat des Bun- mehr möglich sein, jedwede Technik mit Hinweis auf desgerichtshofs, der Berliner Senat, und die Dienst- die besonders schlechten Verhältnisse im Osten un- stelle des Generalbundesanwaltes werden 1997 in seres Landes zu beantragen. Leipzig ihre Arbeit aufnehmen können. Damit wird Ein Beispiel, das mir aufgefallen ist: Da wurden Leipzig außer Berlin die erste ostdeutsche Stadt sein, drei Funktelefone beantragt; verwiesen wurde auf in welcher eine Bundeseinrichtung in voller Funktion die Notwendigkeit, die sich daraus ergebe, daß es arbeitet. Die Finanzierung ist klar: 1995 werden die eben im Osten des Landes mit den Kommunikations- ersten 500 000 DM, bis Oktober 1997 die gesamten bedingungen so miserabel stehe. 20 Millionen DM realisiert sein. (Unruhe) Neue Senate können später entsprechend der Rutschklausel in Leipzig eingerichtet werden; davon Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Herr Kollege haben wir uns vor Ort überzeugt. In der Leipziger Weißgerber, ich muß noch einmal um Entschuldi- Karl-Heine-Straße wird die zukünftige Entwicklung gung bitten. nach glaubwürdiger Darstellung von BMBau und BMJ nicht verbaut. Ich bitte doch sehr darum, daß Sie den amtieren- den Präsidenten nicht dauernd in die Situation brin- Der größere Brocken hinsichtlich der Belebung der gen zu pädagogisieren. Es ist zu unruhig im Raum, Vorstellungen der Föderalismuskommission ist ohne da kann man nicht ordentlich verhandeln. Man kann Zweifel der Umzug des Bundesverwaltungsgerichtes nicht einmal hier vorn im Präsidium verstehen, was von Berlin nach Leipzig in das Gebäude des ehema- gesagt wird. ligen Reichsgerichtes. Leider steht außer dem guten Ich verweise auf die Möglichkeit, daß bei störender Willen des BMJ und der Betroffenen vom Bundesver- Unruhe, die den Fortgang der Verhandlungen un- waltungsgericht noch nichts Konkretes zu Buche. Im möglich macht, die Sitzung unterbrochen werden Bundeshaushalt 1996 erwarte ich den entsprechen- kann. Also bitte ich die Kolleginnen und Kollegen, den Titel, untersetzt mit den zugehörigen Zahlen. die nicht an den Beratungen teilnehmen wollen und - sich privat unterhalten, sich nach außerhalb des Ple- (Beifall bei der SPD) narsaals zu begeben. Für das Haus wird es von Interesse sein, zu hören, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne daß ursprünglich gehandelte Kosten von 400 Millio- ten der CDU/CSU und der PDS) nen DM auf 200 Millionen DM seitens des BMBau präzisiert wurden. Von diesen 200 Millionen DM sind Bitte Herr Weißgerber. lediglich rund 53 Millionen DM als umzugsbedingt zu charakterisieren. Drei Viertel der Kosten müssen Gunter Weißgerber (SPD): Dort wurden also Tele- so oder so zur Instandsetzung dieses Bundesvermö- fone beantragt mit der Begründung, im Osten seien gens aufgewendet werden. Der Bund wird schließ- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995 2155

Gunter Weißgerber lieh das Reichsgerichtsgebäude in Leipzig nicht ab- Jüngstes Beispiel ist der Entwurf eines Mieten- reißen wollen. Ziel muß sein, das Bundesverwal- überleitungsgesetzes. Es geht um die Einführung der tungsgericht bis zur Jahrtausendwende in Leipzig Vergleichsmieten in Ostdeutschland. Wer, meine Da- anzusiedeln. men und Herren, soll denn diesen Wust von Quer- und Rückverweisungen und Ausnahmebestimmun- An dieser Stelle sei noch ein wichtiges Problem be- gen überhaupt verstehen? nannt. Der Präsident des Bundesgerichtshofes nahm sich dankenswerterweise nach dem staatlichen Zu- (Beifall bei der SPD - Joseph Fischer sammenschluß der Restbestände der Bibliothek des [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Reichsgerichtes an. Wertvolle Bücher wurden da- Das ist Sinn und Zweck der •bung!) durch vor weiterem Verfall bewahrt bzw. vor endgül- tiger Vernichtung durch miserable Lagerung geret- Ist sich die Bundesregierung im klaren, daß sie Ge- tet. Dies ist Professor Odersky und seinen Mitarbei- setze für ganz normale Bürger produziert? Oder sol- tern hoch anzurechnen. len die Menschen das Zeug gar nicht verstehen? Dann werden sie auch irgendwann dieses Gemein- Jedoch darf uns dies nicht die Augen davor ver- wesen nicht mehr verstehen oder gar akzeptieren schließen, daß die endgültige sachgerechte Lage- wollen. rung dieser Buchbestände natürlich in Leipzig zu er- (Beifall bei der SPD) folgen hat. Leipzig war Sitz des Reichsgerichtes, Leipzig wird wieder eine bedeutende Stadt der Auch die zunehmende Gesetzesflut an sich sollte Rechtsprechung. Es ist nur allzu logisch, daß die Bi- uns zu tieferem Nachdenken bewegen, wenn sich so- bliothek des Reichsgerichtes an ihren ursprünglichen gar der Präsident des Bundesverwaltungsgerichts, Standort zurückkehren muß, Herr Dr. Franßen, am 14. Februar 1995 beklagt, daß die Beschleunigung der Gesetzgebungsmaschinerie (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne die Gerichte zunehmend zu überfordern beginne. ten der CDU/CSU) Qualität muß auch hier eindeutig vor Quantität ge- hen. zumal in der vormaligen Debatte der Föderalismus- kommission zwischen Reichsgericht und Bundesge- (Karl Diller [SPD]: Aber bei dieser Regie- richtshof streng unterschieden wurde. rung!)

Um die Kosten für die Instandsetzung des Reichs- Wir benötigen unbedingt eine diesbezügliche Be- gerichtsgebäudes nicht noch weiter anschwellen zu richterstattung der Bundesregierung über den Voll- lassen, muß sich die Bundesregierung allerdings be- zug der Gesetze in der Praxis. Wie funktionieren un- quemen, bereits 1995 das Dach des Gebäudes in sere Gesetze? Benötigen wir überhaupt neue Ge- Ordnung bringen zu lassen. Im Moment regnet es setze, oder ist es besser, Defizite beim Vollzug der wie zu DDR-Zeiten rein. Mit Sicherheit sind jetzt auf- Gesetze abzubauen? Wer gesetzestreue Bürgerinnen gewendete Kosten in geringerer Höhe zu erwarten und Bürger erwartet, muß den Menschen unbedingt als später aufzuwendende. Wer heute klug repariert, Durchblick im Gesetzeswerk zuerkennen und er- spart Geld für morgen. möglichen. An letzterem hapert es zunehmend und gewaltig. Eine gute Investition in die Einheit ist der im Be- (Beifall bei der SPD) richterstattergespräch festgelegte Zuschuß für den diesjährigen Jugendgerichtstag. Ein seit Jahren immer wiederkehrendes Problem ist das Kapitel Wehrstrafgerichtsbarkeit. (Dr. Herta Däubler-Gmelin [SPD]: Sehr gut!) (Zuruf von der SPD: Das ist wahr!) Durch die nun vom Bund bereitgestellten zusätzli- chen 10 000 DM kann dieses Ereignis in Potsdam Für die SPD sind Soldaten Staatsbürger in Uniform. und damit zum erstenmal in den neuen Ländern Sie unterliegen damit der allgemeinen Gerichtsbar- stattfinden. keit. Wir sind strikt gegen dieses Kapitel. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Die Beratung des Einzelplans 07 gibt natürlich auch gute Gelegenheit, Probleme deutscher Gesetze Ein letztes Wort an den Finanzminister - er sitzt ja und Rechtsprechung aufzuzeigen. Als einem Nicht- hier. Die von Ihnen vor einigen Wochen angezettelte juristen - es ist doch wohl in diesem Haus keine Diskussion über die angebliche Steuergelderver-- Schande, kein Jurist zu sein; schwendung im Osten war boshaft und ein gewalti- ger Bärendienst an der deutschen Einheit. (Zurufe von der SPD: Vorsicht!) (Beifall bei der SPD - Norbert Geis [CDU/ oder doch? - fällt mir vielleicht manches mehr auf als CSU]: Der „Spiegel" hat sie angezettelt!) Leuten vom Fach. Die Gesetzgebungsarbeit leidet zunehmend unter Verkomplizierung. Gewählt wer- Herr Waigel hat seine früheren Bekenntnisse zur den wollen wir alle. Daß die Bürger, die uns, bitte Wiedervereinigung und seine Tränen selbst ad ab- schön, wählen sollen, unsere Produkte verstehen und surdum geführt. An sich hätten Sie, Herr Waigel, für anwenden können, scheint uns nicht zu jucken. diesen Schlag gegen die Einheit den Hut nehmen 2156 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995

Gunter Weißgerber müssen, oder man hätte Ihnen den Hut nehmen müs- Deutschland zu verteilen. Diese Kommission hat auf sen. einer Klausurtagung im Mai 1992 erste Vorabent- scheidungen getroffen. Seitdem ist es um diese Kom- (Bundesminister Dr. Theodor Waigel: Ich mission ruhiger geworden. hatte gar keinen Hut auf!) (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Es ist nicht geschehen. Alles wird in Ihrer Regierung Sie hat aber Fehler gemacht!) weiterhin ausgeschwitzt und ausgesessen. Man hört derzeit, daß es sie in dieser Legislaturperi- Die SPD vermag dem Einzelplan aus den genann- ode nicht mehr geben soll. Ich würde es bedauern, ten politischen Gründen nicht zuzustimmen. wenn das so wäre. Ich halte die Fortsetzung der Ar- (Beifall bei der SPD) beit dieser Kommission für erforderlich, und wir alle gemeinsam sollten darüber noch einmal nachden- ken. Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat der Kollege Manfred Kolbe (CDU/CSU). (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Zumal der Rechnungshof nach Berlin sollte!) Manfred Kolbe (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sparsamkeit, - Herr Kollege Weng, wenn Sie die Fortsetzung der Sicherung der Zukunft, Vollendung der Einheit - das Arbeit der Föderalismuskommission unterstützen, ist sind die zentralen Themen des Bundeshaushalts das wunderbar. 1995. Das sind auch die Themen der Einzelpläne 07 Am heftigsten umstritten war innerhalb dieser Fö- und 19, die wir jetzt beraten. deralismuskommission der Sitz der obersten Bundes- Sparsamkeit: Der Justizetat ist ein kleiner Etat - gerichte. Gerade in meiner Fraktion genießt ja der Kollege Weißgerber hat es gesagt -, aber er leistet ei- Grundsatz Rückgabe vor Entschädigung fast kult- nen Beitrag zur Haushaltskonsolidierung. Die Ge- ähnliche Verehrung. Es hätte deshalb eigentlich auf samtausgaben in Höhe von 680 Millionen DM wer- der Hand gelegen, den Bundesgerichtshof nach den zur Hälfte durch Einnahmen, insbesondere Pa- Leipzig zurückzuverlagern. Wie das Leben aber so tentgebühren, gedeckt. Die Ausgaben steigen, weil spielt, hat die Föderalismuskommission anders ent- wir die Investitionen steigern. Die Personal- und Ver- schieden, Herr Kollege Weng, waltungsausgaben bleiben stabil. (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Zukunft: Dieser Einzelplan leistet seinen Beitrag Frau Kollegin Hämmerle hat da damals sehr zur Zukunftssicherung. Ich erwähne als Beispiel das stark gewirkt!) Patentinformationssystem PATIS, das beim Deut- und er bleibt in Karlsruhe. Nach Leipzig kommen schen Patentamt in München installiert wird. Bei der das Bundesverwaltungsgericht und der 5. Strafsenat Prüfung eines Patents hat das Deutsche Patentamt des Bundesgerichtshofs aus Berlin. Außerdem war den Stand der Technik weltweit und über alle Zeiten Teil eines sehr zäh verhandelten Kompromisses, daß hinweg zu prüfen. Die technische Literatur umfaßt weitere BGH-Senate nach Leipzig kommen, und mittlerweile 26 Millionen Dokumente. Jedes Jahr zwar dergestalt, daß neue Strafsenate direkt nach kommen 700 000 neue hinzu. Diese Papierflut war Leipzig kommen, neue Zivilsenate nach Karlsruhe mit konventionellen Mitteln nicht mehr zu bewälti- kommen und dafür ein alter Strafsenat nach Leipzig gen. Wir installieren deshalb jetzt das elektronische verlagert wird. Wir akzeptieren diesen Kompromiß. Patentinformationssystem PATIS, welches die elek- Wir bestehen aber darauf, daß er vollständig akzep- tronische Speicherung der Dokumente und den tiert und vollständig realisiert wird - auch hinsicht- mehrdimensionalen Zugriff ermöglicht. Damit leisten lich der neuen Senate, Frau Bundesministerin. wir einen Beitrag, um den Wirtschaftsfaktor Patente für Deutschland zu sichern. Der Umzug selber ist nach den Beschlüssen vom Sommer 1992 bisher allerdings etwas zäh angelau- (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ fen. Was das Bundesverwaltungsgericht betrifft, ist DIE GRÜNEN]: Was für eine Software ver eine Arbeitsgruppe gebildet worden. Sie hat zwar wenden Sie denn da?) schon ein paarmal getagt, hat aber bisher noch kei- Mit diesem Einzelplan legen wir die haushaltsrechtli- nerlei konkrete Entscheidungen getroffen. Deshalb chen Grundlagen: Gesamtkosten 160 Millionen DM; sind in diesem Etat insoweit bedauerlicherweise 15 Millionen DM werden in diesem Einzelplan veran- noch keinerlei Haushaltsmittel etatisiert. Ich meine, schlagt. es ist an der Zeit, damit zu beginnen. - Einheit: Mit diesem Einzelplan treiben wir auch Ich glaube, es kann keinerlei Zweifel unterliegen, die Vollendung der Einheit Deutschlands weiter daß das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig seinen voran. Ich glaube, es kann keinen Zweifeln unterlie- Sitz wieder im historischen Reichsgerichtsgebäude gen, daß eine der wesentlichen Voraussetzungen für nehmen wird. Der 26. Oktober dieses Jahres - das ist die Einheit der Sitz von Bundeseinrichtungen in den der hundertste Jahrestag der Einweihung des östlichen Bundesländern ist. Reichsgerichtsgebäudes - sollte für uns der Anlaß sein, mit der Sanierung des Gebäudes und dem Um- Zu diesem Zweck hatten wir eine unabhängige Fö- zug des Bundesverwaltungsgerichts zu beginnen. deralismuskommission installiert mit dem Ziel, die Vielleicht können wir darüber einmal in Gespräche Bundeseinrichtungen gleichgewichtig über ganz treten, Frau Ministerin. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995 2157

Manfred Kolbe

Zur Bibliothek - das darf ich nur in Parenthese an- Ich denke da nur an die schwierigen Gesetzesvorha- merken - schließe ich mich den Ausführungen des ben zum Sachenrechtsbereinigungsgesetz und zum Kollegen Weißgerber an. Wir sind dem Bundesge- Schuldrechtsbereinigungsgesetz, bei denen Sie im- richtshof für das, was er in den letzten Jahren für die mer ein offenes Ohr für beide beteiligten Seiten hat- Bibliothek gemacht hat, sehr dankbar. Aber ich ten und wir dadurch zu einer ausgewogenen Rege- glaube, es kann nach allgemeinen Grundsätzen kei- lung gekommen sind. Um diese Gesetze ist es still nen Zweifel daran geben, daß diese Bibliothek wie- geworden; das ist in der Politik immer ein untrügli- der an ihren historischen Standort gehört. ches Zeichen dafür, daß die Sache funktioniert und wir einen angesichts der Schwierigkeit der Materie (Zuruf von der CDU/CSU: Der BGH auch! - doch einigermaßen ausgewogenen Kompromiß ge- Karl Diller [SPD]: Herr Kolbe, die haben funden haben. aber nicht geklatscht! Was schließen Sie daraus? - Otto Schily [SPD]: Daß sie schla Dennoch ist der Gesetzgeber hier weiterhin gefor- fen!) dert, die Rechtseinheit herzustellen. Nach meinem Gefühl ist es mit der Rechtseinheit unvereinbar, Bedeutend weiter sind wir, was den Umzug des wenn wir in einem vereinten Land teilweise noch ge- 5. Strafsenats aus Berlin betrifft. Wir haben in Leip- teiltes Recht haben. Ich denke da nur an das Berg- zig ein Gebäude gefunden, in der Karl-Heine-Straße 12. recht, also die Rechtslage bei Steinen, Kies und San- Dieses Gebäude ist für den 5. Strafsenat auch geeig- den: Im Westen sind sie Grundeigentum, im Osten net. haben wir das alte DDR-Volkseigentum perpetuiert. Das ist mit einem gemeinsamen Rechtsstaat, mit ei- Wir haben besonders darauf geachtet - die Bericht- nem gemeinsamen Rechtsbewußtsein unvereinbar, erstattergruppe war im Februar dieses Jahres in Leipzig -, daß dieses Gebäude nicht nur für den (Dr. Uwe Küster [SPD]: Richtig! - Beifall des 5. Strafsenat geeignet ist, sondern daß Erweiterungs- Abg. Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] möglichkeiten für weitere Senate bestehen. Wir in [F.D.P.]) der Berichterstattergruppe gehen jedenfalls davon aus, daß wir noch in diesem Jahrzehnt zwei Strafse- zumal wir ja mit diesem Bergrecht auch einen we- nate nach Leipzig bekommen werden. Das ist eine sentlichen Grundsatz unserer Verfassung, nämlich Prognoseentscheidung, die so oder so ausfallen das Eigentum, in Frage stellen. Wie wollen wir den kann. Jedenfalls ist unstreitig, daß wir die baulichen Bürgern die Bedeutung des Eigentums verdeutli- Voraussetzungen dafür schaffen müssen. Ob der Zu- chen, wenn wir gleichzeitig bei dieser wichtigen Po- wachs dann eintritt oder nicht, steht auf einem ande- sition sie als Eigentümer durch den Einigungsvertrag ren Blatt. Aber wir dürfen jetzt nichts zubauen. ausgeschlossen haben?

Das Gebäude ist auch für diesen Zuwachs geeig- (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: net; wir haben deshalb die entsprechenden Haus- Muß geändert werden! - Karl Diller [SPD]: haltsmittel etatisiert. Die Bauarbeiten beginnen in Machen Sie jetzt Opposition?) diesem Sommer, und im Herbst 1997 werden sie be- - Ich komme jetzt zu Ihnen, Herr Diller. endet sein. Wir haben dann jedenfalls den ersten Teil einer Bundeseinrichtung, der sieben Jahre nach der Oder nehmen wir die Kriminalitätsbekämpfung. Einheit in den östlichen Bundesländern außerhalb 88 % der Bevölkerung meinen, die DDR habe sie bes- Berlins arbeiten wird. Das Beste, was man darüber ser vor Verbrechen geschützt, Herr Diller. Wir müs- noch sagen kann, ist: Was lange währt, wird gut, vor- sen hier handeln, wir müssen entschiedener etwas ausgesetzt, die Verlagerung des Senats wird im tun. Es kann nicht sein, daß sich DDR-Nostalgie des- Herbst 1997 erfolgen. halb entwickelt, weil der Rechtsstaat Bundesrepublik nicht in der Lage ist, die Kriminalität entschieden ge- Diese Gerichtsverlagerungen, Frau Ministerin, nug zu bekämpfen. sind Signale, die wir dringend brauchen. Wer die am 8. März in der „FAZ" veröffentliche Umfrage des Al- (Karl Diller [SPD]: Wer regiert denn?) lensbacher Instituts für Demoskopie zum Rechtsbe- wußtsein im vereinten Deutschland gelesen hat, der Deshalb kann ich Sie nur auffordern, unsere Bemü- mußte zur Kenntnis nehmen, daß Handlungsbedarf hungen beim Verbrechensbekämpfungsgesetz zu besteht. 60 % der Bürger im Osten sind mit den Ge- unterstützen. Sie können nicht nur dann klatschen, setzen und der Rechtsprechung in Deutschland nicht wenn es Ihnen einmal paßt; Sie müssen dann auch zufrieden, 72 % fühlen sich durch das Recht nicht gut die andere Seite der Medaille zur Kenntnis nehmen. - beschützt, und gar 88 % - das macht mir besonderen Kummer - meinen, die DDR habe sie besser vor Ver- (Beifall des Abg. Dr. Wolfgang Weng [Ger- brechen geschützt. lingen] [F.D.P.] - Otto Schily [SPD]: Wann wir klatschen, entscheiden wir immer noch Nun haben gerade Sie, Frau Ministerin, sich große selber!) Verdienste bei der Herstellung der Einheit der Rechtsordnung in Deutschland erworben. Abschließend möchte ich mich noch bei den Mit- berichterstattern bedanken. Wir hatten eine sehr an- (Beifall des Abg. Detlef Kleinert [Hannover] genehme Atmosphäre sowohl hier in Bonn als auch [F.D.P.]) bei unseren gemeinsamen Besuchen in Karlsruhe 2158 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995

Manfred Kolbe und Leipzig. Ich möchte mich bei Ihnen, Frau Mini- Anspruch des Beschuldigten - wohlgemerkt nicht sterin, und den Beamten Ihres Hauses, insbesondere des Verteidigers - auf umfassendes rechtliches Ge- Herrn Ministerialrat Schubert, für die sehr sachliche hör die zweite tragende Säule eines rechtsstaatlichen und gute Zusammenarbeit bedanken. Strafverfahrens. Zum Schluß bitte ich Sie alle um Zustimmung zu Diesen Anspruch wollen die Autoren der Horrorli- diesem Einzelplan. ste aus der Justizministerkonferenz eliminieren. Man gaukelt der Öffentlichkeit vor, böse Verteidiger seien (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ für überlange Prozesse verantwortlich, sie zwängen DIE GRÜNEN]: Na, wir wollen nicht über die Strafjustiz so zur Kapitulation vor dem Verbre- treiben!) chen und gefährdeten die innere Sicherheit. Gleich- Mit diesem Einzelplan gehen wir einen weiteren zeitig behauptet man wider besseres Wissen, die Schritt in Richtung Sparsamkeit, Zukunftssicherung Qualität der Urteilsfindung für den Betroffenen und Vollendung der inneren Einheit. Ich bitte des- bleibe erhalten, es gehe nur gegen bestimmte Vertei- halb um Ihre Zustimmung. digerstrategien. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Meine Damen und Herren, jedes Jahr werden zirka 1 Million Anklagen vor den Gerichten verhan- delt. Jeder von uns kann also leicht in die Situation Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat geraten, sich dort verteidigen zu müssen. Die bereits Kollege Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN). erlassenen und zu erwartenden Prozeßvorschriften werden sich auf den Rechtsschutz der Bürgerinnen und Bürger verheerend auswirken. Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gerech- Ein Beispiel: Schon wieder will die Justizminister- tigkeit und Bürgerrechte lassen sich nicht in Mark konferenz Gefängnisstrafen - diesmal sogar bis zu und Pfennig berechnen, sie machen aber den Wert zwei Jahren - durch einen einfachen Strafbefehl ver- eines Gemeinwesens aus. Rechtsstaatlichkeit darf hängen lassen, per Postboten ins Haus geliefert. Staat und Gesellschaft nicht zu teuer sein. Ganz abgesehen von der Gefahr, Einspruchsfristen zu versäumen, gerät der Prozeß anschließend unter Frau Justizministerin, Sie und Ihre Partei haben in die Räder des sogenannten beschleunigten Verfah- den letzten Jahren bürgerrechtliche Prinzipien zu rens. So können Sie im Zivilrecht durch Mahnbe- Schleuderpreisen verkauft: scheid Geldforderungen rechtskräftig werden lassen, (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: aber doch nicht im Strafprozeß operieren. Unverschämt!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 1992 das erste OrgKG, 1993 das erste Rechtspflege- Da geht es um das Vorbestraftsein, um Freiheitsstrafe entlastungsgesetz, 1994 das Verbrechensbekämp- und damit auch um die Vernichtung von beruflichen fungsgesetz. So lautet Ihr rechtsstaatliches Sünden- Existenzen. register. Anscheinend war Ihr Motto: Jedes Jahr ein Gesetz, das muß schon sein. Auch der Vorschlag, das Beweisantragsrecht des Jetzt droht aus einer anderen Ecke neues Unheil. Angeklagten weiter einzuschränken, stößt auf unse- Durch einen Gesetzentwurf des Bundesrates zur Än- ren entschiedenen Widerstand. derung der StPO soll das Beweisantragsrecht weiter Übrigens wird keiner dieser Vorschläge eine Entla- eingeschränkt werden. Allen voran marschierte stung des Strafverfahrens bringen. Ich fordere Sie Noch-Justizminister Krumsiek aus Nordrhein-West- auf: Lassen Sie uns diese Horrorliste gemeinsam ent- falen, denn diesmal wird die Rechtsstaatsdemontage sorgen! von SPD-Ländern angestoßen. Nicht zuletzt deshalb bin ich sehr froh, daß BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) demnächst in Hessen mit Rupert von Plottnitz den Justizminister stellen. Bürgerrechte haben nun einen Sie, Frau Justizministerin, müssen endlich öffent- engagierten Anwalt in Justizministerkonferenz und lich eine rechtstatsächliche Bilanz ziehen, welchen Bundesrat. Nutzen oder vielmehr Schaden Ihre alljährlichen Be- kämpfungsgesetze der vergangenen Wahlperiode (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bewirkt haben. Wir fordern Sie weiterhin auf, den sowie der Abg. Dr. Herta Däubler-Gmelin Strafprozeß durch Reformen zu entlasten, die gleich- [SPD]) zeitig positive kriminalpolitische Auswirkungen ha- - ben. Ein noch schlimmerer Hammer als der Gesetzent- wurf des Bundesrates ist die Vorschlagsliste im Be- Für gewaltlose Eigentums- und Vermögensdelikte richt des Strafrechtsausschusses der 65. Justizmi- sollte der Grundsatz gelten: Zivilrecht vor Strafrecht. nisterkonferenz. Der Strafprozeß lebt von einem fai- Führen Sie den Täter-Opfer-Ausgleich nicht als Un- ren rechtsstaatlichen Verfahren. Anders als im Inqui- terwerfungsgeste, wie wir es jetzt haben, sondern sitionsprozeß ist sein Ziel nicht die Überführung des endlich als echte Wiedergutmachung ein! Sorgen Sie Angeklagten, sondern ein möglichst objektiver Aus- für eine bessere Prävention bei gesellschaftlichen spruch über Schuld und Strafe. Neben der grundge- Krisenerscheinungen! Last but not least: Entschärfen setzlich garantierten Unschuldsvermutung ist der Sie Ihre eigene Angstkampagne der vergangenen Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995 2159

Volker Beck (Köln) Jahre! Die Bundestagswahl ist vorbei. Sie brauchen Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat der die unverhältnismäßige Kriminalitätsfurcht der deut- Kollege Detlef Kleinert (F.D.P.). schen Bevölkerung nicht weiter für Ihre populisti- schen Ziele anzuheizen. Detlef Kleinert (Hannover) (F.D.P.): Herr Präsident! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Herr Kollege Beck, wenn Ihr Aufenthalt hier Sinn machen Meine Damen und Herren, Gerechtigkeit muß dem soll, dann müßten Sie das Mindestmaß an Fairneß Staat einiges wert sein. Daher noch einige Worte zu walten lassen, das zur Erzielung der von Ihnen min- einer Gerechtigkeitslücke, die schon seit Jahrzehn- destens vorgeblich gewünschten Erfolge führt. Sie ten klafft: Es geht darum, daß immer noch viele Op- wissen ganz genau, daß wir zu dem zuletzt angespro- fer des Nationalsozialismus keine oder nur minimale chenen Punkt in den letzten Wochen sehr nützliche Entschädigungen für das ihnen widerfahrene Un- und konstruktive Gespräche gehabt haben, daß wir recht erhalten haben. alle gemeinsam wollen, daß die von Ihnen zu Recht BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN haben in ihrem Ent- geschilderten Unrechtsurteile einer endgültigen - soweit das heute noch möglich ist - Bereinigung zu- schließungsantrag zum Haushalt eine Bundesstif- geführt werden. tung „Entschädigung für NS - Opfer" gefordert. Ich bin Mitglied im Beirat des hessischen Landeshärte- Sie wissen, daß sich alle Seiten dieses Hauses fonds für NS-Verfolgte. Ich sehe dort die Verfolgten- darum ernsthaft bemühen. Warum also solche Ver- schicksale, sehe, wie der lange Arm des Nationalso- handlungen dadurch stören, daß Sie von diesem Pult zialismus das Leben der Betroffenen auch heute noch aus die Sache so darstellen, als bestünde die Welt aus prägt. Bösen einerseits und Guten, zu denen selbstver- ständlich in erster Linie Sie gehören, andererseits? Viele Menschen sind aus der beruflichen Bahn ge- worfen worden, keiner hat die Verfolgung ohne ge- Das wird die Entscheidung nach allen Erfahrungen sundheitlichen Schaden überstanden. Es ist einfach im Parlament nicht fördern. empörend, wenn Menschen mit solchen Schicksalen (Beifall bei der F.D.P.) verfolgungsbedingt heute auf Sozialhilfe angewiesen sind, in bitterer Armut und nicht selten in gesell- schaftlicher Isolation leben. Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Herr Kollege Kleinert, gestatten Sie eine Zwischenfrage? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der PDS) Detlef Kleinert (Hannover) (F.D.P.): Bitte schön. Die GRÜNEN bemühen sich seit 1983 im Bundes- tag um eine umfassende Regelung für die ausge- Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): grenzten Opfer wie Zwangssterilisierte, Zwangsar- Herr Kleinert, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu neh- beiter, Kommunisten, Schwule, Deserteure und an- men, daß ich in meiner Rede nicht nur die Frage der dere Opfer der Militärjustiz, Sinti und Roma und Deserteure angesprochen habe, sondern alle ausge- viele andere. In jeder Wahlperiode wiederholt sich grenzten Opfer des Nationalsozialismus? Sind Sie seitdem das gleiche beschämende Ritual: Minimale ferner bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß wir in der Zugeständnisse an die Verfolgten werden von den letzten Woche als Bundestagsfraktion eine Anhörung Regierungsparteien mit großer Geste als „endgültige mit allen Verfolgtenverbänden, mit Herrn Bubis vom Abschlußregelung" deklariert. Zentralrat der Juden, Herrn Rose vom Zentralrat der Sinti und Roma und vielen anderen durchgeführt ha- Es ist überdeutlich: Auf dem Gebiet der NS-Ent- ben? schädigung will die Regierungsmehrheit mit aller Kraft einen Schlußstrich ziehen. Das darf nicht ge- Sie haben bemängelt, daß die gegenwärtigen Här- schehen. tefonds zum allgemeinen Kriegsfolgengesetz nicht ausreichen, um die nichtentschädigten oder nicht (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ausreichend entschädigten Opfer zu befriedigen. Es sowie bei Abgeordneten der SPD und der ist gegenwärtig eine einmalige Zahlung von 5 000 PDS) DM pro Opfer vorgesehen. Ich hoffe, daß Sie mit mir die Meinung teilen, daß 5 000 DM für Konzentrati- Alle Verfolgten müssen volle gesellschaftliche An- onslager- und schwere Gesundheits-, Freiheits- und erkennung und rechtliche Rehabilitierung erfahren. Rentenschäden usw. keine angemessene Reaktion Sie haben Anspruch auf einen Lebensabend in der Bundesrepublik Deutschland sind. Würde ohne materielle Not. Der Umgang mit den Opfern des Nationalsozialismus ist ein wichtiger Prüfstein für die demokratische Kultur in diesem Detlef Kleine rt (Hannover) (F.D.P.): Das Teilen der Land. Wenn den Verfolgten nicht endlich Gerechtig- Meinung wird wesentlich durch die richtige Darstel- keit widerfährt, bleiben all die schönen Worte zum lung des Sachverhaltes erleichtert. Ich bin viel mehr 8. Mai wohlfeile Lippenbekenntnisse. bemüht, Ihre Meinung zu teilen, als Sie sich bemü- hen, meine Meinung zu teilen. Das ist der Punkt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der (Heiterkeit und Beifall bei der F.D.P. und PDS) der CDU/CSU) 2160 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995

Detlef Kleinert (Hannover) Es freut uns natürlich, daß Sie in dieser Frage auch habe ich erwähnt, daß sich die Obleute darüber einig mit unserem Parteifreund Bubis Übereinkommen er- gewesen sind, in der Zeit, in der der Rechtsausschuß zielt haben. noch nicht so belastet ist wie im späteren Verlauf der Legislaturperiode, eine Anhörung durchzuführen, Sie haben es hier so dargestellt, als kämpften Sie um das breite Feld der Möglichkeiten organisatori- alleine gegen den Rest der Welt. Natürlich ist es scher Verbesserungen und organisatorischer Er- nicht angenehm, wenn ich zugeben muß, daß Sozial- leichterungen auszuleuchten, bevor uns neue Ansin- demokraten, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wie auch nen vorgetragen werden, wie wir etwa durch drama- CDU/CSU und F.D.P. in der Obleutebesprechung des tische Einschränkungen des Beweisrechts Erspar- Rechtsausschusses völlig einer Meinung gewesen nisse an genau der falschen Stelle erzielen könnten. sind, als es um die Frage ging, ob wir uns von seiten des Bundesrates, von seiten der Länder - damit nä- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU so- hern wir uns unmittelbar der Debatte über den Haus- wie bei Abgeordneten der SPD) halt - immer wieder Versuche zur Vereinfachung, Überall gibt es diese organisatorischen Mängel. Wir Entlastung, Beschleunigung, Ersparnis, zu Reformen wollen gerne - auch in kollegialer Zusammenarbeit Einbu- usw. gefallen lassen und damit wesentliche mit den Zuständigen in den Ländern - hilfreich sein in Kauf nehmen sol- ßen an Recht und Gerechtigkeit und zu besseren Ergebnissen beitragen. len. Das ist für die Landesjustizminister kein ordentli- ches Gewerbe. Das ist nicht die Art, wie sie ihr Amt Im übrigen haben wir im Laufe der Jahre hinsicht- als Justizminister wahrnehmen sollten. Ich schließe lich nützlicher Vereinfachungen sehr viel Vernünfti- mich auch denen an, die heute schon gesagt haben, ges geleistet. Man bekommt heute amtsrichterliche daß gerade beim Recht nicht gespart werden darf. Urteile in einfachen Zivilsachen ohne Tatbestand und Urteilsgründe oder mit einer Urteilsbegründung (Beifall bei der F.D.P.) von wenigen überzeugenden Sätzen. Sie sparen Es kommt auf ganz andere Dinge an als auf das nicht nur dem Richter Zeit und Arbeit, sondern sie kleinliche Nachrechnen von Ausgabenpositionen. sind auch überzeugender als frühere kunstvoll, fast Deshalb müßten wir gemeinsam mit dem Bundesrat relationstechnisch vorbereitete Urteile über mehrere versuchen, das zu tun, was dem Recht nützt, also Seiten in solchen einfachen Dingen. Das ist eine Verfahrensabläufe verbessern, was dem Recht und deutliche Verbesserung. Insofern ist es eine Freude der Gerechtigkeit und dem Ansehen der Justiz be- zu sehen, wie bei Amts- und Landgerichten das gel- sonders in den neuen Ländern hilft. Vieles können tende Recht immer noch in überzeugender Weise wir hier gemeinsam tun, und es gibt sehr viel weni- trotz aller Schwierigkeiten und trotz der viel zu ho- ger, was sich für streitige Auseinandersetzungen eig- hen Zahlen von zu bearbeitenden Fällen angewen- net. det wird. (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- ten der CDU/CSU)

Vizepräsident Hans - Ulrich Klose: Herr Kollege Das gleiche möchte ich nicht von den obersten Kleinert, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abge- Bundesgerichten behaupten. Wir haben in der ordneten Uta Titze-Stecher? „Welt" vor einigen Wochen eine Galerie eindrucks- voller Köpfe gesehen. Es handelte sich um die ne- Detlef Kleinert (Hannover) (F.D.P.): Ja. beneinander abgelichteten Präsidenten a ller ober- sten Bundesgerichte, die diesem Hause Ratschläge gegeben haben, was wir in der Rechtspolitik tun und Uta Titze - Stecher (SPD): Herr Kollege, Sie haben lassen sollten. Der Hauptmangel dieser Darstellung im Zusammenhang mit dem Recht das Geld genannt ist, daß sie offenbar nicht das Ergebnis einer Konfe- und gesagt, beim Recht dürfe nicht gespart werden. renz der Abgebildeten gewesen ist, sondern das Er- Halten Sie es denn für richtig, daß nur auf Druck der gebnis der Befragung jedes einzelnen; denn anders SPD-Bundestagsfraktion und nach einer großen Re- lassen sich die eklatanten Widersprüche nicht erklä- portage in der „Süddeutschen Zeitung" der Interna- ren. Der eine Präsident hat uns empfohlen, fünf tionale Suchdienst in Arolsen um lediglich Jahre lang überhaupt kein Gesetz mehr zu machen, 20 Planstellen erweitert wurde, und das angesichts und der andere hat gesagt, wir sollten ganz schnell der Tatsache, daß NS-Geschädigte, die in KZs geses- ein Gesetz machen, insbesondere eines mit dem in- sen haben, vier Jahre auf eine Antwort warten muß- teressanten Ziel, seinem Gericht die „schäbige Ein- ten, um bestätigt zu bekommen, daß sie KZ-Häftling zelfallgerechtigkeit" zu entziehen, damit dort in Zu- waren, mit dem Effekt, daß sie für diese Zeit Kleinst- kunft nur noch der Rechtsfortbildung gelebt werden beträge in Höhe von 900 DM bekommen haben? könne. Rechtsfortbildung wollen wir allerdings in er- ster Linie hier in diesem Hause weiterhin betreiben, Detlef Kleine rt (Hannover) (F.D.P.): Ich halte das wenn auch so zurückhaltend wie möglich. nicht für richtig, so wie ich viele andere Mängel in (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU so- der Art, wie die nun einmal bestehenden Behörden wie bei Abgeordneten der SPD und des ihre Arbeit tun, nicht für richtig halte. Das gibt es al- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) lerdings, abgesehen von dem speziellen Fall, den Sie eben darstellten, auch in vielen anderen Bereichen Ein Großteil der Überlastung der obersten Bundes- der Justiz. Hier liegen genau die Aufgaben, denen gerichte - ich will nicht übertreiben -, ein nicht unbe- wir uns widmen sollten. Deshalb, Frau Kollegin, trächtlicher Teil - so möchte ich lieber sagen - beruht Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995 2161

Detlef Kleinert (Hannover) auf hausgemachten Problemen. Wenn der VIII. und wie sie in dem Verfassungsentwurf des Runden der IX. Senat des Bundesgerichtshofs völlig gegen- Tisches enthalten waren, beiseite geschoben. Das sätzliche Entscheidungen zur Sicherungsübereig- hatte notwendigerweise eine gewisse Verwirrung bei nung treffen, dann ist das gerade im Zusammenhang den Rechtsunterworfenen und ein Chaos bei den mit dem schönen Wort „Sicherung" eine sehr unsi- Rechtsanwendern zur Folge. chere Angelegenheit. Wie soll man denn die Ver- träge noch machen?, so fragen die Bankensyndizi mit Es kam hinzu - das wissen Sie -, daß 50 bis 70 % Recht. Die Zuverlässigkeit der Rechtsprechung ist des Personals in den Gerichten und in den Staatsan- bedeutend wichtiger als ein o riginelles Urteil, das waltschaften im Beitrittsgebiet ausgetauscht wurden. noch Jahre später in der Kommentarliteratur ergeb- Inzwischen ist das Ostrecht weitgehend durch das nisreich und mit vielen Schattierungen behandelt Westrecht ersetzt. Der Umbau der Gerichtsorganisa- werden kann. tion ist weitgehend abgeschlossen, der rechtliche und rechtspflegerische Alltag ist da. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne ter der CDU/CSU) Die Ostdeutschen haben ihre Erfahrung mit die- sem Alltag gemacht. Dieser Alltag produziert eine Zweidrittelunzufriedenheit mit dem Rechtssystem. Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Herr Kollege Ich meine, daß das eine ernste Frage ist, über die wir Kleinert, wir hören Ihnen alle sehr gern zu, aber Sie uns hier Gedanken machen müssen. haben Ihre Redezeit deutlich überschritten. Augenscheinlich korrespondiert diese Unzufrie- denheit mit Gesetzgebung und Rechtspflege auch (Hannover) (F.D.P.): Herr Präsident, Detlef Kleine rt mit unterschiedlichen Gerechtigkeitsvorstellungen ich wollte lediglich andeuten, in welcher Richtung in der west- und der ostdeutschen Gesellschaft. Im- wir uns in Zukunft weiter bemühen wollen, und zwar merhin halten nach dieser Umfrage 48 % im Westen viel mehr gemeinsam, als das bei einigen vorange- die Gesellschaft für gerecht, im Osten nur 19 %. Dies gangenen Ausführungen den Anschein hatte. würde meine hier schon wiederholt vertretene These Ich darf, Herr Präsident, zum Schluß noch zum untermauern, daß in Ostdeutschland unter den Ausdruck bringen, daß wir Frau Leutheusser-Schnar- Trümmern des Staates die Konturen einer DDR-Ge- renberger, der Bundesjustizministerin, und ihren sellschaft mit eigenen Werten, darunter auch offen- Mitarbeitern sehr dankbar für die Arbeit sind, die sie bar mit anderen Vorstellungen über Gerechtigkeit geleistet haben und die, meine ich, aus liberaler und Bürgernähe des Rechts, sichtbar geworden sind. Sicht sehr trefflich dadurch charakterisiert wird, daß auch von unserem Koalitionspartner einige Kritik an Es ist weiterhin alarmierend, daß das, was den „viel zu linken" Einstellungen geübt wird, während Kern des formalen Rechtsstaats ausmacht, nämlich ich soeben von Herrn Beck hören konnte, daß die die Regelgerechtigkeit, nicht mehr als Vorzug oder Bundesjustizministerin in ihren gesetzgeberischen gar nicht mehr als existent wahrgenommen wird. Bemühungen viel zu weit rechts stehe. Das spricht 73 % der Ostdeutschen und immerhin auch 67 % der für die Position, die im Recht gewahrt werden muß, Westdeutschen meinen, es gebe keine Gleichheit vor die vernünftige Mitte. dem Gesetz, es würden doch Unterschiede gemacht. Generell erscheint den Bürgern - das zeigen mir Ge- Herzlichen Dank. spräche mit Wählern und Briefe immer wieder - das für sie unverständlich formulierte Recht und die (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Triade von „Recht haben, Recht bekommen, Recht durchsetzen" als ein Wald von Hürden. Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat der Kollege Dr. Heuer (PDS). Was kann Rechtspolitik leisten? Sicherlich kann dieses System den Wünschen der Ostdeutschen - im- merhin 35 % denken bei Menschenrechten vor allem Dr. Uwe-Jens Heuer (PDS): Herr Präsident! Meine an das Recht auf Arbeit - nicht Rechnung tragen. Damen und Herren! Nun spricht vielleicht die ver- Aber Rechtspolitik könnte einen Beitrag zum Abbau nünftige Linke. dieses tiefen Unbehagens leisten, das sich eben darin Das Institut für Demoskopie Allensbach hat in ei- äußert, daß 60 und bis über 70 % der Ostdeutschen ner Untersuchung im Februar 1995 herausgefunden, sagen: Dieses Recht ist ein Recht der Reichen. daß 73 % der Ostdeutschen der Meinung sind, in die- Im Bericht der sogenannten Eppelmann-Kommis- ser Bundesrepublik seien die Bürger vor dem Ge richt sion hieß es: nicht gleich. 60 % waren mit den Gesetzen und der Rechtsprechung nicht zufrieden; 72 % fühlten sich Das für sie neue Rechtssystem ist den Menschen- durch das Recht nicht geschützt. Diese Zahlen signa- fremd. Von ihm Gebrauch zu machen und seine lisieren im fünften Jahr nach der Vereinigung Defi- Vorteile zu erfahren ist für sie schwierig. Es wäre zite im Rechtsbewußtsein, auf die die Rechtspolitik fatal, wenn sich den Bürgern als Erfahrung mit reagieren müßte. dem für sie neuen Rechtssystem die Schlußfolge- rung aufdrängte, daß die Wahrnehmung ihrer Die Gesetzgeber des Einigungsvertrages haben Rechte eine Frage von Wissen und Geld sei. sich 1990 für die schlagartige Einführung der Rechts- ordnung der Bundesrepublik im Beitrittsgebiet ent- Die Antwort der Enquete - Kommission lautet: Der schieden. Sie hatten alle Wünsche auf Demokratisie- Rechtsstaat muß besser propagiert werden. - Ich rung des Rechts und des Rechtsbildungsprozesses, halte diese Antwort für absolut unzureichend. Es 2162 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995

Dr. Uwe-Jens Heuer geht nicht um mehr oder andere Öffentlichkeitsar- Gerade wir in der Bundesrepublik Deutschland beit - das ist auch gut und vernünftig -, es geht um sollten aus unserer Geschichte immer neu das ge- Änderungen des Rechts und der Rechtsbildung, die meinsame Bewußtsein herausbilden, wie schwer aus der Sicht der Mehrheit der Ostdeutschen einfach Rechtsstaat erkämpft werden muß, welch verhee- fällig sind und die es ihnen ermöglichen, den Rechts- rende Folgen eine Unrechtsgesellschaft erzeugt und staat als etwas anzunehmen, das ihnen nicht völlig welcher permanenten Anstrengungen es bedarf, feindlich und bedrohlich gegenübersteht. rechtsstaatliche Strukturen wirksam werden zu las- sen. Der Konsens auf dieser Basis muß die Grundlage Herr Kolbe, ich meine, der große Lauschangriff ist unserer Rechtspolitik sein. dabei wohl nicht das richtige Angebot. Dazu gehört einmal eine stärkere soziale und sozialstaatliche (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Komponente im Recht. Dazu gehört die stärkere Ein- Sicherheit im Recht und Sicherheit durch das beziehung der Bürger in die Rechtsetzung. Recht sind der legitime Anspruch an die Rechtsord- nung und jede staatliche Aktivität. Meine Damen Dazu gehört aber auch - ich werde nicht müde, es und Herren, es ist deshalb um so wichtiger, daß sich von diesem Platz aus zu fordern - ein Recht, das Bür- der Staat wieder auf den Kernbereich seiner Aufga- ger auch verstehen können. Herr Weißgerber hatte ben konzentriert. Dann kann er nämlich Mittel und es hier ausdrücklich gesagt. Instrumente freisetzen, um den Bürgern und Bürge- (Beifall bei der PDS) rinnen diese Sicherheit geben zu können. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Uwe Wesel hat dazu zutreffend geschrieben, im Bereich der dritten Gewalt laufe „das Prinzip von Öf- Wenn diese Koalition eine Senkung der Staats- fentlichkeit noch immer leer. Hier bewegen wir uns quote anstrebt, eine Privatisierung von Aufgaben, immer noch im vordemokratischen Raum, leben wir die der einzelne mindestens genausogut erfüllen noch nicht unter der Herrschaft des Grundgesetzes. kann wie der Staat, dann tun wir das doch gerade Was uns von der Öffentlichkeit trennt, ist eine auch, um den Staat wieder neu und vermehrt in die Sprachbarriere, die Mauer der Sprache des Rechts." Lage zu versetzen, seine wichtige rechtsstaatliche Aufgabe der Sicherheit für alle Bürger und Bürgerin- Für die Kollegen von der anderen Seite des Hau- nen noch effizienter erfüllen zu können. ses, denen Herr Wesel sicherlich zu links ist, möchte ich auf den Bundespräsidenten Herzog hinweisen, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) der die Unverständlichkeit der deutschen Juristen- Wir müssen diese Politik deshalb konsequent wei- sprache auf dem Juristentag in Münster beklagt hat. terverfolgen, denn nur auf dieser Basis lassen sich Vielleicht könnten wir hier wirklich eine gemein- auch andere staatliche Aufgaben wirksam ausfüllen. same Anstrengung unternehmen, etwa auf dem Ge- Das Verbrechensbekämpfungsgesetz war auf diesem biet des Wohnungsmietrechts. Ich halte es auch für Weg ein wichtiger Schritt. Wir müssen ihn weiterge- eine Frage der Demokratie, daß wir nicht ein Recht hen. Um aber den Weg wirksamen Schutzes der Bür- von Rechtsanwälten für Rechtsanwälte machen. ger, meine Damen und Herren, weitergehen zu kön- (Norbert Geis [CDU/CSU]: Das ist richtig!) nen, muß das Unrechtsbewußtsein in unserer Gesell- schaft aufrechterhalten und zum Teil auch neu ge- Frau Noelle-Neumann hatte den zitierten Beitrag schärft werden. Gerade wenn es um Delikte geht, die in der „Frankfurter Allgemeinen" vom 8. März 1995 zum Schaden der Mitmenschen bzw. der Allgemein- überschrieben: „Kein Schutz, keine Gleichheit, keine heit begangen werden, gilt dies in ganz besonderer Gerechtigkeit." Sorgen wir für mehr Schutz, für mehr Weise. Gleichheit, für mehr Gerechtigkeit! Die Gewaltkriminalität muß dabei unsere beson- Danke sehr. dere Zielscheibe sein. Es sind immer neue Kampag- nen erforderlich gegen die Gewalt, dagegen, daß Ge- (Beifall bei der PDS) walt in der Gesellschaft und gerade bei Jugendlichen gewissermaßen salonfähig und zur Normalität ge- macht wird. Aus dieser Normalität heraus nähert sich Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat die Kollegin Dr. Tiemann (CDU/CSU). Gewaltkriminalität. Gewalt muß angeprangert wer- den, wo immer dies geht. Die persönliche Verantwor- tung der Menschen füreinander muß neue Impulse Dr. Susanne Tiemann (CDU/CSU): Herr Präsident! erfahren. Meine sehr geehrten Damen und Herren! So klein (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) der Haushalt des Bundesjustizministers ist, ich meine, er bietet wieder einmal Anlaß, sich öffentlich Gleichzeitig muß es jedoch auch eine gemeinsame darauf zu besinnen, welche überragende Bedeutung Kampagne geben, um klarzumachen, was es bedeu- unser Rechtsstaat für jeden einzelnen und für unsere tet, wenn die Allgemeinheit durch das Verhalten des ganze Gesellschaft hat. Unser Rechtsstaat ist der Le- einzelnen geschädigt wird, daß hier nicht eine ano- bensnerv unseres Staates, unseres friedlichen Zu- nyme Einrichtung geschädigt wird, sondern alle, je- sammenlebens und unseres Wohlstandes. Ohne ihn der einzelne. Hier müssen die öffentliche Verantwor- ist sorgenfreies und sicheres Leben, ohne ihn ist wirt- tung und das Bewußtsein wieder neu geweckt wer- schaftliche Betätigung und schließlich die Freiheit den, daß die Bürger und Bürgerinnen selbst Träger unserer Gesellschaft undenkbar. des Gemeinwesens sind. Eine Bagatellisierung von Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995 2163

Dr. Susanne Tiemann Delikten wie Drogenbesitz, Schwarzfahren und La- Wir alle wissen, daß immer wieder die Begehrlich- dendiebstahl ist hierzu nicht der richtige Weg, eben- keit nach gesetzgeberischen Maßnahmen geschürt sowenig wie ein Zurücktreten des Strafrechts, wenn wird durch noch höhere Standards, die es zu erfüllen ein Gericht Schadensersatz zugesprochen hat. gilt, immer neue Ansprüche, die abgesichert werden sollen, immer mehr Perfektion, die vom Rechtssystem (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) erwartet wird. Solchen Bestrebungen sollten und Derartige Verfahrensweisen verharmlosen solches müssen wir gemeinsam widerstehen. Auch der Fehlverhalten, machen es zu Kavaliersdelikten und Grundsatz der Subsidiarität sollte uns auf nationaler ebnen den Weg zu einer weiteren Verniedlichung wie auf europäischer Ebene bei der Weiterentwick- von Delikten wie eben auch der Steuerhinterziehung lung unserer Rechtsordnung leiten. oder den Mißbrauch staatlicher Leistungen. Wir wer- den uns solchen Bestrebungen jedenfalls energisch Einfaches und verständliches Recht ebenso wie widersetzen, meine Damen und Herren. praktikable Verfahren sind maßgeblich dafür, daß dem Bürger der hochentwickelte Rechtsstaat auch (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) tatsächlich etwas nützt. Sie sind aber auch ganz Wenn die Bürger zum Rechtsstaat Vertrauen haben entscheidend für die wirtschaftenden Bürger und sollen, müssen sie von ihm auch wirksamen Rechts- damit für die Wettbewerbsfähigkeit des Unterneh- schutz erhalten können. Es ist eben eine Tatsache, mensstandorts Bundesrepublik Deutschland. Das daß unsere Gerichte nach wie vor überlastet sind. In- Recht muß den Rahmen schaffen, der klar und sofern werden wir, wenn wir keine Situation herbei- auch flexibel genug ist, um unternehmerische Initi- führen wollen, wie sie zu Zeiten des Reichskammer- ative zuzulassen und zu fördern, nicht aber durch gerichts bestand, wo sich Prozesse Generationen Regelungschaos und Übermaß im Keim zu erstik- lang hinschleppten, an Überlegungen über durch- ken oder gar in die Emigration zu treiben. Und Un- ternehmen, die wegen bürokratischer Belastungen greifende Reformen der Verfahren nicht vorbeikom- men. abwandern, nehmen immer auch Arbeitsplätze mit. Dies müssen wir durch unsere Rechtspolitik mit ver- Nur, meine Damen und Herren, dies muß wohl- hindern. überlegt in Angriff genommen werden. Zunächst einmal müssen die Erfahrungen mit dem Rechtspfle- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU geentlastungsgesetz 1993 gesammelt und evaluiert und der F.D.P. - Joseph Fischer [Frankfurt] werden, und dann müssen wir uns an die schwierige [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer regiert Aufgabe machen, gemeinsam zu einer Reform zu denn hier?) kommen, die auf der einen Seite mehr Verfahrens- ökonomie herstellt, die auf der anderen Seite aber Wir müssen also eine große Entrümpelungskampa- auch nicht Rechtsmittel beschneidet und die richter- gne unternehmen, wenn wir unser Recht lebensnah liche Wahrheitsfindung damit beeinträchtigt. und gerecht gestalten wollen. Wir müssen uns auch abgewöhnen, auf jede Einzelsituation mit einem Ge- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU setz zu reagieren, inte rventionistische Gesetzgebung und der F.D.P.) zu betreiben, Dies wird eine schwierige Aufgabe sein, zumal wir (Beifall bei der CDU/CSU) nicht der Versuchung erliegen dürfen, Reformen um der Reformen willen zu schaffen und vielleicht sogar was dann meistens und häufig genug normative noch mehr bürokratischen Aufwand zu erzeugen, als Flickschusterei bedeutet und neuen Regelungsbe- wir heute schon haben. Also: Vorsicht bei diesem Un- darf erzeugt. terfangen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU Der Rechtsstaat braucht die Kontinuität seiner Re- und der F.D.P.) gelungen, und die Bürger wie die Unternehmen müs- sen sich langfristig auf eine Rechtslage einstellen Allerdings stimme ich mit all denen überein, die können. darauf hinweisen, daß sich der Gesetzgeber in Bund und Ländern selber fragen muß, ob er nicht durch zu Meine sehr geehrten Damen und Herren, es wird viele und zu komplizierte Gesetze maßgeblich mit von unserer Rechtspolitik, die Schlüsselpolitik ist, ab- zur Überlastung unserer Gerichte beiträgt. hängen, welche Qualität unsere Gesellschaft hat, wie frei sie sein wird, wie frei jeder sein wird, seine Akti- Unser Grundsatz muß „Eher weniger denn mehr" vitäten zu entfalten, aber auch wieviel Verantwor- sein. Wir müssen Abschied nehmen von dem perfek- tung er haben wird. Ich möchte Sie alle dazu einla- tionistischen Bestreben, Einzelfallgerechtigkeit um den, eine solche Rechtspolitik gemeinsam mit uns zu jeden Preis schaffen zu wollen, die undurchschau- machen. bare und unpraktikable Gesetze und damit letztlich Ungerechtigkeit erzeugt. (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU DIE GRÜNEN]: Wir werden heute dauernd und der F.D.P.) eingeladen! Das ist verdächtig!) Unser Steuerrecht ist ein sprechendes Beispiel hier- Meine sehr geehrten Damen und Herren, diese wich- für, aber auch unsere Genehmigungsverfahren und tigen Aufgaben, die uns gerade die Rechtspolitik leider auch viel zu viele Sozialgesetze. gibt, zeigen uns, wie umgekehrt proportional der 2164 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995

Dr. Susanne Tiemann Umfang des Haushalts des Bundesjustizministers zur Herr Marschewski, ich bitte deswegen darum, daß Bedeutung dieser großen Aufgaben ist. Sie hier nicht mehr solche Reden halten. Wenn es Ih- nen darum geht, Gewalt und Verbrechen zu be- Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. kämpfen - das will ich ausdrücklich unterstellen -, dann sollten Sie auch so reden und nicht meinen, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Leute prügeln zu müssen, die keine Schuld an den Phänomenen haben, die Sie schildern - und das noch Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat die nicht einmal richtig. Kollegin Dr. Herta Däubler-Gmelin (SPD). (Beifall bei der SPD) (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Jetzt mußt du dich für die Meine Damen und Herren, ich schließe mich dem, Rechtsverwirrung entschuldigen, die du als was der Kollege Weißgerber zum Haushalt gesagt Opposition zwölf Jahre lang zu verantwor hat, voll an. Dennoch will ich einige Anmerkungen ten hast!) zur Rechtspolitik machen, weil ich den Eindruck habe, Frau Bundesjustizministerin, daß sich hier in den kommenden Jahren eine ganze Menge ändern Dr. Herta Däubler-Gmelin (SPD): Herr Präsident! muß. Uns alle verbindet die Sorge um den sozialen Meine Damen und Herren! In der Tat, es ist nicht die Rechtsstaat - damit will ich das aufgreifen, was Frau Summe Geldes, das der Bund für den Justizhaushalt Tiemann sagte -, daß unsere Bürgerinnen und Bür- ausgibt, welche es rechtfertigt, daß wir uns sogar ger ihre Rechte ausüben können, daß Kriminalität schon heute morgen in der öffentlichen Sitzung dar- da, wo sie auftritt, bekämpft werden muß und daß über unterhalten. Es geht vielmehr um die Frage: wir unseren Rechtsstaat weiterhin gut instandhalten. Wie geht es mit unserem Rechtsstaat weiter? Es ist An einigen Stellen ist dies nicht mehr der Fall. Dort richtig - ich danke deswegen auch Frau Tiemann müssen wir Verbesserungen erreichen. An Stellen und Herrn Kleinert dafür, daß sie nochmals aus- aber, wo er instand ist, muß er sorgfältig gepflegt drücklich darauf hingewiesen haben -, daß der werden. Haushalt der Justiz im Bereich des Bundes relativ wenig Geld kostet. Es ist wichtig, das immer wieder Meine erste Bitte an Sie ist, daß Sie sehr viel stär- festzustellen, weil in der Öffentlichkeit häufig der ker als bisher darauf achten, daß die Gesetzesvorla- Eindruck entsteht, die Justiz sei viel zu teuer. Das ist gen, die in den Bundestag kommen - soweit sie aus gar nicht der Fall. Ihrem Haus sind, können Sie dafür ja selber Sorge tragen; auch sonst sind Sie ja sehr häufig zeich- Führen wir uns die Zahlen noch einmal vor Augen: nungsbefugt -, qualitativ erheblich besser werden. Der Bund zahlt in diesem Jahr etwa 95 Milliarden Das Justizministerium hat eine Menge an hochquali- DM Zinsen. Der Justizhaushalt, wenn man alles zu- fizierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Die Pro- sammenfaßt, umfaßt in etwa 1 Milliarde DM, d. h. dukte, die wir zur Zeit auf den Tisch bekommen, sind rund 1 % davon, wenn man es grob rechnet. Meine ziemlich schlecht. Damen und Herren, das sollte die Justiz dem Bund durchaus wert sein. In den letzten Jahren - das merke ich kritisch in Richtung des Bundestages an - hat man es Ihnen Bei den Ländern ist das natürlich ein bißchen auch leichtgemacht, weil es Ihnen insbesondere in mehr. Auch das trägt zu dem Problem bei, das wir in der Innen- und Rechtspolitik nur darum ging, daß der Öffentlichkeit oft hören. Mich bringt dies zu mei- sich die CDU/CSU mit der F.D.P. geeinigt hat; das Er- nem zweiten Punkt, daß wir eine Politik zur Siche- gebnis wurde dann automatisch geschluckt. Die rung des Rechtsstaates - um diese Frage geht es Mehrheiten sind heute nicht mehr so. Wir werden doch im Bereich der Innen- und der Rechtspolitik - sehr sorgfältig darauf achten, daß die Gesetze, die nur machen können, wenn Bund und Länder nicht wir vorgelegt bekommen, nicht so kompliziert sind - nur wissen, daß sie beide Zuständigkeiten haben der Kollege Weißgerber hat bereits darauf hingewie- und beide Verantwortung tragen, sondern auch zu- sen -, daß kein Mensch sie mehr versteht. Dann näm- sammenarbeiten. lich braucht man die Gesetze nicht mehr. Die Ge- setze, die der Bundestag beschließt, müssen ver- Bundesinnenminister Kanther - ich sehe ihn nicht ständlicher und lesbarer werden. mehr im Raum - hat neben Herrn Kollegen Mar- schewski, der noch hier ist, dazu Stellung genom- (Beifall des Abg. Dr. Uwe Küster [SPD]) men. Dazu muß ich sagen, daß es natürlich nicht an- gehen kann, daß Sie den Bundesländern einerseits Das Beispiel, das er angeführt hat - nämlich das - öffentlich in die Kniekehle treten, sich aber anderer- Mietenüberleitungsgesetz -, ist sehr passend. Ich seits die Feder, daß die Straftaten laut polizeilicher meine, wir dürfen es nicht dabei belassen, daß sogar Kriminalstatistik zurückgegangen sind - sie ist ja von den Experten beklagt wird, die Mietrechtsge- nicht mehr als ein Indikator der Verbrechen -, an den setzgebung lese sich beinahe so schwer wie die Steu- Hut stecken und nicht einmal danach fragen, ob ergesetzgebung oder das Sozialrecht. Ich sähe es nicht z. B. die Umstrukturierung bei der Polizei, ver- vielmehr am liebsten, wenn Sie diesen Gesetzent- besserter Vollzug oder andere Maßnahmen, die in wurf zurückziehen und - meinetwegen mit dem In- den Verantwortungsbereich der Länder fallen, dafür halt, den Sie für richtig halten; darüber streiten wir ursächlich sind. uns dann politisch - auf den Tisch legen würden, so (Beifall bei der SPD) daß er Qualitätsansprüchen genügt. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995 2165

Dr. Herta Däubler-Gmelin Ich habe mich sehr darüber amüsiert, Herr Klei- Wir haben hauptsächlich - das sagen übrigens nert, was Sie über die Galerie unserer Gerichtspräsi- auch die Rechtsanwender - Vollzugsprobleme. denten, die Sie aufgeführt haben - es waren ja nur Diese Vollzugsprobleme liegen sehr häufig an unkla- Männer, was, wie immer, wahrscheinlich nur ein Zu- ren, unpräzisen Gesetzen. Da können wir helfen. fall war -, gesagt haben. Ich stimme Ihnen zu: Wir Aber mit noch mehr Gesetzen die Vollzugsproblema- hier machen die Gesetze, und die Ge richte sollen sie tik zuzudecken ist einfach falsch. anwenden - das ist gar keine Frage -, d. h. das nö- (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) tige Selbstbewußtsein können wir uns immer wieder bestätigen. Aber es wäre natürlich außerordentlich Dritter Punkt. Zum Bereich der Bürgerfreundlich- unklug, wenn wir nicht die Hinweise zur Kenntnis keit der Justiz. Ich hätte es sehr gerne, Frau Justizmi- nähmen, die wir aus der Rechtsanwendung der Ge- nisterin, daß wir durchaus auch aus Umfragen, die richte und dem Vollzug der Praxis bekommen. wir nicht mögen, das ernst nehmen, was uns von dort entgegenschallt. Der Rechtsstaat steht bei denjeni- (Beifall bei der SPD) gen Bürgerinnen und Bürgern im Ansehen am höch- sten, die am wenigsten mit Gerichten und Gesetzen Darüber stand auch in den Zeitungen eine ganze zu tun haben. Menge zu lesen: In der Tat kommen viele der Urteile, über die Sie sich - Sie haben da meine volle Sympa- (Ina Albowitz [F.D.P.]: Das ist doch klar!) thie - ärgern, auch daher, daß in vielen Bereichen die - Ja, das mag sein, daß Ihnen das klar ist, liebe Frau notwendige Klarheit und Präzision der Gesetzge- Albinowitz. Aber es ist Ihre Aufgabe, als Mitglied der bungsbeschlüsse nicht gegeben sind. Ich weiß, daß Regierungsmehrheit dafür zu sorgen, daß es nicht viele davon auch Ergebnisse von Kompromissen im dabei bleibt. Gesetze und Gerichte sind nämlich um politischen Bereich sind. Das ist gar keine Frage. der Bürger willen da, nicht darum, daß wir aus- Aber wir Sozialdemokraten werden in den kommen- nahmsweise ein Mitglied dieses Hohen Hauses ge- den vier Jahren darauf achten, daß das, was politisch funden haben, das diesen Zusammenhang versteht. gewollt ist, wenigstens präzise und klar und damit Das kann nun nämlich nicht der Rechtfertigungs- als Anleitung für die Gerichte und für den Praxisvoll- grund sein, alles so weiterschludern zu lassen. zug tauglich ist. Wir werden uns darum bemühen müssen - darum Die zweite Forderung, die ich an Sie habe, betrifft bitte ich Sie -, auch mit den Ländern zusammen bald nicht nur die Bundesjustizministerin, sondern sehr grundlegende Reformen einzuleiten, damit das Ziel, viel mehr die Regierungsmehrheit als Ganzes. Ich nämlich Bürgerfreundlichkeit, Vereinfachungen und habe den Eindruck, Sie müssen bei manchen Ihrer Klarheit, wieder stärker als Motiv für Reformen zum Gesetze die Konzeption ändern, beim Verbrechens- Vorschein kommt und nicht unter dem Druck des bekämpfungsgesetz ebenso wie beispielsweise beim Einsparens zusammengestrichen wird. Gesetz zur Entlastung der Rechtspflege. Übrigens, denke ich, sind wir uns alle darüber einig, daß das, Als vierten Punkt lassen Sie mich noch anmahnen: was hier als Horrorliste gehandelt wird, Gott sei Frau Bundesjustizministerin, Sie haben wahrschein- Dank kein Bundesratsgesetzentwurf ist - er wird lich deswegen, weil es in Ihrer Koalition schwer ist, wohl auch keiner werden -, sondern eine Zusam- Konsens zu finden, große Bereiche der Gesetzge- menstellung von Überlegungen und Äußerungen, bung vernachlässigt: Kindschaftsrecht, neue Me- die für uns in keiner Weise verbindlich sind und es dien. im übrigen auch nicht sein sollten. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Die Entwicklungen dort berühren Millionen von (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne Menschen, bedrohen Ihre Sicherheit und Ihre ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Rechte. Wir können die Ausgestaltung so wichtiger Felder nicht den Rechtsanwendern und den Gerich- Sie sehen das auch so; ich habe Ihre Äußerung, Frau ten überlassen, gerade dann nicht, wenn wir uns dar- Leutheusser-Schnarrenberger, gestern mit Wohlge- über ärgern, daß Gerichte entscheiden, wenn sie an- fallen zur Kenntnis genommen. gerufen werden. Aber was beim Verbrechensbekämpfungsgesetz (Beifall bei der SPD) natürlich geändert werden muß - ich weiß nicht, ob Wir brauchen gerade dort erheblich mehr gesetzlich der Kollege Kolbe noch da ist -, ist folgendes: Lieber vernünftige und präzise Regelungen. Die SPD wird Kollege Kolbe, wenn Sie feststellen, daß die Verbre- sie deshalb verstärkt bei Ihnen einfordern. chensfurcht in den Ländern im Osten der vereinigten - Bundesrepublik zunimmt, dann hat das begreifliche Als letzten Punkt würde ich gerne etwas aufgrei- Ursachen. Denen müssen wir nachgehen. Die müs- fen, was Herr Beck gesagt hat; Herr Kleinert, auch sen wir gemeinsam mit den Dienststellen, auch ge- Sie haben das aufgegriffen. Unser Rechtsstaat zeich- meinsam mit den Verantwortlichen vor Ort und in net sich in der Tat auch dadurch aus, daß er begange- den Ländern beheben. Die müssen wir auch über- nes Unrecht wiedergutmachen kann und will. Das winden. Nur, Ihre Reaktion war darauf: Die haben tun wir noch nicht in ausreichendem Maße im Be- Angst vor Verbrechen, und deswegen müssen wir reich des Unrechts, das durch die DDR-Gerichte, Gesetze verschärfen. Diese Reaktion war ebenso ty- durch die DDR-Gesetzgebung und durch die Stasi pisch wie falsch. So geht das einfach nicht mehr wei- begangen wurde. Es ist schon eine Schande - und ter. man kann, glaube ich, schon einmal sagen, daß ei- 2166 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995

Dr. Herta Däubler-Gmelin nen da der Frust packen kann -, daß dieses schreck- aufstellen; ich glaube, daß sie im Moment noch nicht liche Unrecht gegen die sogenannten Deserteure auf sicherem Fundament steht -, dann würde in den und Wehrkraftzersetzer nach 50 Jahren immer noch Räumlichkeiten, die wir gerade herrichten, auch ein nicht bereinigt ist. weiterer Senat seinen Aufgaben nachgehen können. (Beifall bei der SPD und beim BÜNDNIS 90/ (Detlef Kleinert [Hannover] [F.D.P.]: Das ist DIE GRÜNEN - Norbert Geis [CDU/CSU]: uns noch nicht einmal Leipzig wert!) Das ist doch nicht wahr!) Der Justizetat ist - Sie werden es feststellen, wenn Doch ich kann auch die Frustration von Leuten ver- Sie sich die einzelnen Positionen ansehen - fast stehen, die wissen, daß wir das in den letzten Legis- schon eher ein Bauetat, weil die Schwerpunkte der laturperioden vergeblich versucht haben. Sie wissen Beratungen bei den notwendigen Investitionen zur - ich will das jetzt einmal sehr freundlich und sehr Herrichtung von Gebäuden lagen, um gerade in den pfleglich ausdrücken-: Das ist nicht an uns geschei- nächsten Jahren sichere Voraussetzungen für den tert. Ich setze deshalb große Hoffnungen darauf, daß Umzug des Bundesverwaltungsgerichtes, des wir es dieses Mal schaffen und daß wir es bald schaf- 5. Strafsenates des Bundesgerichtshofs und der Mit- fen. Nur, wenn das nicht gelingen sollte, einfach des- arbeiter des Generalbundesanwalts zu schaffen. wegen, weil Sie sich nicht mit uns darauf verständi- gen können, daß diesen Menschen Unrecht getan Die konsequente Umsetzung dieser Vorgaben ist, wurde und daß ihnen auch ihre Würde wiedergege- glaube ich, ein wesentlicher Beitrag für ein Zusam- ben werden muß, würde sich unser Rechtsstaat ein menwachsen von Ost und West in Deutschland. außerordentlich schlechtes Zeugnis ausstellen. Ich Denn auch die Bürgerinnen und Bürger in den neuen hoffe, wir können das gemeinsam vermeiden. Bundesländern sollen sehen, daß wir hier - auch wenn das natürlich auf Grund der Baumaßnahmen Danke schön. einige Jahre dauern muß - alles tun, damit auch oberste Gerichte in östlichen Bundesländern wieder (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ihre Tätigkeit aufnehmen können. DIE GRÜNEN) Der Erhalt des Rechtsstaats hat in der heutigen De- batte eine wesentliche Rolle gespielt. Ich kann hier Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Ich muß zwei nur aus voller Überzeugung sagen, daß ich uneinge- Anmerkungen machen: Erstens heißt die Kollegin schränkt die Auffassung teile, daß sich der Staat „Albinowitz" eigentlich Albowitz. Zweitens habe ich selbstverständlich auf den Kernbereich seiner Aufga- vergessen, für das Protokoll zu erwähnen, daß die ben zurückziehen muß. Dazu gehören gerade der Er- Kollegin Dr. Tiemann heute ihre erste Rede im Ple- halt des Rechtsstaats und die Funktionsfähigkeit sei- num des Bundestages gehalten hat. Herzlichen Dank ner Institutionen und Organisationen. Das ist für und many happy returns! den Bereich der Rechtspolitik natürlich die Justiz in den Ländern, aber auch im Bund, soweit es sich um (Beifall) die obersten Ge richte handelt. Das Wort hat jetzt die Bundesministerin Leutheus- (Beifall bei der F.D.P.) ser-Schnarrenberger. Deshalb möchte ich nur ganz wenige Zahlen er- gänzend zu denen, die Sie, Frau Däubler-Gmelin, ge- Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundesmi- nannt haben, nennen, die doch noch einmal deutlich nisterin der Justiz: Herr Präsident! Meine sehr ver- machen, daß wir uns wirklich Justiz leisten können ehrten Damen! Sehr geehrte Herren! Zum Ende die- und leisten müssen und daß es nicht so ist, daß unser ser Debatte über den Justizhaushalt, dessen Größen- Rechtsstaat insgesamt unbezahlbar wäre. Denn ordnung schon mehrmals hier erwähnt worden ist, wenn Sie die Gesamthaushalte der Länder nehmen, darf ich mich bei den Berichterstattern für die sehr stellen Sie fest, daß sie bei 480 Milliarden DM liegen. gute, sachliche und konstruktive Beratung des klei- Davon entfallen auf die Justizausgaben in den Län- nen Haushalts bedanken. Er weist nicht nur wichtige dern insgesamt gut 16 Milliarden DM. Das macht Weichenstellungen auf, sondern enthält auch ein durchschnittlich 3,3 % in einem Landeshaushalt aus, Stückchen Glaubwürdigkeit insofern, als wir jegli- und davon entfallen ca. 5 bis 6 Milliarden DM auf chen Vorwürfen, wir hielten uns nicht an die Be- Gebühreneinnahmen von denjenigen, die dieses Sy- schlüsse der Föderalismuskommission, begegnen, stem nutzen und auch in Anspruch nehmen oder indem wir das auch textlich im Einzelplan 07 zum in Anspruch genommen werden. Letztendlich sind Ausdruck bringen. Deshalb darf ich Ihnen, Herr es dann rund 10 Milliarden DM aus allgemeinen Kolbe, aber auch Ihnen, Herr Weißgerber, klar sagen: Steuereinnahmen. Wir werden uns in vollem Umfang an die Beschlüsse der Föderalismuskommission halten. Das heißt, uns kostet die Justiz tatsächlich rund- herum ca. 10 Milliarden DM Steuergelder. Wenn Sie Wir gehen derzeit davon aus, daß beim Bundesge- das auf die Bürger insgesamt umrechnen, dann sind richtshof nicht neue Senate eingerichtet werden das 130 DM im Jahr. müssen, was zur Folge hätte, daß dann die Klausel gelten würde, wonach diese dann in Leipzig ihre Ar- Und dann frage ich Sie, meine Damen und Herren: beit aufnehmen würden. Aber wenn es einmal dazu Ist die Frage berechtigt, der Rechtsstaat sei unbe- käme - das ist eine Prognose, die Sie, Herr Kolbe, zahlbar? - Er ist es nicht. Er ist natürlich nicht belie- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995 2167

Bundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger big vergrößerbar. Es ist nicht möglich, weiter belie- vor drei Jahren diskutiert haben und das vor zwei big Stellen für Richter, für Staatsanwälte, für Beschäf- Jahren in Kraft getreten ist, kommt, ob man nicht in- tigte bei der Justiz zu schaffen - das wissen wir seit sofern die alten Vorstellungen, die dort damals erwo- vielen Jahren. gen worden sind, jetzt umsetzen sollte, um eine wirk- liche Entlastung zu erreichen? Aber der Kollaps der Justiz steht auch nicht kurz vor der Tür. Es ist nicht notwendig, zum Erhalt der Funktionsfähigkeit der Justiz jetzt zu tiefen Ein- Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundesmi- schnitten in rechtsstaatliche Grundsätze und in die nisterin der Justiz: Herr Geis, es ist richtig, daß das, Rechte derjenigen überzugehen, die vor Ge richt ste- was jetzt an Vorstellungen vorgebracht wird, alles hen, sei es in einem Strafprozeß, sei es in einem Zivil- alte Vorstellungen sind, denen man aus guten Grün- prozeß. den nach den Beratungen im Rechtsausschuß nicht entsprochen hat. Das, was im Bereich der Beschnei- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne dung von Rechtsmitteln, der Beschleunigung von ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Verfahren und auch bezüglich der Korrekturen im Deshalb freue ich mich über den breiten Konsens, Beweisantragsrecht schon gemacht worden ist, hat der in den Wortbeiträgen deutlich wurde, daß wir nach den bisherigen, noch nicht endgültigen Er- das, was jetzt im Moment im Bundesrat an Ein- kenntnissen nicht zu den Entlastungen geführt, die schränkungen im Strafverfahren, aber auch in ande- man bewirken wollte. ren Verfahrensrechten überlegt wird, hier nicht nur Das heißt: Warum sollten, wenn schon getroffene mit äußerster Zurückhaltung und Distanz gesehen Maßnahmen nicht das Ziel, das man damit verfolgen wird, sondern daß wir hier, glaube ich, weitgehend wollte, erreicht haben, mehr Maßnahmen in diese einer Meinung sind: Bevor nicht eine vernünftige Bi- Richtung mit einem Male dieses Ziel, das noch fern lanz über die Auswirkungen der Maßnahmen gezo- ist, ganz nahe sein lassen? Ich glaube also, daß es an- gen worden ist, die wir in der letzten Legislaturpe- gebracht ist, sehr kritisch und mit äußerster Distanz riode - 1993, 1994 - beschlossen haben, kann auch an den Katalog, der uns da präsentiert wird, heranzu- nicht vernünftig begründbar und mit Rechtstatsa- gehen. chen untermauert ein weiteres Gesetzgebungsver- fahren in Gang gesetzt werden. Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Frau Ministerin, (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne gestatten Sie noch eine Zwischenfrage? ten der SPD) Deshalb ist es so wichtig, daß wir uns mit den Er- Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundesmi- kenntnissen, die sich aus umfangreichen Berichten nisterin der Justiz: Ja. zur Struktur der Rechtsanalyse ergeben, gemeinsam beschäftigen. Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Bitte, Herr Kol- (Ina Albowitz [F.D.P.]: Von der SPD hat nie lege Bachmaier. mand geklatscht! - Gegenruf des Abg. Karl Diller [SPD]: Auch bei der CDU hat nie Hermann Bachmaier (SPD): Frau Ministerin, sind mand geklatscht!) Sie, nachdem heute bereits mehrmals von Bundes- ratsentwürfen oder Erwägungen des Bundesrats die - Auch Herr Geis ist gerade im Rechtsausschuß im- Rede war, bereit, hier einzuräumen, daß es bis dato mer sehr konstruktiv, wenn wir uns mit diesen wich- keinerlei Gesetzentwurf des Bundesrates zu weiteren tigen Fragen beschäftigen. verfahrensrechtlichen Schritten gibt und daß Gesetz- Wir müssen dann am Schluß einer solchen Bewer- entwürfe dieser Art noch nicht auf den Weg gebracht tung überlegen und prüfen, wo eine gesetzgeberi- worden sind? sche Maßnahme sinnvoll sein kann und wo nicht. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundesmi- Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Frau Kollegin, nisterin der Justiz: Im Bundesrat sind noch keine Be- gestatten Sie eine Zwischenfrage? schlüsse gefaßt worden, so daß uns jetzt noch keine Vorstellungen unmittelbar auf dem Tisch liegen. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundesmi- (Hermann Bachmaier [SPD]: Auch keine nisterin der Justiz: Ja, bitte. Anträge!) Es liegen nur einige Initiativen aus verschiedenen - Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Bitte schön, Sie Ländern vor, über die beraten wird. haben das Wort. Wenn man die Historie betrachtet und an die Jahre 1992 und 1993 denkt, wird unter den Justizministern (CDU/CSU): Frau Ministerin, würden Norbert Geis und Justizministerinnen wohl leider eher ein sehr Sie mir zugeben, daß sehr viele Vorstellungen zur breiter Konsens dafür gefunden, an der Schraube, Entlastung der Justiz aus den Beratungen und der die man einmal in Gang gesetzt hat, weiterzudrehen. Entscheidung des Bundestages nicht so verwirklicht worden sind, wie sie im Bundesrat vorgedacht wa- Ich bin Herrn Kleinert dankbar dafür, daß er un- ren, und daß deshalb seitens des Bundesrates die Kri- sere Auffassung deutlich gemacht hat, daß das wei- tik an dem Rechtspflegeentlastungsgesetz, das wir tere Gehen in diesen Furchen, auf diesen festen We- 2168 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995

Bundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger gen nicht richtig sein kann, daß wir uns vielmehr nern, die wir dazu zusammen mit Vertretern der Op- der sehr viel mühsameren Aufgabe unterziehen position geführt haben. In den letzten Tagen der Be- müssen, uns mit den Fragen zu beschäftigen, die zu ratungen, die wir sehr intensiv geführt haben, ist die einer Modernisierung der Justiz und zu einer Entla- Hauptverhandlungshaft nicht mit der nötigen Mehr- stung durch den Ausbau außergerichtlicher Streit- heit verabschiedet worden. beilegungen führen können. Dies hätte zur Folge, daß Verfahrensabläufe verkürzt werden, daß Orga- Deshalb werden wir uns überlegen, ob und zu wel- nisationsstrukturen moderner und effektiver werden chem Zeitpunkt dieses Thema noch einmal aufge- und griffen wird. Es ist ein Punkt der Koalitionsvereinba- rung und steht nach wie vor auf der Tagesordnung. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so Ich könnte mir denken, daß gerade Erfahrungen, die wie des Abg. Detlef Kleinert [Hannover] mit dem beschleunigten Verfahren im Verbrechens- [F.D.P.]) bekämpfungsgesetz gesammelt werden können, An- daß dann wahrscheinlich, gerade unter be triebswirt- haltspunkte bieten können, ob es notwendig und schaftlichen Gesichtspunkten betrachtet, mehr Ein- richtig ist, hier zu weiteren Veränderungen zu kom- sparpotential vorhanden ist, men. (Beifall des Abg. Gerald Häfner [BÜND Es gibt Vorschläge in anderen Bereichen, da ist die NIS 90/DIE GRÜNEN]) Palette sehr viel größer. Ich kenne auch Vorschläge aus den Kreisen der Opposition. Über sie werden wir als wir es mit einfachen Mitteln messen können. dann auch politisch kontrovers beraten. Dazu sind (Beifall bei der F.D.P. sowie des Abg. Nor dieses Gremium und andere da. Ich und meine Frak- bert Geis [CDU/CSU]) tion werden mit Sicherheit kein Hehl aus unserer Auffassung machen. Deshalb wird auch die Bundesregierung - sie hat die Grundlagen dazu mit den Gutachten, die sie in Damit ist meine Redezeit zu Ende. Ich habe keine Auftrag gegeben hat, geschaffen - alles tun, damit Gelegenheit, noch auf aktuelle Fragen der Rechts- unser Rechtsstaat und unsere rechtsstaatlichen Ver- politik einzugehen. Aber, Frau Däubler-Gmelin, Ihr fahren erhalten bleiben und Gesetze nicht in Hektik Appell, weniger Gesetze, einfachere Gesetze, lesba- beraten werden. Vielmehr sollten wir uns in Ruhe, rere Gesetze zu haben, ist - wie immer - auf frucht- mit Sorgfalt, aber auch mit der nötigen Intensität mit baren Boden gefallen. den Vorschlägen auseinandersetzen. Eines müssen wir jedoch in dieser Debatte festhal- ten: Vieles, was wir in der letzten Legislaturperiode Vizepräsident Hans - Ulrich Klose: Frau Ministerin, zur Vollendung der deutschen Einheit im rechtli- gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage? chen Bereich getan haben, war notwendig und rich- tig und konnte nicht immer mit dieser strengen Meß- latte gemessen werden. Gerade hier finden wir Sach- Sabine Leutheusser - Schnarrenberger, Bundesmi- nisterin der Justiz: Ja. verhalte vor, die es nicht gestatten, mit kurzen und wenigen Paragraphen den berechtigen Anliegen der davon Be troffenen Rechnung zu tragen. Vizepräsident Hans - Ulrich Klose: Herr Kollege Schily. Deshalb mußten das Sachenrechts- und das Schuldrechtsänderungsgesetz ein gewisses Volumen haben. Daß man jetzt nicht täglich darüber redet, Otto Schily (SPD): Frau Ministerin, Sie haben sich zu den Überlegungen in Kreisen der Landesjustizmi- zeigt ja, daß es gut zu funktionieren scheint. nister geäußert. Wie nehmen Sie denn zu den Vorha- Vielen Dank. ben der CDU/CSU unter Mitwirkung Ihres Kabi- nettskollegen Kanther Stellung, die dahin gehen, (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- eine Hauptverhandlungshaft einzuführen und die ten der CDU/CSU) Zuständigkeiten des BND zu erweitern? Und wie nehmen Sie zu dem BKA-Gesetzentwurf Stellung, der aus dem Hause Ihres Kabinettskollegen Kanther Vizepräsident Hans - Ulrich Klose: Ich schließe die stammt? Aussprache. Wir kommen zu den Abstimmungen. Wir stimmen zunächst über den Einzelplan 07,

Sabine Leutheusser - Schnarrenberger, Bundesmi- Bundesministerium der Justiz, ab. Wer stimmt für nisterin der Justiz: Um gleich beim letzten anzufan- den Einzelplan 07 in der Ausschußfassung? - Die Ge-- gen: Es handelt sich um einen Regierungsentwurf, genprobe! - Enthaltungen? - Der Einzelplan 07 ist der jetzt in den Ausschüssen beraten wird. Es wird mit den Stimmen der Fraktionen der CDU/CSU und noch Anlaß geben, sich sehr offen und sehr sachlich der F.D.P. gegen die Stimmen von BÜNDNIS 90/DIE mit einigen Punkten auseinanderzusetzen. Daran hat GRÜNEN, SPD und PDS angenommen. gerade die F.D.P.-Fraktion ein großes Interesse. Wer stimmt für den Einzelplan 19, Bundesverfas- Zu der Frage der Hauptverhandlungshaft: Es han- sungsgericht, in der Ausschußfassung? - Die Gegen- delt sich um einen Restanten aus dem Verbrechens- probe! - Enthaltungen? - Der Einzelplan 19 ist mit bekämpfungsgesetz, das im Dezember letzten Jahres breiter Mehrheit bei Stimmenthaltung der Gruppe in Kraft getreten ist. Es ist an die Beratungen zu erin der PDS angenommen. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995 2169

Vizepräsident Hans-Ulrich Klose Ich rufe auf: Wir blicken inzwischen auf fast fünf Jahrzehnte po- litischer und wirtschaftlicher Stabilität zurück. Dies Einzelplan 11 verdanken wir vor allem dem Einsatz der Arbeitneh- mer und Arbeitnehmerinnen in diesem Land, Bundesministerium für Arbeit und Sozialord- nung (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- ten der PDS) - Drucksachen 13/511, 13/527 -

Berichterstattung: den vielen Frauen, die die Familienarbeit machen - leider sind das in unserem Land noch immer über- Abgeordnete Dr. Konstanze Wegner wiegend die Frauen, den Gewerkschaften und einem Ina Albowitz immer noch leistungsfähigen und innovationsfreudi- Hans-Joachim Fuchtel gen Mittelstand. Dietrich Austermann Antje Hermenau Aber folgendes ist unübersehbar: Das System der sogenannten Sozialen Marktwirtschaft zeigt zuneh- Dazu liegen ein Änderungsantrag der Fraktion mend Mängel. Im letzten Jahrzehnt hat sich Armut in BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und neun Änderungs- unserem Land ausgebreitet. Die großen Wohlfahrts- anträge der Gruppe der PDS vor. Die Gruppe hat be- verbände haben darauf seit Jahren hingewiesen, und antragt, über einen Änderungsantrag namentlich ab- jetzt tun es auch die Kirchen. Das müßte eigentlich zustimmen. Nach unserer Geschäftsordnung kann gerade diejenigen unter den Regierungsparteien, die eine namentliche Abstimmung nur von einer Frak- sich christlich nennen, zum Nachdenken anregen. tion oder von mindestens 34 Abgeordneten verlangt werden. Ob der Antrag der PDS das erforderliche (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- Quorum erreicht, werde ich nach der Aussprache ten der PDS) feststellen. Laut Aussage der Arbeiterwohlfahrt sind von Ar- Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für mut heute vorrangig Kinderreiche, Arbeitslose, Al- die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. - Dage- leinerziehende, Kleinrentnerinnen, chronisch Kranke gen erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist es so be- und Obdachlose betroffen. 1994 hatten wir mit einem schlossen. Jahresdurchschnitt von 3,7 Millionen registrierter Ar- beitsloser den Höchststand der Arbeitslosigkeit nach Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle- dem Zweiten Weltkrieg. Daran beträgt der Anteil der gin Dr. Konstanze Wegner (SPD). Langzeitarbeitslosen - das ist besonders bedrük- kend - 1,2 Millionen. Nach Schätzungen der Wohl- fahrtsverbände sind derzeit etwa 10 % der Bevölke- Dr. Konstanze Wegner (SPD): Herr Präsident! rung dauernd und 15 % immer wieder, also zeit- Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gestatten Sie mir weise, von Armut betroffen. Ich glaube, mit einer sol- zunächst einige allgemeine Bemerkungen zur sozia- chen Bilanz kann man sich nicht einfach zufrieden- len Lage in Deutschland und zur gegenwärtigen Dis- geben. kussion um den Sozialstaat. Vor diesem Hintergrund möchte ich anschließend etwas zum Entwurf des (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- Einzelplans 11 und zu seinen Veränderungen, die er ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN im Zuge der Haushaltsberatungen erfahren hat, und der PDS) sagen. Von konservativer Seite ist nun immer wieder zu In dem Positionspapier zur wirtschaftlichen und so- hören, in Deutschland müsse ja niemand verhun- zialen Lage in Deutschland, das Verantwortliche der gern, deshalb sei Armut kein Thema für die Politik, evangelischen und der katholischen Kirche 1994 her- sondern höchstens eine Art überzogenen Anspruchs- ausgegeben haben, wird soziale Gerechtigkeit fol- denkens. Ein derartig verengter Armutsbegriff ist auf gendermaßen definiert: Deutschland nicht anwendbar - wenn überhaupt, Soziale Gerechtigkeit verlangt, daß alle Bürger dann auf die Verhältnisse in der Dritten Welt. an Lebens- und Entfaltungsmöglichkeiten der Gesellschaft teilnehmen können. Armut in Deutschland bedeutet heute - abgesehen von einer Minimalversorgung im Bereich Nahrung, Wird dieser Definition im Alltag des wiedervereinig- Kleidung und Wohnung - den fast völligen Verzicht ten Deutschlands des Jahres 1995 entsprochen? Ich auf Teilhabe am kulturellen und sozialen Leben; d. h. sage klipp und klar nein. Dieses Nein will ich auch Ausgrenzung aus der Gesellschaft, fehlende Entfal- begründen. tungsmöglichkeiten und Perspektivlosigkeit, und dies für immer mehr junge Leute. Um mich aber nicht dem Vorwurf einseitiger Schwarzmalerei auszusetzen, sage ich zu Beginn Eine solche Situation ist sozial ungerecht und kul- ausdrücklich, daß Deutschland insgesamt gottlob ein turell beschämend. wohlhabendes Land ist, in dem es etwa einem Drittel der Bevölkerung gut bis sehr gut und einem weiteren (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- Drittel zufriedenstellend geht. ten der PDS) 2170 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995

Dr. Konstanze Wegner Sie ist auch eine der Ursachen für den wiederauf- die Sozialhilfeempfänger zu nahe an die niedrigen kommenden Rechtsextremismus und die wachsende Lohngruppen heranrücken. Das liegt aber überhaupt Fremdenfeindlichkeit in unserem Land. nicht an etwa zu üppig bemessenen Sozialhilfesät- zen, sondern schlicht und einfach daran, daß wir seit (Zuruf von der CDU/CSU: Dummes Zeug!) Jahren einen völlig unzureichenden Familienlasten- ausgleich haben. - Das ist kein dummes Zeug. - Sie machen sich bei einer Politik, die diese Zusammenhänge ignoriert, (Beifall bei der SPD) mitschuldig am Abbau der demokratischen Substanz unseres Staates. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich wünschte mir einmal anstelle einer Stammtischdiskussion über So- (Beifall bei der SPD) zialmißbrauch und angeblich zu luxuriösen Sozialhil- fesätzen, daß in unserem Land ähnlich engagiert Damit setzen Sie die im Grunde positiven Leistun- über die Steuerhinterziehung diskutiert würde. gen, an denen Sie selbst mitgewirkt haben, aufs Spiel. Dazu komme ich noch. (Beifall bei der SPD und bei der PDS) Hier gehen dem Staat in der Tat jährlich dreistellige Wie läuft das denn im 13. Regierungsjahr des Milliardenbeträge verloren, und auf dieses Geld Kanzlers Kohl in Deutschland? wäre er angesichts der leeren Kassen und der horren- den Verschuldung, in die Sie uns geführt haben, (Ina Albowitz [F.D.P.]: Sehr gut! - Anke wirklich angewiesen. Fuchs [Köln] [SPD]: Diese Dickfelligkeit ist schon beachtlich!) (Beifall bei der SPD) Statt zu versuchen, die nun wirklich vielfach aufge- Zu Selbstgerechtigkeit besteht also nicht der ge- zeigten und analysierten Mängel zu beheben, wird ringste Anlaß in der deutschen Politik, auch nicht im in der Wirtschaft, in den Parteien, in den Medien und Bereich der Sozialpolitik. Die Regierungsparteien ha- an den deutschen Stammtischen eine teilweise aben- ben die Zunahme der Armut durch ihre Politik der teuerliche Diskussion über die Zukunft des Sozial- letzten Jahre entscheidend mit zu verantworten. staates geführt, der angeblich wegen des weit ver- breiteten Mißbrauchs sozialer Leistungen und des (Dietrich Austermann [CDU/CSU]: Ver- fehlenden Lohnabstandsgebots nicht länger finan- leumdung ist das! Unfug!) zierbar sei. Ich halte diese Diskussion für oberfläch- - Hören Sie nur zu, Herr Austermann! Mittels der so- lich und teilweise für regelrecht verlogen. Ich will genannten Konsonantengesetze FKP und SKWP ha- das hier ganz deutlich sagen. ben Sie 1994 allein im Sozialbereich rund 23 Mil- liarden DM gekürzt. Zur Zeit bereiten Sie eine wei- (Beifall bei der SPD) tere Kürzung im Bereich der Sozialhilfe und der Ar- Natürlich gibt es in allen großen Versicherungssy- beitslosenhilfe vor. Sie haben die sogenannte Ge- stemen Mißbrauch, und es ist die Pflicht der Verant- rechtigkeitslücke vergrößert, indem Sie die Kosten wortlichen - das ist in diesem Fall vor allem die Re- der Einheit zu großen Teilen über die Sozialversiche- gierung -, diese Mißbräuche zu verfolgen und dafür rungssysteme finanzieren und - das halten wir für zu sorgen, daß soziale Leistungen vor allem denen besonders verkehrt - indem Sie den Solidaritätszu- zugute kommen, die sie wirklich brauchen. schlag auch von den niedrigen und mittleren Ein- kommen erheben, die ohnehin seit Jahren verfas- (Julius Louven [CDU/CSU]: Nur, wenn wir sungswidrig zu hoch besteuert werden. darangehen, rufen Sie gleich „Verrat"!) (Beifall bei der SPD) - Ich bitte Sie, wer so laut über Sozialbetrug jammert Wie ist nun der Haushaltsplan des Ministeriums für wie Sie, sollte aber auch ehrlich genug sein, zur Arbeit und Sozialordnung vor diesem Hintergrund zu Kenntnis zu nehmen, daß zwei Drittel der Kosten des bewerten? Bevor ich mich einigen Schwerpunkten sogenannten Sozialbetrugs in unserem Land zu La- des Einzelplans zuwende, möchte ich mich bei mei- sten der Arbeitgeber gehen. nen Mitberichterstattern und beim Ministerium be- danken. Die Beratungen fanden in einer sachlichen (Beifall bei der SPD) und fairen Form statt, und das Haus hat uns zügig und korrekt zugearbeitet. Was das angeblich verletzte Lohnabstandsgebot angeht, so hat - das ist hier schon oft gesagt worden; (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) aber scheinbar muß man es immer wiederholen - eine vom Familienministerium in Auftrag gegebene Zunächst das Erfreuliche - es gibt ja nie nur Studie klar erwiesen - solange Herr Seehofer mir schwarz und weiß in der Politik -: Im Bereich der Ar- nicht das Gegenteil nachweist, werde ich daran fest- beitsmarktpolitik wurden einvernehmlich einige po- halten -, daß das Abstandsgebot in der Regel ge- sitive Zeichen gesetzt. Das ausgelaufene Langzeitar- wahrt ist und nur in etwa 10 % der Fälle, nämlich bei beitslosenprogramm wurde mit einem Gesamtvolu- den Familien unter den Sozialhilfeempfängern, die men von rund 3 Milliarden DM bis 1999 verlängert, viele Kinder haben, die Erstattung für Maßnahmen nach den §§ 249h und 242s AFG wurde um 240 Millionen DM aufge- (Zuruf von der SPD: Sehr viele!) stockt, die Modellmaßnahme zur Förderung neuer Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995 2171

Dr. Konstanze Wegner Wege in der Arbeitsmarktpolitik ebenso und gleich- muß es mit enormem Arbeits-, Kosten- und Publicity- falls auch die Zuschüsse zur Errichtung und Moder- aufwand mühsam wieder angekurbelt werden. nisierung von Pflegeeinrichtungen auf insgesamt 83 Millionen DM. (Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU]: Es läuft schon voll!) Jetzt kommt aber der negative Teil, lieber Kollege Fuchtel; denn ein Vielfaches von dem, was die Koali- - 6 Millionen DM habt Ihr Euch zusätzlich an Öffent- tion mit der einen Hand gegeben hat, hat sie mit der lichkeitsarbeit bewilligt. anderen durch die Kürzung des Zuschusses an die (Zuruf von der SPD: Pfui Teufel!) Bundesanstalt für Arbeit wieder weggenommen. Das ist auch der Hauptgrund, weshalb wir diesen Was wir brauchen, ist endlich Stetigkeit und Bere- Einzelplan ablehnen werden. Sie haben diesen An- chenbarkeit in der Arbeitsmarktpolitik und ein Ge- satz schon zu Anfang gegen den Willen der Mehrheit samtkonzept zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, des Verwaltungsrates um 3,5 Milliarden DM und in das u. a. auch eine Reform des - darauf haben meine der Bereinigungssitzung ganz zum Schluß auf Kollegen immer wieder hingewiesen - mittlerweile Wunsch des Finanzministers noch einmal um weitere völlig unlesbaren AFG und eine neue Regelung der 3,5 Milliarden DM auf insgesamt nur noch 8 Milliar- Arbeitszeit in Deutschland beinhalten muß. den DM gekürzt. Lassen Sie mich zum Schluß noch auf einige Ein- Wir sind überzeugt, daß diese Kürzungen durch zelpunkte eingehen. Die Eingliederungshilfen für die gegenwärtige Lage am Arbeitsmarkt nicht ge- Spätaussiedler dürfen künftig nicht noch weiter ge- rechtfertigt sind. kürzt werden. Andernfalls werden neue Gruppen von Sozialhilfeempfängern geschaffen, und damit (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE würde dann wieder einmal eine gesamtgesellschaftli- GRÜNEN und der PDS) che Aufgabe den Kommunen zugeschoben. Sie degradieren die Bundesanstalt für Arbeit damit Ihre Regierungskommission zur Durchleuchtung schlicht zum „Einsparschwein" des Bundesfinanzmi- des sozialen Systems, die Sie sich für 1,2 Millionen nisters. DM bewilligen wollen, lehnen wir schlicht ab. (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Unglaub (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ lich!) DIE GRÜNEN - Ina Albowitz [F.D.P.]: Wir tun etwas Gutes!) Die GRÜNEN haben den Antrag gestellt, den ur- sprünglichen Ansatz wiederherzustellen. Er ist in der Wir halten sie einfach für überflüssig. Im Bundesfi- Sache richtig. Aber leider haben Sie für die nanzministerium und im Bundesarbeitsministerium 3,5 Milliarden DM keinen Deckungsvorschlag vorge- steht hinreichender Sachverstand zur Verfügung, legt. liebe verehrte Frau Albowitz, wenn solche Fragen ei- ner Klärung bedürfen sollten. In Ihrer Regierung ist Bei der Bundesanstalt selbst sind 1994 insgesamt derzeit eine wahre Kommissionitis ausgebrochen. 2 Milliarden DM Mittel für Forschung, Umschulung und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, also ausge- (Beifall bei der SPD) rechnet für aktive Arbeitsmarktpolitik, nicht abge- flossen. Das ist wirklich ein Skandal, denn alles, was Wenn Sie nicht weiter wissen, setzen Sie eine Kom- hier versäumt und an der falschen Stelle eingespart mission ein, aber die Ergebnisse dieser Kommission worden ist, wird mit einer Erhöhung der Langzeitar- landen regelmäßig als Direktablage im Papierkorb. beitslosigkeit bezahlt werden müssen und letztlich in Das ist wirklich herausgeworfenes Geld, und es ist Ihren Haushalt zurückkommen und schließlich an außerdem eine Mißachtung der einbezogenen Wis- die Kommunen weitergedrückt werden. senschaftler. Um so unverständlicher ist, daß die Koalition den (Beifall bei der SPD - Ina Albowitz [F.D.P.]: Ansatz für die Arbeitslosenhilfe von ursprünglich Die meisten Gutachten beantragen die So- 19,4 Milliarden DM auf 18 Milliarden DM gekürzt zialdemokraten!) hat. Der Präsident der Bundesanstalt, Herr Jagoda - Der Mittelabfluß beim wichtigen Bereich Arbeits- sicher kein Linker -, hat im Fachausschuß vor einer Kürzung gewarnt und wörtlich gesagt: schutz ist unbefriedigend. Hier muß sich die Regie- rung stärker engagieren. Wenn das Presse- und In- Ich prognostiziere, daß die Arbeitslosenhilfe nicht formationsamt der Bundesregierung stolz „Zahl der rückläufig sein kann, weil die Langzeitarbeitslo- Arbeitsunfälle rückläufig" meldet, sollte es der Ehr-- sigkeit steigt. lichkeit halber auch erwähnen, daß die Anzahl der tödlichen Unfälle in den Betrieben um über 9 % ge- Die Arbeitsmarktpolitik dieser Regierung orien- stiegen ist und daß in Deutschland überhaupt nur ein tiert sich vollkommen an dem Prinzip „stop and go", Drittel aller Arbeiter und Arbeiterinnen gesund und und sie ist willkürlich und ohne erkennbare Konzep- in Arbeit befindlich das Rentenalter erreicht. tion. (Beifall bei der SPD) Bei der Öffentlichkeitsarbeit hat das Haus wieder zugeschlagen. Über 30 Millionen DM, abgesehen Sie hätten das Langzeitarbeitslosigkeitsprogramm von den Mitteln für Fachinformationen, stehen dem gar nicht erst auslaufen lassen dürfen, denn jetzt Ministerium zur Verfügung. Da werden wir wieder 2172 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995

Dr. Konstanze Wegner viele schöne Broschüren und Anzeigen mit Konter- Hans-Joachim Fuchtel (CDU/CSU): Herr Präsi- feis und Vorworten unseres Arbeitsministers zu se- dent! Meine sehr verehrten Damen und Herren! hen bekommen. Daran habe ich nicht die geringsten Wenn der Minister ein so großes Talent im Bereich Zweifel. der Öffentlichkeitsarbeit ist, dann müssen Sie doch auch zugeben, daß die Mittel gerade für einen sol- Beim Personalhaushalt sind die bescheidenen chen Mann besonders gut angelegt sind und nichts Wünsche des örtlichen Personalrats und des Haupt- dagegen spricht, wenn er im Sinne von uns allen die personalrats leider in keiner Weise berücksichtigt Sozialpolitik darstellen kann. worden. Die Koalition war bereit, beim Bundesar- beitsgericht drei zusätzliche befristete Stellen für den (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Aufbaustab in Erfurt zu genehmigen. Das war sicher Zu Beginn eine klare haushaltspolitische Aussage: eine richtige Entscheidung. Wer den Staatshaushalt ernsthaft sanieren möchte, Das Bundesarbeitsgericht wird eine der ersten Be- der muß auch die Sozialausgaben begrenzen. Ich hörden sein, die auf Grund des Beschlusses der Fö- habe gestern Frau Matthäus-Maier hier reden ge- deralismuskommission umzieht. Ich erinnere daran: hört, die leidenschaftlich dafür geworben hat, daß Die den dort Beschäftigten zugesagten sozialverträg- man die Schulden reduziert, die sich große Sorgen lichen Maßnahmen, nämlich Personalbörse und über die Lasten der Zinsen macht. Dazu muß ich sa- Wohnungsförderung, müssen eingehalten werden. gen: Wenn dem so ist, dann sollten wir uns darüber Der Umzug des Bundesarbeitsgerichts wird auch ein einig sein, daß man sparen muß. Testfall dafür werden, wie der Bund zu seinen Ver- Dann sollte man bei der Diskussion über den So- sprechungen im Zusammenhang mit dem beschlos- zialetat nicht einen solchen Zungenschlag in der Dis- senen Umzug nach Berlin steht. kussion haben, wie Sie ihn immer mit sich führen, nämlich einen Zungenschlag, der sagt: Wer im sozia- (Zuruf von der SPD: Wie sozial der Herr So len Bereich weniger Geld ausgibt, der schafft auf je- zialminister ist!) den Fall soziale Kälte. Dem ist nicht so. - Zum Minister komme ich gleich. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - Dr. Konstanze Wegner [SPD]: Doch, selbst- Niemand wird Minister Blüm echtes soziales Enga- verständlich!) gement absprechen. Aber, Herr Minister, Sie sind nicht nur ein engagierter Sozialpolitiker, Sie sind Ich möchte Ihnen hier den Umkehrschluß nennen. auch ein begnadetes Showtalent. Wenn Sie die Hand Das würde bedeuten, daß der größte Einzeletat mit aufs Herz legen und zum Himmel blicken, dann immerhin 130 Milliarden DM von jeder Diskussion kommt unweigerlich Rührung im Saal auf. über die Begrenzung der Ausgaben ausgenommen werden müßte. Das kann doch wohl nicht sein; denn (Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU]: Dann sonst kommen wir niemals zu einer Haushaltskonso- sind die Öffentlichkeitsmittel doch gut ein lidierung. gesetzt!) Meine Damen und Herren, wenn Sie tatsächlich Ihre Politik, Herr Minister, ist jedoch außerordent- der Meinung sind, wir müssen diesen großen Etat lich widersprüchlich. Einerseits bekennen Sie sich von den Einsparungen ausnehmen, dann hören Sie immer und überall zum Erhalt des Sozialstaats, ande- bitte auf, darüber zu reden, daß gespart werden soll. rerseits können wir Ihnen den Vorwurf nicht erspa- Hören Sie auf, über die Zinslast zu lamentieren; dann ren, daß Sie mit Ihrer Politik und der Politik der Re- ist es ehrlich. gierungsparteien, die Sie mitvertreten, auch zur Aus- höhlung und zum Abbau dieses Sozialstaats beitra- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU gen. und der F.D.P.) Bei den engen Verteilungsspielräumen ist doch (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne klar, zumindest ist es Norbert Blüm und auch mir ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN klar, auch Ihrem Kollegen Struck: Auf einer Glatze und der PDS) können Sie einfach keine Locken wickeln. Aus die- Eine solche Politik führt aber zur Ausgrenzung im- sem Grund müssen wir noch konsequenter als bis- mer breiterer Schichten unserer Bevölkerung und zur lang die Prioritäten formulieren. Wir müssen diese Stärkung extremistischer Kräfte. Was wir brauchen, Prioritäten auch in der Haushaltsgestaltung zum ist nicht Abbau und Aushöhlung des Sozialstaats; Ausdruck bringen. was wir brauchen, ist die Stärkung und die Moderni- Es heißt, es geht um neue, zukunftsorientierte Ar- - sierung des Sozialstaats. beitsplätze, und es geht darum, die sozialen Siche- rungssysteme so umzubauen, daß sie finanzierbar Vielen Dank. bleiben. Genau dem trägt der Einzelplan 11 Rech- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne nung. Nicht mehr und nicht weniger. ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei der CDU/CSU) und der PDS) Der große Unterschied zwischen dem, was Sie wol- len, und dem, was die Koalition möchte, ist doch

Vizepräsident Hans - Ulrich Klose: Das Wort hat der wohl, daß wir versuchen, die Belange der Wirtschaft Kollege Hans-Joachim Fuchtel (CDU/CSU). und des Sozialen zusammenzubringen. Das macht Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995 2173

Hans-Joachim Fuchtel sich auch in der Wortwahl bemerkbar. Sie reden Es ist gelungen, die Mittel auf die Hälfte der ur- ständig von der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. sprünglichen Ansätze zurückzufahren. Das ist eine Aber es ist viel wichtiger, davon zu reden, daß man hervorragende Leistung, die wir als CDU/CSU se- neue Arbeitsplätze schaffen möchte. hen. Wir bedanken uns bei den Mitarbeitern, daß sie so sorgfältig mit den Beiträgen umgegangen sind. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - Zuruf von der SPD: Wer ist denn an der Re (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - gierung?) Zurufe von der SPD) Meine Damen und Herren, dieses Beispiel zeigt Nur, wenn man diese Zusammenhänge darstellt, auch ganz klar, daß wir uns noch über Prioritäten wird deutlich, welchen Raum die Sozialpolitik ein- unterhalten müssen. Wenn es gelingt, mit weniger nehmen kann und daß eben erst wirtschaftlicher Er- Geld auszukommen, wenn mehr Geld da ist, dann folg eintreten muß, bevor das Geld ausgegeben wer- laßt uns doch einen Teil dieses Geldes in Bereiche den kann. Verteilen nach dem Motto, wir holen das geben, in denen es eine längerfristige Wirkung hat. Geld von der Bank, ist einfach. Aber erst dafür zu Wie lange haben wir uns beispielsweise um eine Er- sorgen, daß das Geld in die Kasse kommt, und dann höhung im Hochschulbau gestritten? 120 Millionen zu verteilen, das ist der Auftrag, den wir haben und DM sind dabei herausgekommen, aber wenigstens den wir gestalten müssen. sind 120 Millionen DM dabei herausgekommen. Wir haben in den 70er Jahren - - Wenn man völlig in dem anderen Bereich geblieben wäre, hätte man das nicht geschafft. Keiner wird be- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - streiten, daß es viele Bereiche gibt, in denen man bei [SPD]: Wir wußten schon im knappen Mitteln eben die richtige Verteilung vor- Ausschuß, daß du keine Ahnung von den nehmen muß. Wenn das Geld einmal für AB-Maß- Dingen hast, von denen du redest!) nahmen vergeben ist, holen Sie es nie mehr zurück. Es geht in den konsumtiven Bereich. Ansonsten - Ich habe dir schon einmal vor vielen Jahren gesagt, ginge es vielleicht in den Bereich der Investitionen. du sollst dich im Plenum vorsichtig äußern; das ist für Deswegen gilt es immer, abzuwägen, ob wir nicht dein Ansehen besser. Ich sage das heute wieder. noch mehr den investiven Bereich stärken müssen. Dann muß man den Mut haben, auch Ansätze bei (Zuruf von der SPD: Aber man kann die solchen Etats wie dem der Bundesanstalt für Arbeit Wahrheit sagen!) zu korrigieren. Allzu viele von der Sorte haben wir ja nicht. Es bleibt dabei: In den 70er Jahren ist das schon (Beifall bei der CDU/CSU) einmal, mißlungen. In Schweden ist es danebenge gangen. In Niedersachsen und in Hessen müssen Meine Damen und Herren, es gibt aber auch ord- ganz aktuell die sozialen Leistungen einkassiert wer- nungspolitische Gründe. Das möchte ich an dieser den, weil man nicht versteht, mit diesen Prinzipien Stelle ganz klar sagen. Es geht um die schwierige umzugehen. Gratwanderung, daß alles, was wir tun, auf den er- sten Arbeitsmarkt zuläuft, ohne daß unabhängig da- (Zuruf von der CDU/CSU: Wählerbetrug in von ein zweiter Arbeitsmarkt entsteht. Hessen! - Ina Albowitz [F.D.P.]: Wählerbe trug in Niedersachsen und in Hessen! - (Zustimmung der Abg. Ina Albowitz [F.D.P.] Weitere Zurufe von der F.D.P.) - [Köln] [SPD]: Dann nehmen Sie lieber Arbeitslosigkeit in Kauf!) Meine Damen und Herren, wir müssen am Beispiel Wenn wir das nämlich zulassen, arbeiten wir kontra- der Bundesanstalt für Arbeit sehen: Wenn wir nach produktiv. Der zweite Arbeitsmarkt muß immer vom dem Motto verfahren, es ist einmal so viel Geld da, ersten Arbeitsmarkt getragen werden. Wird rationali- dann muß es auch auf jeden Fall ausgegeben wer- den, dann machen wir nicht das, was richtig ist, näm- siert, weil die Kosten begrenzt werden müssen, so führt dies zur Abwanderung von Arbeitsplätzen oder lich die Mittel der Situation gemäß einzusetzen. eben dazu, daß die Rationalisierung Arbeitsplätze (Ina Albowitz [F.D.P.]: Spare in der Zeit, frißt. Das wollen wir nicht. dann hast du in der Not! - Gegenruf von (Beifall bei der CDU/CSU) der SPD: 40 Jahre hättet ihr sparen kön nen!) Meine Damen und Herren, noch ein kurzes Wort zu den leidenschaftlichen Anhängern der Theorie - Wenn man hergeht und sagt, wir haben jetzt der sozialen Verelendung. 17 Milliarden DM im Topf, und dann müssen diese 17 Milliarden DM auch ausgegeben werden, so heißt (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Das ist keine das doch nichts anderes, als daß man den Leuten, die Theorie, das ist die Praxis!) damit arbeiten müssen, weismachen möchte: Lege Es stimmt, auch in Deutschland gibt es viele Men- die Dinge großzügig aus, wenn du es sonst nicht al- schen, die von der Sozialhilfe und der Arbeitslosen- les ausgeben kannst. Das kann nicht Sinn einer spar- hilfe leben. Aber das ist keine Armut in dem Sinne, samen Politik - auch bei der Bundesanstalt für Ar- wie man sie in der Öffentlichkeit definiert. beit - sein. (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Haben Sie das (Zustimmung bei der CDU/CSU) Kirchenpapier nicht gelesen?) 2174 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995

Hans-Joachim Fuchtel Wir lehnen solche Darstellungen ab, weil man bei Heute sind wir froh, daß wir das erreicht haben. Es „Armut", so wie es von manchen Seiten immer wie- geht um die Kultur des sozialen Rechtsstaats, die ge- der formuliert wird, an Situationen in der Dritten sichert werden muß. Welt denkt. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Zuruf von der SPD: Was sagen Sie zum Kir chenpapier?) Meine Damen und Herren, insgesamt trägt der Haushalt, so wie er jetzt vorliegt, den aktuellen Be- Das ist sicher mit unserer Situation nicht vergleich- langen Rechnung. Er bekommt deswegen unsere bar. volle Unterstützung. Wir bedanken uns bei allen, die an der Vorbereitung beteiligt gewesen sind, beim Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Gestatten Sie Haus, beim Minister. Ich bedanke mich auch bei der eine Zwischenfrage der Kollegin Uta Titze-Stecher? Kollegin Dr. Wegner dafür, daß die Diskussion in die- sem Jahr erheblich fairer abgelaufen ist. Es wurde kein Mikrofon durchgebissen und ähnliches, wie wir Hans-Joachim Fuchtel (CDU/CSU): Bitte. das an dieser Stelle in anderen Jahren schon erlebt haben. Uta Titze-Stecher (SPD): Herr Kollege Fuchtel, ist Ihnen bekannt, daß Armut offiziell in der EU defi- (Zuruf von der CDU/CSU: Du bist ja noch niert wird als ein Tatbestand, der sich dann ergibt, gar nicht zu Ende!) wenn jemand nur über die Hälfte des durchschnittli- chen Einkommens in einem Land verfügt? Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU - Zuruf von der Hans-Joachim Fuchtel (CDU/CSU): Meine Damen SPD: Herr Geißler macht einen Termin mit und Herren, für mich ist ganz klar, daß Armut so defi- Ihnen wegen der Armut! - Gegenruf der niert werden muß, daß eine Grundlage zum Leben Abg. Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Das braucht besteht. Aber in bezug darauf behaupte ich, daß in er nicht! - Weiterer Zuruf von der F.D.P.: Wo Deutschland diese Grundlage durch die Sozialhilfe ist der Kollege Dreßler?) gegeben ist. Das ist nicht mit dem vergleichbar, was in der Dritten Welt unter Armut verstanden wird. Das ist für mich maßgebend. Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat die (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Kollegin Annelie Buntenbach (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN). 18,4 Milliarden DM Arbeitslosenhilfe sind zuviel; über 40 Milliarden DM Sozialhilfe sind zuviel. Wir müssen zu einer neuen Abgrenzung kommen. Ich Annelie Buntenbach (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sage ganz klar: Wir werden uns darum bemühen, NEN): Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Her- daß bei denjenigen, die arbeitsfähig sind - hören Sie ren! Wir wollen im Haushalt 1995 einen klaren gut zu, weil in diesem Satz einiges an Substanz ent- Schwerpunkt auf aktive Arbeitsmarktpolitik setzen. halten ist -, dem Leistungsbezug mehr als bisher Ein Patentrezept gegen Massenerwerbslosigkeit ist eine Gegenleistung in Form von Arbeit gegenüber- das nicht, aber es wäre ein Schritt in die richtige stehen muß. Es ist für mich ein Unding, daß wir im- Richtung. Konkret handelt es sich bei unserem Vor- mer noch über 200 000 ausländische Saisonarbeiter schlag um 130 000 Maßnahmen, die über die Bun- in den Sommermonaten in den verschiedensten Be- desanstalt für Arbeit mit 3,5 Milliarden DM zusätz- reichen brauchen, angesichts dieser Zahl von Ar- lich finanziert werden könnten. beitslosen. Auch hier muß sich etwas ändern. Wir müssen das zur Kenntnis nehmen und müssen bereit (Vorsitz : Vizepräsidentin Dr. Antje Voll- sein, eine solche Änderung durchzuführen. mer)

Es geht um die Akzeptanz des Sozialstaates. Es Wenn Sie, Herr Kollege, wirklich etwas gegen die wird deswegen noch wichtiger sein, in der Zukunft Kosten der Sozialhilfe und der Arbeitslosenhilfe, die das Angebot an sozialen Leistungen auch aus dem Sie hier vorhin noch einmal so eindrücklich in den Blickwinkel dessen zu sehen, der sie bezahlen muß. Raum gestellt haben, tun wollen, dann tun Sie etwas Man darf hier dem Minister ebenfalls für seine Be- gegen die Erwerbslosigkeit und nicht gegen die Er- mühungen um die Mißbrauchsbekämpfung Dank sa- werbslosen. - gen. 1,7 Milliarden DM sind hereingeholt worden durch viele Ideen, durch die Einsatzbereitschaft der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Mitarbeiter, aber auch durch den Mut des Ministers, sowie bei Abgeordneten der SPD und der der das gegen Widerstände von Ihnen - überlegen PDS) Sie einmal, was Sie noch vor zwei oder drei Jahren zu diesem Thema erzählt haben! - durchgesetzt hat. Diese 3,5 Milliarden DM für aktive Arbeitsmarktpoli- tik einzusetzen, das wäre ein klares Signal, daß sich (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Das ist Regie der Bundestag dem immensen Problem der Erwerbs- rungshandeln; das ist eigentlich selbstver losigkeit wirklich stellt. Das wäre ein klares Signal ständlich!) der Ermutigung für die Gesellschaft. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995 2175

Annette Buntenbach Diese Ermutigung ist bitter nötig. 3,6 Millionen Er- um das Ziel zu erreichen, das Sie und das wir alle im werbslose weisen allein die offiziellen Statistiken für Auge haben, nämlich Langzeitarbeitslosigkeit in das Jahr 1994 aus. Zur gleichen Zeit befanden sich Deutschland völlig zu beseitigen? rund eine Million Arbeitslose in Arbeitsbeschaf- fungsmaßnahmen, Fortbildung und Umschulung. Um den wirklichen Umfang des Problems zu er- Annelie Buntenbach (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- kennen, müssen wir die versteckt Erwerbslosen hin- NEN): Es handelt sich bei den Beträgen, die jetzt ein- zurechnen, die in den offiziellen Statistiken gar gesetzt sind, um jährlich durchschnittlich 45 000 nicht mehr auftauchen, z. B. die Frauen, die sich Maßnahmen, die aus diesen Mitteln entstehen. Aus nicht mehr erwerbslos melden, weil sie keine Lei- meiner Sicht ist eine zusätzliche aktive Arbeitsmarkt- stungen erwarten können und die Hoffnung auf Ar- politik dringend erforderlich, die wie bei dem Vor- beitsvermittlung inzwischen aufgegeben haben, schlag der Verwaltungsratsmehrheit der Bundesan- z. B. die Erwerbslosen, die mittlerweile zwischen stalt in diesem Falle für 130 000 zusätzliche Maßnah- den Sozialhilfeberechtigten verborgen sind. Nimmt men Mittel zur Verfügung stellt. 45 000 Maßnahmen man all dies zusammen, ergibt das die nieder- für Langzeitarbeitslose weiß ich wohl zu würdigen - schmetternde Zahl von sechs Millionen fehlenden das habe ich vorhin ja auch so dargestellt -, aber Arbeitsplätzen. nichtsdestotrotz reicht das aus meiner Sicht einfach nicht aus. Auch zusammen mit den anderen Lohnko- Ein Drittel der Erwerbslosen - zumindest der in stenzuschüssen ist es in Anbetracht der Größe des den Statistiken erfaßten - sind inzwischen Langzeit- Problems, das ich vorhin dargestellt habe, ein Trop- arbeitslose. Das bedeutet sozialen Abstieg, Verunsi- fen auf den heißen Stein. cherung, Perspektivlosigkeit für die Betroffenen und ihre Angehörigen, besonders in den Regionen, wo, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wie in den fünf neuen Ländern, die Erwerbslosen sowie bei Abgeordneten der SPD - Abg. Ina quote erschreckend hoch ist. Albowitz [F.D.P.] meldet sich zu einer Zwi- schenfrage) Was unternimmt die Bundesregierung angesichts dieses immensen Problems? Viel ist es wahrlich Lassen Sie mich meine Argumentation jetzt lieber nicht. Sie haben immerhin das Programm „Lohnko- - stenzuschuß für Langzeitarbeitslose" wieder aufge- zu Ende führen. legt. (Ina Albowitz [F.D.P.]: Ich komme nach Ih- (Ina Albowitz [F.D.P.]: Immerhin 3 Milliarden nen!) DM!) - Sie kommen nach mir dran. Dann können Sie Ihre - Immerhin. Das reicht aber bei weitem nicht aus. Sachen ja sicherlich noch bringen. (Ina Albowitz [F.D.P.]: Haben Sie alle kein Verhältnis zum Geld? - Hans-Joachim Neben diesem Langzeitarbeitslosen-Programm set- Fuchtel [CDU/CSU]: Sagen Sie mal, wo das zen Sie auf alte, unbewährte Rezepte, d. h. Entla- Geld herkommen soll!) stung, gesamtgesellschaftlich gesehen Umverteilung zugunsten der Unternehmer, die dieses Geld seit Ich will hier auch nicht die indiskrete Frage stellen, Jahren entweder auf der hohen Kante liegen haben was Sie überhaupt dazu getrieben hat, dieses Pro- oder in beschleunigte Rationalisierungen investieren, gramm aus dem Haushalt zu streichen aber offensichtlich nicht in Arbeitsplätze. (Dr. [PDS]: Eben!) Ihr zweites Rezept wie immer in den letzten

- bei all dem Lob, das Sie sich in dieser Richtung für . 13 Jahren heißt Konjunkturaufschwung. Daß Sie seinen Erfolg selber gespendet haben. Oder wollen noch immer an das Märchen glauben, daß mit einem Sie sich vielleicht den Spielraum mit den Sozialpart- Aufschwung der Konjunktur auch die Menschen nern offenhalten, die man ja auch nicht ohne Erfolg wieder von der Straße kommen, zeigt sich schon wieder heimschicken kann? darin, wie Sie die Erwerbslosenzahlen für diesen Haushaltsentwurf heruntergerechnet haben. Aber auch Sie müssen sich endlich der bitteren Erfahrung Gestatten Sie Vizepräsidentin Dr. : und Erkenntnis stellen, daß der Aufschwung am Ar- eine Zwischenfrage der Kollegin Babel? beitsmarkt vorbeigeht. - Annelie Buntenbach (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Nach 13 Jahren angebotsorientierter Wirtschafts- NEN): Ja. politik hat sich die Erwerbslosenzahl über immer hö- here Sockelarbeitslosigkeit nach jeder Konjunktur- krise inzwischen auf einen historischen Höchststand Bitte. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: geschraubt. Gerade nach fünf Jahren deutsch-deut- scher Vereinigung müßten doch auch Sie begriffen Dr. Gisela Babel (F.D.P.): Frau Kollegin, Sie bekrit- haben, daß kein Gesundbeten hilft, keine pauscha- teln die Höhe der Beträge für dieses Programm ge- len Entlastungen der Industrie, keine Gießkannen- gen Langzeitarbeitslosigkeit. Wie hoch müßten Ihrer subventionen, sondern daß politisches Eingreifen, Meinung nach die Beträge für das Programm sein, politisches Handeln gefordert ist. 2176 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995

Annelie Buntenbach Es ist bekannt, daß wir die Orientierung am Wirt- Zweitens. Wir brauchen Investitionen für den öko- schaftswachstum aus vielen Gründen kritisieren. logischen Umbau z. B. eine umweltverträgliche Aber völlig unabhängig davon, wie Sie Wirtschafts- Energieversorgung oder die Verlagerung der Ver- wachstum bewerten: Es ist einfach ein Faktum, dem kehrsströme auf die Schiene. Das würde per saldo ei- Sie sich stellen müssen, daß Wirtschaftswachstum nen deutlichen Zuwachs an Arbeitsplätzen bedeu- und Beschäftigung inzwischen entkoppelt sind. ten.

Wenn wir von dieser Realität ausgehen, dann stellt Drittens. Wir halten öffentlich geförderte Arbeit sich die Frage: Welche politischen Hebel stehen uns nicht für ein Allheilmittel, aber Sie müssen sich doch zur Verfügung, um gegen die andauernde Beschäfti- fragen lassen: Wie viele dringliche öffentliche Aufga- gungskrise vorzugehen, und zwar mit dem Ziel, daß ben gerade im Umwelt- und Sozialbereich bleiben im alle Frauen und Männer, die dies wünschen, durch Moment liegen, werden auf die lange Bank gescho- existenzsicherndes Erwerbseinkommen am gesell- ben, obwohl allen klar ist, daß hier langfristig im- schaftlichen Reichtum teilhaben können, auch wenn mense Probleme und Folgekosten entstehen? das kaum Vollbeschäftigung bedeuten kann? Der Widersinn liegt doch auf der Hand: Millionen (Zuruf von der F.D.P.: Woher kommt das Menschen stehen mit ihren Qualifikationen und ihrer Geld?) Energie auf der Straße. Die gesamtfiskalischen Fol- - Ich habe von dem Ziel gesprochen. Ich habe nicht gekosten der Erwerbslosigkeit liegen jährlich in drei- davon gesprochen, daß unser Antrag imstande wäre, stelliger Milliardenhöhe, und genau das unterschla- dieses Ziel an dieser Stelle zu realisieren. gen Sie ständig, meine Damen und Herren von den Regierungsfraktionen. Gleichzeitig bleibt dringende Unser Antrag ist ein Schritt in diese Richtung. Ich und sinnvolle Arbeit liegen. Diese Arbeit muß in er- möchte gerne eine Grundsatzentscheidung für diese heblicher Größenordnung öffentlich organisiert wer- Richtung. Ich möchte, daß diese Entscheidung hier in den. diesem Bundestag fällt, weil ich das für ein Signal der Ermutigung in die Gesellschaft hinein halte. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) PDS)

Ich habe nicht behauptet, daß wir hiermit ein Patent- Öffentlich geförderte Arbeit - aktive Arbeitsmarkt- rezept vorlegen. Aber mit dem Schritt in die richtige politik - ist außerdem der Bereich, der von dieser Richtung unterscheiden wir uns immerhin sehr von Stelle hier direkt beeinflußt werden kann, also auch Ihnen. der erste Maßstab für das Engagement der Regie- (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Sehr wahr!) rung gegen Erwerbslosigkeit. Sich dem Problem der strukturellen Massenerwerbslosigkeit in seiner gan- Erstens. Wir brauchen eine Umverteilung der vor- zen Schärfe zu stellen wäre ein erster Schritt für die handenen Erwerbsarbeit durch eine umfassende, Politik, Glaubwürdigkeit in der Bevölkerung zurück- generelle Arbeitszeitverkürzung und die Ausnut- zugewinnen. zung aller Mittel zur Arbeitsumverteilung, soweit sie - das muß ich in diesem Haus besonders betonen - Genau das tun Sie nicht, wenn Sie in Ihrem Haus- sozialverträglich sind. haltsentwurf gläubigen Optimismus zum Programm machen. Ihrem Zahlenwerk liegt die Annahme zu- (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Das ist genau das- grunde, daß die Erwerbslosenzahlen deutlich zu- selbe, was die SPD immer sagt! - Ottmar rückgehen werden. Schreiner [SPD]: Wachset und mehret euch, heißt es in der Bibel! - Ina Albowitz [F.D.P.]: (Ina Albowitz [F.D.P.]: Tun sie ja auch!) Aber nicht mit jedem!) Das scheint mir aber weniger durch die wirtschaftli- - Sind Sie jetzt fertig? Kann ich weiterreden? chen Fakten begründet, sondern durch Ihr Ziel, die Ich wiederhole: Wir brauchen eine generelle Ar- Nettokreditaufnahme herunterzurechnen. Hier ist beitszeitverkürzung und die Ausnutzung aller Mittel aus meiner Sicht der Haushalt ein ungedeckter zur Arbeitsumverteilung, soweit sie - das möchte ich Wechsel auf eine rosige Zukunft, auf blühende Land- in diesem Hause besonders betonen - sozialverträg- schaften, an die niemand mehr glaubt. lich und mit den Interessen der Beschäftigten und Er- werbslosen vereinbar sind. (Ina Albowitz [F.D.P.]: Diese Debatte hatten wir auch im letzten Jahr schon!) (Julius Louven [CDU/CSU]: Bei vollem Lohnausgleich?) Wenn Sie sich in Ihrem Zweckoptimismus irren - davon gehe ich und, ich glaube, gehen auch Sie aus -, Dies ist nicht nur Sache der Tarifparteien, sondern wird Ihnen am Jahresende die Rechnung präsentiert auch der politischen Rahmenbedingungen, die von werden. hier aus gesetzt werden - z. B. ein Arbeitszeitgesetz, das die Höchstarbeitszeit drastisch begrenzt, anstatt (Ina Albowitz [F.D.P.]: Der „Zweckoptimis- sie auszuweiten, oder eine restriktive Regelung von mus" hat uns im letzten Jahr 4,7 Milliarden Überstunden. DM erspart!) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995 2177

Annette Buntenbach - Sie wissen doch genau, warum die Gelder zurück- Außerdem liegen Risiken und Nebenwirkungen die- geflossen sind. Das liegt einerseits daran, wie die ser untertariflichen Bezahlung auf der Hand und sind Vergaberichtlinien aussehen, und andererseits gewollt. Die Situation derjenigen, die sich am daran, daß die Bundesanstalt zum ersten Mal auf de- schlechtesten wehren können, wird ausgenutzt, um zentrale Vergabe umgestellt hat. über das Einfalltor des zweiten Arbeitsmarktes auch auf dem ersten Arbeitsmarkt Standards auszuhöhlen (Ina Albowitz [F.D.P.]: Wir reden nicht von und das Lohnniveau weiter abzusenken. Privatvermögen, sondern von Steuergel dern!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Bei den heruntergerechneten Ansätzen müssen Sie Mit jeder Aushöhlung der Mindeststandards verfol- sowieso nachbewilligen, soweit es um Pflichtaufga- gen Sie ein Ziel, nämlich die Menschen dahin zu trei- ben geht. Ich befürchte nur, es handelt sich nicht nur ben, daß sie jede Arbeit zu jedem Preis und zu jeder um eine rein rechnerische Haushaltsbeschönigung - Bedingung annehmen. darum sicher auch -, sondern um ein deutliches Zei- chen dafür, daß Sie sich aus Ihrer Pflicht stehlen wol- (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Das wollte die len und die rechtlichen Grundlagen verändern, um F.D.P. schon immer!) die Leistungen für Erwerbslose ein weiteres Mal zu beschneiden. Wie so etwas geht, führt gerade Mini- Darum stehen wir ein für branchenübliche Tariflöhne ster Seehofer beim Asylbewerberleistungsgesetz vor, und für entsprechende Absicherung auch im zweiten und zwar in der widerlichsten Tradition der Asylde- Arbeitsmarkt. batte. Eine Wirtschafts- und Sozialpolitik, die über Dere- Herr Waigel verfolgt seit Jahren den Plan, die Be- gulierung und Senkung der Erwerbseinkommen ei- zugsdauer der Arbeitslosenhilfe auf zwei Jahre zu nen Wachstumsschub und sich dann davon noch Be- begrenzen. Dieser Plan ist immer noch nicht vom schäftigungseffekte verspricht, ist zum Scheitern ver- Tisch, obwohl er nichts anderes bedeutet als eine urteilt. Die Ökonomie ist doch kein Heißluftballon, weitere Belastung und Ausgrenzung der Langzeitar- der durch den Abwurf des vermeintlichen Ballasts beitslosen und eine Verschiebung von Kostenstellen von existenzsichernden Löhnen, Arbeitnehmerrech- weg aus dem Bundeshaushalt hin zu den Kommu- ten und sozialer Sicherheit an Höhe gewinnt. Das ist nen. nun wirklich keine Politik gegen Arbeitslosigkeit, die diesen Namen verdient, sondern Ihre Politik besteht Daß im Rahmen der Reform von Arbeitslosenhilfe im wesentlichen aus folgenden Faktoren: Sie rech- und Sozialhilfe weitere Kürzungen beabsichtigt sind, nen das Problem herunter, Sie setzen gegen jede Er- haben Sie schon wiederholt angekündigt. fahrung auf Konjunkturaufschwung, Die Botschaft all dieser Maßnahmen und Debatten (Walter Hirche [F.D.P.]: Und Sie setzen auf ist, daß Arbeitslose gar nicht arbeiten wollten, ihnen Konjunkturabschwung!) gehe es noch viel zu gut, und wer wirklich wolle, der finde ja etwas. Wo, frage ich Sie da nur, wo bei die- Sie grenzen aus und machen die Betroffenen zur sen 6 Millionen fehlenden Stellen? Verschiebemasse zwischen Kostenstellen. Sie schie- ben den Leuten selbst die Schuld zu. (Zuruf von der F.D.P.: In der Schattenwirt schaft!) Mit einem Schritt in Richtung auf mehr Solidarität hat das gar nichts zu tun. Im Gegenteil, das ist eine Das ist genau wie bei der damit im Zusammenhang Fortsetzung Ihrer bekannten Politik der Entsolidari- stehenden Debatte über sogenannten Sozialmiß- sierung. Aber genau dieser Schritt zu mehr Solidari- brauch eine abgrundtief zynische Verdrehung der tät, dieses Signal der Ermutigung, ist dringend nötig. Tatsachen. Zum Schluß noch eine Anmerkung an die Adresse (Zuruf von der F.D.P.: Was sagen Sie zu den der Kolleginnen und Kollegen der PDS. Dieser Saisonarbeitern, die wir brauchen?) Schritt wird deshalb nicht größer, weil der Betrag da- Um sich selbst aus der politischen Verantwortung für für höher angesetzt wird. Abgesehen von dem Auf- die Zustände in diesem Land zu stehlen, machen Sie schrei unserer Haushaltsexperten und -expertinnen, die Opfer zu Tätern, und so sehr wir das Anliegen ihres Antrages teilen, macht es doch wenig Sinn, Gelder anzusetzen, für (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) deren Verausgabung im Moment die Grundlagen fehlen. Bei den augenblicklichen Vergabebedingun- als wären die Arbeitslosen selbst schuld, als bräuch- - gen besteht dafür keine reelle Chance. Deshalb bit- ten sie Anreize, um wieder in den ersten Arbeits- ten wir um Unterstützung für unseren Antrag. markt zu gehen. Denn genau das unterstellen Sie mit der untertariflichen Bezahlung im zweiten Arbeits- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) markt. Glauben Sie denn wirklich, irgend jemand bliebe freiwillig im zweiten Arbeitsmarkt und han- gele sich befristet von Maßnahme zu Maßnahme? Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat Wir brauchen keine Anreize für Arbeitslose, wir jetzt die Kollegin Ina Albowitz. brauchen Arbeitsplätze. (Ottmar Schreiner [SPD]: Jetzt kommt der (Ina Albowitz [F.D.P.]: Das ist sehr wahr!) Markt zu Wort!) 2178 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995

Ina Albowitz (F.D.P.): Frau Präsidentin! Meine sehr Auch wenn die Opposition das jetzt gerne unter verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen den Tisch fallen lassen würde - die Kollegin hat dies und Kollegen! Der Einzelplan des Bundesministers noch einmal nachdrücklich belegt -, möchte ich noch für Arbeit und Sozialordnung ist mit 129 Milliarden einmal ausdrücklich darauf hinweisen, daß der Bun- DM im Gesamthaushalt für 1995 nach wie vor der deszuschuß an die Bundesanstalt für Arbeit in 1994 dickste Brocken - der Haushalt, nicht der Minister, um 7,4 Milliarden DM geringer ausgefallen ist, als obwohl vom schlanken Staat - - Aber das machen ursprünglich veranschlagt und etatisiert. Flankiert wir nachher. werden die Zahlen 1995 durch die nach oben gerich- tete Korrektur der bisherigen Wirtschaftsannahmen, Der Bund gibt jede dritte Mark für soziale Belange nach denen im Westen von einer Arbeitslosenzahl aus, und dies trotz der Kürzungen, die der Haushalts- von 2,4 Millionen und im Osten von 1 Million ausge- ausschuß vorgenommen hat. Ich finde, daß wir uns gangen wird. Die Ausgabenentwicklung der Bundes- damit sehen lassen können. anstalt deuten auf eine günstigere Entwicklung des Die meisten Mittel werden erneut für die Sozialver- Finanzbedarfes in 1995 hin, so daß nach vorsichtigen sicherung einschließlich Bundeszuschüssen für die Berechnungen in 1995 über die schon beschlossene Rentenversicherung, die Arbeitsmarktpolitik sowie Kürzung von 3,5 Milliarden DM hinaus weiter einge- den Kriegsopferhaushalt zur Verfügung gestellt. Da- spart werden kann. mit sind über 90 % der Mittel durch Gesetze gebun- Die in der Koalitionsvereinbarung vorgesehene den, entziehen sich also tagespolitischen Erwägun- Neustrukturierung der Bundesanstalt für Arbeit wird gen. in Zukunft noch mehr Effizienz bei der Arbeitsver- Die Tatsache, daß wir auf Grund des späten Ter- mittlung bringen. mins der Bundestagswahl 1994 erst zum jetzigen (Beifall bei der F.D.P. sowie des Abg. Diet- Zeitpunkt dazu kommen, den Haushalt zu lesen und rich Austermann [CDU/CSU]) zu verabschieden, hat neben all den negativen Aus- wirkungen auch einen positiven Effekt. Die konjunk- Einen ersten Schritt auf diesem Weg haben wir im turelle Entwicklung in Deutschland hat sich im Haushaltsausschuß bereits getan: Zehn ausgesuchte Laufe der letzten Wochen und Monate erheblich ver- Arbeitsämter können im laufenden Jahr mit einem bessert. So gibt uns diese positive Entwicklung auch dafür frei verfügbaren Budget auf die aktuellen Be- die Möglichkeit, sparsam zu wirtschaften, ohne so- dingungen ihres Vor-Ort-Arbeitsmarktes reagieren. ziale Leistungssysteme unzulässig zu beeinträchti- Wir sind sehr gespannt, welche Bilanz wir im näch- gen. sten Jahr aus diesem Modellversuch ziehen können. (Beifall bei der F.D.P.) Meine Damen und Herren, lassen Sie mich ganz Angesichts des Konjunkturaufschwungs und der da- deutlich sagen: Das Problem Arbeitslosigkeit lösen mit verbundenen Belebung am Arbeitsmarkt müssen wir nicht mit unendlichen Beschäftigungsprogram- wir uns aber weiter bemühen, diesen Trend fortzuset- men, wie sie auch heute morgen unendlich gefordert zen bzw. zu beschleunigen. Für die F.D.P. steht eine wurden. effektive Arbeitsmarktpolitik ganz oben auf der Prio- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- ritätenliste. ten der CDU/CSU) (Zurufe von der SPD) Für uns Liberale ist klar: Wir wollen keinen zweiten - Gut, daß wir uns einig sind. - Jeder weiß, daß eine Arbeitsmarkt; er nützt den Menschen nichts und ist derart hohe Arbeitslosigkeit, wie wir sie in den letz- im übrigen auch nicht finanzierbar. Was wir brau- ten Jahren hatten, Gift für den Sozialstaat ist. chen, sind neue dauerhafte Arbeitsplätze, nicht aber (Gerd Andres [SPD]: Donnerwetter!) neue staatlich finanzierte Arbeitsprogramme. Der Tiefpunkt ist zwar überschritten, aber es gibt (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: auch aus unserer Sicht keinen Grund zum Jubilieren. Sehr richtig!) Wir werden auch weiterhin hohe Arbeitslosenzahlen Ein besonderes Problem ist die Langzeitarbeitslo - haben. Dies schönzureden ist den Menschen, die da- sigkeit in unserem Land. Wie wir wissen, trifft sie vor von betroffen sind, und dem Problem nicht angemes- allem Menschen, die schon ein längeres Berufsleben sen. hinter sich haben, also auch über viel Erfahrung ver- (Peter Dreßen [SPD]: Bekämpfen müssen fügen. Für mich - ich sage das nur ganz persönlich wir das!) für mich - ist es unverständlich, daß in unserer Ge- sellschaft ein derartiges Erfahrungspotential nicht Deshalb eignet sich die Arbeitsmarktpolitik nicht genutzt wird bzw. ungenutzt ausgesondert wird. im geringsten zur parteipolitischen Spielwiese. Deshalb sollten wir die derzeitige Phase des Wirt- schaftsaufschwungs nutzen, das Problem der Lang- (Beifall des Abg. Dr. Edzard Schmidt-Jortzig zeitarbeitslosigkeit besser in den Griff zu bekommen. [F.D.P.]) (Beifall bei der F.D.P. sowie des Abg. Hans- Hinter jeder Finanzierung von Weiterbildung, Um- Joachim Fuchtel [CDU/CSU]) schulung, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen - um nur einige Beispiele zu nennen - steht unsere Pflicht, de- Unser Ziel ist es, Einstellungsentscheidungen zu- nen zu helfen, die durch den Verlust ihres Arbeits- gunsten der Betroffenen zu fördern. Ich bin deshalb platzes in Not geraten sind. froh, daß die Aktion „Beschäftigungshilfe für Lang- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995 2179

Ina Albowitz zeitarbeitslose" bis 1999 fortgesetzt werden kann. Sicherlich würden wir Liberalen die Sozialpolitik in Für 1995 sind 375 Millionen DM etatisiert. Frau Kol- einigen Punkten zielgenauer und effektiver gestal- legin Buntenbach, wenn ich Ihnen einen kleinen ten. Nachhilfeunterricht geben kann: Damit sind 180 000 (Widerspruch von der SPD) Maßnahmen beabsichtigt. Vielleicht lassen Sie sich da von den Kollegen oder vom Ministerium noch ein- - Ja, das ist so. Wenn Ihr das tätet, wäre hier Chaos. - mal aufklären. Nach wie vor werden in Deutschland zu viele Einzel- sozialleistungen ausgeschüttet. Die Entscheidungs- (Beifall bei der F.D.P. sowie des Abg. Hans befugnisse sind auf zu viele staatliche Stellen ver- Joachim Fuchtel [CDU/CSU]) teilt. Nach wie vor bleibt selbst dem Fachmann im Dickicht der Steuer- und Genehmigungsvorschriften Das Gesamtprogramm ist bis 1999 mit rund 3 Milliar- die Sicht versperrt. Manchmal blickt halt keiner den DM angelegt. mehr durch. Wir werden uns weiter darum bemühen, diesem Übel abzuhelfen. Wichtig erscheint mir in diesem Zusammenhang, daß natürlich auch andere Wege, abseits von staatli- Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum chen Programmen und Initiativen, zu beschreiten Abschluß noch auf einen Punkt hinweisen. In letzter sind, um das Problem der Arbeitslosigkeit zu mil- Zeit häufen sich wieder die Meldungen über die an- dern. Für ganz wichtig halte ich die Anstrengungen gebliche Unsicherheit unserer Renten. Es läßt sich zur effektiveren Gestaltung der Arbeitsvermittlung. nicht von der Hand weisen, daß die demographische Minister Blüm hat in einer Sitzung des Haushaltsaus- und die wirtschaftliche Entwicklung unserer Gesell- schusses die Auffassung geäußert, daß das in einigen schaft Probleme mit sich bringen. Ich halte es aller-

Bundesländern schon angelaufene START- Pro- dings für unseriös und gefährlich, wenn heute die gramm dazu einen Beitrag leisten kann. Dieser Mei- Beitragslast für die Sozialversicherung im Jahr 2040 nung schließe ich mich vom Grundsatz her an. als Argument für das Scheitern unseres Sozialsy- stems herangezogen wird. (Dr. Konstanze Wegner [SPD]: Aber wir müssen entsperren!) (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- ten der CDU/CSU - Dr. Wolfgang Weng - Wart's ab, ich sage ja gleich etwas dazu. [Gerlingen] [F.D.P.]: Das hat die Bundes- bank nicht getan!) Das START-Programm birgt allerdings auch Gefah- ren. Das Prinzip solcher Vermittlungstätigkeit ist - Doch, auch. - Nackte Statistik reicht bei weitem nämlich, daß der Arbeitgeber keinerlei Verpflichtun- nicht aus, um den Wert unseres Generationenvertra- gen eingeht. Der Arbeitslose hat also keine Garantie, ges einzustufen. Aber wir können und sollten nicht daß ihm auf Dauer geholfen wird - außer daß er an die Augen vor den warnenden Hinweisen verschlie- START zurückgegeben wird. ßen, von Prognos, der Bundesbank und der Bundes- versicherungsanstalt. Nur wenn wir uns den Proble- Der Versuch, Vorurteile gegenüber Langzeitar- men stellen und sie nicht verniedlichen, werden wir beitslosen abzubauen, ist mit Sicherheit begrüßens- sachgerecht mit ihnen umgehen. Deshalb sollten wert. Wir müssen allerdings aufpassen, daß wir bei Zahlen, die sich auf einen realistischen Zeitraum be- den sogenannten START-Gesellschaften keine neue ziehen, in unsere Planung einfließen. Art von Beschäftigungsgesellschaften schaffen. Betrachtet man den Etat des Einzelplanes 11 als Nach den vielen Fragen zu diesem Komplex, die Ganzes, steht für mich fest: Die Koalition hat ihre bei den Beratungen im Ausschuß nicht restlos ge- Hausaufgaben gemacht, nämlich den Balanceakt klärt werden konnten, gehe ich allerdings jetzt da- zwischen finanzpolitischem Zwang und sozialpoliti- von aus, daß wir die gesperrten 2,6 Millionen DM scher Notwendigkeit ordentlich abzuliefern. schnellstmöglich wieder entsperren können, damit (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- START auch wirklich durchstarten kann. Zufrieden, ten der CDU/CSU) Konstanze? Ich bedanke mich bei Herrn Minister Blüm, den (Dr. Konstanze Wegner [SPD]: Jawohl!) Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern seines Hauses. Auf weitere gute Zusammenarbeit, Herr Minister! - Wunderbar. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Wir werden aber schon zum Haushalt 1996 genau überprüfen, ob dieses Projekt Früchte trägt oder nur - Kosten verschlingt. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Heidi Knake-Werner. Aber, meine Damen und Herren, was nützen uns all unsere Bemühungen, wenn sich die Tarifparteien Dr. Heidi Knake-Werner (PDS): Frau Präsidentin! auch nicht mit Ruhm bekleckern? Gerade in den letz- Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Kollegin Al- ten Wochen konnte man wieder einmal den Eindruck. bowitz, ich beneide Sie manchmal um Ihre Selbstzu- gewinnen, daß sie hier eher ein Kartell der Arbeits- friedenheit. Das muß ich schon sagen. platzbesitzer als ein Mitstreiter im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit sind. Dennoch bin ich der Meinung, (Dr. Konstanze Wegner [SPD]: Selbstgefäl- daß unser Sozialstaat auf solidem Fundament steht. ligkeit!) 2180 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995

Dr. Heidi Knake-Werner Der hier zur Debatte stehende Haushalt des Mini- Genau das ist der Grund, warum wir diesen Antrag steriums für Arbeit und Sozialordnung spielt insofern heute in der Form und in der von uns ausgewiesenen in der Haushaltsberatung immer eine besondere Höhe stellen: weil wir keinen Grund sehen, den Zu- Rolle - das ist auch schon gesagt worden -, weil es schuß an die Bundesanstalt zu ändern. Wir haben sich um den größten Brocken aus dem Gesamtku- nicht den Eindruck, daß sich die volkswirtschaftli- chen handelt. Doch das ist kein Grund zum Jubeln, chen Daten entsprechend geändert haben. finde ich. Der vorliegende Einzelplan 11 desillusio- niert und beweist einmal mehr, wie wenig man mit so Begründet wird das alles mit abnehmenden Ar- viel Geld zur Lösung der drängendsten sozialen Pro- beitslosenzahlen. Ich frage natürlich: Was ist, wenn die optimistischen Prognosen nicht eintreten, wofür bleme beitragen kann. ziemlich viel spricht? Haben wir es dann mit einer Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, Anfang März neuen Runde der Leistungskürzungen zu tun - auch wurden die Leser des ansonsten eher nüchternen dafür spricht ziemlich viel - oder mit einer weiteren Bundesarbeitsblattes Zeugen einer Art Verkündi- Verschlechterung der Förderbedingungen bei ar- gung des Bundesarbeitsministers, von der sich beitsmarktpolitischen Maßnahmen? Schon heute schlecht sagen läßt, ob sie nun eine verspätete Weih müssen viele Wohlfahrtsverbände und andere Maß- nachts- oder eine verfrühte Ostergeschichte sein nahmenträger um ihre Fortexistenz bangen, wobei sollte. Jedenfalls wurden dort sogenannte „Fünf gute doch gerade deren Angebot längst ein unverzichtba- Botschaften" verkündet, wohl eben, um auf diese rer Bestandteil der lokalen und regionalen sozialen Haushaltsdebatte vorzubereiten. Infrastruktur geworden ist. Die gekürzten Milliarden an die Bundesanstalt Eine dieser Botschaften lautete - ich darf zitieren -: muß man auch dann im Hinterkopf haben, wenn sich Die positive konjunkturelle Entwicklung macht Bundeskanzler Kohl und Bundesarbeitsminister sich zunehmend auf dem Arbeitsmarkt bemerk- Blüm rühmen, etwas für Langzeitarbeitslose zu tun. bar. Die aktive Arbeitsmarktpolitik wird auf ho- 3 Milliarden DM - das hat hier schon eine Rolle ge- hem Niveau fortgesetzt. spielt -, ganze 375 Millionen DM für dieses Jahr, das reicht etwa für so viele Maßnahmen, wie Menschen Es ist umgekehrt, würde ich sagen, Herr Minister. jährlich neu in die Langzeitarbeitslosigkeit abzuglei- Die Arbeitslosigkeit besteht auf hohem Niveau wei- ten drohen. ter. Und was Sie aktive Arbeitsmarktpolitik nennen, Ich denke, der Bundesarbeitsminister weiß, daß die wird zunehmend zu einem Synonym für die hohen Investitionen in die Arbeitslosigkeit. Aber so war Ihre veranschlagten Kürzungen schon sehr bald mit der Botschaft auch gar nicht gemeint. Wo 6 bis 7 Mil- Realität zusammenstoßen werden. Die guten Bot- lionen reguläre Arbeitsverhältnisse fehlen, kann nie- schaften sind kein Vorgriff auf einen Rückgang der mand ernsthaft von einer „guten Botschaft" reden, Arbeitslosigkeit, sondern ein Vorgriff auf die geplan- ten wenn es einige zehntausend Arbeitslose weniger Leistungskürzungen. Der Aufschlag, den das Haus Seehofer in dieser Woche hinsichtlich der Kür- gibt. Wo die Zahl der Langzeitarbeitslosen auf 1,2 Millionen gestiegen ist, kann niemand wirklich zungen der Sozialhilfe gemacht hat, zeigt überaus meinen, daß sich die Konjunktur positiv auf dem Ar- deutlich, wohin die Reise geht. beitsmarkt bemerkbar macht. Wo den älteren Arbeit- Begleitet wird dies von einer beispiellosen und dif- nehmern nichts weiter fehlt als ein Arbeitsplatz, wie famierenden Mißbrauchskampagne gegen diejeni- ein Werkstattbericht des Instituts für Arbeitsmarkt- gen, die auf die sozialen Leistungen angewiesen und Berufsforschung ausweist, ist die These des Bun- sind. Die sogenannte aktive Arbeitsmarktpolitik der desarbeitsministers ebenso zynisch wie gegenüber Bundesregierung folgt dem Kredo, daß dort, wo Ware den vielen Frauen, deren Chance, qualifizierte Voll- liegenbleibt, die Preise sinken müssen: niedrige Ein- zeitjobs zu bekommen, zunehmend gegen Null ten- stiegslöhne, Tarifunterschreitungen, Verleih, Probe- diert. beschäftigung usw. Diese Politik behandelt arbeits- lose Menschen wie Schrauben, Bettwäsche oder lie- Verständlich wird die Botschaft von Arbeitsmini- gengebliebenes Gemüse. Was nicht zu normalen ster Blüm erst, wenn man sie mit dem traurigen Zah- Preisen weggeht, wird verramscht. lenwerk des Einzelplans 11 konfrontiert. Der um 400 Millionen DM gekürzte Ansatz für Arbeitslosen- Wie haben Sie so schön auf dem Weltsozialgipfel hilfe und die drastische Reduzierung des Zuschusses formuliert, Herr Blüm? „Arbeit ist die Quelle des an die Bundesanstalt für Arbeit bedürfen schließlich Wohlstands. Arbeitslosigkeit ist der Nachschub für einer Rechtfertigung. Die gute Botschaft dient zu- Armut." Jawohl. Wahr ist, daß diese Verbilligung des Arbeitsangebotes noch mehr dazu führen wird, gleich als Rechtfertigung für die geplante Reform des - Arbeitsförderungsgesetzes in Sachen Arbeitslosen- daß selbst arbeitende Menschen der zusätzlichen hilfe, wo noch in diesem Jahr 1 Milliarde DM, also Unterstützung durch Sozialhilfe bedürfen werden. 5,6 % der Gesamtausgaben, eingespart werden soll. Wahr ist, daß der Nachschub für Armut anhält. Schließlich, was das angeblich hohe Niveau der Ar- Herr Fuchtel, es ist immer einfach, sich aus dieser beitsmarktpolitik betrifft, werden die Aufwendungen Problematik herauszulügen, indem man auf die dafür auf ein Drittel der Ausgaben der Bundesanstalt Dritte Welt verweist. beschränkt. Durch einen Federstrich des Haushalts- ausschusses fällt der Zuschuß an die Bundesanstalt (Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU]: Ich jetzt sogar um insgesamt 10 Milliarden DM niedriger lüge doch nicht! Drücken Sie sich bitte et- aus als im Vorjahr. was gehobener aus!) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995 2181

Dr. Heidi Knake-Werner Die Vergleiche, was Armut und was nicht Armut ist, Aufgabe des Bundestages ist es, die hierfür erfor- müssen hier in diesem Land getroffen werden. Nur derlichen Rahmenbedingungen zu schaffen und fi- das ist realistisch. nanziell zu unterstützen. Ein positives Signal ist der Antrag zur Erhöhung der Maßnahmen und zur Er- (Beifall bei der PDS) probung neuer Maßnahmen in der Arbeitsmarktpoli- tik. Mit den weiteren Anträgen, insbesondere mit Dazu möchte ich Ihnen einige Daten liefern. An- dem, den Zuschuß an die Bundesanstalt für Arbeit zu fang dieses Jahres erreichte die durchschnittliche erhöhen, wollen wir diese Entwicklung vorantreiben. Höhe der Arbeitslosenhilfeleistung im Westen nur knapp das Existenzminimums, im Osten lag sie deut- Nicht die aktive Arbeitsmarktpolitik allein - auch lich darunter. Zwei Drittel der männlichen Bezieher das ist uns natürlich bewußt - entscheidet darüber, von Arbeitslosenhilfe und fast drei Viertel der weib- ob wir in absehbarer Zeit mit dem Problem der Mas- lichen im Westen erhielten im Monat Leistungen un- senarbeitslosigkeit fertigwerden; aber sie ist ein we- ter dem amtlichen Existenzniveau, im Osten waren sentlicher Bestandteil dazu. es vier Fünftel der Männer und neun von zehn Zum Abschluß möchte ich gern noch zwei Sätze zu Frauen. 6 % der Bezieherinnen und Bezieher von Ar- einem weiteren Problem sagen, das sich auch in ei- beitslosengeld und 12 % der Bezieherinnen und Be- ner der guten Botschaften des Ministers wiederfin- zieher von Arbeitslosenhilfe im Westen - im Osten det: „Die Rente ist sicher." Ich will jetzt darüber nicht waren es 6 bzw. 24 % - bekamen im Januar 1995 mo- streiten. Mit unseren Anträgen zu diesem Haushalts- natliche Leistungen von weniger als 600 DM! Das, etat wollen wir eine rückwirkende Bereinigung von Herr Minister Blüm, ist der statistisch erfaßte Armuts- Mißständen in den neuen Ländern bewirken. Hier nachschub. geht es uns um einzustellende Mittel, die den An- Und in dieser Situation bereiten Sie Leistungskür- spruchsberechtigten bisher vorenthaltene Gelder zur zungen vor und planen, ganze Gruppen von arbeits- Verfügung stellen. Dies führt unabhängig von dem losen Armen zu armen Arbeitenden zu machen, die Rentenstrafrecht bisher zu großen Ungerechtigkei- zukünftig zu allen Bedingungen arbeiten sollen. Ak- ten. Bestimmte Berufsgruppen wie Ärzte und Ärztin- tive Arbeitsmarktpolitik, die diesen Namen verdient, nen, - muß erkennbar auf eine nachhaltige Ausweitung des Arbeitsvolumens zielen und nicht auf eine Verbilli- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Frau Kollegin, gung der Arbeit. Selbst im Rahmen dieses Haushal- Sie müssen wirklich zum Schluß kommen. tes besteht dazu noch eine Chance.

In den neuen Bundesländern sollten die arbeit Dr. Heidi Knake- Werner (PDS): - ich komme zum beschaffenden Maßnahmen von einer Notmaß- letzten Satz. - Künstlerinnen und Künstler erhalten nahme, als die sie ursprünglich geplant waren, zu maximal 35 % der Altersbezüge ihrer Kolleginnen einer Dauermaßnahme als Antwort auf die Struktur- und Kollegen in den westlichen Ländern, und das ist krise werden. Die bestehenden Maßnahmen sind zu ein unmöglicher Zustand. Deshalb fordern wir, daß sichern und im Zusammenspiel mit der regionalen Sie sich zumindest der Verbesserung des Frauenren- Strukturplanung dauerhaft auszubauen. tenrechts annehmen und mit der Bewilligung der So- zialzuschläge einen Beitrag gegen Frauenarmut lei- Die prinzipiell positiven Erfahrungen mit Arbeits- sten. beschaffungsgesellschaften müssen für die alten Danke schön. Bundesländer nutzbar gemacht werden. Massenar- beitslosigkeit auf der einen Seite, eine mindestens (Beifall bei der PDS) mittelfristig anhaltende globale Arbeitsplatzlücke bei gleichzeitigem Bedarf an notwendiger Arbeit ande- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat rerseits erfordern die Einbeziehung des kreativen jetzt der Kollege Dietrich Austermann. und innovativen Potentials von Arbeitslosengruppen, Kommunen und Arbeitsämtern. Dietrich Austermann (CDU/CSU): Frau Präsiden- Beispiele solcher dezentraler Entwicklungspro- tin! Meine Damen und Herren! Es ist immer wieder jekte gibt es massenhaft. Ihnen fehlt teilweise die frappierend, mit welcher Dreistigkeit die SED-Nach- Planungssicherheit, und sie werden durch engstir- folger hier über Fragen des Arbeitsmarkts und der nige Bürokratie gebremst. Die öffentliche Förderung Arbeitsplätze reden, hochwertiger Arbeit muß auf Dauer und auf Projekt- förderung ausgerichtet sein. Die weitgehende Bin- (Beifall bei der CDU/CSU - Widerspruch - dung der Personalkosten an Arbeitslose als Indivi- bei der SPD und der PDS) duen bietet den bereits bestehenden Beschäftigungs- die es dank Murks und Marx nicht einmal geschafft gesellschaften keine langfristige stabile Entwick- haben, die normalen Güter des täglichen Bedarfs für lungschance. Sie leiden daran, daß ihre Zukunftsper- die Leute bereitzustellen, die sich dies möglicher- spektive ausgesprochen unsicher ist. weise mit der Sozialhilfe hätten kaufen müssen, bei einer latenten Arbeitslosigkeit in der DDR, die etwa Notwendig sind Maßnahmen der Verstetigung bei 50 % liegen dürfte. durch einen öffentlich geförderten Beschäftigungs- sektor. In diesem Zusammenhang haben wir auch ei- (Zuruf des Abg. Dr. Gregor Gysi [PDS] - nen Antrag eingebracht. Weitere Zurufe von der PDS) 2182 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995

Dietrich Austermann - Herr Gysi, daß es Sie nachträglich fröhlich macht, management mit Freude begleitet, die Zuwanderung solch einen Schrotthaufen hinterlassen zu haben, von 4 Millionen Menschen der Bundesregierung zu- muß mich allerdings wundern. rechnet und dabei regionalwirtschaftliche Verant- wortung ablehnt, muß entgegengehalten werden, (Zustimmung des Abg. Volker Kauder daß in der Bundesrepublik bis an die Grenze staatli- [CDU/CSU]) cher Leistungsfähigkeit im Arbeits- und Sozialbe- Meine Damen und Herren, ich glaube, man muß reich geholfen wird. darauf hinweisen, daß es keine Möglichkeit gibt, hier im Parlament Kürzungen bei der Arbeitslosenhilfe vorzunehmen, die sich nachteilig auf die Arbeitslo- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Gestatten Sie sen auswirken können. Auf Arbeitslosenhilfe gibt es eine Zwischenfrage der Kollegin Hermenau? einen gesetzlichen Anspruch. Dieser ist genauso be- gründet wie der Anspruch auf Sozialhilfe, die ein menschenwürdiges Leben gewährleisten soll. Beides Dietrich Austermann (CDU/CSU): Ja, gerne. sind Regelungen, die unter CDU-Regierung gemacht wurden. (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Antje Hermenau (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Dr. Gisela Babel [F.D.P.] - Zuruf der Abg. Danke schön, Herr Austermann. - Herr Kollege, Sie Dr. Dagmar Enkelmann [PDS]) sprachen davon, daß es Ihr Ziel sei, zur Vollbeschäfti- gung zurückzukehren. Wir haben die Situation, daß - Ich weiß, daß es beunruhigt, wenn man immer wie- im Osten ehemals ca. 90 % der Frauen vollbeschäf- der mit den Sünden der Vergangenheit konfrontiert tigt waren. Herr Biedenkopf, ein Mitglied Ihrer Par- wird, tei, spricht davon, daß wir zum Westniveau der Voll- (Dr. Heidi Knake-Werner [PDS]: Die Mas beschäftigung der Frauen zurückkehren müßten; das senarbeitslosigkeit ist Ihre Sünde!) liegt bei ungefähr 60 %. Welche Marge der Vollbe- schäftigung für die Frauen im Osten meinen Sie wenn man sich immer wieder sagen lassen muß, daß denn: 60 % oder 90 %? es nichts Unsozialeres in Westeuropa gegeben hat als die Regierung der DDR und ihre Auswirkungen auf die Menschen. Dietrich Austermann (CDU/CSU): Frau Kollegin, (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. ich bestreite nicht, daß die Situation auf dem Arbeits- Dr. Gisela Babel [F.D.P.]) markt, insbesondere für Frauen in den neuen Bun- desländern, besonders schwierig ist, daß sie die ei- Meine Damen und Herren, die Koalition hat sich in gentlichen Hauptopfer der Entwicklung sind, die den zurückliegenden Jahren mit Erfolg intensiv um sich jedoch aus der Vergangenheit und nicht aus der die Schaffung neuer Arbeitsplätze bemüht: Seit dem letzten Zeit ergeben hat. Regierungswechsel 1982 entstanden in den alten Bundesländern 3 Millionen zusätzliche Arbeitsplätze. (Widerspruch bei der SPD und der PDS) (Ingrid Holzhüter [SPD]: Und 2 Millionen Arbeitslose!) Ich habe davon gesprochen, daß es in der DDR eine latente Arbeitslosigkeit gegeben hat, die bei Auch in der laufenden Wahlperiode wird der weite- mindestens 50 % gelegen hat. Sie werden sich erin- ren Schaffung zukunftsfähiger Arbeitsplätze ein nern, daß es durchaus möglich war, bestimmte Ver- Hauptaugenmerk gewidmet werden. richtungen, die mit dem Arbeitsverhältnis nichts zu tun hatten, während der Arbeitszeit zu erledigen. Unser Ziel bleibt die Rückkehr zur Vollbeschäfti- Dies erklärt auch ein wenig die Produktivität und gung. Dazu gehört, daß wir die Wachstumskräfte der den Produktivitätsrückschritt; ich habe das Stichwort Wirtschaft stärken: „Murks und Marx" genannt. Die Frauen sind jetzt (Beifall des Abg. Volker Kauder [CDU/CSU] die Leidtragenden dieser Fehlentwicklung. und der Abg. Dr. Gisela Babel [F.D.P.]) (Beifall bei der CDU/CSU) durch Steuerentlastung, durch Abgabenbegrenzung, durch solide Finanzen. Bei kräftigem Wirtschafts- Meine Damen und Herren, das gesamte Sozialbud- wachstum und zurückgehender Arbeitslosigkeit ist get - - verhaltener Optimismus angesagt. Dazu gehört na- - türlich auch, daß wir uns den Problemgruppen des (Antje Hermenau [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Arbeitsmarktes zuwenden, die nicht automatisch NEN]: Das war keine Antwort! - Ingrid durch die bessere Konjunktur in den Arbeitsmarkt Holzhüter [SPD]: Und wie ist es mit den zurückgeführt werden; das ist wahr. Frauen in den alten Bundesländern?) (Karl Diller [SPD]: Werden Sie doch mal konkret, Herr Kollege!) - Sie scheinen besonders unruhig zu sein. Dabei habe ich noch gar nichts über die Bilanz von 1982 Der Kritik der Opposition, die es sich gelegentlich und die Bilanz des letzten Bundeskanzlers, Helmut leicht macht, indem sie die Folgen der sozialistischen Schmidt, im Sozialbereich gesagt. Ich kann Ihnen Planwirtschaft und jedes einzelbetriebliche Miß gerne einmal vorhalten, wie der Sozialetat 1982 aus- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30, Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995 2183

Dietrich Austermann sah und wie er heute aussieht, welche Mittel Sie zu Das sagt auch etwas über die Situation in unserem Lasten der Schwächsten in der Gesellschaft im Jahre Land aus. Es macht doch überhaupt keinen Sinn, 1982 gekürzt haben. Frau Kollegin Wegner - was Sie gesagt haben, war Stammtischgerede im umgekehrten Sinne -, (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das mußte endlich einmal gesagt werden! - Ingrid (Karl Diller [SPD]: Was?) Holzhüter [SPD]: Sie hatten zwölf Jahre wenn wir die Mittel für Fortbildung und Umschulung Zeit, das zu ändern, wenn es nicht gut war!) so ausweiten, daß jeder zweimal, dreimal oder vier- - Sie sollten nicht ganz so laut brüllen, sondern sich mal umgeschult wird. Es muß so sein, daß die Fortbil- lieber mit den Fakten befassen. Zu diesen Fakten ge- dung und Umschulung ihn fähig machen, wieder ei- hört, daß der Arbeits- und Sozialbereich in einem nen aktiven Arbeitsplatz zu finden. Maße angewachsen ist, daß es kaum noch finanziell (Beifall bei der CDU/CSU - Zuruf vom vertreten werden kann. Der Kollege Fuchtel hat dar- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Hat sie etwas auf hingewiesen, daß auch hier gespart werden muß. anderes gesagt?) Immerhin beträgt das gesamte Sozialbudget heute Mit dem Beschäftigungsförderungsgesetz 1994 deutlich über 1 Billion DM, ein Drittel des Bruttoso- haben wir viele kurzfristig wirksame Maßnahmen zialproduktes. Das hat nichts mit Sozialabbau und getroffen. Dazu gehören die private Arbeitsvermitt- ungerechter Kälte zu tun. Wer dies sagt, sagt die Un- lung, die die Bundesanstalt zunächst beunruhigt, wahrheit. aber dann doch auf Trab gebracht hat, der gezielte Im Bundeshaushalt sind für soziale Sicherung, Ju- Einsatz von Lohnzuschüssen, die Förderung der gendhilfe und Arbeitsmarkt 180 Milliarden DM vor- Selbständigkeit, die Förderung von Teilzeitarbeit gesehen, und zwar bei einem Gesamtetat von und auch die Verlängerung des Beschäftigungsförde- 477,7 Milliarden DM. Hinzu kommt der Haushalt der rungsgesetzes und der Kampf gegen illegale Be- Bundesanstalt für Arbeit, der ohne Bundeszuschuß schäftigung. 92 Milliarden DM umfaßt. Ich stehe nicht an, hier zu sagen: Selbstverständ- lich gilt das, was für Arbeitnehmer im illegalen Be- Der Anteil des BMA - Haushalts am Gesamthaus- halt ist deutlich gestiegen. Wenn ich mir noch einmal reich gilt, gleichermaßen auch für Arbeitgeber. Miß- das Thema ABM und das Jahr 1982 ansehe, muß ich brauch muß bekämpft werden. sagen: Damals, im Februar 1983, wurde bei etwa Die Kollegin Albowitz hat das Thema der Arbeits- gleicher Arbeitslosigkeit in den alten Bundesländern marktprogramme angesprochen. Ich sage es noch von Ihnen ein Kümmerprogramm aufgelegt, das einmal: Es gibt drei wesentliche Bereiche, in denen überhaupt nicht den Anforderungen entsprochen wir während der Haushaltsberatungen Veränderun- hat. gen vorgenommen haben. Das scheint mir entschei- dend zu sein. Man hat ja immer den Eindruck, die Ich glaube, es ist wichtig, daß wir in diesem Jahr Regierung legt einen Entwurf vor, der dann in zwei- besonders die Investitionsausgaben des Bundes ter und dritter Lesung wieder auf den Tisch kommt. hochgefahren haben. Mit 15,5 % Anteil am Bundes- Nein, es war so, daß wir im Haushaltsausschuß eine etat ist dies der höchste Investitionsanteil eines Bun- ganze Reihe von erheblichen Veränderungen - zum deshaushalts in den letzten 20 Jahren. Ich glaube, das ist wichtig, gut und richtig. Teil auf Vorschläge des Ministeriums - vorgenom- men haben, die sich zugunsten der Menschen im Dann kommt der entscheidende Punkt. Bei Ihnen Land, die Arbeit suchen und Arbeit brauchen, positiv hat man manchmal den Eindruck, es gehe nur um auswirken werden. das Thema des zweiten Arbeitsmarktes, wenn es sich Dazu gehört das Langzeitarbeitslosigkeitspro- um aktive Arbeitsmarktpolitik handelt. Auch hier gramm. Das sind nicht 375 Millionen DM in diesem können wir gern mit 1982 vergleichen. Wir haben Jahr, sondern es sind 375 Millionen DM plus eine heute die Situation, daß wir etwa 50 Milliarden DM Verpflichtungsermächtigung in der Größenordnung für aktive Arbeitsmarktpolitik zur Verfügung stellen. von insgesamt 3 Milliarden DM für 180 000 neue Ar- 1,1 Millionen Menschen können von Arbeitsförde- beitsplätze, für die Schwächsten auf dem Arbeits- rungsmaßnahmen, Fortbildung und Umschulung, markt. Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und Rehabilitation Gebrauch machen. Davon entfällt etwa die Hälfte auf (Peter Dreßen [SPD]: Ein Schritt vor und ei- die neuen Bundesländer. 1,1 Millionen Menschen ner zurück!) stehen in einem Arbeitsverhältnis, das sie ohne un- sere aktive Arbeitsmarktpolitik nicht hätten. Sie zah- Bedauerlicherweise ist es so, daß gerade die älte- len selber Steuern und haben das Bewußtsein, für ren Arbeitslosen in der Regel Langzeitarbeitslose ihre eigene Situation aufkommen zu können. sind, d. h. das erste Mal arbeitslos geworden sind. Da wollen wir helfen. Das ist vernünftige und gute So- Das muß man immer wieder deutlich auch unter zialpolitik. Hinweis darauf sagen, daß im Jahre 1994 die Mittel (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so- für Arbeitsbeschaffung, Fortbildung und Umschu- wie der Abg. Dr. Gisela Babel [F.D.P.]) lung gar nicht ausgeschöpft werden konnten. Das muß man sich einmal vorstellen. Sie fordern ständig Wir wenden uns besonders den gehandikapten Ar- neue Mittel; die Mittel konnten aber noch nicht ein- beitnehmern zu, denen, die besondere Schwierigkei- mal ausgegeben werden. ten im Arbeitsprozeß haben. 2184 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995

Dietrich Austermann Das zweite Programm, das START-Programm, ist 30 000 Arbeitsplätze bringt. Da sind die Länder ge- angesprochen worden. Es handelt sich um 83 Mil- fordert, ihren Beitrag zu leisten. Das sind nämlich im lionen DM. Hier soll ein interessanter Versuch unter- ersten Arbeitsmarkt praktische Hilfen für neue Ar- nommen werden, der zu meinem Erstaunen sogar beitsplätze. vom DGB mitgetragen wird. Erstmals gibt es den Weg, daß in gemeinnützigen wie auch in privaten (Dr. Dagmar Enkelmann [PDS]: Für wie Einrichtungen Leiharbeit erfolgen kann. An dieser lange?) Leiharbeit beteiligen sich auch Vertreter des DGB, - Auf Dauer! Sie können doch davon ausgehen, daß nachdem sie vor kurzem noch einen Entwurf für eine ein solches Verkehrssystem, wenn es geschaffen ist, europäische Charta vorgelegt haben, in dem es aus- in Betrieb genommen wird und bei einer entspre- drücklich heißt: Die Leiharbeit ist abgeschafft. Aber chenden Zahl von Fahrgästen auch vernünftig in Be- nachdem Herr Schulte, der DGB-Vorsitzende, jetzt trieb gehalten werden kann. sogar für befristete Arbeitsverhältnisse ist, scheint sich ein Wandel zur Vernunft bei Ihnen einzustellen. Die Zahl von 30 000 Arbeitsplätzen bezog sich auf den Betrieb auf Dauer, wenn der Transrapid fertig ist. Wir wollen die Möglichkeit schaffen, mit Leihar- Während der Bauphase gibt es selbstverständlich beit wieder Dauerarbeitsplätze zu entwickeln; denn eine wesentlich größere Zahl von Arbeitsplätzen. wir haben die Erfahrung gemacht, daß aus den vor- (Karl Diller [SPD]: Herr Austermann, wie er- läufigen Arbeitsverhältnissen, aus ABM wie auch aus Leiharbeitsverhältnissen, oft Dauerarbeitsplätze klären Sie sich, daß Ihre Kollegen keinen werden. Dies wollen wir unterstützen. Beifall klatschen?) - Das liegt möglicherweise daran, daß sie davon aus- Wir machen als drittes - neben Langzeitarbeitslo- gehen, daß alles das, was ich sage, ihre Zustimmung sigkeits- und START-Programm - ein Programm, das hat; das braucht nicht extra bestätigt zu werden. neue Vorhaben zur Bekämpfung der Arbeitslosig- keit beinhalten soll. Dieses Programm wird sich in Der Haushalt 1995 des Bundesministers für Arbeit verschiedenen Regionen der Bundesrepublik als bei- und Sozialordnung setzt ein deutliches Signal für spielhaft erweisen. Hier ist Kreativität gefragt, hier mehr Arbeitsplätze und weniger Arbeitslose. Die Op- sind viele gute Ideen gefragt. Auf der Seite der Op- position ist gefordert, in den Bundesländern, in de- position habe ich wenig davon gehört. nen sie die Regierung stellt, ihre regionalpolitische Verantwortung wahrzunehmen. Das kann man nicht, Lassen Sie mich noch etwas zum Thema Bundes- indem man wie in Schleswig-Holstein ständig Orgien zuschuß der Bundesanstalt für Arbeit sagen. Ziel von neuen Ländersteuern verkündet, sondern dies muß es sein, daß alles das, was an Maßnahmen aus kann man nur, indem man den Kurs vertritt, den dem Haushalt der Bundesanstalt für Arbeit finanziert auch wir vertreten, nämlich die Belastung der Wirt- wird, durch Beiträge gedeckt wird. Nur in Ausnah- schaft, der Betriebe und der Bürger zu reduzieren. mesituationen darf dies durch Steuergelder ergänzt werden. Wir tun das, was erforderlich ist, um diese Sie setzen sich mit Ihrer falschen Subventionsfor- Ergänzung zu leisten. Aber nachdem wir in diesem derungspolitik zugunsten von Technologien von ge- Jahr und im vorigen Jahr den Zuschuß an die Bun- stern oder vorgestern dafür ein, daß mehr ökonomi- desanstalt für Arbeit heruntergeführt haben, muß die sche Werte verbraucht als geschaffen werden. Zielrichtung ganz eindeutig sein, im nächsten Jahr Wer neue Arbeitsplätze will, die die hohen Lohn- die Nullgrenze zu erreichen. Ich sage dies ganz klar: kosten einspielen, darf nicht neue Technologien be- Das Ziel muß sein, den Bundeszuschuß auf Null her- hindern. Der darf auch nicht die Beschleunigung von unterzuführen. Planung und Durchführung neuer zukunftsträchtiger (Karl Diller [SPD]: Das hat der Waigel auch Projekte, auch Verkehrsprojekte, vertrödeln. Es ist gesagt!) ganz konkrete Arbeitsmarktblockade, was Sie be- treiben - auch die GRÜNEN, teilweise mit kleinen - Dadurch, daß auch er das gesagt hat, wird bestä- und kleinsten Grüppchen in sogenannten Bürger- tigt, daß es richtig ist. - Wir wollen jedenfalls die Poli- initiativen. tik entsprechend fortsetzen, und es gibt dahin ge- hende Tendenzen aus den ersten Monaten dieses Wer mehr Arbeitsplätze will, muß dem Etat des Jahres. Bundesarbeitsministers und dem Gesamtansatz zu- stimmen. Neue Arbeitsplätze können auf Dauer nur geschaf- Herzlichen Dank. fen werden, wenn es gelingt, Deutschland für die Zu- kunft fit zu machen. Dazu müssen aber wirtschafts- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - und arbeitsmarktpolitische Barrieren weggeräumt Gerd Andres [SPD]: Bei Ihrer finsteren Rede werd en. Die regionalpolitische Verantwortung muß wurde es zunehmend dunkler! - Heiterkeit) gestärkt werden. Dann fragen wir ganz konkret die Bundesländer: Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat Was tun Sie, um technologische Barrieren wegzuräu- jetzt die Abgeordnete Dr. Gisela Babel. men, um neue Technologien Platz greifen zu lassen, um dafür zu sorgen, daß große Verkehrsprojekte, die Dr. Gisela Babel (F.D.P.): Frau Präsidentin! Meine geplant sind, zu beschleunigen? Ich erwähne z. B. Damen und Herren! In Haushaltsdebatten wird re- das konkrete Projekt des Transrapid, das alleine gelmäßig der für die Demokratie unerläßliche Wett- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995 2185

Dr. Gisela Babel streit zwischen den besten Ideen zur Lösung be- kenntnis verschließen, daß das alles nicht richtig stehender Probleme ausgetragen. hilft. Die Opposition meint, das sei noch zu wenig, mehr wäre besser. Der Haushalt des Arbeitsministers in seiner ein- (Dieter Schanz [SPD]: Sie hat recht!) drucksvollen Supergröße - 129 Milliarden DM oder 27 % des Gesamthaushaltes - bietet sich für den Sie meint, wenn wir das Land mit Beschäftigungsge- Schlagabtausch besonders an. Das Thema ist der so- sellschaften und AB-Maßnahmen bepflasterten und ziale Staat, das Ausmaß seiner Verpflichtungen und mit Industrieplanungen überzögen und den Steuer- Leistungen, sein Können und Wollen. zahlern einen Teil der Finanzierung aufbrummten, dann könnte die Arbeitslosigkeit verschwinden. Sehr schnell sind wir bei dem drückendsten gesell- schaftlichen und wirtschaftlichen, vor allem aber (Gerd Andres [SPD]: Norbert Blüm wird auch sozialen Problem: der Arbeitslosigkeit. schon ganz grau, wenn er zuhört!) Wenn ich nur im mindesten diesen Wunderglauben (Zuruf von der SPD: Erzählen Sie einmal et teilen könnte, würde ich auch gegen den Widerstand was zur Sozialhilfe!) der eigenen Parteifreunde und der Koalition selber für mehr Mittel kämpfen. Aber die Fakten sprechen 3,8 Millionen waren im Februar 1995 ohne Arbeit. klar dagegen. Nehmen wir das Problem der Lang- Das ist die registrierte Zahl; hinzuzurechnen sind zeitarbeitslosigkeit: Seit Beginn der 70er Jahre inve- noch Arbeitssuchende und die in Maßnahmen des stieren wir immer mehr in aktive Arbeitsmarktpolitik, Arbeitsamtes Untergebrachten in Millionenhöhe. und trotzdem steigt die Zahl der Langzeitarbeitslo- (Zuruf von der SPD: Das ist das Ergebnis Ih sen. rer Politik der letzten Jahre!) (Karl Diller [SPD]: Und was tut ihr jetzt?) Selten wird in einer Debatte über Arbeitslosigkeit Im Jahr 1977 waren es 13 % der Arbeitslosen, und im aber der Frage ernsthaft nachgegangen, was Arbeit Jahr 1994 sind es schon 31 % gewesen. ist. Für die SPD und die übrige linke Seite des Hau- (Karl Diller [SPD]: Ergebnis Ihrer Politik!) ses ist Arbeit eine feste Größe x, ein Kuchen, der ver- teilt und, wenn er nicht für alle reicht, in immer klei- Sicher kann diese Erkenntnis nicht dazu verleiten, nere Stücke zerteilt wird. Arbeitslosigkeit ist dem- nun gar nichts zu tun oder diese Anstrengungen zu nach nur ein Mangel an Arbeitsverteilungsgerechtig- unterlassen. Aber ich mache aus meiner Skepsis kein keit. Die F.D.P. teilt diese Auffassung nicht. Hehl. Unsere Arbeitsämter bekommen ein Riesenar- senal an unterschiedlichen Programmen und Maß- (Beifall bei der F.D.P. und bei Abgeordneten nahmen, und manche spielen übrigens souverän auf der CDU/CSU) diesem Klavier. Die Kommunen helfen über ABM fleißig mit, die Drehtür Arbeitslosigkeit/Maßnahmen- Wir halten die Grundauffassung für falsch, daß die teilnahme/Arbeitslosigkeit zu bewegen. Aber die Herabsetzung der Arbeitszeit bei vollem Lohnaus- Zahlen beweisen: Langzeitarbeitslosigkeit ist damit gleich mehr Menschen in Arbeit gebracht habe und nicht zu bekämpfen. die Einschränkung der Überstunden mehr Arbeits- plätze schaffen könnte. Nein, meine Damen und Her- Woran liegt es denn, daß in den ersten drei Mona- ren, für die Entstehung von Arbeitsplätzen ist nach ten bei uns nur 36 % der Arbeitslosen eine neue wie vor der Ertrag ausschlaggebend, den Arbeit Stelle finden, in Japan aber 60 % und in den USA gar bringt, und für diesen Ertrag sind Lohnkosten ent- 90 %? Das ist nicht nur für Working-poor, sondern scheidende Faktoren. das sind qualifizierte Arbeitsplätze. Die Antwort kann ich auch nicht liefern; aber ich denke, daß wir Solange der Prozeß andauert, in Tarifverhandlun- viel gründlicher und viel radikaler forschen und gen den in den Unternehmen erwirtschafteten Ge- nachdenken sollten, wenn es uns damit ernst ist. Die winn in Lohnerhöhungen zu verteilen und nicht in Opposition behauptet ja immer gleich, der soziale neue Investitionen zu stecken, werden immer weni- Staat sei in Gefahr, wenn mancher an Veränderung ger Arbeitsplatzhabende immer größere Lohnzu- denkt. Aber ich meine, wir haben heute soziale Ver- wächse bekommen, und zwar auf Kosten derer, die hältnisse vor allem für Arbeitsplatzhabende, und sie dann ihre Arbeitsplätze verlieren. Die letzte Tarif- werden durch Arbeitsplatzlose erkauft. Das kann runde läßt für die Beschäftigung Schlimmes ahnen. nicht sozial sein. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Der Gesetzgeber setzt Rahmenbedingungen und - versucht nun auf der anderen Seite mit den Maßnah- Eine weitere bedrückende Auswirkung der Ar- men der aktiven Arbeitsmarktpolitik die Rückfüh- beitslosigkeit liegt in der explodierenden Zunahme rung Arbeitsloser in den Arbeitsmarkt. Meine Damen von Vorruhestand und Erwerbsunfähigkeitsrente. und Herren, lassen Sie mich hinzufügen: mit zweifel- Meine Damen und Herren, nicht nur die langfristi- haftem Erfolg. Wir investieren unwahrscheinlich viel gen Finanzprobleme der Rentenversicherung, die Geld: 18 Milliarden DM für berufliche Bildung, das Prognos- Gutachten aufzeigt, machen Sorgen, 9,6 Milliarden DM für ABM, 3 Milliarden DM für pro- sondern auch die heute sich abspielende Erosion der duktive Arbeitsförderung, insgesamt 50 Milliarden Rentenversicherung. Deswegen begrüße ich es aus- DM für diesen Bereich. Das ist eindrucksvoll; aber drücklich, daß die Bundesregierung gesetzliche Klar- wir können uns alle nicht der unangenehmen Er- stellungen plant, die eine ausufernde Rechtspre- 2186 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995

Dr. Gisela Babel chung bei der Zuerkennung der EU-Rente bremst. stündlich Katastrophenmeldungen. Das ist der Zu- Aber auch die betriebliche Rente bedarf der Unter- stand einer aufgeregten Gesellschaft, der die Geduld stützung durch den Gesetzgeber, während die be- fehlt, Probleme zu bearbeiten, und sie statt dessen rufsständischen Versorgungswerke wegen ihrer An- nur bespricht. ziehungskraft vor neuen Rentenflüchtlingen ge- schützt werden müssen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Die Rentenversicherung - seit über 100 Jahren gut Meine Damen und Herren, zur Pflegeversicherung eingefahren - benötigt für die Antragsbearbeitung in sage ich jetzt nichts. Man hört fast ausschließlich der Rentenversicherung noch heute vier bis fünf Mo- Schreckensmeldungen, die ich aber für verfrüht nate. Wieso soll die neue Pflegeversicherung schnel- halte. Wir sind eine hochnervöse Nation. Sicher ist, ler sein und alle Anträge, auch die, die erst im Fe- daß unser eigentliches Geschäft als Sozialpolitiker, bruar oder März gekommen sind, bis April bearbeitet die Systeme der sozialen Sicherung zu warten, zu haben? Was haben eigentlich die Wohlfahrtsver- pflegen, zu verbessern, auch die Pflegeversicherung bände, die im Kritisieren so kräftig sind, getan, daß umfassen wird. Damit kommen wir nie zum Ende. ihre Mitglieder rechtzeitig Anträge stellen? Das wäre Die F.D.P. stimmt dem Haushalt des Bundesarbeits- besser gewesen, als am Spielfeldrand zu sitzen und ministeriums zu. zu kritisieren. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Ich bedanke mich. Auch werden diejenigen, die erst jetzt ihren An- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) trag gestellt haben, so daß er noch nicht bis zum 1. April bearbeitet sein wird, keine Geldleistungen verlieren. Es wird nachgezahlt. Ich will einmal die Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat ganze Landschaft schildern. - Die Caritas - der der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Name heißt immerhin Liebe -, droht aus der ambu- Norbert Blüm. lanten Pflege auszusteigen, weil die Pflegekassen nicht das Geld bezahlen wollen, das die Caritas for- dert. Was - ich sage das ganz ruhig - die Caritas Bundesminister für Arbeit und Dr. Norbert Blüm, nicht kann oder nicht will, werden dann private An- Sozialordnung: Frau Präsidentin! Meine Damen und bieter lösen. Da ist der Wettbewerb ganz hilfreich. Herren! Ich möchte am Beginn meinen Dank an die Mitglieder des Ausschusses für Arbeit und Sozialord- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) nung richten, an den Haushaltsausschuß, besonders an die Berichterstatter Frau Dr. Wegner, Frau Albo- In der Tat, auch gemeinnützige Institutionen müs- witz, Frau Hermenau, Herrn Fuchtel und Herrn Au- sen sich dem Wettbewerb stellen. Wieso soll eigent- stermann, und an die Mitarbeiter, die es möglich ge- lich für das, was bisher mit 35 DM entlohnt worden macht haben, diesen Haushalt so sachgerecht und ist, in Zukunft 80 DM bezahlt werden, mehr als eine zügig zu behandeln. Verdopplung über Nacht? Auch Wohlfahrtsverbände müssen sich Wirtschaftlichkeitsprüfungen stellen. Ich wollte mich heute eigentlich zwei Themen be- Gutherzigkeit befreit nicht von der Rechnungsprü- sonders widmen, der Pflegeversicherung und der fung. Rente. Ohne die Wörter Untergang, Zusammenbruch (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) und Katastrophe beschreiben wir kein Problem unse- rer Gesellschaft mehr, es gibt keine Debatte ohne po- Untersuchungen haben ergeben, daß es bei Aus- lemischen Durchlauferhitzer. „Chaos in der Pflege- schöpfung aller derzeit noch brachliegenden Wirt- versicherung" meldeten diese Wochen die Zei- schaftlichkeitsreserven in vielen Fällen möglich ist, tungen. Tatsache ist: Am 1. April 1995 werden eine die Kosten um bis zu 30 % zu senken. Hier sind die Million Menschen neue Leistungen von der Pflege- Verbände aufgerufen, denn die Sozialeinrichtungen versicherung erhalten. müssen jede Mark zweimal umdrehen, bevor sie sie einmal ausgeben. Wissen Sie, warum? Es ist nämlich (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) das Geld der Beitragszahler, das sie ausgeben. Wenn sie das Geld an einer falschen Stelle ausgeben, fehlt Das ist nicht Chaos, das ist die Tatsache. 700 000 es uns an der richtigen Stelle. Es geht nämlich um Menschen werden ohne jede Antragstellung entwe- das Geld für die Bedürftigen. der statt des bisher gezahlten Pflegegeldes von 400 DM das doppelte, nämlich 800 DM, oder Sachleistun- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) gen von 1 800 DM statt wie bisher 750 DM erhalten. Das ist kein Chaos, das ist eine handfeste Verbesse- Sozialeinrichtungen stehen in der Pflicht, erstens rung für das Schicksal von einer Million Menschen. das Geld der Beitragszahler richtig zu verwalten und 300 000 Anträge werden bearbeitet sein. zweitens dafür zu sorgen, daß es an der richtigen Stelle ankommt. Die Länder versuchen, sich um ihre (Dr. Dagmar Enkelmann [PDS]: Bis wann?) Investitionsverpflichtungen zu drücken. Hessen hat ein Gesetz verabschiedet, nach dem das Geld für die Ich finde es schon merkwürdig: Über die Verbesse- Pflegeeinrichtungen je nach Haushaltslage einge- rung der Situation von einer Million Mitbürgerinnen setzt wird. Das können Sie dann auch beim Wetter- und Mitbürger redet hier kein Mensch, aber über amt in Offenbach oder bei der Klassenlotterie abru- möglicherweise 30 000 oder 50 000 Streitfälle gibt es fen. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995 2187

Bundesminister Dr. Norbert Blüm Ich stelle fest: Das ist ein klassischer Wortbruch. Dr. Norbert Blüm, Bundesminister für Arbeit und Wir haben vereinbart, daß die Länder mindestens die Sozialordnung: Ja, bitte. Hälfte dessen, was die Sozialhilfe durch die Einfüh- rung der Pflegeversicherung spart, an die Einrichtun- Wenn Sie noch einen Moment warten würden, gen weitergeben. Die Pflegeversicherung ist nicht würde ich Ihnen noch ein paar Prachtexemplare zu die Sparkasse der Landesfinanzminister. Dafür ha- dieser Verwirrung nennen. Hätten Sie noch etwas ben wir den Streit nicht gemacht. Zeit? (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Andrea Fischer (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Wir müssen darauf bestehen, daß die Länder ihr NEN): Ich bin voller Zuversicht, daß Sie davon noch Wort halten. Je mehr Investitionskosten bezahlt wer- ganz viele Beispiele haben. Selbstverständlich haben den, um so mehr sinken die Pflegesätze, und wir ho- Sie gerade ein besonders skurriles Beispiel genannt. len mehr Menschen aus der Sozialhilfe heraus. Ich gebe Ihnen in dem Fall recht, daß Sie sagen: Es Die Pflegeversicherung hat noch keine Mark aus- handelt sich um eine große Reform, und es ist kein gezahlt. Übermorgen ist der erste Tag, aber schon sa- Wunder, daß es am Anfang schwierig wird. Trotzdem gen Kritiker, daß es zu drastischem Kostenanstieg würden Sie vielleicht auch mir zustimmen, daß es bei kommen wird, Andere wissen, daß der Sachverstän- dem, was Sie so empört als das Chaos in den Köpfen digenrat im August erklären wird, daß ein Feiertag bezeichnen, um Menschen geht, die in einer ganz zur Kompensation nicht ausreicht und deshalb ein schwierigen Lebenslage sind. Diese Menschen sind zweiter Feiertag abgeschafft werden muß. Der Sach- mit einer gravierenden Veränderung ihrer Lebens- verständigenrat hat die Anhörung noch gar nicht be- lage konfrontiert. endet, das Bundesarbeitsministerium hatte noch keine Gelegenheit zur Anhörung gehabt. Können Sie mir zustimmen, daß es berechtigt ist, daß diese Menschen Sorgen haben und daß man sie Wir sind noch mittendrin, und schon wird verkün- deswegen nicht einfach als Chaoten beschimpfen det, es wären zwei Feiertage notwendig. Hier muß darf? ich den Sachverständigenrat in Schutz nehmen. Das ist kein Unsachverständigenrat. Sachverständigenrat heißt: erst Prüfung, dann Ergebnis. Deshalb wollen Dr. Norbert Blüm, Bundesminister für Arbeit und wir abwarten, was der Sachverständigenrat vorlegt. Sozialordnung: Ich kann die Frage zurückgeben. Können Sie mir zustimmen, daß, wenn mehr Mitbür- Ich höre: Chaos, Chaos. Richtig ist: Nicht im Ge- ger Aufklärung und Beratung und nicht Verwirrung setz herrscht Chaos, sondern in den Köpfen herrscht und Polemik betreiben würden, man den Menschen, das Chaos, sonst könnte man diese Diskussion nicht um die es Ihnen und mir geht, damit mehr helfen verstehen. würde als durch die Panikdiskussion, die in dieser (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Woche geführt worden ist? Darin stimme ich mit Ih- nen überein. Ich habe noch ein paar Punkte. Gestern zitiert die „Süddeutsche Zeitung", eine ganz angesehene Zei- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) tung, voller Entrüstung einen Mitbürger, der sich be- Aber über die Pflegeversicherung kann ja schein- schwert, „daß das neue Gesetz alte Menschen ver- bar jeder reden, wie er will. Sie ist auch nicht die Su- pflichtet, erst pflegebedürftig zu werden, bevor sie perkuh. Ich habe nämlich den Eindruck, manchmal Hilfe bekommen". wird sie als Superkuh mit einem Supereuter verstan- Die Beschwerde ist von der „Süddeutschen Zei- den. Zwanzig Hände greifen an dieses Euter: Die So- tung" weitergegeben worden: Du mußt erst pflege- zialhilfe versucht abzudrängen, was eigentlich Auf- bedürftig werden, um Hilfe zu bekommen. Hören Sie gabe der Sozialhilfe ist. mal, das ist bei einer Versicherung so. Die Feuerver- Ich habe eine Bescheinigung vorn Sozialamt in sicherung zahlt auch kein Geld, bevor nicht das Gießen; da wird einem Sozialhilfeempfänger eine Haus brennt. Die Krankenversicherung zahlt kein hauswirtschaftliche Leistung mit der Begründung ge- Geld, bevor nicht jemand krank ist, und die Unfall- strichen: Einführung der Pflegeversicherung. versicherung nicht, bevor ein Schaden eintritt. Jeder versucht, sich zu retten und alles der Pflege- Ist denn die Verwirrung so groß? Kann denn jeder versicherung zuzuschieben. Davor werde ich sie be- sagen, was er will? Was dabei herauskommt, ist nur wahren. Es geht nicht, daß man der Pflegeversiche- das eine. Deshalb wende ich mich auch dagegen. Es rung erst alle Lasten aufbürdet, dann erschrickt, kommt in diesem Hexentanz von Verdrehungen und wenn sie unter den Lasten ertrinkt und anschließend Polemik bei den Betroffenen nur Verwirrung an. Ge- sagt: Sie funktioniert nicht. gen diese Verwirrung durch eine leichtfertige Dis- kussion wehre ich mich. Ich bin mit Ihnen, verehrte Frau Kollegin, der Mei- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) nung, daß jede große soziale Einrichtung Anlauf- schwierigkeiten hat. Das ist ja sogar bei jeder Ma- schine so. Gerade deshalb bedarf die Pflegeversiche- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Minister, rung in ihrer Anfangsphase der Unterstützung, der gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Fi- Beratung, und viele müssen der Pflegeversicherung scher? helfen. 2188 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995

Bundesminister Dr. Norbert Blüm Ich kann noch ein paar Beispiele nennen. Caritas auf 18,6 % abgesenkt worden, so wie es unser Ren- und Kommunen ziehen sich aus der Pflege zurück, tensystem vorsieht. Diese Beitragssenkung liegt ge- weil sie sagen, jetzt gebe es ja eine Pflegeversiche- rade drei Monate zurück und entlastet die Beitrags- rung. zahler in diesem Jahr um 8 Milliarden DM, den Bund um 1,9 Milliarden DM. Diese (Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/ Beitragssenkung ist das bestgehütete Geheimnis in der Beitrags- und Steuer- DIE GRÜNEN] meldet sich zu einer Zwi debatte der letzten Monate. Darüber redet kein schenfrage) Mensch. Jetzt steigt - wie es das Rentensystem vor- sieht - aller Wahrscheinlichkeit nach der Rentenbei- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Minister - - trag im nächsten Jahr wieder auf 19,1 %. Über diese Erhöhung werden alle reden, obwohl der Beitrag Dr. Norbert Blüm, Bundesminister für Arbeit und dann immer noch niedriger ist als zwölf Monate zu- Sozialordnung: Nein. Ich möchte das jetzt im Zusam- vor. Das ist ein Beipiel, wie bei uns sozialpolitisch dis- menhang darstellen. - Wenn ich in dieser Woche kutiert wird. manchen Caritas-Funktionär gehört habe, so kann Die Beiträge der Rentenversicherung der letzten ich nur sagen: Hätte es ihn schon im Neuen Testa- Jahre waren zwischen 0,2 und 1,2 Prozentpunkte ment gegeben, so wäre der Samariter erst nach Jeru- niedriger, als wir sie bei der Rentenreform geschätzt salem geschickt worden, um ein Fachhochschulstu- haben. Im Jahre 1993 hatten wir mit 17,5 % den nied- dium zu beginnen, bevor er dem unter die Räuber rigsten Beitragssatz seit Beginn der 70er Jahre. Wir Gefallenen helfen konnte. haben diesen niedrigen Beitragssatz trotz der Tatsa- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) che gehabt, daß die Rentenversicherung einen gro- ßen Solidarbeitrag in Sachen deutsche Einheit lei- Wir können den Sozialstaat auch kaputtmachen, und stet. Im letzten Jahr waren es 14 Milliarden DM, und zwar durch eine perfekte Professionalisierung, bei in diesem Jahr sind es noch einmal 14 Milliarden der gar nicht mehr gefragt wird, ob es um Zuwen- DM. Zusammen sind es also 28 Milliarden DM. Ob- dung, um ein gutes Herz, um direkte Hilfe, um Spon- wohl wir diese Transferleistung - die ich verteidige - taneität oder um eine Planstellenolympiade geht. von West nach Ost leisten, haben wir diese Beitrags- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sätze. und der F.D.P.) Ich warne auch vor einer Debatte auf der Grund- Ich wehre mich dagegen, daß die Betroffenen dabei lage langfristiger Expertenprognosen. In diesem Zu- aus dem Blick geraten. Aber es gibt Gott sei Dank - sammenhang will ich Ihnen einmal die Prognosen das will ich ausdrücklich auch für die Sozialverbände vorführen, die bei der Rentenreform 1957 gemacht feststellen - noch immer viel guten Willen. wurden. Damals hat der Experte Luzius den Renten- beitrag des Jahres 2000 auf 35 % geschätzt, der Herr (Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/ Mehring auf 33 % und der Herr Heubeck auf 29,5 %. DIE GRÜNEN] meldet sich erneut zu einer Wahrscheinlich wird er unter 20 % liegen. Zwischenfrage) Für 1986 - das haben wir ja schon hinter uns - hat - Ich möchte gerne im Zusammenhang vortragen. Heubeck den Rentenbeitrag auf 24,2 % geschätzt. (Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/ Tatsächlich lag er bei 19,2 %. Die Treffsicherheit die- DIE GRÜNEN]: Unglaublich!) ser Expertenprognosen ist diejenige einer alternden, verrosteten Schrotflinte; darauf können Sie nun wirk- Wissen Sie, wenn man Zyniker wäre, könnte man lich keine langfristige Politik aufbauen. auf den Gedanken kommen: Mache nichts, rede viel, zeige Betroffenheit, und schon bist du ein guter Herr Ehmke, von Ihnen ja geschätzt, hat früher, zur Mensch. Meine Erfahrung nach zwölf Jahren ist, daß Zeit der sozialliberalen Koalition, verlangt: Alle drei der, der etwas macht, immer in die Schußlinie gerät. Tage eine innere Reform! Dem einen ist es zuwenig, dem anderen ist es zuviel, einem dritten erscheint es falsch. Du könntest auf die Eine Perspektive in die Zukunft kommt auf diese Idee kommen: Rede und mache nichts, dann bist du Weise nicht in die Debatte. Was uns fehlt und was die jedermanns liebes Kind. Ich werde dieser Versu- größte Mangelware ist, ist eine handwerkliche Aus- chung immer widerstehen! dauer, die bewirkt, daß man sich Zeit nimmt, Gesetze durchzusetzen, daß man nicht jeden Tag einen (Lachen bei der SPD) neuen Vorschlag macht und dadurch die Verwirrung An Besprechern besteht doch Überfluß. Was wir nicht immer weiter trägt. Denn jeder glaubt, wenn er brauchen, sind nicht Besprecher, was wir brauchen, nicht alle 24 Stunden einen neuen Vorschlag macht, - sind Bearbeiter. würde er als dumm und wenig kreativ gelten. Diese neue Mode erinnert mich an Feuerwerker. Wenn sie (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU nicht alle 24 Stunden einen Knallfrosch zünden, mei- und der F.D.P. - Marieluise Beck [Bremen] nen sie, die Welt wäre eingeschlafen. Was wir brau- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und Dema chen, ist die Konzentration auf wichtige Fragen und gogen!) darauf, Sachen auch durchzusetzen. Auch die Rentenversicherung ist von dem Virus Das Rentenreformwerk hat mehr als einen Hebel, aufgeregter Wichtigtuerei infiziert. Der Beitrag zur damit man auf Veränderungen reagieren kann. Ich Rentenversicherung ist am 1. Januar 1995 von 19,2 % nenne die Lebensarbeitszeitverlängerung. Das ha- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995 2189

Bundesminister Dr. Norbert Blüm ben wir doch gemeinsam vorgesehen. Herr Prof. ganze Welt eher an einem selbstverwalteten, staats- Schmähl, der Vorsitzende des Sozialbeirates, weist fernen, leistungsbezogenen Alterssicherungssystem nach: Wenn wir das Renteneintrittsalter nur um zwei orientiert. Mit mir wird es keine Grundrente geben, Jahre nach hinten verschieben würden, könnten wir keinen Schlag aus der Gulaschkanone. die Beiträge um 3 % senken. Jetzt liegt das Renten eintrittsalter bei 59 Jahren. Diejenigen, die am Sonn- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) tag über Lohnnebenkosten reden, die Vertreter der Die Rente ist keine Fürsorgeleistung, kein Almosen; Großbetriebe, tun ab Montag alles, was bewirkt, daß sie ist Leistungslohn. Das werde ich verteidigen, weil die Lohnnebenkosten steigen, weil sie ihre Personal- darin auch ein Stück Selbständigkeit und Selbstbe- probleme mit der Frühverrentung lösen. wußtsein unserer älteren Mitbürger liegt. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. so Es gibt viel zu verändern, es gibt aber auch viel zu wie bei Abgeordneten der SPD und des verteidigen, was in einem 100jährigen Sozialstaat ge- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) wachsen ist. Dazu lade ich alle ein. Das halte ich für erstens scheinheilig und zweitens (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) ungerecht. Es bezahlen nämlich die Beitragszahler in den Kleinbetrieben, Arbeitgeber und Arbeitnehmer, mit, was die einfallslose Personalpolitik der Großbe- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort zu ei- triebe verursacht. Unternehmen des Maschinenbaus ner Kurzintervention erhält jetzt die Abgeordnete suchen jetzt schon wieder Facharbeiter, die sie vor Marieluise Beck. 12 Monaten durch Frühverrentung mit dem golde- nen Handschlag ins Freie geschickt haben. Hätten (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- wir eine intelligente Arbeitszeit, beispielsweise eine Marieluise Beck NEN): Herr Minister, mit Verlaub, ich finde es etwas Altersteilzeit, einen flexiblen Übergang in den Ruhe- unsportlich, wenn Sie keine Zwischenfragen mehr stand, bräuchten wir eine solche Rasenmäherme- zulassen. thode nicht, und allen wäre geholfen. Da Sie ja so gern Komplimente entgegennehmen, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge möchte ich Ihnen eines gleich zu Anfang machen: ordneten der F.D.P.) Sie sind ein Meister der Demagogie. Wenn Sie dabei so meisterhaft sind, müssen Sie es aber hinnehmen, Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Lieber Herr Mi- daß Sie bei Ihren demagogischen Ausführungen ge- nister, Sie dürfen zwar unendlich lange reden. Nur, stört werden. die mit der Fraktion ausgemachte Redezeit ist vorbei. (Bundesminister Dr. Norbert Blüm: Richtig!) Wenn Sie wirklich reklamieren, mit dem Chaos in Dr. Norbert Blüm, Bundesminister für Arbeit und den Köpfen umgehen zu wollen, dann ist Sorgfalt an- Sozialordnung: Na gut, dann mache ich es kurz. gesagt. Deswegen finde ich es unverantwortlich - das möchte ich mit aller Deutlichkeit sagen -, in wel- chen Zusammenhang Sie das Zitat aus der „Süd- Sie wissen, Sie Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: deutschen Zeitung", das in der Wortwahl richtig sein haben die Verfassung auf Ihrer Seite. mag - das kann und will ich auch nicht bestreiten -, gestellt haben. Es geht um die Interpretation, Herr Dr. Norbert Blüm, Bundesminister für Arbeit und Minister. - Hören Sie mir zu? Sozialordnung: Es gibt mehr als einen Hebel. Wir le- (Bundesminister Dr. Norbert Blüm: Ja, ich gen die Hände nicht in den Schoß. Frau Babel hat höre zu!) schon gesagt, daß wir die Erwerbs- und Berufsunfä- higkeit neu regeln wollen. Ferner wollen wir die - Gut. Fluchtversuche aus der Solidarkasse abwehren und verhindern, daß immer neue Sachen der Solidarge- Wenn hier gesagt wird: „Man muß erst zum Pflege- meinschaft aufgebürdet werden. fall werden, bevor man Ansprüche hat" , steht dahin- ter ein reales Problem für viele Betroffene - Behin- Es gibt viel zu tun. Nur müssen wir die Rentenver- derte und eingeschränkt Lebende -, die nicht eine sicherung nicht neu erfinden. Wir haben es hier näm- tägliche Unterstützung, nicht eine tägliche Pflegelei- lich nicht mit einem Spielzeug zu tun, sondern mit stung benötigen, sondern nur zwei- oder dreimal die den Erwartungen von Menschen, die ihre Lebenspla- Woche Unterstützung z. B. beim Baden und bei an-- nung darauf aufbauen wollen. deren Verrichtungen. Ich weiß nichts Besseres als eine leistungs- und Dieser Personenkreis fällt jetzt aus der Pflegeversi- lohnbezogene Rente. Auf der ganzen Welt gibt es cherung heraus, weil die Hürden zu hoch gesetzt eine Konvergenz. Privatversicherungssysteme sehen, sind. Das sind die Menschen, die ihre Situation so daß es nicht langt; Staatsversorgungssysteme stellen formulieren: Müssen wir denn erst zum Pflegefall fest: Die Anonymität ist zu groß. Es gibt geradezu werden, bevor wir Leistungen aus der Pflegeversi- eine Konvergenz in Richtung auf eine beitragsfinan- cherung bekommen, obwohl wir doch eigentlich zierte Sozialversicherung. Es wäre Geisterfahrerei, selbständig lebende Menschen sein können und nur wenn wir aussteigen wollten, während sich die minimale Unterstützung benötigen? 2190 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995

Marieluise Beck (Bremen) Um diesen Sachverhalt geht es. Ich glaube, daß Sie ich vermute, daß diese inhaltslose Phraseologie fast klug und wissend genug sind, um den Hintergrund repräsentativ ist für große Teile Ihrer Fraktion. Das ist dieses Sachverhalts zu kennen. wirklich ein Problem. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, (Beifall bei der SPD - Widerspruch bei der bei der SPD und der PDS) CDU/CSU - Volker Kauder [CDU/CSU]: Sie sind auch nicht viel besser!)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort zur Sie haben davon gesprochen und uns angegriffen, Kurzintervention erhält der Abgeordnete Blüm. auf dieser Seite des Hauses säßen die sozialen Ver- elendungstheoretiker. Sie haben versucht, über den Armutsbegriff nachzudenken, und haben sich getrö- Dr. Norbert Blüm (CDU/CSU): Frau Kollegin, ich stet, die Armut in Deutschland sei weniger ausge- möchte mich ausdrücklich entschuldigen, daß ich in prägt als die Armut in der Dritten Welt. der Hitze des Gefechtes Ihre Wortmeldung nicht mehr gesehen und den Faden meiner Ausführungen (Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU]: Zuhö- nicht unterbrochen habe. ren!) (Gerd Andres [SPD]: Was für ein Gefecht, Wenn Sie Nachhilfe in Sachen Armut brauchen, Herr Minister? - Katrin Fuchs [Verl] [SPD]: will ich Ihnen aus einem Papier zitieren, das Sie als Das letzte!) guter Christenmensch eigentlich gelesen haben müßten, aus dem Text „Zur wirtschaftlichen und so- - Herr Kollege Andres, was ich als Gefecht be- zialen Lage in Deutschland", der Diskussionsgrund- zeichne, überlassen Sie einmal mir. Ich bin nicht so lage der beiden großen Kirchen in Deutschland für militärisch wie Sie. Bei mir beginnen Gefechte schon den Konsultationsprozeß für ein gemeinsames Wort bei einem kurzen Pingpong. der Kirchen. Ich zitiere das in aller Ruhe, weil ich denke, daß es sich lohnt, darüber zu diskutieren: Nun zurück zur Sache. Das, was Sie sagen, kann deshalb nicht stimmen, weil 500 000 erheblich Pfle- Die Armutssituationen treffen besonders Fami- gebedürftige bisher von keiner Versicherung etwas lien und Einzelpersonen, die mehrere Jahre auf bekommen haben. Sie können nicht aus einer Versi- Sozialhilfe angewiesen sind. Elementare Merk- cherung herausfallen, wenn sie bisher null bekom- male eines humanen Lebens, wie z. B. Spiel- men haben. Anders ist es, wenn jemand von der So- räume haben, Chancen haben, etwas geben oder zialhilfe Leistungen bekommt, weil er minderbemit- helfen können, entfallen. Es ist die Lebensquali- telt ist. Das hat aber mit der Pflegeversicherung tät, die hier nachhaltig und tiefgreifend beein- nichts zu tun. trächtigt ist. Armut ist das Verwiesensein auf die Befriedigung sogenannter „primärer Bedürf- Ausdrücklich halte ich fest, daß es wider das Ge- nisse" (Ernährung, Kleidung, Wohnung usw.) setz ist - trotzdem wird es probiert -, daß sich die So- und das Nicht-befriedigen-Können der „höheren zialhilfe von Leistungen zurückzieht, die sie bisher Bedürfnisse" (Selbstentfaltung in der Arbeit, ge- gezahlt hat. Das sollten wir gemeinsam abwehren. sellschaftliche Teilhabe und Mitgestaltung, Un- terhaltung, Geschenke machen u. a.). In der Psy- (Beifall des Abg. Hans-Joachim Fuchtel che der Menschen trägt solche Armut die Kenn- [CDU/CSU]) zeichen einer Lebenskatastrophe. Viele unter uns Ich lese Ihnen das noch einmal vor. In dem Zusam- leben in diesem Sinn in Armut. Es sind „Mühse- menhang, in dem die „Süddeutsche Zeitung" das lige und Beladene", die besonders uns Christen dargestellt hat, war das nicht das Thema, das Sie vor- am Herzen liegen müssen. gebracht haben. Hier steht ganz klar und unkom- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- mentiert: Er kann nicht verstehen, „daß das neue Ge- ten der PDS) setz alte Menschen verpflichtet, erst pflegebedürftig zu werden, bevor sie Hilfe bekommen". Das, finde Meine Damen und Herren von der sich christlich ich, ist ein Ausweis für eine leicht verrückte Diskus- nennenden Fraktion, anstatt hier wirklich dümmliche sion, die ich so nicht widerspruchslos hinnehme. Polemiken gegen sogenannte Verelendungstheoreti- ker vom Stapel zu lassen, sollten Sie einmal ernsthaft (Beifall bei der CDU/CSU) über die Bemühungen der beiden Kirchen nachden- ken, dem Armutsbegriff auf die Spur und zu Erläute- rungen zu kommen, über die nachzudenken sich Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat wirklich lohnen würde. jetzt der Abgeordnete Ottmar Schreiner. Es wäre zum ersten Mal in Ihrer Regierungszeit, daß ein Koalitionsabgeordneter aus den christlichen Ottmar Schreiner (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Parteien im Deutschen Bundestag bezogen auf die Kolleginnen und Kollegen! Bei den vielen Beiträgen Armutsentwicklung in Deutschland das Wort von aus den Koalitionsfraktionen weiß man gar nicht so den Mühseligen und Beladenen auch nur in den recht, wo man anfangen soll. Ich beginne einmal bei Mund genommen hätte. dem Zwischenrufer Herrn Fuchtel, nicht deshalb, Herr Fuchtel, weil ich Ihr inhaltsloses Gefasel für be- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- sonders bedenkenswert halte, sondern deshalb, weil ten der PDS) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995 2191

Ottmar Schreiner Was Ihr parteichristliches Verständnis von der christ- Meine Damen und Herren, der Kollege Fuchtel - lichen Botschaft mit der Realität zu tun hat, frage ich um noch einmal bei dem bedeutenden Zeitgenossen mich um so mehr nach diesem platten Redebeitrag zu verweilen - hat dann als zweiten Schwerpunkt be- des Kollegen Fuchtel. nannt, es gehe nicht darum, uferlos den zweiten Ar- beitsmarkt auszuweiten - dabei hat er außerordent- (Julius Louven [CDU/CSU]: Das hat mit So lich bedeutungsschwer in Richtung SPD-Opposition zialpolitik nichts zu tun!) geblickt -, sondern das Kernanliegen sei die Erhö- Das hat mit Sozialpolitik sehr viel zu tun . Ich hung der Zahl von Arbeitsplätzen auf dem ersten Ar- komme darauf angesichts der aktuellen Sozialhilfe- beitsmarkt. debatte noch zurück. Gegen diesen Satz ist überhaupt nichts einzuwen- den. Es gibt nicht einen einzigen Sozialdemokraten und keine sozialdemokratische Kollegin in diesem Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage? Haus, die der Auffassung wären, das Heil der Be- schäftigungsentwicklung läge in einer uferlosen Ex- pansion des zweiten Arbeitsmarkts. Das ist von uns Ottmar Schreiner (SPD): Vom Generalsekretär? - hier niemals vorgetragen worden. Bitte schön, Herr Generalsekretär. Sie bauen sich irgendwelche Popanze auf, auf de- (Gerd Andres [SPD]: Aber nur in Baden nen Sie dann um so lieber herumtrommeln. Das ist Württemberg!) eine uralte, hin und wieder auch bewährte Taktik. - Sein Hauptanliegen ist ja, daß das Saarland an Ich werde aber auf Ihren Vorschlag, entscheidend Rheinland-Pfalz angeschlossen wird, damit Baden- sei die Mehrbeschäftigung auf den regulären Ar- Württemberg beim Länderfinanzausgleich besser ab- beitsmärkten, gerne zurückkommen; denn Sie haben schneidet. es unterlassen, auch nur einen einzigen Satz zu sa- gen, wie Sie denn Mehrbeschäftigung auf den regu- lären Arbeitsmärkten erreichen wollen. Volker Kauder (CDU/CSU): Herr Kollege Schrei- ner, ich glaube, nach solchen Reden ist es den Rhein- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE land-Pfälzern nicht mehr zuzumuten, daß die Saar- GRÜNEN und der PDS) länder dort hinkommen. Nicht einen einzigen Satz habe ich bislang - weder Ich habe eine ganz konkrete Frage: Sie haben aus von Ihnen noch von anderen Rednern der Koaliti- dem Kirchenpapier zitiert, es dem Kollegen Fuchtel onsfraktionen einschließlich des Ministers - dazu ge- vorgehalten und die gesamte CDU/CSU-Bundes- hört. tagsfraktion gefragt, ob wir das auch machen, was (Zuruf von der SPD: Kein Wunder bei die- uns die Kirchen vorschlagen. Beziehen Sie die Posi- sem Wirtschaftsminister! - Zuruf von der tionen der Kirchen auch dann, wenn es um § 218 CDU/CSU: Dann haben Sie nicht zugehört!) geht, oder suchen Sie sich immer nur das heraus, was Ihnen paßt? - Nein. Ich habe ein paar Kritiken gehört. Ich habe die Kritik von Frau Dr. Babel gehört, in der immer (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - wieder die Lohnkosten thematisiert worden sind. Das Lachen bei der SPD) ist eine alte Leier, die wir zweieinhalb Jahre während der Debatte über den Standort Deutschland gehört Ottmar Schreiner (SPD): Ich bin jederzeit bereit, haben. über die Vorschläge der Kirchen, auf welchem politi- Es hieß immer, die Lohnkosten seien an allem schen Feld auch immer, zu diskutieren, ob das die schuld. Dies alles ist nichts anderes als ein Ablen- Entwicklungshilfe, § 218 oder die Armut in Deutsch- kungsmanöver vom zentralen wirtschaftspolitischen land betrifft. Das ist für mich überhaupt keine Frage. Versagen dieser Regierung. Ich komme darauf gleich Ich muß nicht jeden Vorschlag nachvollziehen kön- zurück. nen, aber ich bin gerne bereit, jeden Vorschlag ernst- haft zu prüfen und zu diskutieren. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- ten der PDS) (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS) Meine Damen und Herren, ich habe mir gestern das Mißvergnügen angetan, mir die erste Runde der - Ich habe den ernsthaften Verdacht, daß Sie - zu- Haushaltsdebatte anzuhören. Dabei ist mir aufgefal- mindest bezogen auf die sozialpolitischen Exzesse, len, daß sich die Beiträge aus den Koalitionsfraktio- auf die sich verbreitenden und vertiefenden Armuts- nen zusammengesetzt haben aus einer Mischung prozesse in unserer Republik - nicht mehr bereit von abstrakten Zahlen, die hier vorgetragen werden, sind, die Vorschläge und Analysen der Kirchen ernst und einer geradezu unglaublichen Schönfärberei der zunehmen, geschweige denn ernsthaft zu diskutie- wirklichen Situation. ren. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS - Zuruf von der Ich werde versuchen, das an Hand von wenigen CDU/CSU: Sie nehmen sie gar nicht ernst!) Punkten zu belegen. 2192 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995

Ottmar Schreiner Der haushaltspolitische Sprecher der CDU/CSU- Die Regierung und die Koalitionsfraktionen waren Fraktion, der Kollege Roth, hat gestern hier mit stolz- nicht einmal bereit, die 3,5 Milliarden DM der Bun- geschwellter Brust verkündet, 119 Milliarden DM im desanstalt für Arbeit zusätzlich zu geben. Damit Bundeshaushalt entfielen auf den sozialen Bereich. hätte man rund 250 000 Menschen aus der offenen Diese Zahl ist heute erneut vorgetragen worden. Arbeitslosigkeit herausholen können. Diese Zahlen - in welcher Höhe auch immer - besa- gen zunächst einmal überhaupt nichts über die Qua- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne lität eines Sozialstaats. Und sie besagen überhaupt ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN nichts über die Qualifizierung einer Marktwirtschaft und der PDS) als „soziale" Marktwirtschaft. Je höher beispiels- Gemessen an diesem Anspruch, vorhandene Gel- weise die Arbeitslosigkeit ist, je breiter und je tiefer der möglichst sinnvoll einzusetzen, um die Integra- die Armut ist, desto höher sind natürlich die Sozial- tion von Menschen zu erleichtern und zu befördern, kosten in einer Gesellschaft. Man könnte also ge- haben Sie jämmerlich versagt. radezu zu der entgegengesetzten Vorstellung kom- men: Je höher die Sozialausgaben bei verbreiteter (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Armut, desto bedenklicher ist es um die innere Ver- Es deutet sich keine Besserung an entlang den Pla- fassung, um die soziale Verfassung einer Gesell- nungsdaten des Haushalts 1995. schaft bestellt. Ich habe gestern früh das Mißvergnügen gehabt, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne Herrn Theodor Waigel hier zuzuhören. Ich fasse ein- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN mal in wenigen Sätzen zusammen, was er in bezug und der PDS - Zuruf von der CDU/CSU) auf die Beschäftigungssituation gesagt hat. Er hat darauf hingewiesen: 3 % zu erwartendes Wirtschafts- Deshalb ist die entscheidende Frage nicht - um das wachstum für 1995, 3,6 % Wachstum für 1996. Er hat vorwegzunehmen, lieber Herr Kollege Unbekannt -, dann frohlockt: die Arbeitslosigkeit geht zurück, die wie groß die Etats sind. Der Kollege Austermann hat Kurzarbeit spielt keine Rolle mehr, und „die verblei- sich heute selbst verwirrt mit der Bemerkung, ein benden Probleme" - so das wörtliche Zitat von Herrn Drittel des Bruttoinlandsprodukts entfiele auf die so- Theodor Waigel - „werden mit dem 3-Milliarden- genannte Sozialleistungsquote. Auch das ist völlig Programm zur Bekämpfung der Langzeitarbeitslosig- nichtssagend. Übrigens war es vor zwölf Jahren et- keit zielgerichtet angegangen". was mehr als ein Drittel. Aber das ist eine andere Frage; ich will darauf nicht eingehen. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Gestatten Sie Entscheidend für die Qualität eines Staates als So- eine Zwischenfrage der Kollegin Babel? zialstaat ist nicht das Volumen sozialer Ausgaben, Ottmar Schreiner (SPD): Bei dieser Schönfärberei (Zuruf von der CDU/CSU: Richtig!) ist man fast so traurig, daß man in sich gehen und auch keine Zwischenfragen zulassen möchte. Aber sondern entscheidend ist - das ist der Kern jeder Ar- bitte sehr. Es ist wirklich nicht zu fassen, was die Re- beits- und Sozialpolitik -, ob und inwieweit es uns gierung sich hier an Schönfärberei, an Realitätsverlu- gelingt, die Menschen aktiv teilhaben zu lassen an sten erlaubt. den entscheidenden gesellschaftlichen Prozessen. (Beifall bei der SPD - Zuruf von der F.D.P.: (Lebhafter Beifall bei der SPD) Schauspieler!) Das ist die Kernaufgabe jeder Sozialpolitik: Hilfe zur Bitte sehr, Frau Kollegin Dr. Babel. Selbsthilfe, beitragen zu können in Selbstverantwor- tung, teilzuhaben am sozialen Geschehen. Das ist die Dr. Gisela Babel (F.D.P.): Herr Kollege Schreiner, eigentliche Aufgabe. meine Frage gibt Ihnen bei Ihrem Prestissimo die Möglichkeit, zwei Sekunden Atem zu schöpfen. Wenn man die Regierung an dieser Aufgabe mißt, Auch das ist der Vorteil einer Zwischenfrage. dann kann man als Schlußbenotung nur sagen: im günstigsten Falle sechs plus. Sie sagen, es sei eine unglaubliche Schande, daß wir der Forderung der Bundesanstalt nach noch (Jürgen W. Möllemann [F.D.P.]: Jetzt über mehr Mitteln nicht nachgekommen sind. treiben Sie ein bißchen!) (Zuruf von der SPD: Recht hat der Mann!) - Es gibt doch millionenfache Ausgrenzungen. Wir se- Teilen Sie denn den Glauben, daß eine Aufstockung hen eine Verdreifachung der Zahl von Sozialhilfe- der Mittel im zweiten Arbeitsmarkt die Langzeitar- empfängern. 500 000 Menschen hausen in schäbig- beitslosigkeit im Industriestaat Deutschland wirklich sten Unterkünften. Es gibt viele zehntausend Kinder, bekämpft, daß es nicht nur eine Beschäftigungsmaß- die davon betroffen sind. Nach Schätzungen der bei- nahme, nicht nur eine Salve ist? den Kirchen leben rund 7 Millionen Menschen an oder unterhalb der Armutsgrenze. Wir haben nahezu (Dr.-Ing. Dietmar Kansy [CDU/CSU]: Das vier Millionen registrierte Arbeitslose, die eine totale glaubt er selbst nicht! Das ist sein Problem! Ausgrenzung aus einem gesellschaftlichen Zentrum, - Katrin Fuchs [Verl] [SPD]: Danke für die nämlich der Erwerbsarbeit, erfahren. Vorlage!) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995 2193

Ottmar Schreiner (SPD): Das ist erneut eine Vor- such, dem Thema Bundeshaushalt, angeblich das lage; ich wollte im Laufe meines Beitrages auf die Schicksalsbuch der Nation, halbwegs gerecht zu Probleme der Wirtschaftspolitik zu sprechen kom- werden, anstatt diese uferlosen Beschönigungsreden men. zu halten, die substanzlos, phraseologisch sind.

(Jürgen W. Möllemann [F.D.P.]: Machen Sie Das einzige, was Ihnen dazu einfällt, ist: Die SPD es jetzt!) ist im übrigen an allem schuld. Das ist wirklich eine Primitivpolitik, wie sie kaum noch zu überbieten ist. Ich will das jetzt vorwegnehmen: Vor wenigen Tagen Sie wird den wirklichen Problemen dieses Landes hat die Bund-Länder-Kommission für Forschung und noch nicht einmal ansatzweise gerecht. Bildungsplanung im Rahmen eines Gutachtens u. a. In Richtung von Herrn Waigel, bei dem die Ar- darauf hingewiesen - das war der Kern -, daß in ab- beits-, Beschäftigungs- und Sozialpolitik in Butter zu sehbarer Zeit rund die Hälfte der Arbeitsplätze der sein scheint, möchte ich einige wenige Punkte nen- fünf Millionen Ungelernten, die wir in dieser Repu- nen, die in eine Bestandsaufnahme gehören. Zu ei- blik noch haben, wegfallen wird. ner Bestandsaufnahme gehört, daß wir 3,8 Millionen registrierte Arbeitslose haben. Zur Bestandsauf- Sie haben darauf hingewiesen - das ist eine aktu- nahme gehört, daß sich die Sockelarbeitslosigkeit elle Diskussion, die wir seit geraumer Zeit führen -, nach den Rezessionen der 70er und 80er Jahre je- daß es in der ökonomisch-sozialen Entwicklung zwei weils um ca. 800 000 Personen erhöht hat und nach Grundtendenzen gibt, die genau diesen von der der letzten Rezession von 1993 ein ähnlich dauerhaf- Bund-Länder-Kommission diskutierten Prozeß beför- ter Anstieg zu befürchten steht. dern. Die erste Grundtendenz ist die Globalisierung der Märkte, d. h. wir sind in wachsendem Maße Zu einer Bestandsaufnahme gehört auch, daß der nicht mehr in der Lage, mit sogenannten Niedrig- Anteil der Langzeitarbeitslosen an den Arbeitslosen lohnländern in den Bereichen zu konkurrieren, in de- insgesamt inzwischen weit mehr als 30 % erreicht nen ungelernte oder wenig qualifizierte Arbeitneh- hat, während er in den frühen 80er Jahren noch bei mer gebraucht werden. knapp 10 % lag. Das müßten Teile einer kritischen Bestandsaufnahme sein. Die zweite Grundtendenz ist das wachsende Ein- dringen neuer Technologien, das zum Ergebnis ha- Zu einer kritischen Bestandsaufnahme gehört auch ben wird, daß Arbeitnehmer, die einfache Tätigkei- der lauter werdende Aufschrei unserer Städte und ten ausführen, in wachsendem Maße durch compu- Gemeinden, die die ihnen aufgebürdeten Sozialla- tergesteuerte Techniken wegrationalisiert werden. sten nicht mehr tragen können. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne (Jürgen W. Möllemann [F.D.P.]: Das ist nun ten der PDS und der Abg. Ulrike Höfken wirklich nicht neu!) Deipenbrock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Angesichts dieser beiden Grundtendenzen ist eine Ich will Sie darauf hinweisen, daß die Kommunen zu der Kernaufgaben sowohl der Wirtschaftspolitik als nahezu 80 % Träger der öffentlichen Investitionen und auch der Sozialpolitik die Qualifizierung von Arbeits- damit ein eminent wichtiger Beschäftigungsfaktor losen und die Qualifizierung von noch in Arbeit be- sind. In dem Maße, in dem die Kommunen von wach- findlichen Menschen, die in absehbarer Zeit arbeits- senden Sozialhilfelasten schier stranguliert werden, los werden, wenn es ihnen nicht gelingt, ihr Qualifi- fallen die Kommunen auch als Auftraggeber für das kationsniveau zu erhöhen. lokale Handwerk, für örtliche Kleinbetriebe und mit- telständische Unternehmungen aus. Das ist ein funda- (Beifall bei der SPD und der PDS sowie der mentaler beschäftigungspolitischer Zusammenhang. Abg. Ulrike Höfken-Deipenbrock [BÜND NIS 90/DIE GRÜNEN]) Die Zeitung „Die Welt" vom vergangenen Samstag brachte eine große Überschrift: Frau Präsidentin, ich bedanke mich, daß die Zeit eben nicht angerechnet wurde. Städte klagen über Sozialhilfelasten - Volumen seit 1985 verdreifacht - Immer mehr sachfremde (Dr. Konstanze Wegner [SPD]: Soviel Nach Kosten - Waigel für Befristung hilfeunterricht kann nicht angerechnet wer Dort heißt es: den!) Die Sozialhilfekosten sind nach Darstellung des Ich will nun versuchen, darzulegen, an welchen Deutschen Städtetages „nicht mehr zu ertragen". - Maßstäben eine Haushaltsdebatte zumindest im Be- Sie haben sich für die deutschen Städte und Ge- reich der Arbeits- und Sozialpolitik gemessen wer- meinden in den vergangenen zehn Jahren ver- den müßte: Zum ersten wäre es notwendig - das dreifacht, sagte ... der Präsident des Städte- würde den Regierungsfraktionen nicht schaden -, tages ... Ein Grund dafür sei, daß „Gruppen von eine gesellschaftspolitische Bestandsaufnahme vor- Menschen in die Sozialhilfe hineinfallen, für die zunehmen. In einem zweiten Schritt müßte man - da die Sozialhilfe ursprünglich nicht gedacht war". können wir sehr wohl unterschiedlicher Meinung Wegen der zunehmenden Langzeitarbeitslosig- sein - über Chancen und Gefahren dieser Entwick- keit seien bereits 35 Prozent der Sozialhilfeemp- lung diskutieren und daraus die Prioritäten politi- fänger Erwerbslose, in den Städten seien es sogar scher Handlungen begründen. Das wäre der Ver- bis zu 50 Prozent. 2194 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Gestatten Sie deckungsprinzip bei der Sozialhilfe zugrunde liegen- eine Zwischenfrage des Kollegen Fuchtel? den preislichen Anpassungsmechanismen geben da- für nicht den geringsten Anlaß. Die neuesten Schät- Ottmar Schreiner (SPD): Wenn sie halbwegs ange- zungen gehen darauf hinaus, daß der Erhöhungsbe- messen ist, bitte schön. darf unter Beibehaltung des Bedarfsdeckungsprin- zips bei etwa 2 % liegen wird.

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Ich halte ja im- Das Bundesgesundheitsministerium erwägt nach mer die Uhr an. den Informationen, die zugänglich sind, eine Korrek- tur, eine Verschlechterung bei der Sozialhilfe mit dem Hinweis, das sei nicht hin- Hans-Joachim Fuchtel (CDU/CSU): Herr Kollege Lohnabstandsgebot Schreier, sorry - - - reichend eingehalten. Meine Damen und Herren, wenn man dieses Argu- Ottmar Schreiner (SPD): Nehmen Sie die Hand aus ment hört, dann ist man beinahe fassungslos. Im der Hosentasche! Frühsommer vergangenen Jahres hat das Bundesfa- milienministerium - damals unter Ministerin Frau (Ina Albowitz [F.D.P.]: Er hat sie nicht d rin!) Rönsch, die wie immer freundlich in der zweiten Reihe sitzt - der Öffentlichkeit eine Studie präsen- Hans-Joachim Fuchtel (CDU/CSU): Ich bin so auf- tiert. Der Kern dieser Studie war: Das Lohnabstands- geregt. - Herr Kollege, geben Sie mir recht, daß man gebot zwischen Sozialeinkommen und den unteren einen Teil der Sozialhilfekosten hätte einsparen oder Tarifeinkommen ist sehr wohl eingehalten. Die Stu- reduzieren können, wenn Ihre Partei bereit gewesen die hat eine einzige Einschränkung gemacht. Man wäre, die Asylgesetzgebung frühzeitiger zu beschlie- hat gesagt: Im Bereich der Familien mit mehreren ßen? Kindern kann es zu Berührungen kommen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Aber die Konsequenz daraus können nicht Kür- zungen bei der Sozialhilfe sein, sondern das Herstel- Ottmar Schreiner (SPD): Ich bin überhaupt nicht len eines Familienlastenausgleichs, der seinen Na- bereit, diese unsinnige Frage zu beantworten. men wirklich verdienen würde. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- ten der PDS) ten der PDS) Sie wissen, daß es sich um ein extrem delikates Das war die Position der Bundesregierung im Früh- Thema gehandelt hat. Sie wissen, daß das Bundesge- sommer letzten Jahres. sundheitsministerium, das neuerdings für die Sozial- hilfe zuständig ist, jetzt augenscheinlich bestrebt ist, Was hat sich an den Grundlagen dieser Position ei- bestimmte Regelungen dieses Kompromisses im gentlich geändert? Welche neuen Erleuchtungen nachhinein in einer Form und in einer Weise zu korri- sind Ihnen, Herr Seehofer, seit dem Frühsommer letz- gieren, die von den Sozialdemokraten auf keinen ten Jahres zugeflogen, die Sie jetzt zu Ihren Posi- Fall mitgetragen werden kann. Ich komme darauf zu- tionsänderungen bewegen? Oder geht es Ihnen, an- rück. statt die Ursachen der Abhängigkeit von der Sozial- hilfe beseitigen zu wollen, nicht in Wirklichkeit (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne darum, die Sozialhilfeempfänger schamlos zu miß- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) brauchen, um billigste Stimmungsmache in diesem Die Sozialhilfe ist von ihrer ganzen Konzeption her Land zu betreiben? Das ist wahrhaft keine christliche ein subsidiärer, also ein nachrangiger Leistungsträ- Politik. Diese Politik, würde ich ganz gerne sagen, ist gen. Diesen Charakter als Nothilfe in letzter Instanz nur noch zum Kotzen; ich sage es aber nicht. hat sie längst verloren, weil die Bundesregierung - (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ das ist der entscheidende Punkt - seit geraumer Zeit DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der die vorrangigen Sicherungs- und Leistungssysteme PDS) durchlöchert, und zwar systematisch durchlöchert. Ein typisches Beispiel sind die fast ins Dutzende ge- Das gleiche gilt im übrigen, wie zu hören ist, für hende Verschlechterungen bei der Arbeitslosenversi- die beabsichtigte Absenkung der Sozialhilfe für Bür- cherung, die mit dazu beigetragen haben, daß in gerkriegsflüchtlinge. Das Bedarfsdeckungsprinzip wachsendem Maße Arbeitslose, insbesondere Lang- leitet sich aus der Würde des Menschen ab, geregelt zeitarbeitslose, in die Sozialhilfe hineingeraten. in § 1 des Bundessozialhilfegesetzes. Fremde Men- - Meine Damen und Herren, noch einige Sätze zur schen, die vor Bürgerkriegen in unser Land geflüch- aktuellen Sozialhilfedebatte. Nach den Informatio- tet sind und in unserem Land vorübergehend Auf- nen aus dem Bundesgesundheitsministerium - wo ist nahme gefunden haben, verdienen den gleichen Be- denn der hübsche Junge? - da hinten ist er - ist beab- griff der menschlichen Würde wie die einheimischen sichtigt, daß die Sozialhilfe zukünftig mindestens 10 Bürgerinnen und Bürger in Deutschland auch. bis 20 % unterhalb der niedrigsten Arbeitseinkom- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE men liegen soll. Das ist das, was zu lesen ist. Das bis- GRÜNEN und der PDS) herige Bedarfsdeckungsprinzip soll aufgegeben werden. Meine Damen und Herren, die dem Bedarfs Die Würde des Menschen ist nicht teilbar. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995 2195

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Gestatten Sie Deutschland sind, wie Bürgerkriegsflüchtlinge, unter eine Zwischenfrage des Abgeordneten Seehofer? Sozialhilfegesichtspunkten so behandelt werden wie Einheimische. Nun ist in Informationen zu lesen, daß Sie genau diese Regelung ändern wollen. Ottmar Schreiner (SPD): Ja, bitte sehr. (Zuruf von der CDU/CSU: Haben Sie da zu- (Zuruf von der SPD) gestimmt?) - Der hat die linke Hand in der Hostentasche. - Das ist überhaupt nicht die entscheidende Frage, wer hier im Bundestag wem zugestimmt hat. Horst Seehofer (CDU/CSU): Lieber Herr Kollege Schreiner, nachdem Sie das Bedarfsdeckungsprinzip (Zuruf von der CDU/CSU: Doch! Das war und die Menschenwürde hier in die Diskussion ge- die Frage!) bracht haben: Könnte es denn richtig sein, daß es ge- - Das ist doch überhaupt nicht die Frage. rade auch die SPD war, die der zur Zeit gültigen Dek- kelung der Sozialhilferegelsätze, die immerhin bis (Zurufe von der CDU/CSU: Doch!) Mitte des nächsten Jahres völlig unabhängig von der - Na gut, ich werde Ihnen diese Frage beantworten. Bedarfsdeckung noch gilt, zugestimmt hat? Wenn Sie auf die Beantwortung dieser Frage, die ja (Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU]: Hört! nun wirklich von dem hier zu diskutierenden Thema Hört! -Andrea Fischer [Berlin] [BÜNDNIS 90/ ablenkt, so großen Wert legen, dann sage ich Ihnen, DIE GRÜNEN]: Das macht sie ja nicht bes daß ich als Abgeordneter persönlich im Deutschen ser!) Bundestag dem Asylkompromiß nicht zugestimmt habe, Könnte es auch so sein, daß Sie im Asylbewerber- leistungsgesetz genau den Tatbestand, den Sie jetzt (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- kritisieren, für Asylbewerber für die Geltungsdauer SES 90/DIE GRÜNEN) von einem Jahr mit beschlossen haben? Und könnte weil ich der Meinung gewesen bin, daß eines der mein Verdacht richtig sein, daß Sie in dieser Diskus- reichsten Länder dieser Welt mit Menschen, die in sion vergessen machen wollen, daß es sich bei den Not sind, die auf der Flucht sind, die vom Tode be- Dingen - die ich im Grunde für vernünftig halte, die droht sind, - Sie auch mit beschlossen haben - ähnlich verhält wie (Große Unruhe) bei Ihren Beschlußlagen in der Gesundheitsreform, wo Sie uns die höchste Selbstbeteiligung für die Pa- tienten seit Bestehen der gesetzlichen Krankenversi- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Liebe Kollegen, cherung vorgeschlagen haben? ich bitte um Ruhe!

(CDU/CSU): Herr Minister, Ottmar Schreiner (SPD): - großzügiger umgehen Ottmar Schreiner muß als die konservative Debatte der letzten Jahre nichts von dem kann sein. dies gezeigt hat. (Lachen bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Wie sollte es auch anders sein? Ich will versuchen, GRÜNEN und der PDS) Ihnen das zu erläutern. Sie spielen bei der ersten Das war der entscheidende Grund für mein Abstim- Frage auf die damaligen Regelungen an, Erhöhun- mungsverhalten. Und da bin ich auch in guter Ge- gen der Sozialhilfe um jeweils 2 %, 3 % vorzusehen sellschaft: Lesen Sie die Stellungnahmen der Kirchen und zwar bis Mitte des nächsten Jahres. Die neue- nach, lesen Sie die Stellungnahmen der Gewerk- sten Schätzungen, die ich kenne, bezogen auf die schaften nach, lesen Sie die Stellungnahmen vieler preislichen Bewertungsgrundlagen für das Bedarfs- Einzelpersönlichkeiten nach! Ich stehe da nicht al- deckungsprinzip, schwanken in der Größenordnung lein. Ich habe eher das Gefühl, Sie sind da in schlech- exakt zwischen 2 % und 3 %. ter Gesellschaft, Herr Minister. Es hat vor einigen Monaten Horrormeldungen ge- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE geben, das Bedarfsdeckungsprinzip würde kurzfri- GRÜNEN und der PDS - Zuruf von der stig zu Steigerungsraten von um die 10 % führen. CDU/CSU: Aber keiner will zahlen! Das ist Von diesen Horrormeldungen ist überhaupt nichts es doch!) übriggeblieben. Das heißt, Sie müßten jetzt umge- kehrt den Nachweis führen, daß die Regelungen der Im übrigen hat niemand bestritten, daß es damals letzten zwei, drei Jahre das Bedarfsdeckungsprinzip Regelungsbedarf gab. Meine Auffassung war, daß- in eklatanter Weise verletzt haben. Ich fürchte, die- dem Regelungsbedarf auch unter Beachtung des da- sen Nachweis können Sie nicht erbringen. mals gültigen Art. 16 Grundgesetz hinreichend ent- sprochen werden könne. Das war meine sehr persön- Zur zweiten Frage: Der Asylkompromifi war wirk- liche Überzeugung. Aber das tut jetzt nichts zur Sa- lich eine schwierige Angelegenheit. Dabei haben che. Wir diskutieren hier den Arbeits- und Sozial- sich auch viele Kolleginnen und Kollegen in Ihrer ei- haushalt. genen Fraktion - ich sehe den Kollegen Geißler - sehr schwergetan. Damals ist ausdrücklich auf Be- Meine Damen und Herren, wenn man eine Be- streben der SPD-Fraktion die Regelung getroffen standsaufnahme macht, wenn man über Bestands- worden, daß Menschen, die vorübergehend in aufnahmen redet, dann muß man auch darauf hin- 2196 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995

Ottmar Schreiner weisen, daß es einen breiten Konsens gibt: Das EG- Meine Damen und Herren, wenn man das Gewicht Weißbuch 1993 und der vor wenigen Tagen veröf- der Forschungs- und Technologiepolitik an dem fentlichte Weltbeschäftigungsreport der Internationa- mißt, was diese Bundesregierung in den letzten Jah- len Arbeitsorganisation, in der auch die Arbeitgeber ren tatsächlich getan hat und was sie in den nächsten drittelparitätisch in den Führungsorganen vertreten Jahren zu tun gedenkt, dann bekommen Sie wieder sind, kommen zu dem Ergebnis: Das Wirtschafts- einmal nur eine Notenbewertung zwischen fünf und wachstum wird bis zum Jahre 2000 die Massenar- sechs. Fakt ist, daß die Bundesregierung bis zur beitslosigkeit, auch in Deutschland, selbst im gün- Stunde nicht die Chancen sieht, die in einem ver- stigsten Fall nur marginal verändern. Und zur Be- stärkten forschungs- und entwicklungspolitischen standsaufnahme gehört, daß 1 % Wachstum ca. Ansatz liegen, und daß sie hier ein gerüttelt Maß an 150 000 Arbeitsplätze schafft. Mitverantwortung für die soeben beschriebene Lage trägt. Wenn man all diese Einschätzungen kennt, dann stellt sich doch die entscheidende Frage an die Bun- Einige knappe Hinweise mögen genügen: 1982, desregierung: Welches ist ihr Vollbeschäftigungs- bei der Übernahme der Regierung, bewegte sich der konzept? Anteil des früheren BMFT-Haushalts am Gesamt- haushalt bei 2,8 %; inzwischen liegt er unter 2 %. Der (Zuruf von der SPD: Gar keins! Sie hat gar Forschungshaushalt ist nicht nur vom Umfang her keines!) völlig ungenügend; ihm fehlt auch eine klare inhaltli- che Ausrichtung auf die aktuellen Herausforderun- Was haben Sie angesichts der Tatsache vorzuschla- gen. Es ist seit längerem bekannt, daß die Wettbe- gen, daß die Bundesregierung vor wenigen Tagen, werbsvorteile vor allem japanischer Unternehmen die Zehn-Punkte-Grundsatzerklärung auf dem Welt- auch auf der Überwindung monotoner, ja stumpfsin- sozialgipfel in Kopenhagen mit unterschrieben hat? niger, tayloristischer Arbeitsteilung beruhen. - Die Da heißt es in Ziffer 3:... das Ziel der Vollbeschäfti- Antwort der Bundesregierung: Kürzung des Pro- gung als wesentliche Basis unserer Wirtschafts- und gramms Arbeit und Technik um nahezu 8 %. Sozialpolitik zu verfolgen und allen Männern und Frauen zu ermöglichen, einen sicheren und dauer- Man könnte diese Beispiele auf ein elementares haften Lebensunterhalt durch frei gewählte Beschäf- Zentrum der ökonomischen Diskussion weiterführen, tigung und Arbeit zu erlangen. - Also, Sie haben das von Ihrer Seite in dieser Debatte kaum eine Rolle diese Erklärung unterschrieben. Nun möchte ich von gespielt hat, nämlich die Hochzinspolitik der Deut- irgend jemandem im Rahmen dieser Haushaltsde- schen Bundesbank. Erklären Sie mir doch einmal, batte hören, was die Grundrisse des Vollbeschäfti- unter welchen Gesichtspunkten Sie die gegenwär- gungskonzepts der Bundesregierung sind. tige Hochzinspolitik der Deutschen Bundesbank ver- (Beifall bei der SPD) teidigen wollen! Sie führt im Ergebnis dazu, daß noch mehr Fremdkapital ins Land gelockt wird, daß Wir können es Ihnen nicht durchgehen lassen, daß sich die Währungsparitäten immer stärker verän- Sie in Kopenhagen und anderswo auf internationalen dern, daß die Aufwertung der D-Mark ein Ausmaß Kongressen Sonntagsreden halten und hier in bis zu 15 % annimmt und daß sich die in Deutschland Deutschland in der Praxis das genaue Gegenteil be- hergestellten Produkte auf den Exportmärkten um treiben. Das werden wir Ihnen nicht durchgehen las- diesen Prozentsatz verteuern. sen!

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Gestatten Sie ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eine Zwischenfrage? und der PDS)

Es ist heute mittag mehrfach der erste Arbeits- markt angesprochen worden. Ich will mit Blick auf Ottmar Schreiner (SPD): Erklären Sie mir, womit politische Prioritäten auf einen Beitrag in einer gro- Sie die Hochzinspolitik der Deutschen Bundesbank, ßen, überregionalen deutschen Tageszeitung verwei- die Investitionen, die unter beschäftigungspoliti- sen. In der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" vom schen Aspekten mehr als wünschenswert wären, ge- 27. März dieses Jahres ist folgendes zu lesen - und radezu abbremst, rechtfertigen! das ist unter Wachstumsgesichtspunkten eigentlich eine spannende Information -: Deutschland droht im Bitte schön. Wettbewerb mit Japan, aber auch mit den USA wei- - ter zurückzufallen. Vor allem in den Spitzentechnolo- gien ist die Bundesrepublik zu einem Importland ge- Jürgen W. Möllemann (F.D.P.): Herr Kollege Schrei- worden. Forschung und Entwicklung sind Überle- ner, überrascht es Sie, wenn ich feststelle, bensstrategien für ein rohstoffarmes Land. Für um so bedenklicher halten es die Hochschulprofessoren, (Andrea Fischer [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE daß das Gewicht der Forschung sinkt. Für wichtig GRÜNEN]: Der gute Sozialpolitiker Mölle- gehalten wird, daß die Beschäftigung in den letzten mann meldet sich zu Wort!) zehn Jahren lediglich in den forschungs- und ent- wicklungsintensiven Branchen deutlich zugenom- daß mir nach Ihren jetzigen Ausführungen die Emp- men hat. fehlung des früheren Bundesbankpräsidenten Pöhl, Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995 2197

Jürgen W. Möllemann sich in Hessen so zu verhalten, wie er empfohlen hat, Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das war doch sich zu verhalten, durchaus einsichtig ist? schon ein schönes Schlußwort. Ihre Zeit ist jetzt ab- gelaufen. (Heiterkeit und Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU - Wider spruch bei der SPD) Ottmar Schreiner (SPD): Gut. Dann sage ich als letzten Satz: Die Politik dieser Bundesregierung ver- schiebt seit Jahren schon das Entwerfen und den Ottmar Schreiner (SPD): Lieber Herr Kollege, ich Einsatz dringend überfälliger Alternativen auf den bin zwar kein Riesenstaatsmann, Sankt-Nimmerleins-Tag. Deshalb ist jeder Tag, den Sie regieren, ein verlorener Tag für unser Land und (Heiterkeit bei der SPD und dem BÜND unsere Menschen. NIS 90/DIE GRÜNEN) Schönen Dank. will Ihre Frage aber gerne beantworten. (Anhaltender Beifall bei der SPD - Beifall (Otto Schily [SPD]: Bei solch einer Frage beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei verschlägt es einem schon die Sprache!) der PDS) Vor wenigen Tagen hat Herr Stihl - - Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Ich erteile das (Jürgen W. Möllemann [F.D.P.]: Pöhl!) Wort dem Abgeordneten Heiner Geißler. - Nein, ich rede jetzt von Herrn Stihl. Er ist nicht Mit- glied der hessischen Landesregierung; soweit mir be- Dr. Heiner Geißler (CDU/CSU): Frau Präsidentin! kannt ist - man kann nie ganz sicher sein -, ist er Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe auch nicht Mitglied der Sozialdemokratischen Partei. kaum die Chance, auf den Kollegen Schreiner richtig - Vor wenigen Tagen hat der Präsident des Deut- zu antworten. - Mein lieber Herr Schreiner - es sind schen Industrie- und Handelstages, Herr Stihl, die jetzt eine ganze Reihe andere Abgeordnete hier im Wachstumsprognose der deutschen Wirtschaft für Raum -, ich möchte denen, die sich nicht täglich mit 1995 von bislang geschätzten 3 % auf 2 % herunter- der Sozialpolitik beschäftigen, versichern, daß es bei korrigiert. Das entscheidende Argument von Herrn uns in der Sozialpolitik - über die Parteigrenzen hin- Stihl lautete, die überwertete starke D-Mark drücke weg - nicht immer so zugeht wie in der letzten hal- spürbar auf die Exporte. - Meine Güte, ich vermute ben Stunde. einmal, daß der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelstages mehr von Währungsrelationen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) versteht als der ehemalige Riesenstaatsmann Mölle- Herr Schreiner, Sie haben eine ganze Reihe von mann. durchaus richtigen Fragen gestellt. Ich habe aller- (Beifall bei der SPD) dings bei all dem, was Sie gesagt haben, nicht die Antworten darauf gefunden. Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluß, weil es angesichts der Qualität dieser Zwi- (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Nicht eine!) schenfragen offenkundig wenig Sinn macht, noch Sie haben teilweise zu Recht Kritik geübt. Was Sie weitere Ausführungen zu diesem Thema zu machen. über Armut, auch in Deutschland, gesagt haben, (Zurufe von der F.D.P.) kann man nicht einfach vom Tisch wischen. Aber ich mache Sie auf der anderen Seite auch auf folgendes - Ich habe mich jetzt auf Herrn Stihl bezogen; das aufmerksam: Sie können doch nicht fast eine halbe müßte ausreichen. Ich bin zudem nicht dafür da, Ih- Stunde eine Darstellung der Bundesrepublik nen permanent Nachhilfeunterricht in Ökonomie zu Deutschland mit dem Inhalt geben, hier sei eine flä- erteilen. Das führte ein bißchen zu weit. chendeckende Verelendung vorhanden, dies sei ein (Beifall bei der SPD - Widerspruch bei der Land, das sozialpolitisch kurz vor dem Absturz ins CDU/CSU und der F.D.P.) gesellschaftspolitische Chaos stehe. Aber drei Sätze später, wenn es Ihnen in den Stiefel paßt, dann erklä- Meine Damen und Herren, wenn man zusammen- ren Sie, daß Deutschland als eines der reichsten Län- fassend über die Arbeits- und Sozialpolitik der Bun- der der Welt doch in der Lage sein müsse, eine an- desregierung referiert, dann läßt sich als Fazit sagen, dere Entscheidung über Leistungen für Asylbewer- daß es kläglich versäumt wurde, die Kernaufgabe ber zu treffen. umzusetzen: mit dem ihm in- des Bundeshaushaltes (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) newohnenden Potential dazu beizutragen, daß Mil- - lionen von ausgegrenzten Menschen in dieser Repu- Also entweder das eine oder das andere! blik wieder die Möglichkeit gegeben wird, am ge- sellschaftlichen Leben aktiv teilzunehmen. Tatsache Ich muß schon sagen - ich will keine billige Pole- mik machen -, ist, daß Sie das Gegenteil betreiben: Sie machen die Sozialpolitik zu einer reinen Verwaltungsbürokratie, (Zuruf vom BÜNDNIS 90/D1E GRÜNEN: die ausgegrenzte Menschen mehr schlecht als recht Das war aber eine!) zu verwalten hat. es wäre ganz gut, wenn man sich, außer sich stich Ich will zum Schluß an einen Satz des Kollegen probenartig in einem bestimmten Land umzusehen, Schily anknüpfen. einmal grundlegend informieren würde, wie andere 2198 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995

Dr. Heiner Geißler Länder in Europa oder in Übersee die sozialpoliti- geld. Als wir das eingeführt haben, gab es in den er- sche Situation in Deutschland beurteilen. Alle sten Monaten nur Lärm, Streit, Ärger und Unzufrie- Schwierigkeiten, die wir haben, die aber auch darauf denheit. Aber es waren Reformen, die sich durchge- zurückzuführen sind, daß wir bis auf den heutigen setzt haben. Tag eine Erblast im anderen Teil Deutschlands, in Jetzt sind wir bei der Pflegeversicherung - fast den neuen Bundesländern, von 57 Jahren Diktatur zwei Millionen Pflegebedürftige! -; wir haben sie aufarbeiten müssen, haben wir in der Beurteilung an- miteinander beschlossen. Anstatt in den Chor derer derer Länder gut bewältigt. mit einzustimmen, die schwarzmalen, anstatt eine Ungeachtet der Schwierigkeiten, die wir miteinan- Politik zu betreiben, wie sie im Moment von außen der bewältigen müssen, sage ich dennoch: Wenn gefordert wird, anstatt an Einzelfällen die Problema- man sich im Ausland informieren will, bekommt man tik hochzuziehen, sollten wir miteinander befriedend bestätigt, daß trotz dieser enormen Schwierigkeiten dem deutschen Volk die Informationen vermitteln, Deutschland ein Land mit hohen Löhnen - mit im die notwendig sind, um die Menschen, die sich sel- Vergleich zu vielen Ländern höchsten Löhnen -, mit ber nicht helfen können, die auf unsere Informatio- einem am besten ausgebauten Arbeitsrecht - mit nen angewiesen sind und für die wir das alles ge- Kündigungsschutz, Mitbestimmung, Betriebsverfas- macht haben, richtig zu informieren. Wir sollten sie sungsgesetz -, mit sicheren Renten, dem besten Ge- nicht aufheizen und die Sache nicht dadurch ver- sundheitssystem aller Industrieländer der Welt und schlimmern, daß wir die Dinge nicht richtig darstel- mit Preisstabilität ist. len. (Vorsitz : Vizepräsident Hans-Ulrich Klose) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Und, meine sehr verehrten Damen und Herren, Das hängt alles mit einer Entsolidarisierung, die liebe Kolleginnen und Kollegen von der Sozialdemo- ich empfinde, zusammen. West gegen Ost z. B.: Da- kratischen Partei, im Blick auf 14 von 16 Ländern der für sorgen Politiker und Journalisten aller Schattie- Bundesrepublik Deutschland, die zumindest zu 50 rungen, die Verschwendung anprangern, die aber auch für die soziale Ordnung in Deutschland Verant- die Folgekosten - ich sage es noch einmal - von wortung tragen, finde ich die Rede, die Sie gerade 57 Jahren Diktatur nicht mehr solidarisch tragen wol- gehalten haben, absolut unangemessen gegenüber len. dem, was wir in Deutschland in den vergangenen (Beifall bei der CDU/CSU) 45 Jahren für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh- Ost gegen West - auch das erleben wir in Ost-Berlin mer, Rentnerinnen und Rentner geleistet haben. und in den neuen Ländern -: Dafür sorgen die Nach- folger der SED, die die ganze Sache angerichtet ha- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) ben, und diejenigen, die sich mit ihnen verbünden. Ich hatte mich auf diese Rede mit der Absicht vor- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) bereitet, auf Polemik einer Partei nicht mit Gegen- polemik zu antworten. Lassen wir doch diese billige Wir haben hier eine Entsolidarisierung, die wir im Geschichte! Ich möchte vielmehr etwas zu den wesentlichen außerhalb dieses Hauses erleben, und Mächten und Kräften außerhalb dieses Parlamentes das stimmt mich bedenklich. sagen, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen. Die Pflegeversicherung ist gerade noch einmal Wir erleben zur Zeit - das ist meine Beurteilung - gutgegangen. Sie wäre fast am Egoismus der Interes- wieder eine typische Welle. Das hat Norbert Blüm sengruppen gescheitert. Gott sei Dank haben wir uns gerade an dem Beispiel der Pflegeversicherung er- hier noch einmal zusammengefunden. Aber ein sol- fahren müssen. Auch ich habe meine Erfahrungen - ches Theater in einem Land mit den meisten bezahl- vielleicht mehr als Sie -, machen müssen, wenn es ten Feiertagen und mit den meisten bezahlten Ur- darum geht, neue Leistungen einzuführen, Reformen laubstagen zu veranstalten, wenn wir wollen, daß die in der Sozialpolitik zu realisieren. Ich weiß, wie es Deutschen acht Stunden im Jahr mehr arbeiten, da- dann zugeht. mit zwei Millionen der Hilflosesten in diesem Land endlich zu ihrem Recht kommen Als ich mit der Einführung von Sozialstationen in Rheinland-Pfalz begonnen habe, habe ich nach ei- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) nem Jahr zu mir selber gesagt: Es wäre wahrschein- - da mache ich keinen Unterschied zwischen den lich besser gewesen, wir hätten das gar nicht ge- Parteien und den Ländern, den Kirchen und den Ge- macht. - Es gab nur Kritik. Dem einen Träger haben werkschaften -, empfinde ich als einen sozialpoliti- 100 DM gefehlt, dem anderen Träger etwas anderes. schen Skandal ersten Ranges in diesem reichen Dennoch haben die Sozialstationen einen Siegeszug Land, lieber Herr Schreiner, von dem Sie gerade ge- - durch die ganze Bundesrepublik Deutschland ange- redet haben. treten. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge ordneten der F.D.P.) Was mich bei der sozialen Frage am meisten be- drückt, ist, daß Leistungsfähige gegen Behinderte, Wir haben heute wie selbstverständlich den Erzie- Beitragszahler gegen Pflegebedürftige aufgehetzt hungsurlaub, die Anerkennung von Erziehungsjah- werden sollen. Jetzt erleben wir wieder etwas Neues: ren und - in Ablösung des Mutterschaftsgeldes, das Pseudowissenschaftlich vorbereitet, wird ein neuer es für vier Monate gegeben hat - das Erziehungs- Generationenkonflikt - Jung gegen Alt, Alt gegen Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995 2199

Dr. Heiner Geißler Jung - von wirtschafts- und gesellschaftspolitischen -jenigen, die sich nicht im Produktionsprozeß befin- Instituten über hochgestellte Einrichtungen in der den und nicht über die Droh- und Störpotentiale ver- Bundesrepublik Deutschland bis hin - ich muß es sa- fügen, um ihre eigenen Interessen durchzusetzen. gen; an sich brauchte man es nicht zu erwähnen; Das ist Soziale Marktwirtschaft. aber in der öffentlichen Diskussion spielt es halt eine Rolle - zu Ihrer Heidi Schüller konstruiert, von der (Andrea Fischer [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE Sie sich Gott sei Dank distanziert haben. Trotzdem GRÜNEN]: Davon verabschieden Sie sich empfinde ich es als einen Skandal, wenn gesagt doch gerade!) wird, wir alle miteinander würden zugunsten der Al- ten unberechtigterweise eine Politik zu Lasten der Und wir haben das angelsächsische System, in dem jungen Leute treiben. Wer in dieser Form Junge ge- man sich mehr schlecht als recht auf die Verhinde- gen Alte aufhetzt, der zerstört die Grundlagen des rung der Armut beschränkt und eine Zweidrittelge- Generationenvertrages, auf dem unsere Sozialversi- sellschaft in Kauf nimmt. cherung aufgebaut ist. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir müs- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) sen daran arbeiten, daß die Soziale Marktwirtschaft, die erfolgreich und auch für andere Länder vorbild- Das eine ist mir auch klar: Ob es Frau Schüller oder lich gewesen ist, durch diese außerhalb des Parla- die Bundesbank oder wirtschaftswissenschaftliche ments über die Renten geführte Diskussion nicht ka- Institute sind, es läuft im Ergebnis immer auf das- puttgemacht wird. Es gibt auch Ergebnisse und Er- selbe hinaus: Die Renten sollen gekürzt werden, und folge in 40, 45 Jahren Politik, die man im Interesse das ist eine ernsthafte Herausforderung. Da sollten derjenigen verteidigen muß, die nach uns kommen. wir hier nicht solche Reden halten, sondern erken- nen, worum es im Moment geht. Was wir an renten- Vielen Dank. politischer Diskussion zur Zeit haben, ist psycholo- (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und gisch verheerend, ökonomisch falsch und sozialpoli- der F.D.P.) tisch nicht zu verantworten. Ich würde hierzu gern noch mehr sagen, aber die Zeit reicht nicht; ich gebe zu Protokoll, was ich sagen wollte. Vizepräsident Hans - Ulrich Klose: Ich schließe die Aussprache mit einer Bemerkung: Herr Kollege Meine sehr verehrten Damen und Herren, was die Geißler, Sie haben freundlicherweise angeboten, Rentenpolitik anbelangt, sind wir - davon bin ich zu- tiefst überzeugt - auf dem richtigen Weg. Wir müs- Ihre Rede, die Sie nicht gehalten haben, zu Protokoll zu geben. Nach der Geschäftsordnung kann ich das sen verändern, aber wir müssen auch verteidigen. nicht zulassen; denn wer geredet und seine Redezeil Das ist wahr. Das war eine völlig richtige Aussage, ausgenutzt hat, kann nicht eine zusätzliche Rede zu Frau Albowitz; ich bedanke mich bei Ihnen für das, Protokoll geben. was Sie zum Rentenversicherungssystem gesagt ha- ben. Auch unter ökonomischen Gesichtspunkten (Heiterkeit - Dr. Heiner Geißler [CDU/ gibt es keinen vernünftigen Grund für Kürzungen. CSU]: Sehr schade!) Es gilt das alte Mackenrothsche Gesetz: Alles, was an sozialem Aufwand in einem Jahr geleistet wird, Wir kommen zur Abstimmung über den Einzel- muß auch in dem betreffenden Jahr erarbeitet wer- plan 11, Bundesministerium für Arbeit und Sozialord- den. Ob es im Umlageverfahren oder im Kapitaldek- nung. Dazu liegen ein Änderungsantrag der Fraktion kungsverfahren finanziert wird, es muß immer aus des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und neun Ände- der Volkswirtschaft mit ihren Arbeitsplätzen heraus rungsanträge der Gruppe der PDS vor. erwirtschaftet werden. Nur, die im Umlageverfahren erwirtschaftete leistungsbezogene Rente im Alter - Wir stimmen über den Änderungsantrag der Frak- unser gemeinsames Ergebnis, um das uns die ganze tion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN auf Druck- Welt beneidet - hat den großen Vorteil gegenüber al- sache 13/977 ab. Wer stimmt dafür? - Gegenprobe! - len anderen Rentensystemen, daß sie demjenigen, Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist mit den der ein erfülltes Arbeitsleben hinter sich hat, auch im Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und der F.D.P.- Alter seinen erarbeiteten Lebensstandard garantiert, Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion des BÜND- wohingegen jede Grundrente dies nicht leisten kann NISSES 90/DIE GRÜNEN und der Gruppe der PDS und letztendlich die Menschen im Alter zur Bedürf- bei Stimmenthaltung der SPD-Fraktion abgelehnt. tigkeit und zur Armut verurteilt. Wir kommen zu den Änderungsanträgen der (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge Gruppe der PDS. Zunächst stimmen wir über die Än-- ordneten der F.D.P.) derungsanträge ab, über die nicht namentlich abge- stimmt werden soll. Wir haben in der westlichen Welt zwei Systeme: Wir haben die Soziale Marktwirtschaft, die in Wir kommen zunächst zum Änderungsantrag auf Deutschland entwickelt worden ist, und wir haben Drucksache 13/946. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt das angelsächsische System. Die Soziale Marktwirt- dagegen? - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag schaft hat Sozial-, Finanz- und Wirtschaftspolitik im- ist mit den Stimmen der F.D.P.-Fraktion, der CDU/ mer als eine Einheit gesehen. Sie hat vom Prinzip her CSU-Fraktion und der SPD-Fraktion gegen die Stim- die Aufgabe, alle am gesellschaftlichen und wirt- men der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- schaftlichen Fortschritt teilhaben zu lassen, auch die NEN und der Gruppe der PDS abgelehnt. 2200 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995

Vizepräsident Hans-Ulrich Klose Wir kommen zum Änderungsantrag auf Drucksa- Wir kommen jetzt zum Änderungsantrag auf che 13/947. Wer stimmt dafür? - Gegenprobe! - Ent- Drucksache 13/945. Wie ich bereits zu Beginn der haltungen? - Der Änderungsantrag ist mit den Stim- Aussprache gesagt habe, hat die PDS beantragt, men der CDU/CSU-Fraktion, der F.D.P.-Fraktion und über diesen Änderungsantrag namentlich abzustim- eines Kollegen der SPD-Fraktion gegen die Stimmen men. Wir hatten diesen Fall schon einmal heute mor- der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, gen. Sie wissen, daß dafür die Unterstützung von der Gruppe der PDS und bei Stimmenthaltung der mindestens 34 Abgeordneten erforderlich ist. übrigen SPD-Fraktion abgelehnt worden. Ich frage deshalb: Wer unterstützt den Antrag der Wir kommen zum Änderungsantrag auf Drucksa- PDS auf namentliche Abstimmung? - Ich brauche che 13/948. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dage- nicht mehr zu fragen, wer dagegen stimmt; denn die- gen? - Enthaltungen? - Dieser Antrag ist mit den ses Ergebnis ist für eine namentliche Abstimmung Stimmen der F.D.P.-Fraktion, der CDU/CSU-Fraktion nicht ausreichend. Es gab keine zusätzliche Stimme. und der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Frak- Damit ist das erforderliche Quorum nicht erreicht. tion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Über den Antrag wird nicht namentlich abgestimmt. Gruppe der PDS abgelehnt worden. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wir kommen zum Änderungsantrag auf Drucksa- Wer stimmt für den Änderungsantrag der PDS auf che 13/949. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dage- Drucksache 13/945? - Wer stimmt dagegen? - Wer gen? - Wer enthält sich? - Das ist jetzt einigermaßen enthält sich? - Dieser Änderungsantrag ist mit den kompliziert, denn es gab von den Fraktionsmehrhei- Stimmen der F.D.P.-Fraktion, der CDU/CSU-Frak- ten abweichende Stimmen. Da ich es genau machen tion, der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und möchte, darf ich noch einmal abstimmen lassen. Ich der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Gruppe bitte um Nachsicht. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt PDS abgelehnt. dagegen? - Wer enthält sich? - Der Änderungsantrag Wer stimmt für den Einzelplan 11 in der Ausschuß- ist mit den Stimmen der F.D.P.-Fraktion, der CDU/ fassung? Ich bitte um das Handzeichen. - Gegen- CSU-Fraktion, der SPD-Fraktion und einer Stimme probe! - Enthaltungen? - Der Einzelplan 11 ist mit aus der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN den Stimmen der F.D.P.-Fraktion und der CDU/CSU- gegen die Stimmen der Gruppe der PDS und bei Fraktion gegen die Stimmen der SPD-Fraktion, der mehrheitlicher Stimmenthaltung der übrigen Frak- Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der tion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN abgelehnt Gruppe PDS angenommen. worden. Das ist kompliziert, aber ich muß das für das Protokoll festhalten. Ich rufe jetzt auf: Wir kommen zu dem Änderungsantrag auf Druck- Einzelplan 30 sache 13/950. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dage- Bundesministerium für Bildung, Wissen- gen? - Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen der schaft, Forschung und Technologie F.D.P.-Fraktion und der CDU/CSU-Fraktion gegen die Stimmen der SPD-Fraktion, der Fraktion des - Drucksachen 13/522, 13/527 - BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Gruppe der Berichterstattung: PDS abgelehnt. Abgeordnete Dieter Schanz Ich rufe den Änderungsantrag auf Drucksache 13/ Antje Hermenau 951 auf: Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Steffen Kampeter Enthaltungen? - Dieser Änderungsantrag ist mit den Jürgen Koppelin Stimmen der F.D.P.-Fraktion, der CDU/CSU-Frak- tion, der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und Ich bitte, wie ich es heute schon einmal getan der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Gruppe habe, diejenigen Kolleginnen und Kollegen, die an der PDS abgelehnt. dieser Debatte nicht teilnehmen wollen, den Plenar- saal möglichst schnell und möglichst geräuschlos zu Wir kommen zum Änderungsantrag auf Drucksa- verlassen. Zum Einzelplan 30 liegen je zwei Ände- che 13/952: Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dage- rungsanträge der Fraktionen der SPD und des gen? - Enthaltungen? - Dieser Antrag ist mit den BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie der Gruppe Stimmen der F.D.P.-Fraktion, der CDU/CSU-Frak- der PDS vor. tion, der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Gruppe PDS Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich höre kei- abgelehnt. nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich rufe den Änderungsantrag auf Drucksache 13/ Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kol- 976 auf: Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - lege Dieter Schanz (SPD). Enthaltungen? - Dieser Änderungsantrag ist mit den Stimmen der F.D.P.-Fraktion, der CDU/CSU-Frak- Dieter Schanz (SPD): Herr Präsident! Meine Da- tion, der SPD-Fraktion und einer Stimme aus der men und Herren! Verehrte Kolleginnen und Kolle- Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gegen die gen! Ich meine, es besteht Einvernehmen darüber, Stimmen von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mehrheit- wenn ich sage: Es ist wahr, daß eine große Industrie- lich und der Gruppe PDS abgelehnt. nation, die nicht über ausreichende Bodenschätze Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995 2201

Dieter Schanz verfügt, wenn sie ökonomisch und ökologisch über- statt Bewegung, nicht mehr als Schall und Rauch. leben will, wenn sie sich weiterentwickeln will, an- Dies nehmen wir, die wir am Wohlergehen der dere Ressourcen mobilisieren muß. Darüber ist heute deutschen Wirtschaft und an einer guten Beschäf- zu reden. Der Bundeskanzler hat das nach zwölf Jah- tigungslage, die ja notwendiger denn je ist, ein vita- ren politischer Verantwortung erkannt. Donnerwet- les Interesse haben, aus sozialer Verantwortung nicht ter, kann man da sagen. Aber es ist dennoch zu be- hin. grüßen, daß er es erkannt hat. Aus diesem Grunde hat er seinem Kabinett einen Zukunftsminister ver- Vergleiche zwischen dem Ist des Vorjahreshaus- ordnet haltes und dem Sollansatz für 1995 sind unzulässig; denn auf das Ist wirken nicht nur die Sparauflagen (Karl Diller [SPD]: Und was für einen!) des Bundesfinanzministers nach der Parlamentsent- scheidung über das Haushaltsgesetz, sondern auch und ihm als Handlungsinstrumentarium die Verant- hausinterne Entscheidungen über einzelne Projekte wortung für Bildung, Wissenschaft und Innovation ein. Ein Beispiel: Wenn im Umweltforschungsbereich übertragen. im Jahre 1994 Antragsteller abgewiesen wurden und das Haushalts-Ist deshalb entsprechend geringer Herr Bundesminister Rüttgers, ich wünsche Ihnen ausfiel, so ist ein Vergleich mit dem Haushalts-Soll auch im Namen meiner Fraktion Erfolg bei Ihren Be- für 1995 hausgemacht. Hier werden wieder einmal mühungen, diese Aufgabe zu erledigen. Äpfel mit Birnen verglichen. (Karl Diller [SPD]: Er sitzt aber in der aller (Doris Odendahl [SPD]: Das ist Absicht!) letzten Reihe!) Somit sind auch auf dieser Basis errechnete Steige- Ob Sie allerdings in dieser Koalition oder in diesem rungen, mit denen eine haushaltspolitische Priorität Kabinett eine Zukunft haben, zugunsten von Bildung und Innovation begründet (Karl Diller [SPD]: Nein!) werden soll, unzutreffend. Sie dienen dazu, dem Par- lament Sand in die Augen zu streuen. das wird sich zeigen. Ich habe große Zweifel, und darüber lassen Sie uns streiten. Sie können sich aber (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das rechne darauf verlassen, daß Sie dort, wo Sie vernünftige ich euch gleich noch einmal vor!) Entscheidungen treffen, die im Kontext unserer bildungs- und technologiepolitischen Vorstellungen Dies wurde in den vergangenen Tagen immer wieder liegen, unserer Unterstützung sicher sein können. insbesondere von meiner Kollegin Bulmahn zu Recht thematisiert und kritisiert. Wenn der Bundeshaushalt das Schicksalsbuch der Nation ist, so sind Forschung und Technologie, Inno- (Beifall bei der SPD) vation und Entwicklung neuer Produkte, sind Bil- Wie Minister Rüttgers nun mit einer solchen Mittel- dung und Wissenschaft und qualifizierte Ausbildung ausstattung dem Anspruch gerecht werden soll, in die grundlegenden Voraussetzungen für die Weiter- seinem Zukunftsministerium die Weichen für die in- entwicklung des Forschungs- und Bildungsstand- novative Entwicklung in Deutschland zu stellen, er- ortes Deutschland. scheint mir rätselhaft; zumindest wird es aber sehr (Beifall bei der SPD) schwierig sein. Dies sind auch die Voraussetzungen für wirtschaftli- Herr Minister, Sie haben unsere volle Unterstüt- che und soziale Stabilität in unserem Lande. zung, wenn Sie sich intensiv bemühen, die deutsche Industrie mit ins Boot von Forschung und Technik zu (Beifall bei der SPD) nehmen. Es ist - da stimme ich Ihnen mit Bezug auf Ihre Veröffentlichungen zu - unerträglich, wenn sich Deshalb, verehrte Kolleginnen und Kollegen, müssen große deutsche Unternehmen erlauben, ihre For- wir alle zusammen Erfolg haben und recht schnell schungsetats zu halbieren bzw. zu reduzieren. die richtigen Signale setzen und die richtigen Ent- scheidungen treffen. (Beifall bei der SPD - Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Vor allem bei den mitbestimm- Nun ist aber die Vorlage eines Haushaltes auch die ten Unternehmen!) Stunde der Wahrheit. Herr Bundesminister, ich hätte Ihnen einen besseren Start gewünscht. Ich stelle aber Diese Unternehmen, die nur darauf hoffen, daß der fest: Die Koalition läßt den hochgepriesenen Zu- Staat und die Steuerzahler für die Finanzierung der kunftsminister im Regen stehen. Zukunftsfragen herangezogen werden, müssen von - uns, dem Parlament, eine klare Sprache hören. Ich (Zustimmung bei der SPD) fordere Sie auf, die Möglichkeiten, die Sie haben, zu nutzen; denn dieses Land braucht Innovation und Der Gesamtansatz des Einzelplans 30, des sogenann- qualifizierte Ausbildung. Die Zukunft des Industrie- ten Zukunftsressorts, ist mehr als mager. Die Steige- standortes Deutschland hängt davon ab. rung des Mittelansatzes ist, rechnet man die Pläne der beiden alten Ministerien zusammen, verschwin- (Beifall bei der SPD) dend gering. Zumeist handelt es sich lediglich um Tarifanpassungen und nicht etwa um Anschubfinan- Es ist wirklich beschämend, wenn nur das deut- zierungen im innovativen Bereich. Also Stagnation sche Randwerk - was ich hier lobend erwähnen will - 2202 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995

Dieter Schanz bereit ist, zusätzliche Ausbildungsplätze nicht nur in boten. Ich meine, wir sollten uns darauf verständi- den neuen Ländern zur Verfügung zu stellen. Wenn gen, auch im nächsten Jahr hier nicht zu kürzen, son- sich Großbetriebe, wie es vorhin auch Herr Blüm kri- dern dafür zu sorgen, daß wir die Ausbildung dort tisiert hat, aus der sozialen Verantwortung, aus den weiterhin fördern. Bemühungen um Vollbeschäftigung und Weiterbe- schäftigung und jetzt auch aus der Ausbildung ver- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- abschieden, dann führt das in ein Chaos. ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS) Herr Rüttgers, machen Sie auch Ihrem Kollegen Für mich steht fest, daß Qualifizierung und techno- Rexrodt - er ist jetzt schon wieder verschwunden - logischer Fortschritt für den Produktionsstandort an diesem Beispiel deutlich, wie viele internationale Deutschland von großer Bedeutung sind. Dann müs- Marktchancen die Bundesrepublik Deutschland ver- sen aber auch die, die immer von ihrer eigenen Ver- liert, wenn sie den bereits erworbenen Forschungs- antwortlichkeit reden, aber nicht danach handeln, vorteil, beispielsweise bei der Solarenergie, im Ver- bereit sein, jetzt zusätzliche Lasten zu übernehmen. gleich zu anderen Industrienationen, wie Japan und Wer beispielsweise bei der Umwelt- und Sicherheits- den Vereinigten Staaten, aber auch anderen, verliert technik die Nase vorn hat, wird die Märkte von mor- und wenn sie zusieht, wie der große Konkurrent Ja- gen erobern und so für sozialen Fortschritt und Ar- pan in den Schwellenländern, beispielsweise in Indo- beitsplatzsicherung sorgen. nesien und Saudi-Arabien - aber nicht nur dort -, heute schon mit diesen Produkten präsent ist und (Beifall bei der SPD) über kluge und geschickte Markteinführungsstrate- Wer immer nur dann handelt, wenn er durch staatli- gien imstande und auf dem Wege ist, die Zukunfts- che Rahmengesetzgebung verpflichtet wird, könnte märkte auch auf diesem Sektor zu erobern. Wenn wir zu spät kommen. hier erfolgreich sein wollen, muß der Staat - das kann er sicherlich nicht allein tun - im Benehmen mit Die gleichen, die das duale System, das sich ja nun den Unternehmen, die auf diesem Gebiete arbeiten, wirklich bewährt hat, weltweit feiern, es gerade wie tätig werden. eine Monstranz vor sich hertragen, lassen es, wie er- kennbar wird, verkommen. Mein Verständnis von ei- Wir sollten ebenfalls daran denken, daß eine Ener- nem sozialen System ist, daß der Staat eine qualifi- gieversorgung in einem ökologisch notwendigen zierte, schulisch-berufliche Ausbildung garantiert Maß Auswirkungen auf die Lösung der Energiepro- und die Ausbildenden, die Unternehmen und die Be- bleme der Dritten Welt haben könnte. triebe, eine sachgerechte und fortschrittsorientierte betriebliche Ausbildung anbieten. Daß das nicht mehr gewährleistet ist, pfeifen die Spatzen von den (Beifall bei der SPD) Dächern. Es geht aber zu Lasten der jungen Genera- tion, die eine Zukunftsperspektive braucht. Sie müssen nicht zwangsläufig die Fehler wiederho- len, die wir gemacht haben, und allein auf die Pro- Deshalb Herr Minister, handeln Sie auf diesem duktion von Energie durch Energieträger setzen. Wir Wege konsequent. Sie bekommen unsere Unterstüt- haben jetzt die Chance, den Ländern der Dritten zung, aber Sie werden auch Verständnis dafür haben Welt mit einer entsprechenden Entwicklungsstrate- müssen, daß wir Sie kritisieren, wenn aus dem Reden gie zu helfen. kein Handeln wird. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- Meine Damen und Herren, betrachtet man den ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Einzelplan 30, so ist durchgängig festzustellen, daß gerade dort, wo ein enormer Mittelanstieg erforder- Nun hat der Bundeskanzler, wie von den Sozialde- lich wäre, wie z. B. bei der Förderung von überbe- mokraten schon seit langem gefordert, einen Techno- trieblichen Ausbildungsstätten und -maßnahmen, logierat berufen. Der Technologierat soll zukunfts- bei der Qualifizierung von Ausbildungspersonal, in orientierte Handlungsoptionen entwickeln sowie den neuen Bundesländern, bei der Förderung der an- Chancen, Risiken und Rahmenbedingungen für gewandten Forschung und Entwicklung an Fach- wichtige Innovationsfelder besprechen. Es geht also hochschulen, bei der Klima- und Ökologieforschung, um technischen Fortschritt. bei der Forschung und dem Einsatz erneuerbarer Energien, entweder eine Stagnation oder sogar eine Der Kanzler hat eingeladen und seinen Zukunfts- Kürzung zu verzeichnen ist. Ich begrüße aber den- minister Rüttgers und den Wirtschaftsminister Rex- noch, daß die Koalition im Haushaltsausschuß bereit rodt beauftragt, zum Thema Informationsgesell- eine einzurichten. Daß dabei war, den Mittelansatz für überbetriebliche Ausbil- schaft Projektgruppe - die Schaffung eines neuen Propagandainstruments dungsstätten in den neuen Ländern entsprechend zu erhöhen. Ich habe das im Ausschuß begrüßt. Ich für vermeintliche innovative Politik des Kabinetts Kohl erfolgen würde, lag nicht in der Absicht der So- finde es gut und sage auch, weshalb. zialdemokraten, als wir vor zwei Jahren eine solche Projektgruppe gefordert haben. Gerade in den neuen Ländern, wo ein großer Auf hol- und Nachholbedarf an Qualifizierung ist - nicht Ich habe Zweifel, ob im Rahmen dieses Gremiums nur im Bereich der Ausbilder, sondern auch bei den die notwendigen Leitlinien für den Aufbruch in die Auszubildenden -, ist eine solche Einrichtung von Zukunft entwickelt werden. Offenbar geht es wie- überbetrieblichen Ausbildungsstätten dringend ge- derum nur darum, Themen öffentlichkeitswirksam zu Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995 2203

Dieter Schanz besetzen und sie dann gegebenenfalls auszusitzen. Andernfalls - und bitte nehmen Sie mir dies nicht Gesellschaftliche Interessengegensätze und Kon- übel - kann ich Ihre Reden über Zukunftsaufgaben flikte über zukünftige Strategien sollen propagandi- nicht mehr ernst nehmen und halte sie schlicht für stisch übertüncht und wegdiskutiert werden. Eine Sonntagsreden. Lösung unserer brennenden Wirtschaftsfragen und gesellschaftlicher Aufgaben ist auf diese Weise nicht (Beifall bei der SPD) zu erzielen. Meinen Sie es mit den diversen Ausführungen im Rahmen der Standortdebatte, die ja von Herrn Rex- Herr Minister, in diesen Rahmen paßt Ihre Absicht, rodt immer besonders angeführt werden, wirklich jungen Technologieunternehmen Unterstützung zu ernst, so bin ich sicher, daß Sie Ihr Abstimmungsver- gewähren. Ich befürchte, daß Sie einen neuen Sub- halten zugunsten unserer Anträge ändern müssen. ventionstopf zur Verfügung stellen, mit allen damit Den Hinweis auf eine enge Finanzdecke, bezogen verbundenen Negativeffekten. Ich fordere Sie daher auf den Einzelplan 30, lassen wir nicht gelten. im Namen meiner Fraktion dringend auf, die Rah- menbedingungen so zu gestalten, daß von vornher- Der Bundeskanzler und die Koalition haben es zu- ein feststeht, daß Subventionsempfänger auch bereit gelassen, daß durch die sogenannten Wilms- und sein müssen, Eigenkapital in entsprechender Höhe Riesenhuber-Dellen der Anteil für Forschung und einzusetzen. Wir fordern Sie auf, durch Abbau ge- Bildung am Gesamtetat seit 1982 ständig zurückge- setzlicher Hemmnisse und bürokratischer Hürden so- gangen ist. Im Jahre 1982 betrug der Anteil des For- wie durch steuerliche Anreize privates Risikokapital schungs- und Bildungsetats zusammengerechnet zu mobilisieren. Die SPD bietet an, diesen Weg durch 4,67 %. 1995 sind es gerade einmal 3,3 %. konstruktive Vorschläge - lesen Sie bitte hierzu ein- mal unsere schon lange vorliegenden Papiere zur (Wolf-Michael Catenhusen [SPD]: Kurzsich Gestaltung einer ökologischen Marktwirtschaft - mit- tig!) zugestalten, damit die Bundesrepublik Deutschland Eine Fortschreibung des von mir erwähnten Anteils im Technologiebereich nicht weiter zurückfällt. Dies am Gesamthaushalt, bezogen auf 1982, könnte für ist an so kleinen Signalen wie dem Rückgang der an- 1995 ein Plus von rund 7 Milliarden DM bedeuten. gemeldeten Patente im Verhältnis zu anderen Indu- strienationen deutlich abzulesen. (Beifall des Abg. Horst Kubatschka [SPD])

Der sogenannte Zukunftsminister ist aufgefordert, Zwingend notwendig sind der Aufbau eines attrak- sehr schnell und konsequent zu handeln. Wir werden tiven und qualifizierten Ausbildungssystems in den unsere Unterstützung nicht verweigern. Wir haben, neuen Ländern und eine bedarfsgerechte Weiterbil- wie ich schon gesagt habe, aus arbeitsmarktpoliti- dungsinfrastruktur sowie der Wiederaufbau einer lei- schen Gründen ein großes Interesse am Überleben, stungsfähigen Wissenschafts- und Forschungsland- an der Entwicklung des Produktionsstandortes Bun- schaft in den neuen Ländern. Dies muß einen hohen desrepublik Deutschland. Stellenwert haben.

Ich fordere Sie dringend auf, meine Damen und (Beifall bei der SPD) Herren von der Koalition, unsere Kritik nicht leicht- Die Verwendung öffentlicher Investitions- und fertig zu ignorieren. Sie schaden damit nicht in erster sonstiger Fördermittel in den Bereichen Wirtschafts-, Linie den Sozialdemokraten, sondern den Funda- Technologie-, Wissenschafts- und Infrastrukturför- menten unseres Wirtschafts- und Gesellschaftssy- derung muß effizienter gestaltet werden. Dazu sind stems und damit dem deutschen Volk. Ich fordere Sie die Fördermittel aus den verschiedenen Bundesres- auf, unser positives Angebot ernst zu nehmen. sourcen programm- und projektgerecht zusammen- Ich fasse zusammen: Wir brauchen eine Bildungs- zufassen und mit Länderfördermaßnahmen abzu- und Technologieoffensive. Innovation, technischer stimmen. Nur so wird es gelingen, die Chancen zu Fortschritt und Qualifikation sind der Schlüssel für nutzen, die durch neue Märkte in der Umwelttech- die künftige Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirt- nik, in der Informationstechnik und ihren Dienstlei- schaft. stungen, in der Biotechnologie, bei neuen Materia- lien und einer ressourcensparenden neuen Produkti- (Wolf-Michael Catenhusen [SPD]: Sehr rich onstechnik ebenso wie bei der Humangestaltung der tig!) Arbeitswelt und der Nutzung des steigenden Qualifi- kationspotentials der Erwerbsbevölkerung entstehen Hierbei wollen wir mithelfen. Der Staat kann und können. muß hier wichtige Impulse geben. Deshalb ist die Stagnation im Etat des Einzelplans 30 das falsche Si- Im Zusammenwirken von Bund und Ländern ist- gnal. Diese Bereiche sind deutlich zu stärken. dafür Sorge zu tragen, daß die Qualität des Berufs- bildungssystems durch Ausbau und Modernisierung (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeord der beruflichen Bildungsstätten sowie entsprechende neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Gestaltung der Ausbildungsgänge weiter verbessert und der PDS) wird. Unsere Anträge, die Sie im Haushaltsausschuß ab- Die Effizienz der Hochschulen ist ebenfalls zu ver- gelehnt haben, stellen wir heute noch einmal zur De- bessern. Der langfristige Qualifikationsbedarf und batte. Sie haben die Chance, hier und heute auf die- die Lernbereitschaft der jungen Menschen, aber sem Wege mit uns gemeinsam nach vorne zu gehen. auch der Erwachsenen machen es notwendig, den 2204 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995

Dieter Schanz Ausbau und die Modernisierung der Hochschulen Der Kollege Kampeter wird das sicherlich genauso und die Ausweitung der Weiterbildung zum vollwer- tun wollen wie ich. tigen vierten Bildungsbereich mit Nachdruck voran- zutreiben. Danke schön. (Beifall bei der SPD) Der Hochschulbau, insbesondere zugunsten der Fachhochschulen mit der Möglichkeit der verbesser- ten Kooperation von Fachhochschule und Betrieb, ist Vizepräsident Hans - Ulrich Klose: Das Wort hat der in einem Umfang zu fördern, wie er vom Wissen- Kollege Steffen Kampeter (CDU/CSU). schaftsrat als fachlich notwendig eingeschätzt wird. Die Hochschulsonderprogramme sind zusammen- Steffen Kampeter (CDU/CSU): Herr Präsident! zufassen, auszuweiten und zu verstetigen. Sie müs- Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich kann sen gezielter als bisher auf den Abbau von Engpäs- Sie beruhigen: Wir wollen keinesfalls zuschlagen, sen in überlasteten Fächern und Fachbereichen, die weder im Einzelplan 30 noch in anderen Bereichen, Modernisierung der Hochschuleinrichtungen in den sondern wir wollen sinnvoll gestalten und überprü- neuen Ländern, die Förderung des wissenschaftli- fen, ob dieser oder jener Titel vernünftig verwendet chen Nachwuchses und die Verbesserung von Stu- wird. Das ist der Gestaltungsauftrag, den die Koali- dium und Lehre ausgerichtet werden. Hierzu gehört tion auch beim Einzelplan 30 hat. auch der Erhalt der geisteswissenschaftlichen Zen- Ernst Jünger, der große Philosoph und Wissen- tren, schaftsfreund (Beifall bei der SPD) (Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) die Förderung von Innovationskollegs und die wis- senschaftliche Integration in den neuen Ländern. der heute seinen 100. Geburtstag feiert, ist ein begei- sterter Insektensammler. Es wäre sicherlich reizvoll Für die notwendige zügige Verabschiedung der und auch interessant, seine etwas über 90 Jahre alte, vorliegenden Gesetzentwürfe des Bundesrates und naturwissenschaftlich höchst relevante Sammlung der SPD-Bundestagsfraktion zu einer 17. BAföG-No- hier einmal Revue passieren zu lassen und mit dem velle ist es erforderlich, daß die Bundesregierung Erfahrungsschatz dieser Person zu überprüfen, ob endlich auch bei diesem Thema ihre Blockadehal- das, was wir im Einzelplan 30 heute unter For- tung aufgibt. schungsförderung betreiben, auch in 100 Jahren (Beifall bei der SPD) noch Bestand haben wird. Meine Damen und Herren, lassen Sie mich ganz Aber wir müssen uns heute auf die harten Fakten kurz einige Anmerkungen zu vorliegenden Anträgen konzentrieren, und die besagen nun, daß wir Ihnen machen. Den Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE den Einzelplan 30 nach langen und intensiven Bera- GRÜNEN zum Bereich Hochschulsonderprogramm tungen mit einem Plafond von 15,5 Milliarden DM in müssen wir deshalb ablehnen, weil er nicht sachge- der Höhe nahezu unverändert zur Beschlußfassung recht ist; denn die Möglichkeit, daß aus diesem Pro- vorlegen. Angesichts des Umstandes, daß wir im Ge- gramm der Forschungsreaktor München II gefördert samtetat Ausgaben in Höhe von 6,4 Milliarden DM wird, ist zwar gegeben, gilt aber erst für den Haus- eingespart haben, ist der gleichbleibende Ausgaben- halt 1996. Ich erkläre für meine Fraktion, daß wir im anteil ein politischer Erfolg für die Zukunftsgestal- nächsten Jahr sehr genau darauf achten werden, tung durch diese Bundesregierung. wenn das anstehen sollte. Die Unterlagen liegen uns (Wolf-Michael Catenhusen [SPD]: So gehen vor. Sie mit der Zukunft um!) (Beifall bei der SPD) Insbesondere im Bereich Forschung und Technolo- Ihr zweiter Antrag enthält eine kleine Falle. Ich gie ist sogar ein Zuwachs festzustellen, der weit über verstehe nicht, Herr Fischer und Frau Hermenau, dem Durchschnitt liegt, nämlich bei rund 2,6 %. daß Sie den Forschungsanteil für den Bereich der Trotzdem haben die Koalitionsfraktionen diese Haus- thermischen Abfallverwertung verweigern. Es ist haltsberatungen dazu genutzt, um im Rahmen des doch nicht verkehrt, wenn in einer Industriegesell- Machbaren Umschichtungen vorzunehmen und poli- schaft, die nun wirklich hochgiftige Abfälle entsor- tische Akzente deutlich zu machen. gen muß, geforscht wird, ob und in welcher Form man das auch thermisch machen kann. Von daher (Zuruf von der SPD: Erbärmlich!) verstehen wir Ihren Antrag nicht. Wir müssen ihn Damit wird die Zusage des Bundeskanzlers, auch im deshalb ablehnen. Haushaltsplan 1995 außerordentlich viel für die Zu- (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist richtig!) kunft zu investieren, mit dem Beratungsergebnis für den Einzelplan 30 eingehalten. Meine Damen und Herren, ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. Wir Berichterstatter zum Ein- (Beifall bei der CDU/CSU) zelplan 30 sind in diesem Falle alles Neulinge gewe- Der Gestaltungsauftrag hier lautete nicht so sehr, sen. Aber ich denke, im nächsten Jahr werden wir kurzfristige Sparaktionen durchzuführen, sondern es anders auftreten und kräftiger zuschlagen als dies- sollten mittelfristig die notwendigen Synergien mobi- mal. lisiert werden, die durch die Zusammenlegung der (Heiterkeit) beiden Häuser erreichbar waren. Dies ist insbeson- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995 2205

Steffen Kampeter dere im Personalbereich sehr gut gelungen. Es war Auch andere Schlüsseltechnologien des der Erfolg der Haushälter, 80 weitere Stellen „kw" zu 21. Jahrhunderts werden im Etat des Zukunftsmi- stellen. Es wird schon eine besondere Leistung die- nisteriums akzentuiert, beispielsweise die Informa- ses Zukunftsministeriums sein, im Laufe der näch- tionstechnologie und die Fertigungstechnik, die sten Jahre insgesamt 140 Stellen - das sind mehr als Materialforschung und die zukunftsorientierte Ver- 10 % des Personalbestandes - kegelgerecht abzu- kehrstechnologieforschung. bauen. Es war bei unseren Haushaltsberatungen ein Anliegen, daß dieser „Verschlankungseffekt" im Zu- An dieser Stelle möchte ich ausdrücklich begrüßen kunftsministerium, den wir auch bei unseren Part- - auch wenn die Antragslage gelegentlich etwas an- nern in Wirtschaft und Wissenschaft erwarten, inso- deres andeutet -, daß sich einige Mitglieder der so- weit flexibel gestaltet ist, als dem Minister auch für zialdemokratischen Bundestagsfraktion im Rahmen interne Umsetzungen noch hinreichend viel Gestal- der Haushaltsausschußberatungen ausdrücklich für tungsspielraum bleibt. das Transrapid - Projekt und die dafür im Etat veran- kerten Mittel ausgesprochen haben. Trotz oder gerade wegen der Mobilisierung von Synergien auch im sächlichen Bereich und trotz der (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) schwierigen Haushaltslage hat die Koalition im Ein- zelplan 30 eine Reihe von wichtigen politischen Ak- Dies ist insbesondere deswegen wichtig, weil die zenten setzen können. Obwohl es in der Öffentlich- Bundesrepublik als Anbieter von technologischen keit hohe Erwartungen gab, ist es der Koalition, so Spitzenleistungen nur dann auf dem internationalen glaube ich, gelungen, mit dem Einzelplan die von ihr Markt bestehen wird - wie dies der Kollege Schanz gesetzte hohe Hürde zu überspringen. Wer hier von gefordert hat -, wenn wir diese Technologien im In- Fehlstart spricht, macht deutlich, daß er sich mit der land anwenden. Dies gilt für den Transrapid, aber Thematik nicht beschäftigt hat. ebenso auch für die Energietechnologien einschließ- lich der Kernenergie. Deswegen halten wir an Maß- (Beifall bei der CDU/CSU - Zuruf von der nahmen wie beispielsweise dem Forschungsreaktor SPD: Das ist ein Irrglaube!) in Garching mit voller inhaltlicher Überzeugung fest.

Wir leisten mit einem Zuwachs von 120 Millionen (Beifall bei der CDU/CSU) DM beim Hochschulbau und einem Bundesanteil von insgesamt 1,8 Milliarden DM den bisher höch- Ferner möchte ich betonen, daß das Zeitalter der sten Investitionsbeitrag in diesem Sektor. Insbeson- Ideologien auch in anderen Bereichen beendet zu dere die Sonderprogramme im Hochschulbereich ge- sein scheint. Beispielsweise bei der Raumfahrtfor- währleisten den Aufbau der wissenschaftlichen schung, aber auch in anderen Bereichen waren die Strukturen in den neuen Bundesländern. Von einem Verhandlungen mit den übrigen Mitberichterstattern großen Rückstand kann hier kaum mehr gesprochen außerordentlich konstruktiv, auch wenn es Mei- werden. nungsunterschiede gab. Deshalb möchte ich mich bei den Berichterstatterkollegen und dem Ministe- Im Bereich der überbetrieblichen Ausbildungs- rium nachdrücklich bedanken. stätten haben wir im Rahmen der Haushaltsberatun- gen die Investitionsmittel noch einmal um 20 Mil- Die Arbeitsaufnahme des neuen Ministeriums und lionen DM erhöht. Das ist gerade ein wichtiges Si- des neuen Ministers wurden überaus positiv kom- gnal für den handwerklichen Mittelstand und außer- mentiert. ordentlich positiv zu bewerten. (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - DIE GRÜNEN]: Jubel! Jubel!) Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Dank der F.D.P.!) Es hat zahlreiche Anregungen gegeben. Es werden Es war ein Anliegen der Berichterstatter der Koali- sicherlich nicht alle Vorschläge von uns kritiklos tion, den Haushaltsansatz bei den regenerativen übernommen, beispielsweise wie sie Herr Glotz for- Energien auszubauen. muliert hat. So gibt es innerhalb der Union große Skepsis, ob Studiengebühren zur Finanzierung des Darüber hinaus begrüßen wir es ausdrücklich, daß Hochschulwesens geeignet sind. Es hätte mich ge- durch die sparsame und solide Haushaltsführung im freut, wenn Vorschläge nicht nur in Zeitungen be- Zukunftsministerium die von Minister Rüttgers ange- gründet werden, sondern wenn wir sie heute im Ple- kündigte moderate BAföG - Erhöhung aus den be- num hätten ausführlich diskutieren können. stehenden Haushaltstiteln finanziert werden kann. Mir liegt auch daran, an dieser Stelle deutlich zu Der Haushalt 1995 verstärkt darüber hinaus die Be- machen, daß Zukunftsgestaltung und -aufwendun- mühungen im Bereich der Vorsorgeforschung, d. h. gen in diesem Bereich nicht allein Aufgabe des Staa- neue Aufgaben in der Gesundheits- und Umweltfor- tes sind. Vor diesem Hintergrund muß es sehr nach- schung werden im Rahmen des Programms „Ge- denklich stimmen, wenn die privaten Aufwendun- sundheit 2000" und anderen Titeln zusätzlich finan- gen aus der Wirtschaft für diesen Bereich sinken. ziert. Wir leisten somit einen Beitrag dazu, daß insbe- Wir müssen daher jenseits der Haushaltsgestaltung sondere der rasch wachsende Markt für Biotechnolo- noch mehr für die Verbesserung der Rahmenbedin- gie nicht an den deutschen Unternehmen vorbei- gungen für Forschung und Entwicklung aufwenden. geht. Die Wirtschaft bleibt jedoch stärker gefordert. 2206 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995

Steffen Kampeter Mit gänzlichem Unverständnis nehme ich in die- hier sprechen, am Gesamthaushalt beträgt nicht sem Zusammenhang zur Kenntnis, was die Opposi- 10 % oder 8 % oder 6 %, was man vermuten könnte, tion zur Einrichtung des Rates für Forschung, Tech- weil es doch ein wichtiges Ressort ist; er beträgt noch nologie und Innovation zu Protokoll gegeben hat nicht einmal 4 %. oder gegenüber der Presse erklärt hat. Es ist schon Kürzungen, meine Damen und Herren von der Ko- ein schlechter Stil, wenn man ein Gremium, das ge- alition, können mitunter durchaus Druck ausüben, rade erst zu arbeiten angefangen hat, schon mit solch die Effizienz zu erhöhen, was Sie hier begründet ha- unqualifizierter Polemik überzieht, wie ich es in der ben. Aber erstens ist die Bundesrepublik Deutsch- Presse habe lesen müssen. Aber wenn Sie, Herr Kol- land kein verarmtes Land, und zweitens inflationie- lege Schanz, allen Ernstes diesen Rat als ein Propa- ren Sie diese Wahrheit, indem Sie sie ständig wieder- gandainstrument der Bundesregierung charakterisie- holen, wenn Sie sich für die von Ihnen nach mir ren, so glaube ich, unterschätzen Sie alle die dort be- manchmal völlig unerfindlichen Kriterien vorgenom- rufenen Persönlichkeiten in ihrer Kritikfähigkeit. menen Kürzungen öffentlich zu entschuldigen ver- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - suchen, Herr Kampeter. Antje Hermenau [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ NEN]: Aber den Wissenschaftsrat nehmen Globalhaushalte der Unis verlängern das Siech- Sie ernst?) tum baufälliger Immobilien, indem man für kleinere unverzichtbare Reparaturen aus dem eigenen Bud- So ist beispielsweise aus meinem Wahlkreis ein get der Uni anspart, um wenigstens neue Waschbek- mittelständischer Unternehmer als Vertreter in die- ken zu installieren. Begrüßenswert ist, daß viele Mit- sen Rat berufen worden, den ich aus vielen persönli- arbeiter an den Unis dadurch haushälterisches Ver- chen Gesprächen kenne. Er wird vieles machen, sich halten kennenlernen und die finanziellen Forderun- aber sicherlich nicht als Propagandainstrument in- gen von seiten der Universitäten in den nächsten strumentalisieren lassen, sondern kritisch konstruk- Jahren sicherlich diese vertiefende Erfahrung auch tive Beiträge leisten, wie es mit dem Forschungs- und widerspiegeln werden. Aber Sie versuchen damit, Technologie-, mit dem Bildungs- und Wissenschafts- sich Jahr für Jahr um die Finanzierung beim Hoch- standort Deutschland weitergehen muß. Daran wer- schulneubau zu drücken, denn es ginge gerade noch den wir als Koalition weiter mitarbeiten. so, . indem man Eimer unter die löchrigen Dächer stellt. Lassen Sie mich schließen. Die Zusammenlegung von zwei Ministerien bietet große Chancen, auch alte Vergleiche ich die Stellungnahme des Bundesrates Pfründe auf den Prüfstand zu stellen, um so Gestal- vom 20. Januar und das, was der Wissenschaftsrat tungsräume für neue Aufgaben zu erwirtschaften. dazu sagt, dann frage ich mich, welche Räte Sie ernst Haushaltsgestaltung bedeutet sinnvolles Ausgeben nehmen, Herr Kollege Kampeter, und welche Räte und nicht Sparen um jeden Preis. Deswegen haben nicht. Natürlich hat unser Änderungsantrag zum Re- wir in diesem Bereich noch außerordentlich viel zu aktor in Garching damit zu tun. tun. Wir werden im nächsten Jahr einige große Auf- gaben schultern. Ein Herzensanliegen ist beispiels- Es ist sicher so, daß im Raumschiff „Bonnerprise" weise die Einführung des Meister-BAföGs. Wir wer- manche Geschichten noch nicht ganz so bekannt den die Zusammenführung der Hochschulpro- sind. Aber eins ist sicher: Wenn es soweit kommt, daß gramme und ihre Überprüfung hinsichtlich der Effizi- das Uranium an den Straßenecken in kleinen Puder- enz haben. Ich glaube, daß wir auch in der Hoch- döschen verkauft wird, weil es inzwischen überall zu schulbaufinanzierung mittelfristig zu kostengünsti- bekommen ist, Herr Kampeter, und wenn dann der geren Lösungen werden kommen müssen. Wichtig Haarausfall bei den Kollegen einsetzt, dann reden erscheint mir darüber hinaus, daß wir das System der wir weiter. Großforschungseinrichtungen haushälterisch auf den (Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Prüfstand stellen oder Blaue-Liste-Einrichtungen NEN und der SPD) überprüfen. Ich glaube, daß wir haushälterisch noch sehr große Gestaltungsspielräume für diesen Zu- Sie wissen ganz genau, daß die versteckten und of- kunftsetat haben. Dazu lade ich auch die Opposition fenen Finanzmittel für die Glorie einer bayerischen recht herzlich ein. Wir werden dem Einzelplan 30 zu- Partikulargewalt aus diesem Etat bestritten werden. stimmen. Auch Sie wissen das, Herr Schanz. Ich habe schon zur Kenntnis genommen, mit wieviel Mühe Sie hier (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - versucht haben, sich darum zu drücken, erklären zu Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ müssen, warum Sie dem nicht zustimmen können. Es DIE GRÜNEN]: Das ist die 25. Einladung an ist eine Verschwendung aus dem Budget, das eigent-- diesem Tag!) lich für den Bau von Hochschulen zur Verfügung steht. Das muß man einmal klarstellen.

Vizepräsident Hans - Ulrich Klose: Das Wort hat die Kollegin Antje Hermenau (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) NEN). Zu der Berufsbildung in den fünf neuen Ländern haben wir folgendes zu sagen: Es gibt eine funktio- Antje Hermenau (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): nierende Dualität eigentlich nur dann, wenn auch Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle- die Großbetriebe mit ausbilden. Das wissen Sie gen! Herr Kampeter, jetzt kommt ein konstruktiver selbst. Wir hatten im letzten Jahr die Situation, daß Beitrag. Der Anteil des Ministeriums, über das wir fast ein Fünftel aller Lehrverträge im Osten subven- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995 2207

Antje Hermenau tioniert werden mußten. Sie wissen ganz genau, wel- „Zukunftsministerium": Diesmal sei es Ihnen noch che Chancen junge Leute mit einer außerbetriebli- nachgesehen, Herr Rüttgers; als Sie das Haus über- chen Qualifikation auf dem Arbeitsmarkt haben. Das nahmen, war der Haushalt 1995 schon geschrieben. ist zweitklassig und wird nicht anerkannt. Aber Sie sind jetzt in der Pflicht. Wir werden gerne mit Ihnen in den Wettstreit der Ideen eintreten. Ich Wir haben in Sachsen ein Beispiel dafür. Der Stand habe gehört, Sie haben schon einen E-Mailbox-An- von Februar 1995 ist, daß von den 42 000 Bewerbern schluß - willkommen im Club. An Ihren Worten und 36 000 noch nicht vermittelt sind, und es gibt sowieso Taten werden wir Sie messen, Herr Minister. Diesem bloß 17 000 Lehrstellen. Wir werden sehen, wie weit Etat können wir unsere Zustimmung natürlich nicht sich das bis zum Sommer noch verschiebt; wir wis- geben. Ich habe eben versucht, zu begründen, in sen, daß immer noch ein bißchen hin und her ge- welchen Einzelteilen das nicht möglich ist, in wel- dreht wird. Aber im Sommer bleiben in Sachsen min- chem gesellschaftlichen Zusammenhang das über- destens 6000 Leute übrig. Auch das müssen wir ein- haupt nicht geht und wie der Name Zukunftsministe- mal feststellen. rium auch in die Irre führen kann. Appelle an die Wirtschaft allein reichen da sicher Danke schön. nicht. Wir reden jetzt eigentlich über ein Problem, das Sie mit der Diskussion über die Gleichwertigkeit (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN von Berufsbildung und Hochschulbildung zu umge- sowie bei Abgeordneten der SPD) hen versuchen, indem Sie so tun, als könnte man mit Appellen und Wertediskussionen in der Gesellschaft etwas verändern. Aber wir leben in einem Zeitalter, Vizepräsident Hans - Ulrich Klose: Das Wort hat der -Herr Kampeter, in dem die Eröffnung von Zukunfts Kollege Dr. Gerhardt (F.D.P.). und Einkommenschancen einen sehr hohen Wert für die meisten Leute darstellt, ob uns das paßt oder Dr. Wolfgang Gerhardt (F.D.P.): Herr Präsident! nicht. Daran muß sich die Diskussion doch orientie- Meine Damen und Herren! Wir hätten uns gut vor- ren. stellen können, daß es in dem Haushalt weitere Stei- In diesem Jahrhundert beginnen immer mehr gerungen gibt. Es ist unbestreitbar, daß wir noch dar- Menschen zu erfahren, was es bedeutet, auf jegliche über reden müssen, auch im Laufe dieser Legislatur- mystische Bindung im Denken zu verzichten und nur periode, die Mittel im Bereich des Hochschulbauför- der Wissenschaft zu vertrauen. Die ethische Verwir- derungsgesetzes zu steigern. Bund-Länder-Gesprä- rung nicht nur der Europäer, die daraus folgt, ist of- che stehen bevor. Das kann man überhaupt nicht fensichtlich. Ich glaube nicht, daß Wissenschaft ein verschweigen. Religionsersatz ist. Aber der Verzicht auf Gott ver- (Zuruf von der SPD: Da nehmen wir Sie langt von der Wissenschaft, sich an der Neudefinition beim Wort!) dieses Wertevakuums zu beteiligen. Aber ich sage auch ganz deutlich: Staatliche Haus- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) halte sind in diesem Bereich nicht alles. Auch die Seit Dürrenmatts „Die Physiker" sollte dies eigent- Notwendigkeit, staatliche Haushalte zu konsolidie- lich gesellschaftskritisches Allgemeingut sein. Aber ren und die Fähigkeit bei anderen in der Gesellschaft Sie sparen bei der Technikfolgeneinschätzung zu erzeugen, in Investitionen und Forschung zu ge- 400 000 DM ein, und Sie werden auch die kleinen hen, ist wichtig. ökologischen Institute nicht auf die Liste der förde- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne rungswürdigen Institute setzen; vielleicht nächstes ten der CDU/CSU - Zuruf von der CDU/ Jahr - wir schauen mal. CSU: Das ist der einzige richtige Weg!) Unser zweiter Änderungsantrag - der Ihnen, Herr Das ist ein Punkt, der beachtet werden muß. Schanz, so unerfindlich war - beschäftigt sich genau damit, nämlich mit der Umschichtung von Mitteln Eines möchte ich hier auch bemerken: Das ist der aus der Müllverbrennung hin in die Schadstoffver- erste Haushalt - eigentlich sind es ja die nacheinan- meidung, was wir für sinnvoller halten, als den Müll dergeschalteten Haushalte von zwei Häusern, die zu lieb und nett zu verbrennen und dann atomisiert in einem Ressort zusammengelegt wurden - der be- die Atmosphäre zu jagen. ginnt, eine innere Philosophie zu entwickeln. Die Welt verändert sich atemberaubend schnell. Ich will zu dieser inneren Philosophie feststellen, Früher verstanden die Großväter die Enkel nicht daß es auch einige sehr, sehr positive Entwicklungen mehr. Die gesellschaftlichen Veränderungen spiegel- in diesem Haushalt gibt, die man benennen kann. - ten sich zwar in Familienzusammenhängen wider, aber nicht innerhalb einer Generation. Heute hat die Es ist eindeutig so, daß die Mittel für Forschungs- Veränderungsbeschleunigung eher den Charakter, förderung deutlich gesteigert worden sind, daß ein Mensch im Laufe seines Lebens einen oder (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) sogar mehrere historisch- gesellschaftliche Brüche hinnehmen muß und schon mancher Dreißigjährige und zwar in den wichtigen Bereichen, die ja sehr vor sich hin murmelt, er verstehe die Welt nicht mehr. wahrscheinlich in den Querschnittstechnologien Vor- Das ist eine enorme Anforderung, die eigentlich ei- läufer für Beschäftigungsverhältnisse von morgen nes Wiederauflebens aufklärerischer Ideale bedürfte, sein werden. Bei den Umwelttechnologien gibt es um dem Menschen zu helfen, sich zurechtzufinden. eine Steigerung von über 10 %. Ebenso gibt es Stei- 2208 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995

Dr. Wolfgang Gerhardt gerungen bei den Verkehrstechnologien und den rufstätigkeit suchen. Das ist mehr als Gleichwertig- Biotechnologien. Das sind überproportionale Zu- keit. Das ist ein Signal an die Menschen, daß wir sie wächse, die wir begrüßen. Das ist ein richtiger Weg, schätzen, und das ist mehr, als 140 Millionen DM es der hier eingeschlagen worden ist. ausdrücken können.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Im übrigen: Das, was hier als Meister-BAföG be- zeichnet wird und was in diesem Bereich als Steige- Wir wollen im übrigen zum Thema Forschungsre- rung vorgesehen wird, aber auch vieles andere aktor hier sagen - das sage ich für die F.D.P.-Frak- macht es aus meiner Sicht sehr vernünftig, daß wir tion -: Diese Gesellschaft muß die Fähigkeit behal- an die Opposition appellieren, nicht noch einmal im ten, mit Kerntechnik umgehen zu können, Laufe dieses Jahres unnötig beim BAföG hin und her zu widersprechen. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der und deshalb dürfen wir diese Fähigkeit nicht durch CDU/CSU) den Abbau von Forschungsförderungsmitteln be- grenzen. 4 % BAföG-Steigerung und das, was wir an berufli- chen Bildungschancen vorsehen, ist ein gewaltiges (Dr. [F.D.P.]: Genauso Stück Leistung dieser Koalition für den Teil der jun- ist es!) gen Generation. Dieses Land braucht die Fähigkeit zur Entwicklung (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) inhärent sicherer Kernreaktoren und braucht auch die Forschungsfähigkeit in Fusionsbereichen. Diese Hätte die Opposition früher vorgesehenen maßvol- dürfen wir nicht aufgeben. len BAföG-Steigerungen zugestimmt, hätte die Stu- dentengeneration heute schon mehr, als sie tatsäch- Im übrigen gilt das auch für Energiekonsensge- lich hat. spräche. Wenn hier über Optionen diskutiert wird, (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) müssen wir uns im Kopf auch die Fähigkeit zur Op- tion offenhalten, und deshalb kann das keine Ange- Es lohnt sich nicht, darüber ideologisch weiter zu legenheit von Portokassen und des Abschaltens von streiten. Forschungsreaktoren sein. Wir begrüßen, wenn wir auch Garching hier mit einbeziehen. Die großen Wissenschaftsorganisationen erhalten weiter Mittel, die Grundlagenforschung wird ge- Wir begrüßen die Mitteilung des Ministers zum stärkt. Thema Weltraumforschung. Meine Damen und Her- Eines möchte ich zum Abschluß sagen. Ich möchte ren Kollegen, wir wollen schon, daß die ESA ein rea- listisches Konzept auf der Basis der jetzt zur Verfü- bestreiten, daß die Opposition in diesem Hause glaubwürdig ist, wenn ich einmal darauf hinweise, gung stehenden Mittel entwickelt. Wir wollen nicht was in Hessen vor wenigen Tagen geschehen ist. Da dauernd damit bedrängt werden, hier Mittelsteige- tritt eine amtierende Wissenschaftsministerin zurück rungen vorsehen zu müssen. Wir wollen wissen, ob und behauptet, die Koalitionsvereinbarung von SPD andere Nationen sich an diesem Konzept haushalts- und GRÜNEN konterkariert jede Möglichkeit zur politisch überhaupt beteiligen können; wir wollen et- was Realistisches haben. Hochschulreform. Sie stellt fest - so wörtlich -: Ausgerechnet BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ver- (Dr. Karlheinz Guttmacher [F.D.P.]: Das ist treten mit aller Härte eine primär fiskalisch orien- richtig!) tierte Politik für die Hochschulen. Wir begrüßen die Aufstockung der Mittel - das ist Sie sagt: Für Studentinnen und Studenten in I les- von den Berichterstattern gesagt worden - für die sen ist dies wissenswert. - Ich meine: auch darüber überbetrieblichen Ausbildungsstätten. Das geht in hinaus. Die Anträge der GRÜNEN sind für mich un- die neuen Länder, das ist eine richtige Entscheidung. glaubwürdig, weil sie in Koalitionsverhandlungen in Ich bedanke mich bei unserem Haushaltsberichter- den Ländern einen Abbau von Mitteln im Hochschul- statter Jürgen Koppelin für das Engagement in die- system vorsehen. sem Bereich. Das ist eine gemeinsame Leistung der Koalition in diesem Bereich gewesen. (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Ach woher!) (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der CDU/CSU) Nur hier können Sie, Herr Fischer, noch vorgeben, - Sachwalter der jungen Generation zu sein. Das soll mehr sein als nur die 20 Millionen DM; das sind ja jetzt 140 Millionen DM. (Zuruf von der CDU/CSU: So jung ist er auch nicht mehr!) Es geht nicht nur um die Summe; es geht um den Ich sage Ihnen: Die Auffassung, die Sie in Hessen be- Hinweis, daß diese Koalition - über die jahrelang dis- züglich hochschulpolitischer Aktivitäten vertreten, kutierten Trampelpfade im allgemeinbildenden macht Sie unglaubwürdig. Schulwesen und im Hochschulsystem hinausblik- kend - den großen Teil der jungen Generation sieht, (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne die über berufliche Ausbildung den Weg in eine Be ten der CDU/CSU) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995 2209

Dr. Wolfgang Gerhardt Es geht um den ersten Haushalt des Zukunftsmi- auch der leiseste Wahn, Deutscher sein zu können, nisteriums. Daß nicht alle Ansätze die Höhe errei- unvollziehbar werde und er sich vor seiner letzten Al- chen, die man sich vorgestellt hat, ist richtig; die ternative sehen müsse, in Deutschland Jude zu sein Richtung aber stimmt. Deswegen stimmen wir ihm oder nicht zu sein, zu. (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Welcher (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Haushaltstitel ist das?) und der schließlich rückblickend 1982 die kriegswirt- Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat der schaftliche Unzweckmäßigkeit der Judenvernich- Kollege Dr. Elm (PDS). tung beklagte, da sie auch im volkswirtschaftlichen Sinn absolut schädlich gewesen sei - wörtlich: Dr. Ludwig Elm (PDS): Herr Präsident! Meine Da- Wenn ich an die ungeheuren Mengen von Wa- men und Herren! Was hat der Geburtstag eines gen, von Güterzügen, Truppen usw. denke, die Schriftstellers mit der Bildungs-, Wissenschafts- und dafür benötigt wurden, das war doch irrsinnig. Forschungspolitik dieses Landes zu tun? Er hat ziem- lich viel damit zu tun, wenn es sich um den Das habe auch zum ökonomischen und strategischen 100. Geburtstag eines Autors handelt, der im rechts- Verlust des Krieges beigetragen. extremen Spektrum der Weimarer Republik einfluß- reich an der ideell-politischen Vorbereitung der fa- (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Wo war schistischen Diktatur und des opferreichsten Krieges denn Ihr Beitrag? - Otto Schily [SPD]: Neh- der Weltgeschichte teilgenommen hat, jener Verbre- men Sie das einmal ernst!) chen und Tragödien also, an deren Beendigung vor Konfrontiert mit den verlogenen Szenen des heuti- 50 Jahren in den nächsten Wochen weltweit mit gen Tages ist daran zu erinnern, daß der Schriftsteller Schmerz und Trauer erinnert wird. Er hängt noch Jünger durch jenes völkische, nationalistische, solda- mehr damit zusammen angesichts des Skandals, daß tische und demokratiefeindliche schriftstellerische sich heute politische Repräsentanten der Bundesre- Wirken der 20er und 30er Jahre namhaft wurde und publik, darunter sinnigerweise Theodor-Maunz - blieb, das das Nazitum und die Kriegsvorbereitung Schüler und Preisträger der rechtskonservativen förderte. So umstritten seine literarische und philoso- Deutschland-Stiftung, in Wilflingen als Gratulanten phische Qualität stets war, blieb er unübersehbar der an einer Demonstration der Unbelehrbarkeit in Be- autoritären und elitären Arroganz seiner Gesell- langen der Geschichte, der Demokratie und der schafts- und Geschichtsbetrachtung treu. Menschlichkeit Der Jünger-Kult ist die Fortsetzung von Bitburg (Adolf Roth [Gießen] [CDU/CSU]: Sie spre und des Historikerstreits mit den Mitteln der Litera- chen von Unbelehrbarkeit?) tur. Er erschließt den Zynismus als Ethik des nationa- len und internationalen Krisenmanagements. Es ist beteiligen und wiederum Zeichen für Fehlorientie- nicht nur die rechtsextreme „Junge Freiheit", die rungen des historisch-politischen Selbstverständnis- sich auf die Rückkehr zu den ärgsten geistigen Ur- ses und Handelns setzen. sprüngen der konservativen Revolution hin orien- Die Ausgestaltung nahezu auf der Ebene eines tiert, wie wir an diesem Tag erleben. Staatsaktes muß Anlaß sein, heute auch in diesem Uns veranlaßt dies, von der Bundesregierung eine Haus einige kritische Bemerkungen zu machen. definitive Absage an militärische Weltraumfor- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Ernst Jün schung, ein Konzept des Abbaus der Rüstungsfor- ger ist ein großer Mann!) schung und des Ausschlusses der militärischen Ver- wertbarkeit sonstiger wissenschaftlich-technischer Ja, es geht um Ernst Jünger. Es geht um deutsche Resultate zu verlangen. Wir wenden uns erneut ge- Geschichte, um Krieg und Soldatentum, um Schei- gen den Abbau der Friedens - und Konfliktfor- tern oder Gefährdung der Demokratie in Deutsch- schung, der im Gegenteil eine spürbar verstärkte land, Förderung zuteil werden muß. (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Da haben Die Aufwendungen für die Biotechnologie sind in Sie einen unrühmlichen Beitrag geleistet!) ihrer Gesamtheit offenzulegen, und die kritische öf- fentliche Kontroverse, insbesondere um die Gentech- um Wertauffassungen in Bildung, Wissenschaft und nologie, ist fortzuführen, um durchschaubare und Kultur. kontrollfähige Rahmenbedingungen für deren per-- spektivische Entwicklung festzulegen. (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Haben Sie überhaupt schon etwas von Jünger gele In den Reden des Bundesministers ging es bergab sen?) bis zum haushaltskonformen Argumentationsstil. Wir haben das in seinen Positionen zur BAföG-Diskus- Jener Jünger soll der Held dieses Tages sein, der sion erlebt. Wir stellen fest: 1921 etwas Zauberhaftes und ein tiefes Gefühl der Heiterkeit empfand, als eine Maschinengewehrsalve Wer eine Hochschulreform durch faktische Kür- einen Demonstrationszug von der Bildfläche ver- zungen beim BAföG befördern will, der handelt ver- schwinden ließ, der 1930 erklärte, daß für den Juden antwortungslos. 2210 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995

Dr. Ludwig Elm Wer den sozialen Status von Nachwuchswissen- BAföG-Titel von 2 Milliarden DM auf 4 Milliarden schaftlern auf Sozialhilfeniveau ansiedelt - wie wir DM zu erhöhen. Das muß man sich wirklich einmal dieser Tage aus einem Brief Potsdamer Doktoranden auf der Zunge zergehen lassen. Das ist doch unse- erfahren haben -, gibt zu erkennen, welchen Stellen- riös. wert er der Förderung des wissenschaftlichen Nach- wuchses einräumt. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Wer die chronische Unterfinanzierung des Hoch- Von den Ländern, soeben von Hessen, war schon schulbaus festschreibt, sagt etwas über seine Hal- die Rede. Ich könnte jetzt auf Niedersachsen Bezug tung zur Überlast an den Hochschulen aus. nehmen, wo der Herr Ministerpräsident Schröder sich in Hannover gegen Demonstrationen wehren Wer die Lehrstellenkatastrophe Ost und den sich muß, bei denen ihm vorgeworfen wird, im Bereich abzeichnenden Lehrstellennotstand West durch Ap- der Bildung und der Hochschulen voll ins Fleisch pelle an die Wirtschaft beheben will, stiehlt sich aus hineinzuschneiden. Das machen die doch alle nicht, der Verantwortung. um die Leute zu ärgern, sondern weil einfach nicht mehr Geld zur Verfügung steht. Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Herr Kollege Meine Damen und Herren, trotzdem sind die Ak- Dr. Elm, achten Sie auf die Zeit. Sie ist abgelaufen. zente korrekt und richtig gesetzt. Aus - und Neubau von Hochschulen wird mit 1,8 Milliarden DM im Dr. Ludwig Elm (PDS): Ich stelle abschließend Haushalt ausgewiesen. stichwortartig fest: Im Etat fehlen ausreichende öf- fentliche Mittel für Ökologie, erneuerbare Energien, (Karl Diller [SPD]: Das ist zuwenig!) Minimierung des Energieeinsatzes, Verkehr, Technik Natürlich brauchten wir hier wenig Phantasie, um und Technologiefolgenabschätzung. auch noch weitere 300, 400 oder 500 Millionen DM Um den Kreis zu schließen: Ernst Jünger gewinnt zu verbauen. Aber man kann doch einfach nicht zau- in unserer Zeit eine neue Anziehungskraft mit sei- bern und muß der Haushaltslage Rechnung tragen. nem elitären Zynismus, der manchem für die Bewäl- Lassen Sie mich zum Inhalt des Bildungsbereichs tigung der anstehenden sozialen Probleme angemes- noch einige Schwerpunkte nennen. Da ist die Struk- sen erscheint. turreform im Hochschulbereich, mit der wir uns ein- Danke. mal beschäftigen müssen. Der Minister wird sich (Beifall bei der PDS) sicherlich dazu äußern. Die Bund-Länder-Hochschul- baufinanzierung sollte überhaupt auf eine neue Grundlage gestellt werden. Sie sollte sich konzen- Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat der trieren. Sie sollte neu geordnet werden. Kollege Lenzer (CDU/CSU).

Die Hochschulsonderprogramme - das ist von der Christian Lenzer (CDU/CSU): Herr Präsident! Bundesregierung bereits angekündigt worden - wer- Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist ver- den mit dem WIP und dem HEP, dem Hochschul- ständlich, daß es bei einer Haushaltsdebatte nicht erneuerungsprogramm, in eine gemeinsame Initia- ganz ohne Zahlen geht. Aber da Kollege Kampeter tive eingebracht. Auch das ist eine wichtige Auf- aus der Sicht unserer Fraktion schon auf die Bera- gabe, ebenso wichtig wie die Stärkung der Attrakti- tungssituation im Haushaltsausschuß hingewiesen vität der beruflichen Bildung, z. B. die Öffnung der hat, will ich sagen: Ich hatte den Eindruck - wie es Hochschulen für qualifizierte Bewerber auch ohne auch Kollege Schanz am Anfang seiner Rede gesagt Abitur. hat -, daß dort ein viel höheres Maß an Übereinstim- Nicht zuletzt hat auch der Minister angekündigt - mung in manchen Punkten besteht als vielleicht in dafür sind wir dankbar, und dabei unterstützen wir anderen Fachausschüssen. Ich wünschte mir das ihn besonders, daß er noch in diesem Jahr eine Initia- manchmal in unserem Ausschuß - das Stichwort tive zur Meisterförderung, zur Aufstiegsfortbildung Transrapid ist hier genannt worden. Das ist eine im gewerblichen Bereich vorlegen wird. Möglichkeit, an die man anknüpfen kann. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Karl Diller [SPD]: Was sagen Sie dazu, daß der Minister in der letzten Reihe sitzt?) Auch im Haushaltsbereich des ehemaligen Mini- steriums für Forschung und Technologie hat z. B. die Ich will mich deswegen an den Zahlenspielen Grundlagenforschung jetzt einen Anteil von 17,3 %. überhaupt nicht beteiligen. Mit einem Haushalt von Niemand wird uns also vorwerfen können, daß hier 15,526 Milliarden DM haben wir eine Fülle von nicht genug Investitionen, nicht genug Betriebsmittel Chancen, wenn wir sie nur wahrnehmen. zur Verfügung stünden. Aber auch die Grundlagen- (Beifall bei der CDU/CSU) forschung - das möchte ich in aller Deutlichkeit sa- gen - wird sich in Zukunft kritische Fragen gefallen Wir müssen einmal von der kurzsichtigen Betrach- lassen müssen. Es kann nicht angehen, daß be- tung wegkommen, man brauche nur viel Geld auszu- stimmte Prozentsätze ad infinitum fortgeschrieben geben, um gleichzeitig auch eine erfolgreiche Bil- werden. Vielmehr muß man da angesichts der Haus- dungs- und Forschungspolitik zu machen. Herr Kol- haltslage genau hinschauen. lege Elm, so einfach kann man es sich nicht machen, daß man einen Änderungsantrag stellt, um die (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995 2211

Christian Lenzer Ich will nicht im einzelnen auf den Aufwuchs etwa gesichert werden. Wer z. B. Chemie, Gentechno- im Bereich der Vorsorgeforschung, der Gesundheits- logie oder Kernenergie verteufelt, verkennt die forschung, der ökologischen Forschung, der Klima- großen Chancen einer ethisch verantworteten und Umweltforschung eingehen. Ich möchte auf die Nutzung dieser Möglichkeiten. Umwelttechnologie verweisen, die gerade für unser Ich glaube, dem ist nichts hinzuzufügen. Land zu einem Exportschlager zu werden scheint. Es wird jetzt auch ein entsprechendes Transferinstitut in Vielen Dank. Leipzig geben; wir haben uns im Fachausschuß vor kurzem damit beschäftigt. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Das geht bis hin zu der sehr starken Betonung der Das Wort hat der die für unsere wirtschaftliche Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Schlüsseltechnologien, Herr Bundesminister Dr. Jürgen Rüttgers. Wettbewerbsfähigkeit entscheidend sind. Ich nenne hier nur die Multimediatechnik, wo ebenfalls dieser (Karl Diller [SPD]: Jetzt erklärt uns der Herr Minister zum erstenmal eine solche Initiative ergrif- Minister, warum er in der Bundesregierung fen hat. Er hat sie jetzt auf der Cebit in Hannover vor- in der letzten Reihe sitzt!) gestellt. Das geht weiter über die Materialforschung bis hin zur Biotechnologie und zum bodengebunde- Dr. Jürgen Rüttgers, Bundesminister für Bildung, nen Transport und Verkehr. Wissenschaft, Forschung und Technologie: Ich be- Natürlich bleibt der Ausbau der wissenschaftli- grüße zuerst einmal Herrn Diller und will ihm erklä- chen Infrastruktur in den neuen Bundesländern eine ren, warum ich in der letzten Reihe sitze: Ich sitze herausragende Aufgabe der Zukunft. nämlich gerne bei netten Menschen; deshalb sitze ich so selten neben Ihnen. Lassen Sie mich auch folgendes sagen: Wir freuen uns, daß einer unserer Wünsche jetzt in Erfüllung ge- (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU gangen ist, nämlich daß der Dialog zwischen Wis- und der F.D.P.) senschaft, Wirtschaft und Politik beim Regierungs- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und chef, beim Bundeskanzler selbst, also quasi als Chef- Herren! Ich freue mich, daß jetzt ein bißchen Leben sache in Gang gekommen ist. hereinkommt. Es war ja schon etwas schwierig für (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) mich, festzustellen, was ich jetzt sagen soll, nachdem so viel kritische Solidarität und so viel Lob zu unserer Wir versprechen uns davon ganz konkrete Vor- Arbeit diese Diskussion geprägt hat. schläge. Die Mitglieder - ich möchte sie in Schutz nehmen; sie haben es nicht verdient, daß sie hier von Meine Damen und Herren, wir bemühen uns im einigen abqualifiziert werden - sind herausragende neuen Ministerium sehr, uns mit den Zukunftsfragen Wissenschaftler, sind herausragende Wirtschaftsfüh- auseinanderzusetzen, obwohl es natürlich eine Viel- rer, die nicht nur schwadronieren, sondern eine wirt- zahl von Problemen gibt, die zu lösen sind. Es ist schaftliche Praxis aufzuweisen haben. Wir erwarten auch ganz sicher nicht so, daß wir alles das, was wir sehr viel an gutem Rat. uns vorgenommen haben, schon umgesetzt hätten. Aber wir führen hier ja eine Haushaltsdebatte, und Meine Damen und Herren, ich lade Sie ein: Helfen ich bin sehr dankbar, daß kaum noch kritisiert wor- Sie mit, die Innovationsgeschwindigkeit zu erhöhen! den ist, daß der Haushalt meines Ministeriums im Helfen Sie mit, Märkte zu erschließen! Ich fordere Konzert der Haushalte schlecht weggekommen sei. die Opposition auf, überall vor Ort, wo sie gefragt ist Sie kennen mein Glaubensbekenntnis: Wer Zukunft - auch etwa im Bereich der Kernenergie inklusive gestalten will, muß mit öffentlichen Finanzen sorg- der Anlagen des Brennstoffkreislaufs, bei der Gen- sam umgehen. technik, beim Transrapid, beim Forschungsreaktor München II -, mitzuhelfen. Dies alles sind ganz wich- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) tige Investitionen für die wissenschaftlich-techni- Deshalb ist es richtig, was macht, daß er sche Infrastruktur. die Konsolidierungspolitik fortsetzt. Deshalb ist es (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) aber auch richtig, daß Prioritäten gesetzt werden, und dies gerade im Bereich von Forschung und Ent- Helfen Sie da mit, und verunsichern Sie nicht die Be- wicklung, wo es ja einen überproportionalen Anstieg völkerung! Das wäre ein wichtiger Beitrag, den wir um 2,7 % gibt. alle leisten müssen. Lassen Sie uns nicht immer die Chancen negieren und die Risiken überbetonen! Meine Damen und Herren, Zukunftspolitik ist ja Sonst machen unsere Wettbewerber das Geschäft, nicht nur eine Frage des Geldes, sondern wahr- und wir haben hier bei uns im Land die Diskussio- scheinlich liegt ein besonderer Ansporn darin, in Zei- nen. ten knapper Kassen mit dem Geld optimal umzuge- hen. Wir haben uns in den ersten Monaten sehr Ich möchte mit einem Zitat schließen, das der darum bemüht, mit den Mitteln unseres Ministeri- Bundeskanzler in der Regierungserklärung am ums strukturelle Veränderungen zu bewirken, und 23. November gebracht hat: zwar im Verfahren wie im Mitteleinsatz. Ohne positive Einstellung der Gesellschaft zu Meine Damen und Herren, ich möchte mich sehr wissenschaftlich-technischem Fortschritt kann herzlich bei allen Mitgliedern des Haushaltsaus- der Wohlstand in Deutschland nicht dauerhaft schusses bedanken, die im Rahmen ihrer Kürzungs- 2212 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995

Bundesminister Dr. Jürgen Rüttgers bemühungen den Etat für Bildung, Wissenschaft, Bereich Gentechnik, sei es im Bereich Kernenergie, Forschung und Technologie von Kürzungen aus- gestimmt und polemisiert hat, jetzt plötzlich vom drücklich ausgenommen haben. Ich werde mich Saulus zum Paulus wird und als Befürworter neuer auch im laufenden Haushaltsjahr bemühen, dies Technologien auftritt. durch einen optimalen Mitteleinsatz zu rechtferti- gen, und ich glaube, daß uns dies in der einen oder (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) anderen Frage auch schon beispielhaft gelungen ist. Konkrete Schritte sind notwendig. Dies bedeutet, Wie Sie wissen, sind wir alle stolz darauf, daß wir daß wir mit diesem - wie es im Volksmund heißt - in Genf mit CERN ein europäisches Kernforschungs- Meister-BAföG nicht nur eine Stärkung der beruf- zentrum haben, das weltweit anerkannt ist. Es war lichen Bildung erreichen, sondern gleichzeitig einen notwendig, hier zu weiteren Investitionen in Milliar- Beitrag dazu leisten, daß die 200 000 Handwerker denhöhe zu kommen, die die Arbeit dieses For- und die 500 000 klein- und mittelständischen Unter- schungszentrums bis ins nächste Jahrtausend hinein nehmer, die in den nächsten Jahren einen Nachfol- sicherstellen. Wir haben hier einen Weg beschritten, ger suchen, diesen auch finden. Denn dies ist nicht der dazu geführt hat, daß den Physikern neue nur eine Frage der beruflichen Bildung, sondern es Arbeitsmöglichkeiten eröffnet werden und trotzdem ist auch eine Frage der Sicherung der Arbeitsplätze Kosteneinsparungen von insgesamt 1,4 Milliarden und der Sicherung des Standorts Deutschland, vor al- DM erzielt werden können. Das, meine Damen und len Dingen im mittelständischen Bereich. Herren, ist einer der Wege, wie man nach meinem Dafürhalten Forschungs- und Technologiepolitik an- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) gehen soll.

Christian Lenzer und andere haben die BAföG - Er- Wir haben zum zweiten - da möchte ich denjeni- höhung schon angesprochen. Ich will dies wegen der gen widersprechen, die hier gesagt haben, es be- Kürze der Zeit jetzt nicht tun. Auch haben wir das dürfe staatlicher Lenkung - versucht, bei dem zen- schon vor 14 Tagen diskutiert. tralen Problem der beruflichen Bildung in diesem Jahr einen Schwerpunkt zu setzen. Es gibt eine neue Ich bin mir darüber im klaren, daß es in den näch- Lehrstelleninitiative, und ich bin der deutschen sten Monaten und Jahren noch Erhebliches zu tun Wirtschaft für ihre Selbstverpflichtung dankbar, die gibt, um die Überlast an unseren Hochschulen zu be- sicherstellt, daß wir in diesem Jahr 600 000 Ausbil- seitigen oder zumindest zu mindern. Deshalb habe dungsplätze erreichen werden, so daß jeder junge ich vor, in den nächsten Wochen und Monaten Ge- Mann und jede Frau, die wollen und können, auch spräche mit den Ländern über eine Novellierung des einen Ausbildungsplatz finden. Dafür sind wir dank- Hochschulbauförderungsgesetzes aufzunehmen, um bar. auch hier den Mitteleinsatz zu optimieren. Es kann (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) nicht richtig sein, daß wie im Haushalt 1995 die Mit- tel für den Hochschulbau um 120 Millionen DM er- Meine Damen und Herren, wir haben dies mit qua- höht werden, ohne daß dies überhaupt jemand zur litativen Veränderungen begleitet, weil wir die beruf- Kenntnis nimmt, ohne daß das überhaupt eine Aus- liche Bildung stärken wollen. Ich nenne hier wirklich wirkung in der Diskussion hat. Es kann auch nicht nur summarisch die Neuordnung der Ausbildungs- richtig sein, daß wir auf der einen Seite über Multi- berufe, die in zwei Jahren abgeschlossen wird, die media diskutieren und auf der anderen Seite bei den Ausbildungsplatzverbünde und Ausbildungsplatz- Ländern überhaupt keine Vorstellungen vorherr- entwickler vor allen Dingen in den neuen Bundes- schen, was denn diese neuen Techniken etwa im ländern sowie unsere Maßnahmen für mehr Durch- Hochschulbau für Veränderungen in der Konzeption, lässigkeit und Qualitätssicherung in der beruflichen in der Bauplanung und in der Umsetzung zur Folge Bildung. Last not least nenne ich das Konzept zur haben. Aufstiegsfortbildung für Meister und mittlere Füh- rungskräfte. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Meine Damen und Herren, wer schon anwesend Steffen Kampeter hat die Bedeutung der Bemü- war, als hier eben der Etat für Arbeit und Soziales hungen in den neuen Bundesländern für die Bil- diskutiert worden ist, der hat eine mehr als merkwür- dungs- und Forschungslandschaft herausgestellt. dige Rede des Kollegen Schreiner - so heißt er, Wir bleiben dabei: Die Arbeit in den neuen Bundes- glaube ich - gehört. ländern wird kontinuierlich fortgeführt. Der BMBF wird 1995 rund 3 Milliarden DM für die neuen Bun- (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: desländer bereitstellen. Schreier! Professor Schreier!) Es gibt eine neue Zahl, die mich freut. Wir sind da Dieser Kollege hat versucht, gleichsam im Rundum- noch nicht über den Berg, aber es könnte eine Trend- schlag sich auch mit Technologiepolitik zu beschäf- wende sein. Sie wissen, daß im Bereich des natio- tigen, und u. a. ein Vollbeschäftigungskonzept der nalen Forschungsbudgets die Mittel der Wirtschaft Bundesregierung verlangt. Es ist schon mehr als für Forschung und Entwicklung leider in den alten merkwürdig, wenn hier jemand, der in der Vergan- Ländern auch 1994 rückläufig sind. Aber ich bin froh genheit gegen alles, was es an neuen Technologien darüber, daß von 1993 auf 1994 die Mittel der Wirt- gegeben hat, sei es im Bereich Transrapid, sei es im schaft für Forschung und Entwicklung in den neuen Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995 2213

Bundesminister Dr. Jürgen Rüttgers Bundesländern von 1,54 Milliarden DM auf Deshalb ist es auch richtig - Christian Lenzer hat 1,6 Milliarden DM gestiegen sind. Ich hoffe, daß dies darauf hingeweisen -, daß wir im Bereich der Welt- eine Trendwende ist. Für mich ist es ein Signal, daß raumpolitik jetzt versuchen, eine Umsteuerung im wir mit unserer Politik auf dem richtigen Weg sind. Verfahren vorzunehmen.

Einer der Punkte, die wir auch in den neuen Bun- (Wolf-Michael Catenhusen [SPD]: Das desländern immer in den Mittelpunkt unserer Arbeit wurde auch Zeit!) gestellt haben, war die Hilfe für junge technologie- orientierte Unternehmen. Gerade junge technolo- Ich erwarte Antworten von der ESA auf den Brief, gieorientierte Unternehmen brauchen die Chance, den der französische Kollege Rossi und ich der ESA aus Ideen Produkte zu entwickeln. Deshalb habe ich übermittelt haben. Wir erwarten von der ESA, daß vor einem Monat das neue Programm „Beteili- die Planungen für die internationale Raumstation gungskapital für kleine Technologieunternehmen" überprüft werden. mit 110 Millionen DM Steuergeldern vorgestellt. Ich hoffe, daß es uns damit gelingt, Beteiligungskapital Ich bin froh, meine Damen und Herren, Ihnen sa- von rund 900 Millionen DM für Leute mit Ideen, für gen zu können, daß die übrigen ESA-Mitgliedsstaa- Leute mit Wagemut zu mobilisieren. Verehrter Kol- ten diese Initiative begrüßt haben. Mehr als vier Mil- lege Schanz, Ihre Bemerkung, ich möge aufpassen, liarden DM kann Europa bis zum Jahr 2000 für sein daß hier kein Subventionstopf entsteht, müssen Sie internationales Engagement in der bemannten mir bei Gelegenheit noch erklären, vor allen Dingen Raumfahrt nicht ausgeben. nachdem ich von Ihrem Kollegen Jens gehört habe, daß er diese Initiative ausdrücklich begrüßt. Um es klar zu sagen: Ich will ein zuverlässiger Part- ner beim Projekt der internationalen Raumstation Wenn es gelingt, mit optimiertem Mitteleinsatz bleiben. Wir haben diese Haltung in der ESA-Ratssit- mehr für Bildung, Forschung, Wissenschaft und zung vergangene Woche nochmals bekräftigt. Aber Technologie zu erreichen, dann ist es auch ganz ich sage ebenso klar, daß die bisherigen Antworten wichtig, daß wir uns über die Instrumentarien dieser der ESA unbefriedigend sind. Politik Klarheit verschaffen. Wir haben diese Verän- derungen erreicht, weil wir uns eben nicht in Kom- missionen und Verordnungen verfangen haben, son- Ich erwarte von der Europäischen Raumfahrtbe- dern wir gesagt haben: Wir packen etwas an. Wir ha- hörde: ben Mut zur Zukunft. Wir handeln, statt zu reden, und wir sagen offen, was mit knappen Mitteln geht Erstens. Wir brauchen ein finanzierbares und in- und was nicht geht. haltlich überzeugendes Konzept, das die industriel- len Interessen der europäischen Partner berücksich- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das ist tigt. CDU-Politik!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich hoffe sehr, daß die anderen Fraktionen dieses Zweitens. Ein substantieller europäischer Beitrag Hohen Hauses diese Veränderungen in der Politik zur internationalen Raumstation setzt die Solidarität noch mitmachen können, daß sie aufhören, immer und das Engagement aller ESA-Mitgliedstaaten vor- nur vom Staat mehr Geld zu fordern, oder daß sie wie aus. Hier muß die ESA aktive Überzeugungsarbeit die GRÜNEN immer nur von Risiken reden und den leisten. Ausstieg propagieren, statt zusammen Schritte für eine gute Zukunft zu unternehmen. (Wolf-Michael Catenhusen [SPD]: Acht (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Jahre zu spät!)

Wenn Frau Kollegin Hermenau eben vorgetragen Drittens. Für die langfristigen Betriebs- und Nut- hat, daß es manchen Menschen sicherlich schwer- zungskosten erwarte ich einen belastbaren Rahmen fällt, die schnellen Entwicklungen und Veränderun- und eine faire Aufteilung zwischen den europä- gen zu verarbeiten, und, wie sie formuliert hat, man- ischen Partnern. cher 30jährige die Welt nicht mehr versteht, dann, verehrte Frau Kollegin Hermenau, scheinen Sie in (Wolf-Michael Catenhusen [SPD]: Das wäre der Fraktion der GRÜNEN besonders viele von die- schon 1987 fällig gewesen! Acht Jahre zu sen versammelt zu haben. spät!)

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Die ESA kennt unsere Anforderungen. Bislang habe ich allerdings nicht den Eindruck, daß sie die Wer Ausstiegsszenarien vertritt, wer nur auf staat- Brisanz dieser Fragen und dieses Anliegens vollstän- liche Lösungen setzt, ist zu zukunftsträchtigen Lö- dig erkannt hat und mit dem notwendigen Nach- sungen unfähig, weil Antworten nur durch Innova- druck arbeitet. tion und vernetztes Denken zu finden sind. (Wolf-Michael Catenhusen [SPD]: Sie sind (Joachim Hörster [CDU/CSU]: Sehr wahr!) spät aufgewacht, Herr Rüttgers!) 2214 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995

Bundesminister Dr. Jürgen Rüttgers Ich erwarte von der ESA, daß sie in den nächsten Antoine de Saint-Exupéry hat einmal gesagt: Die Zu- Monaten - spätestens bis zur Ministerkonferenz im kunft soll man nicht voraussehen wollen, sondern Oktober - durch ein aktives Engagement eine kon- möglich machen. Dies ist unsere gemeinsame Auf- sensfähige Lösung vorbereitet. Sonst werden wir gabe. Der Haushalt 1995 leistet dazu einen Beitrag. auch über das Management in europäischen Raum- fahrtangelegenheiten diskutieren müssen. (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der CDU/CSU - Wolf-Michael Catenhusen [SPD]: Sie wachen spät auf! Acht Jahre zu spät!) Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Ich schließe die - Lieber Herr Catenhusen, wir zwei kennen uns jetzt Aussprache. seit 1987. Wir haben schon lange darüber diskutiert. Ich sage es noch einmal: Schreiben Sie das Buch Wir kommen zur Abstimmung über den Einzel- über die Vergangenheit, ich schreibe das Buch über plan 30, Bundesministerium für Bildung, Wissen- die Zukunft. Das ist eine gute Aufgabenverteilung. schaft, Forschung und Technologie. Dazu liegen je (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) zwei Änderungsanträge der Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Gruppe In vielen Bereichen haben wir in der Zukunft er- der PDS vor. hebliche Veränderungen zu erwarten. Das gilt für die das gilt für die Informations- neuen Technologien, Wer stimmt für den Änderungsantrag der SPD auf und Kommunikationstechnologie, das gilt für die Bio- Drucksache 13/968? - Gegenprobe! - Enthaltungen? und Umwelttechnologie. Das sind zum Teil revolutio- - Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen der näre Veränderungen, die auch von den Menschen Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. gegen die nachvollzogen werden müssen. Deshalb ist auch die Stimmen der Fraktionen der SPD und des BÜNDNIS- offene Diskussion über diese neuen Technologien, SES 90/DIE GRÜNEN sowie der Gruppe der PDS ab- z. B. über die Gentechnik, wichtig. gelehnt. In der Gentechnik steckt ein riesiges ökonomi- sches Potential, das wir auch zur Sicherung unserer Wer stimmt für den Änderungsantrag der SPD auf Arbeitsplätze einsetzen müssen. Wir haben jetzt mit Drucksache 13/969? - Gegenprobe! - Enthaltungen? der Novellierung des Gentechnikgesetzes und der - Auch dieser Antrag ist mit den Stimmen der Koali- Novellierung der Gentechniksicherheitsverordnung tionsfraktionen gegen die Stimmen der Fraktionen die Rahmenbedingungen entscheidend verbessert. der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN so- Wir haben europäisches Niveau erreicht. wie der Gruppe der PDS abgelehnt. Ich sage das auch in Richtung derer, die in diesen Wer stimmt für den Änderungsantrag der Fraktion Tagen auf Bilanzpressekonferenzen Bemerkungen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auf Drucksache 13/886? zu diesem Thema machen. Wer meint, es müsse im - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit Bereich der Rahmenbedingungen noch etwas verän- den Stimmen der Fraktionen der CDU/CSU, der dert werden, der soll das klar benennen. Er soll aber F.D.P. und der SPD gegen die Stimmen der Fraktion nicht seine betriebswirtschaftlichen, seine ökonomi- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der Gruppe der schen Entscheidungen, die wir zu akzeptieren bereit PDS abgelehnt. sind, damit begründen, daß die Rahmenbedingun- gen nicht stimmen. Wer stimmt für den Änderungsantrag der Fraktion (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auf Drucksache 13/887? und der F.D.P. sowie des Abg. Wolf-Michael - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Änderungsan- Catenhusen [SPD]) trag ist mit den Stimmen der Fraktionen der CDU/ CSU, der F.D.P. und der SPD - dort bei einer Enthal- Es ist nicht die Aufgabe der Politik, die Schuld dafür tung - gegen die Stimmen von BÜNDNIS 90/DIE zu übernehmen, wenn aus ökonomischen Zwängen GRÜNEN und der Gruppe der PDS abgelehnt. betriebliche Entscheidungen erforderlich sind. (Wolf-Michael Catenhusen [SPD]: Sehr rich Wer stimmt für den Änderungsantrag der PDS auf tig, Herr Rüttgers!) Drucksache 13/953? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen der Meine Damen und Herren, es gibt Bereiche, in de- Fraktionen der CDU/CSU, der F.D.P. und der SPD ge- nen wir weltweit führend sind, etwa im Bereich der gen die Stimmen der Gruppe der PDS bei Stimment- Umwelttechnologien. Wir werden dafür im Haushalt - haltung der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ab- 1995 fast 300 Millionen DM einsetzen. Es zeigt, daß gelehnt. es Bereiche gibt, wo wir auch in bezug auf die Ar- beitsplätze wirklich etwas einzubringen haben. Aber, meine Damen und Herren, es kommt darauf Wer stimmt für den Änderungsantrag der PDS auf an, schon jetzt zu erkennen, was in den nächsten Drucksache 13/954? - Gegenprobe! - Enthaltungen? Jahren notwendig ist. Deshalb werden wir insbeson- - Der Antrag ist mit den Stimmen der Fraktionen der CDU/CSU, der F.D.P. und der SPD gegen die Stim- dere Maßnahmen für den produktionsintegrierten men der Gruppe der PDS bei einigen Enthaltungen Umweltschutz unterstützen. aus der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN abge- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) lehnt. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995 2215

Vizepräsident Hans-Ulrich Klose Wer stimmt jetzt für den Einzelplan 30 in der Aus- Doch leider, ebenso wie Ihre Vorgängerinnen seit schußfassung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der 1981, halten Sie an einer Politik fest, die in weiten Einzelplan 30 ist mit den Stimmen der Fraktionen der Teilen der gesellschaftlichen Realität in Deutschland CDU/CSU und der F.D.P. gegen die Stimmen der überhaupt nicht Rechnung trägt. Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie der Gruppe der PDS angenommen. (Beifall bei der SPD - Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Wo sind Sie denn Ministerin?) Ich rufe jetzt auf: - Ich werde es Ihnen gleich entwickeln, Herr Kol- Einzelplan 17 lege; seien Sie doch nicht so ungeduldig. Bundesministerium für Familie, Senioren, Ihr Familienbild ist konservativ geprägt. Frauen Frauen und Jugend sind in erster Linie Mütter. Die immer größer wer- dende Zahl junger Leute, die nach ihren eigenen - Drucksachen 13/517,13/527 - Werten, eigenen Verhaltensmustern, bis hin zu Klei- dung und Musik, leben, kommt bei Ihnen nicht vor. Berichterstattung: Experimentelle Ermutigungen, das Neuausprobieren Abgeordnete Peter Jacoby da, wo Herkömmliches möglicherweise nicht mehr Ina Albowitz unbedingt funktioniert, das geht von Ihnen nicht aus. Siegrun Klemmer Nicht einmal der Aufgabe einer sozusagen kompen- Andrea Fischer (Berlin) satorischen Auffangstelle für das, was in den ande- ren Ministerien versäumt wird - die Notwendigkeit Dazu liegt ein Änderungsantrag der Gruppe der dazu ist in der Debatte heute des öfteren zur Sprache PDS vor. gebracht worden -, werden Sie gerecht.

Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die In der ersten Lesung des Haushalts sprachen Sie, Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich sehe kei- Frau Ministerin, angesichts eines Haushalts von rund nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. 33 Milliarden DM für 1995 von einer guten Grund- lage für erfolgreiche Arbeit. Sie wissen aber ganz ge- Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort nau, daß von diesen 33 Milliarden DM 30 Milliarden der Kollegin Siegrun Klemmer (SPD). DM auf gesetzliche Leistungen entfallen. Es bleiben also nach deren Abzug lediglich 3 Milliarden DM als Siegrun Klemmer (SPD): Herr Präsident! Liebe Kol- sozusagen frei verfügbare Masse, die den politi- leginnen und Kollegen! schen Gestaltungsspielraum Ihres Ministeriums be- stimmen könnte. Hier von einer guten Grundlage zu Lobbyistin und Verfechterin für die Interessen sprechen, halte ich angesichts der Fülle von Proble- der Familien, Senioren, Frauen und Jugendli- men und Aufgaben, die allein der letzte Jugendbe- chen zu sein, darin sehe ich meine Aufgabe als richt aufgezeigt hat, schlichtweg für falsch, Ministerin. Gerade die sozial Benachteiligten un- ter diesen Menschen dürfen in unserer Gesell- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- schaft nicht zu kurz kommen. ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Das hört sich gut an. Es ist ein Zitat aus den politi- ganz abgesehen davon, daß Sie nicht einmal diesen schen Schwerpunkten der Bundesministerin für Fa- geringen Handlungsspielraum nutzen. milie, Senioren, Frauen und Jugend, gesprochen in der 13. Legislaturperiode, am 21. Februar dieses Jah- Die geringfügige Erhöhung des Gesamtetats ist an- res. gesichts der Preissteigerungen und der enormen Aufgaben in den neuen Ländern daher nicht der (Zuruf von der F.D.P.: Da kann niemand wi Rede wert. Der Etat jedenfalls deutet von neuer Prio- dersprechen!) ritätensetzung nichts an.

Allerdings hält dieser begrüßenswerte Vorsatz beim (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Blick auf seine finanzpolitische Umsetzung im Ein- PDS) zelplan 17 der Nachprüfung überhaupt nicht stand. Über die mögliche Effizienzsteigerung, die die Zu- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne sammenlegung der beiden Ministerien bedeuten ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) könnte, möchte ich heute noch kein Urteil abgeben. Dabei könnten die Voraussetzungen in bezug auf Die Zahlen und die Unterlagen dazu haben die Be-- Ihre Person, Frau Ministerin, eigentlich besser gar richterstatter relativ spät bekommen. Ich möchte dem nicht sein: Eine junge Frau, Mutter mit einer qualifi- neuen Ministerium in der zusammengelegten Form zierten Ausbildung als Diplomingenieurin, mit den zumindest eine Chance geben; darüber können wir speziellen Erfahrungen von Kindheit und Jugend in in einem halben Jahr reden. der ehemaligen DDR - sollte man meinen - ist be- stens geeignet, neue Akzente in der Politik für Kin- Lassen Sie mich zu Beginn ein Beispiel anführen, der, Jugendliche, Frauen, Familien und die ältere das besonders verdeutlicht, wie groß der Unterschied Generation zu setzen. zwischen Worten und Taten ist, ein Beispiel, daß das konservative Leitbild Ihres Ministeriums symptoma- (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: So ist es!) tisch widerspiegelt. 2216 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995

Siegrun Klemmer Bereits 1988 hat die CDU auf ihrem Bundespartei- heutige System der Familienförderung zu vereinfa- tag eine große Aufklärungskampagne zum Schutz chen, haben Sie mit der vorgelegten Regelung ver- des ungeborenen Lebens beschlossen. Diese Kampa- fehlt. gne hat bis heute nicht stattgefunden. Das haben auch Sie, Frau Ministerin, mittlerweile erfreulicher- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ weise bekannt. Doch mit der Feststellung geben Sie DIE GRÜNEN) sich dann auch zufrieden. Die Bundesregierung läuft mit ihrem Modell weiter Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts dem Verfassungsgerichtsurteil hinterher, indem sie zum Schwangeren- und Familienhilfegesetz ist der nicht einmal das erreicht, was die gesetzlich vorge- Bund für die Aufklärung, sind die Länder für die Be- schriebene Freistellung des Existenzminimums ge- ratung verantwortlich. Nach unwidersprochener bietet, weil seit dem Urteilsspruch vor vier Jahren der Schätzung von Experten und Sachverständigen sind Geldwert mittlerweile um ein Sechstel geschrumpft dafür jeweils 20 Millionen DM jährlich notwendig. ist. Sie müßten hier sofort nachbessern. Der Ansatz bei Ihnen betrug kümmerliche 6 Millio- (Karl Diller [SPD]: Typisch Waigel!) nen DM. Die Koalition hat gegen unseren Antrag, die Mittel zu erhöhen, gestimmt - und das, obwohl unser Nach wie vor ist Ihr Vorschlag nicht sozial gerecht; Vorschlag haushaltspolitisch seriös war und ein er- denn das Modell hält weiterhin an einem steuerli- ster wichtiger Schritt auf dem richtigen Weg gewe- chen Kinderfreibetrag fest und entlastet somit Spit- sen wäre, zenverdiener deutlich stärker als Gering- und Mittel- verdiener. Auch ist die effektive Entlastung bei ge- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne nauer Betrachtung nicht so hoch, wie von Ihnen an- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN gegeben. Einschließlich der Entlastung aus dem Kin- und der PDS) derfreibetrag bzw. dem Kindergeldzuschlag ergibt sich aus Ihrem Vorschlag höchstens folgende Entla- der Prävention endlich die Bedeutung zukommen zu stung: für das erste Kind 65 DM, für das zweite 5 DM, lassen, die von wissenschaftlicher Seite international für das dritte und vierte Kind häufig sogar weniger gefordert und die ihr auch durch das Bundesverfas- als bisher. Bei allen weiteren Kindern führt die vorge- sungsgerichtsurteil zugewiesen wird. Sie haben so- schlagene Regelung sogar zu einer Verschlechterung zusagen in letzter Minute den Etat um 1 Million DM von mindestens 5 DM. Vollends unakzeptabel ist die erhöht, obwohl auch Ihnen genau bekannt ist, daß Entlastung von Spitzenverdienern von bis zu 277 DM. diese Summe bei weitem nicht ausreicht, damit die Rund gerechnet ergibt sich als tatsächliche Förder- Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung ih- summe pro Familie der stolze Betrag von 26,25 DM rem Auftrag gerecht werden kann. monatlich.

Es ist uns zwar gelungen, den Titel „Informations- (Karl Diller [SPD]: Das ist CDU-Gerechtig- programm Zukunft der Familie", in dem Sie sage keit!) und schreibe 14 Millionen DM veranschlagt hatten, zu kürzen. Bedauerlicherweise waren Sie nicht be- Die Öffentlichkeit, Frau Ministerin, reit, die eingesparten Mittel der gesundheitlichen Aufklärung zukommen zu lassen. (Karl Diller [SPD]: Sie hört doch gar nicht zu! Herr Geißler, müssen Sie wieder unan- Hier wird Ihre Haltung zu § 218 nur allzu deutlich, genehm auffallen? Das ist die Regierungs- Frau Ministerin. Es wird erklärbar, daß Sie in den bank!) Präventionsbereich offensichtlich nur widerwillig in- aber vor allen Dingen die Familien werden Ihnen vestieren wollen. nicht abnehmen, daß Sie mit diesem Betrag der gro- ßen gesellschaftlichen Leistung der Familien gerecht (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne werden, der Familien, einer soziologischen Gruppe, ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN deren wichtigen gesellschaftsstabilisierenden Cha- und der PDS) rakter Sie doch ständig im Munde führen. Darüber hinaus bleibt der Familienlastenausgleich weiterhin Liebe Kolleginnen und Kollegen, das von der Ko- kompliziert und unnötig bürokratisch, weil Sie an alition Anfang März beschlossene Modell zum Fami- dem dualen System von Steuerfreibetrag und Kinder- lienlastenausgleich ist ein erster Schritt in die rich- geld festhalten. Das SPD-Modell eines einheitlichen, tige Richtung und konnte bei erstem Hinsehen für alle Berechtigten gleichen Kindergeldes als Ab- durchaus überraschen, da sich der Vorschlag dem ar- zug von der Steuerschuld ist nach wie vor die bessere - gumentativ überzeugenden 250-DM-Kindergeld- Alternative. Modell meiner Fraktion nähert. Ohne den ständigen Druck von seiten der SPD wäre diese neue Weichen- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE stellung sicherlich nicht möglich gewesen. GRÜNEN und der PDS) (Beifall bei der SPD) Wenn Sie dennoch - und das steht ja zu befürch- ten - an Ihrem unsozialen und bürokratischen Mo- Ihr Ziel aber, Frau Ministerin, das Sie in einer Pres- dell festhalten, dann sollte - und das geht dann an seerklärung vom 21. Februar formulierten, einen ge- Ihre Adresse, Frau Staatssekretärin Karwatzki -, der rechten Kinderlastenausgleich zu schaffen und das Bundesfinanzminister umgehend eine gesetzliche Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995 2217

Siegrun Klemmer Formulierung vorlegen, die in den Entwurf der Bun- einen berechtigten Anspruch auf ein ausgefülltes desregierung zum Jahressteuergesetz aufgenommen würdevolles Leben nach der Arbeitsphase haben, wird, damit diese Regelung wenigstens dann noch und diese Menschen fordern das auch immer selbst- zum 1. Januar 1996 in Kraft treten kann. bewußter ein. (Beifall bei der SPD und der PDS) Auch Sie, Frau Ministerin, bezeichnen völlig zu Recht die Seniorenpolitik als Querschnittsaufgabe. Meine Damen und Herren, in den vergangenen Doch bleibt bis heute unklar, wie es z B. mit den von Monaten wurde von seiten der Bundesregierung bei Ihrer Vorgängerin eingerichteten Seniorenbüros wei- der Diskussion um den Rechtsanspruch auf einen tergehen soll, wie deren Existenz auf Dauer zu si- Kindergartenplatz starke Kritik an der Haltung der chern ist, denn den Bereich Seniorenarbeit haben Sie Bundesländer geübt. Lassen Sie mich hierzu kurz erst einmal um 6,6 % gekürzt. Stellung nehmen: Es besteht kein Zweifel, daß die Erfüllung des Rechtsanspruchs auf einen Kindergar- Wie sehr die Politik der Bundesregierung von einer tenplatz und des bedarfsgerechten Ausbaus von Ta- Stagnation gekennzeichnet ist, die vorwiegend Er- geseinrichtungen in allen Teilen der Bundesrepublik klärungen produziert, zeigt sich ganz besonders in eine unverzichtbare Hilfe für Familien, besonders der Frauenpolitik. auch für Alleinerziehende ist. (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Jetzt aber Vorsicht!) DIE GRÜNEN) - Jetzt passen Sie gut auf, Herr Kollege Weng, Sie

Bei der Verabschiedung des Schwangeren - und können etwas lernen. wurde durch den Deutschen Familienhilfegesetzes (Eckart Kuhlwein [SPD]: Aber nur, wenn er Bundestag ausdrücklich anerkannt, daß die Finanz- lernfähig ist!) kraft der Länder und Gemeinden durch die alleinige Finanzierung der Begleitmaßnahmen überfordert Frauenpolitik, Frau Ministe rin, bezeichnen Sie selber wird. Wer wie Sie anerkennt, daß der Schutz des vor- als zentrale Aufgabe innerhalb Ihres Ministeriums. geburtlichen Lebens eine gesamtpolitische Aufgabe Doch auch hier lassen Sie wieder die finanziellen ist, der muß auch zugestehen, daß die Folgeaufgaben Konsequenzen außer acht. nur durch finanzielle Anstrengungen von Bund, Län- dern und Gemeinden gemeinsam bewältigt werden Nach wie vor ist die Benachteiligung von Frauen können. im Erwerbsleben ein entscheidendes Hindernis für die Gleichstellung von Frau und Mann. Trotz gleich- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wertiger, ja zum Teil besserer schulischer und beruf- DIE GRÜNEN) licher Qualifikation werden Frauen seltener einge- stellt, geringer bezahlt, weniger befördert und in der Die Kommunen sind zur Erfüllung dieses Auftrags Regel auch als erste entlassen. auf die solidarische finanzielle Unterstützung der Länder und des Bundes angewiesen, und unser Vor- Wer diese Aussage als richtig erkennt - und bis da- schlag eines zeitlich befristeten Aktionsprogramms hin sind Sie ja mit uns noch einer Meinung -, der zur Umsetzung des Rechtsanspruchs, in dessen Rah- muß auch endlich etwas vorlegen, d. h. der muß poli- men sich der Bund an den Investitionskosten mit ei- tische Abhilfe schaffen, damit diese Benachteiligung nem Viertel beteiligen muß, bleibt der einzig sinn- wirksam abgebaut wird. volle Weg, um die notwendige Unterstützung von Fa- milien und Alleinerziehenden durchzusetzen. (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS) Da ist es unredlich, Frau Ministerin, auf die Länder einzuschlagen. Wenn Sie wirklich - wie eingangs zi- Mit dem vorgelegten Haushaltsentwurf werden Sie tiert - die Lobbyistin der Kinder und ihrer Eltern - dies nicht erreichen. Den Frauen haben Sie leider und nicht nur der ungeborenen Kinder, sondern vor nicht viel zu bieten. allem auch der geborenen Kinder sind, (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD) Für Frauenprojekte steht ein Titel im Haushalt zur dann hätte sich Ihnen gestern die Gelegenheit gebo- Verfügung, der nach den Kürzungen der Koalition ten, sich couragiert unserem Antrag anzuschließen, nur noch ein Gesamtvolumen von ca. 25 Millionen um seine Ablehnung zu verhindern. DM hat. Er enthält nicht nur eine diffuse Ansamm- lung von Projekten, sondern er ist finanziell ange- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE sichts einer Fülle von vorhandenen förderungswürdi- GRÜNEN und der PDS) gen Ideen und Vorschlägen mehr als dürftig ausge- stattet. Ich komme nun zu einem Punkt, der mir bisher le- diglich vor Augen geführt hat, wie wenig Konkretes Daß Sie, Frau Ministerin, dieser finanziellen Aus- für ihn in diesem Ministerium getan wird, und das ist stattung dennoch positiv gegenüberstehen, bleibt die Seniorenpolitik, für die es seit rund vier Jahren aus meiner Sicht völlig unverständlich. Dieser Frau- einen eigenen Titel gibt. Die Gesellschaft insgesamt entitel hat seinen Namen wahrhaftig nicht verdient wird älter, und damit vergrößert sich die Zahl aktiver und reicht bei weitem nicht aus für eine Frauenpoli- Männer und Frauen, die nicht zuletzt auf Grund ihrer tik, in der es grundsätzlicher Reformen bedarf und in Lebensleistung innerhalb des Generationenvertrags der die besondere Lage der Frauen gerade in den 2218 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995

Siegrun Klemmer neuen Ländern ein kräftiges Signal verdient. An Ihre Liebe Kolleginnen und Kollegen, Kürzungen im Adresse ganz speziell: die Vereinheitlichung der Le- Bundesjugendplan bedeuten angesichts der schwie- bensbedingungen, die gerade Ihnen besonders am rigen sozialen Lage vieler Jugendlicher und ange- Herzen liegen müßte, wird so weiter auf sich warten sichts der latenten Neigung zu Fremdenhaß und Ge- lassen. walt Sparen am falschen Platz. Wir werden die Ko- sten später drei- und vierfach zurückzahlen müssen. Ich komme zur Jugendpolitik. Die Situation von Kindern und Jugendlichen ist besonders nach der (Beifall bei der SPD) deutschen Wiedervereinigung mehr als unbefriedi- Die Jugendarbeit - insbesondere in den neuen gend, die Infrastruktur der Jugendhilfe unzurei- Ländern - braucht Berechenbarkeit und Perspekti- chend, die Ausbildungssituation besorgniserregend, ven. und das Desinteresse Jugendlicher an traditionellen Organisationsformen sowie die Gewaltakzeptanz Mit dem von Ihnen vielzitierten Sozialen Jahr und nehmen zu. dem freiwilligen ökologischen Jahr oder auch mit dem Austauschprogramm „Jugend für Europa III" Dem Bericht der Sachverständigenkommission mit läßt sich die Situation der wirklich hilfsbedürftigen seiner Fülle von jugendpolitischen Hinweisen wird Kinder und Jugendlichen nicht verbessern, ja diese diese Bundesregierung in keiner Weise gerecht. Sie Maßnahmen gehen an dem überwiegenden Teil der verschließt sich im Gegenteil durch beschönigende eigentlichen Zielgruppen vorbei. und rechtfertigende Hinweise auf die eigene Politik der Lösung der im Bericht aufgezeigten Probleme. In Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, der Stellungnahme der Bundesregierung zum Ju- ich möchte, so wie es meine Vorgängerin schon in gendbericht gibt es keinen politischen Impuls für den vergangenen Jahren getan hat, dringend an Sie eine zukunftsorientierte Jugendpolitik. appellieren, den Bundesjugendplan von den Kür- zungen auszunehmen. Meine Damen und Herren, ich möchte an dieser Stelle Ihnen die Situation noch einmal an wenigen (Beifall bei der SPD) Zahlen verdeutlichen, obwohl das bereits bei dem Gestatten Sie mir zum Schluß noch ein paar Be- Einzelplan, den wir als vorletzten beraten haben, merkungen zum Zivildienst. Der Zivildienst steht vor sehr deutlich wurde. Zahlen, für die die Regierung wichtigen Weichenstellungen, die sich durch die drei Kohl die Verantwortung trägt, sich der Realität aller- Faktoren „Verkürzung - Gestaltung - Finanzierung" dings permanent verschließt: 1 Million Kinder gehö- charakterisieren lassen. Diese entscheiden, ob der Zi- ren zu Sozialhilfeempfängern, 1,7 Millionen leben in vildienst eine gute, persönlich ertragreiche und för- Arbeitslosenfamilien, und eine halbe Million Kinder derliche Zeit sowohl für die jungen Männer als auch leben in Obdachlosenunterkünften oder in schlechte- für die von ihnen betreuten Menschen wird. sten Wohnverhältnissen. Daß Kinder in Deutschland ein Armutsrisiko sind, wird von niemandem bestrit- Leider sind in diesem für unsere Gesellschaft so ten. Die jüngsten Pläne des Gesundheitsministers zur wichtigen Bereich immer noch große Defizite zu be- Sozialhilfe - auch davon war vorhin schon die Rede - klagen: Bereits im siebten Jahr sind die Zuschüsse lassen hier eine weitere dramatische Steigerung be- des Bundes für Einführungslehrgänge nicht an die fürchten. allgemeine Preisentwicklung angepaßt worden; sie (Beifall bei der SPD) betrug in diesem Zeitraum 21 %. Das hat zur Konse- quenz, daß die Kraft der Lehrgangsveranstalter und Zivildienstbildungsstätten bei der Leistung von Ei- Angesichts dieser Zahlen kann man nur zu dem genmitteln völlig am Ende ist. Die Bundesregierung Schluß kommen, daß die Politik für Kinder und Ju- ist dringend aufgefordert, eine Anpassung des Zu- gendliche auf ganzer Linie versagt hat. schußsatzes vorzunehmen, damit diese wichtige Ar- beit auch in Zukunft geleistet werden kann. (Erneuter Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD) Doch trotz dieser ernüchternden Fakten und der bekannten Mißstände scheut sich die Bundesregie- Die Folge der im Zivildienst vorhandenen Mißstände rung nicht, die Unterstützung für Kinder und Ju- ist, daß unausgebildete Zivildienstleistende auf gendliche weiter zurückzufahren. Der Kinder- und kranke und hilfsbedürftige Menschen losgelassen Jugendplan des Bundes wird reduziert und damit werden mit nicht akzeptablen Folgen für beide Sei- der finanzielle Spielraum der betroffenen Verbände ten. immer enger. Alle Versuche meiner Fraktion, hier mehr Mittel bereitzustellen, scheiterten an den Ich komme zum Schluß. In nahezu allen Bereichen Mehrheitsstimmen der Koalition. des Einzelplans 17 klafft der Anspruch zwischen An- kündigung und realer Politik der Bundesregierung Inakzeptabel bleibt nach wie vor, daß die Koalition weit auseinander. nicht bereit ist, den Haushaltsvermerk von 1992 zu- (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: rückzunehmen, der es nicht ermöglicht, Rückflußmit- Das stimmt doch einfach nicht!) tel erneut zur Verfügung zu stellen. - Das stimmt sehr wohl, Herr Kollege Weng. Aber ich (Beifall bei der SPD) gebe Ihnen nach einer Sitzung des Haushaltsaus- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995 2219

Siegrun Klemmer schusses gerne einmal ein Privatissimum. Sie haben Legislaturperiode insbesondere eine familienpoliti- es nötig. sche Schwerpunktsetzung unter dem Motto „Familie stärken - soziale Gerechtigkeit absichern" angekün- (Beifall bei Abgeordneten der SPD - Heinz digt hat. Lanfermann [F.D.P.]: Oh! - Weitere Zurufe von der CDU/CSU und der F.D.P.) (Christel Hanewinckel [SPD]: Das sind doch nur Sprüche, Herr Kollege!) Manches Problem wird erkannt, aber es werden keine - nicht nur aus haushälterischer Sicht - rele- Wir als Koalition vertreten diese Akzentsetzung für vanten Schritte eingeleitet, um die Situation unserer die Dauer dieser Legislaturperiode. Familien, unserer Jugend, der älteren Menschen und nicht zuletzt der Frauen tatsächlich zu verbessern. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Ihr „Haus der Generationen", wie Sie es mit Vorliebe Deshalb, Frau Kollegin, hat es keinen Zweck, nennen, Frau Ministerin, steht finanziell auf äußerst wenn hier nur der Versuch gemacht wird, Etiketten schwachem Fundament. Gerade die, die einen ge- anzukleben, wenn der Versuch gemacht wird, Vorur- schützten Platz in diesem Haus besonders nötig hät- teile zu pflegen; denn damit wird die Realität - die ten, bleiben zu oft ausgesperrt. haushaltsbezogene Realität, aber insbesondere auch (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne die gesellschaftspolitische Realität - in unserem ten der PDS) Lande verbogen. Leider verfolgt Ihr Ministerium eine Politik, die von (Vorsitz : Vizepräsidentin Dr. Antje Voll- Stagnation, leeren Ankündigungen und von nach mer) wie vor leider ideologisch geprägten konservativen Meine Damen und Herren, ich möchte darauf zu Wertvorstellungen gekennzeichnet ist, und versperrt sprechen kommen, daß die Haushaltsansätze in die- sich den wichtigen Reformen, die für die Zukunft un- sem Ressort in Übereinstimmung zu bringen sind mit serer Gesellschaft notwendig sind. den vielen Aktivitäten im sogenannten ehrenamtli- Wenn Sie, Frau Ministerin, was ich zwar nicht zu chen Bereich. Wir bieten in vielerlei Hinsicht die Vor- hoffen wage, unsere Vorschläge aufgriffen, hätten aussetzung dafür, daß der Sozialstaatscharakter die- Sie engagierte Mitstreiterinnen und Mitstreiter bei ses Landes durch ehrenamtliches Engagement um- den Auseinandersetzungen mit dem Finanzministe- setzt wird. Deshalb möchte ich in dieser Haushalts- rium. Dem Haushalt in der vorliegenden Form - das debatte die Gelegenheit wahrnehmen, um mich da- wird Sie nicht wundern - müssen wir ablehnen. für zu bedanken, daß das ehrenamtliche Engage- ment - auf der Basis der Haushaltsansätze, die wir (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne hier verabschiedet haben - von vielen Bürgerinnen ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und Bürgern in unserem Lande in der Vergangenheit und der PDS) so eindrucksvoll an den Tag gelegt wird, wie das im- mer und immer wieder der Fall gewesen ist.

Vizepräsident Hans - Ulrich Klose: Das Wort für die (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Peter Jacoby, dem ich für seine Rede Glück wünsche; denn - es ist Und, meine Damen und Herren, man muß natür- gesagt worden - es ist seine erste im Plenum des lich die Vergleichsebenen bemühen. Man kann doch Bundestages. nicht verdrängen, was mittlerweile auf der Länder- ebene, gerade auch in den sozialdemokratisch ge- (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: führten Bundesländern, an Streichüberlegung en an- Das wird man nicht merken!) gestellt wird, was alles zur Diskussion gestellt wird, gerade im sozialen Bereich. Sozialstationen, soziale mobile Dienste bis hin zum Recht auf einen Kinder- (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Peter Jacoby gartenplatz werden von den Ländern und gerade Damen und Herren! Der Etat des Ministeriums für auch von den sozialdemokratisch geführten Ländern Familie, Senioren, Frauen und Jugend beläuft sich in Frage gestellt. Dann finde ich es unangemessen, auf insgesamt 33 Milliarden DM. Das sind 2 Milliar- hier in einer einseitigen Schuldzuweisung die finanz- den DM mehr, als im vergangenen Jahr in Ansatz ge- politischen Zwänge zu verdrängen und dem Gesamt- bracht worden ist. Das bedeutet eine Steigerung die- anliegen nur unzureichend Rechnung zu tragen. ses Einzeletats um 6,5 %. Wenn man diese Größenordnung zur Steigerung (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) - des Gesamtetats, der lediglich eine Steigerung von Wenn ich lese, daß z. B. Nordrhein-Westfalen eine 1,3 % aufweist, in Rechnung setzt, verbindliche Entscheidung in Sachen Kindergarten- (Heinz Lanfermann [F.D.P.]: Das ist das plätze erst zur Jahresmitte treffen will, wenn ich Fünffache!) sehe, daß jetzt gehandelt werden muß, wenn wir am 1. Januar 1996 ausreichend Plätze anbieten wollen, dann kommt darin doch eine deutliche Akzentset- dann kann doch die Opposition bei dieser Debatte zung zum Ausdruck. Sie steht in unmittelbarem Zu- nicht undifferenziert, nicht pauschal in der Schuldzu- sammenhang mit der Regierungserklärung des Bun- weisung an den Bund argumentieren und einfach deskanzlers, wie er sie am 24. November des vergan- verdrängen, daß es im Zusammenhang mit der Um- genen Jahres abgegeben hat und in der er für diese satzsteuerverteilung zugunsten der Länder einen Zu- 2220 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995

Peter Jacoby schlag gegeben hat, sozusagen im Vorgriff auf die Fi- nung der Erziehungsjahre auf die Rente. Wir haben nanzierung dieses Rechtes auf einen Kind ergarten- mit diesen Maßnahmen eine Aufwertung der Fami- platz. Auch diese Zusammenhänge gilt es bei dieser lienarbeit erreicht, etwas, was doch gesellschaftspoli- Diskussion zu berücksichtigen. tisch erwünscht ist und was auch dem geänderten Rollenverhalten der Frau in unserer Zeit geradezu (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) entspricht. In der Tat, meine Damen und Herren, orientieren (Zurufe von der SPD) wir uns als Koalition an den Ausgaben des vergange- nen Jahres, was die freiwilligen Ausgaben anbe- Insofern müssen auch diese Zusammenhänge gese- langt. Dazu bekennen wir uns. Wir sind der Auffas- hen werden. sung, daß man, wenn man Modellmaßnahmen Eine letzte Bemerkung in diesem Zusammenhang: macht, dann an einen Punkt kommt, wo diese ausge- Vieles wollen und müssen wir ressortübergreifend wertet werden müssen. Wir bekennen uns dazu, daß diese Modellmaßnahmen auch zu einem späteren sehen. Vieles ist auch gar nicht mehr mit Mitteln der Zeitpunkt in die finanzpolitische Verantwortung an- Haushaltspolitik in den Griff zu kriegen, sondern es derer Träger einmünden. Vieles ist gerade als An- geht um die Gestaltung von Strukturen in unserem schubfinanzierung gedacht gewesen. Dazu stehen Land. Wohnungseigentumsförderung für Familien wir. mit Kindern, kostensparendes Bauen, mehr Bauland für Familien mit Kindern - das betrifft alle Ebenen, Im übrigen möchte ich darauf hinweisen: Wir ha- das sind strukturelle Fragen, das sind Fragen, die et- ben deutlich erhöhte Ausgaben, und zwar in der Grö- was mit der Zukunftsgestaltung zu tun haben, und ßenordnung von sage und schreibe 2 Milliarden DM, dieser Zukunftsgestaltung stellen wir uns. Ich sage beim Kindergeld, beim Erziehungsgeld und beim es noch einmal: Es geht gar nicht so sehr um die Unterhaltsvorschuß. Allein die Verlängerung der Be- Frage der Veränderung von Haushaltstiteln, sondern zugsdauer beim Erziehungsgeld auf 24 Monate es geht um die Bereitschaft, Strukturen entsprechend schlägt mit einem Plus von 1,3 Milliarden DM zu Bu- kritisch zu hinterfragen. che, ein Ergebnis, das wir wollten, ein Ergebnis, zu dem wir stehen und ein Ergebnis, bei dem man auch (Beifall bei der CDU/CSU) die sonstigen Entwicklungslinien sehen muß. Des- Wenn z. B. der Fünfte Familienbericht von einer halb meine ich, auch mit Blick auf den Bundesju- „strukturellen Rücksichtslosigkeit einer Gesellschaft gendplan, den Sie angesprochen haben: Vor fünf gegenüber der Familie" spricht, dann mag die Bun- Jahren wurde der Bundesjugendplan mit 129 Millio- desregierung ein Adressat dieser Aussage gewesen nen DM in unserem Land finanziert. Heute sind es sein. Aber genauso sind sämtliche Landesregierun- 208 Millionen DM, eine nachhaltige Entwicklung gen über Parteigrenzen hinweg und die ganze Ge- nach vorne. Dann, finde ich, kann es nicht sein, daß sellschaft Adressaten dieser Aussage außerhalb die- diese Beträge pauschal herabgewürdigt werden. Die ses Raumes. Betroffenen selbst sehen es viel differenzierter und sprechen von einer - Zitat - „verbesserten Absiche- Deshalb bemühen wir uns um eine bessere Verein- rung der Förderung". Ich finde, das spricht dafür, barkeit von Familie und Beruf. daß wir auch im Bereich des Bundesjugendplanes nicht einen Kahlschlag oder ein unkritisches Zurück- (Zuruf von der SPD: Wo denn?) fahren zu vertreten haben. Ganz im Gegenteil. Das hat Auswirkungen auf die Arbeitszeitgestaltung, Vieles ist eine Frage der Priorität. Und diese Priori- auf die Öffnungszeiten von wichtigen Institutionen tät wird auch in diesem Haushaltsplan gesetzt. Ich und auf dergleichen Dinge mehr. Das heißt, wenn spreche nur etwa den konstant gehaltenen Beitrag wir dem Haushalt Rechnung tragen wollen, müssen zum deutsch-französischen Jugendwerk in der Grö- wir uns der Diskussion um diese strukturellen Not- ßenordnung von 21 Millionen DM oder den Beitrag wendigkeiten entsprechend stellen. Ich möchte sa- zum deutsch-polnischen Jugendwerk in der Größen- gen, Frau Ministerin: Wir unterstützen Ihr Bemühen, ordnung von 5,3 Millionen DM an. Jawohl, wir küm- das auch gerade bei diesem Haushalt in vielen Initia- mern uns um Randgruppen. Wir machen aber auch tiven, Modellmaßnahmen und dergleichen zum Aus- Maßnahmen und insbesondere auch Maßnahmen druck kommt, hier das umzusetzen, was am Anfang zugunsten der breiten Mehrheit der Jugendlichen in dieser Legislaturperiode angekündigt worden und unserem Land und spielen nicht die beiden Gruppen was das Programm dieser Koalition für die Dauer von gegeneinander aus. vier Jahren ist.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Vielen Dank. - Ich meine, daß man unter diesem Gesichtspunkt, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) gerade auch nach der Zusammenfassung der bisher selbständigen Ministerien, das Ganze entsprechend sehen muß und dem Ganzen entsprechend Rech- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Sie wurden ja nung tragen muß. Deshalb haben wir jetzt eine Ak- im Namen des Hauses zu Ihrer ersten Rede regelwid- zentsetzung im Zusammenhang mit dem zukünfti- rig schon vorher beglückwünscht; aber ich schließe gen Familienleistungsausgleich vorgenommen. Das mich gerne an. steht in der Kontinuität der Einführung des Erzie- hungsurlaubes, des Erziehungsgeldes, der Anerken Das Wort hat jetzt die Kollegin Andrea Fischer. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995 2221

Andrea Fischer (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- geht es dabei zunächst und vor allem um die Ent- NEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! scheidung für ein gutes Leben, für die Freude an Kin Wir sprechen heute über den Haushalt eines Ministe- dern, die ihren Eltern die Welt in immer neuem Licht riums, das gerade neu zugeschnitten wurde und das erscheinen lassen. in seinem Titel vier gesellschaftliche Gruppen nennt. Aber die materiellen Bedingungen für dieses Le- Das legt die Vermutung nahe, es handele sich hier ben mit Kindern sind eben nicht unerheblich, ebenso um Minderheiten, die einer besonderen Zuwendung die Möglichkeit, daß diese Entscheidung nicht durch die Politik bedürften. Bei genauerem Hinse- zwangsläufig alternativ zur Berufstätigkeit stehen hen zeigt sich dann allerdings, daß die überwie- muß, und hier liegt die Zukunft der Entscheidung für gende Mehrheit der Gesellschaft mit diesen vier Kinder. Wer das nicht versteht, kann bloß von einem Gruppen - Frauen, Familie, Jugend und Senioren - Frauenbild der 50er Jahre ausgehen. beschrieben ist. Im Grunde sind es nur alleinste- hende Männer zwischen 18 und 60 Jahren, die von (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN der Politik dieses Ministeriums nicht erfaßt werden. sowie bei Abgeordneten der SPD)

(Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ Wer statt dessen eine moderne Politik machen will, DIE GRÜNEN) der muß sich an den jungen Frauen von heute orien- tieren, die zum Glück unbescheiden sind und beides Was sagt uns das über die Gesellschaft, daß sie wollen. Dementsprechend müssen das Kindergeld eine Sonderpolitik für die Mehrheit Ihrer Mitglieder gestaltet, die Kinderbetreuung organisiert, die Ar- betreiben zu müssen glaubt? Offenbar wird doch der beitszeiten flexibilisiert werden. Mainstream der Politik von denjenigen bestimmt, die Zu einer positiven Entscheidung für Kinder gehört sich selber keß als die Norm ansehen, ohne es zu auch, daß jede sich in Freiheit dafür entscheiden sein. kann. Eine der Voraussetzungen dafür ist Wissen Kann ein solches Ministerium diese Fehlentwick- und Information über Schwangerschaft und Verhü- lung korrigieren? Kann es die notwendige Wende in tung. Was aber machen Sie? - Sie knausern genau der dominierenden Politik einleiten? Hat es das in beim Titel für die Aufklärungsmaßnahmen, und das, den letzten Jahren ernsthaft versucht? Ist es mit der obwohl es eindeutige Vorgaben des Bundesverfas- entsprechenden Macht und den entsprechenden sungsgerichts gibt, obwohl es eindeutige Beschlüsse Mitteln ausgestattet? Nach meiner Auffassung nicht. und Selbstverpflichtungen des Bundestages dazu gibt. Nehmen wir nur den Familienleistungsausgleich. Auf Nachfragen sagen Sie, die Vorlagen der Bun- Das Erziehungsgeld ist in diesem Haushalt angesie- deszentrale für gesundheitliche Aufklärung seien delt, aber bestimmt wird Höhe und Ausgestaltung unbefriedigend gewesen. Da kann ich nur fragen: vom Finanzminister, nicht von den Erfordernissen Wer ist denn hier die Aufsichtsbehörde? Bei wem des Lebens mit Kindern. Dasselbe gilt für den Dauer- liegt die politische Verantwortung? Wer hindert Sie brenner Kindergeld, den wir nach meiner Auffas- daran, für die Zukunft mehr in den Haushalt einzu- sung auch nach den jüngsten Koalitionsbeschlüssen stellen und bessere Durchführung zu gewährleisten? leider noch immer nicht loswerden. Deshalb muß sich die Regierung immer wieder fragen lassen, ob Sie haben behauptet, die Stellenneubesetzung sie die richtigen Prioritäten setzt. Warum ist Ihnen brauche ihre Zeit. Haben Sie schon einmal etwas von das Recht auf einen Kindergartenplatz nur in war- der Vergabe von Aufträgen an Auftragnehmer von men Reden wert und teuer? außen gehört? - Ihre Erklärungen zu diesem un- glaublichen Vorgang haben mich nicht überzeugt. (Maria Eichhorn [CDU/CSU]: Wir sind ja für den Kindergartenplatz, aber die Länder (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) nicht!) Wir haben dem Koalitionsvorschlag für eine Erhö- hung der Mittel um 1 Million DM zugestimmt, weil Zu einer Umschichtung der Gelder für einige Militär- wir lieber mit Ihnen zusammen mehr Geld in diesem projekte zugunsten von Kindergarteninvestitionen Titel haben als ohne Sie noch weniger. Aber meiner sind Sie aber nicht bereit. Es verblüfft uns immer wie- Auffassung nach kann das im kommenden Haushalt der, wie bei Ihnen die Moral nach dem Geld, der Kin- nicht so in diesen kleinen Schritten weitergehen. dergarten nach dem U-Boot kommt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Auch wenn die freien Haushaltsmittel des Ministe- - Wie wäre es mit einem Umbauprogramm für ost- riums nicht üppig sind - manchmal ist wenig auch deutsche Kindertagesstätten, die nicht mehr ge- sehr viel. Beispielhaft sei hier das Deutsch-Polnische braucht werden, zu Familienzentren? Jugendwerk genannt, dessen Arbeit nach unserer Meinung weiterhin großzügig gefördert gehört, weil Aber mit alldem erklärt sich, daß Sie Ihr traditionell es einen ganz wichtigen Beitrag zur Zukunft leistet. hohes Ansehen in der Familienpolitik inzwischen längst verspielt haben. Die Programme der Jugendpolitik in Ostdeutsch- land haben wichtige, unverzichtbare Impulse für den Wir Bündnisgrünen sind doch die letzten, die be- Aufbau der Jugendarbeit geliefert. Nun sind das haupten würden, die Entscheidung für Kinder sei zwar noch keine buschigen Pflanzen, aber ohne nur vom Geld abhängig. Nein, selbstverständlich diese Programme wären diese Pflänzchen erheblich 2222 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995

Andrea Fischer (Berlin) dürrer ausgefallen. Deswegen ist es ein Problem, und Ich möchte die Regelungen noch einmal ganz wir halten es für eine Fehlentscheidung, diese Pro- deutlich machen, weil Sie sie ein bißchen in die Ecke gramme - AgAG und AFT - jetzt schon zurückzufah- stellen wollen: Zum einen wird der Kinderfreibetrag ren. Natürlich wäre uns eine Normalisierung und An- immerhin um über 50 % auf 6 264 DM angehoben. gleichung das allerliebste, aber es ist noch nicht der Fall. (Dr. Uwe Küster [SPD]: Ihrer Klientel, so je- mandem wie Ihnen, bringt das etwas!) Frau Nolte, Sie halten sich sehr viel auf Ihre ost- deutsche Herkunft zugute, und deswegen ist uns Zum anderen wird das Kindergeld für das erste und überhaupt nicht klar, wie Sie sehenden Auges zulas- das zweite Kind auf 200 DM sowie für jedes weitere sen können, daß dort sozialpolitische Ruinen hinter- Kind auf 300 DM angehoben. Demzufolge erhält eine lassen werden. Familie mit mittlerem Einkommen und zwei Kindern monatlich nicht mehr insgesamt 200 DM, sondern (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 400 DM Kindergeld, also das Doppelte. sowie bei Abgeordneten der SPD) (Beifall des Abg. Dr. Heiner Geißler [CDU/ Ich meine, an dem Punkt dieser Programme wird CSU] - Christel Hanewinckel [SPD]: Wo ha- deutlich, daß spezifische Gruppen auch eine auf ihre ben Sie rechnen gelernt?) Lage zugespitzte Politik brauchen. In diesem Sinne braucht das Ministerium mehr Einfluß, mehr Geld, Die Familien haben - und das ist auch richtig - ein mehr Macht. Solange Männer die Politik machen, als Wahlrecht zwischen dem Bezug von Kindergeld und seien sie das Maß aller Dinge, brauchen wir eine Po- der Inanspruchnahme des Kinderfreibetrags, so daß litik, die dem die Belange all der hier zur Debatte ste- sich jeder Steuerpflichtige zwischen der direkten henden Gruppen entgegenhält. Auszahlung des erheblich erhöhten Kindergeldes und der Absenkung seiner Steuerschuld durch die Aber die vermeintliche Minderheitenpolitik darf erhöhten Kinderfreibeträge entscheiden kann, je auch nicht Stand der Dinge bleiben. Es gilt, die Norm nachdem, was für ihn günstiger ist. so löchrig zu machen, daß die Interessen Jugendli- cher und die Interessen Alter, die Sorgen der Fami- Dies ist, um das ganz deutlich zu sagen, eine so- lien und die Ansprüche der Frauen nicht länger als ziale Lösung. Denn Sie vergessen bei Ihren Vorschlä- Gruppeninteressen gelten, sondern daß daraus das gen immer wieder, daß Sie den Bürgern, die mehr Muster der Gesellschaftspolitik wird. verdienen, die also auch mehr geleistet haben, von jeder Mark mehr abnehmen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) (Widerspruch bei der SPD - Christel Hane- winckel [SPD]: Das ist eine Unverschämt- Daher kann der beklagte geringe Handlungsrah- heit! - Dr. Uwe Küster [SPD]: Der Teufel men kein Generalpardon für die Chefin des Hauses scheißt auf den großen Berg! Das ist die sein, im Gegenteil. Dieser Gestaltungsspielraum muß Theorie, die Sie hier vertreten!) in unseren Augen entschiedener und beherzter als bislang genutzt werden, denn in Ihr Haus der Gene- - Sie haben unser Steuersystem nicht verstanden rationen, Frau Nolte, gehören keine Häkeldeckchen, oder wollen es nicht verstehen. sondern solide Möbel und ein Blick ins freie Land. Sie kennen die Berechnungen, daß jemand, dessen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Einkommen einem höheren Steuersatz unterliegt, er- bei der SPD und der PDS) heblich mehr verdienen muß als derjenige, für den auf Grund seines geringeren Verdienstes ein niedri- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat gerer Steuersatz gilt, der Abgeordnete Heinz Lanfermann. (Zuruf von der SPD: Mir kommen die Trä- nen!) Heinz Lanfermann (F.D.P.): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn man die beiden damit am Ende das Geld für das gleiche Paar Rednerinnen von SPD und GRÜNEN gehört hat, Schuhe, das er seinem Kind kauft, übrigbleibt. dann hat man schon manchmal den Eindruck, daß (Dr. Uwe Küster [SPD]: Die Partei der Bes- ein gewisses Zerrbild gezeichnet wird. Wenn das al- serverdiener! Unglaublich!) les so zuträfe, wie Sie es hier geschildert haben, dann sähe ich fast schon Millionen von Familien auf der Genau das, meine Damen und Herren, muß man so- Flucht aus diesem Lande, in dem es ihnen angeblich zial ausgleichen. Deswegen ist es richtig, daß man so schlecht geht und in dem so schlechte Politik ge- diejenigen Steuerzahler steuerlich prozentual etwas macht wird. mehr entlastet, Tatsächlich aber - man sollte das einmal nüchtern (Dr. Uwe Küster [SPD]: Ja, ja!) sehen und auch das Positive herausstellen - sind wir innerhalb der Regierungskoalition in den letzten vier die man vorher durch Aufschlag erheblicher Sätze Monaten ein gutes Stück vorangekommen. Das Para- belastet und mit entsprechend hohen Steuersätzen debeispiel dafür ist natürlich der Familienleistungs- für jede weitere verdiente Mark bestraft hat. ausgleich. (Dr. Uwe Küster [SPD]: Gott schütze unsere (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) armen Besserverdiener!) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995 2223

Heinz Lanfermann Meine Damen und Herren, wenn Sie jedes Ein- Sie haben - zum Teil haben Sie es wörtlich in Ihrer kommen mit dem gleichen Steuersatz belegten, dann Rede verwendet - im Antrag der SPD behauptet, der könnten wir auch darüber reden, jede Ausgleichs- Bundestag habe ausdrücklich anerkannt, daß dies al- maßnahme mit dem gleichen Prozentsatz zu belegen; les nicht allein von Ländern und Gemeinden zu lei- das tun wir aber nicht. Wir haben unterschiedlich sten sei. Dies mag man so sehen. Aber der Bundestag hohe Steuersätze. Sie entfachen eine Neiddiskus- und auch die Bundesregierung haben anschließend sion, indem Sie jedes mal darüber hinwegtäuschen, mit dafür gesorgt, daß im Finanzausgleich, beim Um- daß es so ist, wie ich gerade dargestellt habe. satzsteuerausgleich, genau diese Mittel - und zwar im Vorgriff - auf die Länder übergehen. Die Länder (Beifall des Abg. Dr. Wolfgang Weng [Ger kassieren schon seit Jahren Milliardenbeträge, die lingen] [F.D.P.] und des Abg. Werner Len sie was weiß ich wofür ausgeben, jedenfalls nicht für sing [CDU/CSU]) Kindergartenplätze oder nicht für genügend Kinder- Meine Damen und Herren, wenn hier über die gartenplätze. Größe eines Haushaltes gesprochen wird, darf man Und der Herr Müntefering, der sich immer als so sich auch einmal bei einer Ministerin bedanken, sozial aufspielt, wartet jetzt erst einmal genüßlich (Dr. Uwe Küster [SPD]: Um Gottes willen!) den 14. Mai ab, damit die Leute nicht merken, wo das Geld geblieben ist, und will dann Mitte des Jah- die bei einer Reform mitgemacht hat, die nicht zu- res entscheiden. Er hat sich gleich erschrocken ge- letzt eine große Verwaltungsvereinfachung bringt, zeigt und heftig dementiert, daß etwa tatsächlich be- indem das Kindergeldsystem unbürokratisch auf absichtigt sei - so war ja die schöne Meldung, daß eine Institution, auf das Finanzamt, verlagert wird. nun die Länder doch bereit seien -, zum 1. Januar (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) diese Kindergartenplätze tatsächlich zur Verfügung zu stellen. Allein dadurch werden wir 650 Millionen DM einspa- Meine Damen und Herren, um es noch einmal vor ren. Das bedeutet natürlich in Zukunft eine Verschie- bung von Haushaltsmitteln. Welcher Minister ist aller Öffentlichkeit deutlich zu sagen: Die Länder ha- ben diesen Mehrbetrag, sie haben dieses Geld be- denn schon damit einverstanden - angeblich wird ja die Bedeutung eines Ministers an der Höhe seines reits erhalten. Haushaltes gemessen -, daß sich Verschiebungen er- (Christel Hanewinckel [SPD]: Herr Lanfer- geben? Das finde ich beispielhaft; auch das sollte an mann, das ist doch nicht wahr! Das stimmt dieser Stelle einmal gesagt werden. so nicht!) (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne Es kann nicht angehen, daß Sie als SPD-Fraktion hin- ten der CDU/CSU) gehen und uns zustimmen, wenn wir sagen, daß der Kindergartenplatz für alle, die ihn brauchen, zum Hier ist schon mehrfach der Haushaltstitel für Auf- 1. Januar 1996 kommen muß, wie es 1992 im Gesetz klärungsmaßnahmen und Verhütung angesprochen hier beschlossen wurde, und daß Sie dann sozusagen worden. Es ist richtig, daß damals bei der Reform von hinten um die Ecke herum Anträge mit über vom ganzen Hause eine andere Zielvorstellung ge- 500 Millionen DM und über 1,7 Milliarden Verpflich- setzt wurde: Für solche Maßnahmen sollte auf Dauer tungsermächtigungen stellen, um Ihre Parteikolle- Geld in einer Größenordnung von 20 Millionen DM gen, die in Nordrhein-Westfalen den Wahlkampf füh- bereitgestellt werden, das von der Bundeszentrale ren, zu entlasten, indem Sie die Mär verbreiten, der für gesundheitliche Aufklärung zu verwalten und Bund sei schuld, wenn Länder, und jetzt insbeson- auszugeben ist. dere Nordrhein-Westfalen, ihre Pflicht nicht erfüllen. Wir von der F.D.P. - darauf bin ich stolz - und ins- Vielen Dank. besondere die Kollegin Ina Albowitz - ich habe den Namen richtig ausgesprochen - haben erreicht, daß (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU - der ursprüngliche Ansatz von 6 Millionen DM um Zuruf von der SPD: War das eine Haushalts- 1 Million DM auf 7 Millionen DM erhöht worden ist. rede?) Das war wahrscheinlich nach dem Diktat Ihrer Rede, Frau Kollegin Klemmer; das haben Sie nämlich nicht Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat die erwähnt. Dafür darf ich mich bedanken. Abgeordnete Heidi Lüth. Ich möchte noch auf die Kollegin Fischer eingehen: Es ist ganz klar, daß dies nur ein erster Schritt ist. Heidemarie Lüth (PDS): Frau Präsidentin! Meine Diese Schiene muß weiter nach oben führen. Das ge- sehr verehrten Damen und Herren! Eine innere Lo- - hört zu den Begleitmaßnahmen der Reform des gik hat der Entwurf des Haushaltsgesetzes 1995 Schwangerschaftskonfliktrechts; das haben wir im- wahrhaftig. Wer - wie in den letzten beiden Tagen mer deutlich gesagt. erneut durchlebt und durchlitten - die tatsächliche Lage in diesem Land immer schönredet, sich mit dem (Beifall bei der F.D.P.) Haushalt dem Sozial- und Kulturabbau verschreibt, Wenn wir aber über den § 218 und die gesamten Arbeitslosigkeit abzubauen nicht in der Lage ist und Begleitumstände sprechen, will ich doch aufgreifen, die militärische Weltmacht Deutschland auch mit den welcher Antrag hier eingebracht worden ist und was Mitteln des Haushalts schnellstens sichern will, der in bezug auf die Kindergartenplätze schon wieder muß diesem Grundsatz zwangsläufig in seiner Fi- mehrfach falsch behauptet worden ist. nanzpolitik, auch im Einzelplan 17, gerecht werden. 2224 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995

Heidemarie Lüth Er ist die Antwort, wie die Bundesregierung und Für die demokratischen Sozialistinnen und Soziali- die Koalition es meinen, wenn sie mit Koalitionsver- sten ist der Einzelplan 17 - wie auch der Gesamt- einbarung und Regierungserklärung festgeschrieben haushalt - nicht zukunftsweisend. Er erfaßt die tat- wissen wollen, daß sie das Wohl der künftigen Gene- sächlichen Probleme nicht und untersetzt damit ration im Blick haben. Bei mir macht sich allerdings zwangsläufig keine Lösung; schon gar nicht wird das mehr Unwohlsein breit. wenige Vorhandene sinnvoll verteilt.

Da erklärt Frau Ministerin Nolte in ihrer Rede zur In den Wind geschlagen werden all jene kritischen Regierungserklärung, die Anliegen der Jugend ernst Bemerkungen aus dem Jugend-, dem Familien- und zu nehmen, sie als verantwortungsbewußte und dem Altenbericht, die zu finanziellen Konsequenzen mündige Staatsbürger zu fördern und zu fordern. Be- hätten führen müssen. Wie mit dem Rasenmäher hat sonderen Wert legte sie darauf, Erfahrungen moder- der Haushaltsausschuß aus dem Regierungsentwurf ner Strukturen der Jugendarbeit in den neuen Län- noch einmal 8,4 Millionen DM weggemäht oder in dern zu fördern. Genau dieser Selbstverpflichtung, den Wartesaal 1996 verschoben. Frau Nolte, widersprechen die vorgesehenen Ausga- ben für die Sondermaßnahmen in den neuen Bun- Den Kollegen von der CDU und der F.D.P. möchte desländern, werden diese Ausgaben doch dem tat- ich sagen: Eigentlich ging es um den Haushalt 1995 sächlichen Bedarf in keiner Weise gerecht. und noch nicht um die Zukunft im Jahre 1996.

Die Absicht, die Sonderprogramme auslaufen zu (Beifall bei der PDS) lassen, belegt dies. Mit auslaufender Förderung kommt das gnadenlose Aus für viele kleine Träger. Chancen langfristiger Angebotsstrukturen werden Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat zerstört. jetzt die Ministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Frau Nolte. (Beifall bei der PDS)

Von entstandenen Erwartungshaltungen bleiben bei Claudia Nolte, Bundesministerin für Familie, Senio- Jugendlichen Enttäuschung und Frustration. Die ren, Frauen und Jugend: Frau Präsidentin! Meine Folge wird auch das Suchen nach anderen Ventilen Damen und Herren! Jedem in diesem Haus müßte sein, die der Gewalt nahezu Vorschub leisten. klar sein, daß es bei einem Haushaltsentwurf nicht Die gleichen Gedanken könnte man zu dem Be- darum gehen kann, alle Wünsche zu erfüllen, son- reich des Investitionsbedarfs in den neuen Bundes- dern darum, unter den gegebenen finanziellen Rah- ländern äußern, der der Erhaltung der Funktionsfä- menbedingungen Notwendiges zu beschließen. Na- higkeit der Jugendbildungseinrichtungen und Ju- türlich ist es Aufgabe der Opposition, die Arbeit der gendherbergen dient. Die im Planentwurf ausgewie- Regierung kritisch zu begleiten. Einmal davon abge- senen Mittel können den Bedarf in keiner Weise ab- sehen, daß wir Ihnen die Aufgabe auf Grund unserer decken. Die Beibehaltung des Niveaus seit 1992 al- guten Arbeit wahrlich nicht leichtmachen, lein widerspricht eklatant den erwarteten Erforder- (Lachen bei Abgeordneten der SPD) nissen. reicht es eben doch nicht, nur verbale Kritik zu üben. Es gibt gravierende soziale Probleme bei Frauen Ich hätte schon erwartet, daß Sie Vorschläge bringen, und Mädchen, besonders in den neuen Bundeslän- die Ihre Kritik rechtfertigen würden. dern. Erschreckend und beispiellos ist die indivi- duelle Reaktion von Frauen auf die Kinder- und (Beifall bei der CDU/CSU - Christel Hane Frauenfeindlichkeit in diesem Land, die sich nicht winckel [SPD]: Die haben wir doch ge zuletzt in den Geburtenraten äußert. Die Probleme bracht! - Weiterer Zuruf von der SPD: Was Alleinerziehender potenzieren sich permanent. soll denn das?)

Wer denkt, mit dem Haushalt würden günstigere Ihre Anträge, meine Damen und Herren von der gesellschaftliche Voraussetzungen und Bedingungen SPD, zeigen, daß Sie der Struktur des Haushalts zur Verwirklichung des Gleichstellungsanspruchs grundsätzlich zustimmen; denn von großen Neuerun- geschaffen, sieht sich stark enttäuscht. Nein, der gen ist in Ihren Vorschlägen nichts zu sehen. Planansatz ist ein anderer. Modellprojekte und For- schungsvorhaben im Bereich der Familienpolitik - Der zu verabschiedende Haushalt kann sich sehen Was hält die Ehe zusammen?, ein Väterprojekt usw. lassen. Ich möchte mich bei allen Beteiligten für ihre usf. - in Höhe von nunmehr 12 Millionen DM sind Bereitschaft bedanken, auch in Zeiten des Spar- - wohl mehr dazu ausgelegt, regierungsamtliche und zwangs den Belangen, die mein Haus vertritt, einen koalitionseigene ideologische Wertvorstellungen zu solchen Stellenwert einzuräumen. Mein besonderer vermitteln und zu sichern, als dazu, tatsächlich kin- Dank gilt den Berichterstattern der Fraktionen im der- und familienfreundliche Gleichberechtigungs- Haushaltsausschuß für die konstruktive Beratung politik zu gestalten. und für die gute Zusammenarbeit.

Vielleicht führt wenigstens die notwendige Erhö- Bewährte Instrumente unserer Politik für Familien hung von Pflichtausgaben im Bereich des Zivildien- und Senioren, Frauen und Jugend führen wir fort. stes zum Nachdenken über Quittungen von Jugend- Sowohl im Kinder- und Jugendplan als auch im Bun- lichen für die Militärpolitik. desaltenplan, sowohl in unserer frauenpolitischen als Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995 2225

Bundesministerin Claudia Nolte auch in unserer familienpolitischen Arbeit werden geld auch nach dem sechsten Lebensmonat des Kin- wir Kontinuität wahren und neue Ansätze verwirkli- des erhält. Auf dieser Grundlage ist es 1986 einge- chen können. Das ist Ihnen, liebe Frau Klemmer, an- führt worden, und diesen Zustand will ich wieder er- scheinend bedauerlicherweise entgangen. reichen. In diesem Zusammenhang wünsche ich mir, daß dieses familienpolitisch wichtige Instrument (Siegrun Klemmer [SPD]: Ja, das muß mir durch alle Bundesländer flankiert wird. Ich begrüße völlig entgangen sein!) sehr, daß die bayerische Staatsregierung gestern den Der Einzelplan 17 mit seinem Ansatz von fast Beschluß gefaßt hat, das Landeserziehungsgeld von 33 Milliarden DM für das Jahr 1995 ist der erste ge- sechs auf zwölf Monate auszuweiten. Es wäre gut, meinsame für die bis zum letzten Jahr getrennten Mi- wenn andere Länder diesem Beispiel folgten. nisterien Familie und Senioren, Frauen und Jugend. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Der größte Teil dieses Haushalts beruht auf gesetzli- chen Leistungen des Bundes: dem Kindergeld, dem Auch beim Unterhaltsvorschuß will ich, wie wir es Erziehungsgeld, dem Unterhaltsvorschuß und den in der Koalitionsvereinbarung festgelegt haben, Ver- Ausgaben für die Zivildienstleistenden. besserungen erzielen. Gleichfalls müssen wir grö- ßere Anstrengungen unternehmen, damit Familien sind für uns Gerade die Leistungen für Familien ausreichenden und bezahlbaren Wohnraum finden. von besonderer Bedeutung. Alleine diese machen im Natürlich ist mir auch die Ausweitung der Mittel für Bundeshaushalt 1995 rund 30 Milliarden DM aus. die Aufklärung über vorgeburtliches Leben wichtig, Trotz enger Spielräume ist es uns gelungen, in den die ich verfolgen werde. Es freut mich zu hören, daß letzten Jahren diese Maßnahmen zu erweitern, was Sie mich darin unterstützen; das war ja nicht zu allen sich auch in diesem Haushalt widerspiegelt. Herr Ja- Zeiten so. coby hat die Zahlen diesbezüglich genannt. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Die von den Koalitionsfraktionen beschlossenen Eckwerte zum Ausbau des Familienlastenausgleichs Die Notwendigkeit familienpolitischer Maßnah- sind ein guter und wichtiger Schritt zur weiteren, men ist unbestritten, und wir sollten gemeinsam dringend gebotenen Entlastung der Familien, und daran arbeiten, diese umzusetzen. Daneben sollten zwar um zusätzlich 6 Milliarden DM im Jahre 1996. wir alles unterstützen, was dazu beiträgt, daß unser Land familienfreundlicher wird. Die strukturelle Fa- (Christel Hanewinckel [SPD]: Aber die Fa milienfeindlichkeit in unserer Gesellschaft ist oft be- milien werden doch gar nicht entlastet! klagt worden. Wir müssen ihr endlich etwas entge- Können Sie nicht rechnen, Frau Nolte? gensetzen. Dann lassen Sie wenigstens richtig rech nen!) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - Karl Diller [SPD]: Ja, wer regiert denn seit Das ist für mich das wichtigste familienpolitische mehr als zehn Jahren in diesem Lande, sa Vorhaben in dieser Legislaturperiode; es muß in den gen Sie mal!) kommenden Jahren weiterentwickelt werden. Die Bundesländer sind gefordert, sich an der Ausgestal- Wie in der Familie muß unsere Gesellschaft auch tung aktiv zu beteiligen, damit die praktische Umset- insgesamt auf ein partnerschaftliches Miteinander zung des Vorhabens nun auch möglich wird. setzen: auf Partnerschaft zwischen den Geschlech- Ich hoffe, daß wir auf der Basis des Koalitionsbe- tern, auf Partnerschaft zwischen den Generationen. schlusses zum Familienlastenausgleich eine Eini- (Karl Diller [SPD]: Frau Ministerin, wer re gung erzielen. Unser Modell mit der Wahlmöglich- giert dieses Land seit mehr als zehn Jahren? keit zwischen Kinderfreibetrag und Kindergeld ist Lösen Sie sich doch einmal von Ihrem Rede verfassungskonform, text und antworten Sie!) (Christel Hanewinckel [SPD]: Nein, ist es In meinem „Haus der Generationen" gibt ein kein nicht!) Gegeneinanderausspielen der einzelnen Bereiche. denn es berücksichtigt in voller Höhe das Existenz- (Karl Diller [SPD]: Verlassen Sie doch mal minimum von Kindern; und es ist finanzierbar. In die- Ihren Redetext und antworten Sie!) sen beiden Punkten unterscheidet sich unser Kon- zept eben wesentlich von Ihrem Einheitskindergeld. Wir sind für ein Miteinander in unserer Gesellschaft. Die Senioren- und die Jugendpolitik muß die jeweils (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) anderen Generationen mit einbeziehen. Politik muß Es führt zu einer Vereinfachung für Verwaltung und dazu beitragen, das Trennende zu überwinden und - Bürger, und vor allem ist es familienfreundlich. Ge- Verständnis füreinander zu schaffen. meinsam mit dem Jahressteuertarif 1996 bringt es (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) für nahezu alle Familien spürbare Verbesserungen. Daß das jüngste Buch einer Dame, die Herr Schar- Wir müssen aber auch in anderen familienpoliti- ping zur Bundesministerin machen wollte, dazu nicht schen Bereichen Fortschritte erzielen. Besonders beitrug, darüber sind wir uns hoffentlich in diesem wichtig ist die Erhöhung der Einkommensgrenzen Hause einig. beim Erziehungsgeld ab dem siebten Lebensmonat des Kindes. Sie müssen so angehoben werden, daß (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - wieder der größte Teil der Eltern volles Erziehungs- Zurufe von der SPD) 2226 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995

Bundesministerin Claudia Nolte Wir wollen keine Ausgrenzung. Wir brauchen die auch in den Bundesaltenplan. Es ist unser Ziel, das älteren Menschen genauso wie die jüngeren. Modellprojekt „Seniorenbüro" für den Gedanken eines „Treffpunkts der Generationen" zu eröffnen. Die 32 Seniorenbüros des Modellprogrammes haben Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Frau Ministerin, innerhalb eines Jahres 17 000 Senioren erreicht und gestatten Sie eine Zwischenfrage? zusätzlich 1 300 Seniorengruppen unterstützt. Dies beweist die Aktivität älterer Menschen und läßt er- warten, daß auch neue Ansätze gut aufgenommen Claudia Nolte, Bundesministerin für Familie, Senio- werden. Liebe Frau Klemmer, es finden bereits Über- ren, Frauen und Jugend: Ja, bitte, gern. nahmegespräche mit den Ländern statt, die zum Teil auch schon sehr erfolgreich waren. (SPD): Frau Ministerin, Sie Christel Hanewinckel Wir alle wissen, daß das Lebensgefühl von uns haben sich offensichtlich sehr intensiv mit diesem Menschen auch in großem Maße davon bestimmt Buch befaßt. Haben Sie denn genauso intensiv die wird, wie unsere Wohnbedingungen sind. Durch Gutachten bzw. die bei mir zumindest inzwischen eine entsprechende Organisation des Wohnens kann schon so hoch aufgelaufenen Postberge, die die Fa- die Selbständigkeit im Alter länger erhalten werden. milienverbände, der Katholische Familienverband, Wir brauchen daher neue zukunftsweisende Kon- die EAF, Einzelpersonen zepte für das Wohnen im Alter und werden dafür ein (Zuruf von der CDU/CSU: Soll Frau Nolte bundesweites Modellprogramm „Wohnkonzepte für etwa Ihre Post beantworten?) die Zukunft - Für ein selbstbestimmtes Leben im Al- ter" entwickeln und durchführen. Dies ist ein Beitrag - lassen Sie mich doch in Ruhe zu Ende fragen - uns für eine menschliche, altersgerechte und kostengün- und sicherlich auch Ihnen zu Ihrem „verfassungs- stige Wohnversorgung. Ich begrüße auch ausdrück- konformen" Familienlastenausgleich geschrieben lich den Vorschlag des Bundestagsausschusses für haben, gelesen, und wenn Sie sie gelesen haben, ha- Familie, Frauen, Senioren und Jugend, das Thema ben Sie verstanden, wovon die Familienverbände re- „Wohnen im Alter" für den in dieser Legislaturperi- den? Sie schreiben nämlich, daß es einfach nicht ode von der Bundesregierung vorzulegenden Alten- stimmt, daß Ihr Modell verfassungskonform sei. bericht vorzusehen.

(Widerspruch bei der CDU/CSU) Neue Wege ermöglicht der vorliegende Haushalts- plan auch auf dem Gebiet der Kinder- und Jugend- politik. Mit seinem Mittelansatz von 207 Millionen Claudia Nolte, Bundesministerin für Familie, Senio- DM ist gewährleistet, daß bewährte Programme im ren, Frauen und Jugend: Ich bin mir schon darüber Kinder- und Jugendplan weitergeführt werden kön- im klaren, daß das Existenzminimum bei allen Ein- nen. Hier möchte ich doch anmerken, daß das Aus- kommensgrößen freigestellt werden muß, was die laufen von Programmen nicht mit Kürzungen zu ver- Unterhaltsleistungen anbelangt, die Eltern für ihre wechseln ist. Zugleich werden neue Akzente gesetzt, Kinder aufbringen. Das Existenzminimum für 1996 so z. B. bei der Förderung der freiwilligen Dienste ist mit 6 288 DM festgesetzt. Insofern ist das Existenz- durch das freiwillige soziale und ökologische Jahr, minimum in unserem Vorschlag gesichert. Wenn Sie der Integration von jungen Ausländerinnen und Aus- die 250 DM umrechnen, die Sie vorschlagen, dann ländern sowie bei Hilfen für nichtseßhafte Jugend- haben Sie in der Tat eine entsprechende Lücke. Des- liche. Gerade auch das Problem der zunehmenden halb habe ich auch gesagt, daß Ihr Entwurf nicht ver- Zahl von sogenannten Straßenkindern verdient un- fassungskonform ist. sere Aufmerksamkeit und vermehrte Anstrengun- gen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - Christel Hanewinckel [SPD]: Weder gelesen (Karl Diller [SPD]: Machen Sie einmal et- noch verstanden! - Andrea Fischer [Berlin] was! - Siegrun Klemmer [SPD]: Wo kom- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist men die denn her? Die dürfte es doch bei grober Unfug!) Ihnen gar nicht geben!) Das hat etwas mit Mathematik zu tun. - Ich habe gerade gesagt, daß wir dafür Mittel bereit- Ich wiederhole: Wir wollen keine Ausgrenzung. stellen. Wir brauchen die älteren Menschen genauso wie die jungen. In allen Feldern der Gesellschaftspolitik geht es heute darum, daß wir die Chancengerechtigkeit für Wir haben vor wenigen Tagen unter dem Titel die Menschen verbessern. Das gilt für die Familien „Dialog der Generationen" eine Sammlung von und Senioren genauso wie für die jungen Menschen 150 Initiativen veröffentlicht. Aus ihr geht hervor, und für die Frauen. Die Aufgabe, die gleichberech- daß es in unserem Land ein großes Repertoire an In- tigte Teilhabe an den Ressourcen zu ermöglichen, ist itiativen, Projekten und Ideen gibt, vor allem aber an um so wichtiger, wenn diese knapp sind. Eine her- jungen und alten Menschen, die diesen Dialog wol- ausragende Aufgabe ist daher unverändert die len. Deshalb auch die Einbeziehung generations- Schaffung neuer Arbeitsplätze. Mich bedrückt, daß übergreifender Projekte in den Kinder- und Jugend- mit 21,5 % die Arbeitslosenquote der Frauen in den plan - schon innovativ, liebe Frau Klemmer - wie neuen Bundesländern fast doppelt so hoch ist wie die Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995 2227

Bundesministerin Claudia Nolte der Männer. Frauen sind im Durchschnitt erheblich Augenmerk müssen wir aber auch auf die legen, länger arbeitslos als Männer. Sie stellen 77 % der die auf dem Ausbildungsmarkt weniger Chancen Langzeitarbeitslosen im Osten. Frauen dürfen nicht haben. Das Modellprogramm „Arbeitsweltbezogene Manövriermasse des Arbeitsmarktes sein. Jugendsozialarbeit" hat zum Ziel, die berufliche und soziale Integration sozial benachteiligter junger (Karl Diller [SPD]: Kein Beifall der Union! - Menschen im Sinne einer ganzheitlichen sozialpäd- Dr. Uwe Küster [SPD]: Traurig, traurig!) agogischen Förderung mit Schwerpunktlegung auf Niemand sollte damit rechnen, daß sich die Erwerbs- die Arbeitswelt zu unterstützen. neigung der Frauen im Osten den heutigen Zahlen Auch dieses Beispiel zeigt, daß wir mit dem vorlie- im Westen annähert. genden Haushalt und der darin beschriebenen Poli- (Dr. Uwe Küster [SPD]: Nicht soviel reden! tik auf einem guten Weg sind. Er eröffnet weitrei- Handeln Sie doch endlich!) chende Möglichkeiten für eine zukunftsorientierte Politik zugunsten von Familien, Senioren, Frauen Wir haben mit der Änderung des § 2 Nr. 5 des Ar- und jungen Menschen. beitsförderungsgesetzes und durch den gezielten Einsatz der Instrumente der Arbeitsmarktpolitik Danke schön. viele Dinge erreichen können. Bei den Arbeitsbe- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- schaffungsmaßnahmen haben Frauen im Februar ordneten der F.D.P.) 1995 einen Anteil von 64,7 %, während er 1991 noch bei 35 % lag. Primäres Ziel muß aber bleiben, die Chance für Frauen auf dem ersten Arbeitsmarkt zu Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat erhöhen. jetzt die Abgeordnete Ma ria Eichhorn. (Karl Diller [SPD]: Schon wieder kein Beifall bei der Union!) Maria Eichhorn (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In der letz- Die Strategien für eine stärkere Vermittlung von ten Sitzungswoche war die kasachische Jugendmini- Frauen in den ersten Arbeitsmarkt müssen verbes- sterin zu Gast. Bei ihrer Abschlußansprache sagte sert und weiterentwickelt werden. sie, daß sie besonders beeindruckt war, als Frau Mi- (Karl Diller [SPD]: Ihr müßt einmal klat nisterin Nolte von ihrem Ministerium als vom Haus schen! Das ist eure Ministerin! - Dr. Uwe der Generationen gesprochen hatte. Küster [SPD]: Sehr traurig, was sie sagt!) Ich meine auch, daß es ein schöner Begriff ist, die- Um dies zu erreichen, werde ich in den neuen Bun- ses zusammengeführte Ministerium als Haus der Ge- desländern Gespräche mit den Tarifpartnern, den nerationen zu bezeichnen. Landeswirtschaftsministern, Vertretern der Wirt- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- schaftsförderung und der Landesarbeitsämter füh- ordneten der F.D.P.) ren. Es war richtig, Familie und Senioren und Frauen und Allein durch die flexible Umgestaltung der vorhan- Jugend zusammenzuführen. Diese Zusammenfüh- denen Arbeitsplätze könnten in Deutschland viele rung ist gut gelungen. Die Zusammenarbeit funktio- neue Arbeitsplätze geschaffen werden. niert. Dafür danke ich der Ministerin und ihrem Haus (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - sehr herzlich. Zuruf von der SPD: Na also! - Dr. Uwe (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU Küster [SPD]: Nach mehrmaliger Aufforde und der F.D.P.) rung Beifall bei der CDU/CSU!) Die Familienpolitik gehört in dieser Legislaturperi- Noch viel zu selten werden Teilzeitmodelle für ode zur besonderen Priorität dieser Koalition. Zwei Frauen und Männer erprobt und genutzt. Das darf so Punkte stehen dabei für mich im Vordergrund: er- nicht bleiben. Deshalb starten wir in diesen Tagen stens die Verbesserung des Familienleistungsaus- ein Modellprojekt, in dem Unternehmen Arbeitszeit- gleichs und zweitens die Schaffung von preiswertem beratung auch für qualifizierte Fach- und Führungs- Wohnraum für Familien. aufgaben für Frauen und Männer abrufen können. Wir haben ein Modell zum Familienleistungsaus- Berufliche Perspektiven sind gerade auch für gleich vorgelegt, das Familien ab 1996 mit 6 Milliar- - junge Menschen besonders wichtig. Die Bereitstel- den DM mehr ausstattet. Das ist immerhin eine Stei- lung einer ausreichenden Zahl von Ausbildungsplät- gerung von 36,5 auf 42,5 Milliarden DM. Ich meine, zen in den alten und den neuen Bundesländern angesichts der Haushaltssituation ist das eine be- bleibt eine der herausfordernden Aufgaben für alle achtliche Steigerung von mehr als 16 %. Beteiligten. Die Zusage der Vertreter der Wirtschafts- verbände, einen Zuwachs an Lehrstellen von ca. 10 % (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) in diesem Jahr zu realisieren, ist daher zu begrüßen und muß in jedem Fall umgesetzt werden. Meine Damen und Herren, für Familien mit mehre- ren Kindern und für Alleinerziehende ist es schwer, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU eine entsprechende Wohnung zu bekommen. Des- und der F.D.P.) wegen ist für mich der zweite Schwerpunkt, nämlich 2228 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995

Maria Eichhorn Schaffung von preiswertem Wohnraum, ganz beson- Meine Damen und Herren, in diesem Jahr sind es ders wichtig. Zur Bereitstellung bezahlbaren Wohn- 50 Jahre, daß der Krieg zu Ende ist. Es wird viel von raums ist die Wohneigentumsförderung von großer Versöhnung und Frieden gesprochen. Der beste Bedeutung. Weg, den Frieden auf Dauer zu sichern, ist eine inter- nationale jugendpolitische Zusammenarbeit. Zum Diese zur Zeit geltenden steuerlichen Regelungen letzten diesbezüglichen Zusammenschluß ist es vor zur Wohnbauförderung sind schwer durchschaubar kurzem zwischen Deutschland und Kasachstan ge- und für Normalbürger kaum verständlich. Deswegen kommen. Eine ganz besondere Bedeutung hat die In- muß die Neuregelung gerecht, familienfreundlich tensivierung des deutsch-polnischen Jugendaustau- und steuervereinfachend sein und vor allen Dingen sches. Familien mit mehreren Kindern zugute kommen. Meine Damen und Herren, unsere Gesellschaft ist (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) auf das Miteinander von Jung und Alt, von Männern Das heißt, die Kinderkomponente ist bei der Förde- und Frauen angewiesen. Unsere Aufgabe ist es, die- rung wichtig; denn Eltern wollen zu Recht Eigentum, ses Miteinander durch unsere Arbeit zu fördern und solange die Kinder klein sind. Aber nicht nur für zu unterstützen. Das ist eine schöne Aufgabe, der wir junge Familien, sondern auch für die Senioren ist die uns gerne stellen. Ich lade Sie alle dazu ein. Wohnfrage eine ganz besonders wichtige Frage. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - Ältere Menschen sind heute aktiv. Sie wollen das Karl Diller [SPD]: Diese Rede hat nieman- Leben selbstverantwortlich gestalten. Deswegen ha- den vom Hocker gerissen!) ben wir dem bei verschiedenen Modellprojekten auch Rechnung getragen. Wir wollen Selbständig- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Ich schließe die keit und Engagement der älteren Menschen fördern. Aussprache. Die SPD-Schattengesundheitsministerin dagegen Wir kommen zur Abstimmung über den Einzel- will den alten Menschen das Wahlrecht verwehren. plan 17 - Bundesministerium für Familie, Senioren, Das ist eine schallende Ohrfeige für ältere Menschen. Frauen und Jugend. Dazu liegt auf Drucksache 13/ (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU 955 ein Änderungsantrag der PDS vor, über den wir und der F.D.P.) zuerst abstimmen. Gott sei Dank ist uns diese Ministerin erspart geblie- Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Ent- ben. haltungen? - Gegen die Stimmen der PDS und bei etlichen Gegenstimmen von BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. NEN ist dieser Änderungsantrag mit der Mehrheit Carl-Ludwig Thiele [F.D.P.] - Dr. Edith Nie der anderen Fraktionen abgelehnt. huis [SPD]: Die SPD will das nicht!) Wer stimmt für Einzelplan 17 in der Ausschußfas- Aus der Frauenpolitik möchte ich zwei Punkte be- sung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Einzel- sonders herausgreifen. Zum einen sollen durch ein plan 17 ist mit den Stimmen von CDU/CSU und besonderes Modellprojekt Frauen in den neuen Bun- F.D.P. gegen die Stimmen von SPD, BÜNDNIS 90/ desländern auf Führungsaufgaben durch bestimmte DIE GRÜNEN und PDS angenommen. Qualifikationsmaßnahmen vorbereitet werden, was gerade in den neuen Bundesländern sehr wichtig ist. Ich rufe auf: Ein anderes Modellprojekt hat zum Ziel, daß Arbeit- geber von kleinen und mittleren Betrieben mehr Einzelplan 15 Frauen als bisher einstellen. Das sind zwei Beispiele Bundesministerium für Gesundheit gezielter Frauenförderung, um Benachteiligungen abzubauen. - Drucksachen 13/515, 13/527 - Kinder- und Jugendpolitik ist Politik für die Zu- Berichterstattung: Berufsausbildung hat hier eine ganz be- kunft. Die Abgeordnete Kristin Heyne sondere Bedeutung. Deswegen begrüße ich die Zu- Roland Sauer (Stuttgart) sage der Wirtschaft, in den neuen Bundesländern zu- Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) sätzlich 10 % Ausbildungsplätze für junge Menschen Gerhard Rübenkönig zur Verfügung zu stellen. Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Ein wichtiges Anliegen bleibt nach wie vor die Be- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vor. Deswegen wollen wir kämpfung jeglicher Gewalt. - die Programme gegen Aggression und Gewalt fort- Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die setzen und neue Wege der Gewaltprävention unter- Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich sehe kei- stützen. Wenn hier der Kinder- und Jugendplan nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. mehrmals angesprochen worden ist, so ist dazu zu sa- gen, daß der Ansatz hierfür zwar unter dem Vorjah- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Ab- resansatz liegt; aber Sie müssen wissen, daß dies dar- geordnete Gerhard Rübenkönig. auf zurückzuführen ist, daß wir auf Grund des Eini- gungsvertrages Aufgaben der Länder übernommen Gerhard Rübenkönig (SPD): Frau Präsidentin! haben, z. B. daß AFT-Programm, das eigentlich gar Meine Damen und Herren! Seit der vermeidbaren nicht Aufgabe des Bundes ist. Blut-Aids-Katastrophe ist das Thema Gesundheit Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995 2229

Gerhard Rübenkönig noch sensibler geworden. Wie war es überhaupt der Ansatz für eine moderne Gesundheitspolitik in möglich, daß ein Interessentrio aus Herstellern, Ärz- Deutschland unmöglich gemacht und so die Revision ten und Behörden diesen Skandal in der deutschen des Gesundheitsstrukturgesetzes von 1993 mit einge- Medizin jahrelang verbergen konnte? leitet wird.

(Zuruf von der SPD: Gute Frage!) Dies zeigen drastische Kürzungen auf dem Gebiet der Psychiatrie, auf dem Gebiet der Krebsbekämp- Heute reden wir über die Gesundheitspolitik der fung, auf dem Gebiet der Verbesserung der Versor- Bundesrepublik Deutschland, über Ihren Haushalt, gung chronisch Kranker, auf dem Gebiet des Dro- Herr Minister Seehofer, und damit auch über Ihre gen- und Suchtmittelmißbrauchs. Lediglich bei den Verantwortung in dieser Sache. Ihr Gesundheits- Ausgaben für die Aids-Bekämpfung konnten wir in haushalt ruft nicht nur die SPD-Opposition auf den der Haushaltsberatung die geplante Kürzung von Plan, sondern entmutigt geradezu die Patienten und 7 Millionen DM um 2 Millionen DM, nämlich auf Versicherten in unserem Lande. jetzt 5 Millionen DM, herabmildern.

Herr Seehofer, Sie haben mit Blick auf die Conter- (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: gan-Tragödie, bei der Parlamentsdebatte Anfang des Das waren wir!) Jahres zu HIV-Infektionen durch Blut und Blutpro- dukte versprochen, eine weitere Katastrophe in der Einen Erfolg, Herr Minister, konnte die SPD-Oppo- modernen Medizin zu verhindern. Aber schon heute sition in diesen Tagen verbuchen. Auf die wieder- morgen mußten Sie der Öffentlichkeit mitteilen, daß holte Forderung meiner Fraktion nämlich, die huma- der Entschädigungsfonds nicht zustande gekommen nitäre Soforthilfe für die PPSB-Opfer zu öffnen, ha- ist. ben Sie endlich reagiert und gehandelt. (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Was lesen Sie für Zeitungen?) (Lachen des Bundesministers Horst Seeho fer und des Abg. Wolfgang Zöller [CDU/ Die SPD-Fraktion wird sich an der Vereinbarung, wie CSU]) sie zustande gekommen ist, nämlich an dieser Billig- lösung, nicht beteiligen. Ich muß aber als Haushälter dennoch feststellen: Die Bundesregierung kürzt seit Jahren zunehmend (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne die Mittel in den Bereichen Aufklärung und Präven- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) tion. Angesichts der unverminderten HIV-/Aids-Pro- blematik ist dies nicht zu verantworten. Sie haben mit der Pharmaindustrie schlecht verhan- delt. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne ten der PDS) (Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/ CSU) Jedes Jahr wird eine große Zahl von Menschen neu mit HIV infiziert. Andere erkranken; viele sterben an Wir haben in dieser Sache die parlamentarische dieser noch immer unbesiegbaren Krankheit. Herr Pflicht, mehr zu tun. Herr Seehofer, wo bleibt die Minister, der von der Bundesregierung durch Sie vom Parlament versprochene Genugtuung für HIV- ausgesprochenen Bitte um Verzeihung muß die aus- infizierte Bluter? Dieses Verhandlungsergebnis ist reichende finanzielle Perspektive für die Betroffenen auch ein Beweis für die unglaubwürdige Gesund- folgen. heitspolitik der Bundesregierung. Unglaubwürdig, Herr Minister Seehofer, wirkten Sie ebenfalls in der (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne Debatte am 9. März, als Sie gleich zu Anfang wört- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN lich verkündeten: und der PDS)

Das deutsche Gesundheitswesen gehört nach Der Entschließungsantrag der SPD-Opposition wie vor zu den leistungsfähigsten auf der Welt. zum Schlußbericht des 3. Untersuchungsausschusses Ich behaupte sogar, es ist das leistungsfähigste war das Signal für weitere notwendige Schritte nach auf dieser Erde. den Ergebnissen der gemeinsamen Arbeit. So wurde auf Initiative der SPD im Bundeshaushalt 1995 ein (Editha Limbach [CDU/CSU]: Recht hat der parteiübergreifender Konsens in der Frage der Ent- Minister!) schädigung von HIV-Opfern erreicht. - Ich glaube das nicht und meine, daß Ihnen das kei- ner abnimmt. Die Schaffung des neuen Haushaltstitels „Beteili- gung des Bundes an einer Regelung für angemes- (Beifall bei Abgeordneten der SPD - Wolf sene Leistungen an HIV-Opfer von Blut und Blutpro- gang Zöller [CDU/CSU]: Nennen Sie ein dukten" konnte von allen Parteien als ein erster besseres!) Schritt zur umfassenden Entschädigung der Betroffe- nen mitgetragen werden. Weiter gefordert hatten wir Ich meine, Herr Minister, dieser Haushalt wird Sie aber vom Bund, meine Damen und Herren, einen fe- auf den bitteren Boden der Realität zurückholen. Der sten Betrag, der sich an den Empfehlungen des Gesundheitshaushalt 1995, der gegenüber 1994 um 3. Untersuchuñgsausschusses orientierte. Das jetzt 6,5 % heruntergefahren wurde, zeigt deutlich, daß je erzielte Verhandlungsergebnis, Herr Minister See- 2230 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995

Gerhard Rübenkönig hofer, lediglich 250 Millionen DM für die Opfer der Mein Appell an Sie, Herr Minister, und an die Ver- größten deutschen Arzneimittelkatastrophe, ist na- treter der Pharmaindustrie und Versicherungswirt- türlich völlig unzureichend. schaft: Verhandeln Sie in dieser Sache nach! Wir brauchen dringend vertrauensbildende Maßnahmen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD - Editha Wir müssen den Opfern sofort helfen, und wir dürfen Limbach [CDU/CSU]: Selbst daran beteili mit unserer Hilfe nicht zu spät kommen. gen sich die Länder nicht mit 50%!) (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Eine solche Billiglösung ist für die Opfer und auch GRÜNEN und der PDS) für die SPD völlig unakzeptabel. Ich meine, wir müssen jetzt die Initiative ergreifen: (Beifall bei der SPD) Der Staat tritt sofort mit den Beiträgen von Bund und Ländern in Vorleistung, Die Opfer haben keine Zeit zu verlieren. Deshalb ist der Vorschlag einer Stiftung der falsche Weg. (Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Das wollen die Länder doch gar nicht!) Statt einer Kapitalentschädigung - der Untersu- chungsausschuß hat 350 000 DM als unteren Rah- läßt sich von den Betroffenen deren Haftungsansprü- men für angemessen erachtet - soll jetzt aus dem zu che abtreten und macht sie, z. B. in Musterprozessen, geringen Stiftungsvermögen lediglich eine monatli- gegen die Pharmaindustrie geltend. Die SPD wird che Rente gezahlt werden. zur dritten Lesung hierzu einen Initiativantrag stel- len. (Zuruf von der CDU/CSU: 3 000 DM!) (Kristin Heyne [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Was bei Contergan richtig war, hilft den Menschen NEN]: Liegt doch vor!) auf Grund ihrer geringen Lebenserwartung in die- Deshalb müssen wir den Antrag vom BÜNDNIS 90/ sem Falle nicht. DIE GRÜNEN, Frau Heyne, den Sie hier gestellt ha- ben, ablehnen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Kristin Heyne [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Das kann ich gar nicht verstehen! - Viele Menschen starben bereits an den Folgen ihrer Lachen des Bundesministers Horst Seeho- Infektion, und, meine Damen und Herren, Woche für fer) Woche werden es mehr. Herr Minister Seehofer, neben der ungelösten HIV- Kolleginnen und Kollegen, nach der Contergan- Problematik existiert natürlich noch der Aufgabenka- Katastrophe sollte mit der Schaffung eines sogenann- talog des Gesundheitsstrukturgesetzes, der noch ten Pharmapools verhindert werden, daß sich die nicht abgearbeitet ist. Reden Sie jetzt nicht schon rechtliche Situation und die nachteilige Behandlung von der dritten Stufe der Gesundheitsreform, son- von Opfern wiederholen. Deswegen wurde für die dem kehren Sie zum Lahnsteiner Kompromiß zu- Abdeckung von Großrisiken der Pool gebildet. Aber rück und lassen Sie uns zum Wohle der Patienten es rührt sich nichts. Die Gesamtprämieneinnahmen und Versicherten diese tiefgreifende Strukturreform machen heute über 600 Millionen DM aus. Gezahlt endlich umsetzen! hat die Versicherungswirtschaft aber bis heute nichts. Schon in der Koalitionsvereinbarung zur Weiter- entwicklung des Gesundheitswesens fehlte nach (Uta Titze-Stecher [SPD]: Haben Sie etwas meiner Auffassung ein eindeutiges Bekenntnis zur anderes erwartet?) Umsetzung des Gesundheitsstrukturgesetzes, mit dem im Jahr 1993 eine Reform im Gesundheitswesen - Nein, natürlich nicht. unter der Zielsetzung „Modernisierung des Gesund- heitswesens statt Rationierung medizinischer Lei- Ja, die Versicherer konnten sogar das Mißbrauchs- stungen" begonnen wurde. verfahren gegen das Kartellamt mit der Begründung anhalten, dieses Geld werde für die Entschädigung Bedenklich stimmt mich die Ankündigung, eine für HIV-Infizierte gebraucht. Aus diesem Grund hät- dritte Reformstufe des Gesundheitswesens vorzube- ten Sie anders auftreten und anders verhandeln müs- reiten, vor allem deshalb, liebe Kolleginnen und Kol- sen, Herr Minister. legen, weil die Fragestellungen des Gesundheitsmi- - nisters an die Gutachter zur gesetzlichen Kranken- (Beifall bei der SPD) versicherung insbesondere auf eine Rationierung und Privatisierung von Leistungen abzielen. Meine Aufforderung an die Vertreter der Versiche- rungswirtschaft: Kommen Sie doch endlich Ihren (Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ Verpflichtungen nach! Stellen Sie dem Entschädi- CSU]: Dummes Zeug!) gungsfonds die Hunderte von Millionen DM zur Ver- fügung, die Sie für eine solche Katastrophe zurück- Prompt will der Sachverständigenrat dann auch das gelegt haben! Zeigen Sie, daß Sie die Steuervorteile vorhandene Problem der Knappheit der Mittel vor- nicht zu Unrecht erhalten haben! wiegend in der Sphäre der Versicherten lösen. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995 2231

Gerhard Rübenkönig Wie ich den bereits in einem Zwischenbericht dar- wirkungen. Der deutsche Arzneimittelmarkt, meine gelegten Diskussionsvorschlägen entnehme, geraten Damen und Herren, zeichnet sich durch eine erheb- die Grundprinzipien der gesetzlichen Krankenversi- liche Intransparenz aus, die ihrerseits deutliche Qua- cherung unter Druck. Danach stehen der bisherige litätsmängel zur Folge hat. Arbeitgeberanteil, das Solidarprinzip, das Sachlei- stungsprinzip, das Finalprinzip - d. h. Leistungen (Beifall bei der SPD) werden unabhängig von der Verursachung der Er- Die Positivliste als Orientierung im Arzneimittelbe- krankung erbracht - und die medizinisch vollwertige reich ist daher ein Instrument zur dringend notwen- Versorgung zur Disposition. digen Qualitätsverbesserung und für den Arzt die Einer Gesundheitspolitik, die den solidarischen Grundlage einer rationalen Therapie. Charakter der gesetzlichen Krankenversicherung Wir sind der Auffassung, daß durch die AMG-No- und die Bedarfsgerechtigkeit mit dem Schlagwort ei- velle die Positivliste nicht überflüssig geworden ist. ner verstärkten Eigenverantwortlichkeit zu einem Der Ausschlußtatbestand nach § 92a Abs. 5 Satz 3 wesentlichen Teil außer Kraft setzt, erteilen wir So- Nr. 1 ist neu und geht ganz bewußt über die Kriterien zialdemokraten eine klare Absage. für die Zulassung eines Arzneimittels hinaus, indem (Beifall bei der SPD - Dr. Wolfgang Weng er auf das Ausmaß des zu erzielenden Effektes ab- [Gerlingen] [F.D.P.]: Jetzt gehen Sie zu weit! hebt. - Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Fragen Sie ein Demgegenüber kann einem Medikament die Zu- mal Herrn Müntefering! Denken Sie einmal lassung nur dann versagt werden, wenn sich mit ihm nach!) keine Wirkung erzielen läßt. Angesichts begrenzter finanzieller Ressourcen stellt sich die Frage, ob Edel- Die Petersberg - Gespräche mit den Verbänden des Gesundheitswesens waren ein weiterer Anlaß für Placebos wirklich von der Solidargemeinschaft be- Sie, Herr Minister sich vom Gesundheitsstrukturge- zahlt werden sollten. setz zu verabschieden. Denn wer will sich nach der (Zurufe von der F.D.P.: Was ist das? - Reden Ankündigung einer weiteren Reform noch freiwillig Sie mal mit den Kranken!) einem Rationalisierungsdruck für seinen Bereich aus- setzen? Die Positivliste, Herr Minister, die Sie bis zum 31. Dezember 1995 zu erlassen haben, ist ein Quali- Fazit für mich ist: Während vor allem die Patienten täts- und Transparenzinstrument und keine Maß- und allen voran chronisch Kranke durch Arzneimit- nahme zur Kostendämpfung im Arzneimittelbereich. telzuzahlungen bereits unverhältnismäßig hoch bela- stet werden, werden in anderen Bereichen die struk- (Beifall bei der SPD) turellen Maßnahmen, die ja die Wirtschaftlichkeitsre- serven mobilisieren sollen, leichtfertig aufs Spiel ge- Die Tatsache, daß die Frage der Verordnungsfähig- setzt. keit mehr als bisher an qualitative Gesichtspunkte geknüpft ist, können wir im Blick auf das Wohl der Ein deutliches Beispiel, Herr Minister Seehofer, Patienten und einer hochwertigen Versorgung unse- Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Her- rer Versicherten nur begrüßen. ren, ist der geplante Verzicht auf die Einführung der Positivliste für Arzneimittel. Bevor ich zum Schluß komme, Herr Minister, möchte ich aus aktuellen Gründen auf den unerhör- (Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ ten Entwurf des Ausländerleistungsgesetzes aus Ih- CSU]: Ein besonders gutes Beispiel!) rem Hause eingehen. Was Herr Lohmann von der CDU schon eine Horror- (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Wo gibt es ei- liste nannte, ist tatsächlich ein wesentlicher Bestand- nen Entwurf!) teil des Gesundheitsstrukturgesetzes. Sie wollen den Anspruch von Bürgerkriegsflüchtlin- (Beifall bei der SPD - Dr. Dieter Thomae gen in der Bundesrepublik sowie geduldeten Auslän- [F.D.P.]: Das war ein Fehler!) dern und Asylbewerbern, die über ein Jahr in Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wissen doch Deutschland leben, um ein Viertel unter das Sozial- alle, daß der Arzneiverordnungsreport von Jahr zu hilfeniveau drücken. Wenn das der Auftakt für die Jahr neu beweist, wie unübersichtlich und unver- Neuregelung der Sozialhilfe sein soll, läßt diese wür- ständlich der Arzneimittelmarkt aussieht. Die Mittel delose Kalkuliererei Schlimmeres vermuten. der Solidargemeinschaft werden weder unter quali- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE - tativen noch unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten GRÜNEN und der PDS) optimal eingesetzt. Der von Ihnen erwogene Abstand zwischen Sozial- (Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ hilfe und Einkommen in den unteren Lohngruppen CSU]: Nennen Sie doch eines, das heraus kann dazu führen, daß mancher Haushalt in die to- soll!) tale Armut abrutscht. Dies ist ein Angriff auf die Arzneien mit einem marginalen therapeutischen Würde des Menschen in unserem Lande und ist ein Nutzen können gleichzeitig mit Risiken behaftet Vorschlag, der mit Sozialdemokraten nicht zu ma- sein. Der Verzicht auf ein Medikament bedeutet in chen ist. solchen Fällen daher auch einen Verzicht auf Neben- (Beifall bei der SPD) 2232 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995

Gerhard Rübenkönig Für ein solches Gesetz, Herr Seehofer, wird es keine Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Gestatten Sie Mehrheit im ganzen Deutschen Bundestag geben. eine Zwischenfrage der Abgeordneten Titze-Ste- Die SPD-Fraktion lehnt diesen menschenunwürdi- cher? gen Gesetzentwurf zutiefst ab. (Beifall bei der SPD) Roland Sauer (Stuttgart) (CDU/CSU): Ich möchte gerne zusammenhängend ausführen. Zum Schluß stelle ich zusammenfassend nochmals die zentralen Aufgaben in der Gesundheitspolitik (Uta Titze-Stecher [SPD]: Sie wissen genau, heraus: erstens die Abschaffung des Selbstkosten- was kommt!) deckungsprinzips durch die inhaltliche Forcierung - Frau Kollegin Titze-Stecher, Sie machen ja so schön der Einführung von Fallpauschalen und Sonderent- beim Nichtraucherschutz mit. Deswegen dürfen Sie gelten im Krankenhaus, zweitens die Förderung der die Frage stellen. Bitte schön. wirtschaftlichen Verordnungsweise durch Einfüh- rung von Richtgrößen für Arznei-, Heil- und Hilfsmit- (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: tel in der ambulanten Praxis, drittens die qualitative Aber heute morgen hat sie eine ganz fiese Absicherung der Wirtschaftlichkeit durch Einfüh- Rede gehalten!) rung von Qualitätsmaßstäben im Leistungsgesche- - Da sind wir uns einig. hen des Gesundheitswesens und viertens die Sicher- stellung der Arzneimitteltherapie auf einem höheren Qualitätsniveau durch die Einführung der von mir Uta Titze - Stecher (SPD): Kollege Sauer, es geht bereits erwähnten Positivliste im Arzneimittelmarkt. nicht um das Nichtraucherschutzgesetz. Sie erinnern sich sicher, daß ich vor zwei Jahren im Rahmen mei- (Dr. Uwe Küster [SPD]: Sehr richtig!) ner Haushaltsrede zum Einzelplan 15, dem Einzel- plan des Gesundheitsministers - der Gesundheitsmi- Herr Minister Seehofer, meine Damen und Herren, nister hieß schon damals Seehofer -, von einer Studie die Fülle der Versäumnisse zeigt, daß die Gesund- in Amerika berichtet habe, in der an Hand von ver- heitspolitik der Bundesregierung unglaubwürdig ist. schiedenen Kriterien zehn Industrieländer daraufhin Aus diesem Grunde lehnen wir Ihren Haushalt ab. untersucht wurden, welches Industrieland das beste Aber im Interesse der Patienten und Versicherten, Gesundheitssystem hat. Wir landeten auf Platz acht. insbesondere der HIV-Infizierten, bieten wir Ihnen (Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Das sagt aber bei der Durchsetzung der Strukturreform und unse- wenig!) rer Forderungen bei den Nachverhandlungen mit den Beteiligten unsere Mitarbeit und Unterstützung an. Roland Sauer (Stuttgart) (CDU/CSU): Sie wissen vielleicht auch, Frau Kollegin Titze-Stecher, daß die Ich danke Ihnen. Präsidentengattin Hillary Clinton schon mehrfach da- (Beifall bei der SPD) von gesprochen hat, daß Deutschland das beste Ge- sundheitssystem der Welt hat, und versucht, diesem System nachzueifern. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das war die er- ste Rede des Abgeordneten Gerhard Rübenkönig aus (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Kassel. Ich spreche ihm die Glückwünsche des gan- Nun zum Haushalt. Zunächst möchte ich klar sa- zen Hauses aus. gen, daß auch dieser Einzelplan ein Sparhaushalt ist. (Beifall) Aber wir haben die Schwerpunkte, die für die Ge- Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Roland Sauer. sundheit unserer Bürger wichtig sind, trotzdem nicht vernachlässigt. Die Ausgabenschwerpunkte des Ge- (Hans Georg Wagner [SPD]: Jetzt geht es sundheitsministeriums liegen bei den Maßnahmen gegen die Zigarette!) gegen Drogen- und Suchtmittelmißbrauch mit rund 46 Millionen DM, bei der Aids-Bekämpfung mit na- Roland Sauer (Stuttgart) (CDU/CSU): Frau Präsi- hezu 54 Millionen DM, bei der Bekämpfung von dentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Krebs mit 32 Millionen DM, bei den Beiträgen des Lieber Herr Kollege Rübenkönig, dies war Ihre Bundes zur Bund-Länder-Forschungsförderung mit Pflichtübung als Oppositionsabgeordneter - mehr rund 44 Millionen DM sowie - dies müssen wir leider nicht. auch sagen - bei den erheblichen Beiträgen für das internationale Gesundheitswesen mit fast 70 Mil- (Zuruf von der SPD: Das war nicht die lionen DM. Pflicht, das war die Kür!) Selbstverständlich waren in manchen Bereichen Ich frage mich, von welchem Land Sie eigentlich ge- Einsparungen erforderlich. Vielfach waren bei diesen sprochen haben. Wenn man draußen in der Welt Einsparungen, die wir vorgenommen haben, aber Ti- hört, daß die Deutschen das beste Gesundheitssy- tel betroffen, deren Mittel im letzten Jahr nicht abge- stem überhaupt haben, und wenn alle versuchen, flossen sind. Sicherlich sind manche der von uns vor- uns nachzueifern, dann muß man zu der Auffassung genommenen Kürzungen schmerzhaft. Aber der Ge- kommen, daß Sie heute abend an der Realität vorbei- sundheitsschutz und die Gesundheitsvorsorge blei- geredet haben. ben im vollen Umfange gewährleistet. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Regina Schmidt-Zadel [SPD]: Wo denn?) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995 2233

Roland Sauer (Stuttgart) Erfreulich positiv hat sich im Zuge der Haushalts- Unsere besondere Sorgfalt und Aufmerksamkeit beratungen die personelle Situation der Nachfolge- gilt aber dem neuen geplanten Aids - Fonds „ Huma- einrichtungen des Bundesgesundheitsamtes, insbe- nitäre Hilfe", mit dem den Geschädigten nachhaltig sondere in den neuen Ländern, entwickelt. Trotz des geholfen werden soll. Bundesminister Seehofer hat Sparzwanges gelang es, in diesen Nachfolgeeinrich- die Mithaftung des Staates akzeptiert. Er hat sich bei tungen 140 von 187 Zeitstellen in Dauerstellen umzu- den betroffenen Menschen entschuldigt und um Ver- wandeln. zeihung gebeten. Dafür gebührt ihm Respekt und Anerkennung. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der CDU/CSU) Dies ist gerade für die neuen Bundesländer sehr wichtig gewesen, weil damit, beispielsweise in Wer- Eine ähnliche Haltung, aber auch das gleiche Ver- nigerode oder Bad Elster, nicht nur die Arbeitsplätze, antwortungsbewußtsein hätte ich mir auch von den sondern auch der Fortbestand dieser Institute gesi- anderen Mitbeteiligten - da gebe ich Ihnen durchaus chert werden konnte. recht - gewünscht. (Uta Titze-Stecher [SPD]: Versicherungen!) Von großer Bedeutung ist auch der Aufgabenbe- reich Blut und Blutprodukte. Hier ist insbesondere Unserer Meinung nach muß nun ein weiterer hu- die Stellenaufstockung im Paul - Ehrlich - Institut zu manitärer Hilfsfonds geschaffen werden, der meh- erwähnen. Es gelang, im Bundeshaushalt 1995 dort rere hundert Millionen Mark umfassen soll. Auf Vor- insgesamt 69 Dauerstellen und ausreichende Mittel schlag der Koalition wurde daher im Einzelplan 15 für Aushilfskräfte zur Verfügung zu stellen. Das ein Leertitel eingefügt. Dies sollte ein deutliches Si- Paul-Ehrlich-Institut erhält somit eine personelle gnal für die anderen Mitbeteiligten sein. Ausstattung, die Sicherheit bei Blut und Blutproduk- ten gewährleistet. Sollte diese Stellenausstattung Bedenkt man die schlechten Erfahrungen mit der aber nicht ausreichen, so werden wir bei den Haus- humanitären Soforthilfe, bei der sich die Pharmain- haltsberatungen 1996 weitere Stellen bewilligen dustrie, die Versicherungswirtschaft, die Ärzte, die müssen. Blutspendedienste

Die Bekämpfung von Aids ist sicher eine der wich- (Uta Titze-Stecher [SPD]: Und das Rote tigsten Aufgaben in der Gesundheitspolitik. Ange- Kreuz!) sichts von 50 000 bis 70 000 HIV-Infizierten, 4 500 bis 5 000 Aids-Erkrankten und bislang rund 7 500 Aids- und die Länder - manche haben bis heute noch Toten in Deutschland müssen wir weiterhin erhebli- nichts bezahlt - nicht gerade mit Ruhm bekleckert che Finanzmittel zur Verfügung stellen. haben, so sieht man, daß es ein weiter und schwieri- ger Weg für Horst Seehofer war, zu einer zufrieden- So konnten wir, wie gesagt, den Haushaltsansatz stellenden Lösung zu kommen. Ich sage mit Nach- in diesem Bereich, wenn man auch die nachgeordne- druck: Die anderen Mitbeteiligten dürfen sich aus ten Institute hinzunimmt, auf nahezu 54 Millionen ihrer Verantwortung nicht fortstehlen. DM anheben, Herr Kollege Rübenkönig. Dabei blei- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) ben die Mittel für die Aids-Aufklärung in Höhe von 20 Millionen DM auf dem Stand von 1994. Im Regie- Nun hat Bundesminister Seehofer heute morgen rungsentwurf waren nur noch 18 Millionen DM vor- den Gesundheitsausschuß über das Ergebnis seiner gesehen. Aber ich glaube, solange weder ein Impf- Verhandlungen mit den Mitbeteiligten unterrichtet stoff noch eine ausreichende Therapie gegen die und ein Konzept für diesen neuen Fonds vorgestellt. Krankheit zur Verfügung stehen, bleiben Aufklä- Danach wird dieser Entschädigungsfonds rungsmaßnahmen das wichtigste Mittel zur Aids-Be- 250 Millionen DM umfassen. Mit diesen Mitteln wird kämpfung. es möglich sein, rückwirkend - das ist ganz wichtig zu betonen - zum 1. Januar 1994 Rentenzahlungen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. so von monatlich 3 000 DM für bereits an Aids Er- wie bei Abgeordneten der SPD und des krankte, 1 500 DM für HIV-Infizierte sowie 1 000 DM BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) für unterhaltsberechtigte Angehörige zu leisten. Ich glaube, dies ist eine gute Nachricht, denn Sie müs- Noch ein Wort zur humanitären Soforthilfe für sen wissen, daß durch diese Rückwirkung jetzt schon durch Blut und Blutprodukte Geschädigte. Hier große Summen auf einmal bezahlt werden. So be- bleibt es beim Ansatz des Vorjahres in Höhe von kommt ein Aids-Erkrankter, wenn dieses Gesetz zum- 20 Millionen DM, wahrscheinlich bis zum 1. Juli 1. Juli 1995 in Kraft tritt, allein schon 54 000 DM - wie 1995. Dann wird der nächste Aids-Fonds einsetzen. die anderen Gruppen in Abstufungen auch -, also Hier ist wichtig zu sagen, daß diese Gelder ab sofort eine Summe, bei der man schon von einer Kapitali- auch für Personen verwandt werden können, die auf sierung sprechen kann. Grund des bisherigen Stichtages, nämlich 30. Ok- tober 1993, keine Leistungen erhielten. Dies gilt z. B. Ich meine, Sie von der SPD sind kleinlich. Denn für Nichtbluter und für mittelbar HIV-infizierte Le- man muß klar sehen: Wer schnell hilft, hilft doppelt, benspartner, die nun auch Leistungen aus diesem hilft um so mehr. Fonds bekommen. Dies sollten Sie anerkennen und nicht kritisieren, liebe Kollegen von der SPD. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) 2234 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995

Roland Sauer (Stuttgart) Was hilft es den Aids-Opfern, wenn es lange Zeit, Eine staatliche Drogenvergabe würde die Bedroh- Herr Kollege Diller, zu keiner Lösung kommt, wenn lichkeit der Abhängigkeit und ihrer sozialen Folgen es Verfahren gibt und die Leute in der Zwischenzeit verharmlosen, jahrelange Präventionsbemühungen sterben? Deswegen meine ich, daß diese Lösung, bei würden hintertrieben werden, und die Medikamen- der wir uns durchaus eine größere Beteiligung der ten- und Lebensmittelkontrolle würde geradezu lä- Pharmaindustrie und der Versicherungen gewünscht cherlich gemacht. hätten, schnelle Hilfe bringt. Sie sollten nicht so kleinlich sein und von „Billiglösungen" reden. Dies (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ ist der Sache nicht angemessen. DIE GRÜNEN]: Alles Quatsch! Hinter wel- chem Berg sind Sie zu Hause? Das ist doch alles Quatsch, was Sie hier erzählen! Ge- quirlter Käse!) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Wodarg? - Herr Fischer, wenn Sie auch noch so schreien, Ihre Argumente werden dadurch nicht besser. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Roland Sauer (Stuttgart) (CDU/CSU): Nein. Ich habe leider nur eine kurze Redezeit; deswegen kann ich das nicht mehr zulassen. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Ihre Redezeit ist jetzt leider abgelaufen. Ich möchte noch ein Wort zur Drogenpolitik sa- gen, weil diese in den Haushaltsberatungen bisher (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ ein bißchen zu kurz gekommen ist, wie ich meine. DIE GRÜNEN]: Das ist auch besser so!) Wir halten am nationalen Rauschgiftbekämpfungs- plan fest. Unsere Bemühungen gehen dabei in drei Roland Sauer (Stuttgart) (CDU/CSU): Ich möchte Richtungen: die Aufklärung, Prävention und Prophy- noch einen letzten Satz sagen, Frau Präsidentin. laxe, die Hilfe für die Abhängigen in Form von The- rapie sowie der entschiedene Kampf gegen die Dro- Solange wir es nicht schaffen, ausreichend Ent- genmafia. zugs-, Therapie- und Nachsorgeplätze zur Verfü- gung zu stellen, ist es unehrlich, vom Scheitern einer (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) auf Abstinenz abzielenden Drogenpolitik zu spre- chen. Wir begrüßen daher die klaren und deutlichen Von einer einseitig repressiv ausgerichteten Dro- Worte der Ablehnung durch das frühere BGA und genpolitik kann somit keine Rede sein. Mit uns - ge- den Nationalen Drogenrat zu derartigen Heroinabga- rade die Kollegen von den GRÜNEN, aber auch Teile beplänen. der SPD müssen zur Kenntnis nehmen: In Frankfurt Ich bedanke mich herzlich. ist die Kollegin Nimsch von den GRÜNEN an diesem Problem offensichtlich gescheitert - wird es zu keiner (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - Liberalisierung und zu keiner Legalisierung weicher Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ oder harter Drogen kommen. DIE GRÜNEN]: Meine Güte! Wie heißt er denn? Sauer? Sauerbier!) (Beifall bei der CDU/CSU - Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat Nach Ablauf dieser Legislaturperiode wer- jetzt die Abgeordnete Kristin Heyne. den Sie Ihre Meinung ändern! Reden Sie mal mit dem Rommel in Stuttgart!) Kristin Heyne (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Gesund- heitsminister, über dessen Ressort wir hier sprechen, Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage? hat sich durchaus einen Ruf erworben, zum Teil durch die Gesundheitsstrukturreform, besonders aber durch die Neustrukturierung des ehemaligen Bundesgesundheitsamtes: den Ruf eines couragier- (Stuttgart) (CDU/CSU): Dabei wis- Roland Sauer ten, tatkräftigen Ministers. sen wir uns im Einklang mit der übergroßen Mehr- heit unserer Bürger. Ich betone dies gerade ange- (Beifall bei der CDU/CSU) sichts der modern gewordenen Forderung nach He- roinabgabeprojekten. In zunehmendem Maße wird dieses Profil nicht nur durch das Profil eines Sparministers, sondern auch (Erneuter Zuruf des Abg. Joseph Fischer durch das eines Streichministers ergänzt - eine Kom- [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) bination, die seinem Landsmann Herrn Waigel ganz sicher Freude macht, die aber auch der genaueren - Herr Kollege Fischer, hören Sie zu! - Der zynische Beobachtung bedarf. Slogan lautet: Heroin auf Krankenschein. Man (Bundesminister Horst Seehofer: Richtig!) muß sich einmal diese Pe rversion des Denkens vor- stellen. Im Bereich des Gesundheitsministeriums gibt es ei- nen deutlichen Aufgabenzuwachs. Nach den tragi- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) schen Erfahrungen mit der HIV-Infizierung durch Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995 2235

Kristin Heyne Blutprodukte erfolgt deren Kontrolle jetzt mittels Herr Seehofer, mit dem Ausländerleistungsgesetz Chargenprüfung; das bedeutet einen erheblichen haben Sie die Grenze zwischen couragiertem Sparer Mehraufwand. Auch bei der Zulassung und Prüfung und unverantwortlich Porzellan zerschlagendem von Medikamenten ist durch das Arzneimittelgesetz Streichminister weit überschritten. eine erhebliche Mehrbelastung entstanden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Für einen Minister, dessen Profil nun aber gerade sowie bei Abgeordneten der SPD) darin besteht, ein ausgezeichneter Sparer zu sein, ist es natürlich unangenehm, wenn er ausgerechnet in Sie schaffen ein eigenständiges Gesetz für Auslän- seinem Bereich einen erheblichen Zuwachs an Stel- der, ein selbständiges Regelwerk neben den Lei- len zu fordern hat. Wer aber zusätzliche Aufgaben stungsgesetzen für Deutsche. Sie ziehen eine dicke übernimmt und sie seinen Mitarbeitern überträgt, Trennlinie zwischen den existentiellen Bedürfnissen muß auch rechtzeitig und in genügendem Maße da- von Deutschen und denen von Ausländern. Das ent- für sorgen, daß diese die Aufgaben verantwortlich würdigende „Das da muß für einen wie dich rei- übernehmen können. chen" machen Sie zur Richtschnur staatlichen Han- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN delns. Herr Seehofer, was da geschieht, geht über sowie bei Abgeordneten der SPD) Spar- und Streichpolitik weit hinaus. Es verletzt die Betroffenen in hohem Maße, aber es verletzt auch Es ist zu spät, wenn erst mit der Bewilligung dieses uns alle als Bürgerinnen und Bürger dieses Landes in Haushaltes zusätzliche Stellen für die Überwachung unserer Würde. der Blutprodukte eingerichtet werden. Die Chargen- prüfung ist schon im letzten Sommer eingeführt wor- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN den. sowie bei Abgeordneten der SPD)

(Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Herr Minister, ich fordere Sie dringend auf, diesen Aber besser jetzt als nie!) unsäglichen Entwurf zurückzuziehen und auch die Ich habe auch erhebliche Zweifel, ob jetzt genü- weiteren Pläne zur Kürzung der Sozialhilfe, die ja gend Stellen eingerichtet worden sind. Die Auffas- laut geworden sind, sehr gründlich zu überdenken. sung „Wir versuchen einmal, ob es geht" ist für mich keine gute Grundlage. Sollte die Qualität der Arbeit (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- in einem so sensiblen Bereich wie dem der Blut- SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) produkteüberprüfung und der Arzneimittelüber- wachung nicht mehr zuverlässig sein, so wäre das Die Kollegen haben es schon erwähnt: Es gab in Sparsoll in fataler Weise übererfüllt, und der nächste den Beratergesprächen für den Haushalt einen Licht- Skandal wäre vorprogrammiert. blick; das war bei der Aids - Aufklärung. Wir konnten da die Sparmaßnahme zurücknehmen. Herr Sauer, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ich habe mit Interesse von Ihnen gehört, daß Sie die- sowie bei Abgeordneten der SPD) ses als sehr wichtige Aufgabe ansehen, die nicht wei- ter zurückgefahren werden darf. Ich hoffe dringend, Nun ist dem Bereich des Gesundheitsministeriums daß dies auch im nächsten Jahr gilt, daß wir bei den in dieser Legislaturperiode ja eine neue Aufgabe zu- 20 Millionen DM auf lange Sicht bleiben, damit die- geordnet worden, die Sozialhilfe. Wer sich gefragt jenigen, die in diesem Bereich arbeiten, auch auf hat, welcher Systematik denn diese Zuordnung folgt, lange Sicht planen können. Das wäre doch immerhin der weiß seit Ende letzter Woche, welche Systematik ein Schritt. das ist. Sie ist schlicht, sie lautet: Da, wo kräftig ge- strichen werden muß, da muß der Seehofer ran. In einem Bereich hätte ich dem Minister wirklich Die erheblich gestiegenen Kosten der Sozialhilfe Erfolg gewünscht. Ich hatte gehofft, Herr Seehofer, belasten die Kommunen übermäßig; das ist bekannt. Sie würden durch Verhandlungen zu einer akzepta- Das liegt aber nicht an überhöhten Leistungen für blen Entschädigungsregelung für die durch Blutpro- die Sozialhilfeempfänger, sondern an der Situation dukte mit HIV Infizierten kommen. Sie sind bei den auf dem Arbeitsmarkt, an Regelungen und Gesetzen, Verhandlungen mit der Pharmaindustrie und mit den die viele Menschen in die Abhängigkeit von der Bundesländern weit unterhalb dessen geblieben, Sozialhilfe treiben. was der Untersuchungsausschuß als Bedarf ermittelt hat. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS SES 90/DIE GRÜNEN) (Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Hessen!) - Gerade die Personengruppe, die jetzt mit den er- Ich weiß nicht, wofür Sie hier alle so lange getagt ha- klärtermaßen abschreckenden Bedingungen des ben, wenn das jetzt mal eben unter den Tisch fällt. Asylbewerberleistungsgesetzes zusätzlich konfron- tiert worden ist, darf doch zu einem großen Teil nicht (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) arbeiten, und jetzt soll sie zusätzlich dafür auch noch bestraft werden, indem ihr Bezüge gekürzt werden. Zusätzlich kann man der Presse heute entnehmen, Chronisch Kranke sollen sogar keine ärztlichen Lei- daß die Pharmaindustrie auch von dieser geringen stungen mehr bekommen. Das entscheidet der Ge- Summe, die zu zahlen sie sich bereit erklärt hat, sundheitsminister dieses Landes! schon wieder zurücktritt. 2236 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995

Kristin Heyne Wir haben einen Antrag eingebracht, denn es darf Meine Damen und Herren, es freut mich ganz be- in der Frage der Entschädigung keine weitere Verzö- sonders, daß es gelungen ist, auch die Haushälter da- gerung geben. Deswegen beantragen wir, in diesen von zu überzeugen, daß eine Kürzung der Mittel für Haushalt sofort Mittel in Höhe von 700 Millionen DM die Aufklärung über Aids gerade das falsche Signal für einen Fonds einzusetzen. Das entspricht den Er- für die Öffentlichkeit wäre. Nach wie vor handelt es gebnissen des Untersuchungsausschusses. sich um eine Erkrankung, deren Zurückdrängung keineswegs gewährleistet ist. Solange wir keinerlei ( [CDU/CSU]: Aus der Porto Möglichkeiten haben, diese Krankheit zu heilen, so kasse?) lange muß das Hauptgewicht auf der Aufklärung lie- In diesen Fonds dürfen auch die Länder gern weitere gen, damit die Ansteckungsrisiken gemindert wer- Gelder einstellen. Die HIV-Infizierten können auf das den. Ergebnis des Streites zwischen dem Bund und den (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeord- Ländern, der hier so gerne vorgeführt wird, nicht warten. neten der CDU/CSU) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung braucht deshalb Planungssicherheit für die von ihr Der Bund tritt in Vorleistung, zahlt jetzt Entschädi- mittelfristig angelegten Informationskampagnen und gung und holt sich von den anderen Zahlungspflich- die zahlreichen Maßnahmen, die in Kleingruppen tigen auf dem Verhandlungswege oder nötigenfalls sehr erfolgreich durchgeführt werden. auf dem Klagewege das Geld zurück. (Beifall des Abg. Dr. Wolfgang Weng [Ger- Bei der ungeheuerlichen Fahrlässigkeit, die im Zu- lingen] [F.D.P.]) sammenhang mit dem Blutprodukteskandal deutlich wurde, kann es nicht sein, daß die Geschädigten Heute morgen haben wir im Gesundheitsausschuß jetzt mit einer milden Gabe abgefertigt werden. vom Minister gehört, wie die von uns allen für drin- gend erforderlich gehaltene humanitäre Hilfe für die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) durch Blut oder Blutprodukte HIV-infizierten Men- schen und ihre Angehörigen aussehen könnte: 3 000 Ein Wort an die andere Seite der Opposition: Es DM monatlich für Aids-Erkrankte, 1 500 DM monat- wäre sinnvoll, wenn wir in diesem Punkt gemeinsam lich für HIV-Infizierte, 1 000 DM monatlich für nicht als Opposition aufträten. Geben Sie sich bitte einen HIV-infizierte Angehörige von Verstorbenen - dies Ruck, stimmen Sie unserem Antrag zu! rückwirkend zum 1. Januar 1994. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS sowie bei Abgeordneten der Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zu- SPD) nächst dem Minister danken. Die Verhandlungen waren nicht einfach; teilweise hatte man den Ein- druck, daß sie scheitern würden. Von daher finde ich Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herzlichen es bemerkenswert, daß nunmehr eine Gesamtsumme Glückwunsch der Kollegin Heyne zu Ihrer ersten von 250 Millionen DM zur Verfügung steht, wovon Rede. der Bund 100 Millionen DM, die Pharmaindustrie (Beifall) und das Deutsche Rote Kreuz 100 Millionen DM und die Länder 50 Millionen DM zur Verfügung stellen. Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dr. Dieter Thomae. Natürlich wäre uns eine großzügiger ausgestattete Regelung viel lieber gewesen. Man muß aber auch die Realitäten sehen. Ein Zwangsfonds war aus Dr. Dieter Thomae (F.D.P.): Frau Präsident! Meine rechtlichen Gründen nicht möglich; so etwas kann sehr geehrten Damen und Herren! Der Haushalt nicht für die Vergangenheit eingerichtet werden. 1995 steht ganz klar im Zeichen des Sparens. Die un- Also gab es nur die Alte rnative, eine freiwillige Lö- erträglich hohe Staatsquote in der Bundesrepublik sung auf die Beine zu stellen. Alle wissen, daß eine muß endlich zurückgeführt werden, damit der ein- solche Lösung immer verschiedene Kompromisse be- zelne wieder über einen größeren Teil seines Ein- inhaltet. Weder die Pharmaindustrie noch die Länder kommens verfügen kann, ohne daß „sein" Geld zu- konnten gezwungen werden, sich zu beteiligen. nächst durch staatliche Hände gegangen ist. Eines muß man ganz deutlich sagen: Die (Beifall bei der F.D.P.) Länder haben sich in diesem Bereich nicht besonders ange- Dabei kommt es in Zeiten knapper Ressourcen strengt. Der einzige, der in dieser Angelegenheit tat- - ganz besonders darauf an, Prioritäten zu setzen. sächlich Position bezogen hat, war der Bund. Das möchte ich einmal festhalten. (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Aha!) (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Gesundheit ist nun einmal ein Bereich, der von allen Lassen Sie uns bitte nicht darüber streiten, ob nicht völlig unbestritten mit großer Bedeutung versehen eine üppigere Ausstattung der Stiftung wünschens- wird. Deshalb erscheint es mir gerechtfertigt, nicht wert wäre. Da stimme ich Ihnen völlig zu. Aber es gerade in diesem Bereich den Rotstift drastisch anzu- führt sicher nicht weiter, wenn dadurch die betroffe- setzen. nen Menschen noch viel länger auf finanzielle Unter- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995 2237

Dr. Dieter Thomae stützung warten müssen und eventuell mit Aus- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Gestatten Sie nahme der durch den Bund konkret zugesagten eine Zwischenfrage des Abgeordneten Kirschner? - 100 Millionen DM im Zweifelsfall überhaupt nichts Er ist entschwunden. zur Verfügung steht. Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Dr. Ruth Fuchs. Deshalb geht mein Petitum dahin, daß Bund und Länder in einer Kommission mit ihren Vorbereitun- gen sofort beginnen, damit wir am besten direkt Dr. Ruth Fuchs (PDS): Frau Präsidentin! Meine Da- nach der Osterpause die Stiftung ins Leben rufen men und Herren! Nach den Haushaltsberatungen in können. Einzelheiten müssen diskutiert werden. den Ausschüssen bleibt es dabei: Die Ausgaben des Aber ich sage auch: Wir sollten nicht nachlassen, die Bundes für gesundheitliche Zwecke werden erneut Verantwortlichen auch in Zukunft zu bedrängen und empfindlich gekürzt. Auch die vorgenommene ge- mit aller Macht zu versuchen, daß weitere Zuwen- ringe Wiederaufstockung von 803 Millionen DM auf dungen in diesen Stiftungsfonds eingezahlt werden. nunmehr 811 Millionen DM hat im Grundsatz nichts daran geändert. Wir sollten aber sofort anfangen und versuchen, den Betroffenen zu helfen. Wir wissen alle, meine Dies alles geschieht, obwohl der Einzelplan 15 oh- Damen und Herren, es ist wie in all den Jahren bis- nehin zu den kleinsten Posten gehört. Man muß sich her: Wenn wir nicht helfen, sterben die Menschen schon in Erinnerung rufen, daß in diesem Bereich ge- ohne eine finanzielle Unterstützung. Ich glaube, das rade erst im Vorjahr, vor allem durch das Abwälzen kann keiner in diesem Hause verantworten. der Mutterschaftspauschale auf die gesetzliche Kran- kenversicherung, eine Kürzung um sage und (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) schreibe 20 % stattgefunden hat. Immerhin war das damals die anteilig massivste Reduzierung, die über- Lassen Sie mich bitte noch ein Wort zu einer The- haupt in einem Teilhaushalt vorgenommen wurde. matik sagen, die kurz vor der Behandlung im Gesetz- gebungsverfahren steht: der Organtransplantation. Während also täglich von den Schwierigkeiten der Ich habe die Hoffnung, daß alle Fraktionen im Deut- sozialen Sicherungssysteme die Rede ist, verringert schen Bundestag dieses Gesetzeswerk gemeinsam der Bund, statt ausgleichend zu wirken, den bisher auf den Weg bringen; denn ich denke, es ist kein noch steuerfinanzierten und von ihm unmittelbar be- Thema, das politisch auseinandergeredet werden einflußbaren Anteil der Gesundheitskosten immer muß. Wir müssen vielmehr den Betroffenen helfen. weiter. Gerade darin aber besteht unseres Erachtens Sie alle wissen, die Spendenfreudigkeit ist nennens- das Grundübel der Haushaltspolitik der Regierung wert zurückgegangen. auf dem Gebiet des Gesundheitswesens.

Wir müssen das Thema behandeln, auf welche Meine Damen und Herren, auch wenn es in den Weise wir eine Lösung herbeiführen. Die Koalition ist Ausschußberatungen erfreulicherweise gelungen ist, für die erweiterte Zustimmungslösung. Wie ich von die ursprünglich vorgesehenen Mittelkürzungen der SPD vernommen habe, will man dort einen ähnli- speziell für die Aids-Aufklärung wieder rückgängig chen Weg gehen, und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu machen, so bleibt es doch insgesamt selbst auf liegen etwa auf der gleichen Linie. dem hochsensiblen Feld der Aids-Bewältigung bei neuen erheblichen Einschränkungen. (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Sie müssen uns einladen!) Wie oft wurde schon in diesem Hause, und zwar in einem breiten Konsens, betont, daß in den Anstren- Meine Damen und Herren, es wäre gut, wenn wir gungen bei der Bekämpfung von Aids auch dann dieses Gesetz ebenfalls schnell über die Rampe brin- nicht nachgelassen werden darf, wenn der ursprüng- gen könnten. Dann hätten wir wirklich ein Signal für lich dramatische Zuwachs an Infektionen und Neuer- die betroffenen Personen gesetzt, die dringend auf krankungen einigermaßen gebremst ist! Wo aber Hilfe warten. bleiben diese guten Absichten, wenn es um die Be- reitstellung der real notwendigen Mittel geht? (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Festgestellt werden muß ebenfalls, daß mit diesem Gern würde ich noch etwas zu den Petersberger Haushalt auch die finanziellen Möglichkeiten der Gesprächen sagen; ich habe noch eine Minute Zeit. durch den Bund geförderten Krebsbekämpfung zum Eines steht fest: Die Budgetierungsphase geht zu Teil drastisch eingeschränkt werden. Gleiches gilt Ende, und die Selbstverwaltung wird durch das zu- leider auch für die Maßnahmen, die auf eine bessere künftige Gesetz mehr Spielraum bekommen. Das ist Versorgung chronisch sowie psychisch kranker Men- es, was zu einem Wettbewerbsmodell gehört. schen gerichtet sind. Ich höre von der großen Oppositionspartei - im Ge- Eine weitere kritische Anmerkung: Wer im Einzel- gensatz zum BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN -, daß das plan 15 ein Zeichen dafür erwartet hatte, daß über Stichwort Wettbewerb in der Krankenversicherung gezielt eingesetzte Modellvorhaben die ein Wort ist, das zur Diskussion steht. Daher freue ich Erprobung effektiverer Versorgungsformen gefördert wird, hat mich auf die weitere politische Auseinandersetzung. wohl die Weitsicht und Zukunftsorientiertheit der Re- Herzlichen Dank. gierung auch auf diesem Politikfeld überschätzt. We- der unter den vom Gesundheitsministerium geförder- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) ten Modellen noch unter den Forschungsaufgaben 2238 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995

Dr. Ruth Fuchs der neuen Public-Health-Verbände finden sich Vor- Dem Antrag des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN haben, die etwa auf eine Evaluierung und Weiterent- zum Thema Aids stimmen wir zu. wicklung unterschiedlicher ambulanter Versor- gungsformen gerichtet wären. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. Enttäuschend bleibt für mich auch, daß der Haus- (Beifall bei der PDS) haltsausschuß die beantragte Schaffung von Dauer- stellen in nachgeordneten Institutionen in den Das Wort hat neuen Bundesländern trotz des dringlichen und ein- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: jetzt der Bundesminister für Gesundheit, Seehofer. stimmig verabschiedeten Votums des Gesundheits- ausschusses nicht in vollem Umfang bestätigt hat. Kollege Sauer, es war damals von 227 Stellen die Horst Seehofer, Bundesminister für Gesundheit: Rede, deren Notwendigkeit Frau Staatssekretärin Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Bergmann-Pohl eindringlich begründet hatte, um die Herren! Seit gestern nachmittag gibt es zwischen gesetzlich festgelegten Aufgaben zu erfüllen. Wir un- dem Bund, den Ländern, den Pharmaherstellern und terstützen sie weiter darin. Vielleicht ist diesbezüg- dem Deutschen Roten Kreuz eine Grundsatzeinigung lich ja noch nicht das letzte Wort gesprochen. über die Einrichtung einer Stiftung zur Hilfe von Die Stiftung ist mit 250 Millionen DM Zusammenfassend ist festzustellen: Erstens. Die Aidsopfern. ausgestattet. Für die einzelnen Be troffenen gibt es Bundesregierung bleibt auch in der neuen Legisla- spürbare Hilfen, auch rückwirkend. Ich denke, das turperiode bei ihrem absolut inakzeptablen Minimal- ist nach den langen Diskussionen der letzten Monate engagement in Sachen Gesundheit. und den zähen Verhandlungen in den letzten Tagen (Beifall bei Abgeordneten der PDS) eine gute Nachricht für die Opfer. Mehr noch: Selbst ihr schon traditionell geringer Ein- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) satz auf diesem Feld elementarer Lebensinteressen der Menschen wird weiter zurückgenommen. Das ist Wie immer kann man über die Höhe der zur Verfü- gleichbedeutend mit einem weiteren Abbau des So- gung gestellten Mittel diskutieren. Mir war es jedoch zialstaates auch im Gesundheitswesen. wichtig, nach den endlosen Diskussionen, nach den quälenden und für die Betroffenen manchmal unzu- Zweitens. Die Bundesregierung setzt auch mit die- mutbaren Diskussionen jetzt nicht weitere Monate zu sem Haushalt keinerlei Akzente für eine aktive, auf streiten, sondern ein Beispiel für praktizierte Solidari- grundlegende strukturelle Erneuerung gerichtete tät zu geben und noch in diesem Monat zu entschei- Reformpolitik in diesem Bereich. Im Gegenteil: Per den und zu handeln. Haushaltsbeschluß sollen sogar schon gesetzlich ver- ankerte Strukturmaßnahmen wieder rückgängig ge- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) macht werden. Hierfür steht das fragwürdige Vorge- Meine Damen und Herren, man kann das alles hen der Koalition im Zusammenhang mit der Positiv- noch verbessern und zustiften. Nur, ich kann mich liste. nicht an eine Hilfsaktion in einer vergleichbaren Grö- Drittens. Was den Entschädigungsfonds für die ßenordnung bei einem vergleichbaren Schaden erin- Opfer der HIV-Infektion durch Blut und Blutpro- nern. Deshalb sollten wir nicht ständig das kritisie- dukte betrifft, so will die Bundesregierung offensicht- ren, was jetzt zustande gekommen ist, sondern soll- lich gegenüber Industrie und Versicherungen - wie ten uns zunächst einmal freuen, das Erreichte in sagt man so schön? - klein beigeben. Kraft setzen und anschließend überlegen, wie wir das eine oder andere vielleicht noch verfeinern kön- (Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ nen. CSU]: Nein, sie will endlich etwas für die Betroffenen erreichen!) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Die Privatwirtschaft ist nicht annähernd bereit, den Frau Kollegin Heyne, ich habe ja Verständnis, für sie vorgesehenen und vor allem angemessenen wenn man auf diesen Streit zwischen Bund und Län- Anteil am Gesamtfonds zu tragen. Äußerst bedauer- dern hinweist. Aber es gehört eben auch zu den Fest- lich ist dabei: Sie bewegt sich offensichtlich mit die- stellungen des Untersuchungsausschusses, daß es ser Verweigerungshaltung auf dem Boden des gel- hier eine ganz erhebliche Mitverantwortung der tenden Rechts. Gerechtigkeit für die Betroffenen Bundesländer, insbesondere der alten Länder in den wird so aber wieder einmal nicht erreicht. 80er Jahren, gab und daß es deshalb auch eine mora- lische Verpflichtung dieser Länder gibt, massiv zu - Aus all diesen Gründen wird die PDS den Einzel- helfen. Ich kann hier nur feststellen, daß die SPD-ge- plan 15 ablehnen. führten Länder zunächst überhaupt nicht bereit wa- ren, sich zu beteiligen. (Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Oh, Frau Dok tor!) (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Unglaublich!) - Das haben Sie doch erwartet. Es wäre doch gar nicht möglich, daß wir da zustimmen. Dann wären Jetzt sind sie zwar bereit, sich zu beteiligen, haben Sie so enttäuscht, und das wollten wir Ihnen nicht zu- aber nur eine Verpflichtung übernommen, die unter- muten. halb dessen liegt, was der Untersuchungsausschuß Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995 2239

Bundesminister Horst Seehofer fordert, und wollen überdies ihrer Verpflichtung nur Lage sind, dann dürfen Sie mir nicht verwehren, daß in vier Jahresraten und nicht in einer Summe im Jahr ich mir nicht von der SPD die Behauptung gefallen 1995 nachkommen, was unsere Handlungsspiel- lasse, ich hätte für den Bund unzureichend gehan- räume enorm einengt. delt.

Am Montag haben die SPD-geführten Länder in (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Anwesenheit der Pharmahersteller, des Deutschen Das zweite: Die Tatsache, daß die Bundesrepublik Roten Kreuzes und der Versicherer gegenüber der Deutschland, vertreten durch die Bundesregierung, Bundesregierung erklärt, daß sie mit dem Betrag der als einzige Beteiligte ihren vollen Beitrag zahlt und Bundesregierung einverstanden sind und von der damit ihre moralische Verantwortung in Geld um- Bundesrepublik Deutschland einen höheren Betrag münzt, und zwar 1995 in einem Betrag 100 Millionen nicht fordern. Deshalb ist es eine doppelzüngige DM - bei einem Entschädigungsvolumen von Strategie, wenn sie jetzt hier in der Bundestagsde- 500 Millionen DM sind das 20 %, bei einem Volumen batte den gegenteiligen Eindruck erwecken. von 250 Millionen DM 40 % -, die Tatsache also, daß der Bund als einziger seiner Verantwortung vollstän- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) dig und pünktlich gerecht wird, lasse ich mir jetzt nicht in den Vorwurf verdrehen, dies bedeute fak- tisch die Staatshaftung. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Knoche? Ich habe hier eine Pressemeldung von Herrn Kirschner, in der gesagt wird, ich solle auf das lä- cherliche Angebot der Pharmaindustrie verzichten Horst Seehofer, Bundesminister für Gesundheit: und das Geld gar nicht annehmen; anstelle dessen Ja, natürlich. sollten Bund und Länder 700 Millionen DM vorfinan- zieren und sich wieder zurückholen. Nun sage ich Ih- nen das gleiche, was ich heute im Ausschuß gesagt Monika Knoche (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): habe: Ich werde jetzt die SPD-Ministerpräsidenten Herr Minister Seehofer, Sie haben heute morgen im anschreiben - das geschieht, Sie können sie vorwar- Ausschuß schon ausführlich diese Argumentation nen, morgen vormittag - und werde sie um Bestäti- dargelegt. Ich sehe es zwar nicht als meine Aufgabe gung dieser SPD-Forderung bitten, die darauf hin- an, die Position der SPD-Länder darzustellen, möchte ausläuft, daß die Bundesländer 300 Millionen DM aber doch bemerken, daß Hessen seine Bereitschaft aufzubringen haben. erklärt hat. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Mich interessiert die Antwort auf eine andere Herr Kirschner, wenn Sie unter dem Stimmungsein- Frage: Sehen Sie nicht auch angesichts aller öffentli- druck des Tages den Mund zu voll genommen haben chen Bekundung und Schuldanerkenntnis, die der sollten und wenn sich diese Ankündigung, diese For- Bund und Sie - stellvertretend für ihn - im Bundestag derung möglicherweise als Lüge entlarven sollte, gemacht haben, daß Sie mit dem Vorschlag, den Sie dann - das kann ich Ihnen sagen - gnade Ihnen Gott. hier heute der Öffentlichkeit vorstellen, de facto eine Staatshaftung einführen, weil zwei Drittel der Lei- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - stungen vom Staat erbracht werden, die Pharmain- Lachen bei der SPD) dustrie aber nur einen marginalen Anteil leistet? Am Montag zu sagen „Keine weitergehende Forde- Sind Sie ferner mit mir der Meinung, daß Sie das Er- rung an den Bund", als Länder 12,5 Millionen DM - gebnis des Untersuchungsausschusses auch margi- geteilt durch 16 - einzubringen und dann hier zu for- nalisieren, wenn Sie heute den Geschädigten ihre dern, die Länder sollen einige hundert Millionen DM Entschädigungsrechte im Grunde absprechen und vorfinanzieren, also einen Blankoscheck ausstellen, nur noch von humanitärer Hilfe reden? der keinerlei Deckung hat, und der Bevölkerung ein Sozialpathos vorzuexerzieren, Herr Kirschner, das (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Da hat mich tief enttäuscht, das ist unverantwortliche spricht eine GRÜNE von der Farbe!) Politik. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Horst Seehofer, Bundesminister für Gesundheit: Frau Kollegin Knoche, ich bin für jeden Beitrag dank- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Gestatten Sie- bar - das sage ich hier ausdrücklich -, den die Län- eine Zwischenfrage des Abgeordneten Kirschner? der, die Pharmahersteller und das Deutsche Rote Kreuz leisten. Ohne Verkennung dieser Dankbarkeit möchte ich trotzdem sagen: Die Länder - wenn Sie Horst Seehofer, Bundesminister für Gesundheit: Hessen hier einbeziehen, dann gilt das auch für Hes- Selbstverständlich. sen - wollen 50 Millionen DM einbringen. Auf vier Jahre verteilt sind das 12,5 Millionen DM pro Jahr, Klaus Kirschner (SPD): Herr Minister, ist Ihnen ei- und dies ist nochmals durch 16 Bundesländer zu tei gentlich nicht bekannt, was der Untersuchungsaus- len. Wenn die Länder angesichts einer so lächerli- schuß einstimmig, also nicht nur mit den Stimmen chen Größenordnung nur zu Ratenzahlungen in der der SPD, sondern auch mit den Stimmen der Vertre- 2240 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995

Klaus Kirschner terinnen und Vertreter der Koalitionsfraktionen, mand soll sich täuschen, auch noch so viele Kom- empfohlen hat, nämlich daß der Anteil der Industrie mentare werden es nicht verhindern: Die Sozialhilfe- und der Versicherer 60 % betragen soll? Daran setzt reform kommt, wir werden sie durchsetzen. Sie ist unsere Kritik an. Sie wissen doch genau - oder notwendig: nicht, um die Menschen zu ärgern, son- wissen Sie das nicht? -, Herr Minister, welche dern um ein Sozialsystem, das Anfang der 60er Jahre Summe sich in dem Pharmapool befindet. Meinen von der Union - nicht von der SPD - geschaffen nicht auch Sie, daß diese Summe eigentlich dafür da- wurde, auch für die Zukunft stabil zu halten, um sein sollte, sich an dem Entschädigungsfonds zu be- auch in der Zukunft zu gewährleisten, daß Men- teiligen? schen, die Hilfe brauchen, Hilfe für ein menschen- würdiges Leben bekommen. (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Eben nicht!) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Horst Seehofer, Bundesminister für Gesundheit: Herr Kirschner, das weiß ich alles. Heiner Geißler hat heute schon einmal dargestellt, daß alle großen Sozialgesetze der Bundesrepublik (Klaus Kirschner [SPD]: Dann ist ja gut!) Deutschland die Handschrift der Union tragen, auch das Bundessozialhilfegesetz. Niemand beabsichtigt, Sie wissen, daß wir die Beteiligten rückwirkend nicht die Axt an dieses Gesetz zu legen. rechtlich verpflichten können. Das ist völlig ausge- schlossen. Deshalb bin ich auf eine freiwillige Lei- Ich verfolge drei Ziele - die Einzelheiten werden stung der Pharmahersteller, des Deutschen Roten wir in der Koalition besprechen, entscheiden und Kreuzes und anderer angewiesen. Wir haben mit dann öffentlich vertreten -: Mein erstes Ziel ist, wo ganz harten Verhandlungen 250 Millionen DM er- immer es geht, Sozialhilfebedürftigkeit zu vermei- reicht. Jetzt 250 Millionen DM zu bekommen mit der den. Das zweite Ziel ist, die Ausgabendynamik ein- Folge, daß ein Aidserkrankter eine Nachzahlung be- zudämmen, und das dritte Ziel ist, einen gerechteren kommt und unter Einschluß der Zahlungen, die er Einsatz von Sozialhilfeleistungen da und dort zu er- durch den Soforthilfefonds schon bekommen hat, reichen. 1994 und 1995 insgesamt 108 000 DM und dann lau- fende Leistungen von 3 000 DM monatlich erhalten Die Vermeidung von Sozialhilfebedürftigkeit muß wird, das ist ein menschlich absolut vertretbares An- unsere erste gesellschaftspolitische Verpflichtung gebot, bei dem ich den Betroffenen in die Augen sein. Das habe ich schon zweimal im Deutschen Bun- schauen kann. Das ist kein Billigangebot! destag gesagt. Bei aller Reformnotwendigkeit des Sy- stems, worauf ich gleich komme, müssen wir die Si- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) tuation integral betrachten. Viele Ursachen für den Die Alternative wäre gewesen, Streit anzufangen. Bezug von Sozialhilfe liegen außerhalb des Sozialhil- Dann würden wir in fünf Jahren noch verhandeln, ferechts. Deshalb müssen wir dort ansetzen. dann würden wir möglicherweise in zehn Jahren noch Prozesse führen. Dann hätten wir vielleicht un- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) ser Gewissen beruhigt, aber den Betroffenen nicht Da kann sich die Regierung allein mit den politi- geholfen. Ich bin für die Tat! schen Entscheidungen der letzten Wochen sehen las- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) sen: 3 Milliarden DM für ein Sonderprogramm für Langzeitarbeitslose, Einführung der Pflegeversiche- Herr Kirschner, ich hätte überhaupt nichts gesagt, rung, steuerliche Freistellung des Existenzminimums wenn Sie gesagt hätten, der eine oder andere Betei- und eine massive Stärkung der Familienförderung. ligte hätte noch mehr einbringen müssen. Aber daß Das sind vier Entscheidungen aus den letzten vier Sie hier an die Länder Forderungen stellen, obwohl Wochen, die alle miteinander das Sozialhilferecht Sie in der Mehrheit der Länder politische Verantwor- entlasten, die Sozialhilfebedürftigen unterstützen tung tragen und die Länder mir gegenüber nicht und die Ausgaben der Kommunen massiv senken. mehr als 12,5 Millionen DM pro Jahr zu zahlen bereit gewesen sind, nenne ich politische Doppelzüngig- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) keit. Es wäre eigentlich ein Fall für den SPD-Vorsit- zenden, hier einmal eine Koordination zwischen den Das zweite ist die Eindämmung der Ausgabendy- SPD-geführten Ländern und der SPD-Bundestags- namik. Vorbehaltlich der Entscheidung in der Koali- fraktion herbeizuführen. tion: Ich kann mir nicht vorstellen, daß irgend je- mand - einschließlich der Opposition - in der Bun- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) desrepublik Deutschland etwas dagegen haben Meine Damen und Herren, ein weiteres Thema: kann, wenn wir zeitlich befristet das fortsetzen, was - Bei dem in Deutschland jetzt modisch gewordenen die SPD mitbeschlossen hat, nämlich das Ansteigen wöchentlichen Wettbewerb um die schlechteste der Sozialhilferegelsätze am Ansteigen der Netto- Nachricht ist diese Woche die Sozialhilfe dran. löhne der Arbeitnehmer zu orientieren. (Vorsitz : Vizepräsident Dr. Burkhard (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Hirsch) ordneten der F.D.P.) Deshalb möchte ich an dieser Stelle einige Bemer Ich kann mir nicht vorstellen, daß jemand etwas da- kungen dazu machen. Eine Reform des Bundesso gegen hat. Wollen wir denn vertreten, daß die Ren- zialhilfegesetzes ist in der Koalition vereinbart. Nie ten um 1 % steigen und die Sozialhilfesätze um 5 %? Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995 2241

Bundesminister Horst Seehofer Das wird doch niemand vertreten können! Wer kann Meine Damen und Herren, wer kann denn etwas denn etwas dagegen haben, wenn wir möglicher- dagegen haben, wenn künftig die Sozialhilfeträger - weise eine massive Entbürokratisierung der Sozial- viele Kommunen leisten hier schon vobildliche Ar- hilfe durchführen, beit - Qualifizierungsmaßnahmen, Fortbildungsmaß- nahmen, Lohnkostenzuschüsse bezahlen können (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ oder wenn wir einem Arbeitnehmer, einem Langzeit- DIE GRÜNEN]: Der blanke Hohn!) arbeitslosen, der Arbeit aufnimmt, nicht sofort das volle Einkommen anrechnen, sondern dies, zeitlich indem wir einmalige Beihilfen pauschalieren, um ei- befristet, degressiv gestalten, damit der Anreiz zur nen Riesenverwaltungsaufwand mit Prozessen im Arbeitsaufnahme und der Brückenschlag zur Ar- Gefolge zu verhindern, damit die Sachbearbeiter beitswelt erhalten bleibt? wieder mehr Zeit haben? (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge ordneten der F.D.P.) Meine Damen und Herren, ich bleibe auch dabei - das sagte ich schon zweimal im Deutschen Bundes- Was wird nicht alles zum Lohnabstandsgebot ge- tag; deshalb bin ich jetzt so überrascht, daß das die schrieben! Die Verstärkung der Familienförderung große Bombe sein soll -, daß es eine kleine Minder- und die Erhöhung des Kindergeldes sind die beste heit gibt, die trotz angebotener Arbeit diese nicht Maßnahme zur Erhöhung des Lohnabstandsgebots; aufnimmt. Es gibt schon eine Verpflichtung, wenn denn wenn die Arbeitnehmer mehr Kindergeld be- man gesund ist und eine Arbeit aufnehmen kann, kommen, vergrößert das automatisch den Abstand Selbsthilfe durch Arbeitsaufnahme zu leisten und zwischen einem Sozialhilfeempfänger und einem Ar- seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. beitnehmer mit Kindern. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.) Wir müssen in der Koalition schon darüber reden, ob Deshalb müssen wir auf dieser Schiene weiterfahren. in diesen Ausnahmefällen auch einmal das Umstei- Ist es denn so schlimm, über diesen Punkt nachzu- gen auf eine Sachleistung und die Kürzung der So- denken? Meine Damen und Herren von der SPD, im zialhilfe möglich sein soll. Wie wollen wir denn sonst Föderalen Konsolidierungsprogramm haben Sie ex- solche Menschen motivieren? akt zu diesem Punkt eine Bestimmung mit in das Bundessozialhilfegesetz aufgenommen und zuge- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) stimmt, daß das Lohnabstandsgebot gewahrt bleiben muß. Das wollen wir weiter konkretisieren. Ist denn Lassen Sie mich auch noch etwas zu den Auslän- das so schlimm? dern sagen. Ich bin weit entfernt von einer emotiona- len Diskussion. Ich habe übrigens in den letzten Ta- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) gen in der Öffentlichkeit hierzu überhaupt nichts ge- sagt. Aber einer schreibt etwas, und der nächste Da gibt es Leute, die konstruieren da einen Anschlag schreibt wieder etwas usw. So ist das in Deutschland, auf die Familienpolitik. Ich sage: Die beste Maß- in diesem Wettbewerb. Nichts wird aber verhindern, nahme in Sachen Lohnabstandsgebot ist eine Ver- daß wir eine ordentliche Reform machen. Ich bin stärkung der Familienförderung. Wenn ein Arbeit- ganz sicher, daß ich mich am Schluß auch mit meiner nehmer mit Kindern mehr Kindergeld bekommt, ver- Kollegin Cornelia Schmalz-Jacobsen in einer großen größert sich automatisch der Abstand zu einem So- Harmonie befinden werde. zialhilfeempfänger mit Kindern. Das ist das Richtige. (Zuruf von der F.D.P.: Das hoffen wir!) Was da oft für Unsinn kommentiert und geschrie- ben wird! Ich kann mir nicht vorstellen, daß das be- Aber, meine Damen und Herren, es gehört auch währte Prinzip aus der Krankenhausreform in der So- zur Wahrheit - das sage ich jetzt sehr differenziert zialhilfe nicht Platz greifen soll. Die Ausgaben für die daß jeder dritte Bezieher von Hilfe zum Lebensun- stationären Einrichtungen in der Sozialhilfe sind um terhalt Ausländer ist. Jetzt wiederhole ich das, was 170 % gestiegen, die Zahl der Sozialhilfeempfänger ich hier schon einmal gesagt habe - das sage ich nur um 25 %. Wir haben hier die gleiche Kostenex- nicht vorwurfsvoll; ich sage es aus folgender Überle- plosion wie bei den Krankenhäusern. Wollen wir gung -: Wir nehmen viele Zuwanderer, Bürgerkriegs- denn warten, bis die Kostensteigerungen in den sta- flüchtlinge auf. Ich bin auch dafür, daß man Men- - tionären Einrichtungen der Sozialhilfe dazu führen, schen, die um ihr Leben fürchten müssen, die in ei- daß wir die notwendigen Hilfen für Kranke, Pflege- nem Bürgerkriegsgebiet leben, daß wir Frauen und bedürftige und Behinderte in der Sozialhilfe nicht Kindern aus solchen Regionen vorübergehend mehr bezahlen können? Warum können wir nicht Schutz gewähren. Das gehört zu einer kultivierten auch hier das gleiche Prinzip verwirklichen, daß die Gesellschaft. Das möchte ich dick unterstreichen. Pflegesätze in den Einrichtungen nicht stärker stei- gen können als die Löhne? Wer will dagegen etwas (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) haben? Nur, meine Damen und Herren, wenn die Gesell (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) schaft der Bundesrepublik Deutschland - Gott sei 2242 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995

Bundesminister Horst Seehofer Dank - bereit ist, Menschen vorübergehend Schutz werfen müssen und die Kosten dann anschließend zu gewähren, wenn hierdurch Sozialhilfebedürftig- vom Sozialversicherungsträger wieder erstattet be- keit ausgelöst wird und aus diesem Grunde die Zahl kommen. der Sozialhilfeempfänger steigt, dann dürfen wir nicht zulassen, daß die steigende Zahl von Sozialhil- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) feempfängern gegen diese Gesellschaft und gegen Meine Damen und Herren von der SPD, wir wer- die Politik gewendet wird, indem man sagt: Jetzt ha- den darüber öffentlich diskutieren, wenn die Koali- ben wir die neue Armut in Deutschland. tion ihre Entscheidungen dazu getroffen haben wird. Das werden wir in aller Ruhe tun. Das müssen wir (Beifall bei der 'CDU/CSU und der F.D.P. - nicht mit Hektik machen. Dann werden wir darüber Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ mit der Bevölkerung öffentlich diskutieren und auch DIE GRÜNEN]: Jetzt ist es vorbei mit dem die Argumente darlegen. Ich habe jetzt einmal die Sozialreformer! - Weitere Zurufe von der wirklich wichtigen Argumente dargelegt und nicht SPD) über das gesprochen, worüber in der Öffentlichkeit Deshalb, Frau Fuchs, lassen mich viele Kommentare, oft mit Halbwahrheiten und begrifflichen Verschie- Meinungsumfragen usw. völlig kalt. bungen diskutiert wird. Auch hierzu kann ich abso- lut stehen. (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ Das Sozialhilfegesetz bleibt die dritte Säule unse- DIE GRÜNEN]: Jetzt wird die Sau rausge res Sozialstaats. Neben der Sozialversicherung und lassen! - [CDU/CSU]: Keine der Versorgung steht die Sozialhilfe. Niemand Unanständigkeiten!) braucht sich zu schämen, wenn er als Behinderter, Frau Fuchs, wenn ich differenziert mit Menschen als Pflegebedürftiger, als Geschiedener, als Alleiner- spreche, also nicht schwarz-weiß malend und nicht ziehender Sozialhilfe in Anspruch nehmen muß. Das polemisch, dann sagen mir die Menschen: Lassen Sie gehört zu einem Sozialstaat, wenn er seinen Namen sich nicht beeindrucken! Mir haben heute wieder zu Recht tragen will. Die Sozialhilfe mit einer men- Menschen gesagt: An diesem Beispiel sieht man, wie schenwürdigen Ausstattung bleibt erhalten. weit sich Sozialdemokraten schon von unserer Ge- (Beifall bei der CDU/CSU) sellschaft entfernt haben. Sie sind nicht einmal mehr bereit, über so etwas zu reden. Ich bedanke mich bei allen Mitgliedern des Haus- haltsausschusses. Es ist ja nichts Neues, daß dort die (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Atmosphäre immer besser ist als bei den Reden hier im Plenum. Ich bedanke mich insbesondere dafür, Nun noch kurz zu dem gerechteren Einsatz von daß wir bei der Lösung eines sehr schwierigen Pro- Sozialhilfemitteln: Meine Damen und Herren, in blems eine sehr gute Unterstützung bekommen ha- meinem Konzept, das ich der Koalition vorschlagen ben, nämlich vom Kollegen Roland Sauer und allen möchte, steht auch, die Bezahlung von Behinderten- anderen Berichterstattern. arbeit in Werkstätten zu verbessern, weil das, was die Behinderten dort heute bezahlt bekommen, nicht (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ gerecht ist. DIE GRÜNEN]: Jetzt wird er wieder pasto- ral!) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Ich möchte mich dafür bedanken, daß wir die Zahl Darüber schreibt niemand - oder die wenigsten. Es der Planstellen für die Außenstellen unserer Institute gehört auch zu meinem Konzept, zu versuchen, Ob- in Berlin und in den neuen Bundesländern weitge- dachlosigkeit künftig da und dort zu verhindern, in- hend erhalten konnten und daß dadurch die Schlie- dem wir die Sozialhilfe verstärkt in die Lage verset- ßung von Instituten in den neuen Bundesländern ver- zen, Dauermietschulden zu übernehmen und damit hindert werden konnte. eine Zwangsräumung zu verhindern. Auch das ist ein humaner Ansatz. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Frau Fuchs, daß Sie in diesem Zusammenhang (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge meine Staatssekretärin gelobt haben und nicht mich, ordneten der F.D.P.) trifft mich sehr und bereitet mir eine schlaflose Nacht. Ich sage als letztes etwas zur gerechteren Ausge- staltung unseres Sozialsystems. Ich greife einen Vor- (Heiterkeit - Anhaltender Beifall bei der - schlag, den zum erstenmal im Bundestag ge- CDU/CSU - Beifall bei der F.D.P.) äußert hat, gern auf. Es könnte in Deutschland 400 000 Sozialhilfeempfänger weniger geben, wenn andere Sozialsysteme und Sozialversicherungen, bei Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Meine verehr- denen ein Antrag gestellt ist, bei denen aber keine ten Kolleginnen und Kollegen, wenn Sie die Tatsa- Vorschüsse gewährt werden oder die Bearbeitungs- che berücksichtigen, daß die meisten Zwischenrufe, zeit zu lange dauert, dort, wo ein Anspruch dem wenn es zu viele werden, doch nicht verstanden wer- Grunde nach berechtigt ist, selbst verstärkt mit Vor- den und also auch keine Aufnahme ins Protokoll fin- schüssen arbeiten würden, damit nicht die Sozialhil- den, gehen Sie mit diesem wichtigen Instrument viel- feträger für einige Wochen einen Riesenapparat an leicht etwas gezielter um. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995 2243

Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch Ich erteile das Wort zu einer Kurzintervention dem Klaus Kirschner (SPD): Dann, Herr Präsident, Abgeordneten Klaus Kirschner. werde ich die Presseerklärung zu Protokoll geben. (Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ (Zurufe von der CDU/CSU: Das geht nicht!) CSU]: Schon wieder?) Ich will hier nur erklären: Bei dem, was der Herr Kollege Seehofer zitiert hat, weiß ich nicht, woher er Klaus Kirschner (SPD): Herr Präsident! Nachdem das hat. Das entspricht auf jeden Fall nicht dem, was der Minister Seehofer mich zitiert hat - ich weiß aller- in dieser Presseerklärung steht. dings nicht, von wo er diese Meldung hat und wor- (Beifall bei der SPD) aus er zitiert hat -, möchte ich die Pressemitteilung, die der Kollege Schmidbauer und ich abgefaßt ha- ben, darstellen. Deshalb möchte ich mir erlauben, Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Minister dem Parlament diese Pressemitteilung vorzulesen, Seehofer, wollen Sie dem entgegnen? - Bitte schön. damit das klar und deutlich korrigiert wird. (Dr. Peter Struck [SPD]: Das muß doch nicht (Lachen und Zurufe von der CDU/CSU und sein! Er kann das vom Platz aus machen, der F.D.P.) Herr Präsident!) - Es mag Ihnen gefallen oder nicht. Sie haben vorhin ja so lange Beifall geklascht; jetzt können Sie sich Horst Seehofer, Bundesminister für Gesundheit: das auch noch anhören: Also ganz kurz. 1. „Billiglösung" widerspricht humanitären und Herr Kollege Kirschner, mir liegt eine Pressemittei- sozialstaatlichen Prinzipien. Lediglich 250 Millio- lung vom 29. März 1995 vor: Klaus Kirschner, Horst nen DM für die Opfer der größten deutschen Arz- Schmidbauer, MdB. Diese Pressemitteilung umfaßt neimittelkatastrophe. drei Seiten und schließt mit einem Fazit ab: Eine solche Billiglösung ist völlig unakzeptabel Bleibt es bei dem lächerlich geringen Angebot für die Opfer und damit auch für die SPD. Nach der Pharmaindustrie, sollte man auf ihren Beitrag dem Vorschlag, den das Gesundheitsministerium verzichten und statt dessen die vom Untersu- nach monatelangen Verhandlungen heute dem chungsausschuß als dritte Alternative angegebe- Ausschuß vorlegte, sollen die Menschen ein ne Lösung ins Auge fassen: zweites Mal für den Verlust von Gesundheit und Der Staat tritt sofort mit den Beiträgen von Bund Leben abgespeist werden, während die Pharma- und Ländern in Vorleistung, läßt sich von den Be- industrie sich lediglich mit 100 Millionen DM aus troffenen deren Haftungsansprüche abtreten und ihrer Verantwortung freikaufen will. macht sie zum Beispiel in Musterprozessen ge- 250 Millionen DM bedeuten für die mehr als gen die Pharmaindustrie geltend. 2 000 Opfer und ihre Angehörigen im Einzelfall (Beifall bei der SPD) lediglich eine Entschädigungssumme von etwas mehr als 100 000 DM. Den einstimmigen Empfeh- Daraufhin habe ich gesagt: Die Ministerpräsiden- lungen aus dem 3. Untersuchungsausschuß ten der SPD bekommen morgen von mir ein Schrei- „HIV-Infektionen durch Blutprodukte" und der ben, ob sie dies bestätigen, was für die Länder nicht aktuellen Praxis der Rechtsprechung wird die 12,5 Millionen DM im Jahr bedeuten würde, sondern vorgeschlagene Lösung nicht gerecht. um die 300 Millionen DM. Wenn sie das nicht bestäti- gen, sondern das bestätigen, was sie mir am Montag 2. Pharmaunternehmen und Rückversicherer gesagt haben, dann haben Sie den Mund zu voll ge- drücken sich um ihre Verantwortung nommen, und dann treffen wir uns hier wieder. Ungerecht, unsozial und unsinnig ist die Vorstel- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) lung, daß nicht die primär verantwortliche Phar- maindustrie (die milliardenschwere Geschäfte mit dem Blut macht!), sondern die öffentliche Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich schließe die Hand für den größten Teil des Schadens aufkom- Aussprache. men soll. Wir kommen damit zur Abstimmung über den Ein- Während die Versicherer der Pharmaindustrie zelplan 15. Dazu liegt ein Änderungsantrag der Frak- aus ihrem mit Hunderten von Millionen DM prall tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auf Drucksache 13/ gefüllten Geldsack - dem für Arzneimittel-Groß- 882 vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer diesem risiken aus zu 75 % steuerfrei (!) gestellten Rück- Änderungsantrag zustimmt, bitte ich um das Zei- lagen gebildeten - chen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Damit ist der Änderungsantrag abgelehnt.

Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege, Wir kommen nun zur Abstimmung über den Ein- Sie müssen zum Schluß kommen. Es tut mir leid, Ihre zelplan 15 in der Ausschußfassung. Wer dem Einzel- Redezeit ist abgelaufen. plan zustimmt, bitte ich um das Handzeichen. - Ge- genprobe! - Stimmenthaltungen? - Damit ist der Ein- (Beifall bei der CDU/CSU) zelplan 15 angenommen. 2244 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995

Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch Ich rufe auf: Stand des Umweltbewußtseins seiner Bevölkerung und der ökologischen Erkenntnisse seiner Wissen- Einzelplan 16 schaften entsprechend im besten Sinne politisch Ein- fluß auszuüben. Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Da darf man sich natürlich nicht hinter den Zaude- rern in der EU oder in den USA verstecken, und man - Drucksachen 13/516, 13/527 - darf auch nicht Blockaden der OPEC-Länder als Berichterstattung: Schicksal hinnehmen. Es hätte uns gut angestanden, den Vorschlag der 36 kleinen Inselstaaten nicht nur Abgeordnete Eckart Kuhlwein sympathisch zu finden, Frau Merkel, sondern konse- Kristin Heyne quent auch zu unterschreiben. Arnulf Kriedner Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Dazu liegt je ein Änderungsantrag der Fraktion Die Bundesregierung hat die Chance verpaßt, mit der SPD und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- einem eigenen Protokollentwurf für den Klimagipfel NEN vor. die erstarrten Fronten in Bewegung zu bringen. Der Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Umweltministerin unterstelle ich, daß sie sich in der Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich sehe und Zucht des Herrn nicht anders verhalten konnte. höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so be- Wahrscheinlich hat sie aus dem Flop mit der Flug- schlossen. benzinsteuer gelernt. Sie wird bei Karl Valentin nachlesen können, wie man solche Vorgänge be- (Unruhe) schreibt: Ich bitte die Kollegen, die der Debatte nicht folgen „Wollen hätte ich schon mögen, aber dürfen habe wollen, vielleicht doch etwas beschleunigt den Saal ich mich nicht getraut. " zu verlassen, damit wir fortfahren können. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Ab- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der geordnete Eckart Kuhlwein. PDS) Die Glaubwürdigkeit umweltpolitischer Sonntags- Eckart Kuhlwein (SPD): Herr Präsident! Meine sehr reden dieser Bundesregierung wird auch als Folge verehrten Damen und Herren! Wenn wir heute im dieses Prozesses weiterhin nachlassen. Die Lücken Bundestag über den Haushalt des Bundesumweltmi- zwischen wohltönenden Bekenntnissen zur Erhal- nisteriums und über die Umweltpolitik der Bundesre- tung der Natur oder zu einer nachhaltigen und um- gierung sprechen, dann läßt sich ein ausführlicher weltgerechten Entwicklung und dem praktischen po- Seitenblick zum Berliner Klimagipfel nicht vermei- litischen Handeln auf der anderen Seite werden im- den. Ich will zwar jetzt nicht alles wiederholen, was mer größer. vor zwei Wochen in der Klimadebatte des Bundesta- ges gesagt worden ist, aber die beschwörenden Re- Wir brauchen uns nicht zu wundern, wenn immer den in Berlin dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, mehr, vor allem auch jüngere Menschen über diese daß die Bundesrepublik Deutschland im Vorfeld die- Art von Politik verdrossen sind. ses Gipfels eine große Chance vertan hat; (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Wenn Sie so (Beifall bei der SPD) reden, kein Wunder!) die Chance nämlich, in der Klimaschutzpolitik selbst Wir brauchen uns nicht zu wundern, wenn öffentli- das beste Beispiel zu setzen und gleichzeitig die Part- che Appelle zur Änderung individueller Verhaltens- ner aus den Industrieländern durch ein eigenes Kon- weisen immer weniger fruchten. zept in Bewegung zu bringen. Man muß das bedauern, aber die ökologische Wenn ich das sage, bin ich weit davon entfernt, für Wende im Verhalten der vielen einzelnen setzt vor- Deutschland eine wie auch immer geartete Füh- aus, daß die Politik deutlich erkennbar eine neue rungsrolle zu reklamieren. Aber wer bei jedem mili- Richtung einschlägt - in der Klimapolitik in Berlin tärischen UNO-Einsatz die Deutschen auffordert, genauso wie in der Agrarpolitik in Brüssel, in der endlich ihrer gewachsenen Verantwortung in der hausgemachten Umweltpolitik von Frau Merkel oder Welt gerecht zu werden, der sollte diese Verantwor- in der Verkehrspolitik von Herrn Wissmann. tung erst recht dann zeigen, wenn es um das Überle- Frau Merkel hat in Berlin die Verantwortung der ben der Menschheit auf diesem Globus geht. Industrieländer angesprochen. Sie hat gesagt - Wort- laut -: (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Nur wenn wir dies durch überzeugendes eigenes Vorangehen belegen, können wir auch von ande- Ich würde gern die jüngsten Thesen des Herrn ren Staaten Handeln für den Klimaschutz einfor- Bundespräsidenten vom Ende des Trittbrettfahrens dern. in diese Richtung interpretieren - in eine Richtung, die Deutschland Pflichten auferlegt, dem hohen (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Da hat sie recht!) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995 2245

Eckart Kuhlwein Dann ist sie wieder nach Bonn gefahren, und ihre Re- Der Haushalt, den wir heute in zweiter Lesung be- gierung macht so weiter, als wäre nichts gewesen, raten, zeigt, daß diese Bundesregierung solche Er- meine Damen und Herren. Solche Widersprüche wol- kenntnisse nicht umsetzen kann oder will. Das gilt len und können die Menschen nicht mehr akzeptie- leider auch - mit Einschränkungen - für den Haus- ren. halt des Bundesumweltministeriums. Mit Einschrän- kungen deshalb, weil wir die Arbeit des Umweltbun- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ desamtes und des Bundesamtes für Naturschutz DIE GRÜNEN) durchaus schätzen, weil wir es richtig finden, daß sich der Bund an der Stillegung von Tschernobyl be- Immer mehr Menschen haben in den letzten Jah- teiligt, weil wir schließlich auch Investitionszuschüs- ren gelernt, daß das westliche Modell von Wachstum sen für Kläranlagen in Tschechien oder Polen zur und Entwicklung mit seiner Ausbeutung von Res- Vermeidung grenzüberschreiten der Umweltbela- sourcen nicht auf die ganze Erde ausdehnbar ist. Die stungen nicht widersprechen können. Verteilungskämpfe verschärfen sich bereits. Herr Töpfer hat angemerkt, daß dies jetzt Ursache auch Aber wir können es z. B. nicht akzeptieren, daß die für zusätzliche Kriege geworden sei. Die bisherigen Pilotprojekte im Inland, nämlich die Förderung sozialdemokratischen Errungenschaften werden in neuer, intelligenter rohstoff- und energiesparender Frage gestellt. Verfahren, um 25 % auf nur noch 92 Millionen DM gekürzt werden sollen. Und genauso fragwürdig ist Wenn das richtig ist, dann kann sich eine verant- es, wenn vom Gesamtetat eines Ministeriums von wortliche Bundesregierung nicht in den Kanzlerstuhl etwas mehr als 1,3 Milliarden DM mehr als zurücklehnen und den unbeteiligten Beobachter 600 Millionen DM unter der Rubrik Reaktorsicher- spielen. Dann müssen wir von der Bundesregierung heit im weitesten Sinne ausgegeben werden müssen, vielmehr erwarten, daß gestaltet und gehandelt wird. wobei zugegebenermaßen - das müssen Einge- Das muß heißen, Wirtschaft und Gesellschaft ökolo- weihte dann auch wissen - rund 500 Millionen DM gisch zu modernisieren, soziale Gerechtigkeit wie- refinanziert werden durch diejenigen, die radioakti- derherzustellen und internationale Verantwortung ven Abfall produzieren. durch eine Politik der dauerhaften Entwicklung im Inneren und nach außen zu übernehmen. Für die eigentliche Umweltpolitik bleibt in dem so genannten Ministerium danach nicht mehr viel (Beifall bei der SPD) übrig. Die Ministerin verweist deshalb gern darauf, Das ist natürlich etwas anderes als die bloße Ver- daß dieses Ministerium eben in erster Linie ein Ge- waltung von Strukturen und Besitzständen. Das setzt setzgebungsministerium sei, das nur wenig Geld für den Mut zur Veränderung, zu Reformen voraus. Im- Programme auszugeben habe; für die Programme mer mehr Menschen haben verstanden, daß Refor- seien andere Gebietskörperschaften und andere Mi- men notwendig sind, wenn wir morgen sicher leben nisterien zuständig. wollen. Eine ökologische Neuorientierung der Poli- Dafür gibt es dann eine stolze Liste der Umwelt- tik würde neue Kreativität freisetzen, würde die Bür- ausgaben aller Bundesressorts, gergesellschaft zum Mitmachen ermuntern und ei- nen neuen gesellschaftlichen Grundkonsens fördern, (Zuruf der Abg. Birgit Homburger [F.D.P.]) der Solidarität an die Stelle einer immer unerbittli- cher werdenden Ellenbogengesellschaft treten las- die sich auf sagenhafte 8,33 Milliarden DM summie- sen könnte. ren, Frau Homburger, nicht gerechnet Umweltkre- dite bundeseigener Banken - ich zähle das hier alles Meine Damen und Herren, viele Bürgerinnen und auf - mit einem Volumen von noch einmal 5 Milliar- Bürger an der Drehbank, am Computer, in der Wis- den DM. Gemessen am gesamten Haushaltsvolumen senschaft, im Dienst am Mitmenschen, in Umwelt- von rund 480 Milliarden DM sind das sicherlich be- schutzverbänden und Bürgerinitiativen warten auf scheidene Summen. ein Signal der Neuorientierung. Aber sie haben es von dieser Bundesregierung und auch von dieser Sieht man einmal kritisch durch, was die Ministe- Bundesministerin bisher nicht bekommen. rien bei Frau Merkel als Umweltvorhaben angemel- Dabei hätte eine solche Wende zur nachhaltigen det haben, so reicht dort die Palette von der Beseiti- Entwicklung, in der die Menschen wirtschaften gung der Folgen der Sturmschäden noch vom Früh- könnten, ohne Natur und Umwelt weiter zu zerstö- jahr 1990 über die Kanalreinigung von Bundeswehr- ren, auch die ökonomische Rationalität auf ihrer grundstücken Seite: Das Land, das regenerative Energiequellen ko- (Karl Diller [SPD]: Was?) stengünstig einsetzt, das Land, das Energie und Roh- stoffe optimal zu nutzen gelernt hat, das Land, das bis hin zu Lärmschutzmaßnahmen an einem Trup- möglichst geschlossene Stoffkreisläufe aufweisen penübungsplatz. Das ist Umweltpolitik in den ande- kann, dieses Land braucht sich um seine internatio- ren Ressorts, Frau Merkel. Wer solche Maßnahmen nale Wettbewerbsfähigkeit am wenigsten zu sorgen; unter Umweltpolitik verbuchen will, verdient den denn früher oder später werden auch unsere Partner Vorwurf der versuchten Volksverdummung. in aller Welt mit der ökologischen Erneuerung begin- nen müssen. (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der SPD) GRÜNEN und der PDS) 2246 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995

Eckart Kuhlwein Er müßte überdies die verheerenden Umweltschäden Das Bundesumweltministerium ist auch für die I gegenrechnen lassen, die sich z. B. durch den Bun- Entsorgung bestehender Kernkraftwerke zuständig. desfemstraßenbau, die Förderung von Überschuß- Wir als SPD werden daran nur mitarbeiten, wenn bei produktionen in der Landwirtschaft oder die Finan- den anstehenden Energiekonsensgesprächen ein zierung militärischer Tiefflugübungen ergeben. Ausstieg aus der heutigen Kernkraftnutzung verein- bart wird und damit die Mengen radioaktiver Ab- Wir fordern die Bundesregierung deshalb auf, die fälle, die wir noch zu erwarten haben, begrenzt wer- Kriterien für die Bewertung der Ausgaben der Bun- den können. desressorts als Umweltschutzmaßnahmen offenzule- gen und konkrete Angaben auch über die Haushalts- (Beifall bei der SPD) titel zu machen, die zu Umweltschäden und Natur- Wir fordern auch, daß die Entsorgungsanlagen, vor zerstörungen führen werden. Was wir brauchen, allem die Endlager, nicht auf Niedersachsen konzen- meine Damen und Herren, ist eine Umweltverträg- triert bleiben. lichkeitsprüfung für den gesamten Bundeshaushalt, wenn wir uns umweltpolitisch nicht weiter in die (Walter Hirche [F.D.P.]: Schleswig-Holstein!) eigene Tasche lügen wollen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Wer im Süden Deutschlands das Hohelied der Kern- DIE GRÜNEN) energie singt, der muß sich gefallen lassen, Umweltpolitisch ist natürlich auch höchst fragwür- (Birgit Homburger [F.D.P.]: Erzählen Sie das dig, was im Haushalt für Reaktorsicherheit und doch einmal dem Herrn Schäfer!) Strahlenschutz sowie für die Endlagerung von radio- aktiven Abfällen ausgegeben wird. Wer immer be- daß auch in seinem Land Endlagerstätten für den hauptet, die Kernenergie sei eine besonders kosten- strahlenden Abfall gesucht werden - ob er nun Stoi- günstige Art der Stromerzeugung, der sollte sich ge- ber heißt oder Teufel, Frau Homburger. legentlich auch diese Zahlen ansehen. Was könnte (Beifall bei der SPD - Birgit Homburger man mit über 600 Millionen DM nicht alles an Ener- [F.D.P.]: Oder Schäfer!) gie sparen oder an regenerierbaren Energieträgern fördern, die eine nachhaltige Entwicklung sichern Deshalb wollen wir in Deutschland Standorte in ver- und keine radioaktiven Abfälle produzieren! schiedenen geologischen Formationen untersuchen Dabei sind die Endlager ja nicht alles: Auf lassen. Und wir wollen sicherstellen, daß Zwischenla- 3,6 Milliarden DM schätzt die Bundesregierung al- ger nicht zu faktischen Endlagern umfunktioniert lein ihren eigenen Anteil an den Stillegungs- und werden. Rückbaukosten alter Kernkraftwerke und kerntech- Meine Fraktion hat deshalb heute auf Drucksache nischer Anlagen in den alten Ländern. Das sind doch 13/971 einen Antrag, bestehend aus zwei Teilen, zur keine Peanuts, obwohl wir uns ja an einiges gewöhnt Abstimmung vorgelegt. Unter Nr. 1 wollen wir die für haben. Trotzdem hält Frau Ministerin Merkel die Gorleben aufgewandten Mittel erheblich kürzen, Kernenergie für eine „verantwortbare Art der Ener- gieerzeugung". Sie bekennt sich zu diesem Bereich (Karl Diller [SPD]: Ja!) als einem finanziell bedeutsamen Teil ihrer Umwelt- politik. weil wir an der Eignung als Endlagerstandort starke Wer den Einsatz dieser Dinosauriertechnologie für Zweifel haben. In Gorleben soll nur noch so viel inve- ökologisch verträglich hält, der hat von den Heraus- stiert werden, wie für die Schaffung endgültiger Ent- forderungen der Zukunft nichts begriffen. scheidungsgrundlagen und gegebenenfalls für die Abwicklung der Einrichtung erforderlich ist. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Dr. Jürgen Rochlitz [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- GRÜNEN] und Rolf Köhne [PDS]) ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Die SPD hält am Ziel des schnellstmöglichen Aus- Wir fordern dafür unter Nr. 2 unseres Antrages auf stiegs aus der Atomkraft fest: Drucksache 13/971 einen neuen Titel „Erkundung von neuen Standorten zur Sicherstellung und Endla- (Rolf Köhne [PDS]: Hört! Hört!) gerung von radioaktiven Abfällen (Standorterkun- weil wir auch bei deutschen Reaktoren Katastrophen dung)" , um die Untersuchung von Standorten in ver- nicht mit Sicherheit ausschließen können und weil schiedenen geologischen Formationen zu ermögli- das Schadensausmaß dann unabsehbar wäre, chen. Wir bitten für beide Teile des Antrages um Zu- - stimmung. (Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Lauter Phantaste!) weil die Entsorgung weltweit nicht gesichert ist und Den Antrag von BÜNDNIS 90/GRÜNE müssen wir weil wir nicht noch eigene Beiträge zum illegalen in- leider ablehnen. Frau Heyne, Sie haben eine ganze ternationalen Handel mit waffenfähigen Kernbrenn- Reihe von Forderungen aufgelistet - und alles in ei- stoffen liefern wollen. nem Antrag verpackt -, denen man zum Teil mit Wohlwollen begegnen könnte und sollte. Da steht (Beifall bei der SPD - Ulrich Heinrich manches Richtige drin, vieles ist nicht ganz zu Ende [F.D.P.]: Wo kommt das denn her, Herr Kol gedacht. Wie Sie in sieben Monaten die gesamte Er- lege?) kundung von Endlagerstätten auf Null stellen wol- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995 2247 Eckart Kuhlwein len, ist mir schleierhaft. Das meiste davon ist in 1995 Übrigens ist das auch die Kritik, die ich an BÜND- ohnehin so nicht mehr umsetzbar. Wir sollten für den NIS 90/DIE GRÜNEN richte. Man kann sich bei Haushalt 1996 rechtzeitig über einige wichtige Haushaltsberatungen nicht hinstellen und so tun, als Punkte des Antrags ins Gespräch kommen. ob dieses Problem gar nicht existiere, und die gesam- ten Beträge aus dem Haushalt herausstreichen wol- Zum Abschluß möchte ich mich bei den Kollegin- len. Was machen wir dann mit dem Problem? nen und Kollegen aus dem Haushaltsausschuß, die am Einzelplan 16 mitberaten haben, für die weit Das gleiche gilt für die Endlagerung. Das ist das überwiegend sachliche Auseinandersetzung bedan- berühmte Sankt-Florians-Prinzip: Jeder schiebt die ken und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Probleme in irgendein anderes Bundesland, wo er Bundesumweltministeriums und seiner nachgeord- vielleicht zufällig nicht die Verantwortung hat. So neten Behörden sagen, daß ich auch als Oppositions- leicht kann man es sich bei einem Problem wie die- politiker ihren Rat und ihre Fachkunde schätzenge- sem nicht machen. lernt habe. Sie, Herr Kollege Kuhlwein, haben hier von einer Dinosauriertechnologie gesprochen. (Beifall bei der SPD - Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sie müssen sie auch befolgen!) (Karl Diller [SPD]: Das ist zutreffend!) Wir lehnen - Sie werden das nicht anders erwar- Ich kann Ihnen nur sagen: Auch darüber wird in Ih- ten - den Einzelplan 16 ab. ren eigenen Reihen ganz trefflich gestritten, ob dem so ist, wie Sie behauptet haben. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. (Walter Hirche [F.D.P.]: Genauso ist es im (Beifall bei der SPD) Europaparlament!) Ich stelle hier fest - das tue ich mit Blick auf Ihre gesamte Kritik; jetzt lasse ich einmal die Fragen nach Das Wort hat Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: der Reaktorsicherheit, Endlagerung, Zwischenlage- der Abgeordnete A rnulf Kriedner. rung weg -: Die deutsche Umweltpolitik gilt weltweit als Gütesiegel auf diesem Gebiet. Arnulf Kriedner (CDU/CSU): Herr Präsident! (Beifall bei der CDU/CSU) Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kol- lege Kuhlwein, zunächst einmal kann ich mich, in ei- Das sollten Sie sich einmal verinnerlichen. Das wird nem etwas kürzeren Teil, Ihrem Dank an die Mitbe- Ihnen von jedem gesagt, wenn Sie in Berlin aufmerk- richterstatter anschließen und vor allen Dingen für sam zuhören oder wenn Sie irgendwo in der Welt die ausgezeichnete Vorbereitung im Ministerium be- umherreisen. danken. Frau Ministe rin, ich muß sagen: Uns wurde (Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Aber das haben wirklich jeder Wunsch nach Beschaffung von Unter- wir nicht durch Technikfeindlichkeit er- lagen erfüllt, und das in einer Art und Weise, die ich reicht!) als kritikfrei bezeichnen würde. Ein herzliches Dan- keschön für diese hervorragende sachliche Vorberei- - Das haben wir sicher nicht durch Technikfeindlich- tung. keit erreicht, Herr Kollege. Ich stimme mit Ihnen völ- (Beifall bei der CDU/CSU) lig überein. Ich glaube, Sie haben Ihren Warenhauskatalog an Der Kollege Kuhlwein hat eben den üblichen der falschen Stelle ausgebreitet. Rundumschlag der Opposition zu be treiben versucht. Wenn ich einmal mit dem letzten Punkt, als Sie etwas Ich will im Gegensatz zu Ihnen den Versuch ma- zur Reaktorsicherheit gesagt haben, beginnen darf: chen, keine umweltpolitische Grundsatzrede zu hal- Auch da sind Ihnen die GRÜNEN überlegen. Die ha- ten. Das kann nicht Gegenstand der Haushaltsde- ben eine in sich schlüssige Politik auf dem Gebiet, batte sein. Vielmehr will ich versuchen, darüber zu auch wenn ich sie nicht teile. Aber Sie müssen erst sprechen, was der Haushalt als Schwerpunkt in der einmal Ordnung in Ihren eigenen Reihen schaffen Umweltpolitik insgesamt aufweist. Da müssen Sie und dafür sorgen, daß Sie eine einvernehmliche Li- anerkennen, Herr Kollege Kuhlwein - Sie haben das nie haben; denn das, was Sie hier gesagt haben, ist auch in einem eleganten Nebensatz vereinnahmt -, nicht die Linie Ihrer Partei. daß Naturschutzgroßobjekte z. B. eine Steigerungs- rate von 9 % im Bundeshaushalt aufweisen und jetzt (Eckart Kuhlwein [SPD]: Doch!) 40 Millionen DM ausmachen. - Na ja, ich sage, das ist nicht die Linie Ihrer Partei, Sie müssen anerkennen- und auch das haben Sie wenigstens stellen Sie sie nicht so dar. Das ist das er- auch in einem eleganten Nebensatz gesagt, aber Sie ste. Das zweite, Herr Kollege Kuhlwein, ist: Es ist haben es nicht so deutlich formuliert -, daß etwa mit eine Augenwischerei, wenn Sie sich hier hinstellen den Hilfen, die wir Nachbarstaaten geben - das sind und Fragezeichen hinsichtlich der Reaktorsicherheit im Grunde Hilfen für uns selbst -, nämlich der Tsche- setzen, obwohl Sie genau wissen, daß dies ein Rie- chei oder Polen, Projekte von uns unterstützt werden, senproblem ist, das gelöst werden muß. Und es ist die für Deutschland und unsere Nachbarländer von klar, daß dafür auch Finanzen eingesetzt werden großer Wichtigkeit sind; etwa die Rauchgas-Ent- müssen. schwefelungs- und Entstaubungsanlage in Tisora 2248 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995

Arnulf Kriedner oder die Sanierung des Braunkohlekraftwerks in für Projekte gemeinnütziger Träger insgesamt Leutensdorf, die ökologische Klärschlammverbren- 3,5 Millionen DM erbringt. flung, modellhafte kommunale Kläranlagen im Ein- (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: zugsgebiet der Elbe auf dem Gebiet der Tschechei oder die Großkläranlagen in Polen. Ich finde, da geht Peanuts!) Deutschland beispielhaft in seine Nachbarländer - Wenn Sie das für Peanuts halten, dann sagen Sie und tut etwas. das doch laut! Ich halte 3,5 Millionen DM, die insge- samt in über dreißig Projekte gemeinnütziger Träger Dann noch etwas zum Aktionsprogramm Tscher- fließen, für eine ausgesprochen gute Sache. Diese Ja, meine Damen und Herren, wer denn in nobyl. Sonderbriefmarken sind eine hervorragende Gele- der Welt tut auf diesem Gebiet im Ausland mehr als genheit, das zu ermöglichen. die Bundesrepublik Deutschland? Addieren Sie doch einmal die Beträge, die da zusammenkommen! Al- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) lein in diesem Jahr eine Rate von 15 Millionen DM, bis 1997 insgesamt 53 Millionen DM für dieses Pro- Auch wenn ich der Koalition angehöre: Natürlich jekt. Der multilaterale Sicherheitsfonds in den mittel- habe ich meine Probleme damit - da treffen wir uns, und osteuropäischen Ländern wird im wesentlichen Herr Kollege Kuhlwein -, daß die Möglichkeiten zu von unserem Land gespeist, insgesamt mehr als Kürzungen in einigen Bereichen erschöpft sind. Ich 200 Millionen DM zur Sanierung und Steigerung der sage Ihnen ganz deutlich: Etwa bei der Förderung Sicherheitsstandards in diesen Staaten. von Umweltschutzprojekten und auch beim Natur- schutz hätte ich mir mehr gewünscht. (Dr. Jürgen Rochlitz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist die falsche Richtung!) (Zustimmung bei Abgeordneten der SPD) Wir werden im nächsten Haushalt gemeinsam dar- - Das ist ein falscher Ansatz? Tschernobyl sanieren über reden müssen, ob nicht in der Tat die Unter- zu helfen, ist für Sie ein falscher Ansatz? Wenn Sie grenze endgültig erreicht ist. Denn wenn man drei diese Meinung vertreten, dann tun Sie mir wirklich Jahre hintereinander bei einem so wichtigen Zu- leid, Herr Kollege; denn dann diskutieren Sie an den kunftsprojekt spart - auch da stimme ich mit Ihnen Problemen dieser Welt total vorbei. überein -, dann muß man einmal darangehen und sa- (Eckart Kuhlwein [SPD]: Wir sind der Mei gen: Jetzt müssen wir wieder etwas draufpacken. Ich nung, daß Tschernobyl stillgelegt werden glaube, dieser Punkt ist erreicht. muß!) Lassen Sie mich eine letzte Bemerkung machen. - Der Meinung bin ich übrigens auch. Das ist zwi- Ich habe vorhin sehr aufmerksam Herrn Minister schen uns einvernehmlich. Nur, der Kollege will Seehofer zugehört, als er gesagt hat, in seinem Be- überhaupt nichts im Haushalt dafür haben, und das reich seien die Fragen für die im Osten Tätigen zu halte ich für eine falsche Politik. Arbeitsverträgen, die auslaufen, und zu den kw-Ver- merken geregelt. Ich wünsche mir, daß wir dies bei (Beifall bei der CDU/CSU) der nächsten Haushaltsfindung auch für den Bereich, den Sie, Frau Ministerin, zu vertreten haben, regeln Sie haben sich hier, Herr Kollege Kuhlwein, mit können. der Tatsache polemisch auseinandergesetzt, daß diese Regierung den Grundsatz des Verursacherprin- (Zustimmung bei der SPD und beim BÜND- zips verfolgt. Ich sage Ihnen, dies ist der richtige NIS 90/DIE GRÜNEN) marktwirtschaftliche Ansatz. Denn eins haben auch Wir sollten uns eigentlich bei all dem, was uns si- wir schon im anderen Teil Deutschlands, solange es cher bei dem einen oder anderen Punkt trennt, nicht den noch als eigenständiges Staatswesen gab, ge- zu weit auseinanderdividieren lassen, weil wir, wußt: daß ein marktwirtschaftlicher Ansatz allemal glaube ich, in einem Grundsatz übereinstimmen: Für bësser ist als eine staatliche Regelung, die keiner be- Deutschland ist die Frage der Umweltschutztechnik, folgt, und als Gesetze, die vom Staat selbst nicht be- der Umweltschutzpolitik eine Zukunftsfrage, nicht achtet werden. nur um die eigene Zukunft zu sichern, sondern auch (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) um uns mit diesen Projekten im Umweltschutz wirt- schaftlich voranzubringen. Wenn wir in diesem Ich glaube, daß wir hier die richtige Politik verfol- Punkt übereinstimmen und auf unseren Gebieten, gen, indem wir sagen: keine aufgeblähte Staatskon- auf denen wir tätig sind, dafür etwas tun, dann bin trolle, sondern Verursacherprinzip, so daß diejenigen ich zufrieden. die Umweltschäden bezahlen, die sie verursachen, - und nicht der Steuerzahler dafür aufkommen muß. Wir empfehlen, diesen Haushalt anzunehmen, weil wir ihn alles in allem für einen Schritt in die richtige Das Bundesministerium hat in diesem Jahr und im Richtung halten. nächsten Jahr eine wichtige Integrationsaufgabe zu vollziehen: Das Institut für Wasser-, Boden- und Luft- Vielen Dank. hygiene, das vorher beim Bundesgesundheitsamt (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) war, muß integriert werden. Ich weise auf eine Sonderbriefmarke hin, die Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Das Wort hat dankenswerterweise herausgekommen ist und die die Abgeordnete Kristin Heyne. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995 2249

Kristin Heyne (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Es ist aber noch schlimmer gekommen. Nur we- Präsident! Meine Damen und Herren! Der Kollege nige Tage vor dem Weltklimagipfel hat diese Regie- Kriedner hat eben eindrucksvoll die erfolgreichen rung es geschafft, eine Senkung der Strompreise zu- Umweltprojekte der Regierung dargestellt. Der Ein- zulassen. Gegen so einen dicken Köder an der fal- zelplan 16 firmiert unter dem Namen Umwelthaus- schen Stelle kann ein ganzes Heer von tapferen CO2- halt. Ich behaupte: Dieser Name ist Etikettenschwin- bekämpfenden Umweltbeamten nicht anpieksen. del. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sowie bei Abgeordneten der SPD) Der Kollege Weng, der Mitberichterstatter im Be- Das Spannende an Haushaltsplänen ist, daß sie un- reich der Umwelt, der leider immer noch nicht er- abweisbar Realität zeigen. Wenn ich die Realität des schienen ist, Einzelplans 16 einmal mit einem Namen belegen will, dann ist das der Einzelplan für Förderung der (Birgit Homburger [F.D.P.]: Reicht es Ihnen Atomenergie, nochmals Förderung der Atomenergie, nicht, daß ich da bin?) Umweltflickschusterei und ein kleines bißchen Na- turschutz. Das ist mit Zahlen zu belegen - denn und Herr Rexrodt haben sich hier in der Debatte da- darum geht es schließlich im Haushalt -: Der Bereich mit gebrüstet, die Einführung einer weiteren Steuer der Atomenergie und ihrer Folgekosten umfaßt 60 % verhindert zu haben. dieses Etats. Es verbleiben 33 % für die Umwelt und ganze 7 % für den Naturschutz. Meine Herren, beim Ersetzen des Kohlepfennigs durch eine Energiesteuer geht es nicht um irgend- Frau Merkel, Sie sollten fairerweise wenigstens eine x-beliebige Steuer, um ein paar Haushaltslöcher den Namen Ihres Ministeriums umstellen und die Re- zu stopfen. aktorsicherheit nach vorne nehmen. Sie sind in aller- (Birgit Homburger [F.D.P.]: Aber natürlich, erster Linie Ministerin für Atomkraft, und erst unter um was denn sonst? - Gegenruf vom „ferner liefen" sind Sie Ministerin für Umwelt und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Sie haben für Naturschutz. immer noch nichts begriffen!)

Ich habe von 33 % Umweltflickschusterei gespro- Nach dem Urteil des Verfassungsgerichts wird der chen. Damit will ich die Arbeit der Mitarbeiterinnen Einstieg in eine Energiesteuer unumgänglich, um und Mitarbeiter im Bundesministerium und in den das Sinken des Strompreises zu verhindern. Gemes- Bundesämtern keineswegs schlechtmachen. Dort sen an den Folgekosten der Erzeugung des Stroms wird sehr engagiert gearbeitet. Aber angesichts der ist er eindeutig zu billig. Strom ist, mit ein bißchen Problemfülle, der geringen Mittel und als Bedien- Weitblick betrachtet, ein hochsubventioniertes Pro- stete dieser Regierung haben sie nicht die Chance, dukt, subventioniert durch die Kosten für die Umwelt mehr als Flickwerk zustande zu bringen. Sie stehen und für die Gesundheitsschäden, und das ist eine mit relativ kleinen und unscharfen Schwertern einer Subvention, die in D-Mark und in Leid zu zahlen Riesenkrake gegenüber, die längst an drei anderen sein wird. Jede auch nur halbwegs auf Nachhaltig- Stellen wildert, wenn sie sie an einer ein bißchen zu- keit und auf Zukunft orientierte Politik muß das Sin- rückgedrängt haben. ken von Strompreisen verhindern.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) sowie bei Abgeordneten der SPD)

Vermutlich würde gezieltes Anfüttern auch mehr hel- Sinkende Strompreise geben auf dem Markt das fen als Nadelstiche mit zu kleinen Schwertern, aber Signal: Energieeinsparung lohnt sich nicht, Erzeu- anfüttern kann natürlich nur, wer über die Vorräte gung regenerativer Energie rechnet sich nicht. Wir verfügt. alle wissen, daß das letztlich eine Milchbubenrech- nung ist, aber, meine Herren und meine Dame von der F.D.P., muß ich als GRÜNE Ihnen wirklich etwas Frau Merkel, als wir hier das Vetorecht für Um- weltbelange im Kabinett gefordert haben, da haben über die Mechanismen der freien Marktwirtschaft er- Sie dies als unnötig zurückgewiesen. Sie haben ge- klären? sagt, alle Aspekte der Politik werden dort gleichwer- (Zuruf von der F.D.P.: Sie können es ja mal tig verhandelt. Offenkundig gibt es aber durchaus versuchen!) gleichere Minister, die so etwas wie ein Vetorecht ha- ben. Sonst müßten Sie nicht heute und in dieser Wo- Frau Merkel, als Umweltministerin hätten Sie ge- che in Berlin vor der ganzen Weltöffentlichkeit mit gen die Senkung der Strompreise Sturm laufen müs- leeren Händen dastehen. sen. Ihr Sturm war eher ein laues Lüftchen, etwa den 33 % Umweltschutz im Haushalt entsprechend. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD - Birgit Als 60-%-Ministerin für Reaktorsicherheit sind Sie Homburger [F.D.P.]: Das ist doch gar nicht sicher mit einer Strompreissenkung ganz einverstan- wahr! Sie haben nicht mitbekommen, was den. Der Reaktorschutz erweist sich also hier eher als national läuft, überhaupt nichts!) Schutz der Atomindustrie. 2250 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995

Kristin Heyne Der Löwenanteil des Einzelplans 16 - mehr als eine Den Einzelplan 16, den Einzelplan für Reaktorsi- halbe Milliarde DM - ist für die Suche nach Endla- cherheit und den Schutz der Atomindustrie, wird gerstätten für radioaktiven Müll vorgesehen. Diese meine Fraktion ablehnen. Suche - Herr Kriedner, das sage ich auch auf Ihre Frage - wird vergebens sein, weil eine sichere Endla- Danke schön. gerung für Hunderttausende von Jahren weltweit (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nicht zu realisieren ist. sowie bei Abgeordneten der SPD und der PDS) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der PDS) Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Zu einer Kurz- intervention erteile ich dem Abgeordneten Steffen Endlagersuche macht erst dann Sinn, wenn eine Kampeter das Wort. eindeutige und kurzfristige Ausstiegsvereinbarung getroffen ist. Dann kann bilanziert werden, welcher Steffen Kampeter (CDU/CSU): Frau Kollegin Endlagerbedarf tatsächlich noch für den Müll be- Heyne, Sie haben in Ihrer Rede versucht, den Stel- steht, und dann kann die am wenigsten schlechte Lö- lenwert der Umweltpolitik in der Bundesrepublik an sung gesucht werden. Eine gute oder vielleicht sogar Haushaltsanteilen festzumachen. Als Mitglied im eine sichere Lösung gibt es für die Endlagerung von Haushalts- und im Umweltausschuß muß ich dem na- Atommüll nicht. türlich deutlich widersprechen, weil es eine unzurei- chende, da buchhalterische Sicht der Dinge ist. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der Ein Beispiel: Allein mit der Verordnung über PDS) Großfeuerungsanlagen haben wir Investitionen der privaten Wirtschaft in Höhe von 30 Milliarden DM in- Weitere 48 Millionen DM Steuergelder wollen Sie duziert. für Untersuchungen zu Fragen der Sicherheit kern- (Dr. Jürgen Rochlitz [BÜNDNIS 90/DIE technischer Einrichtungen ausgeben. Die wollen wir GRÜNEN]: Das war 1983!) streichen. Forschungen zu einzelnen Sicherheits- aspekten einer insgesamt nicht beherrschbaren Das heißt, die tatsächliche Bedeutung der Umwelt- Technologie täuschen eine Sicherheit vor, die Sie politik läßt sich an vielem ablesen, aber sicherlich letztlich nicht realisieren können, und Sie blockieren nicht an den Positionen im Haushaltsplan 1995 oder Gelder für fortschrittliche und zukunftsfähige For- an der Vorläuferinvestition. schung. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - Dr. Jürgen Rochlitz [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN GRÜNEN]: Das sind doch olle Kamellen!) sowie bei Abgeordneten der SPD) Ein weiteres Beispiel: Unsere Gesetzgebung in der Das gilt auch für die 25 Millionen DM, die in Abfallwirtschaft hat einige Milliarden DM Investitio- diesem Jahr für die so bezeichnete „Sicherung" nen in Deponien und Recyclingtechniken hervorge- östlicher Atomkraftwerke eingesetzt werden sollen. rufen, dies alles aus der privaten Wirtschaft. Im günstigen Fall werden diese Kraftwerke tat- Wenn ich Ihre Argumentation richtig verstehe, sächlich etwas sicherer, im ungünstigen Fall nicht. können Sie nur folgerichtig fordern, daß all diese Sie werden aber mit Sicherheit nicht sicher genug Mittel in öffentliche Haushalte hätten eingestellt sein. werden müssen. Ich bin aber froh, daß wir eine marktwirtschaftliche und keine staatswirtschaftliche Es kann doch wohl nicht angehen, daß zu Zeiten, Umweltpolitik betreiben, die diese Verantwortung in zu denen hier im Westen neue Atomkraftwerke nicht der privaten Wirtschaft beläßt. mehr genehmigungsfähig sind, im Osten Beschäfti- gungsmaßnahmen für die deutsche Atomindustrie (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU geschaffen werden. und der F.D.P. - Widerspruch bei der SPD)

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Abschließend eine Anmerkung: Hohe Aufwendun- gen für Reaktorsicherheit bedeuten auch eine hohe Das ist hinausgeworfenes Geld; vor allem ist dies Reaktorsicherheit. Wer sich ernsthaft dagegen aus- der Bevölkerung in den östlichen Staaten nicht spricht, der kann umweltpolitisch nicht ernstgenom- zumutbar. Auch Weltbank und OECD empfehlen, men werden. die unsinnigen und überteuerten Nachrüstungen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) zu lassen und statt dessen Gaskraftwerke zu bauen. Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Das Wort hat Natürlich sind wir bereit, aus diesem Fonds auch die Abgeordnete Birgit Homburger. Geld für den Schutz abgeschalteter Atomkraftwerke zu zahlen. Wir denken aber, daß vor allem eine Un- Birgit Homburger (F.D.P.): Herr Präsident! Liebe terstützung mit Know-how im Bereich der regenerati- Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal herzli- ven Energie sinnvoll wäre. chen Dank an den Kollegen Kampeter. Seine Ausfüh- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995 2251

Birgit Homburger rungen ersparen mir, noch einiges klarzustellen; ich Es ist auch ein richtiger Schritt, wenn die deutsche kann auf seine Ausführungen verweisen. Ich möchte Industrie und die deutschen Automobilhersteller sich aber einige andere Dinge, die ich mir während der zu freiwilligen Maßnahmen bereit erklären. Rede von Herrn Kuhlwein aufgeschrieben habe, an- sprechen. (Rolf Köhne [PDS]: Zu was denn?)

(Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das ist bei Die Reduzierung der CO2-Emissionen um bis zu 20 % der Rede von Herrn Kuhlwein auch drin und die Minderung des Kraftstoffverbrauchs um ein gend notwendig!) Viertel oder mehr werden zu einer Steigerung der Energieeffizienz führen und die Wettbewerbsposi- In der Tat hat der Kollege Kuhlwein recht, wenn er tion der deutschen Industrie stärken. sagt, daß die Haushaltsdebatte im Zeichen des Kli- magipfels in Berlin steht. Trotz der schwierigen Ver- handlungssituation muß ein verbindlicher Verhand- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) lungsprozeß in Gang gesetzt werden, um bis zur Die F.D.P. hat, wie Sie wissen, immer mehr auf die nächsten Vertragsstaatenkonferenz im Jahre 1997 Freiwilligkeit als auf Staatslenkung gesetzt. Aber ich ein Klimaprotokoll verabschieden zu können. Ein sage auch deutlich, daß Selbstverpflichtungen und solches Klimaprotokoll muß meines Erachtens die be- Freiwilligkeit kein Selbstzweck sind. Wir müssen da- stehenden Verpflichtungen zur Stabilisierung der mit unsere umweltpolitischen Zielsetzungen errei- Emission von Treibhausgasen bis zum Jahre 2000 chen. Die beiden freiwilligen Selbstverpflichtungen deutlich verschärfen. sind zwar gute Schritte auf dem Weg zu einer koope- Ich denke, Frau Minister Merkel, daß Grundlage rativen Umweltpolitik, aber jetzt kommt es auf die der Verhandlungen der Protokollentwurf der AOSIS- Umsetzung an. Die Verpflichtungen dürfen nicht Staaten sein muß. Ich bitte die Bundesregierung zum Spiel auf Zeit mißbraucht werden. Deswegen ist nachdrücklich darum, mit ihrer Verhandlungsstrate- die Transparenz und die Überwachung der Erfüllung gie zielstrebig genau darauf hinzuarbeiten. der eingegangenen Selbstverpflichtungen von zen- traler Bedeutung. (Eckart Kuhlwein [SPD]: Noch besser wäre, sie hätte es selber unterschrieben!) Sollten sich - das sage ich ganz deutlich - die Zusa- gen der Industrie nicht bewahrheiten, so läuft sie Ge- Die ständige Miesmacherei von seiten der SPD fahr, daß das ordnungsrechtliche Instrumentarium und der GRÜNEN - Herr Kollege Kuhlwein, ich sage eben wieder zum Einsatz kommt. gerade etwas dazu - als Begleitmusik für die Ver- handlungen ist absolut kontraproduktiv. Mit Ihrer (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: ungerechtfertigten Kritik an der Verhandlungsfüh- Wann denn? - Eckart Kuhlwein [SPD]: Da rung der Bundesregierung, die im übrigen von den sind wir aber böse!) AOSIS-Staaten, die als einzige einen Protokollent- wurf eingebracht haben, gelobt wurde, Die Umsetzung ihrer Zusage liegt also im Interesse (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne der Industrie. Dafür erwarten wir, daß bei der Orga- ten der CDU/CSU) nisation der Durchführung der freiwilligen Selbstver- pflichtungen sauber gearbeitet wird. Ich finde - das machen Sie sich zum Stichwortgeber für diejenigen, möchte ich an dieser Stelle auch ganz deutlich sa- die den Verhandlungsprozeß in Berlin hemmen wol- gen -, daß Konstruktionsfehler wie in dem von der len und selbst nach Ausreden suchen, um die Untä- Wirtschaft geschaffenen Dualen System nicht wieder tigkeit in der Umweltpolitik zu verschleiern. passieren dürfen.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) (Beifall des Abg. Dr. [F.D.P.]) Ich finde, Deutschland als Gastgeber dieser Um- weltkonferenz kann sich sowohl mit dem internatio- Die Wirtschaft muß ihre marktwirtschaftliche Kompe- nalen Einsatz im Vorfeld der Konferenz als auch mit tenz unter Beweis stellen. Das gilt auch für freiwillige seinem nationalen Maßnahmenprogramm sehen las- Rücknahmesysteme, wie sie jetzt bereits für Altautos sen. diskutiert werden. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Die Industrie sichert sich durch die Umsetzung ih- Ich begrüße auch, daß es jetzt noch gelungen ist, rer Selbstverpflichtungen gleichzeitig einen Wettbe-- ein Förderprogramm für Energiesparmaßnahmen werbsvorteil. Denn nur wer mit dem technischen im Gebäudebestand zu beschließen. Ich begrüße das Fortschritt Schritt hält und ihn umsetzt, kann sich auf ausdrücklich. Die F.D.P. hat es lange gefordert. Das dem Weltmarkt behaupten. ist ein wichtiges Signal für die Industrieländer, und es kommt gerade rechtzeitig für die Verhandlungen Die SPD, lieber Kollege Kuhlwein - weil Sie sich in Berlin. Damit wird das hohe Potential der Energie- gerade so aufgeregt haben -, betreibt ein durchsich- einsparung im Gebäudebestand realisiert werden. tiges Manöver, Dort sind nämlich Einsparungen von 100 Millionen t CO2-Emissionen, also 10 % der Gesamtemissionen (Eckart Kuhlwein [SPD]: Ja! Wir sind immer Deutschlands, möglich. für Transparenz!) 2252 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995

Birgit Homburger wenn sie die Bundesregierung für die Verweigerung aufgeworfen. Deshalb möchte auch ich zum Thema anderer Staaten im Vorfeld der Klimakonferenz ver- CO2-/Energiesteuer etwas sagen dürfen. antwortlich machen will. Was hat denn, bitte schön, die SPD getan, um einen internationalen Konsens Wir sind für die Einführung einer CO2-/Energie- zum Klimaschutz herbeizuführen? steuer als marktwirtschaftliches Instrument zur Redu- zierung der CO2-Emissionen. Aber parallel dazu muß (Eckart Kuhlwein [SPD]: Die europäischen es zu einer Absenkung der direkten Steuern im glei- sozialdemokratischen Parteien haben etwas chen Umfang kommen. getan!) Wer wie die SPD und manche in der CDU den Bür- Haben Sie vielleicht mit Al Gore in den USA, mit gern weismachen will, daß ausgerechnet die milliar- den OPEC-Staaten, mit den MOE-Staaten oder den denschweren Subventionen für den Umweltsünder Entwicklungsländern gesprochen? Nein! Alles, was Steinkohle irgend etwas mit Ökologie zu tun hätten, von der SPD in Erinnerung bleibt, sind Kritik und braucht sich nicht zu wundern, wenn er seine Glaub- vorlaute Sprüche, aber keine Taten. würdigkeit verliert. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Die Forderung nach einer Energiesteuer im Zu- sammenhang mit der Kohlefinanzierung ist nichts Sie schickt den vollmundigen Vorsitzenden Schar- anderes als Geldbeschaffung, die nichts, aber auch ping in die Schlacht, der doch in Wirklichkeit von gar nichts mit ökologischer Lenkungswirkung zu tun Umweltschutz keine Ahnung hat. hat. (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne CDU/CSU) ten der CDU/CSU) Die gemeinsamen Auftritte mit den Umweltpoliti- Gerade weil wir Liberalen eine Ersatzsteuer für den kern, die er jetzt hier hat, sollen doch nur Ihre tief- Kohlepfennig verhindert haben, können wir über- greifenden Differenzen übertünchen. zeugend für eine aufkommensneutrale CO2-Energie- Von den GRÜNEN ist in bezug auf den Klimagipfel steuer mit ökologischer Lenkungsfunktion eintreten. nichts in Erinnerung als eine Große Anfrage, die die (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Bundesregierung in der heißen Vorbereitungsphase mit zusätzlicher Arbeit blockieren sollte. Jetzt komme ich noch einmal zu den Anträgen zum Haushalt: Mit den Anträgen zum Haushalt des (Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) BMU beweisen Sie von der SPD wieder einmal Ihre SPD und GRÜNE mißbrauchen diese Klimakonfe- Zerrissenheit und Konzeptionslosigkeit im Umwelt- renz, um ihr nationales Süppchen zu kochen. Wäre schutz. es Ihnen ernst gewesen - jetzt komme ich zu Ihrem (Karl Diller [SPD]: Reden Sie einmal etwas Beispiel mit dem Flugbenzin -, hätten Sie die An- langsamer!) träge zur Besteuerung des Flugbenzins rechtzeitig in die parlamentarische Beratung eingebracht. Warum - Herr Kollege, ich habe kein Problem damit, wie ich wurden denn die Anträge nicht so frühzeitig einge- rede; da müssen Sie halt schneller denken, wenn Sie bracht, daß sie in den internationalen Verhandlungs- nicht mitkommen. prozeß hätten Eingang finden können? (Heiterkeit und Beifall bei der F.D.P. und Immerhin besteht umweltpolitisch in der Zielset- der CDU/CSU) zung weitgehend Konsens. Es hätte durchaus auch Die SPD-Bundestagsfraktion beantragt hier groß- zu einer gemeinsamen Linie kommen können. Aber spurig die Einstellung der Erkundungsmaßnahmen das wollten Sie ja gar nicht. Sie wollten eine Abstim- für das Endlager für radioaktive Abfälle in Gorle- mung, und das ist unseriös und unehrlich, meine Da- ben. Aber schon am 20. Januar hat der Bundesrat men und Herren. denselben Antrag Niedersachsens abgelehnt. Die (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU - SPD hat für ihren eigenen Antrag keine Mehrheit. Eckart Kuhlwein [SPD]: Abstimmen muß Meine Damen und Herren, ich habe immer wieder nicht von vornherein unseriös sein!) gehört, Sie wollen die Koalition jagen. Dabei sprin- Die F.D.P. will den Klimaschutz voranbringen. Da- gen Sie von der SPD als Tiger und landen ständig als mit komme ich zu dem Thema der CO2-/Energie- Bettvorleger. steuer. Ein wesentlicher Bestandteil ist die Einfüh- (Heiterkeit und Beifall bei der F.D.P. und rung einer CO2-/Energiesteuer als ein wirkungsvol- der CDU/CSU - Eckart Kuhlwein [SPD]: - les marktwirtschaftliches Instrument zur Reduzie- Das sagt die Partei, die überall fein raus ist!) rung der CO2-Emissionen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme zum Schluß. Jetzt wollen Sie die Koalition hier in Bonn ge- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Frau Hombur- gen Herrn Schäfer aus Baden-Württemberg auf der ger, gestatten Sie eine Zwischenfrage? Suche nach einem neuen Endlagerstandort ins Feld schicken. Wir werden das nicht mitmachen, meine Birgit Homburger (F.D.P.): Nein, Herr Präsident, ich Damen und Herren von der SPD. Ich sage hier deut- möchte den Gedanken zu Ende führen, denn die Kol- lich: Die F.D.P. kann sich Ihrer chaotischen Politik in legin von den GRÜNEN hat vorhin dieses Thema keiner Weise anschließen. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995 2253

Birgit Homburger Deswegen werden wir dem Haushalt des BMU in Parteitagsbeschlüsse der SPD - das ist meine Er- der vorliegenden Form zustimmen. fahrung - sind eine Sache, konkretes Verhalten der SPD in Parlamenten und Regierungen sind seit 1914 Vielen Dank. die andere Sache. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU - (Zurufe von der SPD) Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: - Vielleicht werden wir ja einmal positiv überrascht; Beim nächsten Mal bist du sowieso nicht ich würde mich freuen. mehr da!) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ansonsten enthält der BMU-Haushalt im wesentlichen die Finanzie- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Das Wort hat rung der Umweltbehörden. Wir sind sehr dafür, daß der Abgeordnete Rolf Köhne. dieses Geld ausgegeben wird; denn die Menschen, die dort arbeiten, leisten gute Arbeit. Wir fordern aber auch die Ergebnisse dieser Arbeit ein. Wir wol- Rolf Köhne (PDS): Herr Präsident! Liebe Kollegin- len, daß die Regierung endlich ihren Pflichten nach- nen und Kollegen! Der Umwelthaushalt hat im we- kommt und Umweltpolitik betreibt und nicht gesetz- sentlichen nur eine Alibifunktion. lich vorgeschriebene Verordnungen wie die Wär- menutzungsverordnung in der Schublade verschwin- (Widerspruch bei der CDU/CSU) den läßt.

- Ja, natürlich, genauso ist das. - So dienen die Aus- Aber bei dieser Regierung ist das mit der Umwelt- gaben für Gorleben, Morsleben und Schacht Konrad politik genauso wie mit der Wirtschaftspolitik: Beides - das sind die größten Brocken - hauptsächlich der findet in der Wirtschaft statt. Umweltschutz findet in Vernebelung der Tatsache, daß es für den Atommüll diesem Lande nur insoweit statt, wie es die Ge- keine sichere Endlagerung gibt. schäfte von Banken und Konzernen befördert. Damit das nicht so auffällt, gibt es dann großen Propagan- Konsequenterweise will man nun auch bei der Ge- darummel um sogenannte Selbstverpflichtungen zur nehmigung des Forschungsreaktors FRM II in Gar- CO2 - Reduktion. Schaut man aber genauer in die vor- ching auf den Nachweis von Fortschritten bei der gelegten Papiere, dann stellt man fest, daß die Entsorgung verzichten, und man hat sich auf den va- VDEW lediglich erklärt hat, daß im Laufe der Zeit gen Begriff der Langzeitzwischenlagerung verstän- alte Kraftwerke durch neuere mit höherem Wir- digt. kungsgrad ersetzt werden, weil das profitabler ist. Analog hat der VIK lediglich dargelegt, daß bei ver- Im übrigen weist der Haushalt eine interessante schiedenen Rationalisierungsmaßnahmen, die beim Lücke auf: In den Erläuterungen zum Haushalt wird Kampf um den Weltmarkt erforderlich werden, zufäl- behauptet, die Kosten für den Ausbau von Morsle- ligerweise auch Energie gespart wird. Und die Auto- ben werden über die Ablieferentgelte refinanziert. mobilindustrie hat sich freiwillig verpflichtet, am Sie- Aber die Kosten, die zukünftig entstehen werden, benliterauto Geld zu verdienen. weil eine Langzeitsicherheit überhaupt nicht gege- ben ist und weil die Laugenzuflüsse eine Bergung All diese Großzügigkeit hat natürlich ihren Preis: des Inventars erforderlich machen werden, sind nicht Verzicht auf Ordnungsrecht, Verzicht auf CO2- Ener- berücksichtigt. Da werden noch ganz gewaltige Ko- giesteuer, Optionen auf neue Atomkraftwerke. Das, sten auf diese Regierung zukommen - und leider was von dieser Regierung als ökosoziale Marktwirt- auch auf uns Steuerzahler, weil wir das aus unserer schaft abgefeiert wird, ist aber nur eines: stinknorma- Tasche bezahlen müssen. ler Kapitalismus. Abschließend, liebe Kolleginnen und Kollegen, zu Überhaupt scheint über Morsleben seitens der den beiden Änderungsanträgen: Da die Regierungs- Bundesregierung, aber auch seitens der SPD mit koalition ja für gute Argumente nicht zugänglich ist, Schröder an der Spitze beredtes Schweigen zu herr- haben diese Anträge nur symbolischen Charakter. schen. Im klammheimlichen Konsens will man den Deshalb werden wir dem Antrag vom BÜNDNIS 90/ radioaktiven Betriebsmüll den Sachsen-Anhaltinern DIE GRÜNEN zustimmen, der zumindest die richtige überlassen. Richtung angibt. Der SPD-Antrag geht uns nicht weit genug; deshalb werden wir uns da enthalten. Auch der SPD-Antrag, Herr Müller, der sich nur mit Gorleben beschäftigt, scheint das zu bestätigen. Ich danke Ihnen. - (Eckart Kuhlwein [SPD]: Im Haushaltsaus (Beifall bei der PDS) schuß haben wir auch zu Morsleben einen Antrag gestellt!) Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Das Wort hat die Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz und Apropos Konsens: Seit im Februar 1980 vom da- Reaktorsicherheit, Frau Angela Merkel. mals zuständigen SPD-Innenminister die Grundsätze zur Entsorgungsvorsorge für Atomkraftwerke formu- liert wurden, halten die SPD-regierten Länder am Dr. Angela Merkel, Bundesministerin für Umwelt, Atomkonsens fest. Von einem ausstiegsorientierten Naturschutz und Reaktorsicherheit: Herr Präsident! Vollzug, wie Rexrodt behauptet, spüre ich nichts. Meine Damen und Herren! Umweltschutz ist in der 2254 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995

Bundesministerin Dr. Angela Merkel Bundesregierung eine Querschnittsaufgabe. Genau ganzen Welt zu berücksichtigen sind. Sie müßten aus deshalb haben wir bei der Debatte um das Vetorecht den Gesprächen in der Sozialistischen Internationale des Umweltministers auch deutlich gemacht, daß in - spätestens beim Gespräch mit Spanien dürfte es Ih- der Geschäftsordnung der Bundesregierung steht, nen auffallen - wissen, daß es eben nicht so einfach daß alle gesetzlichen Vorhaben auf ihre Umweltver- ist, wie Sie es sich manchmal vorstellen. Sie gaukeln träglichkeit hin überprüft werden. Das ist der ver- den Menschen in der Bundesrepublik Deutschland nünftige Weg, und genau dies spiegelt sich ja auch in vor, daß alles nur daran liegt, daß wir nicht exakt das dem Haushalt wider. Herr Kuhlwein, ich bin gern be- tun, was Sie uns sagen. reit, einmal zu überprüfen, ob jede von den anderen Das eigentlich Dramatische daran ist doch nicht, Ressorts angegebene Umweltausgabe auch den daß wir uns hier im Deutschen Bundestag streiten. strengen Betrachtungen standhält; aber unter den Das eigentlich Dramatische daran ist, daß in der Öf- 8 Milliarden DM - ich erwähne hier ein Beispiel, das fentlichkeit die Bürger der Bundesrepublik Deutsch- Sie uns natürlich verschwiegen haben - sind Um- weltforschungsmittel des Bundesforschungsministers land eher verzweifeln, als sich aufgefordert fühlen, in Höhe von 800 Millionen DM. wichtige kleine Schritte zu unternehmen, um Ener- gie zu sparen, sie effizienter einzusetzen und damit (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) etwas für die Umwelt zu tun. Diese Mittel habe ich mir ziemlich genau angeguckt, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) und sie sind richtig und vernünftig eingesetzt. Dage- gen werden auch Sie nichts haben. Wenn Sie - ich sage es noch einmal - mir nicht glau- ben, so lassen Sie es sich einmal von führenden ame- Was haben Sie nun eigentlich dagegen, wenn in rikanischen Politikern erklären: Die Menschen sind der Bundesrepublik Deutschland noch an anderen nur bereit, etwas zu tun, wenn sie den Eindruck ha- Stellen als im Umweltressort Geld für die Umwelt ben, sie könnten auch etwas verändern. Die Bürger ausgegeben wird? Warum darf man denn nicht sa- können etwas verändern, das wissen Sie, aber Sie gen, daß das produzierende Gewerbe und der Staat wollen nicht, daß diese Bundesregierung Menschen zusammen im Jahre 1991 nach dem Statistischen dazu auffordert. Deshalb versuchen Sie, es zu zerstö- Bundesamt - dem können wir alle glauben - ren. 41,1 Milliarden DM dafür ausgegeben haben? Das (Lachen bei der SPD) kann man doch einmal würdigen. Wenn in diesem Jahr Umweltkredite in Höhe von 10 Milliarden DM Damit versündigen Sie sich aus meiner Sicht daran, ausgegeben werden, dann sind das Beiträge zum daß wir auf einem wichtigen Gebiet gemeinsam vor- Umweltschutz, denen viele private Investitionen fol- ankommen. gen. Ich halte das für richtig und wichtig, damit wir (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - Geld für den Umweltschutz mobilisieren. Horst Kubatschka [SPD]: Phantasielos! - (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Detlev von Larcher [SPD]: Unsinn!) Meine Damen und Herren, bei Umweltbelastun- Meine Damen und Herren, in Berlin findet die Kli- gen muß - genau das ist auch der Grundgedanke makonferenz statt. Sie hat aus meiner Sicht die ganz der Klimakonferenz - nach dem herausragende Aufgabe, mit Blick auf mögliche Ver- Verursacherprinzip änderungen des Klimas durch den Menschen - es verfahren werden. Deshalb messen wir dem Verursa- cherprinzip erhebliche Bedeutung zu. gibt viele Hinweise darauf, daß der Mensch daran schuld ist, daß sich das Klima verändern könnte - die (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: notwendigen Schritte weltweit einzuleiten. Ökosteuer!) Ich frage Sie an dieser Stelle - jenseits dessen, daß Die Energieversorgungsunternehmen haben für man über den richtigen Weg diskutieren kann -: Was die Entstickung und Entschwefelung der deutschen treibt Sie eigentlich, bei uns diesen Streit über natio- Kraftwerke seit 1983 ca. 22 Milliarden DM aufge- nale Unterschiede anzufangen und nicht einmal zur wendet. Der Schwefeldioxidausstoß konnte um rund Kenntnis zu nehmen, in welcher Form in Berlin ver- 74 %, der Staubausstoß um 66 % und der Kohlenmo- handelt wird, statt die Dinge konstruktiv zu beglei- noxidausstoß um 50 % gesenkt werden. In den neuen ten? Bundesländern werden ausschließlich Kraftwerke (Beifall bei der CDU/CSU) nach dem neuesten Stand der Technik gebaut. Das ist ein ganz wesentlicher Fortschritt und vor allen Ich fordere Sie wirklich auf: Kommen Sie nach Ber- Dingen ein Beitrag auch zum Energiesparen. lin! Sie können jederzeit in die Delegation kommen. Führen Sie die notwendigen Gespräche! Denn wir Lassen Sie mich ein Wort zum Energiekonsens als bundesrepublikanische Delegation werden die und zu den Verhandlungen, die wir durchführen, sa- Verhandlungsstrategie haben, viel herauszuholen. gen. Natürlich ist das Allerwichtigste - ich sage es Wir werden dabei auch drängen, und wir schämen angesichts der Klimakonferenz noch einmal -: Wir uns auch nicht, in vielen Fragen Vorreiter zu sein. müssen versuchen, den Energieverbrauch auf das (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Minimum dessen zu senken, was nötig ist. Alles, was dem Energiesparen dient, hat Vorrang. Deshalb Aber wenn gerade Sie von uns immer wieder einfor- werde ich mich dafür einsetzen, daß auf diesem Ge- dern, tolerant zu sein und andere Völker zu respek- biet mehr Maßnahmen durchgeführt werden. Wir ha- tieren, dann bitte ich Sie ganz einfach, zur Kenntnis ben dafür heute wieder ein Beispiel geliefert, näm- zu nehmen, daß unterschiedlichste Interessen der lich das 200-Millionen-DM-Programm für Zuschüsse Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995 2255

Bundesministerin Dr. Angela Merkel für Investitionen zum Wärmeschutz im Gebäudebe- 2010 7,5 % des heutigen Energieverbrauchs durch stand. Es läuft über fünf Jahre. Dies ist das Produkt regenerative Energien erbracht werden können. Ich der gemeinsamen Anstrengung aller Ressorts der sage einfach: Lassen Sie uns die Dinge machen! Bundesregierung. Dieses Programm wird in fünf Jah- 153 Millionen DM sind das im Forschungsetat - ren 1 Milliarde DM an Zinsverbilligung und (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ 10 Milliarden DM an Investitionen in einem Bereich, DIE GRÜNEN]: Damit kommen Sie in in dem Energiesparen wirklich sinnvoll und notwen- 15 Jahren nicht hin!) dig ist, bewirken. Wir haben noch 22,7 Millionen Alt- bauwohnungen, bei denen dringlich etwas gemacht - eine Summe, die sich, Herr Fischer, international werden muß. Diese Verantwortung nehmen wir an. sehen lassen kann. Wir werden nur noch von dem et- Ich sage ganz deutlich in Ihre Richtung: In den Ener- was größeren Land USA übertroffen; schon Japan giekonsensgesprächen können wir über weitere liegt hinter uns. Maßnahmen zum Energiesparen reden. Deshalb sage ich: Wir müssen hier weitermachen, Ich komme zum zweiten Bereich. Es geht um rege- wir müssen mehr machen. Aber den Leuten einzure- nerative Energien. den, wir könnten damit den zukünftigen Energiebe- darf eines Industriestandorts decken, ist einfach Au- Die Bundesrepublik Deutschland - ich weiß nicht, genwischerei. ob Ihnen das entgangen ist, Herr Kuhlwein, Sie woh- nen doch im Norden - hat bei der Erzeugung von (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Windenergie seit Anfang dieses Jahres den führen- ordneten der F.D.P. - Joseph Fischer den Platz in Europa. [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Woher wissen Sie das?) (Eckart Kuhlwein [SPD]: Dank Schleswig Holstein!) Damit komme ich zum Energiekonsens. Hier ist in epischer Breite immer wieder dargestellt worden, Wir werden nur noch von Amerika übertroffen. In welche Ausgaben wir in unserem Haushalt für die der Welt haben wir den zweiten Platz. Kernenergie, die End- und Zwischenlagerung ha- ben. Niemand hat davon gesprochen, Herr Kuhl- (Eckart Kuhlwein [SPD]: Dank der guten wein, daß die SPD ganz besonders stark - auch wir SPD-Regierung in Schleswig-Holstein!) tun das aus vernünftigen Gründen - die Kohle mit Dies ist durch die Veränderung des Stromeinspei- 8 Milliarden DM subventioniert. Es gehört auch zur sungsgesetzes möglich geworden. Falls ich mich redlichen Diskussion, daß man diese Zahlen gegen- nicht ganz täusche, ist dies von der Bundesregierung überstellt. und nicht von der schleswig-holsteinischen Landes- Ich kann nur sagen: Die Kernenergie hat sich bis regierung gemacht worden. jetzt im wesentlichen aus sich selbst finanziert. Die (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Kohle schafft das nicht. (Widerspruch bei der SPD - Beifall bei Ab- Nun, Herr Kuhlwein, bitte ich Sie nur noch, daß Sie geordneten der CDU/CSU) die Naturschützer so weit im Zaum halten, daß noch ab und zu eine Windenergieanlage gebaut werden - Es wird doch durch das Geschrei nicht besser. Ge- kann, denn da droht der nächste Streit. hen Sie doch einmal zu den EVUs, und fragen Sie einmal, womit die ihr Geld verdienen! - Es gibt doch Gleiches gilt für die Wasserkraft; das wissen alle, keinerlei Subventionen für die Kernenergie, da die im Süden wohnen. Wasserkraft kommt zwar in braucht man doch jetzt nicht zu schreien. Herr Kuhl- Norwegen und Österreich in Betracht, aber bei uns wein, sagen Sie doch einmal Ihren Mitabgeordneten, ist der Bau eines kleinen Wasserkraftwerks heute daß das im allgemeinen refinanzierte Titel sind! Das nahezu unmöglich, weil vielerlei Umweltbedenken wissen die doch gar nicht. Das haben Sie uns ver- eine Rolle spielen. schwiegen. Nun müssen wir es hier doch einmal an- Nun kommen wir zur Solarenergie. Diese halte ich sprechen. in der Tat durch weitere Forschung für entwickelbar (Eckart Kuhlwein [SPD]: Ich habe es ge- und für einen ganz wesentlichen Schritt. Auch für sagt!) mich ist unstrittig, daß wir von den fossilen Energie- trägern heute sehr viel mehr verbrauchen, als zu- - Dann ist es ja gut. Dann scheinen es aber die ande- künftige Generationen die Möglichkeit dazu haben ren nicht begriffen zu haben; sonst wäre das Ge- werden. Deshalb ist es unsere Pflicht, das Machbare, schrei jetzt nicht so groß. - Erforschbare im Bereich der Solarenergie zu tun, um (Beifall bei der CDU/CSU) zukünftigen Generationen die Nutzung dieser Ener- giequelle zu ermöglichen. Für uns als Regierungsfraktion, für mich als Bun- desumweltministerin ist die CO2-freie Energieerzeu- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge gung durch Kernenergie eine verantwortbare Ener- ordneten der F.D.P.) gie. Ich sage es noch einmal. Meine Damen und Herren von der SPD, jetzt lesen Sie doch einmal die Studie Ihres eigenen Minister- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Frau Ministe- präsidenten, Gerhard Schröder, der gesagt hat: Mit rin, Sie müssen entweder zum Schluß kommen oder 50 Milliarden DM Investitionen werden im Jahre eine Zwischenfrage zulassen. 2256 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995

Dr. Angela Merkel, Bundesministerin für Umwelt, mit seinen 1,3 Milliarden DM das ausbügeln, was die Naturschutz und Reaktorsicherheit: Insofern stehe Landwirtschaft mit 30 Milliarden DM im Rücken rui- ich zum Energiemix. niert. Das kann ja wohl nicht wahr und nicht richtig sein! Ich habe mich angesichts der Klimakonferenz (Beifall bei der SPD) heute beim Haushalt auf Fragen der Energie, auf Fragen, die mit dem Klima zusammenhängen, kon- Selbst wenn eine Ökologisierung der Landwirtschaft zentrieren müssen. Für mich haben Boden- und Na- geschätzte 1 Milliarde DM kosten würde, so ist dies, turschutz und viele andere Bereiche der Umweltpoli- gemessen an den Gesamtausgaben der Landwirt- tik eine ebensolche Bedeutung. schaft, ja wohl ein vergleichsweise geringer Betrag. Wir fordern darum die Bundesregierung auf, die Pri- Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit und er- vilegierung der Landwirtschaft aus dem Bundesna- warte in den nächsten Tagen trotz allem auch kon- turschutzgesetz ersatzlos zu streichen und statt des- struktives Mittun der Opposition in bezug auf das sen endlich klare Vorgaben für eine umweltverträgli- Gelingen der Klimakonferenz in Berlin. che Landwirtschaft festzulegen und die finanzielle Herzlichen Dank. Förderung genau daran zu orientieren. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der SPD) Dann ist eine umweltfreundliche Landwirtschaft Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Das Wort hat auch finanzierbar. die Abgeordnete Ulrike Mehl. Aber nicht nur die herkömmliche Landwirtschaft ist ein Problem für den Naturschutz, sondern alle Ulrike Mehl (SPD): Herr Präsident! Liebe Kollegin- Wirtschaftsbereiche, die auf den Naturhaushalt ein- nen und Kollegen! Das europäische Naturschutzjahr wirken, beispielsweise der Straßen- und Gewässer- wäre allein schon Anlaß genug, sich auch in einer ausbau. Da nützt es überhaupt nichts, wenn, wie Haushaltsdebatte in einem Redebeitrag mit dem eben schon gesagt, die Bundesregierung aus allen Thema Naturschutz zu beschäftigen. Aber es hat Haushalten Beträge zusammenkratzt, die annähernd auch mit Geld zu tun. Daß das Geld angeblich nicht etwas mit Umwelt zu tun haben könnten, und am da wäre, hat den vorigen Bundesumweltminister Ende auf 8,3 Milliarden DM Umweltausgaben dazu gebracht, das Bundesnaturschutzgesetz sechs- kommt, aber kein Wort darüber sagt, wieviel Milliar- mal mündlich, aber nicht einmal tatsächlich zu novel- den für Naturzerstörung ausgegeben werden. lieren. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ich bin darauf gespannt, Frau Merkel, ob Sie es DIE GRÜNEN) schaffen werden, sich gegen Herrn Borchert, Herrn Frau Merkel, ich habe mit Freude gehört, daß Sie Rexrodt und Herrn Kohl durchzusetzen. dies in anderen Haushalten prüfen wollen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Während sich aber die Bundesregierung auf die Ein wenig Hoffnung ist mir geschwunden, weil in Ih- Schulter klopft, weil die Mittel für Naturschutzpro- rer Rede nur zweimal das Wort Naturschutz vorkam, jekte auf - ich sage einmal - schlappe 40 Millionen einmal am Schluß und einmal in dem Zusammen- DM erhöht werden sollen, werden Milliardenbeträge hang, daß Naturschützer im Zaum zu halten seien. allein für zerstörerische Ausbauten von Fließgewäs- sern eingestellt. Ich höre auch gerne, daß Sie von der Die Novellierung des Naturschutzgesetzes ist bis CDU bereit sind, darüber nachzudenken, diese Mit- heute daran gescheitert, daß die Bundesregierung tel im nächsten Haushalt zu erhöhen. Aber, wie ge- immer wieder behauptet, daraus entstünden Lei- sagt, im Vergleich zu dem Geld, das für die Zerstö- stungsansprüche der Landwirtschaft, und diese seien rung ausgegeben wird, ist das wirklich ein schlapper nicht bezahlbar. Beitrag. Ich vermute, daß Herrn Wissmann bei dem Wort Wasserstraße noch nie das Bild eines Ökosy- Einmal abgesehen davon, daß der Naturschutz stems vor Augen gekommen ist, sondern eher das nicht dafür zuständig sein kann, daß die Landbewirt- Bild von Schwimmbaggern und Betonmischern. schaftung umweltverträglich gestaltet wird, sondern daß die Landwirtschaftspolitik für umweltverträgli- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ che Landwirtschaft zu sorgen hat, DIE GRÜNEN) (Zustimmung bei der SPD) Während für die Bundesregierung das notwendige Maß an Naturschutz angeblich nicht finanzierbar ist, muß man sich folgendes vorstellen. Auf der einen will der BMV in den nächsten Jahren alleine für das Seite hat die Enquete-Kommission zum Schutz der Projekt 17 Deutsche Einheit 4,1 Milliarden DM aus- Erdatmosphäre in ihrem Bericht einstimmig festge- geben. Hier geht es u. a. um den Ausbau des Elbe- stellt, daß die Landwirtschaft inakzeptabel und un- Havel-Kanals. Selbst unter reinen Wirtschaftlich- verträglich in die Natur eingreift. Auf der anderen keitsgesichtspunkten ist das nicht nachvollziehbar, Seite geben EU sowie Bund und Länder zusammen aus Umweltgesichtspunkten inakzeptabel. in der Bundesrepublik fast 30 Milliarden DM für den Agrarsektor aus. Auf deutsch heißt das, das BMU soll (Zustimmung bei der SPD) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995 2257

Ulrike Mehl Daß der wachsende Güterverkehr von der Straße Wir sitzen alle in einem Boot, hat Frau Merkel an- auf umweltfreundlichere Verkehrsmittel verlagert läßlich der Eröffnung des Berliner Klimagipfels sehr werden muß, ist im Prinzip richtig. Nur kann die Lö- richtig festgestellt. sung des Problems nicht darin liegen, daß die Fließ- (Eckart Kuhlwein [SPD]: Frau Merkel hört gewässer immer größeren Euronorm-Schiffen ange- gerade nicht zu!) paßt werden. Im übrigen möchte ich festhalten, daß es sehr wenig nützt, lediglich die Zunahme des Gü- Wenn dies aber so ist, dann müßten wir endlich be- terverkehrs auf Gewässern mit 86 % zu prognostizie- ginnen, dieses Boot in die richtige Richtung zu len- ren, wenn man dabei die Tatsache übersieht, daß der ken, und endlich damit aufhören, mit der Spitzhacke Güterverkehr auf dem Wasser tatsächlich seit Mitte Löcher in die Planken zu schlagen. der 80er Jahre von 26 % auf 20,4 %, bezogen auf das Gesamtvolumen, zurückgegangen ist. Eigentlich (Beifall bei der SPD, beim BÜNDNIS 90/DIE müßten wir langsam einmal Lehren aus dem trauri- GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der gen Beispiel des Rhein-Main-Donau-Kanals ziehen. PDS) Gerade der Gewässerausbau macht die Schizo- Das Wort hat phrenie in der Umweltdiskussion besonders deutlich. Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: der Abgeordnete Dr. Klaus Lippold. Noch vor wenigen Wochen haben wir hier im Bun- destag über die Folgen der Hochwasserkatastrophe (Zurufe von der SPD: Vergessen Sie nicht diskutiert. Wir waren uns relativ einig darüber, daß zu schnaufen, Herr Kollege! - Schön leise! die Klimaveränderungen bereits eine erhebliche Das ist im Sinne des Umweltschutzes!) Rolle dabei spielen. Aber Einigkeit müßte auch dar- über herrschen, daß der Ausbau unserer Gewässer Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach) (CDU/CSU): und die Zerstörung von natürlichen Fluträumen, z. B. Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und von Auwäldern, ebenfalls eine entscheidende Rolle Herren! Meine Damen und Herren von der SPD, ich dabei spielen. Dies ist nicht nur für die durch die Fol- verstehe Ihre Aufregung nicht. Es geht doch nur gen des Hochwasser geschädigten Menschen uner- darum, daß wir hier zur Sache diskutieren. Das setzt träglich geworden, sondern es ist ein riesiger Verlust allerdings voraus, daß der Kollege Kuhlwein zuhört, für den Artenreichtum und für den Naturhaushalt, nicht nur die Ministerin zum Zuhören auffordert. und das ist es, was wir uns nicht leisten können. Denn einige bei Ihnen hören zwar partiell zu, aber (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Sie verstehen nicht. Das ist das Bedauerliche daran. DIE GRÜNEN) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wenn die Bundesregierung durch die Mitunter- Deshalb wäre es gut, wenn Sie sich einmal der zeichnung der Rio-Konvention zur biologischen Mühe unterzögen, Argumentationen nachzuvollzie- Vielfalt - es gab ja nicht nur die Konvention zum hen. Ich kann es langsam nicht mehr hören. Da wird Klima, sondern auch die zur biologischen Vielfalt, bei den GRÜNEN und der SPD von der Verlagerung über die bereits im letzten Herbst verhandelt wurde - des Verkehrs gesprochen. Wo es um die Verlagerung die Bedeutung dieses Themas ausdrücklich aner- geht, blockieren Sie den Schienen- kennt, muß sie sich Nachfragen wegen mangelnder auf die Schiene und Straßenbau. Ich muß das nicht wiederholen. Umsetzung gefallen lassen. Diese Doppelstrategie werden wir Ihnen um die Oh- Noch einmal zum Naturschutz, den wir uns alle an- ren hauen, wo immer das notwendig ist. geblich nicht leisten können. Schon vor zwei Jahren Der nächste Punkt. Sie sprechen von einer Verla- hat Herr Töpfer verkündet, daß er die europäische gerung des Verkehrs auf die Wasserstraßen und Flora-, Fauna-, Habitat-Richtlinie für das Instrument bauen gleichzeitig in Frankfurt das Hafengelände des Naturschutzes hält. zu. So kann ich natürlich nicht Verkehr auf die Was- (Eckart Kuhlwein [SPD]: Hört! Hört!) serstraßen verlagern, wenn ich die Infrastrukturein- richtungen blockiere. Sie ist bis heute, fast zehn Monate nach Ablauf der Umsetzungsfrist, nicht in deutsches Recht umgesetzt. Egal, wo ich bei Ihnen hinschaue, ob Sie in den Warum gibt die Bundesregierung den Ländern nicht Ländern oder den Kommunen Verantwortung tra- die Instrumente an die Hand, die sie selbst für not- gen: Hier klagen Sie es ein, und in den Ländern fah- wendig erklärt hat? Sie warten nämlich nur noch dar- ren Sie die Gegenstrategie. Was hat die rot-grüne Ko- auf. Diese Untätigkeit führt jetzt dazu, daß sich die alition denn jetzt in Hessen zur Beschleunigung von Länder wegen der fehlenden Planungssicherheit Genehmigungsverfahren, mit denen wir den Um- nicht in der Lage sehen, im notwendigen Umfang weltschutz schneller umsetzen können, weil nur Schutzgebiete auszuweisen. Diese Planungs- und neue Anlagen mehr Umweltschutz bedeuten, ge- Rechtssicherheit bekommen sie aber erst, wenn der sagt? Dagegen fahren Sie, sagen Sie, eine Gegen- Bund europäisches Recht in deutsches umsetzt. strategie. Ich frage: Was soll das denn? Diese Heu- chelei in diesem Hause lassen wir Ihnen nicht durch- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) gehen, solange Sie auf den anderen Ebenen die Kon- Dafür braucht man keinen neuen Haushaltstitel, son- sequenzen nicht ziehen. Das werden Sie sich sagen dern ein Bundesnaturschutzgesetz. lassen müssen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des (Eckart Kuhlwein [SPD]: Hören Sie doch auf BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) zu schimpfen!) 2258 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995

Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach) - Herr Kuhlwein, das ist doch kein Schimpfen; Sie vorhaben wäre, wenn die Länder die Komplementär- können es nur nicht ertragen, wenn man Ihnen die finanzierung einbringen würden. Auch hier höre ich Wahrheit sagt, wenn man Ihnen Ihre Doppelstrategie doch nur hohle Worte, aber sehe vor Ort keine Form um die Ohren haut. der Einbringung. Herr Kuhlwein, das einzig Richtige, was Sie zur Ich will noch einmal eines deutlich sagen, weil Sie Vertragsstaatenkonferenz gesagt haben, ist, daß sie sich damit inhaltlich ja gar nicht auseinandersetzen in Berlin stattfindet. Der Rest war unerträglich neben wollen. Für uns findet Umweltschutz nicht nur über der Sache. Gesetze, Verordnungen, Bürokratien und durch Aus- gaben im staatlichen Haushalt der Bundesregierung (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) statt. Wir haben mehr erreicht durch die Verpflich- Das ist doch das Erstaunliche. Selbst Ihre Kollegin tungen mit der Wirtschaft, durch Selbstverpflichtun- Anke Fuchs hat ja hinzugelernt. Nachdem sie an- gen der Wirtschaft und auch durch Verordnungen fänglich die Koalitionsstrategie in bezug auf Berlin und Gebote, wie z. B. seinerzeit bei der Novelle der angegriffen hat, hat sie kleinlaut hinzugefügt, selbst- Großfeuerungsanlagenverordnung, bei der, ohne daß verständlich könnten wir mit den anderen nicht als eine D-Mark im Titel des Haushalts erschien, Spielmasse manövrieren. Diesen Satz hätten Sie sich 30 Milliarden DM für den Umweltschutz auf den vielleicht aus dem Protokoll herausschreiben kön- Weg gebracht wurden. Das sind Leistungen, die Sie nen, bevor Sie hier wieder Teil 1 zitieren, ohne über- einfach nicht zur Kenntnis nehmen wollen, weil Sie haupt etwas hinzuzulernen. ein völlig falsches Verständnis haben, wie Umwelt- schutz gemacht werden muß. Sie denken immer nur in Bürokratie, in Verwaltungsvorschriften, in Verord- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege, nungen, wie ich Industrie belasten kann, statt die gestatten Sie eine Zwischenfrage? Leute dazu zu bringen, mitzumachen und Selbstver- (Zuruf des Abg. Eckart Kuhlwein [SPD]) pflichtungen einzugehen, statt Anreize zu geben. Frau Merkel hat hier noch einmal Energieeinspar- Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach) (CDU/CSU): förderung im Altbaubestand und beim Wohnungs- Wenn mich Herr Kuhlwein ausreden läßt, ja, Herr bau dargestellt. Das ist etwas, was es bei Ihnen nicht Präsident. gegeben hat, was es bei uns jetzt gibt. Bei den Selbstverpflichtungen, die die Wirtschaft jetzt einge- (Heiterkeit bei der CDU/CSU sowie bei Ab gangen ist, hätten Sie zu Ihren Zeiten Halleluja ge- geordneten der F.D.P.) schrien, wenn Sie so etwas erreicht hätten. Statt des- sen haben Sie mit Ihrem Kanzler in Gymnich, wenn Sie mit der Wirtschaft gesprochen haben, Stillhalte- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich nehme an, daß Herr Kuhlwein gern einen Augenblick still ist, vereinbarungen zum Umweltschutz getroffen. Wir damit die Zwischenfrage gestellt werden kann. treffen Vereinbarungen mit der Wirtschaft, die Selbstverpflichtungen beinhalten, und nicht wie Sie (Heiterkeit) Stillhalteabkommen. Das ist der Unterschied. Frau Kollegin, bitte. Deshalb ist nicht Gängelung und nicht Bevormun- dung unser Punkt, sondern wir setzen auf den Ideen- reichtum der Bürger, den wir nicht durch Bürokratie Uta Titze-Stecher (SPD): Herr Kollege Lippold, Sie bändigen. Wir setzen auf den Ideenreichtum der sprachen das Zuhören an. Wir würden sehr gern zu- Wirtschaft, die wir ganz einfach dazu bringen, daß hören. Wenn Sie sich einer etwas geringeren Laut- sie durch Innovation mehr Umweltschutz leisten stärke bedienen könnten, auch im Sinne der zarten kann, als sie sonst leisten würde. Stenographin hier vorne, wären wir alle dankbar. Ich sage auch ganz deutlich, daß z. B. mit der Um- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) setzung des Öko - Audit, das wir jetzt vornehmen, ein weiterer Punkt in der Übersetzung sozialer markt- Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach) (CDU/CSU): wirtschaftlicher Ideen in Umweltschutzüberlegungen Sehr verehrte Frau Kollegin, selbst wenn ich hinter kommt. das, was Sie gesagt haben, ein Fragezeichen setze, Begrüßen Sie das doch einmal! Machen Sie mit! wird es noch immer keine ökologische Frage, Ziehen Sie mit uns gemeinsam an einem S trang, statt (Eckart Kuhlwein [SPD]: Lärmschutz!) die Dinge hier oppositionsgemäß einfallslos zu kriti- sieren, wie Sie es permanent tun! Es wäre doch - es sei denn, verehrte Frau Kollegin, Sie würden sich schön, wenn wir von Ihnen brauchbare Anregungen so zurückhalten, daß man sich mit normaler Laut- bekämen. Wir sind ja wirklich begierig, sie aufzuneh- stärke in diesem Haus verständlich machen könnte. men. Dann könnte ich meine Stimme herunterfahren. Das ist eine der einfachsten Übungen, die wir haben. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Wir sprechen mit Umweltschutzverbänden, wir sprechen mit der Wirtschaft, wir sprechen mit einer Zum Naturschutz, Frau Kollegin Mehl. Gehen wir Fülle kleiner Erfinder, um zu sehen, was wir prak- doch einmal auf die Bund-Länder-Aufgabe ein und tisch machen können. Genauso wie wir mit denen fragen, wie es mit der Finanzierung der Naturschutz- sprechen und von ihnen das aufgreifen, was sinnvoll Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995 2259

Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach) ist, würden wir auch auf Ihre Vorschläge hören, Ich rufe nun auf: wenn wir denn welche bekämen. Aber befangen in Ihren Ideologien, wie Sie sind, kommen Sie leider Einzelplan 25 nicht dazu, Umweltschutz so umzusetzen, wie es sein Bundesministerium für Raumordnung, Bau- muß. wesen und Städtebau (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) - Drucksachen 13/521, 13/527 - Wenn ich jetzt noch einmal kurz sagen darf, was Berichterstattung: wir erreicht haben: Neben Selbstverpflichtungen und neben steuerlichen Anreizen haben wir auch in Abgeordnete Dieter Pützhofen der internationalen Politik mit der gemeinschaftli- Jürgen Koppelin Dr. Rolf Niese chen Umsetzung, die wir mit Dritte - Welt - Ländern vereinbaren, einiges erreicht. Wir kombinieren Tech- Oswald Metzger nologietransfer mit Finanztransfer. Damit machen Dazu liegt je ein Änderungsantrag der Fraktionen wir deutlich, daß wir deutsche Spitzentechnologie ins der CDU/CSU und der F.D.P., der Fraktion der SPD Ausland bringen, dort für mehr Umweltschutz sor- und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vor. gen, hier gleichzeitig Beschäftigung sichern und den Außerdem hat die Gruppe der PDS sechs Ände- Spitzenplatz deutscher Umweltschutztechnologie rungsanträge eingebracht. halten. Stützen Sie das doch, statt es zu karikieren! Denn das sind die Punkte, auf die wir setzen: mit mo- ( [CDU/CSU]: So we- derner Umwelttechnologie dieser Welt führend sein, nig?) Arbeitsplätze, Einkommen und auf diese Art einen Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die ökologischen Standard mit Beschäftigung und Aussprache eine Stunde vorgesehen. Sind Sie damit Wachstum sichern, wie wir das in dieser Welt brau- einverstanden? - Ich sehe und höre keinen Wider- chen. Das ist der richtige Ansatz. Da könnten Sie mit- spruch. Dann ist das so beschlossen. arbeiten, wenn Sie dazu bereit wären. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Ab- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) geordnete Rolf Niese. Ich bin heute noch dazu bereit, mit Ihnen darüber zu reden, mit Ihnen darüber zu diskutieren. Aber das Dr. Rolf Niese (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolle- setzt voraus, daß Sie nicht die Müllersche Standard- ginnen und Kollegen! Es ist nicht zu leugnen, der rede hier immer wieder variieren, die wir seit fünf neue Bundesbauminister hat sein Amt mit Elan ange- Jahren kennen. Herr Müller, es ist ja schön, daß Sie treten. das in der Fraktion so weit durchgesetzt haben. Aber (Beifall bei der CDU/CSU) deshalb wird die Rede nicht besser. Deshalb bräuch- - Klatschen Sie am Schluß meiner Rede. Dann tun sie ten wir bei Ihnen einmal mehr Kreativität und neue Gutes. Ideen. Dann könnte es mit Ihnen etwas werden. Dann kämen wir einen Schritt weiter. ( [CDU/CSU]: Mal sehen!) Zahlreiche Interviews belegen dies - ebenso wie Ar- Herzlichen Dank. tikel in Fachzeitschriften und Auftritte vor Fachver- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) bänden. (Zuruf von der CDU/CSU: Macht er sehr Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich schließe die gut!) Aussprache. Unübersehbar sind dabei Annäherungen an Posi- tionen der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion, Wir kommen zur Abstimmung über den Einzel- mit denen wir in den vergangenen Jahren bei der plan 16. Dazu liegt je ein Änderungsantrag der Frak- liberalen Wohnungsbauministerin auf Ablehnung tion der SPD und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE gestoßen sind. GRÜNEN vor. Ich möchte an wenigen Beispielen deutlich ma- Wir stimmen zuerst über den Änderungsantrag der chen, wo es Annäherungen an unsere Positionen SPD auf Drucksache 13/971 ab. Wer diesem Ände- durch den neuen Bundesbauminister gibt: die beab- rungsantrag zustimmt, den bitte ich um das Handzei- sichtigte Verbesserung der Bausparförderung, um chen. - Gegenprobe! - Stimmenthaltung?— Damit ist sie an die veränderten Einkommens- und Baupreis- der Antrag abgelehnt. bedingungen anzugleichen; die von Bundesbaumini- Wir kommen zu dem Änderungsantrag der Frak- ster Töpfer geplante Umgestaltung der Wohnungs- tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auf Drucksache eigentumsförderung, sprich § 10e Einkommensteu- 13/883. Wer dem Antrag zustimmt, den bitte ich um ergesetz. das Handzeichen. - Gegenprobe! - Stimmenthal- Es ist schon erstaunlich, daß Herr Töpfer am tung? - Damit ist auch dieser Antrag abgelehnt. 13. März 1995 in der FAZ zu § 10e folgendes kritisch feststellt: Wir kommen zur Abstimmung über den Einzel- plan 16 in der Ausschußfassung. Wer dem Einzelplan Diejenigen, die auf Grund eines höheren Ein- zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Ge- kommens absolut am stärksten begünstigt wer- genprobe! - Stimmenthaltung? - Damit ist der Einzel- den, benötigen diese Entlastung bei ihrer Ent- plan 16 in der Ausschußfassung angenommen. scheidung für das Wohneigentum nicht. 2260 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995

Dr. Rolf Niese Richtig, Herr Minister. Dies sagt die SPD seit Jahren, Nun ist mir natürlich klar, daß Bayern bei einem aber entsprechende Anträge, dies zu ändern, sind Streichkonzert nicht mitmacht, denn die Bayern lie- von der Koalition mit schöner Regelmäßigkeit abge- ben viel mehr Marschmusik eines Blasorchesters. lehnt und zurückgewiesen worden. Herr Töpfer, der Herr Beckstein hat Ihnen in diesem Punkt ganz gehörig den Marsch geblasen. (Beifall bei der SPD) (Heiterkeit und Beifall bei der SPD) Nächstes Beispiel: Beim Mietenüberleitungsgesetz Aber keine Sorge, meine Damen und Herren von gibt es - dies muß man zugestehen - deutliche Ver- der Koalition, ich werde nicht die ganze Liste Ihrer suche, den Schulterschluß mit den Wohnungsbau- wohnungspolitischen Versäumnisse aus der Vergan- ministern der neuen Länder zu erreichen. genheit wiederholen. Aber auf einige Punkte will ich doch hinweisen, die deutlich zeigen, daß Sie auch Von Konsens war die Rede auch beim Thema Kap- heute noch gravierende Fehlentscheidungen treffen. pungsgrenze bei Wiedervermietungen - bis am Montagabend der F.D.P.-Funke einschlug und die Ei- Die Städtebauförderungsmittel für die alten Bun- nigkeit auf der Bauministerkonferenz zum Platzen desländer stagnieren für neue Projekte bei einem brachte. Herr Minister Töpfer, Sie sind nun gefordert, Ansatz von 80 Millionen DM. die Interessen der ostdeutschen Mieter gegenüber (Zuruf von der F.D.P.: Teure Heimat! - Un- der Mieterhöhungspartei F.D.P. zu wahren und ruhe) durchzusetzen. - Ach, mich stört das nicht. Ich wollte die Damen und (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Herren von der F.D.P. nur ausreden lassen, weil das DIE GRÜNEN - Zuruf von der F.D.P.: Neue die Höflichkeit gebietet. - Ich möchte zu den Städte- Heimat!) bauförderungsmitteln folgende Anmerkungen ma- chen: - Ich kann Ihre aufgeregte Betroffenheit verstehen, „Die mit Bundesfinanzhilfen geförderten Investi- aber diese Einschätzung ist nicht nur meine, sondern tionen in städtebaulichen Sanierungs- und Entwick- es ist die Einschätzung der ostdeutschen Wählerin- lungsgebieten bewirken hohe öffentliche und private nen und Wähler. Denn wie erklären Sie sich sonst, Folgeinvestitionen sowie Nachfrage nach Gütern daß Sie aus sämtlichen Landtagen dort herausgeflo- und Leistungen. Dieser Anstoßeffekt der Städtebau- gen sind? förderung ist allgemein anerkannt und durch Unter- suchungen verschiedener Forschungsinstitute be- (Beifall bei der SPD - Zuruf von der F.D.P.: legt. Eine besondere Bedeutung ist darüber hinaus Auch durch ständige Wiederholungen wer- der beschäftigungspolitischen Wirksamkeit der Städ- den Unwahrheiten nicht wahr!) tebauförderung zuzumessen. Die Untersuchungen bestätigen hohe, regional gestreute Beschäftigungs- Insgesamt muß man den Erklärungen des Bundes- effekte, und zwar sowohl hinsichtlich einer kurzfristi- bauministers entnehmen, daß die Wohnungspolitik gen Beschäftigungsbelebung als auch langfristig wieder soziale Züge annehmen soll. So hat der Bau- wirksamer Beschäftigungs- und Wachstumsim- minister in seiner Antrittsrede am 25. November 1994 pulse. " im Deutschen Bundestag betont, daß Wohnungspoli- tik für ihn angewandte Familien- und Sozialpolitik Diese Anmerkungen zitiere ich aus der mittelfristi- sei. Aber Achtung! Absichtserklärungen und Good- gen Finanzplanung des Bundes von 1994 bis 1998. will-Interviews sind nur die eine Seite der Medaille, Ich stimme dieser Einschätzung der Bundesregie- die in diesem Falle von Herrn Töpfer recht ansehn- rung voll zu. Ihre Schlußfolgerung, Herr Minister lich poliert wird. Wie sieht aber die andere Seite der Töpfer, für den Einzelplan 25? Fehlanzeige! Medaille aus, die politische Realität? In einer Presse- Lassen Sie mich an dieser Stelle kurz auf den An- meldung vom 12. März 1995 heißt es: „Mancherorts trag der Koalitionsfraktionen zur Wohnungsprivati- sinkende Mieten dürfen nicht darüber hinwegtäu- sierung in den neuen Ländern eingehen. Die Woh- schen, daß nach wie vor besonders in den Ballungs- nungsprivatisierung in den neuen Bundesländern gebieten erhebliche Engpässe gerade bei preisgün- komme zügig voran, so tönten Bundesregierung und stigen Wohnungen bestehen. " Ihre Vermutung, hier Koalitionsfraktionen noch in der öffentlichen Anhö- sei ein sozialdemokratischer Pressedienst am Werk, rung am 8. März 1995 zu den Anträgen zur Novellie- geht fehl. Die Überschrift dieser Pressemitteilung rung des Altschuldenhilfegesetzes. Dies war Grund lautet: „Bayern macht Streichkonzert des Bundes genug für die Regierungsmehrheit, alle SPD-Forde- beim sozialen Wohnungsbau nicht mit" und stammt rungen abzulehnen, die Mietern wie Vermietern - vom bayerischen CSU-Minister Dr. Günther Beck mehr Sicherheit und Zeit bei der Privatisierung ge- stein. ben sollten. (Zurufe von der SPD: Aha! - Kein Beifall!) Die SPD-Bundestagsfraktion hat mehrfach ihr völ- liges Unverständnis darüber ausgedrückt, daß die Streichkonzert beim sozialen Wohnungsbau, das ist Privatisierungshilfen an die neuen Länder bis Ende schon starker Tobak, den der bayerische Innenmini- 1994 befristet sind, obwohl die Privatisierung noch ster der Bundesregierung vorwirft. Ihnen, Herr Töp- bis zum Jahre 2003 laufen soll. Jetzt, kurz vor Ultimo, fer, sollte dieser deutliche Hinweis auf die Realität Ih- während der abschließenden Lesung des Haushal- rer Wohnungspolitik zu denken geben. tes, will die Koalition offenbar das Füllhorn öffnen, Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995 2261

Dr. Rolf Niese um der Privatisierungsbereitschaft im Osten ein we- erheblicher Handlungsbedarf für eine Novellierung nig auf die Sprünge zu helfen. Die hektische Reak- besteht. tion der Koalition zeigt: Sie hat kein Konzept für eine (Beifall bei der SPD) stetige und verläßliche Wohnungspolitik. Der Bund saniert sich dabei auf Kosten der Länder (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ und Gemeinden, DIE GRÜNEN) (Karl Diller [SPD]: Ja!) Stop and go bleibt das fragwürdige Markenzeichen eine Entwicklung, die wir auch in vielen anderen Be- dieser Politik. reichen verfolgen. (Dr. Peter Struck [SPD]: Ja!) Der Paritätische Wohlfahrtsverband kommt zu dem Ergebnis, daß die geplante Einführung des Ver- Privatisierungshilfen für diejenigen Mieter, die gleichsmietensystems dazu führen wird, daß Städte Eigentum schaffen wollen, sind zu begrüßen und und Gemeinden in den neuen Bundesländern bei der sind auch von der SPD-Bundestagsfraktion und den laufenden Hilfe zum Lebensunterhalt mit Mehrauf- Fachpolitikern im entsprechenden Ausschuß begrüßt wand in Höhe von etwa 500 Millionen DM belastet worden. Aber entscheidend für den Erfolg einer sol- werden. Das können Sie in der „Frankfurter Rund- chen Politik wird sein, ob es gelingt, das Altschulden- schau" vom 4. März 1995 nachlesen. hilfegesetz zu ändern und seine Anwendungsmög- lichkeiten deutlich zu verbessern. (Zuruf von der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ - Nein, es war der Paritätische Wohlfahrtsverband, DIE GRÜNEN) der diese Äußerung getan hat. In anderen Bereichen werden Finanzmittel gestri- Dagegen sollen die Ausgaben des Bundes für das chen oder verschoben. Die erste Geige im Streich- Wohngeldsondergesetz Ost nur um 63 Millionen DM konzert des Bundes beim sozialen Wohnungsbau steigen. Von der überfälligen Anpassung des Wohn- spielt zweifellos der Rückzug aus dem Ballungsge- gelds West ist schon gar keine Rede mehr, obwohl bieteprogramm. Daß dies wider besseres Wissens ge- auch hier, wenn nicht gehandelt wird, vergleichbare schieht, macht die Sache noch schlimmer. Schließlich Mehrbelastungen auf die Gemeinde zukommen. Das weist selbst der Bundeskanzler in Sonntagsreden wird dann bei notwendigen öffentlichen Investitio- regelmäßig auf Engpässe bei der Wohnungsversor- nen der Gemeinden fehlen, um Arbeitsmarktpolitik gung in den Ballungszentren hin. zu betreiben. (Beifall bei der SPD) Der Bund sendet im übrigen ein falsches Signal an die Investoren im sozialen Wohnungsbau, wenn er Dabei muß ich noch erwähnen: Der Bund sieht sich Stück für Stück aus dieser Ausgabe zurückzieht. zwar 63 Millionen DM für die Verlängerung des Wohngeldsondergesetzes vor, aber mehr als zwei (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Drittel dieser Summe schneidet er aus den Zuweisun- gen des Bundes an die neuen Länder für den sozia- Sie alle kennen die Zahlen der mittelfristigen Finanz- len Wohnungsbau heraus. Das ist ein starkes Stück planung, nach denen sich dieser Rückzug auch in und beleuchtet die Politik dieser Bundesregierung. den kommenden Jahren fortsetzen wird. Diese Poli- tik führt dazu, daß auch den Ländern langsam die (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Luft ausgeht. Diese haben in der Vergangenheit ein Dasselbe Spielchen hat die Koalition beim Thema Vielfaches der Finanzmittel des Bundes für den so- Obdachlosigkeit gespielt. 50 Millionen DM als Wohl- zialen Wohnungsbau zur Verfügung gestellt, allein tat - in ihrem Sinne - für diese benachteiligte Gruppe im vergangenen Jahr mehr als 20 Milliarden DM ge- sollen ebenfalls aus der Titelgruppe 02, sozialer Woh- genüber 3 Milliarden DM, die der Bund ausgegeben nungsbau, kommen. hat. Eine Politik, die Wohnungssuchende gegen Wohn- Die Begleitmusik zur ersten Geige im Streichkon- geldempfänger und Obdachlose ausspielt, ist zutiefst zert beim sozialen Wohnungsbau spielt das Wohn- unsozial und wird von der SPD abgelehnt. geld. Seit 1990 hat es keine Anpassung des Wohn- geldes im Westen an die gestiegenen Mieten gege- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE ben. GRÜNEN und der PDS) (Dr. Konstanze Wegner [SPD]: Pfui!) Es ist im übrigen ein Armutszeugnis für diese Koalition, daß sie einen Antrag, 150 Millionen DM- Häufig sind Mieten von Wohngeldberechtigten auf für ein Sofortprogramm zur Bekämpfung der Ob- Grund der Höhe der Mieten nicht mehr voll wohn dachlosigkeit bereitzustellen, ablehnt, obwohl diese geldfähig. Im Bundeshaushalt nimmt sich diese Ent- Summe nur etwas mehr als 1 % dessen ausmacht, wicklung natürlich - weil man alles nur unter dem was wir jährlich für die steuerliche Förderung von Diktat des absoluten Einsparens sieht, ohne auf die Wohneigentum in den vergangenen Jahren ausgege- Aufgabe zu schauen - gut aus, weil dort immer weni- ben haben. ger Mittel für die Wohngeldförderung zur Verfügung gestellt werden müssen. Allein im Haushaltsvollzug Ob Streichorchester oder Verschiebebahnhof: Eine 1994 wird mehr als eine halbe Milliarde DM einge- soziale Wohnungspolitik, die auch nur den vom Bun- spart. Aber dies macht doch gerade deutlich, daß desbauminister selbst gestellten Ansprüchen gerecht 2262 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995

Dr. Rolf Niese wird, kann auf diese Weise nicht erreicht werden. Sechstens. Die Mittel für die Städtebauförderung Eine Neugestaltung der Wohnungspolitik ist über- West müssen erheblich aufgestockt werden. Ange- fällig. Als Hauptziele müssen dabei die Beseitigung sichts der Anstoßwirkung der Städtebauförderungs- der Wohnungsnot, insbesondere in den Ballungsge- mittel für die Schaffung neuer Arbeitsplätze und für bieten, und die Bezahlbarkeit von Mieten im Vorder- private Investitionen ist die geringe Ausstattung die- grund stehen. Um diese Ziele zu erreichen, muß eine ses Titels sträflich. Wohnungspolitik folgende Eckpunkte umsetzen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- Erstens. Angesichts der akuten Unterversorgung ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) mit bezahlbarem Wohnraum ist es notwendig, min- destens den aktuellen Stand bei den Fertigstellun- Bevor ich zum Schluß komme, möchte ich kurz auf gen durch Bereitstellung entsprechender finanzieller den Änderungsantrag vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Mittel zu halten. Der klassische soziale Wohnungs- NEN zum Einzelplan 25 eingehen. Die Forderungen bau mit langfristigen Bindungen ist auch in Zukunft zu den Themen Obdachlosigkeit, Wohngeld und unverzichtbar, auch wenn die F.D.P. dieses nicht hö- Städtebauförderung sind genau die von uns in den ren will. Beratungen des Haushaltsausschusses vorgetrage- nen Punkte. Aber der Antrag läßt leider vor allen (Beifall bei der SPD sowie bei der Abg. Dingen bei der Aufstockung Wohngeld und Aufstok- Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/ kung Städtebauförderung - - DIE GRÜNEN] - Horst Friedrich [F.D.P.]: Sie lesen die Vorschläge nur halb, Herr Kollege Niese!) Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege, Das Ballungsgebieteprogramm muß in der ur- gestatten Sie eine Zwischenfrage? sprünglichen Höhe weitergeführt werden. Die Kom- munen müssen finanziell in die Lage versetzt wer- den, so lange Belegungsbindungen im Bestand ein- Dr. Rolf Niese (SPD): Ja. zukaufen, solange mehr Wohnungen aus der Preis- und Belegungsbindung herausfallen, als neue durch (Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Aber den Satz Neubau hinzukommen. darf er doch noch zu Ende sagen?) Zweitens. Die Wohneigentumsförderung ist auf einen sozial gerechten einkommensunabhängigen Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Feilcke, Abzug von der Steuerschuld umzustellen. Auf diese der Redner ist frei, den Satz zu beenden oder ihn ab- Weise erhalten Haushalte mit mittleren Einkommen zubrechen. Ich glaube, wir sollten darüber nicht dis- eine wesentlich höhere Förderung als bei der bisheri- kutieren. Der Kollege Niese ist höflich und freundlich gen Regelung. Mitnahmeeffekte bei der Steuerbe- genug, sofort eine Zwischenfrage zuzulassen, und günstigung müssen abgebaut werden. nun sollten wir uns dieser zuwenden. (Beifall bei der SPD) Genossenschaftliches Bauen ist bei der steuerlichen Herbert Frankenhauser (CDU/CSU): Ich bedanke Förderung zu berücksichtigen. Ein verbessertes Bau- mich, Herr Kollege. - Sie haben jetzt einen mehrere kindergeld soll auch Familien mit mittleren Einkom- Punkte umfassenden Katalog vorgelegt. Ich nehme men zu Wohneigentum verhelfen. an, daß Sie einen entsprechenden Überblick haben, um dem Hohen Hause mitteilen zu können, wieviel Drittens. Die Bausparförderung - darauf bin ich Mark und Pfennig Sie mit diesem Forderungskatalog schon eingegangen - muß ausgeweitet und durch anfordern. eine Kinderkomponente verbessert werden. (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Soviel wie nötig!) Viertens. Angesichts der Mietbelastungen ist eine Novellierung des Wohngeldgesetzes für die alten Bundesländer, das seit 1990 den stark gestiegenen Mieten nicht mehr angepaßt worden ist, längst über- Dr. Rolf Niese (SPD): Sie können das aus dem An- fällig. Die Einführung des Vergleichsmietensystems trag ersehen, den wir zum Einzelplan 25 vorgelegt in den neuen Bundesländern muß durch Verbesse- haben. Dort ist auch eine solide Finanzierung vorge- rungen beim Wohngeld sozial abgesichert werden. sehen. (Beifall bei der SPD) Fünftens. Das Altschuldenhilfegesetz ist mit dem Ziel zu novellieren, die progressive Erlösabführung Noch einmal zu dem Antrag der GRÜNEN: Ihre in eine lineare Erlösabführung umzugestalten. Die Forderungen zu den drei Themen Obdachlosigkeit, Aus- bzw. Neugründungen von Wohnungsgenossen- Wohngeld und Städtebauförderung unterstützen wir, schaften sind als Privatisierung anzuerkennen. weil das auch unsere Punkte in den Beratungen wa- Finan- (Beifall bei der SPD) ren. Aber insbesondere fehlt mir eine solide zierung bei der Erhöhung um 772 Millionen DM Wohnungsbaugesellschaften mit schwer zu privati- beim Wohngeld und knapp 100 Millionen DM bei sierendem Wohnungsbestand muß eine Ausnahme der Städtebauförderung. Es gibt keine Vorschläge, oder ein Abweichen von der Privatisierungsklausel woher Sie das Geld an anderer Stelle nehmen wol- ermöglicht werden. len. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995 2263

Dr. Rolf Niese Bei einem Punkt, bei den 115 Millionen DM für das worden, richtungsweisende Anträge zum System der Sofortprogramm Bekämpfung der Obdachlosigkeit, Wohnungsentwicklung hätten auf dem Tisch gele- schlagen Sie eine Deckung durch Herausschneiden gen, ganz neue Dimensionen im Städtebau, und für aus dem öffentlich geförderten Wohnungsbaupro- die neuen Länder seien s trategische Konzepte zur gramm vor, dritter Förderungsweg zugegebenerma- Weiterentwicklung vorgelegt worden und so weiter ßen; aber diese Deckung lehnen wir als Fraktion ab. und so weiter. Das müßte man vermuten bei dem Ge- töse, was wir soeben wieder gehört haben. (Beifall bei der SPD) Wohnungs- und Baupolitik hat gerade in wirt- (Zurufe von der SPD) schaftlich schwierigen Zeiten einen hohen sozialen Stellenwert. Für die meisten Menschen ist die Woh- Aber mit der Haushaltsausschußwirklichkeit hat nung nicht eine Ware oder ein Wirtschaftsgut, son- das überhaupt nichts zu tun. Das sah in Wirklichkeit dern Mittelpunkt ihres Lebens und Voraussetzung völlig anders aus. für ein menschenwürdiges Leben. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Das sah so aus: Hier ein bißchen mehr fordern, da ein bißchen drauflegen, da einen Ansatz erhöhen - hät- In Deutschland fehlen über zwei Millionen Woh- ten wir ihn erhöht, wäre er dann noch einmal zum nungen. Dafür ist die Bundesregierung verantwort- Antrag gemacht worden -, hier ein bißchen strei- lich und muß diese Verantwortung auch tragen. Stei- chen, dort ein bißchen die Verpflichtungsermächti- gende Mieten, Zunahme von Obdachlosigkeit sowie gungen verbessern, und dann das alljährlich wieder- die Tatsache, daß immer mehr Menschen auf der Su- kehrende Ritual, Mehrforderungen im ersten Förder- che nach bezahlbarem Wohnraum sind, sprechen weg. eine deutliche Sprache. Die Wohnungsbaupolitik der Bundesregierung ist völlig unglaubwürdig; denn Und als einem dann überhaupt nichts mehr einfiel, zwischen den schönen Worten und den Taten liegen stellte man den Antrag auf Ansatzerhöhungen beim Welten. Wohngeld, wohl wissend, daß keine Mark mehr aus- gegeben werden kann, wenn das Wohngeldgesetz (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne nicht geändert wird, wohl wissend, daß kein Geld ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) festgehalten und kein Wohngeld verwehrt werden Daher lehnen wir den Einzelplan 25 mit Entschieden- kann, wenn der Anspruch da ist. heit ab. Lieber Kollege Metzger, das muß Sie doch eigent- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne lich schmerzen. Der Antrag kam aus Ihrer Fraktion. ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Sie sind doch ein kluger Kopf; das will ich hier von dieser Stelle aus gern einmal bezeugen. Das Wort hat Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: (Zuruf von der SPD: Übertreiben Sie nicht!) der Abgeordnete Dieter Pützhofen. Aber mit solchen Anträgen können Sie doch nicht Dieter Pützhofen (CDU/CSU): Herr Präsident! einmal den völlig Ahnungslosen beeindrucken. Das Meine Damen und Herren! Ich möchte zuerst einmal ist doch selbst für den noch nicht einmal eine soziale Dank sagen an Sie, Herr Minister, und an die Mitar- Großtat. beiterinnen und Mitarbeiter Ihres Hauses für die Zu- sammenarbeit in den letzten Monaten. Der Dank gilt (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU auch - obwohl soeben der gegenteilige Eindruck ent- und der F.D.P.) stehen konnte - im Hinblick auf die Zusammenarbeit unter den Mitberichterstattern. Meine Damen und Herren, selbst bei dem uns alle bewegenden Thema Obdachlosigkeit - soeben fiel Da bin ich allerdings bei einem wichtigen Punkt ja das Stichwort - sah es in Wirklichkeit nicht anders dieser laufenden Plenardebatte. Wenn man als un- aus. Ich möchte hier nicht die ordnungspolitische voreingenommener Beobachter die Argumentation Frage stellen, ob der Bund mit Dotationen eingreifen der letzten Tage verfolgt hat, diese aufgeplusterten soll oder nicht, ob er zuständig ist oder nicht. Dar- Vorwürfe, diese Schwarzweißmalerei, die hier statt- über mag man streiten. gefunden hat, muß man meinen, Deutschland wäre ein einziges Jammertal, der Sozialstaat wäre am Ich bleibe im übrigen in dieser Frage bei meiner- Ende und, bezogen auf den Einzelplan 25, überall in Meinung, daß die Kommunen, wenn sie wollen, der Welt würde gebaut, nur nicht in der Bundesrepu- heute bereits Ins trumente in der Hand haben, um blik Deutschland. Wer sich das anhört, dieses Problem anzugehen - wohlgemerkt, wenn sie wollen. (Zuruf von der CDU/CSU: Ist es denn nicht so?) (Zurufe von der F.D.P.: Richtig!) muß den Eindruck gewinnen: Da hat die Opposition Sie haben zugegebenermaßen nicht genug Instru- bei den diesjährigen Beratungen im Haushaltsaus- mente, um die Entstehung von Obdachlosigkeit zu schuß mal so richtig zugepackt, da seien die Förder- bekämpfen - im Mietrecht, im Sozialrecht, in der Ar- instrumente des Wohnungsbaus völlig verändert beitsmarktpolitik. 2264 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995

Dieter Pützhofen Nicht lösen können sie, daß mit öffentlichen Mit- Jahre auf mehr als 500 000 im vergangenen Jahr zu teln errichtete Wohnungen von Einzelpersonen und erhöhen. von wohlverdienenden Bürgern weiter bewohnt wer- den dürfen, sofern sie eine Fehlbelegerabgabe zah- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) len, deren Einziehung soviel kostet, wie sie dann an- Zweitens. Das Genehmigungsvolumen im Neubau schließend bringt. ist im Jahre 1994 auf 713 000 Wohnungen gestiegen (Zuruf von der SPD: Keine Ahnung!) und hat damit eine in der Nachkriegszeit bisher nur einmal erreichte Rekordhöhe erlangt. Meine Damen und Herren, die Wohnungswirt- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - schaft hat höhere Einkommensgrenzen im ersten Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Was haben Sie und zweiten Förderweg gefordert, und wir als Politik dafür getan?) haben dem entsprochen. Tatsache ist wohl offen- sichtlich nun auch, daß durch die höheren Einkom- Drittens. Der Bauetat mit einem Gesamtvolumen mensgrenzen im sozialen Wohnungsbau und die von 10 Milliarden DM zeigt klar, daß die positive Ent- Vergrößerung der Zahl der Anspruchsberechtigten wicklung der vergangenen Jahre keineswegs als Zei- am unteren Ende der Skala der Hilfsbedürftigen chen für eine Entwarnung verstanden werden darf. Menschen in die Obdachlosigkeit geraten. Wer das ehrliche Bemühen um den sozialen Woh- Die Forderung nach höheren Einkommensgrenzen nungsbau, das Wohngeld und die Städtebauförde- muß deswegen nicht falsch sein, aber dann müssen rung mit dem notwendigen Schwerpunkt in den im wohlverstandenen Sinne des Grundgesetzes alle neuen Ländern dennoch mißverstehen will, der sollte Beteiligten auch bereit sein, in einer Durchmischung zumindest so fair sein, die Realitäten der sozialdemo- von Anspruchsberechtigten die Obdachlosigkeit zu kratischen Praxis mit in die Überlegungen einzube- beseitigen. ziehen. Diese dokumentieren sich da, wo Bundeslän- der eigene Verantwortung tragen. Beispielhaft nenne Herr Kollege Niese, ein Töpfchen bereitzustellen, ich das Land Niedersachsen. wie Sie es gemacht haben, um dann die Be troffenen in das Glücksspiel zu schicken - wer eine Wohnung Gleiches gilt für das Problem der notwendigen kriegt, hat Glück gehabt, und wer keine kriegt, hat Überleitung der Mieten in den neuen Ländern in das dann eben Pech gehabt -, das kann es doch wohl Vergleichsmietensystem. Hinter verschlossenen Tü- nicht sein. ren wissen alle, daß dieser Schritt unverzichtbar ist.

Ganz sicher können wir das Problem nicht in der (Zuruf von der F.D.P.: So ist es!) Weise lösen, daß wir den Wohnungsbestand ausdeh- Jeder weiß, daß ohne diesen Schritt ein Stillstand bei nen, koste es, was es wolle, damit bei weiter expandie- Instandsetzungen und Modernisierungen stattfände. renden Wohnungswünschen der privaten Wohnungs- besitzer eine Sättigung eintritt. Da ist mir der Weg (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) über den ersten Förderweg immer noch lieber, da er die kommunale und die Landesebene mit in die Pflicht Meine Damen und Herren, ich habe hier eine An- nimmt, meine Damen und Herren, und weil - der Kol- zeige der PDS aus der sozialistischen Tageszeitung lege Kansy hat das zu Recht gesagt - das Ganze dann „Neues Deutschland" vom gestrigen Tag vor mir lie- etwas mit Teilen zu tun hat, eine Tätigkeit, die es in gen - man liest ja alles mögliche, aber auch alles un- unserem Volk mittlerweile sehr selten gibt. mögliche -,

Wissen Sie, bei 37 qm Wohnfläche pro Kopf in der (Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Man gönnt Bundesrepublik Deutschland, einem Spitzenwert im sich ja sonst nichts!) internationalen Vergleich, teile ich die Auffassung in der die PDS zu einer Demonstration gegen das derjenigen, die sagen: Die Obdachlosenfrage ist we- Mietenüberleitungsgesetz einlädt. Als Festredner niger eine Armuts- als eine Wohlstandsfrage. wurden , Ingrid Stahmer, Christiane Bretz und andere angekündigt. (Beifall der Abg. Franziska Eichstädt-Bohlig [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) (Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Unerhört!) Meine Damen und Herren, halten wir für diese Ple- Meine Damen und Herren, während ich den So- nardebatte einmal fest: Der Ablauf der Beratungen zialdemokraten noch ein gewisses Recht auf Demon- im Haushaltsausschuß gibt, bei Lichte betrachtet, strationen in bezug auf den Wohnungsbau entgegen- keinen Anlaß, ein solches Feldgeschrei zu veranstal- bringe, ten, wie es hier in den letzten zwei Tagen der Fall war. (Achim Großmann [SPD]: Das ist aber sehr gnädig!) Halten wir weiter fest, ohne in das Gegenteil zu verfallen: fehlt mir dieses Verständnis bei der PDS völlig. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Erstens. In einer historisch einmaligen Situation und unter erheblichen finanziellen Belastungen ist es Mit dem, der meint, mit dem sozialistischen Instru- gelungen, die Zahl der Fertigstellungen im Woh- ment einer dauerhaften steuerfreien Mietrente auf nungsbau von mehr als 200 000 Anfang der 90er Kosten anderer Bürger den Wohnungsbestand zu Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung, Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995 2265

Dieter Pützhofen verbessern und zu heben, gehe ich einmal durch die setzen. Und das, Herr Präsident, dokumentiert der Plattenbausiedlungen. Haushalt 1995. (Iris Gleicke [SPD]: Wir wollten schon im (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) mer, daß uns ein Wessi da durchführt!) Das Wort hat Diesen Murks nennt der Volksmund „Menschenin- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: tensivhaltung" und „Arbeiterschließfächer". Das ist die Abgeordnete Franziska Eichstädt-Bohlig. das Ergebnis einer glorreichen 40jährigen sozialisti- schen Wohnungsbaupolitik. Franziska Eichstädt-Bohlig (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Kollegen! Ich muß sagen, man konnte schon wieder Beim Übergang der Mieten in das Vergleichsmie- fast das Gähnen bekommen. Immer wieder dieselben tensystem werden die Mieter in den neuen Bundes- Thesen von derselben falschen Wohnungspolitik! ländern nicht über Gebühr belastet. Gerade das mit (Zuruf von der SPD: Jedes Jahr dieselbe den Entscheidungen zu diesem Haushalt noch ein- Rede!) mal verbesserte Wohngeldsondergesetz stellt sicher, daß es hier nicht zu Härtefällen kommt. - Ja, das glaube ich auch. Ich habe das schon so oft gehört und gelesen. Herr Minister, der Haushaltsausschuß hat sich in der vergangenen Woche kurzfristig noch einmal mit Ich habe schon, weil wir einen so charmanten Bau- dem Thema der Privatisierung in den neuen Ländern minister haben, der selbst große Scheußlichkeiten beschäftigt und, bis auf die PDS, der Eigentum offen- wie das Mietrecht Ost so verbindlich verkaufen sichtlich ein Greuel ist, kann, daß man es fast glauben möchte, systematisch gesucht, ob ich nicht etwas finde, womit ich dem Ein- (Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Es sei denn, es zelplan 25 etwas Positives abgewinnen kann. ist Parteieigentum!) Ich muß ehrlich gestehen - und nach dieser Rede auf Ihren Wunsch hin für den Privatisierungsprozeß finde ich mich bestätigt -, daß unsere Fraktion dabei einvernehmlich erneute 50 Millionen DM zur Verfü- bleiben muß: Wir sind der Auffassung, daß die Bau- gung gestellt. und Wohnungspolitik sowohl in ihren Grundzügen als auch in diesem Etat in allen seinen Einzelpositio- Ich möchte diese viel zu kurze Diskussion noch nen wirklich falsch gewickelt ist. Letztlich ist das ja einmal aufgreifen und den Wunsch an Sie, Herr Mi- auch der Etat, den noch Frau Schwaetzer einge- nister, richten, schon für den kommenden Haushalt bracht hat, der praktisch den kalten Kaffee aus der eine stärkere Akzentuierung des selbstgenutzten letzten Legislaturperiode wieder aufzuwärmen ver- Wohnungseigentums und eine Ermutigung dazu vor- sucht. zunehmen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Als Haushaltspolitiker sage ich: Ohne eine stär- Zurufe von der CDU/CSU) kere Hilfe zur Selbsthilfe, als es im Augenblick der Fall ist, wird die staatliche Belastung immer weiter Zum ersten möchte ich - darüber ist mir heute ein zunehmen. Förderwege und der Trend zu hundert- bißchen zuwenig gesprochen worden, obwohl Herr prozentigen Finanzierungen bei riesigen Abschrei- Niese davon geredet hat - auf den eigentlichen Bau- bungssätzen fördern im Wohnungsbau eine hohe minister zu sprechen kommen. Das ist schließlich staatliche Verschuldung. Umgekehrt führt Woh- Herr Waigel. Wenn man sich den Subventionsbericht nungseigentumspolitik nicht nur zu geringeren Steu- anguckt, sind da allein 11 Milliarden DM an Förde- erausfällen; obendrein fällt der Bürger nicht dem rungen nach dem Einkommensteuergesetz für die Staat anheim. Bauförderung versteckt. Die Zahlen, die für das För- dergebietsgesetz und da wieder für die Immobilien- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) wirtschaft drinstehen, kann man sowieso nicht glau- ben. Die müßte man mit mindestens 500 Millionen Meine Damen und Herren, die Bundesregierung DM ansetzen. Aber wir alle wissen, daß das eigent- hat offensichtlich die Erfolge der letzten Jahre nicht lich viel, viel mehr ist. als Entwarnung oder als Ruhekissen verstanden. Der Bund der Steuerzahler ist ja davon ausgegan- gen, daß diese Zahlen mindestens doppelt so hoch Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege, anzusetzen sind. Sie sind also deutlich nach unten- würden Sie jetzt bitte zum Schluß kommen! geschönt. Man kann wirklich nur sagen: Der eigent- liche Bauetat ist im Finanzetat bzw. in dem versteckt, was die Steuerzahler für die Steuersparer mitbezah- Dieter Pützhofen (CDU/CSU): Wohnungs- und len müssen. Deswegen gilt ja die berühmte These, Städtebau - der Satz dauert nur noch Sekunden - daß man, wenn man eigentlich in der Steuerklasse werden in den kommenden Jahren weiterhin Priori- mit 53 % ist, höchstens 30 % Steuern zahlt. Die dar- tät haben; aber da helfen keine Parolen. Bei gleich- unter zahlen mehr. zeitigem Zwang zu sparsamster Ausgabenpolitik geht es darum, knappe Mittel entsprechend den wirt- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schafts- und sozialpolitischen Prioritäten einzu- und bei der PDS) 2266 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995

Franziska Eichstädt-Bohlig Das ist ein ganz schlechtes Zeichen für Wohnungs- Wir können im Einzelplan 25 nur sehr geringe Etat- politik. Das ist Wohnungspolitik als Abfallprodukt erhöhungen beantragen. So haben wir unseren An- von Vermögenspolitik; ich habe es schon einmal ge- trag auch formuliert; ich habe das Gefühl, das haben sagt. Wenn das nicht geändert wird, können wir uns Sie teilweise falsch verstanden. Wir haben sehr viel über die paar Zahlen im Einzelplan 25 hin- und her- bescheidenere Etaterhöhungen gefordert, da unsere streiten. Wir werden nicht allzuviel herausholen kön- eigene Forderung lautet: Erst an die indirekte Gieß- nen. Denn wir müssen erst einmal den Schritt von kannenförderung heran, dann können wir umwid- der indirekten Förderung zur direkten schaffen. men zugunsten einer sozial und ökologisch ausge- richteten gezielten Förderung. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Als nächstes muß ich noch zur Obdachlosigkeit et- Der nächste Punkt - jetzt komme ich in den Etat: was sagen, weil ich mich da sehr engagiert habe: Wir erster, zweiter und dritter Förderweg. Da haben wir hatten den ersten Antrag zu einem Sofortprogramm insgesamt 2,7 Milliarden DM für die Wohnungsbau- eingebracht, zugegebenermaßen mit einem dicken förderung. Jetzt eben wurde wieder voller Stolz von Etat von 300 Millionen DM. 150 Millionen DM woll- 600 000 fertiggestellten Wohnungen gesprochen. ten wir dafür aus dem dritten Förderweg umwidmen. Ich habe einmal, auch wenn ich weiß, daß die För- Aber ich muß schon sagen: Das, was nach den Ver- dersystematik etwas komplizierter ist, 65 000 DM suchen, hier auch fraktionsübergreifend zu einem Wohnungsbauförderung pro Wohnung angesetzt. Konsens zu gelangen, hier herausgekommen ist, Das wäre so ein mittlerer zweiter Förderweg - nach- nämlich der kleine, mickrige Haushaltsvermerk beim her gibt es noch Annuitäts- und Aufwandsförderung -, sozialen Wohnungsbau, halte ich wirklich für beschä- und damit können wir 40 000, vielleicht 50 000 Woh- mend und für ein Zeichen dafür, daß dieses Haus nungen subventionieren. Mehr ist es nicht. seine Verantwortung gegenüber den Wohnungs- und Obdachlosen nicht wahrnehmen will. Da ist mir Da frage ich mich, wieso Sie ständig 500 000 oder die formale Zuständigkeit, Herr Kansy, relativ egal. 600 000 Neubauwohnungen propagieren, wenn von diesen Wohnungen nur ganz wenige - Sie wissen es, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN so war es 1994 -, nur relativ wenige bei den wirklich sowie der Abg. Dr. Dagmar Enkelmann bedürftigen Gruppen ankommen, weil es allenfalls [PDS]) zweiter und dritter Förderweg ist, ansonsten steuer- begünstigte Finanzierung. Zur Städtebauförderung, denke ich, hat Herr Niese das Wichtigste gesagt. Auch bei der Privatisierung (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ost schließe ich mich, weil ich nur wenige Minuten sowie bei Abgeordneten der SPD) zur Verfügung habe, einfach seinen Ausführungen an. Das nützt den eigentlich Betroffenen verdammt we- nig. Das sollten Sie endlich einmal einsehen. Aber gestatten Sie mir noch ein Wort zum Wohn- geld, solange ich noch das Rederecht habe: Wir, das Mir fehlt ganz deutlich der eigentliche soziale BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, halten das Aufbauen Wohnungsbau, von dem wirklich nur noch ein paar der Wohnungspolitik auf Wohngeld wohnungspoli- Rudimente zu sehen sind. Insofern holen uns die tisch für falsch, weil das die Bürger in immer größere Fehler der Wohnungspolitik der letzten Jahrzehnte Abhängigkeit vom Wohngeld treibt und weil das die praktisch ein, weil die Sozialbindungen auslaufen, Gefahr in sich birgt, daß heute beschlossen wird, daß weil das Tafelsilber verschenkt wird, weil privatisiert das Wohngeld sinkt, und morgen, daß es vielleicht wird, weil die Gemeinnützigkeit verschenkt worden wieder steigt. Das gibt den Bürgern keine Sicherheit. ist. All das holt uns jetzt ein, weil wir keinen Haus- halt mehr haben, aus dem wir reichlich subventionie- Aber wenn Sie schon eine Wohnungspolitik auf ren können. Aber die früheren Steuereinnahmen Wohngeld aufbauen, dann fordern wir Sie auf: Las- sind letztlich verschenkt worden. sen Sie das Wohngeld nicht so verkommen, wie Sie es in den letzten Jahren gemacht haben. Streichen (Zuruf von der CDU/CSU: Was verstehen Sie dann bitte nicht auch noch am Wohngeld so mas- Sie unter Tafelsilber?) siv, wie Sie das in diesem Etat, dem Einzelplan 25, getan haben. Das nenne ich nach wie vor falsche Wohnungspoli- tik, auch wenn Sie es nicht glauben wollen und mei- Deswegen ist eine unserer zentralen Forderungen: nen, Sie könnten das einfach wegbeten. Der Wohngeldetat muß mindestens in der Höhe sein, wie er im letzten Jahr war. Alles andere ist Augenwi- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) scherei. Denn woher nehmen Sie die Einkommen- steigerungen, die das kompensieren sollten? Auf zwei Punkte hat Herr Niese schon hingewie- sen: Es ist wirklich makaber, dem mit 674 Millionen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) DM für alle drei Förderschienen sowieso dürftigen Förderetat Ost noch 43 Millionen DM für das Wohn- geld Ost wegzunehmen und sich dann in der Öffent- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Sie müssen zum Schluß kommen. lichkeit ständig hinzustellen und zu sagen, wie toll man die Wohnungspolitik im Osten fördern will. Das halte ich wirklich für eine unverschämte Scheinhei- Franziska Eichstädt-Bohlig (BÜNDNIS 90/DIE ligkeit. GRÜNEN): Ja. - Damit möchte ich auch schließen. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995 2267

Franziska Eichstädt-Bohlig Ich hätte gerne noch etwas zum Umzug nach Berlin Jürgen Koppelin (F.D.P.): Nein, ich habe leider so gesagt, weil es auch da ein paar Positionen gibt, wo wenig Zeit; ich bitte um Entschuldigung. Sonst ma- meiner Meinung nach ganz gut zugelangt wird. che ich das gern, aber nicht zu so später Stunde.

(Zuruf von der CDU/CSU: Ja, loben Sie (Achim Großmann [SPD]: Sie haben Angst, doch einmal den Minister!) weil Sie falsche Zahlen nennen!) Aber das kann ich hier leider nicht mehr vortragen. Ich denke, wir belassen es bei der Wohnungspolitik. Für den Wohnungsbau - so meinen wir als Freie Demokraten - ist das ein Alarmsignal. Die F.D.P. ap- Ich bedanke mich. pelliert daher an die Bundesländer, in ihren Anstren- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gungen für den Wohnungsbau nicht nachzulassen. sowie bei Abgeordneten der PDS) Die Länder müssen ihre Aufgaben erfüllen; der Bund macht es auch. Das jedenfalls weist der Haushalts- entwurf 1995 aus. Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Das Wort hat der Abgeordnete Jürgen Koppelin. Die F.D.P. begrüßt, daß bei der Städtebauförde- rung klare Schwerpunkte auf die neuen Bundeslän- Jürgen Koppelin (F.D.P.): Herr Präsident! Liebe der gelegt werden. In den ostdeutschen Bundeslän- Kolleginnen und Kollegen! Der Haushaltsentwurf dern hat die Städtebauförderung bisher schon sicht- des Bauministers setzt durchaus richtige Schwer- bare Zeichen der Erneuerung gesetzt. Das muß wei- punkte, um die erfolgreiche Wohnungspolitik von ter vorangebracht werden. fortzusetzen. - Das als Antwort an Sie, lieber Herr Kollege Dr. Niese. Da gibt es auch Liebe Kolleginnen und Kollegen, die allgemeine nichts auseinanderzudividieren. Einigen Sie sich Einkommensentwicklung vor allem in den neuen vielleicht auch einmal mit den GRÜNEN über die Be- Bundesländern sorgt in der Folge für niedrigere Aus- urteilung. Es gibt dort ja eine völlig andere Beurtei- gaben beim Wohngeld und bei der Wohnungsbau- lung, wenn von der Kollegin von den GRÜNEN ge- prämie. Allerdings sind auch die allgemeinen Le- sagt wird, Frau Schwaetzer habe noch die Akzente in benshaltungskosten und die Mieten gestiegen, so diesem Haushalt gesetzt, während Sie das ganz an- daß eine leistungsverbessernde Novellierung beider ders sehen. Daher haben wir als Berichterstatter im Instrumente ansteht. wohnungspolitischen Teil des Etatentwurfs ja auch kaum Änderungen vorgenommen. Wohnungsbaupolitik wird jedoch nicht allein mit dem Etat des Bundesbauministers gemacht. Das Der Schwerpunkt des Etats bildet nach wie vor der Mietrecht und das Steuerrecht tragen wesentlich zur soziale Wohnungsbau mit einem Ausgabenansatz Herstellung stabiler Rahmenbedingungen für den von mehr als 2,8 Milliarden DM. Damit können wir Wohnungsbau bei. 130 000 Wohnungen fördern, genausoviel wie 1994. (Achim Großmann [SPD]: Um über eine (Beifall des Abg. Dr. Wolfgang Weng [Ger- halbe Milliarde gekürzt!) lingen] [F.D.P.]) Allerdings geht das nur, wenn auch die Länder Das ist bei der aktuellen Diskussion um das Mie- mitziehen. Wir Freien Demokraten sehen mit Sorge, tenüberleitungsgesetz zu erkennen, das jedenfalls daß einige Länder ihre Wohnungsbaufördermittel nach unserer Auffassung die Wohnungswirtschaft drastisch zurückfahren. Das betrifft z. B. Niedersach- nicht über Gebühr belasten darf. sen, das betrifft aber auch Nordrhein-Westfalen. (Zuruf von der F.D.P.: Hört, hört! - Zuruf Weiterhin steht uns eine Reform der steuerlichen bevor. Hier brau- von der CDU/CSU: Wer regiert denn da?) Wohnungseigentumsförderung chen wir einen breiten Konsens, damit es eine dauer- In Niedersachsen existiert seit der Landtagswahl nur hafte Reform wird. Die F.D.P. warnt davor, den § 10e noch ein Rumpfprogramm des Landes. In Nordrhein- des Einkommensteuergesetzes zu überfrachten und Westfalen hat die Wohnungsbauministerin ihren Tri- alle vermeintlichen und tatsächlichen Ungerechtig- but an die desolate Finanzsituation der Regierung keiten mit diesem einen steuerlichen Förderinstru- Rau leisten müssen. ment lösen zu wollen. Auf jeden Fall wünschen wir Freien Demokraten bei der Reform des § 10 e keine Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Land Hessen Verschlechterung, sondern eine Verbesserung der hat den sozialen Wohnungsbau um 40 % gekürzt. steuerlichen Förderung der privaten Wohneigen- Das ist ja nicht uninteressant; ich fand es erstaunlich, tumsbildung. daß der Kollege Niese auf diese Dinge überhaupt nicht eingegangen ist. Das gehört natürlich auch zu (Beifall bei der F.D.P.) einer solchen Debatte. Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und (Zuruf von der F.D.P.: Welcher Partei gehört Kollegen, der Prozeß der Privatisierung der kommu- denn Herr Eichel an?) nalen Wohnungen in den neuen Bundesländern durch den Verkauf an die Mieter muß nach Auffas- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Koppelin, sung der F.D.P. zügig fortgesetzt werden. gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Groß- mann? (Beifall bei der F.D.P.) 2268 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995

Jürgen Koppelin Hier werden wir darauf achten, daß die Kommunen Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Das Wort hat ihren Wohnungsbestand, den sie mit einer erhebli- nun der Abgeordnete Klaus-Jürgen Warnick. chen Entlastung bei den Altschulden zugewiesen be- kommen haben, zu günstigen Preisen an die Mieter Klaus - Jürgen Warnick (PDS): Herr Präsident! weitergeben und nicht den Versuch unternehmen, Meine Damen und Herren! Leider habe ich zuwenig sich durch Wohnungsveräußerungen sozusagen un- Zeit, gerechtfertigt zu bereichern. (Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Viel zuviel!) (Lachen der Abg. Iris Gleicke [SPD]) um auf einige Argumente hier antworten zu können. - So ist es doch. Ich möchte aber zu dem Thema „Murkswohnungen" Stellung nehmen. Merken Sie denn nicht, daß hier Ein Wort direkt an den Wohnungsbauminister: Die ein Widerspruch besteht? Auf der einen Seite hat Gestaltung des Übergangs ins Vergleichsmietensy- man für eine große Anzahl solcher „Murkswohnun- stem in den neuen Bundesländern muß nach Auffas- gen" alle Beschaffenheitszuschläge erhoben. Ande- sung der F.D.P. so gestaltet werden, daß die Investiti- rerseits müssen die Mieter in den von Ihnen so ge- onsbereitschaft der privaten und der kommunalen nannten Murkswohnungen jetzt nach dem Motto Investoren nicht gebremst wird. verfahren: Wohnen wie im Osten, aber Miete zahlen wie im Westen. (Beifall bei der F.D.P.) Daß der Einzelplan des Bauministeriums ein einzi- Andererseits muß die Belastung der Mieter unter Be- ger Skandal ist, haben meine Vorrednerinnen und rücksichtigung des Sonderwohngeldes in einem der Vorredner von der Opposition schon deutlich ge- Einkommensentwicklung entsprechenden Rahmen macht. Mit diesem Haushaltsplan und seinen P riori- gehalten werden. Hier führen wir zur Zeit ja noch tätensetzungen wird nichts getan, um spürbar etwas eine Diskussion über die Details. Es ist kein Geheim- gegen den zunehmenden Mangel an bezahlbaren nis, daß die F.D.P. - der Wohnungsbauminister weiß Wohnungen und gegen das Anwachsen der Zahl der das - Kappungsgrenzenregelungen jeglicher Art von Obdachlosigkeit bedrohten und betroffenen skeptisch gegenübersteht. Menschen zu tun. Im Etatansatz 1995 wurden die sowieso unzurei- (Zustimmung bei der F.D.P. - Dr. Wolfgang chenden Mittel für die Förderung des sozialen Woh- Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Ablehnend!) nungsbaus und die Gewährung von Wohngeld in Ost und West noch weiter zusammengestrichen. Es - Am liebsten ablehnend. ist doch ein Unding, den Wohngeldansatz im Ver- Die Bau- und Wohnungswirtschaft ist ein ganz ent- gleich zum Vorjahr um 770 Millionen DM zu verrin- scheidender Faktor für den Aufschwung Ost. Jeder gern und dann an Sonderwohngeld Ost eine mildtä- preisbegrenzende staatliche Eingriff schmälert Inve- tige Gabe in Höhe von 63 Millionen DM angeblich stitionen am Bau. Daher hätten wir Freien Demokra- zusätzlich zu gewähren. Dies ist mehr als durchsich- ten dem Bundeswohnungsbauminister bei den Ge- tig und auch unehrlich. sprächen mit seinen ostdeutschen Kollegen mehr Mit welcher Kälte die Koalitionsfraktionen Sozial- Mut und vor allem mehr marktwirtschaftliches Rück- abbau zugunsten der Kapitalinteressen durchsetzen grat gewünscht. wollen, wird an den christlich-liberalen Vorschlägen sichtbar. Dazu gehören - ich habe es vorhin schon (Zurufe von der SPD) genannt - der ungenügende Ausgleich im Wohngeld für die zu erwartenden drastischen Mieterhöhungen Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und in Ostdeutschland, nachdem vorher wesentlich hö- Kollegen, 1995 werden wichtige Entscheidungen bei here Kürzungen in diesem Etatsansatz vorgenom- der Wohnungsbauförderung zu treffen sein. men wurden, die Orientierung auf ein dürftiges So- fortprogramm zur Bekämpfung von Obdachlosigkeit (Anhaltende Zurufe von der SPD) - bisher weiß noch keiner, wie man das Geld dafür - Wenn der Kollege Fischer nicht da ist, krakeelen beschaffen soll - und ein 50-Millionen-DM-Pro- gramm, um die Zwangsprivatisierungen von kommu- Sie anscheinend. - Wir wollen, daß die Bausparförde- r ung nachhaltig verbessert wird. Nicht das Schul- nalen und genossenschaftlichen Wohnungen in Ost- denmachen, sondern das Ansparen muß prämiert deutschland schmackhafter zu machen. Dies alles werden. wollen Sie finanzieren, indem Sie die Mittel für den sozialen Wohnungsbau weiter kürzen. Diesen Haus- (Beifall bei der F.D.P.) halt und diese Umverteilungen dann noch als Wohl- tat zu verkaufen ist in meinen Augen Betrug. Der Zy- Weniger Staat, effizienterer Einsatz der knappen nismus, mit dem Wohngeldberechtigte, Wohnungs- Mittel und verläßliche Rahmenbedingungen für die suchende und Obdachlose gegeneinander ausge- am Marktgeschehen Beteiligten sind Voraussetzung spielt werden, ist hier bezeichnend. für eine Fortsetzung der Fertigstellungszahlen auf hohem Niveau. Die F.D.P. wird auch weiterhin dazu Die Bundestagsgruppe der PDS hat zu diesem Ein- ihren Beitrag leisten. - Vielen Dank für Ihre Geduld. zelplan sechs Änderungsanträge eingebracht, die ich angesichts meiner geringen Redezeit nur in Stich- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) punkten noch einmal nennen möchte. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995 2269

Klaus- Jürgen Warnick Zum ersten wird in den Änderungsanträgen auf Deckungsvorschläge fehlten. Neu ist aber, daß be- den Drucksachen 13/959 und 13/960 die deutliche hauptet wird, es gebe welche. Herr Dr. Niese, Ihr An- Anhebung der Mittel für die Förderung des sozialen trag auf Drucksache 13/970 hat keine. Das geht in Wohnungsbaus in Ost und West vorgeschlagen. Mit der Tat so nicht. der Verdoppelung des Ansatzes für 1995 auf rund Es wird gefordert, daß der Bund mehr Geld bereit- 5,4 Milliarden DM und mit jährlichen Steigerungsra- stellen müßte. Dabei wird in bezug auf den Woh- ten von 20 % von 1996 bis 1998 können wirksame nungsbau häufig übersehen, daß die Förderung und Maßnahmen zur Schaffung und zum Erhalt von be- die Umsetzung des sozialen Wohnungsbaus Auf- zahlbaren Wohnungen mit Belegungsbindungen er- gabe der Länder ist. griffen werden. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU (Vorsitz: Präsidentin Dr. Rita Süssmuth) und der F.D.P.) Dies ist notwendig, um dem drastischen Rückgang Es gibt nachahmenswerte Länder, die erhebliche des Sozialwohnungsbestands in den westdeutschen Anstrengungen für den sozialen Wohnungsbau un- Ländern und dem Fehlen eines Sozialwohnungsbe- ternehmen und dabei einen Schwerpunkt in der Ei- stands in Ostdeutschland überhaupt zu begegnen. gentumsförderung setzen. Es gibt Länder, die ihre Die zusätzlichen Mittel für den sozialen Wohnungs- Wohnungsbaumittel reduzieren. In einigen Bundes- bau können durch radikalen Abbau ungerechtfertig- ländern ist die Reduzierung erschreckend, z. B. in ter Eigentumsförderung kompensiert werden. Hessen mit minus 38 % Als zweites wird mit dem Änderungsantrag auf (Zuruf von der F.D.P.: 40 %!) Drucksache 13/956 die Verlängerung der Zinshilfe für die sogenannten Altschulden der ostdeutschen und in Niedersachsen mit minus 54 %. Das kommt Wohnungswirtschaft bis zum 31. Dezember 1995 vor- mir so vor wie ein SPD-Wettbewerb um die rote La- geschlagen. Damit wären die kommunalen und ge- terne im Wohnungsbau. nossenschaftlichen Wohnungsunternehmen in der (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Lage, ihre finanziellen, materiellen und personellen ordneten der F.D.P.) Kräfte auf die zügige Sanierung und Modernisie- rung des vorhandenen Bestands zu konzentrieren, Wir alle wissen, daß sich der Bund auf Finanzie- statt ab 1. Juli 1995 den Banken von den Mieteinnah- rungshilfen beschränken kann, daß aber Bund, Län- men durchschnittlich eine weitere Mark pro Qua- der und Gemeinden auch den gesetzlichen - nicht dratmeter abzutreten. Außerdem wäre Zeit gewon- den verfassungsrechtlichen - Auftrag haben, Woh- nen, um aus dem von allen Seiten kritisierten und nungsbau für die breiten Schichten des Volkes als völlig unausgereiften Mietenüberleitungsgesetz ein vordringliche Aufgabe zu fördern. sowohl für die Mieter als auch für die Wohnungswirt- Deshalb muß es gemeinsames Ziel sein, den Woh- schaft und die Kommunen tragfähiges Konzept für nungsbau zu verstetigen und Investitionen zu er- die künftige Mietenpolitik in Ostdeutschland zu ent- möglichen. Wenn jedoch heute Investoren statt wie wickeln. bisher 550 000 Wohnungen jährlich 650 000 oder gar Zum dritten wird mit dem Änderungsantrag auf 700 000 Wohnungen bauen wollten, wäre das gar Drucksache 13/957 vorgeschlagen, die Vergütungen nicht möglich, weil es an Bauland fehlte. Deshalb für die KfW für die Umsetzung des Altschuldenhilfe kann eine Verstetigung des Wohnungsbaus nur er- Gesetzes von 20 Millionen DM auf 10 Millionen DM folgreich sein, wenn Städte und Gemeinden Initiati- zu reduzieren. Das wird möglich, wenn sich der Auf- ven ergreifen, um mehr Bauland auszuweisen. wand der Bank infolge der von den Demokratischen Baulandmangel ist bekanntlich ein großer Klemm- Sozialisten geforderten ersatzlosen Streichung des schuh für den Wohnungsbau. Das kann und muß § 5 des Altschuldenhilfe-Gesetzes, also der Zwangs- besser werden. So muß das Investitionserleichte- privatisierung, erheblich reduziert. rungs- und Wohnbaulandgesetz - eine abschrek- Meine Damen und Herren, meine Redezeit ist ab- kende Gesetzesbezeichnung für eine sinnvolle Sa- gelaufen. Ich komme zum Schluß. Die Anträge der che - umfassend genutzt werden. Ich denke an die PDS wie auch die des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- städtebaulichen Verträge, an den Vorhaben- und Er- NEN und von der SPD weisen aus sozial- und woh- schließungsplan, der in den alten Bundesländern nungspolitischer Sicht in die richtige Richtung. Den noch viel zu wenig genutzt wird. Vorschlägen der Koalition können und werden wir Gemeinden verweisen immer häufiger darauf, daß nicht zustimmen. es schwierig ist, die notwendigen Ausgleichsflächen - Schönen Dank. bereitzustellen. Dabei wäre das Problem zur Zeit noch zielorientiert zu lösen. Das soeben genannte In- (Beifall bei der PDS) vestitionserleichterungs- und Wohnbaulandgesetz ermöglicht bekanntlich befristet abweichende Län- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster dergesetze. Die Länder nutzen jedoch bedauerlicher- spricht der Abgeordnete Gert Willner. weise den § 8 b zugunsten des Wohnungsbaus nicht aus. Gert Willner (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Es kann nicht sein, daß über Wohnraummangel la- Kolleginnen und Kollegen! Die Forderungen der Op- mentiert und geklagt wird, aber Länder sich wei- position waren nicht neu; neu war auch nicht, daß gern, die Chance befristeter Erleichterungen für den 2270 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995

Gert Willner Wohnungsbau zu nutzen. Ich halte es für geboten, Sechstens. Wir erleichtern die Privatisierung von diese wohnungsbaufeindliche Haltung von Ländern Wohnungen in den neuen Bundesländern. zu ändern und sich an dem Vorbild Bayerns zu orien- tieren. Siebtens. Wir stellen zusätzliche Mittel für eine sachliche Mieterinformation im Zusammenhang mit (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge der Einführung der Vergleichsmiete in den neuen ordneten der F.D.P.) Ländern zur Verfügung. Ich fordere auf, mit der Ver- unsicherung der Mieter aufzuhören. Ein anderes wichtiges Thema ist die Städtebauför- derung. Der Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- und Städtebau hält es mit den Stimmen der Koalition ordneten der F.D.P.) nach wie vor für geboten, daß bei der Städtebauför- Es sind Entscheidungen getroffen, wohnungsbau- derung der Schwerpunkt im Beitrittsgebiet liegt. An- politische Akzente gesetzt. Jetzt müssen Länder und dererseits dürfen auch die in den westlichen Ländern Gemeinden ihren Beitrag zur Umsetzung leisten. drängenden Aufgaben wie Altlastensanierung und Wohnraumbeschaffung nicht vernachlässigt werden, Meine Schlußbemerkung: so daß auf Sicht im gesamten Bundesgebiet ein aus- gewogenes Verhältnis der Mittelbereitstellung gebo- Mehr fordern, als der Bund bezahlen kann, ten erscheint. ist oppositionsüblich, das weiß hier Frau und Mann. Familien mit Kindern und Alleinerziehende haben Doch wollen wir, daß noch mehr Raum geschaf- es bei der Wohnungssuche besonders schwer. Daher fen wird zum Leben, wollen wir, daß 1995 die Bundes- und Landesmittel hiernach müssen auch Bund, Länder und Ge- mit Schwerpunkt für Familien mit Kindern einge- meinden streben. setzt werden und staatliche und kommunale Liegen- Allerdings sind Bund, Land und Gemeinde der schaften dazu verbilligt bereitgestellt werden. Ebenen wohl drei, dem Bürger ist es einerlei. Wir stimmen mit dem Bundesbauminister überein, Er möchte Wohnung, Haus besitzen, daß künftig Eigentumsbausparförderung verstärkt ist bereit, mit eignem Geld dafür zu schwitzen. und vorrangig dem Erwerb vom Wohnungseigentum Hilfe zur Selbsthilfe wir gern als CDU und CSU durch Familien mit Kindern zugute kommen muß. unterstützen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. (Beifall bei der CDU/CSU) Jürgen Koppelin [F.D.P.]) Unser Ziel ist, auch künftig Wohnung anzubie- Der Bund hat von 1991 bis 1994 im Durchschnitt ten, jede Woche rund 1,3 Millionen DM, insgesamt in Eigentum und auch zu mieten. 280 Millionen DM, zur Förderung der Wohnungspri- Drum, liebe Kollegen von GRÜN und auch der vatisierung in den neuen Ländern zur Verfügung ge- SPD: stellt. Für über 100 000 Bürgerinnen und Bürger in Laßt's Jammern über Waigel, das Klagen, Ach den neuen Ländern wurde damit trotz geringer Ei- und Weh. genkapitalausstattung Wohnen in Eigentum möglich. Sagt ja zu Nr. 25 vom Bundeshaushaltsplan, Das Programm war ein voller Erfolg. Wir wollen es auch bei knappen Kassen kommen wir voran! 1995 fortsetzen, um weitere 10 000 private Woh- Ein Lob für den „neuen Mann vom Bau" hab' ich nungsankäufe durch Mieter und damit Eigeninitia- parat, tive zu fördern. Das ist Politik der CDU/CSU. Minister Töpfer, Sie hatten einen guten Start. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU und ordneten der F.D.P.) der F.D.P. - Zurufe von der CDU/CSU: Bravo! - Zurufe von der SPD: Helau! — Hal- Es ist notwendig, Schwerpunkte deutlich zu ma- lelujah!) chen:

Erstens. Wir stellen mehr Mittel für den sozialen Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Willner, nach Wohnungsbau bereit, als die mittelfristige Finanzpla- der norddeutschen Jungfernrede, die soviel Wach- nung vorsieht. heit und Applaus nach sich zieht, Zweitens. Wir setzen Schwerpunkte bei der Förde- (Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Das Volk der - rung von Familien mit Kindern. Dichter und Denker!) Drittens. Wir treffen klare Aussagen zur Bauland- haben wir nicht den Eindruck, daß Sie ein Newcomer erschließung. sind. Viertens. Wir tragen zur Bekämpfung der Obdach- Jetzt hat als letzter in dieser Runde der Bundesmi- losigkeit bei, ohne die Kommunen zusätzlich zu bela- nister für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau, sten. Klaus Töpfer, das Wort. Fünftens. Wir geben Signale in der künftigen Aus- (Beifall bei der CDU/CSU - Zuruf von der richtung der Städtebauförderung. SPD: Aber ohne Gedicht!) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995 2271

Dr. Klaus Töpfer, Bundesminister für Raumord- man mit ihnen bis spät in die Nacht hinein in guter, nung, Bauwesen und Städtebau: Frau Präsidentin! konstruktiver Art und Weise versucht hat, gemein- Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auch ich same Wege zu finden, daß aber dann, wenn man wie- möchte dem Kollegen Willner sehr herzlich gratulie- der hierher zurückkommt, von vornherein erst ein- ren. Ich hatte jetzt wohl die achte Haushaltsdiskus- mal alles, was man macht, schlecht ist - außer der sion mitzumachen; aber mit Versen bin ich noch nie Presseerklärung; die ist jedenfalls positiv erwähnt eingeführt worden. worden. (Zuruf von der F.D.P.: Aber mit Sprüchen Es wäre hervorragend, wenn wir bei der Diskus- von der SPD!) sion dieses Einzelplans des Bundesministeriums für Raumordnung, für Bauwesen und für Städtebau auch Herzlichen Dank! Ich bin ganz sicher, daß über die wieder einmal mehr darüber diskutieren würden, Verse hinaus die gute Zusammenarbeit bestehen was wir denn tun, um die kulturelle Identität dieses bleibt. Landes mit zu bewahren. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge (Zustimmung bei Abgeordneten der CDU/ ordneten der F.D.P.) CSU und der SPD) Meine Damen und Herren, ich kann das jetzt nicht Wir reden viel, viel darüber, daß wir 50 Millionen DM aus dem Stegreif aufnehmen und weiter reimen. aus dem Titel für den sozialen Wohnungsbau heraus- Aber eines will ich gerne tun, nämlich mich zunächst genommen haben. Aber welche Bauten wir damit einmal bei den Kolleginnen und Kollegen im Haus- bekommen, wie wir diese Mittel verwenden, um un- haltsausschuß sehr herzlich dafür bedanken, daß sie sere Städte und Gebäude auch für die Zukunft mit in den letzten Wochen und Monaten und bis in die etwas Profil zu versehen, darüber reden wir interes- letzten Tage hinein diesen Einzelplan sehr konstruk- santerweise überhaupt nicht. tiv begleitet haben. Wir mußten ja sehr viel Flexibili- tät erbitten, was für die Sache sehr gut war. Ich (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- komme darauf zurück. ordneten der F.D.P.) Herr Kollege Niese, ich habe auch die Berichter- Meine Damen und Herren, wir klagen darüber, stattergespräche in bester Erinnerung. Um so mehr daß es „nur" 620 Millionen DM sind, die für den hat es mich im Herzen getroffen, daß Sie diesen Ein- Städtebau in den neuen Bundesländern eingesetzt zelplan nicht nur ablehnen, sondern ihn sogar mit worden sind, davon 200 Millionen DM für den städte- Entschiedenheit ablehnen. baulichen Denkmalschutz. Wie großartig ist es doch, (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU daß dank dieser Möglichkeiten z. B. Quedlinburg in und der F.D.P.) die Liste des Weltkulturerbes aufgenommen wurde, eine Stadt mit einer großartigen Bausubstanz, die zu Vielleicht nehmen Sie wenigstens die Entschieden- erhalten eine wunderbare Sache ist. heit zurück. Dann könnte ich die Diskussion heute abend in aller Ruhe weite rverfolgen. Denn das trifft (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) mich wirklich ganz besonders hart. - Dies, meine Da- Daß die 20 Millionen DM, die bisher aus dem Titel men und Herren, zu der positiven Seite, die ich nicht nach Quedlinburg geflossen sind, immer noch zu we- übersehen möchte. nig sind, liegt daran, daß in den letzten 40 Jahren Eines ist allerdings nur ganz schwer zu ertragen. überhaupt nichts gemacht worden ist. Dies wird Das muß ich dazusagen. Schwer zu ertragen ist es für dann hier noch mit einer derartigen Rede der PDS mich, von einem Vertreter der PDS des Betruges ge- begleitet. Ich fordere uns auf: Lassen Sie uns einmal scholten zu werden. Die Partei, die mit verantwort- wieder in diesem Hohen Haus auch über Architektur lich dafür ist, daß so viele Menschen um ihre persön- und Kultur in diesem Bereich jenseits der Frage der liche Freiheit und um ihre persönliche Entfaltung be- Finanzen diskutieren. trogen worden sind, sollte das Wort Betrug nie mehr (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - in den Mund nehmen, nie mehr! Merken Sie sich Zuruf von der CDU/CSU: Aber nicht mit das! den Banausen! - Zuruf des Abg. Achim (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. so Großmann [SPD]) wie bei Abgeordneten der SPD) - Ich wußte doch, Herr Kollege Großmann, daß an Von vielen höre ich mir das an, aber von Ihnen nicht! dieser Stelle der Zwischenruf kommt, ich würde das Deswegen wollte ich Ihnen gesagt haben: Seien Sie nur sagen, um über die mageren Zahlen hinwegzu- - in Ihrer Wortwahl vorsichtiger und zurückhaltender. täuschen. Dies ist es nicht. Ich komme auch darauf zurück. (Dr.-Ing. Dietmar Kansy [CDU/CSU]: Es nutzt nichts bei denen!) Wir haben bei so vielen Gelegenheiten immer wie- der auf die Zahlen verwiesen. Lassen Sie uns doch Meine sehr verehrten Damen und Herren, natür- einmal zu später Abendstunde in diesem Hohen lich gibt es in einer solchen Haushaltsdebatte immer Hause auch etwas hinter die Zahlen blicken und fra- vorgefertigte Schablonen. An vielen Stellen wagt gen, was damit bewirkt wird. man ja gar nicht, darüber nachzudenken, daß man noch vor wenigen Tagen mit Bauministern zusam- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU mengesessen hat, die der SPD angehören, und daß und der F.D.P.) 2272 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995

Bundesminister Dr. Klaus Töpfer Ich habe mir erlaubt, dies zumindest innerhalb der vorher auch schon so gesagt. Ich habe noch nicht al- ersten drei Minuten anzusprechen. Dafür wird ja les nachgelesen, was gesagt worden ist. Der wohl Zeit gewesen sein. schlimmste Vorwurf ist es ja wohl nicht, oder? Wir dürfen das doch wohl mit aufgreifen. Etwas Ähnliches gilt für die Raumordnung. Wenn wir über Ökologie sprechen, Frau Kollegin Eich- Ich bin der Meinung, da müssen wir ran. Deswe- städt-Bohlig, muß ich sagen: Was wir in der Raum- gen sage ich noch einmal herzlichen Dank an den ordnung falsch machen, ist hinterher das Falsche in Haushaltsausschuß, auch an den Finanzminister, daß der Ökologie. Das weiß jeder, aber wir reden aus- wir die Möglichkeit der 50-Millionen-Privatisierung schließlich über den Bau. Warum können wir nicht bekommen haben. Ich bekomme doch die Schreiben einmal diesen Querverweis mit aufgreifen? von den Bürgerinnen und Bürgern - auch aus diesem Hohen Hause -, in denen steht: Bis 1994 haben wir Nun komme ich zu den Zahlen selbst. Wo liegt der mit 7 000 DM den Kauf von Wohnungen mitfinan- Schwerpunkt? Es ist doch ganz unstrittig, daß die so- ziert, und ab 1995 ist nichts mehr da. Dann wird ge- zialste Wohnung, die wir bauen können, die selbst- fragt: Warum haben jene etwas bekommen und die genutzte Eigentumswohnung ist. anderen nicht? Deswegen ist es gut und richtig, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) wenn wir es machen. Nebenbei, wir erhöhen damit nachhaltig die Investitionskraft der Wohnungsunter- Das ist mit Abstand die sozialste Wohnung. nehmen. Denn wenn wir mit den 50 Millionen DM 10 000 Wohnungen zusätzlich privatisieren können, Wenn wir in bezug auf das selbstgenutzte Wohnei- also kaufen können, dann ist das so erlöste Geld In- gentum so weit wie unsere Nachbarn wären - ich vestivmittel für die Wohnungswirtschaft. Deswegen gehe einmal nur 10 Prozentpunkte weiter -, dann will ich das flankierend dazu mit eingesetzt haben. hätten wir mehr gemacht, als wir durch eine noch so Ich halte es für eine gute, eine außerordentlich sinn- gute Aufstockung beim sozialen Wohnungsbau für volle Sache, daß wir damit vorankommen. die Entlastung gerade dieser Personen machen kön- nen. Wir können weiter fragen: Wie bekommen wir es hin, daß auch und besonders die Kinderkomponente (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne bei unserer Förderung stärker wird? Meine Damen ten der CDU/CSU) und Herren, ich bin da sehr, sehr offen. Denn es kann doch gar nicht anders sein, als daß wir uns - wie in- Dies ist meine Meinung. tensiv auch immer - um den Familienlastenaus- (Widerspruch bei der SPD) gleich gekümmert haben. Wenn wir das, was wir auf der einen Seite mit 200 und 300 DM Kindergeld ge- Ich nehme konstruktiv das auf, was Frau Eichstädt- ben, auf der anderen Seite über zu hohe Mieten zu- Bohlig gesagt hat. Wie könnte ich das nach ihrer ein- rückbekämen, wäre das nicht richtig. Deswegen muß leitenden Bemerkung auch übersehen haben? Der das in einen Zusammenhang gebracht werden. Das eine kommt mit Gedichten, die andere mit Charme. ist der entscheidende Punkt. Mehr kann man an einem Abend gar nicht verlan- gen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Meine Damen und Herren, ich bin ja mit Ihnen der Unser Problem ist doch nicht, daß wir zu wenig Überzeugung, der entscheidende Punkt in diesem Wohnfläche haben. Das ist ja gesagt worden: Wir Haushalt steht nicht im Einzelplan für mein Ressort; sind bei 37 m2 pro Kopf. es sind die steuerlichen Förderungen, die indirekten Förderungen. (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Die Besserverdienenden haben die mei (Zuruf von der SPD: Sehr wahr!) sten!)

- Das habe ich nur aufgegriffen; mehr kann ich doch Finden Sie das einmal woanders. Wir müssen doch nicht tun. dort etwas schaffen, wo die Nachfrage noch nicht zu entsprechenden Kosten befriedigt wird. Das ist un- Deswegen gehen wir die einzelnen Maßnahmen sere Aufgabe. Ich habe mich gefreut, daß Sie diese jetzt durch und fragen: Sind diese steuerlichen För- Meinung teilen. derungen genau richtig gesetzt? Oder können wir sie nicht mit Blick auf eine bessere Förderung von Fami- Nein, dieser Etat ist nicht der Beleg dafür, daß wir lien und von Eigentum so verändern, daß es den kein Konzept haben. Dieser Etat ist ein Beleg dafür, Steuerzahler nicht mehr Geld kostet, aber zielge- daß wir das Ganze in der Kontinuität eines Konzep- - rechter das erreicht wird, was wir wollen? Darum tes weiterentwickeln. kann es doch nur gehen. (Beifall des Abg. Jürgen Koppelin [F.D.P.]) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. so wie bei Abgeordneten der SPD und des Deswegen will ich auch von meiner Seite noch ein- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) mal sagen - vielleicht kommen wir irgendwann ein- mal dazu, daß das von der Opposition gar nicht mehr Meine Damen und Herren, dann ist es noch der ge- aufgegriffen wird -: Über 500 000 Wohnungen im ringste Vorwurf, der mich treffen kann, wenn man letzten Jahr und davon, Herr Kollege Großmann, mir entgegenhält, das hätten Herr Niese und die SPD 150 000 Sozialwohnungen - ein Spitzenwert! Dies ist Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995 2273

Bundesminister Dr. Klaus Töpfer - das sage ich noch einmal - ein Ergebnis guter Poli- die Freiheit nehmen, eine bessere Idee von der SPD tik, die vor mir entwickelt und vor mir durchgesetzt als besser anzusehen. worden ist. Ich stehe nicht an, das an dieser Stelle noch einmal mit allem Nachdruck zu unterstreichen. (Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Gibt es ja lei der nicht!) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Die Bewertung, ob es aber eine bessere Idee ist, Herr Das hat Frau Schwaetzer prima gemacht. Deswegen Kollege Niese, hätte ich nicht gerne Ihnen überlas- kann man darauf aufbauen und das weiterentwik- sen. Diese Frage möchte ich schon gerne selbst beur- keln. teilen. Ich danke Ihnen sehr herzlich. Dann werden wir, Herr Kollege Koppelin, die Nachhilfestunden in Marktwirtschaft bei mir ganz si- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) cherlich auch noch unterbringen können. Ich habe nur immer eine kleine Sorge, die ich in meinen öko- nomischen Lehrjahren erfahren habe - lassen Sie Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Es könnte jetzt ru- mich das hinzufügen -: Dort, wo noch kein Markt ist, hig noch weitergehen, aber die Aussprache ist zu muß man einen Weg finden, ihn zu entwickeln. Des- schließen. wegen bemühen wir uns darum, ihn zu entwickeln. Wir kommen zur Abstimmung über den Einzel- Das ist mein besonderer Punkt. plan 25. Dazu liegt je ein Änderungsantrag der Frak- tionen der CDU/CSU und der F.D.P., der Fraktion der (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) SPD sowie der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE Ich bin gerne bereit, mir an irgendeiner Stelle sagen GRÜNEN vor. Die Gruppe der PDS hat sechs Ände- zu lassen: Wir müssen möglichst bald in eine Ent rungsanträge eingebracht. wicklung kommen, wo wir keine Kappung brauchen. Wir stimmen zuerst über den Änderungsantrag der (Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Richtig!) Fraktionen der CDU/CSU und der F.D.P. auf Druck- sache 13/905 ab. Wer stimmt für den Änderungsan- Aber damit wir sozialverträglich und mit sozialem trag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Damit ist der Frieden in unserem Land dorthin kommen, muß ich Änderungsantrag mit den Stimmen der CDU/CSU, einen Markt entwickeln. Auf dem Weg dorthin brau- der F.D.P. und der SPD bei Gegenstimmen des che ich Kappungsgrenzen. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS ange- nommen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge ordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/ Wir kommen zur Abstimmung über den Ände- DIE GRÜNEN) rungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 13/970. Wer stimmt für den Änderungsantrag? - Ge- Auch das sage ich. Wir sind ja gar nicht weit ausein- genprobe! - Enthaltungen? - Damit ist der Ände- ander. rungsantrag mit den Stimmen der CDU/CSU und der F.D.P. bei Zustimmung der SPD, des BÜNDNISSES 90/ (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - DIE GRÜNEN und der PDS abgelehnt. Zuruf von der SPD: Na, na? - Jürgen Kop pelin [F.D.P.]: Hat auch Sachsen diese Auf Wir kommen zur Abstimmung über den Ände- fassung? Teilt auch Biedenkopf diese Mei rungsantrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nung? - Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: NEN auf Drucksache 13/885. Wer stimmt für den An- Also, jetzt hätte ich Ihnen einmal zugeneigt, derungsantrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - aber so?) Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen der CDU/ CSU, der F.D.P. und der SPD bei Zustimmung des - Das ist wirklich das Schöne. Das ist wie bei Paw- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS abge- low: In dem Moment, in dem man sich einmal mit ei- lehnt. nem Kollegen aus der Koalition in einer Frage unter- Wir kommen zur Abstimmung über die Ände- hält, die nicht der vorgefaßten Meinung „Die haben rungsanträge der PDS, und zwar zuerst über den Än- alles richtig, und ihr habt alles falsch" entspricht, derungsantrag auf Drucksache 13/956. Wer stimmt gibt es höhnische Zwischenrufe. dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Da- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Nein, mit ist dieser Antrag mit den Stimmen der CDU/CSU, wir haben uns gefreut!) der F.D.P. und eines großen Teils der SPD bei Enthal- tung des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und eini-- Es ist in dieser Welt vieles differenzierter, als daß wir gen Enthaltungen aus der SPD abgelehnt. es an dieser Stelle in Schablonen hineinpressen könnten. Wir kommen zur Abstimmung über den Ände- rungsantrag auf Drucksache 13/957. Wer stimmt da- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) für? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dieser Antrag ist ebenfalls mit den Stimmen der CDU/CSU, Deswegen werden wir das Ganze weiterentwickeln, der F.D.P. und großer Teile der SPD bei Zustimmung und zwar in aller Sachlichkeit und in der Offenheit, der PDS und Enthaltung des BÜNDNISSES 90/DIE mit jedem auch darüber zu sprechen, ob es einen GRÜNEN sowie einiger Abgeordneter der SPD abge- besseren Weg gibt. Ich werde mir auch in Zukunft lehnt. 2274 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth Wir kommen zur Abstimmung über den Ände- Kollegen Töpfer gemacht, und zwar zu seinen Sätzen rungsantrag auf Drucksache 13/958. Wer stimmt da- in den ersten drei Minuten. für? - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist auch dieser Antrag mit den Stimmen der CDU/CSU, Herr Kollege Töpfer, ich unterstreiche, was Sie ge- der F.D.P. und der SPD bei Zustimmung der PDS und sagt haben, daß wir hier nicht nur eingeengt disku- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN abgelehnt. tieren sollten, sondern es in der Tat notwendig ist, auch über die Lebensqualität in unseren Städten und Wir kommen zur Abstimmung über den Ände- Gemeinden zu reden. Da haben Sie völlig recht, und rungsantrag auf Drucksache 13/959. Wer stimmt da- ich unterstütze Sie in dieser Forderung. Vielleicht für? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit gibt es die Gelegenheit, daß wir einmal über den ist dieser Antrag mit den Stimmen der CDU/CSU, Städtebau heute und in der Vergangenheit reden, der F.D.P., der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE über die Fehler, die gemacht worden sind, und über GRÜNEN bei Zustimmung der PDS abgelehnt. die Fehler, die heute noch gemacht werden, damit Wir kommen zur Abstimmung über den Ände- sie möglicherweise einmal vermieden werden kön- rungsantrag auf Drucksache 13/960. Wer stimmt da- nen. für? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist dieser Antrag mit den Stimmen der CDU/CSU, der Ich denke an das, was jetzt auf dem „ Weltbürger- F.D.P., des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der meistergipfel" in Berlin, parallel zur Weltklimakonfe- SPD bei Zustimmung der PDS abgelehnt. renz, einige Bürgermeister gesagt haben. Beispiels- weise hat der Bürgermeister von Portland in den Wir kommen zur Abstimmung über den Ände- USA erklärt, daß man dort eine Mauer um die Stadt rungsantrag auf Drucksache 13/961. Wer stimmt da- gebaut hat, um den ganzen Verkehr von der Stadt für? - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist fernzuhalten, und daß man den großen Park in der dieser Antrag mit den Stimmen der CDU/CSU, der Stadt der Bevölkerung als Grünzone zugänglich ge- F.D.P. und der SPD bei Zustimmung der PDS und macht hat. Und ich denke an Teheran, wo es verbo- Enthaltung des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN ab- ten ist, in die Stadt hineinzufahren. Diese Diskussion gelehnt. können wir dann einmal aufnehmen, Herr Kollege Wer stimmt für den Einzelplan 25 in der Ausschuß- Töpfer, und dann hoffe ich, daß wir immer noch Seite fassung mit den beschlossenen Änderungen? - Ge- an Seite sind, wenn es darum geht, den Verkehr aus genstimmen? - Enthaltungen? - Damit ist dieser Ein- den Städten herauszuhalten und die Städte wieder zelplan mit den Stimmen der CDU/CSU und der lebens- und liebenswert zu machen. Das ist eine F.D.P. bei Gegenstimmen der SPD, des BÜNDNIS- große Aufgabe, der wir uns dann gemeinsam stellen SES 90/DIE GRÜNEN und der PDS angenommen. können. Damit ist dieser Haushalt abgestimmt. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Ich rufe Punkt I. 22 auf: und der PDS)

Einzelplan 12 Aber, wie gesagt, meine Damen und Herren, wir Bundesministerium für Verkehr müssen zu den Einzelplänen reden, und deshalb nun zum Einzelplan 12, der jetzt aufgerufen ist. - Drucksachen 13/512, 13/527 - Berichterstattung: Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei dem Einzel- plan 12, dem Haushalt des Bundesministers für Ver- Abgeordnete Hans Georg Wagner kehr, befassen wir uns mit dem zweithöchsten Ein- Bartholomäus Kalb zelplan. Denn wenn man den eigentlichen zweit- Jürgen Koppelin höchsten Einzelplan außer acht läßt, nämlich die Kristin Heyne Schulden, die ja kaum investive Ausgaben sein kön- nen, dann ist der Verkehrshaushalt der zweithöchste Ich bitte diejenigen, die den Saal verlassen wollen, und zugleich der investitionsintensivste Einzelplan das schnell zu tun. des gesamten Bundeshaushalts. Das heißt, wir müs- Dazu liegen ein Änderungsantrag der Fraktion der sen ganz genau hinsehen, welche Maßnahmen in SPD, drei Änderungsanträge der Fraktion BÜND- diesem Bundeshaushalt enthalten sind, welche Inve- NIS 90/DIE GRÜNEN sowie ein Änderungsantrag stitionen für welche Projekte in welcher Höhe zu der Gruppe der PDS vor. welchem Zeitpunkt mit welcher Finanzierung. Das ist schon eine gewichtige gesellschaftspolitische Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Frage. Und jetzt werden natürlich auch die politi- Aussprache eine Stunde vorgesehen. Dagegen sehe schen Bewertungsunterschiede zwischen den Regie- ich keinen Widerspruch. Wir verfahren so, und es be- rungsparteien und der SPD deutlich. Wie werden po- ginnt der Kollege Hans Georg Wagner. litische Prioriäten gesetzt, und wo trifft man sich zu gemeinsam getragenen Entscheidungen? Hans Georg Wagner (SPD): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist eigentlich schade, Fast 50 %, also die Hälfte des Einzelplans, entfallen daß die Haushaltsdebatten so strukturiert sind, daß auf Investitionen. Schiene, Schiffahrt, Straßenbau man zu dem Ressort und zum Einzelplan sprechen und Luftverkehr sind die Schwerpunkte, für die die muß. Ich hätte gern ein paar Bemerkungen zu Herrn meisten Mittel aufgewendet werden sollen. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995 2275

Hans Georg Wagner Um es gleich vorweg zu sagen, meine Damen und Im Kapitel 12 10 sind im Haushaltsjahr 1995 Auf- Herren: Die eigentliche inhaltliche Auseinanderset- wendungen für den Straßenbauplan in Höhe von zung werden wir beim Haushalt 1996 deshalb zu füh- 10,4 Milliarden DM vorgesehen. Der Bundesver- ren haben, weil am Ende dieser Haushaltswoche, in kehrswegeplan 1992 bietet den investitionspoliti- der wir jetzt sind, das erste Vierteljahr des Jahres schen Rahmen für den neuen Bedarfsplan, der sei- 1995 vorbei ist und zumindest jeder Praktiker weiß, nerseits die Grundlage für das mittelfristige Baupro- daß die Wirksamkeit der Haushaltsmittel ins zweite gramm zum Ausbau der Bundesfernstraßen in den Halbjahr verlagert ist und wir deshalb heute nicht so Jahren 1993 bis 1997, mit Ergänzung bis zum Jahre strittig diskutieren müssen, wie das dann bei dem 2000, bildet. Danach sind 38,85 Milliarden DM bis Haushalt, der sich normal in der Abwicklung befin- zum Jahre 2000 eingeplant. den wird, getan werden muß. Jedoch klafft zwischen dem Investitionsvolumen Ich sagte vorhin, daß es natürlich unterschiedliche des Bundesverkehrswegeplanes 1992 und dem jetzi- politische Bewertungen des Verkehrshaushalts zwi- gen Finanzierungsplan eine Finanzierungslücke von schen Regierung und SPD gibt. Dabei geht es insbe- mehr als 10 Milliarden DM. Damit steht heute bereits sondere darum, welchen Verkehrsträgern der Vor- fest, daß viele Pläne Makulatur sind. rang eingeräumt werden soll. Wir Sozialdemokraten bejahen den Vorrang der Schiene vor der Straße als (Beifall bei der SPD) Schwerpunkt der Investitionen. Zwischen Zusagen zu notwendigen Projekten vor (Beifall bei der SPD - Zuruf von der CDU/ Ort und der Realisierung im Bundeshaushalt finden CSU: Wir auch!) sich Welten. Mit „Zusagen vor Ort" meine ich die vielfachen Versprechungen, die Kolleginnen und Dies haben wir in unseren Anträgen zum Verkehrs- Kollegen vor Ort in ihren Wahlkreisen machen haushalt auch deutlich gemacht. Ihr Zwischenruf, Herr Kollege, zeigt mir deutlich, daß Sie die Anträge (Zuruf von der CDU/CSU: Gerade von der der Koalition nicht gelesen haben; die haben nämlich SPD!) die Mittel für die Schiene zugunsten des Straßenbaus gekürzt. Ich möchte Sie bitten, bevor Sie Zwischen- und die jetzt im Bundesverkehrswegeplan keine Ent- rufe dieser Art machen, sich zunächst einmal kundig sprechung finden können, weil dafür schlichtweg zu machen. Der Blick in den Haushaltsplan erleich- kein Geld da ist. tert die Wahrheitsfindung. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS) Diese von Ihnen nicht gehaltenen Versprechen stei- Gewiß, die Deutsche Bahn hat es leider 1994 nicht gern nach meiner Auffassung nur das Mißtrauen der geschafft, die bereitgestellten Mittel so abfließen zu Bürger gegenüber den Zusagen der Politiker. lassen, daß eine öffentliche Diskussion darüber gar nicht erst entstehen konnte. Der Vorstand hat jeden- Die Finanzierungslücke erfordert notwendiger- falls zugesagt, in diesem Jahr, 1995, die Vorausset- weise die Konzentration auf Maßnahmen, die tat- sächlich von vorrangiger Bedeutung für die Bevölke- zungen für einen ordentlichen Mittelabfluß zu schaf- fen. Wir hoffen alle im Interesse der Bahn, daß dies rung sind. Dabei sind Ortsumgehungen allemal auch tatsächlich funktioniert, und erwarten, daß Sie, wichtiger als der Straßenneubau, den die Regie- Herr Minister, die Verträge mit der Deutschen Bahn rungskoalition mit so hoher Priorität versieht. AG, die noch ausstehen, baldmöglichst abschließen, (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Jede Straßenneubaumaßnahme muß umweltver- da dies die Voraussetzung für viele Investitionen im träglich und den Menschen dienlich sein. Dies hat Bereich der Bahn AG ist. der Europäische Gerichtshof in seinem Urteil vom August vergangenen Jahres deutlich gemacht. Ei- Probleme bereiten nach wie vor die Lärmbelästi- gentlich hätten alle Straßenbauvorhaben seit 1988 gungen am bestehenden Schienennetz. Wir Sozial- vor ihrer Realisierung einer Umweltverträglichkeits- demokraten wollen durch unseren Antrag, 20 Mil- prüfung unterzogen werden müssen. Das Oberver- lionen DM als Barmittel und 180 Millionen DM als waltungsgericht in Koblenz hat vor einiger Zeit in Verpflichtungsermächtigungen bereitzustellen, den seinem Urteil zu einem Teilstück der A 60 festge- Einstieg in ein Lärmminderungsprogramm finden. stellt, daß diese europäische Regelung auch bei uns Damit kommen wir zugleich einem Auftrag des Peti- längst in nationales Recht hätte umgesetzt werden tionsausschusses des Deutschen Bundestages nach. müssen. Dort hat Staatssekretär die haus- (Beifall bei der SPD) haltsrechtliche Umsetzung solcher Maßnahmen ge- fordert. Wenn Sie unserem Antrag zustimmen, wür- Sie, Herr Minister Wissmann, trifft hier keine den Sie seinem Wunsche folgen, meine Damen und Schuld, im Gegensatz zu Ihrem Kollegen Klaus Töp- Herren. fer, (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Elke Ferner [SPD]: Leider wahr!) 2276 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995

Hans Georg Wagner der es in seiner Zeit als Umweltminister nicht ge- Wir begrüßen daher alle entsprechenden Verein- schafft hat, die Richtlinie der Europäischen Union in barungen auf der Ebene der Europäischen Union, nationales Recht umzusetzen. meinen aber, daß die Bundesregierung so schnell wie möglich ihre Aufgaben erfüllen und ihrerseits die (Karl Diller [SPD]: Ein Versager, wie im vertraglichen Regelungen beschleunigen sollte, z. B. mer!) die Verträge mit der Deutschen Bahn AG. Es wurde vielfach versprochen, aber niemals umge- (Beifall bei der SPD) setzt. Ich wage nicht, mir vorzustellen, was ge- schieht, wenn das Oberverwaltungsgericht Koblenz Ich denke hier - natürlich, Herr Minister, völlig von dem Gericht in Karlsruhe bestätigt wird. Dann ist selbstlos - an die Hochgeschwindigkeitsstrecke von der Herr Töpfer der größte Investitionsverhinderer im Saarbrücken nach Mannheim. Baubereich in Deutschland seit Kriegsende. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/DIE In diesem Zusammenhang darf natürlich die Wirt- GRÜNEN]) schaftlichkeit nicht auf der Strecke bleiben. Denn hätte er 1988 die Umweltverträglichkeitsprü- Ich bezweifle, meine Damen und Herren, ob Sie fung als nationales Recht umgesetzt, wären die mei- bei den vielen gegenteiligen Untersuchungen und sten Verfahren heute abgeschlossen - positiv oder Gutachten mit der Transrapidentscheidung den Stein negativ, aber wir hätten Klarheit. Eben hat ein Kol- der Weisen für die Verkehrspolitik der nächsten Jahr- lege von der Verstetigung der Bauaufgaben gespro- zehnte entdeckt haben. chen. Die Bauwirtschaft hätte auch Klarheit, was sie im Bereich der Bahn, der Schiffahrt und in anderen (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ Bereichen der Politik erwartet. DIE GRÜNEN]: Vornehm ausgedrückt! - Weiterer Zuruf von der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD) - Ich sage noch einmal, Herr Kollege Zwischenrufer: Die Koalition hat es in der Beratung des Haushalts- Wir sind nicht gegen den Transrapid. planes verstanden, dem Ganzen noch eine Krone aufzusetzen, indem sie in völliger Verkehrung und (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ Verkennung der öffentlichen Diskussion die Mittel DIE GRÜNEN]: Das ist ja das Problem!) für den Schienenausbau um 250 Millionen DM redu- ziert, die sie dann auch noch dem Straßenbau zufüh- Wir haben nur erhebliche und nicht ungerechtfer- ren will, obwohl das eben Gesagte eigentlich die um- tigte Bedenken gegenüber der Strecke Berlin-Ham- gekehrte Priorität erfordert hätte. burg, wären aber beispielsweise bereit gewesen, zu sagen, der Anschluß des möglichen Großflughafens Gerade jetzt, während der Berliner Klimafolgekon- Sperenberg an die Bundeshauptstadt Berlin sei eine ferenz, ist ein derartiges Vorhaben besonders entlar- der Strecken, die wir mittragen könnten. Dies ist vend. Aber bekanntlich ist die weltweite Blamage keine paralle Strecke zum ICE zwischen Hamburg der Bundesregierung schon so offenkundig, daß die und Berlin und damit keine Konkurrenz zu ihm. heutige Absicht der Koalition nur noch ein ergänzen- des Mosaiksteinchen im Gesamtbild ihrer falschen (Beifall bei der SPD) Politik darstellt. Wenn wir es mit der Klimaverbesse- rung ernst meinen, dann müssen wir auch ernsthaft Selbstverständlich darf man in diesem Zusammen- und ehrlich umschalten. Die Koalition schafft dies hang die Regionalisierung als ergänzendes Prinzip nachweisbar nicht mehr, denn dies erfordert auch im ÖPNV nicht vergessen. So schwer dies sein mag, eine Veränderung der Einsichten, und dazu ist sie Herr Kollege Wissmann: An einem integrierten Ver- nicht fähig. kehrskonzept kommen Sie nicht vorbei. Je schneller Sie es auf den Weg bringen, desto besser. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/DIE Bei der Debatte zur Regierungserklärung des Bun- GRÜNEN]) deskanzlers Ende November 1994 sprachen Sie, Herr Kollege Wissmann, die Notwendigkeit eines Zu- In diesen Tagen sind die Grenzkontrollen inner- kunftspaktes mit der Automobilindustrie an. Ich halb der Europäischen Union völlig weggefallen. Un- sehe das genauso. Was allerdings dieser Tage als Er- ter dem Aspekt des weiteren Zusammenwachsens gebnis - zugegebenermaßen nur bruchstückhaft - Europas verdienen die transeuropäischen Schienen- bekannt wurde, ist mehr als enttäuschend. Ich sage - wege deshalb unsere besondere Aufmerksamkeit. in aller Deutlichkeit: Wenn die Automobilindustrie Allein die Vorstellung oder Vision, ungehindert per selber nicht stärker zur Lösung beiträgt, müssen wir Bahn von Neapel nach Hamburg oder Skandinavien gesetzliche Regelungen finden, sonst klappt das nie. zu fahren oder von Barcelona über Paris nach Mann- heim, Berlin, Warschau bis Moskau oder daß Eng- (Beifall bei der SPD) land heute keine Insel mehr ist, seit es durch den Eu- rotunnel mit dem Festland verbunden ist! Seit die ge- Daß die Bundesregierung in den Gesprächen, die sie nannten Städte und Länder problemlos per Bahn er- mit der Automobilindustrie führte, zusagte, daß sie reichbar wurden, ist Europa kleiner, aber auch inter- auf europäischer Ebene einer Verbrauchsreduzie- essanter geworden. rung, die in den Ländern und in der Kommission dis- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995 2277

Hans Georg Wagner kutiert wurden, nicht zustimmen werde, wird von Die dramatische soziale Situation bei den mittel- uns in aller Schärfe kritisiert. Denn es ist die Umkeh- ständischen Partikulieren ist durch diesen Vorschlag rung dessen, was wir alle wollen. wenigstens abgefedert worden. Allerdings ist die nachhaltige Modernisierung noch nicht eingeleitet (Beifall bei der SPD) worden. Dies muß noch überlegt werden. Ab Mai können entsprechende Anträge gestellt werden, vor- Ich war übrigens immer schon sehr erstaunt, wie ausgesetzt, daß die Europäische Union mit ihren Ge- flexibel die deutsche Automobilindustrie etwa auf nehmigungsverfahren zu Rande kommt. Ich höre in amerikanische gesetzliche Regelungen reagierte, den letzten Tagen hier Bedenkliches. Das ist ein Pro- ohne ständig den angeblich unmittelbar bevorste- blem, das wir sehen müssen. Auch hierin sind Aus- henden Kollaps anzudrohen. Sie wird sich sicherlich bildungskosten von 3 Millionen DM enthalten. auf einen drastisch reduzierten Benzinverbrauch ein- stellen. Sie könnte sich nicht nur weltweit Meriten er- Einen Bereich der Verkehrspolitik kann ich mit ei- werben, sondern auch erhebliche Gewinnzuwächse nem gewissen gelassenen Abstand betrachten: Ich erzielen, wie es bei anderen Technologien der Fall meine die Flugsicherung. Wie haben uns doch vor ist, bei denen wir weltweit Spitze sind. Ich denke da- Jahren die Warteschleifen über Frankfurt genervt, bei an Bergbau-, Kraftwerk- oder Umwelttechnik. die Fluglotsen machten Dienst nach Vorschrift, und Verspätungen waren die Regel. Die Lufthansa er- (Zuruf des Abg. Dr. Dionys Jobst [CDU/ kannte, daß Warteschleifen viel Geld kosten und die CSU]) Umwelt verschmutzen, und führte ihre damaligen Verluste u. a. auch darauf zurück. Gestern ist durch die Presse gegangen, daß Indone- sien, Herr Kollege Jobst, ein deutsches Steinkohle- (Horst Friedrich [F.D.P.]: Wer war denn jah- kraftwerk kauft, weil die Technik weltweit Spitze ist. relang dagegen?) Darauf sind wir stolz. Allesamt können wir darauf stolz sein. Seit 1. Januar 1993 macht nun die Deutsche Flugsi- cherung GmbH ihre Arbeit, und plötzlich: Keine Ver- (Beifall bei der SPD) spätungen, weniger Warteschleifen und mit ihrem Das ist der Weg in die richtige Richtung, meine Da- Gehalt zufriedene Fluglotsen. men und Herren. Das muß auch in der Automobilin- (Lachen bei der F.D.P.) dustrie zugegebenermaßen zur Kenntnis genommen werden. Ich meine, daß man das weltweit umsetzen Experten behaupten sogar, daß sich die Gehälter na- kann und daß dies auch anerkannt wird. hezu verdoppelt hätten. Sie haben, Herr Minister Wissmann, unsere volle (Lachen bei der F.D.P.) Unterstützung, wenn Sie in dieser Sache hart blei- - Die Verdoppelung der Gehälter steigert offensicht- ben. lich ihre Freude, liebe Kollegen und Kolleginnen; Sie wissen, daß sich das auch irgendwann auf die Preise Eine Gruppe wird sich über den Haushalt 1995 si- auswirkt. Zum Nachdenken regt die Sache schon an. cherlich freuen, und ihre Freude kann um so unein- geschränkter sein, weil sich der ganze Ausschuß ein- (Horst Friedrich [F.D.P.]: Wo ist denn da der stimmig dem Vorschlag der Bundesregierung ange- Unterschied? Das habe ich noch nie begrif- schlossen hat, die Seeschiffahrtshilfe zum Ausgleich fen!) von internationalen Wettbewerbsnachteilen mit 100 Millionen DM zu unterstützen. - Ich versuche, das bei Ihnen heute abend hinzube- kommen; aber ich glaube, das gelingt mir nicht. (Beifall der Abg. Anke Fuchs [Köln] [SPD]) Das Luftfahrt-Bundesamt ist an den Grenzen sei- Uns allen geht es darum, daß deutsche Reeder ner Belastbarkeit angelangt. Neben der Zulassung auch zukünftig Seeschiffe unter deutscher Flagge von neuem Luftgerät erfüllt das Amt vor allem wich- wettbewerbsfähig betreiben können. Aus wichtigen tige Aufgaben zur Flugsicherheit. Hier geht es kon- politischen Gründen ist der Erhalt einer ausreichend kret um die Sicherheit jedes einzelnen Flugpas- großen deutschen Handelsflotte dringend notwen- sagiers, und das erfordert von uns eine besondere dig, nicht zuletzt zum Erhalt von qualifizierten Ar- Aufmerksamkeit. beitsplätzen. Solange die Rahmendaten noch nicht Ich habe von den Fluglotsen, der Flugsicherung stimmen, müssen wir diesen Flankenschutz aufrecht- und über das Luftfahrt-Bundesamt als Dienststelle erhalten. Der Haushaltsausschuß hat außerdem fest- des Bundesverkehrsministers gesprochen. Da bietet gehalten, daß in den 100 Millionen DM bis zu 5 Mil- es sich natürlich auch an, über die Bundesbeteiligun- lionen DM Ausbildungshilfe enthalten sind. gen an Flugplätzen zu reden. Ein schöner Fall bot sich uns Haushältern etwa bei der öffentlichen Dis- Aber nicht nur die Seeschiffahrt, sondern auch die kussion über die Berlin International Partikuliere in der Binnenschiffahrt können hoffen. Flughafen Holding GmbH. Die uns Haushältern un- Einstimmig hat der Haushaltsausschuß dem Vor- ter strengster Vertraulichkeit übersandte Prüfungs- schlag der Bundesregierung zugestimmt, ein finan- mitteilung des Bundesrechnungshofes konnten die zielles Hilfspaket von 160 Millionen DM zu schnü- übrigen Mitglieder des Hohen Hauses am gleichen ren, wovon 100 Millionen DM als einmaliger Zu- Tage im „Spiegel" nachlesen. schuß zur Umstrukturierung und Modernisierung zur Verfügung gestellt werden. (Heiterkeit) 2278 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995

Hans Georg Wagner Dadurch war die notwendige Vertraulichkeit dann Es ist so, daß wir natürlich in den Dialog mit der auch hergestellt. Bundesregierung darüber eintreten müssen. Das ist noch nicht geschehen. Die Veröffentlichung allein Ich will die Sache jetzt nicht diskutieren, weil die reicht nicht aus. Wir müssen noch die Meinung der Betroffenen, die das gelesen haben, wissen, daß es Bundesregierung dazu hören. Sie ist ja schließlich um sehr viel Geld geht, sondern nur darauf hinwei- der Besteller derjenigen, die in den Gremien dieser sen, daß wir natürlich erwarten, daß die Vertreter des Flughäfen sitzen. Insofern wird das in Kürze, wenn Bundes in solchen Gremien ihre Arbeit sehr, sehr dieses Thema im Haushaltsausschuß ansteht, eine ernst nehmen und aufpassen, was dort die Geschäfts- hochinteressante Diskussion werden. Ich danke, daß führung treibt, damit Millionenverluste gar nicht erst Sie mich darauf hingewiesen haben. eintreten können; denn das ist das Geld der Steuer- zahler. Es wird niemand bestreiten, meine Damen und (Beifall bei der SPD) Herren, daß es keine einfache Sache ist, eine solche Das gilt übrigens nicht nur für den möglichen Integration zu erreichen, zumal wir alle Mobilität be- neuen Flughafen in Berlin, sondern das gilt ange- nötigen. Aber wurde der Straßenbau über Jahr- sichts der neuesten Diskussionen auch für den zehnte nicht so bevorzugt, daß alle anderen Ver- Franz-Josef-Strauß-Flughafen in München und die kehrsträger chancenlos waren und zurückfielen? infrastrukturellen Maßnahmen, die dort geplant sind. Deshalb ist es nur recht und billig, jetzt mit Macht ein Umsteuern zu betreiben, um endlich wenigstens In diesem Zusammenhang begrüßen wir übrigens den Versuch für eine Chancengleichheit zwischen die Kooperation des Flughafens Köln/Bonn und des den einzelnen Trägern zu machen. Bis zum Erreichen Düsseldorfer Flughafens. Dies stärkt nicht nur die einer solchen Chancengleichheit wird es noch eine Luftverkehrsbasis Nordrhein-Westfalen, sondern Weile dauern. Dies ist, wie gesagt, keine leichte Auf- dient auch dem verstärkten Wettbewerb mit den an- gabe. Aber wenn wir nicht endlich damit anfangen, grenzenden Nachbarländern im europäischen Bin- wird es nie dazu kommen. nenmarkt. Transeuropäische Schienensysteme, eine leben- Ich bin hier bewußt nicht auf Bestrebungen zur Zu- dige Binnenschiffahrt, eine der Klimabelastung an- sammenlegung von Behörden im Bereich des Bun- gepaßte Flugpolitik und ein landschaftsschonender desverkehrsministers eingegangen, die zu einer Stö- Straßenbau sowie die Vernetzung der einzelnen Ver- rung des regionalen und föderalen Gleichgewichts kehrsträger und damit Aufbau von integrierten führen können. Ich meine, daß wir die Einzelheiten Transportketten sind die Eckpunkte einer integrier- dazu in Berichterstattergesprächen mit dem Minister ten Verkehrspolitik, die wir heute anmahnen. und der politischen Führung bereits erörtert haben.

Gewiß, eine Verwaltung sollte so effizient wie mög- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Kollege Wag- lich arbeiten, nur darf dabei nicht die ausgewogene ner, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen regionale Verteilung auf der Strecke bleiben. Zwei Schmidt? Bundesländer, Bremen und das Saarland, haben am 27. Mai 1992 ein Urteil des Bundesverfassungsge- Hans Georg Wagner (SPD): Einen Satz noch! Weni- richtes erstritten, welches Zeichen setzte. ger Auto, mehr Fahrrad und mehr ÖPNV sind Bau- steine für eine Klimaverbesserung. Im Prinzip sind wir ja von Ihren Überlegungen gar nicht so weit entfernt. Aber ich meine, daß es einer (Beifall bei der SPD) regional ausgewogenen Präsenz von Bundesbehör- So, Herr Kollege, Sie können fragen. den bedarf. Wir werden uns zwischen den Haushal- ten 1995 und 1996 daher auch über die Frage zu un- terhalten haben, wie der Haushalt des Bundesver- Albert Schmidt (Hitzhofen) (BÜNDNIS 90/DIE kehrsministers in all seinen Verzweigungen regional GRÜNEN): Herr Kollege Wagner, Sie haben die gleichrangig vollzogen werden kann. „Spiegel"-Veröffentlichung vom 13. Februar dieses Jahres zum Großflughafen Berlin Brandenburg In- Die sich vollziehende Normalisierung auch in den ternational angesprochen. Haben Sie es als Haushäl- neuen Bundesländern wird Ausgangspunkt einer ter nicht als ausgesprochen hilfreich empfunden und Gesamtdiskussion werden müssen. Ich bin über- im Grunde begrüßt, daß durch diese Veröffentli- zeugt, daß es zwischen unseren Freunden aus den chung publik wurde, wie schlampig, wie am Bedarf Ostländern und uns funktioniert, daß es an der Zeit vorbei und überzogen hier geplant worden ist, so daß ist, zu einer neuen Rückflußregelung im Haushalts- im Grunde genommen jetzt die Möglichkeit gegeben vollzug zu kommen. ist, zu einer vernünftigeren Finanzentscheidung auch im Sinne eines haushälterischen Umgangs mit Wenn jetzt, wie es in der Vergangenheit war, ir- Bundesmitteln zu kommen? gendwo in der Republik eine Investition, aus wel- chen Gründen auch immer, nicht läuft, sollten die Hans Georg Wagner (SPD): Herr Kollege, Sie ha- Mittel an anderer Stelle investiert werden können, ben sicherlich recht. Sie haben ja die Meinung der wo es läuft. Damit kommen wir auch zu einer Be- Haushälter unisono, wie ich es ausgedrückt habe - schleunigung in allen Ecken der Bundesrepublik vorsichtig, wie wir nun einmal sind -, gehört. Deutschland, und das ist eigentlich richtig. Die An- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995 2279

Hans Georg Wagner sätze zu einer Optimierung im Haushaltssystem des Fernstraßenbau eine Kürzung um 1 Milliarde DM Bundes sind vorhanden und werden erprobt. Wir vornehmen wollten und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN müssen, so meine ich, hier bald zu einer klaren Rege- sogar eine Kürzung um 3 Milliarden DM vorgeschla- lung kommen. gen haben? Meine Damen und Herren, der Haushalt 1995 ist (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ein Kurzhaushalt, seine Abwicklung muß unter Zeit- sowie bei Abgeordneten der SPD - gesichtspunkten gesehen werden. Die eigentliche Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Unglaublich!) politische Diskussion - das hatte ich gesagt - werden Soeben hat Kollege Wagner auf die Unterfinanzie- wir im Herbst dieses Jahres führen. Dann ist hoffent- rung des Bundesverkehrswegeplans hingewiesen. lich auch ein Zustand der Normalität in Deutschland erreicht, so daß wir ohne Emotionen über den Bin- Meine sehr verehrten Damen und Herren, das paßt nenzustand unseres Landes, insbesondere im Be- doch nicht zusammen. reich der Verkehrspolitik, reden können. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Der Haushalt 1995 läßt jedoch auch im Jahre 5 ordneten der F.D.P.) nach der Wende nicht erkennen, daß die Bundesre- gierung und die sie tragenden Fraktionen in der Vor allen Dingen stimmt dies nicht mit den Erfahrun- Lage wären, einer integrierten Verkehrspolitik in gen überein, die ich vor Ort mit Politikern aller Sei- Deutschland zum Durchbruch zu verhelfen, die die- ten mache. Vor den letzten Wahlen sind eine schnel- sen Namen auch verdient. Daher lehnt die SPD den lere Realisierung der Straßenbauprojekte, Haushalt 1995 ab: weil z. B. eine ökologisch notwen- (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Hört! Hört!) dige Umorientierung von der Straße zur Schiene nicht erkennbar ist. Wir müssen endlich damit anfan- eine zusätzliche Aufnahme in den Bundesverkehrs- gen; sonst wird nie etwas daraus. wegeplan, großzügigere und auch teurere Lösungen massiv gefordert worden. Ich danke für die Aufmerksamkeit. (Elke Ferner [SPD]: Wir haben massiv Strei- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Rolf chungsvorschläge gemacht!) Kutzmutz [PDS]) Wenn man dann als Mitglied der Koalition dieses Hauses der Redlichkeit halber darauf hingewiesen Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster hat, daß dies alles nicht so schnell und nicht so ein- spricht nun der Kollege Bartholomäus Kalb. fach zu machen sei, (Elke Ferner [SPD]: Sie haben doch behaup- Bartholomäus Kalb (CDU/CSU): Verehrte Frau tet, das ginge alles ganz schnell!) Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Her- ren Kolleginnen und Kollegen! Der Verkehrshaushalt ist man dafür auch noch kritisiert und gescholten ist durch seinen außerordentlich hohen Investitions- worden. Vor Ort mehr fordern, hier aber die Mittel anteil gekennzeichnet. zusammenstreichen wollen - das paßt schlicht und einfach nicht zusammen. Eine gute Verkehrsinfrastruktur ist die wichtigste Voraussetzung für die wirtschaftliche Entwicklung (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) eines Landes und seiner Regionen. Verkehrswege Wir alle wissen - Kollege Wagner hat soeben dar- sind Lebensadern. Wirtschaftliche Entwicklung, Stei- auf hingewiesen -, daß der Verkehrswegeplan unzu- gerung der Leistungsfähigkeit und Hebung des reichend finanziert ist, daß wir wesentlich höhere Wohlstandsniveaus einer Region hängen ganz we- Ansätze dafür bräuchten. Um so mehr freue ich mich, sentlich vom Vorhandensein einer guten Verkehrs- daß die Arbeitsgruppe der Koalition im Haushalts- infrastruktur ab, neuerdings, Herr Bundespostmini- ausschuß meinem Vorschlag gefolgt ist und eine Um- ster, auch in Verbindung mit den Kommunikations- schichtung zugunsten der Mittel für den Fernstra- netzen. ßenbau in Höhe von 250 Millionen DM mitgetragen (Dr. Wolfgang Bötsch [CDU/CSU]: Sehr hat. richtig!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU Diese Erfahrung hat sich immer wieder in den wirt- und der F.D.P.) schaftlich schwächeren Regionen der alten Bundes- Wenn jetzt von verschiedener Seite behauptet wird republik bestätigt. Um so mehr kommt dem Ausbau - Kollege Wagner hat das gemäßigt angesprochen, der Verkehrswege in den neuen Ländern größte Be- weil er Haushälter ist und die Realitäten kennt -, wir deutung zu. Wie schon in den zurückliegenden Jah- würden den Ausbau der Schienenverkehrswege ver- ren liegt hier ein besonderer Ausgabenschwerpunkt nachlässigen, so ist das schlicht und einfach falsch. des Haushalts. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Die Diskussion über den Bundesfernstraßenbau wird insbesondere von den GRÜNEN und von Teilen Es ist zwar richtig, daß wir die Mittel für den Schie- der SPD gemeinsam mit dem BUND ideologisch ge- nenwegeausbau gegenüber dem Haushaltsentwurf führt. Wie anders wäre sonst zu erklären, daß die nominal zurückgenommen haben. Tatsache aber ist, Verkehrspolitiker der SPD bei den Mitteln für den daß mit einem Ansatz von rund 10 Milliarden DM 2280 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995

Bartholomäus Kalb rund 2,3 Milliarden DM mehr zur Verfügung stehen, Angesichts der prognostizierten erheblichen Zu- als 1994 verausgabt werden konnten. Das heißt, die- nahme sowohl des Personen- als auch insbesondere ser Haushalt erlaubt die Steigerung der Bauleistun- des Güterverkehrs werden wir uns in Zukunft eine gen um rund 30 %. ideologisch gefärbte Diskussion über den einen oder anderen Verkehrsträger nicht mehr leisten können. (Beifall des Abg. [CDU/ Vielmehr wird es darauf ankommen, daß jeder ein- CSU]) zelne Verkehrsträger seine spezifischen Vorteile zur Ich bin deshalb der felsenfesten Überzeugung, daß Geltung bringt. Dazu ist die bessere Nutzung der die Realisierung nicht einer einzigen Maßnahme an Binnenwasserstraßen und, wo erforderlich, der Aus- mangelnden Mitteln scheitern wird. bau derselben ebenso dringend erforderlich wie der der Schienenwege und der Fernstraßen. (Beifall der Abg. Lisa Peters [F.D.P.]) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vielmehr hege ich die Befürchtung, daß die Bahn auch 1995 die Mittel nicht in vollem Umfang wird verbrauchen können. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Gestatten Sie jetzt eine Zwischenfrage des Kollegen Albert Schmidt? (Elke Ferner [SPD]: Dann muß Ihre Regie rung aber erst einmal die Koalitionsverein barungen erfüllen!) Albert Schmidt (Hitzhofen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und - Was wissen Sie denn vom Bereich Bau! Kollege Kollegen! Ich bitte um Verständnis. Es geht mir nicht Wagner und ich verstehen mehr davon. darum, die Sitzungszeit unnötig zu verlängern. Ich (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU kann nichts dafür, daß der Verkehrshaushalt als und der F.D.P. - Widerspruch bei Abgeord größter Investivhaushalt zum zweitenmal zu so spä- neten der SPD) ter Stunde auf der Tagesordnung steht. Das ist für sich genommen ein Skandal. Bei allem Verständnis und der hohen Priorität der Schienenwegeinvestitionen dürfen wir nicht durch (Beifall der Abg. Elke Ferner [SPD]) allzu großzügige Mittelbereitstellung die Gefahr der unwirtschaftlichen Verwendung von Steuergeldern Zur Frage: Herr Kollege, Sie haben soeben gesagt, selbst heraufbeschwören. Ich möchte deshalb von daß für die private Vorfinanzierung von Verkehrs- dieser Stelle aus alle mit der Verwaltung und Veraus- infrastrukturmaßnahmen eine Eingrenzung auf ganz gabung der Mittel Betrauten nachdrücklich auffor- wenige Projekte und auf einen zeitlich eng befriste- dern, dafür zu sorgen, daß die Gelder sehr sorgfältig ten Horizont stattzufinden hat. Herr Bundesverkehrs- und effizient eingesetzt werden. minister Wissmann hat in diesem Hause in der Sit- zung am 16. Dezember 1994 wörtlich erklärt, - (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.) Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Kurzintervention Wegen der allseits anerkannten Engpässe bei der oder Frage? Finanzierung des Straßenbauteils des Bundesver- kehrswegeplanes hat der Haushaltsausschuß schon im vergangenen Jahr der Privatfinanzierung von Albert Schmidt (Hitzhofen) (BÜNDNIS 90/DIE Fernstraßenprojekten und einem Schienenprojekt GRÜNEN): Ich komme sofort zur Frage. zugestimmt und weitere Maßnahmen vorgeschlagen. Sind Sie mit mir einer Meinung, daß die Einlas- Meiner Erinnerung nach ist dieser Beschluß, zumin- sung des Bundesverkehrsministers vom 16. De- dest zum Teil, fraktionsübergreifend gefaßt worden. zember hier in diesem Hause, wonach die private Wegen der besonderen Anforderung an den Ver- Vorfinanzierung von Infrastrukturmaßnahmen im kehrswegebau einerseits und den Bundeshaushalt Verkehr der Normalfall werden soll, einen gewissen infolge der Wiedervereinigung andererseits war man Widerspruch in Ihrer Einlassung findet? Auf deutsch sich weitgehend einig, daß eine derartige Finanzie- gesagt, befinden Sie sich in der Koalition jetzt auf rung für eine begrenzte Anzahl von Maßnahmen in dem geordneten Rückzug? einer besonderen Situation vorzunehmen und zu ak- zeptieren sei. Dabei verkennen wir nicht die Ein- (CDU/CSU): Herr Kollege wände und Bedenken, die von seiten des Bundes- Bartholomäus Kalb Schmidt, erstens, beklagen Sie sich nicht, daß wir so rechnungshofs wie auch der Landesrechnungshöfe spät noch zusammen sind. Zumindest die Kollegin- hinsichtlich der Privatfinanzierung von Verkehrswe- - nen und Kollegen des Haushaltsausschusses sind gen geäußert wurden. noch sehr viel spätere Zeiten gewöhnt, zu denen sie Auch nach meiner persönlichen Einschätzung - sinnvolle Arbeit leisten. das sage ich ganz offen - ist mit diesem Finanzie- rungsinstrument sehr behutsam und zurückhaltend Zweitens hat Bundesminister Wissmann die Aus- umzugehen; in dieser Situation aber ist es vertretbar sage so, wie Sie sie gerade unterstellen, nie getrof- und geboten. fen. Es ist über eine Reihe von Möglichkeiten der künftigen Finanzierung öffentlich diskutiert worden. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU so Die Begrenzung der Maßnahmen ist im Haushalt wie der Abg. Dr. Gisela Babel [F.D.P.]) nachzulesen. Wenn diese Begrenzung geöffnet wer- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995 2281

Bartholomäus Kalb den soll, muß es wieder durch den Haushaltsaus- ten optimal nutzen kann. Damit will ich die Bedeu- schuß gehen. Und dort werden wir das - wie bisher tung des öffentlichen Nahverkehrs in keiner Weise auch - sehr sorgfältig beraten. Nichts anderes wird schmälern. In ländlichen Räumen und dünner besie- passieren. delten Gebieten kann jedoch auf das Auto nicht ver- zichtet werden. (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Protokoll vom 16. De (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) zember!) Wirtschaftlicher Aufschwung und eine damit ein- Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, hergehende Steigerung des Wohlstandes in periphä- ich darf fortfahren. Von dem geplanten Ausbau der ren ländlichen Räumen waren im übrigen erst mög- Donau zwischen Straubing und Vilshofen bin ich sel- lich, als breite Schichten der Bevölkerung die Mög- ber in meinem Wahlkreis und in meiner Heimatge- lichkeiten des Individualverkehrs nutzen, sprich: in meinde unmittelbar betroffen. Als örtlich Betroffener der Regel auf das Auto zurückgreifen konnten. Die wäre es viel leichter und populärer, gegen eine derar- wegen der volkswirtschaftlichen Leistungsfähigkeit tige Maßnahme zu sein. Darum sage ich aber hier geforderte Mobilität wäre ohne den Pkw nicht dar- klar und deutlich, wie ich es auch vor der Wahl ge- stellbar. sagt habe: Der Donauausbau in diesem Abschnitt ist Interessant war und ist die Haltung von SPD und dringend erforderlich. Das wird auch von nieman- GRÜNEN in der Frage neuer Verkehrssysteme. Spit- dem ernsthaft bezweifelt. zen der SPD, z. B. Herr Scharping oder eine in Mün- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) chen gelandete ehemalige Bundespolitikerin, ver- künden zwar verbal, man wolle das Land zu einem Die Frage der anzuwendenden Methode ist keine Technologie- und Innovations-, ja geradezu zu einem Frage der Politik, sie muß von den Fachleuten ent- High-Tech-Standort machen; auch Herr Hampel hat schieden werden. Aber Politik und Verwaltungen das im übrigen gestern wieder getan. Wenn es aber müssen dafür sorgen, daß baldmöglichst Klarheit ge- darauf ankommt, daß man konkret etwas ins Auge schaffen wird, um den betroffenen Kommunen und faßt, dann ist damit natürlich immer etwas anderes Bürgern möglichst schnell Planungssicherheit für gemeint, nur nicht das konkrete Projekt. ihre weiteren Überlegungen zur örtlichen und regio- nalen Entwicklung zu geben. Nur so ist die ablehnende Haltung des größten Teils der Opposition gegen den Transrapid zu erklä- Noch mehr Bedeutung als bisher wird in Zukunft ren. Angesichts des hohen Forschungs- und Entwick- der Verknüpfung der verschiedenen Verkehrsträger lungsaufwandes ist es gänzlich unverständlich, daß sowie modernen und modernsten Logistik - und Ver- man die Nutzung eines solchen Systems im eigenen kehrsleitsystemen zukommen. Im übrigen scheinen Lande nicht haben will. Damit wird die Exportfähig- sich hier sehr aufnahmefähige Märkte aufzutun, von keit natürlich nicht ermöglicht. denen ich hoffe, daß wir sie auch von deutscher Seite aus ausreichend bedienen können. Allerdings sind Es scheint wirklich so zu sein, wie es Siemens-Chef Betonkübel, wie sie gegenwärtig zuhauf in manchen Heinrich von Pierer zum Ausdruck gebracht hat. Er Städten aufgestellt werden, noch kein Verkehrsleit- sagte wörtlich: system - weder intelligent noch innovativ, noch ex- Während in Südostasien Begeisterung und Freu- portfähig. de über neue Technologien anzutreffen ist, wird (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) Technik bei uns nicht als Bereicherung empfun- den. In den letzten Wochen, meine sehr verehrten Da- men und Herren, war in öffentlichen und internen Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Kalb, kom- Diskussionen häufig die Rede davon, daß die Bela- men Sie bitte zum Ende. stungsgrenze des Bürgers erreicht sei. Wenn wir diese Erkenntnis teilen, muß diese Feststellung unter Einbeziehung des Verkehrsbereichs gelten. Häufig Bartholomäus Kalb (CDU/CSU): Ich komme zum wird in den Diskussionen so getan, als wäre der Ver- Schluß, Frau Präsidentin. - Wie aber und womit wol- kehrsteilnehmer und insbesondere der Autofahrer len wir dann in Zukunft unseren Wohlstand sichern ein völlig anderes Wesen. Angesichts des hohen Mo- und soziale Verteilungskämpfe vermeiden? torisierungsgrades und der hohen Pkw-Dichte kann Schönen Dank. meines Erachtens aber sehr begründet davon ausge- gangen werden, daß es sich um ein und denselben (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Steuerbürger handelt. - Als nächster Wir sind in Europa, was die Belastung des Autofah- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: rers betrifft, nicht mehr im unteren Bereich, sondern spricht der Kollege Rainder Steenblock. längst in die Spitzengruppe aufgerückt - siehe den Preisvergleich für Benzin in der „Süddeutschen Zei- Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): tung" von heute. Im übrigen läßt sich die Forderung Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und nach einer höheren Belastung des Individualver- Herren! „Für die Sicherung der Zukunft sind heute kehrs insbesondere dann sehr leicht erheben, wenn Innovationen und Investitionen gefragt, wenn wir man selber das Angebot des hochsubventionierten den Herausforderungen des Verkehrs mit Blick auf öffentlichen Personennahverkehrs in Ballungsgebie- das 21. Jahrhundert begegnen wollen." Mit diesen 2282 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995

Rainder Steenblock Worten haben Sie, Herr Minister Wissmann, Ihre Zweites Stichwort: Transrapid. Dieses Milliarden- Rede vor dem Umweltforum von Mercedes-Benz ab- grab der Hochtechnologie, mit dem Sie dieses Land geschlossen. trotz allen verkehrswissenschaftlichen Sachverstan- des unbedingt beglücken wollen, ist so überflüssig Wenn gerade der investive Teil des Verkehrshaus- wie ein Kropf. haltes, mit 26 Milliarden DM der größte Investitions- brocken dieses Haushalts, die Richtung anzeigen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN soll, wie diese Bundesregierung die Herausforderun- sowie bei Abgeordneten der PDS) gen des 21. Jahrhunderts bestehen will, dann kann einem für die finanzielle und für die ökologische Zu- Er ist völlig unwirtschaftlich; das haben eine Reihe kunft dieses Landes nur angst und bange werden. von Studien - neulich erst eine des DIW - nachge- wiesen. Er ist eine unnötige, hochsubventionierte (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Konkurrenz zur Schiene. Deshalb ist jeder Pfennig sowie bei Abgeordneten der SPD und der für dieses Projekt herausgeworfenes Geld. PDS) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Dieser Haushalt bietet keine überzeugende Ant- und bei der PDS sowie bei Abgeordneten wort auf die großen ökologischen Herausforderun- der SPD) gen, denen sich die Verkehrspolitik stellen muß an- gesichts der drohenden Klimakatastrophe, ange- Herr Wissmann, Sie wissen genausogut wie ich: sichts des fortschreitenden Waldsterbens und ange- Mit diesem Technosaurus Rex werden Thyssen, Sie- sichts der ökologischen Probleme, die wir durch die mens und Co. noch weitere Milliardenlöcher in den zunehmende Flächenversiegelung haben. Verkehrshaushalt und in den Technologiehaushalt Trotz dieser Probleme scheint das oberste Erfolgs- reißen. kriterium des Verkehrsministers dieser Republik im- mer noch die Anzahl der fertig betonierten Auto- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) bahnkilometer zu sein. Herr Wissmann, mit dieser Verkehrspolitik manövrieren Sie sich in eine Sack- Das Transrapid-Projekt wird trotzdem immer das gasse. Was noch schlimmer ist: Mit dieser Verkehrs- bleiben, was es heute schon ist: größenwahnsinnig politik übernehmen Sie eine ganz große Verantwor- und völlig unverkäuflich. tung für die sich verschärfenden Klimaprobleme auf diesem Planeten, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Dr. Dionys Jobst [CDU/CSU]: Woher haben (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Sie denn diese Weisheit?) sowohl als Klimakiller in Deutschland als auch - was Das wirklich Neue an diesem Haushalt ist die vielleicht noch viel schlimmer ist - als Motor für die haushalts- und verfassungsrechtlich höchst bedenkli- schlechte Verkehrsentwicklung in ganz anderen Tei- che und ökonomisch völlig unsinnige Privatfinanzie- len dieser Welt, rung von Bundesfernstraßen. Ich kann Ihnen nur sa- gen: Die vernichtende Kritik des Bundesrechnungs- (Zuruf von der CDU/CSU: Quatsch hoch hofs an dieser Form der Baufinanzierung teilen wir in drei!) jedem Punkt. die wir hier mit verantworten müssen. Der erste Etikettenschwindel besteht schon in der Wortwahl „Privatfinanzierung". Das suggeriert, daß Zukunftsfähigkeit ist für Sie häufig das gleiche wie es hier tatsächlich um eine Entlastung des Staates Hochtechnologie. Dazu gibt es in diesem Verkehrs- gehen soll. Das genaue Gegenteil ist allerdings rich- haushalt zwei Stichworte: Telematik und Transrapid. tig: Ich sage für die GRÜNEN ganz deutlich - auch Sie, Herr Kalb, haben das Problem der Hochtechnologie (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ in diesem Bereich angesprochen -: Ich halte es für DIE GRÜNEN]: So ist es!) Umweltpolitikerinnen und -politiker für ausgespro- chen lohnend, sich sehr differenziert mit den neuen Ein Konsortium privater Investoren baut und finan- Verkehrssteuerungssystemen auseinanderzusetzen. ziert die geplante Maßnahme. Der Bund verpflichtet So unterstützen wir ganz ausdrücklich die Telema- sich, das Projekt nach Fertigstellung zurückzukau- fen. Der Zahlungsbeginn wird zwar für den Bund in tik - Investitionen im Schienenbereich. die Zukunft verlagert; aber dafür kommt es dann um Ich habe allerdings den Verdacht, daß Telematik so dicker. In 15 Jahresraten sollen nämlich aus für Sie, Herr Wissmann, und für die Regierung in dem Investitionsteil des Straßenbauhaushaltes die allererster Linie dazu dient, auf einer begrenzten Bau- und die Finanzierungskosten zurückgezahlt asphaltierten Fläche immer mehr und noch mehr werden. Automobile in Bewegung zu setzen - ohne Rücksicht auf die Menschen, ohne Rücksicht auf die Natur und Es handelt sich hier also lediglich um eine private ohne Rücksicht auf das Klima. Vorfinanzierung mit staatlich garantierter Rückzah- lung der Baukosten, mit staatlich garantierter Rück- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zahlung der Kreditkosten und mit staatlich garantier- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995 2283

Rainder Steenblock ter Zahlung der Bankgewinne. Ein profitables Unter- ren Sie den Bericht des Bundesrechnungshofs einmal fangen ohne jedes Risiko für die beteiligten Unter- in der Öffentlichkeit! In ihm werden alle genannten nehmen! Kritikpunkte ausgeführt. Ich kann gern noch einmal daraus zitieren. Der Bundesrechnungshof sagt sehr (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - deutlich: Diese Form der Privatfinanzierung darf es Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Jetzt ver in Zukunft nicht mehr geben, und diese Form der Pri- wechseln Sie aber einiges!) vatfinanzierung wird für den Staat viel teurer als die herkömmliche Haushaltsfinanzierung. Jedem Kind ist heutzutage klar, daß ein Ratenkauf immer teurer wird. Nur der Finanzminister und der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Verkehrsminister dieser Republik scheinen davon noch nichts gehört zu haben. Sie machen mit diesem Instrument doch einen Ta- schenspielertrick, indem Sie versuchen, neue Schat- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN tenhaushalte zu bilden, weil Sie sich nicht trauen, sowie bei Abgeordneten der SPD - Zuruf das Geld, das Sie für die Straßen, für den Beton und von der CDU/CSU) den Asphalt ausgeben, den Bürgerinnen und Bür- - Die staatliche Garantie? In den Verträgen, die ab- gern tatsächlich offenzulegen. geschlossen werden - das wissen Sie sehr gut, wenn (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Sie sich ein bißchen damit auseinandergesetzt ha- bei der SPD und der PDS) ben -, werden eine Gewinnmarge für das Banken- konsortium, das diese Investition finanziert, und ein Zinssatz festgelegt, der deutlich über den Zinssätzen Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Steenblock, liegt, die die Bundesbank oder der Bund an jeder an- gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Abge- deren Stelle erreichen könnten. ordneten Jobst? (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Ich be- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Steenblock, antrage, Zwischenfragen nur noch zuzulas- gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten sen, wenn die Fragesteller bis mindestens Kalb? halb eins hierbleiben!)

(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Rainder Steenblock Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Aber gerne. Ja.

(CDU/CSU): Herr Kollege, Sie Bartholomäus Kalb (CDU/CSU): Herr Kollege Steen- haben doch gerade darauf hingewiesen, daß es um Dr. Dionys Jobst block, Sie richten Ihre Kritik an die Koalition und an eine staatlich garantierte Rückzahlung von Bankge- die Bundesregierung, und die SPD klatscht dazu winnen gehe. Was verstehen Sie darunter? noch Beifall. Ist Ihnen bekannt, daß die SPD-Kolle- gen im Haushaltsausschuß der Privatfinanzierungs- Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): regelung zum großen Teil zugestimmt haben? Das kann ich Ihnen gerne erklären. Beim Abschluß dieser Verträge wird ja ein privates Konsortium eine Finanzierung vorlegen. Diese Aufträge werden in ge- Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): bundener Form vergeben. Das heißt, Kredit und Bau- Herr Kollege Jobst, das ist mir bekannt. Auch ist mir investition werden bei der Auftragsvergabe zusam- bei den Ausführungen, die Kollege Wagner gemacht mengefaßt. Im Rahmen dieser Auftragsvergabe wird hat, deutlich geworden, daß es in vielen Bereichen festgelegt, was an Baukosten, an Kreditkosten und eine große Koalition zwischen Sozialdemokraten und an Gewinnen der Banken, also der Kreditoren dieses CDU gibt und daß die Oppositionsrolle in der Ver- Unternehmens, dann tatsächlich auch zurückgezahlt kehrspolitik tatsächlich vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- wird. Das ist staatlich garantiert. Das wird von An- NEN ausgeübt wird. fang an festgesetzt bzw. nach einem Überprüfungs- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - zeitraum von jeweils fünf Jahren kann das innerhalb Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Völliger dieser fünfzehnjährigen Rückzahlungsphase immer Unsinn!) wieder noch einmal erhöht werden. Diese Form - ich sage das noch einmal deutlich - Das ist staatlich festgelegt und völlig risikofrei. Das - der Privatfinanzierung ist eine gigantische Ver- Geld wird den großen Banken, die ja in dieser Ge- schleuderung von Steuergeldern, und sie ist auch zu- sellschaft so notleidend sind, noch vom Staat in den tiefst undemokratisch. Denn rechnet man einmal Hintern gepustet. eine Bauzeit von sechs Jahren und eine Zeit von (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 15 Jahren, in der der Ratenkredit zurückgezahlt wer- und bei der PDS sowie bei Abgeordneten den muß, haben wir im Jahr 2016 eine Bundesregie- der SPD - Widerspruch bei der CDU/CSU) rung, die von Menschen gewählt worden ist, die heute noch gar nicht geboren sind und die dann Ich fordere Sie auf: Kämpfen Sie um diese Form auch schon ihre Steuern zahlen. In dieser Zeit zahlt der Straßenfinanzierung doch einmal offen, debattie die Bundesregierung immer noch die Raten für die 2284 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995

Rainder Steenblock vierte Elbtunnelröhre, für die A 60 und für die ande- Verkehrsprojekte Deutsche Einheit ausgerichtet, die ren Großprojekte ab. Das ist eine Politik eines abso- dazu beitragen, den Standort Deutschland auch auf lut verantwortungslosen Umgangs mit dem Selbstbe- diesem Sektor zu stärken. stimmungsrecht zukünftiger Generationen. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Kommen wir zur Bahn. Im Februar lief es über den Ticker, aufgeregt wurde geschrieen, die Verkehrs- politiker der Koalition hätten der Schiene jetzt den Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Steenblock, Garaus gemacht und hielten ihre Versprechen nicht kommen Sie bitte zum Schluß! ein.

Was war der Hintergrund? Die Deutsche Bahn AG Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): hat es tatsächlich geschafft, von ihren investiven Mit- Ja. - So kann es nicht weitergehen. Wir brauchen teln für das Jahr 1994 2,3 Milliarden DM nicht auszu- eine Wende in der Verkehrspolitik und eine Um- geben. 1,3 Milliarden DM konnten noch verarbeitet schichtung von Geldern aus dem Straßenbau in werden, aber eine satte Milliarde mußte an den Fi- Richtung ÖPNV, in Richtung Schiene, in Richtung ei- nanzminister zurückgegeben werden. Das freut die- ner ökologischen Verkehrspolitik. Deshalb bitte ich sen zwar, aber die Verkehrspolitiker nicht. Sie, unserem Antrag, der eine solche Umschichtung vorsieht und der ein Einstieg in die Energiewende Die Konsequenz der Haushaltspolitiker war nach ist, zuzustimmen und damit den Transrapid und auch unseren Regeln, daß sie auf diese Situation reagieren die private Straßenfinanzierung über das Konzessi- mußten. Deswegen gab es den verkürzten Mittelan- onsmodell abzulehnen. satz. Ich hoffe, daß es jetzt gelingt, wenigstens die Mittel zu verbauen, die der Bahn zur Verfügung ste- Vielen Dank. hen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Allerdings - und das füge ich auch nicht ohne Hin- und bei der PDS sowie bei Abgeordneten tergedanken hinzu - hat diese Situation auch den der SPD) Vorteil, daß das schon lange innerhalb der Bahn kur- sierende Konzept „Netz 21", mit dem überlegt wird, daß man bei anderer Sortierung der Verkehrsträger Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Liebe Kolleginnen im bestehenden Netz einen effizienteren Verkehr und Kollegen, Sie sehen, das war die zweite Jung- stattfinden lassen kann, ohne daß in einigen Berei- fernrede aus dem Wahlkreis Pinneberg. chen ein Streckenneubau nötig ist, jetzt konkret um- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) gesetzt werden kann. Ich gebe jetzt das Wort an den Kollegen Horst Fried- Nur - jetzt muß ich auf den Kollegen Schmidt ein- rich. gehen -, der Umkehrschluß, daß dann überhaupt kein Streckenneubau mehr nötig ist, ist genauso falsch wie verschiedene andere Vorstellungen der Horst Friedrich (F.D.P.): Frau Präsidentin! Liebe Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN; denn selbst- Kolleginnen und Kollegen! Als verkehrspolitischer verständlich ist es notwendig, in einigen Bereichen, Sprecher der F.D.P.-Fraktion möchte ich zunächst z. B. im Personenfernverkehr, neue Strecken zu den Verkehrshaushalt als einen weiteren Schritt zur bauen, um endlich eine Alternative zum Pkw auf den Harmonisierung der Lebensverhältnisse in Ost und entsprechenden Entfernungen zu erhalten. Das kann West in bezug auf die Angleichung der Verkehrsver- ich nicht auf einem Gleiskörper, auf dem ich nur hältnisse dort begrüßen. 80 km/h fahren kann. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Wenn das hier als gigantisches Flächenversiege- Das muß man irgendwann einmal einsehen. lungsprogramm bezeichnet wird, dann sollte man wissen, daß sagenhafte 1,2 % der Gesamtfläche 10 Milliarden DM investive Mittel bei einem Ge- Deutschlands von der Verkehrsinfrastruktur bedeckt samtvolumen - das sollte man auch einmal sagen - werden. von 31 Milliarden DM - das sind fast 60 %, denn der Verkehrshaushalt umfaßt knapp 53 Milliarden DM - (Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) stehen ausschließlich dem Verkehrsträger Schiene zur Verfügung. Das muß man einmal in der Gesamt- - Lesen Sie doch die Berichte nach! - Dabei sind aber betrachtung der komplexen Zahlen sehen, um dann alle Verkehrsträger bis hin zur kommunalen Ebene bestimmte Sachen vielleicht etwas losgelöster von beinhaltet. bestimmten Emotionen oder leichtem Schubladen- denken zu sehen, das ja sehr einfach ist. In der Verkehrspolitik ist aus unserer Sicht als er- stes darauf hinzuweisen, daß die 17 Verkehrspro- Die Bahn ist allerdings auch gefordert, auf Grund jekte Deutsche Einheit einen Schwerpunkt der Inve- ihrer Tarifgestaltung dafür zu sorgen, daß die Ein- stitionsteile des Haushalts bilden. 4,5 Milliarden DM nahmen die entstehenden Kosten decken können. der Gesamtinvestitionen sind ausschließlich auf die Ich bin in der Vergangenheit etwas schief angeredet Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995 2285

Horst Friedrich worden, weil ich mir erlaubt habe, das 15-DM-Ticket zu sorgen; aber er soll das, was andere besser kön- dahin gehend zu hinterfragen, ob die Bahn die 3 DM nen, nämlich den eigentlichen Transport, auch den pro Person zumindest im Blick auf die Kostendek anderen überlassen. Wenn wir hieran weiterarbeiten, kung untersucht hat. sind wir auf dem richtigen Weg. Die Gewerkschaft GdBA hat das heute öffentlich Es wird Sie sicherlich nicht überraschen, daß der als tarifpolitischen Schwachsinn bezeichnet. So weit Haushalt des Verkehrsministers zwar kein Etat der möchte ich nicht gehen. Aber klar ist, daß mit dieser Sensationen ist, aber eine gute Grundlage für eine Aktion, die dazu führen soll, daß mehr Leute mit der ordnungsgemäße Verkehrspolitik. Deswegen stimme Bahn fahren - das ist ja zu begrüßen -, das Gegenteil ich ihm im Namen meiner Fraktion mit voller Über- dessen erreicht worden ist, was gedacht war. zeugung zu. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Aus einem guten Vorsatz ist ein gutgemeinter Vor- satz geworden, weil jetzt der Effekt eintritt, daß alle die, die im bisherigen Schienenfernverkehr als Voll- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Die Kollegin Dag- zahler unterwegs waren, mittlerweile auf die Nah- mar Enkelmann möchte ihre Rede zu Protokoll ge- und Eilzüge umsteigen, um mit 3 DM pro Person we- ben. Sind Sie damit einverstanden? - Dann verfahren sentlich günstiger zu fahren. Ob dann der Mehrver- wir so.*) kehr, der prognostiziert worden ist, ausreicht, um die Als nächster spricht der Kollege Dirk Fischer. Kosten einzuspielen, wage ich zumindest in Frage zu stellen. Bisher ist diese Frage noch nicht beantwortet (Karl Diller (SPD]: Auch zu Protokoll worden. geben!) Deswegen werde ich mir auch weiterhin erlauben Dirk Fischer (Hamburg) (CDU/CSU): Frau Präsi- nachzufragen, ob die Bahn in der Lage ist, das, was dentin! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! im Personenbeförderungsgesetz steht und auch für Als zweitgrößter Einzeletat und größter Investitions- die Bahn gilt, nämlich die Eigenwirtschaftlichkeit haushalt des Bundes ist der Verkehrshaushalt auch der Tarife, tatsächlich umzusetzen. weiterhin Garant für die Aufwärtsentwicklung in Der nächste Bereich umfaßt die Haushaltsmittel für Deutschland und wird seiner gesamtwirtschaftlichen Aufgabe als Investor gerecht werden. Der Neu- und die deutschen Binnenschiffer. Die 100 Millionen DM, und zwar für alle die vom Deutschen Bundestag beschlossen worden Ausbau der Verkehrsinfrastruktur, sind, sind in Europa auf den Prüfstand gestellt und Verkehrsträger, ist und bleibt Schwerpunkt unserer mit relativ fadenscheinigen Begründungen an Bedin- Verkehrspolitik. gungen geknüpft worden, die die deutsche Binnen- Wir werden auch unter schwierigeren finanziellen schiffahrt nicht erfüllen kann. Ganz zu schweigen Bedingungen den ökologisch ausgewogenen Aus- davon, daß man dieses Thema unter dem Begriff und Neubau der Straßen- und Schienenwege und Subsidiarität neu aufrollen sollte, ist auch Europa ge- der Binnenwasserstraßen fortsetzen. Dabei werden fragt, ob nicht durch eine fehlende Harmonisierung die umweltfreundlichen Verkehrsträger Schiene und in der europäischen Verkehrspolitik und dadurch, Schiff weiter gestärkt werden. Sie genießen einen daß andere Länder solche Subventionen auch geben ganz klaren Investitionsvorrang. oder bestimmte Beschlüsse nicht umsetzen, eine be- stimmte Europaverdrossenheit besteht. Auch da ist Wir wollen in den neuen Bundesländern zügig mo- Europa gefordert, und zwar vorrangig. derne Verkehrswege ausbauen, weil dies gerade für die Angleichung der Lebensverhältnisse in Deutsch- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne land, für das Zusammenwachsen Europas und auch ten der CDU/CSU) für den wirtschaftlichen Aufbau in den neuen Län- dern völlig unverzichtbar bleibt. Zum Thema Privatfinanzierung: Die Privatfinan- zierung ist sicher nicht ein alleinseligmachendes Mit- (Beifall bei der CDU/CSU) tel. Sie ist aber ein möglicher Ansatz. Das gilt auch Wir sehen es nicht mit Freude, daß trotz verein- für die Bahn. Ich denke hier insbesondere an den bis- fachter Planungsinstrumente baureife Vorhaben und lang immer wieder verhinderten Verkauf der Bahn- Planfeststellungsbeschlüsse Mangelware sind, so busgesellschaften. daß auch in den neuen Ländern 1994 nicht alle Inve- stitionsmittel umgesetzt werden konnten. Es muß (Beifall bei der F.D.P. - Zuruf vom BÜND dringend angestrebt werden, die Baureife zügig her- NIS 90/DIE GRÜNEN) zustellen, auch unter Zuhilfenahme der Kapazitäten - - Ich lasse mich gerne als Lobbyisten für die privaten privater Planungsbüros, damit wir hier kein Nadel- Busunternehmer bezeichnen. Sie haben mindestens öhr haben, sondern zügig vorankommen. den Vorteil, daß sie Steuern bezahlen und keine Sub- (Beifall bei der CDU/CSU) ventionen empfangen. Rund 10 Milliarden DM Investitionen der DB AG (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) setzen die Entscheidung der Regierungskoalition um, einerseits einen klaren Vorrang für die Schienen- Der Bund muß endlich lernen, sich als Verkehrsun- investitionen, andererseits aber auch eine attraktive ternehmer zu verabschieden. Er hat die Rahmenbe- dingungen zu garantieren, er hat für die Infrastruktur *) Anlage 2 2286 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995

Dirk Fischer (Hamburg) marktgerechte Wettbewerbsposition durch moderne ßen Infrastrukturprojekte umsetzen. Insoweit hat das Infrastruktur zu schaffen. Wir setzen auf die Schiene. Modellcharakter. Deswegen muß hier investiert werden. Aber auch die innere Bahnreform muß dringend erfolgreich zu (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - Ende gebracht werden. Nach einer schwierigen An- Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ laufphase wollen wir den Privatisierungseffekt voll DIE GRÜNEN]: Lauter Phrasen!) ausschöpfen. Deswegen sind wir daran interessiert, Meine Damen und Herren, der Kollege Friedrich daß es hier zügig vorangeht. hat schon auf die schwierige Lage der Partikuliere, der Binnenschiffahrt hingewiesen. Die Bundesregie- Für die Bundeswasserstraßen haben wir rung hat ein Hilfsprogramm für die Umstrukturie- 200 Millionen DM mehr Investitionen im Haushalt als rung und Modernisierung der Partikulierschiffahrt 1994, wohingegen wir - das beweist den Vorrang für und zur Anpassung an den liberalisierten europäi- Schiene und Schiff - beim Bundesfernstraßenbau schen Markt vorgelegt. 100 Millionen DM sind in knapp unterhalb des Vorjahresniveaus liegen. Das den Haushalt 1995 eingestellt worden. heißt, das, was wir gesagt haben, wird in Mark und Pfennig umgesetzt. (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Alles schon gehört!) Die Grundsatzentscheidungen für den Bau des Transrapid zwischen Hamburg und Berlin sind Ende Darüber hinaus wollen wir eine zusätzliche Ab- der letzten Legislaturperiode gefallen. wrackaktion für die Jahre 1995 bis 1997 unter Ein- satz von insgesamt 60 Millionen DM durchführen, (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ unter der Voraussetzung, daß die Mitgliedstaaten der DIE GRÜNEN]: Sie sind aber falsch!) EU, die hier betroffen sind, ihre Anteile in diese Ak- tion entsprechend einbringen. Die Innovationsfähigkeit in Deutschland und die Ent- Das heißt, wir sind auch hier konsequent dabei wicklung deutscher Spitzentechnologie, das Werk, und bitten die zuständigen Kommissare der EU, auch das von Schorsch Leber und ange- die deutschen, und die deutschen Parlamentarier im legt worden ist, wird von uns zum Erfolg geführt und Europaparlament, ihre zögerliche Haltung zu über- ist nur durch eine Anwendungsstrecke unter Beweis winden und dem Programm umgehend zuzustim- zu stellen. men, damit die Hilfe sehr schnell bei den bedrängten Partikulieren, also bei den Betrieben und Arbeitsplät- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - zen, ankommt. Dieses ist wichtig. Zurufe von der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) - Es geht nicht an, liebe Kollegen der SPD, daß man sich jetzt nicht mehr in dieser historischen Verant- Für die Seeschiffahrtshilfen sind für 1995 wortung sehen will und versucht, ein Hochgeschwin- 100 Millionen DM vorgesehen. Dies ist um so erfreu- digkeitssystem der weiten Distanzen mit einer sehr licher, als diese Hilfen ursprünglich nur bis 1994 vor- halbherzigen Alternative zu einem Vorortbahnsy- gesehen waren. Diese können gemeinsam - wirklich stem zu machen. Das ist der größte Unfug aller Zei- nur gemeinsam - mit dem verfassungsrechtlich be- ten. stätigten internationalen Schiffahrtsregister die Mög- lichkeit schaffen, deutsche Handelsschiffe unter (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) deutscher Flagge zu betreiben, damit für die See- leute das deutsche Arbeitsrecht, deutsche Schiff- Schmidt und Leber waren gerade der Meinung, dies sicherheitsstandards usw. garantiert werden können. sei das Hochgeschwindigkeitssystem, das nach Aus- schöpfung der Potentiale des Rad-Schiene-Systems (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) notwendig ist. Das war damals die Begründung da- Es ist wirklich schamlos, daß die ÖTV mit Boykott- für, warum sie dieses ins Werk gesetzt haben. Das maßnahmen alles daransetzt, deutsche Schiffe aus realisieren wir. Deswegen wollen wir möglichst der deutschen Flagge fortzutreiben und damit den schnell die Planungsgrundlagen für die Strecke deutschen Seeleuten den Schutz der deutschen Sy- Hamburg-Berlin erarbeiten. Bereits 1994 ist die Pla- steme zu nehmen. Es ist ein Skandal. nungsgesellschaft gegründet worden. Sie arbeitet bei der Realisierung zügig voran. Für Planungs- und (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Gutachterkosten waren deswegen in den Haushalt Meine Damen und Herren, das Überleben der 1995 17,5 Millionen DM einzustellen. deutschen Handelsflotte ist auch wichtig für deut- - Die Regierungskoalition will die Beschlüsse des sche Werftbetriebe; denn der deutsche Reeder ist der Deutschen Bundestages zügig und konsequent um- größte Auftraggeber deutscher Werften. Dieser Zu- setzen. sammenhang ist wirklich wichtig und muß gesehen werden. (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) DIE GRÜNEN]: Wie oft sagen Sie das noch?) Als letztes will ich sagen: Wir freuen uns im Zu- sammenhang mit der Verkehrssicherheit über eine Ich finde es faszinierend, daß hier zum erstenmal positive Unfallentwicklung. Es gab einen deutlichen Staat und Wirtschaft gemeinsam eines der ganz gro Rückgang bei der Zahl der im Jahre 1994 im Straßen- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995 2287

Dirk Fischer (Hamburg) verkehr Getöteten. Das sind die günstigsten Zahlen Ich sagte gerade: Wer die Zahlen kennt, führt das seit Beginn der Statistik im Jahre 1953, und das trotz Florett und nicht den schweren Säbel. Dabei dachte viel mehr Fahrzeugen und trotz gestiegener jährli- ich an den Kollegen von den GRÜNEN, Herrn Steen- cher Kilometerleistungen. Ich sage dazu: Gott sei block, dem ich zwar zu seiner Jungfernrede gratu- Dank. Wir freuen uns darüber, daß es endlich eine liere, mir allerdings noch den Hinweis erlaube: Hal- Trendumkehr auch in den neuen Bundesländern ge- ten Sie sich an den Satz von Manfred Rommel: Man geben hat. Daran werden wir auch unter dem Haus- kann Politik gegen alle machen, bloß nicht gegen halt 1995 weiterarbeiten. Adam Riese. Ich komme zum Ende. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - (Beifall des Abg. Albert Schmidt [Hitzhofen] Rainder Steenblock [BÜNDNIS 90/DIE [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) GRÜNEN]: Das müssen Sie sich merken!) Der Verkehrshaushalt 1995 wird trotz schwieriger fi- Schauen Sie sich einmal, wenn Sie polemisieren, nanzieller Rahmenbedingungen seiner verkehrspoli- schlicht die nackten Zahlen und Fakten des Haus- tischen, gesamtwirtschaftlichen und umweltpoliti- halts im investiven Bereich an. Vom gesamten Inve- schen Verantwortung gerecht. stitionsvolumen 1995 gehen exakt 10 Milliarden DM in die Bahn, exakt 8,6 Milliarden DM in Bundesauto- (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ bahnen und Bundesfernstraßen, exakt 1,1 Milliar- DIE GRÜNEN]: Das sind doch nur Phrasen!) den DM in die Bundeswasserstraßen und rund Wir leisten unseren Beitrag bei der Ausgabenkonsoli- 6,3 Milliarden DM in die Verbesserung der Verkehrs- dierung, aber wir werden den Neu- und Ausbau von verhältnisse in den Gemeinden. Wer da noch be- Verkehrswegen intensiv fortsetzen. Der Einzelplan 12 hauptet, wir wollten mit Straßenbau Landschaften ist eine verläßliche Grundlage, um die wichtigen ver- zubetonieren, der macht Polemik, nimmt aber die kehrspolitischen Ziele umzusetzen. Fakten nicht zur Kenntnis, wie wir sie im Verkehrs- haushalt ganz offen ausbreiten. (Vorsitz: Vizepräsident Hans Klein) Irgendwer in diesem Lande muß ja noch für das Ge- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) deihen des Landes, für Arbeitsplätze und für eine Meine Damen und Herren, zu einem will ich mich positive Entwicklung des Standortes Deutschland hier ganz nachdrücklich bekennen: So wichtig der sorgen. Ausbau der Infrastruktur gerade im Schienenbereich und - in behutsamem Umfang - im Straßenbereich Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege, Ihre Rede- im Westen ist, Vorrang in diesem ganzen Jahrzehnt zeit ist abgelaufen. wird der weitere Ausbau der Infrastruktur in den neuen Bundesländern haben. Das ist die herausra- Dirk Fischer (Hamburg) (CDU/CSU): Man kann gende gesamtdeutsche Aufgabe, vor der wir uns ge- sich nicht nur in einer Haltung von Fundamentalop- meinsam sehen und die wir auch erfüllen wollen. position verweigern. Die Ziele der Regierungskoali- tion werden umgesetzt, und deswegen bitte ich, dem (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Einzelplan 12 aus Vernunftgründen die Zustimmung Ich nenne zwei konkrete Beispiele - Fakten kön- zu geben. nen nicht betrügen -: Über 50 % der Mittel unseres (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Fünfjahresplans Straßenbau gehen in die neuen Bun- desländer, und von dem soeben vorgelegten Dreijah- resplan Schienenbau gehen 60 % der Mittel in die Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile dem Bundes- minister für Verkehr, Matthias Wissmann, das Wort. neuen Bundesländer und nach Berlin. Wir nehmen diese Aufgabe weiter ernst. Ich bitte hier um die Un- terstützung des ganzen Hauses. Matthias Wissmann, Bundesminister für Verkehr: Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle- Meine Damen und Herren, wie wichtig wir die gen! Vieles Richtige zum Haushalt des Bundesver- Bahnreform, die Stärkung des umweltfreundlichsten kehrsministeriums ist hier gesagt worden. Es ist in Verkehrsträgers, nehmen, können Sie daran sehen, der Tat der zweitgrößte Einzelhaushalt; es ist der daß im Haushaltsentwurf 1995, wenn Sie alle Investi- größte Investitionshaushalt des Bundes. tionen und alle weiteren Mittel für die Bahn und Ich möchte zuallererst, weil ich finde, es gebührt Schiene nehmen, 31,5 Milliarden DM für die Bahn den Beteiligten Dank, den Haushaltsberichterstat- zur Verfügung gestellt werden. Mit anderen Worten: tern - ich betone: aller Seiten - des Haushaltsaus- Kein anderer Verkehrsträger hat eine solche öffentli- schusses für die umsichtige und kluge Arbeit dan- che Aufmerksamkeit und eine solche finanzielle Un- ken. Man spürt: Haushaltsberichterstatter führen terstützung. meistens das Florett und nicht den schweren Säbel, Wir tun das ganz einfach deswegen, weil jeder ver- weil sie die Fakten und Zahlen kennen. Ich danke nünftige Mitbürger weiß: Auch das Auto hat nur eine Ihnen für die Arbeit. Ich danke auch den Mitarbei- Perspektive, wenn uns Verkehrsverlagerung gelingt, tern des Verkehrsministeriums für die Arbeit in den wenn vom Zuwachs des Verkehrs mehr auf die letzten Monaten. Schiene geht, wenn in einer behutsamen Weise die (Beifall im ganzen Hause) Wasserstraßen ausgebaut werden. Wir würden in ei- 2288 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995

Bundesminister Matthias Wissmann nigen Jahren auf den Straßen durchparken, wenn rung durch den Lockführer ersetzt, über 300 Mil- die Bahn nicht modernisiert wird und wenn die lionen DM vor. Für den Verkehrsfluß auf den Auto- Schiene nicht mehr Verkehr auf sich ziehen kann. bahnen durch Wechselverkehrszeichen sehen wir Das muß unser Ziel für die Zukunft bleiben. eine Summe von 138 Millionen DM vor, Wir vernach- lässigen auch hier die Schiene nicht. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Meine Damen und Herren, wir wissen ganz genau: Deswegen haben wir die Bahnreform durchge- Ohne moderne Verkehrstechnologien werden wir setzt. Deswegen kommen am 1. Januar 1996 die Re- der Verkehrsprobleme nicht Herr. Das gilt auch für gionalisierung des Schienenpersonennahverkehrs den Transrapid. Auch da bitte ich einmal, die Scheu- und - parallel dazu - das größte Programm zur Förde- klappen beiseite zu legen. Wir wissen heute, daß der rung des öffentlichen Nahverkehrs und des Schie- Transrapid einen deutlich geringeren Energiever- nenpersonenverkehrs, das es in dieser Republik je brauch als das konventionelle Schienensystem hat. gegeben hat: im ersten Jahr 8,7 Milliarden DM, im Wir wissen, daß der Transrapid eine deutlich gerin- zweiten Jahr 12 Milliarden DM, um die Jahrtausend- gere Lärmemission als das klassische Schienensy- wende fast 17 Milliarden DM Transfer des Bundes an stem hat. Es gibt also nicht nur industrie- und ver- die Regionen, um den Schienenpersonennahverkehr kehrspolitische, es gibt durchaus auch umweltpoliti- und den öffentlichen Nahverkehr auszubauen. Wer sche Gründe, warum dieses Hochgeschwindigkeits- da noch behauptet, wir würden diese Verkehre ver- system in Deutschland eine Perspektive haben muß. nachlässigen, der kennt wiederum die Fakten nicht. Ich empfehle schlicht die Lektüre des Haushaltsent- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) wurfs. Nicht umsonst haben einige Kollegen der SPD im Aber, meine Damen und Herren, eines sage ich Haushaltsausschuß - entgegen der Haltung anderer - auch klar - und da mögen wir unterschiedlicher Mei- der Einstellung der ersten 17,5 Millionen DM für den nung sein -: Ohne technische Innovation, ohne den Transrapid in den Haushalt zugestimmt. Einsatz moderner Verkehrstechnologien werden Liebe Kolleginnen und Kollegen von den GRÜ- wir die großen Verkehrsprobleme von heute und NEN, eines muß ich sagen: Als Sie vorhin gespro- morgen nicht lösen können. chen haben, Herr Steenblock, habe ich mich an den (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Satz erinnert, den nach Zeitungsberichten ein SPD- Kollege im Seeheimer Kreis der SPD an seine Partei Deswegen haben wir als erstes europäisches Ver- gerichtet haben soll. Er soll gesagt haben, das Pro- kehrsministerium im Europäischen Ministerrat be- blem sei, daß die letzte technische Innovation, für die wußt die Initiative mit einem strategischen Konzept die SPD gewesen sei, der Farbfernseher gewesen sei. zur Einführung der Telematik in Deutschland und Bei Ihnen habe ich den Eindruck, es war das Transi- Europa ergriffen, das natürlich interoperabel und storradio. kompatibel sein muß, weil wir wissen: Weder bei der Schiene noch bei der Straße nutzen wir die Kapazitä- (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU ten genügend aus, sichern wir den Verkehrsfluß, und der F.D.P.) wenn wir nicht moderne Technologien einsetzen. Ich kann Ihnen nur raten, diese Einstellung zur tech- Ein Beispiel: In diesen Wochen werden die ersten nischen Innovation zu verändern und zu verstehen, erfolgreichen Pilotprojekte der sogenannten City-Lo- (Rainder Steenblock [BÜNDNIS 90/DIE gistik vorgestellt. Durch elektronische Vernetzung GRÜNEN]: Herr Wissmann, zitieren Sie lie und durch ein intelligentes logistisches Konzept soll ber Herrn Rommel!) bei gleichen Transportmengen die Zahl der LKW- Fahrten in die Städte und Gemeinden verringert wer- daß ein Land mit hohen Lohnkosten, mit hohen den. Lohnnebenkosten, das auf den Weltmärkten konkur- rieren will, das seine Verkehrs- und Umweltpro- Ein anderes Beispiel: In Kassel wird bei gleicher bleme lösen will, auf technische Innovation angewie- Transportmenge durch Zusammenarbeit der Spedi- sen ist. Generelle Bekenntnisse nützen wenig, wenn tionen und durch den Einsatz moderner Logistikkon- man sich dann, wenn es konkret wird, in die grüne zepte die Zahl der Fahrten von 14 auf fünf verringert. Nische zurückzieht. Herr Kollege, dann muß man - Ein weiteres Beispiel ist der parkplatzsuchende wie beispielsweise beim Transrapid - Farbe beken- Verkehr, der fast 40 % unseres Verkehrs ausmacht. nen. Wie anders als mit modernem Verkehrsmanagement (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) und intelligenten Verkehrsleitsystemen wollen wir ihn reduzieren und unnötigen Verkehr vermeiden? Ich will es ganz deutlich sagen, meine Damen und - Herren: Wir setzen nicht nur auf technische Innova- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) tion, sondern wir setzen auch auf innovative Finan- zierungsinstrumente. 13 Konzessionsmodelle der Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit Sie sehen, Privatfinanzierung sind mit Unterstützung der Koali- daß wir dabei nicht nur an die Straße denken, nehme tionsfraktionen und der SPD im Haushaltsausschuß ich wieder, Herr Kollege Steenblock, schlicht die beschlossen worden, darunter auch das wichtige Fakten. Im Bundeshaushalt - in der Planung der Schienenprojekt Nürnberg-Ingolstadt-München. nächsten Jahre - sehen wir allein für das System CIR-ELKE, bei dem an der Strecke Basel-Offenburg (Rainder Steenblock [BÜNDNIS 90/DIE eine elektronische Steuerung von Zügen die Steue GRÜNEN]: Überflüssig wie ein Kropf!) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995 2289

Bundesminister Matthias Wissmann Natürlich wissen wir, daß die Finanzierung nach Wir stimmen zuerst über den Änderungsantrag der dem Konzessionsverfahren nur ein Teil einer sinnvol- SPD auf Drucksache 13/972 ab. Wer stimmt dafür? - len Privatfinanzierungsstrategie sein kann und daß Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? wir direkte Privatfinanzierung durch Betreibermo- - Gegen die Stimmen von SPD, BÜNDNIS 90/DIE delle auf Dauer noch stärker zum Durchbruch brin- GRÜNEN und PDS ist dieser Änderungsantrag abge- gen werden. lehnt. (Rainder Steenblock [BÜNDNIS 90/DIE Wir kommen zu den Änderungsanträgen der Frak- GRÜNEN]: Wo denn? Ist nirgends sichtbar!) tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 13/879? - Gegen- Nehmen Sie - das empfehle ich Ihnen, Herr Kollege - probe! - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist auch hier wieder die Fakten! Nehmen Sie die Aus- abgelehnt. schreibung der Warnow-Querung. Es kann sehr gut sein, daß wir mit der Warnow-Querung ein erstes Be- Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksa- treibermodell in Deutschland verwirklichen. che 13/880? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist abgelehnt. (Rainder Steenblock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da lachen ja die Hühner!) Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksa- che 13/923? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält Warum sollen beim Straßenbau in Deutschland Be- sich der Stimme? - Der Änderungsantrag ist abge- treibermodelle nicht selbstverständlicher werden, so lehnt. wie auch anderswo in Europa? (Rainder Steenblock [BÜNDNIS 90/DIE Wer stimmt für den Änderungsantrag der Gruppe GRÜNEN]: Sie machen ja gar kein Betrei der PDS auf Drucksache 13/962? - Wer stimmt dage- bermodell!) gen? - Wer enthält sich der Stimme? - Der Ände- rungsantrag ist abgelehnt. Ich bitte, auch hier die Scheuklappen abzulegen. Pri- vatfinanzierung nach dem Konzessionsmodell oder Wer stimmt für den Einzelplan 12 in der Ausschuß- nach Betreibermodellen ist in Europa überall selbst- fassung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich verständlich: in Italien, in Frankreich, in vielen ande- der Stimme? - Der Einzelplan 12 ist mit der Mehrheit ren europäischen Ländern. Warum soll der Einsatz der Stimmen der Fraktionen der CDU/CSU und der solcher Finanzierungsinstrumente nicht auch in F.D.P. gegen die Stimmen von SPD, BÜNDNIS 90/ Deutschland behutsam eingesetzt werden? DIE GRÜNEN und PDS angenommen. Meine Damen und Herren, Sie sehen, im Ver- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) kehrshaushalt ist ein großes Maß an Stetigkeit und Die Kollegen, die an der Beratung des Einzelplans 13 Verläßlichkeit, nicht mehr teilzunehmen wünschen, bitte ich, den (Rainder Steenblock [BÜNDNIS 90/DIE anderen möglichst rasch Platz zu machen. GRÜNEN]: Und an Ignoranz!) Ich rufe auf: aber auch ein großes Maß an Innovation. Einzelplan 13 Ich bedanke mich ausdrücklich bei den Kollegin- nen und Kollegen der Koalition im Haushalts- und Bundesministerium für Post und Telekommu- Verkehrsausschuß für die Unterstützung dieser Poli- nikation tik. Es ist keine Politik des kleinsten gemeinschaftli- chen Vielfachen. Es ist eine Politik, die auch den Mut - Drucksachen 13/513, 13/527 - hat, für Projekte einzustehen, wenn es im Wind stür- Berichterstattung: misch wird. Ich glaube, nicht derjenige, der bei je- dem Verkehrsprojekt vor Schwierigkeiten in die Knie Abgeordnete geht, macht auf Dauer vernünftige Wirtschafts- und Carl-Detlev Frhr. von Hammerstein Umweltpolitik, sondern der, der auch in schwierigen Jürgen Koppelin Zeiten für eine verantwortliche Verkehrs- und Um- Gerhard Rübenkönig weltpolitik steht. Antje Hermenau (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die. Rainder Steenblock [BÜNDNIS 90/DIE Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Dagegen er- GRÜNEN]: Jetzt machen Sie sich aber Mut, hebt sich offensichtlich kein Widerspruch. Dann ist durch Pfeifen im Walde!) das so beschlossen. - Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kolle Vizepräsident Hans Klein: Ich schließe die Aus- gen Hans Martin Bury das Wort. sprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Einzel- Hans Martin Bury (SPD): Herr Präsident! Liebe Kol- plan 12, Bundesministerium für Verkehr. Dazu liegen leginnen und Kollegen! Ich freue mich, daß wir heute ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD, drei Än- anläßlich der Beratung des Bundeshaushalts endlich derungsanträge der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE eine Grundsatzdebatte zu den wichtigen Herausfor- GRÜNEN und ein Änderungsantrag der Gruppe der derungen im Bereich von Post und Telekommunika- PDS vor. tion führen. 2290 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995

Hans Martin Bury Noch immer wird die Bedeutung des Themas in Meine Damen und Herren, der ordnungspolitische Deutschland in sträflicher Weise unterschätzt. und rechtliche Rahmen, den wir zu erarbeiten und im Deutschen Bundestag zu verabschieden haben, be- (Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Was, bei der trifft einen der bedeutendsten Sektoren unserer SPD?) Volkswirtschaft. Information und Kommunikation werden zunehmend zu entscheidenden Erfolgsfakto- Ich stimme dem US-Vizepräsidenten Al Gore zu, der ren für den Standort Deutschland. Hier entstehen in seiner Rede vor der International Telecommunica- neue Märkte, Schlüsseltechnologien und Dienstlei- tions Union in Buenos Aires folgendes gesagt hat: stungsangebote, die für die Leistungs- und Wettbe- Die Länder, die im 21. Jahrhundert wachsen und werbsfähigkeit einer Volkswirtschaft ausschlagge- gedeihen werden, werden jene Länder sein, die bend sind. Unsere wirtschaftliche Zukunft und damit im Bereich Telekommunikation eine klare Strate- vor allem auch die Sicherung bestehender und die gie und Politik verfolgen und die Gesetze schaf- Schaffung neuer Arbeitsplätze werden entscheidend fen, die ihren Bürgern einen breiten Zugang zu davon abhängen, ob es uns gelingt, bei den Zu- Informationsdiensten eröffnen. kunftstechnologien und den darauf aufbauenden Diensten und Anwendungen im Informations- und (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Das haben Kommunikationsbereich eine führende Rolle einzu- Sie aber noch nicht erkannt!) nehmen.

Die anstehenden Entscheidungen, die in diesem Der Telekommunikationssektor gehört zu den dy- Parlament insbesondere hinsichtlich der bevorste- namischen Märkten, die weltweit am schnellsten henden Marktöffnung im Bereich der Telekommuni- wachsen. Umsatz und Beschäftigtenzahl in der Kom- kation, aber auch der Post zu treffen sein werden, munikations- und Medienbranche werden voraus- werden tiefgreifende wirtschafts-, gesellschafts-, In- sichtlich schon in wenigen Jahren höher sein als in dustrie- und strukturpolitische Auswirkungen auf der Automobilindustrie. unser Land haben. (Dr. Martin Mayer [Siegertsbrunn] [CDU/ (Beifall bei Abgeordneten der SPD) CSU]: Weiß das auch die Deutsche Postge- Ab 1. Januar 1998 soll auf Beschluß des Euro- werkschaft?) päischen Ministerrats das Netz- und Sprachmonopol der Telekom fallen. Bis zu diesem Zeitpunkt müssen - Sehr wohl. - Multimedia, Interaktivität, Information rechtzeitig die Rahmenbedingungen für den dann of- Highways sind Schlagworte, die die zukünftige Ent- fenen Telekommunikationsmarkt festgelegt werden. wicklung skizzieren. Das Zusammenwachsen von Ein entsprechendes Regulierungsgesetz muß noch Telefon, Computer und Fernsehen und der Auf- und 1996 vom Deutschen Bundestag verabschiedet wer- Ausbau von digitalen Hochgeschwindigkeitsnetzen, den, damit auf dessen Grundlage im Jahre 1997 Li- die gewaltige Informationsmengen übertragen kön- zenzen für Wettbewerber im Telekommunikations- nen, ermöglichen interaktive Dienstleistungen, die markt vergeben werden, die dann 1998 tätig werden heute erst in Ansätzen erkennbar sind. Es geht dabei können. Auch im Postbereich wird in Kürze mit einer nicht nur um die Übertragung weiterer Fernsehpro- weiteren Marktöffnung zu rechnen sein, die wir gramme, sondern um völlig neuartige Angebote, z. B. politisch gestalten müssen. im Bereich der Information, des Handels, der Produk- tion und der Arbeitswelt, des Gesundheitswesens, Meine Damen und Herren, im Rahmen der Postre- der Bildung und Freizeit, die nachhaltigen Einfluß form II sind die ordnungspolitischen Entscheidun- auf unser privates und berufliches Leben haben wer- gen im Hinblick auf die künftige Marktstruktur aus- den. gespart worden. Der Telekom AG und der Post AG wurden die bestehenden Monopole bis Ende 1997 gesetzlich verliehen. Damit erhielten die Unterneh- Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Bury, darf men einen klaren, rechtlich verbindlichen Vertrau- ich Sie einen Moment unterbrechen? ensschutz. Mit anderen Worten: Vor 1998 wird es kei- nen Eingriff in den Kernbereich dieser Monopole ge- Verehrte Kolleginnen und Kollegen, es gibt eine ben. Die Postunternehmen, die erhebliche Altlasten Form der Unruhe, die sich an den Äußerungen des zu bewältigen haben und vor gravierenden beschäf- jeweiligen Redners entzündet und ihn im Regelfall tigungspolitischen Herausforderungen stehen, brau- beflügelt, und es gibt eine Form der Unruhe, die sich chen diesen Anpassungszeitraum, um sich auf die darin manifestiert, daß man vom Redner überhaupt neue Marktsituation vorbereiten zu können. keine Kenntnis nimmt und eine ganze Serie von Ne- Diese grundsätzliche Feststellung halte ich im Hin- bengesprächen führt, was viel störender ist. Ich bitte blick auf die Diskussion über vorzeitige Marktöff- also, entweder dem Redner zuzuhören, auf ihn zu nungen, über die in besonderen Einzelfällen zu dis- reagieren oder Gespräche, die Sie führen wollen, kutieren sein wird, für notwendig. Voraussetzung für außerhalb des Saales zu führen. eine Diskussion und Entscheidung ist in jedem Fall ein Grundkonsens über das Wettbewerbs- und Regu- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- lierungsmodell für die Zeit ab 1998. ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Zustimmung bei der SPD) Bitte fahren Sie fort. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995 2291

Hans Ma rtin Bury (SPD): Vielen Dank, Herr Präsi- hen, und nicht jede technische Spielerei wird einen dent, daß Sie die Ignoranz auf der rechten Seite des breiten Markt finden. Ich füge hinzu: Es wird auch Hauses noch einmal zum Ausdruck gebracht haben. nicht alles technisch Machbare gesellschaftlich wün- schenswert sein. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne Das ist unser zentrales Problem in Deutschland in der ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Debatte über Informations- und Kommunikations- technologien. Während über die Perspektiven der technischen Basis für die Multimedia-Infrastruktur weitgehend (Zuruf von der F.D.P.: Gucken Sie sich ein Klarheit besteht, herrscht große Unsicherheit dar- mal Ihre Fraktion an! Leere Bänke! - Wei über, welche neuen multimedialen Dienste kommer- tere Zurufe von der F.D.P. und der CDU/ ziell erfolgreich sein werden und von einer Vielzahl CSU) von Verbraucherinnen und Verbrauchern als er- wünscht und als Bereicherung ihres Lebens angese- - Ich freue mich, daß Sie aufgewacht sind. hen werden. Es muß deshalb vorrangig im Dialog mit den potentiellen Nutzern geklärt werden, für welche Dienstleistungen ein Bedarf besteht und welche In- Vizepräsident Hans Klein: H err Kollege Bury, Sie sollten diesen Versuch von mir, Ihnen Aufmerksam- frastrukturen dafür geschaffen werden müssen. Des- keit zu verschaffen, nun nicht parteipolitisch oder halb ist es gut, daß - beispielsweise in Baden-Würt- temberg - die Breite möglicher künftiger Multime- fraktionsmäßig nutzen. diadienste in Pilotprojekten erprobt wird. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU (Arne Börnsen [Ritterhude] [SPD]: Wer und der F.D.P.) macht das? - Spöri!)

- Das macht Spöri, selbstverständlich. - Diese Erpro- Hans Martin Bury (SPD): Herr Präsident, wo Sie bung muß mit einem Dialog über Chancen und Risi- recht haben, haben Sie recht. Ich freue mich, daß die ken von Multimedia verbunden werden, der sich mit Kollegen wach geworden sind. den gesellschaftspolitischen Auswirkungen und den In den USA, liebe Kolleginnen und Kollegen, hat möglichen sozialen und kulturellen Veränderungen die Ankündigung von Präsident Clinton zum flä- auseinandersetzt. Dabei muß - sorgfältiger als bis- chendeckenden Ausbau von Data-Highways, die her - auch über Probleme und entsprechenden ge- wegen ihrer industriepolitischen Bedeutung massiv setzgeberischen Handlungsbedarf diskutiert werden. mit öffentlichen Mitteln gefördert werden sollen, für Meine Fraktion hat deshalb beschlossen, eine Grolle Furore gesorgt. - Der deutsche Bundeskanzler ist so Anfrage im Deutschen Bundestag einzubringen, um weit wie Sie: Der denkt bei Data-Highways an den diesen Dialog zu forcieren und erstmals im Deut- Stau auf der Asphaltstraße. Aber das war das Thema schen Bundestag in aller Breite über das Thema Mul- des vorigen Einzelplanes. - timedia zu debattieren.

(Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Ja, das verwech Der Bundesminister für Post und Telekommunika- selt er manchmal!) tion hat am Montag dieser Woche seine Eckpunkte zur Öffnung des Telekommunikationsmarktes, die In den USA schließen sich in diesem Zusammenhang Grundlage für ein Regulierungsgesetz sein sollen, Fernmelde- und Kabelgesellschaften, Software- und vorgelegt. Goldgräber und Glücksritter sind dem- Unterhaltungselektronikunternehmen, Filmstudios, nach bei der Bundesregierung gut aufgehoben. Verlage, TV-Anstalten und Versandhäuser zusam- Denn in ihren Eckpunkten ist u. a. vorgesehen, eine men, gehen Kooperationen und strategische Allian- flächendeckende Grundversorgung als Auflage nur zen ein, um sich Know-how und Zugang zu den für marktbeherrschende Unternehmen vorzuschrei- künftigen Märkten zu sichern und zu erschließen. ben, Unternehmen, die nicht marktbeherrschend sind, faktisch keiner Regulierung zu unterwerfen Wir können uns nicht erlauben, den Anschluß an und Telefonlizenzen auch für einzelne Regionen, die technologische Entwicklung zu verschlafen, Städte oder Ballungsräume zu vergeben. wenn neue, hochqualifizierte Arbeitsplätze in Deutschland entstehen sollen. (Zuruf von der F.D.P.: Sehr vernünftig!)

(Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Wohl Diese Eckpunkte sind nach unserer Auffassung wahr!) völlig unzureichend. Ihre Verwirklichung würde - dazu führen, daß auf unabsehbare Zeit allein die Te- Angesichts der strategischen Bedeutung muß der lekom AG reguliert und mit Infrastrukturauflagen Staat die Entwicklung im Bereich Multimedia aktiv versehen würde, gestalten und technologische Innovationen unterstüt- zen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Meine Damen und Herren, es wird einige Zeit während sich ihre potentiellen Konkurrenten hei den dauern, bis die entsprechenden Endgeräte und die Verbindungen und im Telefondienst völlig frei von notwendige benutzerfreundliche Software für dieses Verpflichtungen bewegen könnten und ausschließ- multimediale Zeitalter ausgereift zur Verfügung ste lich lukrative Teile des Marktes heraussuchen könn- 2292 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995

Hans Martin Bury ten. Eine solche Regelung widerspricht eklatant allen lukrativen Kunden und Regionen wird in einem Geboten eines fairen Wettbewerbs, zumal es sich bei Marktsegment abgewickelt, das deutlich unter 25 % den möglichen Wettbewerbern um finanzstarke in- liegt. Sie brauchen sich dazu nur die Entwicklungen und ausländische Konzerne handelt. in den USA und in Großbritannien anzuschauen.

Für die SPD sind diese Eckpunkte, die einen asym- Ich benutze den Begriff des Rosinenpickens nicht metrischen, ja völlig schiefen Wettbewerbsrahmen gerne; aber hier ist er angebracht, weil er voll und festlegen, nicht akzeptabel. ganz zutrifft. Wer sich nicht mehr als zwei Stücke vom Telekommunikationskuchen abschneidet, darf (Beifall bei der SPD) sich aus dem ganzen Kuchen noch die Rosinen steh- len. Wir werden uns dafür einsetzen, daß diese unan- Wir wollen einen fairen Wettbewerb, der allen Ver- gemessene, einseitige Belastung der Telekom AG im brauchern zugute kommt. Dazu bedarf es klarer Re- Interesse eines fairen Wettbewerbs nicht zum Tragen geln für den Marktzugang und für einen funktionie- kommt. renden, qualitativ hochwertigen Wettbewerb sowie (Beifall bei der SPD) klarer Vorgaben für die Bereitstellung von Infrastruk- turleistungen. Denn wir wollen eine wirtschaftlich Zu einem fairen Wettbewerb gehört für uns im starke und technisch innovative Telekom, deren Bör- übrigen auch, daß Energieversorgungsunterneh- sengang nicht gefährdet wird, und keine Zwei-Klas- men, die sich im Verbund mit kapitalstarken in- und sen-Informationsgesellschaft. ausländischen Konzernen als potentielle Wettbewer- ber der Telekom formieren, ihre laufenden Aktivitä- (Beifall bei der SPD - Adolf Roth [Gießen] ten im Telekommunikationsbereich nicht durch Ein- [CDU/CSU]: Was heißt denn das?) nahmen aus Monopolen für die Energieversorgung quersubventionieren. Ich hielte es unter wettbe- Die SPD ist für das Ordnungsprinzip des Wettbe- werbspolitischen Gesichtspunkten zumindest für pi- werbs. Ich darf Sie in diesem Zusammenhang daran kant, ausgerechnet für diejenigen Unternehmen erinnern, daß die wesentlichen Initiativen im Deut- praktisch unreguliert den Markt öffnen zu wollen, schen Bundestag zur Bekämpfung der Konzentration die ihrerseits Milliardengewinne aus den Monopolen in der Wirtschaft, zur Verschärfung der Fusionskon- für die Energieversorgung erwirtschaften und diese trolle oder zur Bekämpfung der Mißbrauchsaufsicht zur Diversifikation ihrer Geschäftsbereiche verwen- über marktbeherrschende Unternehmen von der den statt für eine zukunftsfähige Energieversorgung. SPD-Bundestagsfraktion bzw. sozialdemokratisch geführten Bundesregierungen initiiert und verwirk- (Beifall bei der SPD) licht worden sind. Wettbewerb kann seine positiven Meine Damen und Herren, Markt und Wettbewerb Wirkungen aber nur entfalten, wenn er funktioniert. allein können nicht immer sicherstellen, daß gesamt- Dazu sind klare Regeln erforderlich, mit denen so- wirtschaftlich und gesellschaftlich erwünschte Ziel- wohl der Mißbrauch von Marktmacht unterbunden setzungen verwirklicht werden. Dies gilt z. B. im Hin- wird als auch Wettbewerbsverzerrungen, z. B. durch blick auf den grundgesetzlich festgeschriebenen In- einseitige Belastungen einzelner Marktteilnehmer, frastrukturauftrag zur Sicherung eines flächendek- verhindert werden. kenden, angemessenen und ausreichenden Dienst- (Beifall bei der SPD) leistungsangebotes im Bereich des Postwesens und der Telekommunikation, für den der Staat die Ver- Die Eckpunkte des Bundesministers für Post und antwortung trägt. Telekommunikation genügen diesen Anforderungen Wir wollen deshalb, daß die Gewährleistung einer nicht. Seine Absicht, nur marktbeherrschende Unter- angemessenen Infrastruktur durch klare Lizenzbe- nehmen bzw. Unternehmen mit einem Marktanteil stimmungen geregelt wird. Dies kann vor allem von Tiber 25 % mit belastenden Auflagen zur Sicher- durch verbindliche Auflagen, z. B. für die flächen- stellung einer flächendeckenden Grundversorgung deckende Bereitstellung von Netzen und Diensten, mit Telekommunikationsdienstleistungen zu verse- vorgenommen werden. Für den künftigen Universal- hen, führt zu gravierenden Verfälschungen des Wett- dienst im Telekommunikationsbereich, der ein be- bewerbs. In der Praxis bedeutet das, daß allein die stimmtes Angebot an Dienstleistungen umfassen soll Telekom AG auf unabsehbare Zeit reguliert und mit und zu dem im Kern der Telefondienst gehört, muß Infrastrukturauflagen belastet werden soll. Alle an- nach unserer Auffassung ein flächendeckendes An- deren Marktteilnehmer sollen dagegen frei darüber gebot vorgeschrieben werden. Die in den Eckpunk- entscheiden, wo und wie sie welche Telekommuni- ten des Bundespostministers vorgesehenen „Insel- kationsdienstleistungen einschließlich des Telefon- lösungen" für das Angebot im Telefondienst, die dienstes anbieten. Wettbewerbern die Möglichkeit eröffnen würden, - (Arn e Börnsen [Ritterhude] [SPD]: Das ma den Telefondienst nur in besonders lukrativen Berei- chen wir nicht mit!) chen zu betreiben, lehnen wir ab. (Beifall bei der SPD) Es liegt auf der Hand, daß dieser Zustand auf Dauer angelegt wäre. Denn welches Unternehmen Im Bereich der Netzinfrastruktur muß nach unse- sollte überhaupt ein Interesse daran haben, einen rer Auffassung eine Option vorgesehen werden, mit Marktanteil von über 25 % anzustreben, um sich im der Netzbetreiber dazu verpflichtet werden können, Gegenzug dazu belastende Auflagen einzuhandeln? auch eine breitbandige Kommunikation im Rahmen Denn das besonders gewinnbringende Geschäft mit einer Universaldienstverpflichtung zu ermöglichen. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995 2293

Hans Martin Bury Eine breitbandige Telekommunikationsinfrastruktur Herr Bötsch, Sie müssen aufpassen, daß Sie nicht ist die Voraussetzung für einen wirtschaftlich und ge- bald als „Bundesminister gegen Post und Telekom" sellschaftlich erfolgreichen Einstieg in die Informati- firmieren, onsgesellschaft. (Beifall bei Abgeordneten der SPD - Arne (Dr. Martin Mayer [Siegertsbrunn] [CDU/ Börnsen [Ritterhude] [SPD]: Zu später CSU]: Sehr richtig!) Stunde die Wahrheit kommt ans Licht!)

Eine Beschränkung auf schmalbandige Kommunika- Meine Damen und Herren, die vom Bundespostmi- tion, wie Sie sie überlegen, wäre weder unter ökono- nister vorgelegten Punkte erfüllen unsere Anforde- mischen Gesichtspunkten noch unter den Aspekten rungen an einen verläßlichen, fairen Wettbewerbs- von chancengleichem Zugang zu Informationen, Plu- rahmen für den offenen Telekommunikationsmarkt ralismus und Meinungsfreiheit sinnvoll. Ich freue nicht. Sein Wettbewerbsmodell ist nicht nur asymme- mich, daß wir auch zu später Stunde noch in der De- trisch, sondern schief. Wir werden uns bemühen, auf batte Kollegen der Koalitionsfraktionen überzeugen der Grundlage der von mir hier vorgetragenen Eck- können. punkte dieses Wettbewerbsmodell vor der Formulie- rung der Gesetzentwürfe geradezurücken. (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Sehr gut!) Ich hoffe sehr, daß der Minister aufgeschlossen in Meine Damen und Herren, nicht diskriminierende die jetzt anstehenden interfraktionellen Gespräche Wettbewerbsbedingungen und gleichverpflichtende über die Eckpunkte hineingeht und ergebnisorien- Infrastrukturauflagen für alle relevanten Marktteil- tiert mit uns verhandelt. Es liegt im volkswirtschaftli- nehmer sind nicht nur aus Fairneßgründen notwen- chen Interesse, für einen so wichtigen Bereich wie dig. Sie sind auch die Voraussetzung dafür, daß sich den Telekommunikationsmarkt einen breiten politi die Telekom AG als eine der grollen internationalen schen Konsens über die Rahmenbedingungen anzu- Kommunikationsgesellschaften im weltweiten Wett- streben. Sowohl die Telekom AG als auch potentielle bewerb bewähren und zu einem führenden „global Wettbewerber und ihre Kunden brauchen verläßliche player" entwickeln kann. Regeln. Nur dann haben sie die notwendige Pla- nungssicherheit. Es liegt in unserem unmittelbaren volkswirtschaft- lichen Interesse, daß die Telekom AG sich auf dem (Beifall bei der SPD) Weltmarkt erfolgreich behauptet. Wir werden uns in dieser Legislaturperiode nicht (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!) nur mit Liberalisierungsfragen des Telekommunika- tionsmarktes, sondern auch des Postmarktes zu be- Eine wirtschaftlich starke und technisch leistungsfä- schäftigen haben. Grundlage für eine Marktöffnung hige Telekom AG ist nicht nur für den engeren Be- im Postbereich ist u. a. das Grünbuch der EU-Kom- reich der Netzinfrastruktur und der Telekommunika- mission. Dessen allgemeine Zielsetzung, in allen Mit- tionsdienstleistungen von großer Bedeutung. Sie ist gliedsstaaten qualitativ gute, zuverlässige, flächen- gleichermaßen als Auftraggeber, Nachfrager und deckende Postdienstleistungen sicherzustellen, die Partner nachgelagerter Industrie- und Dienstlei- zu tragbaren Preisen leicht zugänglich angeboten stungsbereiche, die Hard- und Software im Kommu- werden sollen, wird von uns unterstützt. Bei der Um- nikationsbereich entwickeln und herstellen, unver- setzung dieser Zielsetzungen wird es jedoch ent- zichtbar. Eine wirtschaftlich und finanziell gefähr- scheidend darauf ankommen, wie dieser Universal- dete Telekom würde der deutschen Volkswirtschaft dienst, also die Infrastrukturleistungen, aussehen schaden. Wir sind auch deshalb gegen unangemes- und wie er finanziert werden soll. sene einseitige Regulierungsmaßnahmen. Insgesamt darf die Marktöffnung im Postbereich Sowohl übermäßige asymmetrische Belastungen kein Stückwerk sein. Notwendig ist, wie in der Tele- als auch vorgezogene gravierende Liberalisierungs- kommunikation, ein geschlossener, konsistenter Ord- schritte hätten insbesondere auf den für 1996 vorge- nungsrahmen. Wir sollten dabei behutsam und im sehenen Börsengang und die Beschäftigungsent- europäischen Gleichklang vorgehen. wicklung der Telekom erhebliche negative Auswir- kungen. Die wirtschaftliche und finanzielle Schwä- Für alle „Liberalisierungsschritte", die der Postmi- chung würde zu einer deutlichen Reduzierung des nister vor 1998 vorzunehmen gedenkt, ist auch der angestrebten Emissionskurses und damit zu einer Regulierungsrat zuständig. spürbaren Verringerung der angestrebten Aufstok- - kung des Eigenkapitals führen. Damit wäre ein zen- (Zuruf von der F.D.P.) trales Ziel der zweiten Postreform substantiell gefähr- det. - Die F.D.P. werden wir dazu nicht brauchen.

Die Eckpunkte des Bundespostministers sind unter Alle Schritte zu einer vorherigen Marktöffnung be- diesem Gesichtspunkt geradezu geschäftsschädi- dürfen der Zustimmung des Regulierungsrats. Ich gend. halte dies mit Blick auf die leidige Diskussion über die Freigabe der Infopost ab 250 Gramm für einen (Arne Börnsen [Ritterhude] [SPD]: Überle großen Fortschritt. Wir werden im Regulierungsrat gen Sie sich das noch einmal!) gemeinsam mit den Ländern darauf achten, daß Li- 2294 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995

Hans Martin Bury zenzen nur mit klaren Auflagen hinsichtlich Flächen- enthalten wollte. So etwas kommt im Zuge der Ge- deckung, Kontrahierungszwang, Qualität der Dienst- schäfte einer Haushaltsdebatte immer wieder vor. Ich leistungen etc. vergeben werden. finde, wir sollten das zur Kenntnis nehmen und im Protokoll entsprechend vermerken. (Beifall bei der SPD - Arne Börnsen [Ritter hude] [SPD]: Kein Beifall bei CDU/CSU und Als nächstem erteile ich jetzt unserem Kollegen F.D.P.! Bemerkenswert!) Carl-Detlev Freiherr von Hammerstein das Wort. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte zum Abschluß noch eine kurze Bemerkung zum Ver- Carl - Detlev Freiherr von Hammerstein (CDU/ triebsverbund von Post und Postbank machen. Be- CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten, lieben kanntlich hat es hier Irritationen auf Grund kritischer Kolleginnen und Kollegen! Herr Bury, Sie haben Anmerkungen des Bundesaufsichtsamtes für das heute abend einen kleinen Fanclub mitgebracht, Kreditwesen im Hinblick auf die Weisungsbefug- eine Viererbande, die hin und wieder geklatscht hat. nisse für die Mitarbeiter im Schalterdienst gegeben. Die anderen haben gar nicht verstanden, was Sie Die SPD-Bundestagsfraktion hat im Rahmen der während Ihrer gesamten 21minütigen Rede gesagt Postreform II mit Nachdruck deutlich gemacht, daß haben. sie eine Zusammenarbeit zwischen Postdienst und Postbank als notwendige Voraussetzung für eine flä- (Arne Börnsen [Ritterhude] [SPD]: Sie hät chendeckende Versorgung mit Dienstleistungen der ten mal zuhören sollen!) beiden Unternehmen betrachtet. Ich bin erstaunt, daß Ihr haushaltspolitischer Spre- (Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Das eben ist cher für den Einzelplan 13 überhaupt nicht anwe- falsch!) send ist. Mit ihm hatten wir - das muß ich fairerweise sagen - in vielen Dingen einen ausgesprochen guten Die Notwendigkeit des Vertriebsverbundes, Herr Konsens. Kollege, wird ausdrücklich in einer einstimmig ange- nommenen Entschließung des Deutschen Bundesta- (Arne Börnsen [Ritterhude] [SPD]: Den ha ges bekräftigt. Ich weiß aber nicht, ob Sie bei der Ab- ben auch wir!) stimmung wach waren. Ich möchte mich bei allen Mitberichterstattern (Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Doch!) herzlich dafür bedanken, daß wir gemeinsam den Wir stehen zu dieser Aussage und erwarten, daß Einzelplan 13 ohne große Widersprüche der Opposi- Postdienst und Postbank tragfähige Lösungen für tion verabschiedet haben. eine weitere, wie ich hoffe, erfolgreiche Zusammen- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Da arbeit im Hinblick auf die Kritik des Bundesaufsichts- muß im Haushaltsausschuß etwas schiefge amtes für das Kreditwesen entwickeln. laufen sein!) (Beifall bei der SPD - Arne Börnsen [Ritter hude] [SPD]: Da ist die Bundesregierung Ich möchte, lieber Herr Minister, Ihnen und Ihrem gefordert!) ganzen Hause ganz herzlich für die konstruktive und gute Zusammenarbeit danken. Ich bitte Sie, diesen Hier ist auch die Bundesregierung gefordert. Dank Ihrem Hause weiterzuleiten.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, es ist (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge deutlich geworden, daß wir noch große Aufgaben zu ordneten der F.D.P. - Arne Börnsen [Ritter bewältigen haben. Unsere Entscheidungen in dieser hude] [SPD]: Die Kollegen gucken Sie aber Wahlperiode sind von enormer Tragweite. Deshalb gar nicht glücklich an!) müssen sie auch tragfähig sein; da ist noch einiges zu tun. Lassen Sie uns an die Arbeit gehen! Sicherlich gibt es in der Koalition und Opposition in einigen Teilen Änderungswünsche. Aber im End- (Beifall bei der SPD und der PDS) effekt haben wir uns geeinigt, und der gesamte Ein- zelplan ist beiderseitig akzeptiert worden. Vizepräsident Hans Klein: Meine Damen und Her- ren, vorhin, während der Abstimmung, hatte sich der Drei entscheidende Faktoren hatten bei den Bera- Kollege Karl Diller zur Geschäftsordnung gemeldet. tungen eine große Bedeutung: erstens das weitere Ich weise darauf hin, daß auch zur Geschäftsordnung Vorantreiben der Privatisierung, zweitens die Schwierigkeit - ich glaube, das ist das Entschei- während der Abstimmung nicht das Wort erteilt wer- - den darf. dende -, ein aufzulösendes Ministerium bis zum End- punkt dennoch funktionsfähig zu halten, und drit- Im übrigen handelte es sich nicht um einen Ge- tens das gleichzeitige Bestreben, den Bundeshaus- schäftsordnungsantrag, sondern um den Hinweis - halt zu konsolidieren. ich gebe dies hiermit zur Kenntnis und setze voraus, daß dies allgemein akzeptiert wird -, daß sich die Nach der Gründung der Aktiengesellschaften SPD-Fraktion bei der Abstimmung über den Ände- Deutsche Post, Telekom und Deutsche Postbank im rungsantrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- letzten Jahr in Köln richtet sich jetzt der Blick auf die NEN auf Drucksache 13/879 in der Drucksachen- Schaffung eines rechtlichen Rahmens für den Ein- nummer verguckt hat und sich eigentlich der Stimme stieg in einen geordneten Wettbewerb während der Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995 2295

Carl-Detlev Freiherr von Hammerstein vor uns liegenden drei Jahre. Die Befristung bis zum - Meine Fraktion hat wie die Ihrige, lieber Kollege 31. Dezember 1997 entspricht unserer politischen Arne Börnsen, gewisse Bauchschmerzen gehabt, Willensbildung und steht auch zugleich im Einklang mit der Europäischen Union (Arne Börnsen [Ritterhude] [SPD]: Mit dir!)

(Arne Börnsen [Ritterhude] [SPD]: Hoffent aber inzwischen haben wir uns einigen können. lich bleibt ihr auch dabei!) Entscheidend ist meines Erachtens aber eine Posi- tion, die von Wichtigkeit ist, und zwar sind das die - so ist es, lieber Arne Börnsen - im Hinblick auf die Gelder, die wir für die Ausbildung, Fortbildung und Öffnung der Märkte der Telekommunikation und der Umschulung wichtiger Mitarbeiter zur Verfügung Post. gestellt haben, die in Anbetracht der Verkleinerung (Arn e Börnsen [Ritterhude] [SPD]: Wollt ihr des Postministeriums ausscheiden müssen. jetzt öffnen?) (Arne Börnsen [Ritterhude] [SPD]: Lenk mal nicht ab!) Mit dem Abschluß der Parlamentsberatungen zur Postreform II war die Arbeit des Postministeriums Daß wir mit der Privatisierung und dem vom Bun- natürlich nicht abgeschlossen. Vollendung der Post- despostminister Wolfgang Bötsch am Montag in reform II heißt nämlich Erarbeiten der vielen Rechts- Bonn vorgelegten Eckpunktepapier zur Liberalisie- verordnungen, die auch noch in verschiedenen Gre- rung des deutschen Telekommunikationsmarktes mien behandelt werden müssen. Vollendung der richtig liegen, beweisen viele positive Stimmen, die Postreform II heißt aber auch Erarbeiten der Geset- man zur Zeit in den Medien lesen kann. zesregelungen für die Zeit nach 1997, und zwar par- allel zu den genannten Rechtsverordnungen. Vollen- (Hans Martin Bury [SPD]: Da brauchen Sie dung der Postreform heißt schließlich auch Erarbei- noch viel Fortbildung!) ten eines völlig neuen Regulierungssystems. - Herr Bury, ich glaube, Sie haben in den letzten Ta- An allen Ecken und Enden sind also neu entste- gen vergessen, Zeitungen zu lesen und Fernsehinter- hende Herausforderungen zu erkennen, die auch ak- views zu hören. Alle in der Bundesrepublik haben tiv aufgegriffen und finanziell so ausgerüstet werden sich klar und deutlich positiv über diese Maßnahme müssen, daß alles erledigt werden kann. ausgesprochen.

Ich glaube, lieber Herr Postminister, hier haben wir (Beifall bei der CDU/CSU - Hans Martin den Haushalt so bestückt, daß Sie all die Dinge, die Bury [SPD]: Sie lesen die falschen Zei von großer Wichtigkeit sind, bestreiten können, näm- tungen!) lich Beiträge an internationale Organisationen, Ko- sten für Sachverständige. Herr Kollege A rn e Börn- Sie als Arbeitsgruppenvorsitzender sollten sich lieber informieren, bevor Sie solche Aussagen wie vorhin sen, unser Ausschußvorsitzender, legt ja äußerst gro- ßen Wert darauf und ist häufig, wie ich weiß, in Ame- machen. rika. Ich werde gleich noch etwas dazu sagen. (Arne Börnsen [Ritterhude] [SPD]: Allgemei nen Aussagen kann man zustimmen! Auf (Arne Börnsen [Ritterhude] [SPD]: Man die Details kommt es an, und da wollen wir lernt dazu!) erst einmal abwarten! Da werden wir auch Dazu gehören auch Kosten für internationale Tagun- korrigieren, Verehrtester!) gen und Konferenzen, die du sicherlich in Anspruch - Das werden wir feststellen, Herr Börnsen. nehmen wirst. Hiermit sind die richtigen ordnungspolitischen Si- Wir haben meines Erachtens auch für den Regulie- gnale in die Informationsgesellschaft gesetzt. Sicher- rungsrat in angemessenem Rahmen Geldmittel zur lich haben zur Zeit Großbritannien, Amerika, Japan Verfügung gestellt. und vielleicht auch einige andere Länder einen ge- wissen Vorsprung. (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Tagt der im Aus land?) (Arne Börnsen [Ritterhude] [SPD]: Hono lulu!) Er hat, wenn ich richtig informiert bin, diesen Mon- tag schon zum erstenmal getagt - Bist du da gewesen? - Aber der jetzige Ministerent- wurf bietet gute Ansatzpunkte, um Anschluß an das - (Zuruf von der CDU/CSU: Wo denn?) internationale Niveau zu finden.

und hat sicherlich auch schon maßgebliche Entschei- (Arne Börnsen [Ritterhude] [SPD]: Wann dungen getroffen. fährst du denn wieder nach Las Vegas?)

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - Um alle soeben genannten Erkenntnisse durchzu- Arne Börnsen [Ritterhude] [SPD]: Auf das setzen, brauchen wir natürlich hochmotivierte, quali- Thema wollen wir nicht genauer eingehen! fizierte Mitarbeiter im Ministerium. Bei den Vorge- Unterhalte dich mit deiner Fraktion dar sprächen im Ministerium gab es natürlich gravie- über!) rende Auseinandersetzungen auch mit dem Finanz- 2296 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995

Carl-Detlev Freiherr von Hammerstein ministerium und mit dem Bundesrechnungshof - das einmal das Wort erteilen muß, dann werde ich es Ih- muß ich klar und deutlich sagen -; denn der Bundes- nen, glaube ich, gleich mit erteilen; dann können Sie rechnungshof hatte vor, weit über 100 Mitarbeiterpo- im Couplet hier auftreten. sitionen im Postministerium zu streichen. (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU Ich glaube, mit der Regelung, die wir jetzt getrof- und der F.D.P.) fen haben, nämlich im Jahre 1995 26 Stellen und in den folgenden Jahren 1996 und 1997 jeweils Als nächstes hat der Kollege Dr. Manuel Kiper das 15 Stellen zu streichen, kann das Ministerium gut le- Wort. ben. Die Streichungen der Planstellen gelten nur für (Arne Börnsen [Ritterhude] [SPD]: Jetzt bin das jeweilige Jahr. Das muß klar und deutlich gesagt ich auch ganz ruhig! - Dr. Manuel Kiper werden, weil wir diese Position in der Bereinigungs- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das muß sitzung nicht klären konnten. auch so sein! - Zuruf von der CDU/CSU: Ist Neben diesen Kürzungen halten wir auch die ein- das eine Jungfernrede?) prozentige Personalkürzung, die die jetzige Bundes- regierung festgelegt hat, ein. Ich freue mich, daß es Dr. Manuel Kiper (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): allen Mitberichterstattern gelungen ist, einen Kon- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und sens zu finden, den Personalabbau so zu regeln, Herren! Das ist natürlich keine Jungfernrede; das ist daß - - nicht einmal eine „Jungmannrede". Vielmehr ist das (Arne Börnsen [Ritterhude] [SPD]: Hoffent hier der normale Alltag eines Abgeordneten. Nachts, lich können die Mitarbeiter im Ministerium 23.50 Uhr, sind wir hier im Plenum und sollen uns noch ein paar Gesetze bauen!) noch an so wichtigen Fragen abarbeiten. Der Kollege Hammerstein hat die Aufmerksamkeit - Du hast sicherlich feststellen können, daß noch so ein wenig auf das gelenkt, worum es heute eigent- viele Personen da sind, daß gute Gesetze noch ord- lich geht: die Haushaltsplanberatungen. nungsgemäß vorbereitet werden können. Das wird der Vorsitzende des Ausschusses für Post und Tele- Kollege Bötsch, Sie sind ja die allgemeine Spar- kommunikation, Arne Börnsen, sicherlich auch in büchse dieses Haushalts geworden. Selbst wir von Zukunft feststellen, seiten der GRÜNEN haben, wenn ich richtig infor- miert bin, keine Einwände dagegen gehabt, daß bei (Arne Börnsen [Ritterhude] [SPD]: Das wird Ihnen im Haushalt des Bundesministeriums für Post er bewerten, wenn die Gesetzentwürfe vor und Telekommunikation gespart wurde. Sie sind ja liegen, und nicht vorher!) sowieso abgängig. Aber natürlich verbleiben die Pro- Für mich war die Personalfürsorge ein großes Pro- bleme der Post. blem. Viele Mitarbeiter in diesem haus machen sich Wir möchten hier doch wenigstens einmal betrof- Sorgen um ihre Zukunft und orientieren sich neu. Ich fen anmerken, daß einige Aufgaben, die eigentlich habe in vielen Gesprächen im Haus feststellen kön- auch über Haushaltstitel gelöst werden müßten, aber nen, daß viele von ihnen vorzeitig das Haus verlas- nun nicht mehr in Ihre Zuständigkeit fallen - ich sen, um in den drei neugegründeten Post-Aktienge- denke beispielsweise an die Verseuchung von unge- sellschaften eine neue Anstellung zu bekommen. fähr 200 Stellen der Telekom durch PCB -, natürlich Häufig ist es so, daß gerade die besten Leute als erste noch enorme Geldmittel verlangen, die im Augen- das Haus verlassen. Ich hoffe trotzdem, daß die blick nicht zur Verfügung gestellt werden. Das ist übriggebliebenen ihre Arbeit genausogut machen. heute außerhalb der Reichweite dessen, was wir im (Hans Martin Bury [SPD]: Eine schöne Be Zusammenhang mit dem Haushaltsplan zu beraten wertung ist das!) haben, weil Sie, Herr Bötsch - ich möchte das noch einmal ansprechen -, ja eigentlich abgängig sind. Es Ich darf als dritten Punkt die Konsolidierung des geht hier tim die Abwicklung Ihres Bundesministe- Bundeshaushaltes ansprechen. Sie wissen, daß es riums. uns sehr schwerfällt, für 1996 weitere drastische (Karl Diller [SPD]: Liquidation!) Maßnahmen der Kürzung vorzunehmen. Aber mit dem Haushalt 1996 werden wir uns dann beschäfti- Ich hin dem Kollegen Bury dankbar, daß er die Ge- gen, wenn uns die Regierung im Herbst den neuen legenheit genutzt hat, hier wenigstens einmal eine Einzelplan vorlegt. Grundsatzdebatte über das zu führen, worum es heute eigentlich bei Post und Telekommunikation - Ich darf mich herzlich bedanken. geht, wenn wir schon nicht. um den Haushalt streiten: die Informationsgesellschaft. Der G-7-Gipfel hat es (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - zum Programm erklärt. Selbst der Innovationsrat bei Arne Börnsen [Ritterhude] [SPD]: Schade, unserem verehrten Herrn Bundeskanzler, der ja um wir hätten gern ein bißchen mehr davon er diese Uhrzeit absent ist, hat es zum wesentlichen lebt!) Programmpunkt erhoben, über die Informationsge- sellschaft zu philosophieren. Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Börnsen, Es ist in der Tat auch sehr wichtig, daß wir uns dar- wenn ich dem Kollegen von hammerstein wieder über verständigen und die Informationsgesellschaft Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995 2297

Dr. Manuel Kiper nicht länger verkürzt behandeln. Ich meine die ver- Das ist doch keine technische Innovation, und damit kürzte Behandlung der Informationsgesellschaft, wie besteht man auch nicht die Herausforderungen der es Herr Bury und eigentlich die gesamte SPD-Frak- Zukunft. tion, besonders aber die Koalitionsfraktionen ge- wöhnlich tun. Da wird von 100 Milliarden, (Hans Martin Bury [SPD]: Darum geht es 200 Milliarden an Umsätzen, von 2 Millionen, doch gar nicht!) 10 Millionen, 20 Millionen Arbeitsplätzen für die - In der Tat geht es um die Informationsgesellschaft. nächsten Jahre geredet. Das sind doch alles Mär- chen. Bei der Informationsgesellschaft geht es - lassen Sie mich das festhalten - erstens um die informatio- (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Wo leben nelle Selbstbestimmung. Diese Diskussion aus den Sie denn?) 80er Jahren muß man hier einmal ins Gedächtnis ru- fen. Zweitens geht es - auch das muß einmal klar ge- Schminken Sie sich das ab! Darum geht es über- sagt werden - um die informationelle Grundversor- haupt nicht. Diese Multimedia-Geschichten können gung. Es geht darum, daß wir nicht informationelle Sie sich weiß ich wohin schmieren. Habenichtse auf der einen und die Mediengiganten auf der anderen Seite haben. Es geht darum, daß wir (Zurufe von der CDU/CSU: Na! Na!) eine demokratische Gestaltung der Netze und eine Das sind überhaupt nicht die entscheidenden Fra- Teilhabe der Öffentlichkeit an der Informationsge- gen. sellschaft erreichen, d. h. daß wir uns wirklich alle daran beteiligen und untereinander kommunizieren Liebe Kolleginnen und Kollegen, es geht hier um können, und dies zu angemessenen Preisen. die Informationsgesellschaft. Das, was wir heute aus Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich Nordrhein-Westfalen erfahren, ist genauso beschä- ein paar weitere Punkte ansprechen. Zunächst zur mend wie das, was wir in Baden-Württemberg bei vorausschauenden Regulierung. Auch sie steht hier Herrn Spöri erleben. Überall wird auf Multimedia zur Debatte. Herr Kollege Bötsch, die Eckpunkte, die gesetzt, und es soll ein bißchen Video on demand Sie am Montag vorgestellt haben - einigen Einge- herausgekitzelt werden, als ob man damit die Her- weihten haben Sie sie schon letzte Woche zuge- ausforderungen der Zukunft bestehen könnte. steckt -, sind wirklich unzureichend. (Hans Martin Bury [SPD]: Die Pilotversuche kennen Sie offensichtlich nicht!) Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege, Ihre Rede- zeit ist abgelaufen. - Ja, die Pilotversuche in Nordrhein-Westfalen: Nord- rhein-Westfalen möchte auch viele öffentliche Mittel dafür ausgeben. Dr. Manuel Kiper (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Gut. Dann möchte ich damit zum Schluß kommen. (Hans Martin Bury [SPD]: Nein, in Baden Ich habe eigentlich sechs Punkte. Immerhin bin ich Württemberg!) schon beim zweiten Punkt. Alles andere erzähle ich Ihnen beim nächsten Mal. - Ja, auch in Baden-Württemberg; natürlich, 4 000 Beschäftigte. (Heiterkeit)

(Erneuter Zuruf des Abg. Hans Martin Bury Wir haben im Jahr 1995 oder im Jahr 1996 sicher [SPD]) noch einmal eine postpolitische Debatte. Da spre- chen wir dann über den Rest. - Ich bin doch ein bißchen informiert. Herr Bury, ma- chen Sie mir hier doch nichts vor! Sie sind anschei- Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege! nend noch nicht einmal darüber informiert, daß das Technologiefolgenabschätzungsbüro des Deutschen Bundestages inzwischen eine Vorstudie über die Dr. Manuel Kiper (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Technikfolgen der Informationsgesellschaft und von Aber es geht natürlich um eine sinnvolle Regulie- Multimedia hat. Wenn Sie hier eine Große Anfrage rung. Da ist das, was uns Herr Bötsch an Eckpunk ten stellen, dann machen Sie es doch. Wir haben die vorgelegt hat, zu kurz gegriffen. Die Kritik von Herrn Technikfolgen inzwischen längst auf dem Tisch, und Bury greift ebenfalls zu kurz. Es geht um eine tat- Sie sollten sie einfach auch zur Kenntnis nehmen, da- sächliche Regulierung der Märkte. Es geht nicht - mit Sie ein wenig besser darüber informiert sind, was darum - - in dieser Welt passiert

(Beifall des Abg. Dr. Martin Mayer [Sie Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege, es geht gertsbrunn] [CDU/CSU]) darum, daß Sie Ihre Rede abschließen. und welches die Aufgaben eigentlich sind, wenn Dr. Manuel Kiper (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es man die Informationsgesellschaft regulieren will, an- geht nicht darum, den Mediengiganten am Markt - - statt den Medienkonzernen hinterherzulaufen, damit die Leute zu Hause noch einen dritten Videofilm ab- (Der Präsident schaltet das Rednermikro rufen können, ohne um die Ecke laufen zu müssen. phon ab) 2298 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995

Dr. Manuel Kiper - Daß Sie mir die letzten fünf Worte, Herr Präsident, mußten, die 100 Milliarden DM überschreiten, und abgeschnitten haben, ist wirklich kleinlich. tarifvertraglich zugesicherte Sozialleistungen eine zweistellige Milliardenhöhe ausmachen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Woll ten Sie die einfach streichen?) Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile das Wort dem - Sie werden nicht bestreiten, daß diese Zahlen stim- Kollegen Jürgen Koppelin. men. - Das ist im harten internationalen Wettbewerb nicht unbedingt ein Startvorteil. Jürgen Koppelin (F.D.P.): Herr Präsident! Liebe (Arne Börnsen [Ritterhude] [SPD]: Sozialpo Kolleginnen und Kollegen! Herr Dr. Kiper, nach Ih- litik gilt für Sie sowieso nur nachts!) rem Beitrag frage ich mich wirklich: Haben Sie hier vorne gestanden, weil Sie Zeit schinden wollten, Auch da, meine ich, können Sie nicht widersprechen. oder haben Sie etwas zur Sache sagen wollen? Zur Wenig hilfreich ist, daß wir abwarten, bis uns die Sache habe ich jedenfalls nichts gehört. Das war EU zu Liberalisierungsschritten zwingt, anstatt selbst mehr die Abteilung Kraut und Rüben. initiativ zu werden und damit deutsche Interessen selbst definieren zu können. Salopp gesagt: Wir dür- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) fen nicht erst warten, bis wir zur Jagd getragen wer- Nach fast zweijährigen mühsamen Verhandlungen den. Wir sollten und müssen die Jagd im internatio- haben wir im letzten Jahr die Postreform beschlos- nalen Wettbewerb selbst eröffnen. sen. Sie erlauben, daß ich namens der F.D.P. bei die- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU - ser Gelegenheit unserem ehemaligen Kollegen Jür- Arne Börnsen [Ritterhude] [SPD]: Wir jagen gen Timm noch einmal sehr herzlich für sein Engage- die Regierung!) ment in dieser Sache danke. Mit Ihnen scheint das nicht möglich zu sein. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Die Umwandlung der Postunternehmen in Aktien- Mit der getroffenen Entscheidung über die Privati- gesellschaften stellt formell die Organisationsprivati- sierung der Postunternehmen haben wir die Weichen sierung dar. Dabei ist die Telekommunikation der für die notwendige Liberalisierung der bisher staatli- Motor der Reformen, der den Übergang von der In- chen Postunternehmen gestellt, mehr jedoch nicht. dustrie- zur Informationsgesellschaft antreibt. Wir Die unbedingt notwendigen ordnungspolitischen sind Zeugen einer grundlegenden Wandlung von Entscheidungen waren nicht durchsetzbar, Kollege wichtigen Branchen und Bereichen. Bury, weil die SPD unter dem Druck der Postgewerk- Das eben Gesagte gilt für die Postdienst AG nur schaft eingeknickt ist. eingeschränkt. Die F.D.P. ist sich darüber im klaren, daß dieses Unternehmen noch mit Verlust arbeiten (Arne Börnsen [Ritterhude] [SPD]: Das ist wird. Mit der Umwandlung in eine AG ist der Gang nicht wahr! Das wissen Sie genau!) an die Börse vorbestimmt. Bis dahin muß die Post- Insofern rate ich Ihnen, Ihre Rede - sie war gar nicht dienst AG durch konsequente Rationalisierung, ver- so schlecht - einmal der Postgewerkschaft zuzuschik- besserte Dienstleistungen, Kooperation mit privaten ken. Dann werden wir sehen, was sie davon hält. Unternehmen und Öffnung von Teilmärkten in die Lage versetzt werden, Gewinne zu erwirtschaften. Bisher ist mit der Postreform II nur die Ablösung Mit der dann verbesserter Eigenkapitalausstattung eines staatlichen Monopols durch ein privates gelun- wird auch dieses Unternehmen hoffentlich immer gen. mehr zu einem modernen Dienstleistungsunterneh- men unserer Wirtschaft werden. (Arne Börnsen [Ritterhude] [SPD]: Ab 1995! Das haben sie doch mitbeschlossen!) Die dritte Tochter ist die Postbank AG. Sie wird als erstes Unternehmen die Möglichkeit erhalten, Ko- Der fehlende Mut der SPD zu ordnungspolitisch rich- operationspartner aufzunehmen und in neue unter- tigen Konzepten hat bewirkt, daß die Deutsche Tele- nehmenspolitische Dimensionen vorzustoßen. Sie kom international handlungsunfähig zu werden kann alle Bankdienstleistungen anbieten und ist flä- droht und damit im Wettbewerb auf dem internatio- chendeckend vertreten. Sie ist nach unserer Auffas- nalen Telekommunikationsmarkt zurückfällt. Das sung ein starker Partner und interessant für Koopera- können wir alle nicht wollen. tionen. -

(Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Sie haben zuge Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Koppelin, stimmt!) ich muß Sie einen Moment unterbrechen. - Frau Kollegin Fuchs, hören Sie ruhig zu, denn ich Wenn man gerade eine Rede gehalten hat, dann spreche jetzt über die Gewerkschaften, und das in- gehört es sich eigentlich, daß man dem nächsten teressiert Sie doch. Redner zuhört und sich nicht umdreht und ihm den Rücken zeigt. Der Druck der Gewerkschaften hat auch dazu ge- führt, daß wir Pensionsverpflichtungen übernehmen Bitte fahren Sie fort. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995 2299

Jürgen Koppelin (F.D.P.): Ich bedanke mich, Herr In der Haushaltsdebatte im November 1993 äu- Präsident. ßerte der Kollege Dr. Ilja Seifert die Befürchtung, daß die Postreform II verhängnisvolle Folgen haben Aus Sicht der F.D.P. ist die soeben vorgelegte Stel- werde. Ich zitiere: lungnahme des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundeswirtschaftsminister, der sich mit dem Thema Ich fürchte, daß Sie das wieder mit einer Brachial- Orientierung für eine Postreform III befaßt, sehr hilf- gewalt durchpeitschen, die den betroffenen Men- reich. schen - denen, die dort arbeiten, und denen, die diese Dienstleistungen in Anspruch nehmen wol- (Arne Börnsen [Ritterhude] [SPD]: Was hat len - nur zum Schaden gereichen wird. der damit zu tun?) Leider können wir heute nur konstatieren, daß Kol- - Hören Sie doch zu! Sie müssen auch einmal zuhö- lege Seifert - nach dem, was schon geschehen ist ren. Ich habe ja gerade erst mit der Postreform III an- und nach dem, was in Zukunft zu befürchten ist - gefangen. recht gehabt hat. Daß die Lage für die Beschäftigten Es drängt die Zeit. Der auf den 1. Januar 1998 aus- nicht noch schlimmer gekommen ist, ist nur ihr eige- gerichtete Liberalisierungsbeschluß des Rats der EU nes Verdienst und das ihrer Gewerkschaft, auf kei- ist die Schlußfolgerung aus technischen und wirt- nen Fall aber das der Postreformer. schaftlichen Entwicklungen. Man fragt sich - jetzt dürfen Sie erst recht zuhören -, oh die SPD diesmal 30 Tage Arbeitskampf waren notwendig, urn bereit ist, die notwendigen Liberalisierungsschritte 13 Tarifverträge für den relativen Schutz der Arbeit- mitzutragen. Ich habe da, Herr Kollege, erhebliche nehmer durchzusetzen, einen Schutz, der normaler- Zweifel. weise wichtigster Bestandteil einer angestrebten Re- form sein müßte; denn Reform heißt ja wohl Verbes- (Arne Börnsen [Ritterhude] [SPD]: Warten serung und nicht Verschlechterung des Bestehen- Sie ab!) den. Statt dessen mosert nun auch noch der Haus- haltsausschuß an der Höhe der Abfindungen herum, Meine Damen und Herren, abschließend möchte die die Telekom im Zuge ihrer Verschlankung denje- ich als Mitglied des Haushaltsausschusses auf ein nigen Beschäftigten zahlen muß, die freiwillig ihren Problem aufmerksam machen: Zwar steht fest, daß Arbeitsplatz räumen. Das ist schließlich keine milde noch gegen Ende dieser Legislaturperiode das Post- Gabe, meine Damen und Herren, die man mir nichts, ministerium aufgelöst wird, trotzdem gibt es kein dir nichts im Ausschuß noch ein bißchen milder ge- schlüssiges Personalabbaukonzept des noch be- stalten kann, sondern Tarifvertrag. stehenden Ministeriums. Es kann nicht angehen, daß die jetzt noch besetzten Stellen und Planstellen nach Schlimm genug bleiben die Auswirkungen der Re- Wegfall des Ministeriums im luftleeren Raum schwe- form trotzdem. Die Post AG hat seit 1991 46 000 Jobs ben. bei der Brief- und Frachtpost wegrationalisiert, wei- tere 35 000 sollen folgen. Das ist nicht etwa gesche- Es darf auch nicht automatisch davon ausgegan- hen, weil es weniger Arbeit gegeben hätte, sondern gen werden, daß diese Stellen dann in die neu ge- um Kosten zu sparen. Wer geblieben ist, hat entspre- gründeten Aktiengesellschaften einfach mit besseren chend mehr zu arbeiten. Eine der Folgen ist ein ge- Arbeitsverträgen umgesetzt werden. Ein mahnendes genwärtiger Krankenstand in der Briefzustellung von Beispiel ist die privatisierte Flugsicherung. Auch hier etwa 30 % bundesweit. waren nach der Umwandlung zu viele Planstellen und Stellen vorhanden, deren Inhaber dann zum Teil Katastrophenlage auch in der Ausbildung: Die Te- mit teurem Geld in den Vorruhestand versetzt wur- lekom will in diesem Jahr von ihren 5 700 Absolven- den. ten ganze 600 übernehmen, die Postbank hat die Ausbildung vorübergehend völlig eingestellt, und Die F.D.P. erwartet, daß die Bundesregierung hier die Post denkt darüber nach, eine Light-Ausbildung ein schlüssiges und glaubwürdiges Konzept vorlegen von nur zwei Jahren Dauer einzuführen. - Wenn wir wird, damit diese Probleme gelöst werden. sie erst einmal hätten! Ich bedanke mich vor allem beim Kollegen Börn- Allein bei der Telekom sollen 60 000 Menschen ih- sen für die Aufmerksamkeit. ren Arbeitsplatz verlieren. Am Anfang war noch von (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) „nur" 30 000 die Rede. Welche Zahl morgen genannt werden wird, wissen wir noch nicht. Aber man beru- higt die Betroffenen: Bei den potentiellen Wettbe- Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Gerhard werbern der Telekom würden neue Arbeitsplätze Jüttemann, Sie haben das Wort. entstehen - angeblich viel mehr, als bei der Telekom verlorengehen. Teilweise ist von Arbeitsplatzzahlen in abenteuerlicher Höhe zu hören. Aber leider ist von Gerhard Jüttemann (PDS): Herr Präsident! Meine alledem nichts greifbar. Greifbar ist nur der Verlust sehr verehrten Damen und Herren! Man müßte von 60 000 Arbeitsplätzen. „guten Morgen" sagen, wenn man auf die Uhr sieht. Wenn man jedoch zu diesem Thema spricht, könnte Dann gibt es noch die Erfahrungen mit der 1984 man auch „gute Nacht" sagen. privatisierten britischen Telecom. Dort wurden 2300 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995

Gerhard Jüttemann 100 000 Arbeitsplätze wegrationalisiert, aber nur we- Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile das Wort dem nige tausend tatsächlich neu geschaffen. Bundesminister für Post und Telekommunikation, Dr. Wolfgang Bötsch. (Arne Börnsen [Ritterhude] [SPD]: Herr Jüt temann, Sie sollten sich wirklich einmal mit den Realitäten auseinandersetzen!) Dr. Wolfgang Bötsch, Bundesminister für Post und Telekommunikation: Herr Präsident! Meine Damen Übrigens kann man von Großbritannien, das uns ja und Herren Kollegen! Eigentlich wollte ich mit Belsa- mit der Privatisierung mehr als zehn Jahre voraus ist, zar anfangen: Die Mitternacht zog näher schon, in noch etwas über die Richtung erfahren, in die das stiller Ruh' lag Babylon. - Es ist aber schon nach Mit- ganze Projekt läuft. Dort gibt es z. B. keine landes- ternacht. Insofern möchte ich mich auf die Bemer- weit einheitlichen Telefontarife mehr, die Telekom- kung beschränken, daß der Posthaushalt traditions- munikationsversorgung der ländlichen Regionen gemäß immer im Schutze der Dunkelheit verhandelt wird systematisch vernachlässigt, und die Bürger ha- wird, ben die weltweit höchsten Gebühren für Ortsgesprä- che zu berappen. Das sind wirklich reizende Aus- (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU sichten. sowie bei Abgeordneten der F.D.P. und der SPD) (Zuruf von der CDU/CSU: Wo leben Sie denn?) nicht, weil er das Licht zu scheuen hätte, sondern weil natürlich - ich habe ja selbst einmal dieser Spe- Aber bei uns sollen ja solche Probleme alle regu- zies angehört - die parlamentarischen Geschäftsfüh- liert werden. Im Grundgesetz ist ein Infrastrukturauf- rer in ihrer unnachahmlichen Weisheit dies so vorse- festgeschrieben, so daß eigentlich nichts passie- trag hen. ren kann - außer dem Scheitern der Regulierung. Wieso glauben Sie eigentlich, daß der Staat, der als Die Zeitverschiebung und Verspätung, die wir Posteigentümer mit dem Problem schon nicht fertig heute haben, haben mir allerdings Gelegenheit ge- geworden ist, nun als Regulierer, also mit wesentlich geben, heute abend an der Einführung des neuen eingeschränkteren Möglichkeiten als vorher, erfolg- Vorstandsvorsitzenden der Telekom zusammen mit reich sein wird? Ich glaube das nicht. Die vorgestern den führenden Mitarbeitern bei der Telekom teilzu- von Bundespostminister Dr. Bötsch vorgelegten Eck- nehmen. Eigentlich hätte ich erwartet, daß Sie, Herr punkte für die Ordnung des künftigen Telekommu- Bury, mir zu dem neuen Vorstandsvorsitzenden gra- nikationsmarktes geben zum Optimismus in dieser tulieren, nachdem Sie mich am letzten Freitag zu- Richtung auch keinerlei Anlaß. Faktisch laufen diese sammen mit der Kollegin Fuchs in einer Presseerklä- Eckpunkte darauf hinaus, der Telekom die Infra- rung noch verdächtigt haben, es würden alle Anzei- strukturverantwortung allein aufzuerlegen, während chen dafür sprechen, daß ich einer parteipolitischen ihre Konkurrenten die Rosinen picken können. Im- Lösung zustrebe. Als ich das gelesen habe, habe ich mer lauter werden auch die Forderungen der poten- gedacht: Wieder muß ich den Kollegen Bury enttäu- tiellen Konkurrenz, teilweise Monopolrechte der Te- schen. - Erkennen Sie es an, es ist eine gute Lösung. lekom bereits vor 1998 aufzuheben, und schon längst Sie ist gut für die Telekom und für das, was auch Sie wird das von den Reformverantwortlichen nicht mehr wollen. entschieden abgelehnt. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - Zuruf von der F.D.P.: Der Bury ist noch jung; Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege, Ihre Rede- er kann noch lernen!) zeit ist abgelaufen. Meine Damen und Herren, es ist heute zur Infor- (Zuruf von der F.D.P.: Jetzt reichen die fal mationsgesellschaft viel gesagt worden, es ist aber schen Zahlen!) noch nicht von allen gesagt worden. Insofern könnte auch ich natürlich dazu jetzt noch Ausführungen ma- Gerhard Jüttemann (PDS): Am Ende jedoch liegt chen. Ich werde es abkürzen. das alles in der Logik der von Ihnen gewollten Priva- Welche Bedeutung die Informationsgesellschaft tisierung, die nichts anderes ist als die Privatisierung hat, zeigt sich daran, daß sich vor wenigen Wochen der Einnahmemöglichkeiten aus der größten Wachs- ein Sondergipfel der G 7 mit diesen Fragen beschäf- tumsbranche, der Telekommunikation. Das Bezahlen tigt hat, übrigens nicht nur mit der Frage Video on der Rechnung wird wie immer der Allgemeinheit demand. Das ist natürlich das Stichwort, das jedem überlassen. sofort ins Auge fällt, weil er meint, das Fernsehen sei es. - Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege! (Zuruf der SPD: Wie heißt denn das auf deutsch?) Gerhard Jüttemann (PDS): Da der Einzelplan 13 ei- nen anderen Sinn als den beschriebenen nicht hat, Man hat wirklich nicht erkannt, welche Möglichkei- wird er von den Abgeordneten der PDS abgelehnt. ten es im Wissenschaftsbereich, im Gesundheitsbe- reich, im Informationsbereich insgesamt geben wird. Ich danke Ihnen trotz alledem für die Aufmerksam- Das wird auch kein Closed Shop der Industrieländer, keit. der Europäischen Union oder der G 7, sondern das ist (Beifall bei der PDS) auch eine Chance für Entwicklungsländer und für Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995 2301

Bundesminister Dr. Wolfgang Bötsch Schwellenländer, die sich hieran beteiligen und An- - Ja, das steht im Protokoll. schluß an die Möglichkeiten finden können, die uns heute schon zur Verfügung stehen. Auch das ist eine Im übrigen, Herr Kollege Bury: Ich hatte das Privi- Aufgabe für uns. leg, während Ihrer Rede die Uhr am Rednerpult im Auge zu haben. Von Minute 21 bis Minute 12 haben (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Sie überhaupt nichts Falsches gesagt. Von Minute 11 Ich komme jetzt zur Postreform II. Herr Kollege bis Minute 7 haben sie unberechtigte Kritik an dem Koppelin, womit wir es jetzt zu tun haben, ist sicher Eckpunktepapier erhoben. Minute 7 bis Minute 5 keine Postreform III - das ist sicherlich eine falsche waren wieder sehr gut, und von Minute 4 bis Minute Bezeichnung -, sondern es handelt sich um das, was 0 haben Sie Ihre Ausführungen dem Nullpunkt ange- wir im Vollzug der Postreform II noch zu bewerkstel- nähert. ligen haben. Sie war schon eine wirtschaftspolitische Weichenstellung. (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Zuruf von der SPD) Es wird sich bei den Beratungen in den nächsten Wo- - Jetzt vergessen Sie das einmal. Ich bin dafür chen und Monaten im Detail ergeben, inwieweit Ihre zuständig, auch wenn sich der Kollege Rexrodt Lippenbekenntnisse in Presseerklärungen zum Wett- dauernd dazu meldet. bewerb wirklich tragen. Es war eine wichtige Weichenstellung in der letz- ten Legislaturperiode, daß wir die Deutsche Tele- (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr gut!) kom AG, die Deutsche Post AG und die Deutsche Postbank AG mit Wirkung vom 1. Januar 1995 ge- Zu irgendeinem Zeitpunkt wird es heißen: Hopp gründet haben. oder top. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Hans Martin Bury [SPD]: Bei uns heißt es eher top! Die Frage ist, wie es bei Ihnen Ich verschweige nicht, daß ich mich auch heute noch heißt!) darüber freue, daß 123 Kolleginnen und Kollegen der SPD-Fraktion dieser Verfassungsänderung zuge- Ich habe hier bisher unterschiedliche Eindrücke. stimmt haben. Ich höre Reaktionen der SPD, bei denen man meinen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU kann: Jetzt sind sie aber schon ziemlich nahe dran. - und der F.D.P.) Aber dann kommt wieder das Gegenteil von allem. Ich empfehle jedem, die Presseerklärungen von Leider waren Sie zum damaligen Zeitpunkt nicht be- Montag bis Donnerstag der letzten Woche zu lesen, reit - da stimme ich Ihnen zu -, auch die ordnungspo- die von der SPD, wenn auch unter verschiedenen litischen Dinge schon einen Schritt weiterzubringen. Namen, gebracht worden sind. Da konnten Sie wirk- Ich hoffe, daß wir es jetzt schaffen. lich alles und das Gegenteil von allem lesen. Liberalisierung ist kein Selbstzweck, sondern ent- springt der Erkenntnis, daß Wettbewerbsmärkte am Ich bin aber überzeugt, daß die SPD im Regulie- besten geeignet sind, den Kunden preiswert in der rungsrat und auf Länderebene - es gibt in den SPD- von ihm gewünschten Menge und Qualität mit Gü- Ländern durchaus unterschiedliche Interessen - tern und Dienstleistungen zu versorgen. Das ist das unsere ausgewogene Liberalisierungspolitik letzt- ganze Geheimnis. endlich unterstützen und das eine oder andere bei- tragen wird. Sie sollten nicht schon jetzt mit dem Ver- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU mittlungsausschuß drohen. Wir haben noch viel Zeit, und der F.D.P.) bis wir in der dritten Lesung das Gesetz verabschie- den. Wir können noch viel miteinander reden. Das war auch das Hauptmotiv für die Europäische Union, den Termin 1. Januar 1998 für die Freigabe (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Sehr gut!) des Telefondienst- und Netzmonopols festzulegen. Da hat uns niemand zum Jagen tragen müssen. Es Betrachten Sie die Linie, die ich am Montag vorge- war die deutsche Präsidentschaft, die am 17. No- legt habe, als das, was ich mir vorstelle und was ich vember 1994 diesen Beschluß in Brüssel nach vielen für richtig halte. Wir werden die Eckpunkte im Amts- Vorgesprächen und - um noch einmal auf das Reisen blatt des Postministeriums veröffentlichen. Dann zurückzukommen - auch nach einigen Reisen von mir werden wir es einer breiten Diskussion zuführen. in die europäischen Hauptstädte durchgesetzt hat. Gute, konstruktive Vorschläge sind selbstverständ- - Meine Damen und Herren, wir müssen allerdings lich willkommen. der Telekom AG den notwendigen Zeitraum lassen, um sich auf den Wettbewerb einzustellen. Deshalb (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Sehr gut! - Arne werden wir bis zum 31. Dezember 1997 nur solche Börnsen [Ritterhude] [SPD]: Wir werden es Liberalisierungsmaßnahmen beschließen, in denen korrigieren!) die Kernbereiche der Monopole unangetastet blei- ben. - Da brauchen Sie nicht viel zu korrigieren. Da kön- nen wir die eine oder andere Maßnahme bzw. Nu- (Arne Börnsen [Ritterhude] [SPD]: Das wol ance anders gestalten. Im wesentlichen, so prophe- len wir mal zu Protokoll nehmen!) zeie ich Ihnen, werden wir bei dieser Linie bleiben, 2302 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995

Bundesminister Dr. Wolfgang Bötsch weil sie die einzig richtige, gangbare und für die Te- Ich muß dazu das formale Einverständnis des Hauses lekom und die Postmärkte richtige ist. einholen. Erhebt sich Widerspruch? - Das ist offen- sichtlich nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - Arne Börnsen [Ritterhude] [SPD]: Das ist Ich schließe die Aussprache. eine Schlingerlinie! Wir begradigen sie!) Wir kommen zur Abstimmung über den Einzel- - Das ist keine Schlingerlinie. Sie werden erleben, plan 13: Bundesministerium für Post und Telekom- daß wir bei der Post keine Schlingerlinie fahren. munikation. Wer stimmt für den Einzelplan 13 in der Ausschußfassung? - Wer stimmt dagegen? - Wer ent- Dort werde ich bis Ende Mai die nötigen Eck- hält sich der Stimme? - Der Einzelplan 13 ist ange- punkte vorlegen. Wir werden sie ebenfalls einer Dis- nommen. kussion zuführen. Auch dort werden wir unsere Vor- stellungen über die Liberalisierung im Postbereich Ich rufe auf: anschließend an das, was wir bereits bei der Info- Post angefangen haben, vorlegen. Einzelplan 10 Bundesministerium für Ernährung, Landwirt- Ich bin mir bewußt, meine sehr verehrten Damen schaft und Forsten und Herren, daß die Zeitpläne sowohl im Bereich der Telekommunikation als auch im Bereich der Post - Drucksachen 13/510, 13/527 - sehr ehrgeizig sind. Ich bin gleichwohl überzeugt, daß nur durch diese Art der Vorgehensweise der Be- Berichterstattung: deutung von Post und Telekommunikation für unsere Abgeordnete Bartholomäus Kalb Volkswirtschaft und - das sage ich noch einmal - Jürgen Koppelin zum Wohle der Verbraucher angemessen Rechnung Ilse Janz getragen wird. Kristin Heyne (Beifall bei der CDU/CSU) Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vor. Was der Kollege Koppelin am Schluß zu den Fra- gen des Haushalts oder des Personals gesagt hat, das Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die habe ich zum Teil nicht so ganz verstanden. Jetzt Aussprache eine Stunde vorgesehen. Sind Sie damit bauen wir nämlich noch kein Ministerium ab. Wir einverstanden? - Dagegen erhebt sich kein Wider- haben, wie Sie aus der Diskussion sehen, noch eine spruch. Dann ist das so beschlossen Reihe von Maßnahmen durchzuführen. Dazu brau- Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin chen wir motivierte Mitarbeiter. Ilse Janz das Wort. Ich möchte mich bei vielen, die am Haushalt be- teiligt waren, vor allen Dingen bei meinen Mitarbei- Ilse Janz (SPD): Guten Morgen, Herr Präsident! tern, bedanken, Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zum Amtsantritt (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und Anfang 1993 haben Sie, Herr Minister Borchert, er- der SPD) klärt, Ihr Ziel sei, eine leistungs- und wettbewerbs- fähige, marktorientierte und umweltverträgliche die trotz der Kürzungen die anstehenden Aufgaben Landwirtschaft herzustellen. motiviert angehen. Denn es ist nicht so leicht, unter (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) der Überschrift von kw-Stellen zu arbeiten und die Motivation zu behalten. Insofern möchte ich das in besonderer Weise betonen. Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin, Entschul- digung, aber ich muß Sie mit einem Satz für das Es gab da ja einige Fragen und Auseinanderset- Protokoll unterbrechen. Sie haben mit den Worten zungen - auch mit den Mitgliedern des Haushalts- „Guten Morgen, Herr Präsident" im Blick auf die ausschusses. Jeder hatte seine Aufgabe in diesem frühe Stunde, in der diese Debatte stattfindet, ange- Bereich wahrzunehmen, und ich hoffe, jeder hat sie fangen. Wenn das aber ein Unbefangener liest, verantwortungsbewußt wahrgenommen. könnte es sein, daß er auf die Idee kommt, Sie hätten mich aufwecken müssen. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. (Heiterkeit) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

Ilse Janz (SPD): Ich kann für das Protokoll bestä- Vizepräsident Hans Klein: Der Kollege Elmar Mül- tigen: Herr Präsident, Sie sind hellwach. ler möchte seinen Redebeitrag gerne zu Protokoll ge- ben.') (Erneute Heiterkeit) (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und Herr Borchert, dieses Ziel hat uns Sozialdemo- der PDS - Zuruf von der SPD: Dann sagt er kraten ganz schön imponiert, aber leider warten wir wenigstens nichts Falsches!) immer noch auf Umsetzungskonzepte und Strate- gien.

*) Anlage 3 (Beifall bei der SPD) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995 2303

Ilse Janz So war die Reform der EU-Agrarpolitik von 1992 nicht nur die Erfolge für Boden, Wasser oder Luft. ein Schritt in die richtige Richtung, aber es muß auch Nein, wir müssen hier die Situation ganzheitlich be- eine Fortentwicklung geben. Die Forderung nach ei- trachten, und dies geht über die Landwirtschaft als ner nachhaltigen Landwirtschaft - festgelegt in der eigentliche Produktionsstätte hinaus. Dies muß auch Agenda 21, die auch die Bundesregierung in Rio un- soziale und kulturelle Aspekte umfassen. terzeichnet hat - kann aber durch die bisher eingelei- teten minimalen Reformmaßnahmen absolut nicht er- (Beifall bei der SPD) füllt werden. Das Ziel muß sein, liebe Kolleginnen und Kollegen, (Beifall bei der SPD) Lebens- und Wirtschaftsgrundlagen zu erhalten bzw. wieder zu entwickeln, damit zukünftige Gene- Natürlich ist es gut, wenn wir nachlesen können, rationen wieder Chancen haben. Hier muß es für die daß in Deutschland ein Rückgang des Verbrauchs Zukunft eine Verbindung zwischen ökologischen Zu- von Stickstoff und Phosphor verzeichnet werden sammenhängen, Verbraucherinteressen, Ernäh- kann. Aber wie heißt es so schön: Eine Schwalbe rungsberatung, aber auch Tierschutz, Arten- und Kli- macht noch keinen Sommer. Denn trotz vielerlei Um- maschutz geben. Dazu muß ein umfassendes Kon- organisation und des Umdenkens bei den Landwir- zept von nachhaltiger Landwirtschaft entwickelt und ten werden vielfach in zu hohen Konzentrationen vorgelegt werden. Halten Sie sich an die Agenda 21, auf die Fel- Handelsdünger und Wirtschaftsdünger dann sind Sie auf dem richtigen Weg. der aufgebracht. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Dies hat in zweifacher Hinsicht negative Folgen für DIE GRÜNEN) den Boden: einmal die Verschlechterung der natür- lichen Fruchtbarkeit, zum anderen die Kontamina- Ich habe mir den Agrarhaushalt genau angesehen tion des Grundwassers. Dies kann nicht in unserem und auch frühere Entscheidungen noch einmal nach- Sinn sein. vollzogen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, dieser Haushalt lebt vom Prinzip Hoffnung. Es steht fest, (Siegfried Ho rn ung [CDU/CSU]: Wo denn?) daß z. B. das Europäische Währungssystem suspen- diert wurde und damit die Switch-over-Regelungen - Schauen Sie sich doch die Acker an! wegfallen. Nun darf es aber nach diesem vorgeleg- (Beifall bei der SPD und der PDS) ten Haushalt auf keinen Fall zu einer DM-Aufwer- tung kommen, denn Vorsorge für die deutsche Land- Nachhaltige Landwirtschaft muß das Stichwort wirtschaft ist nicht zu erkennen. Deshalb ist dieser sein, liebe Kolleginnen und Kollegen. Hier ist die von Haushalt mit hohem Risiko verbunden. Allein die Ihnen, Herr Borchert, angekündigte Neuorientierung dann erforderliche Anhebung der Ausgleichszahlun- der Landwirtschaft dringend erforderlich. Sozialde- gen aus der EU-Agrarreform sowie die Anhebung mokratisches Ziel ist es, daß Ausgleichszahlungen der Strukturbeiträge machen zig Millionen aus. Wo- an ökologische Auflagen gebunden werden. her sollen die bei diesem erneut abgespeckten Haus- halt herkommen, Herr Minister? (Beifall bei der SPD) Ich will noch einmal daran erinnern, was mein Kol- Auf lange Sicht darf es keine Subventionen geben, lege Kastning zum Haushalt 1994 auch an Bedenken ohne daß es eine konkrete ökologische Gegenlei- zu diesem System vorgetragen hat. Es scheint so, daß stung gibt. seine Vermutungen gen Brüssel richtig waren und das finanzielle Risiko unweigerlich auf uns zukommt. (Zuruf von der CDU/CSU: Das hättet ihr wohl gern!) Daß unsere Überlegungen stimmen, macht Ihre Reaktion deutlich, Herr Minister Borchert, denn Sie Daß ein solches Ziel natürlich nicht von heute auf haben diese Woche noch versucht, Ihre Kollegen in morgen erreicht werden kann, wissen wir auch. Aber Brüssel zu Entscheidungen über Wechselkursverän- es muß jetzt von Ihnen angepackt werden. derungen erst ab Juli 1995 zu bewegen.

Im übrigen gibt es immer wieder und vermehrt Kri- (Zuruf von der CDU/CSU: Immerhin hat er tik an der EU-Agrarpolitik, trotz der Reform 1992 und es versucht!) trotz des vollen Inkraftretens dieser Reform durch die dritte Stufe erst 1995/96. Dies muß für die Bundesre- - Ja, er macht den Versuch, aber er hat in diesem gierung für ihr Verhalten in Brüssel Folgen haben, Haushalt 1995 nicht die Risiken abgesichert, um das und zwar dahin gehend, daß sie sich stark macht für noch einmal deutlich zu sagen. eine Weiterentwicklung der EU-Agrarpolitik, um ins- besondere die Defizite der gegenwärtigen Regelun- (Zurufe von der CDU/CSU) gen im Hinblick auf Finanzvolumen und erheblichen bürokratischen Aufwand zu beseitigen. - Er kommt ja noch, er kriegt dann auch noch Strei- cheleinheiten. (Beifall bei der SPD und der PDS)

Was heißt denn nun eigentlich „nachhaltige Land- Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin, ich darf wirtschaft" für uns? Nachhaltigkeit ist nicht nur Um- Sie für einen Moment unterbrechen. Es gibt da und weltverträglichkeit im engeren Sinne, meint also dort - ich will es jetzt nicht genau lokalisieren - offen- 2304 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995

Vizepräsident Hans Klein bar starke Konferenzbedürfnisse. Ich bitte, diesen Probleme. Die SPD-Bundestagsfraktion hat mit ihrer Bedürfnissen außerhalb des Saales zu entsprechen. Großen Anfrage ja schon deutlich gemacht, daß sie der Auffassung ist, daß die deutschen Milcherzeuger (Zuruf von der CDU/CSU: Dann ist keiner jetzt verläßliche Rahmenbedingungen benötigen. mehr da, Herr Präsident!) Nur so können sie ihre Zukunftsentscheidungen fäl- Bitte fahren Sie fort. len: entweder Investitionen in die Milcherzeugung oder eventuell Aufgabe. Ilse Janz (SPD): Wir Sozialdemokraten sehen au- Denn trotz der Quotenregelung hat sich die nega- ßerdem bei dem Gesetz zur Förderung der Einstel- tive Erzeugerpreisentwicklung der Milch fortgesetzt. lung der landwirtschaftlichen Erwerbstätigkeit ein Vor allem die Situation der Pächter hat sich auf weiteres Haushaltsrisiko. Aber die Regierungskoali- Grund der Entscheidung des Bundesverwaltungsge- tion hat unseren diesbezüglichen Erhöhungsantrag richts, das die 5-ha-Klausel für verfassungswidrig im Haushaltsausschuß mit Bravour abgelehnt. Sie und damit für unwirksam erklärt hat, verschlechtert. sieht dort angeblich keine Probleme. Nun gibt es schon Landwirtschaftsverbände, die So wie nach dem FELEG vermehrt mit Anträgen gemeinsam mit dem Fachausschuß Milch des Deut- aus den neuen Bundesländern zu rechnen ist, so schen Bauernverbandes über neue Konzeptionen müssen wir Ihnen in der Lösung der Altschulden- nachgedacht haben. Wo bleiben da die Entwicklun- frage, die ja ebenfalls die neuen Bundesländer be- gen aus dem Ministerium? trifft, vorwerfen, kein brauchbares Konzept zu ha- ben. (Zustimmung bei der SPD) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne Unsere Meinung darf nicht nur sein - wie das ab und ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN zu einmal im Haushaltsausschuß gesagt wird -, daß und der PDS) es gesund ist, Milch zu trinken. Wir alle müssen et- was dafür tun, daß sie bei uns erzeugt wird, und zwar Es wird immer wieder betont, daß das Überleben der zu herkömmlichen Preisen für die Landwirtschaft. größten Teile der landwirtschaftlichen Betriebe in den neuen Bundesländern unbedingt erforderlich ist. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne Umstrukturierungsprozeß kann aber nicht heißen, ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - daß alles von der Bildfläche verschwindet. Es bleibt Günther Bredehorn [F.D.P.]: Was schlagen nämlich sonst hier ebenfalls nur das Prinzip Hoff- Sie vor?) nung, daß die Viehbestände nicht weiter abgebaut Die Sicherung der Milcherzeugung für den Agrar werden. standort Deutschland hat eine besondere Bedeutung. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gäbe noch ten der PDS) eine ganze Reihe von Anmerkungen zur gemeinsam Auf Grund solcher Entscheidungen dürfen keine geschaffenen Agrarsozialreform zu machen. Natür- weiteren Arbeitsplätze auf Dauer verlorengehen. lich sind wir bereit - das ist von meinen Kolleginnen und Kollegen aus dem Fachausschuß signalisiert Herr Minister, Sie kennen unseren Antrag. Wir ver- worden -, über eine Korrektur am Gesetz Gespräche langen nichts Unmögliches, und es geht auch nicht zu führen, und zwar insbesondere hinsichtlich einer um eine allgemeine Entschuldungsaktion. Auch Sie Verbesserung der Durchlässigkeit zwischen der Al- wissen, daß die Treuhandentschuldung trotz Zusa- terssicherung der Landwirte und der Rentenversiche- gen erst zu 60 % abgeschlossen ist. Die auflaufenden rung. Zinsen übersteigen bei den Landwirten heute, aber auch künftig, den realisierbaren Gewinn um ein Aber daß sich die Nebenerwerbsbäuerinnen von Mehrfaches. Oftmals ist ihnen eine Tilgung über- der gerade erst eingeführten Versicherungspflicht in haupt nicht möglich. Hier muß dringend Abhilfe ge- der Altersversicherung der Landwirte nun allgemein schaffen werden. Den Unternehmen, die das Prüfver- befreien lassen können, können wir so nicht mittra- fahren für eine Rangrücktrittsvereinbarung bestan- gen. den haben, muß ein Teil der Altschulden erlassen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne werden, wenn sie in einer bestimmten Frist einen ten der PDS - Michaela Geiger [CDU/CSU]: festzulegenden Teil ihrer Altschulden tilgen. Wir So- Sonst sind Sie doch auch immer für Emanzi zialdemokraten wollen helfen, Konkurse zu verhin- pation!) dern sowie Beschäftigung und Wertschöpfung in ländlichen Räumen zu sichern. Mir ist schon bekannt, daß einige Landwirtschafts- verbände ähnliche Positionen wie Sie bezogen ha- - (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Rolf ben. Kutzmutz [PDS]) Aber lassen Sie mich aus einem Leserbrief der Bereits in der Debatte im Haushaltsausschuß habe 1. Vorsitzenden einer Landfrauenvereinigung vortra- ich die Zukunft der Milchquotenregelung angespro- gen. Sie schreibt: chen. Diese ist bis zum Jahr 2000 befristet. Nun stel- len die Agrarbeschlüsse des GATT und sicherlich So diskussionsbedürftig die Kostenbelastung der auch bald das aktivierte gewaltige Produktions- Frauen von Nebenerwerbslandwirten jetzt auch potential der osteuropäischen Staaten, die dann auf ist, eine für alle Betroffenen gerechte Lösung ist den EU-Markt drängen, unsere Landwirte vor einige nur schwer zu erreichen. Der Gesetzgeber hatte Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995 2305 Ilse Janz mit der Einführung der Bäuerinnenrente ausrei- Nun hat vor einigen Tagen das Ministerium zur chende Alterseinkünfte der landwirtschaftlichen Düngeverordnung eine Vorlage vorgelegt. Wir wer- Rentner und Rentnerinnen im Auge. Es würde den sie sehr genau prüfen und erwarten, daß nun mich freuen, wenn endlich die anderen Gesetze bzw. Rechtsgrundlagen verändert werden. - ich habe eingefügt: endlich - Aber, Herr Minister Borchert, Sie sollen auch ein- Frauen von der Notwendigkeit einer eigenen Al- mal gelobt werden, tersversorgung überzeugt werden würden. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Das ist wohl wahr!) nämlich was Ihren Einsatz bei der Tiertransportrege- lung angeht. Nun glaube ich allerdings, daß Sie auf Die eigenständige Sicherung der Landfrauen wird, das Lob der SPD-Bundestagsfraktion da nicht so an- wie Sie hören, unterschiedlich beurteilt, auch zwi- gewiesen sind. Es scheint da höhere Hilfen zu geben. schen Ihnen und uns. Uns ist sie so, wie sie darge- Ich habe gelesen, daß sich B rigitte Bardot vertrauens- stellt ist, sehr wichtig. voll an Sie mit der Bitte um Unterstützung gewandt hat, da die französische Regierung blockt. Also, Herr (Beifall bei der SPD) Borchert: Mit Brigitte Bardot und der SPD-Bundes- Ein „Dokument fehlender Konzepte und unterlas- tagsfraktion an Ihrer Seite muß es Ihnen doch in sener Taten" hat mein Kollege Sielaff den Agrarbe- Brüssel gelingen, eine tierwürdige Transportrege- richt 1995 genannt. lung durchzusetzen. (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Recht GRÜNEN und der PDS) hat er! - Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Der versteht ja von Bauern nichts!) Ich wünsche mir nicht, daß Sie die gemeinsame Li- nie verlassen, obgleich die Presse diese Woche ver- - Sie müssen einmal deutlicher reden, Herr Rossma- breitete, daß Ihr Staatssekretär Feiter bereits vorab nith, dann kann ich Ihre Zwischenrufe auch verste- Kompromißvorschläge des neuen EU-Kommissars hen. Aber vielleicht geht das zu dieser Zeit nicht Fischler begrüßt. Also, wir werden Sie sehr wachsam mehr. im Auge behalten. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der SPD) Das Ministerium selbst schreibt in den Agrarpoliti- schen Mitteilungen: „Trotz Gewinnzuwachs keine Meine Fraktion, Herr Borchert, vermißt allerdings zufriedenstellenden Einkommen". Nun kann man Ihr verstärktes Eintreten in Brüssel zu einer Verände- natürlich aus einem Minus von 6,1 % pro Unterneh- rung der Fischereipolitik. Daß Fisch zur Zeit im Ver- men in den alten Bundesländern auch keinen Ge- brauchertrend liegt, ist bei Rinderwahnsinn und winn machen. Schweinepest vielleicht kein Wunder. Aber Spaß bei- seite: Die verstärkte Öffentlichkeitsarbeit zum Le- ( [Nordstrand] bensmittel Fisch trägt sicher auch dazu bei, daß der [CDU/CSU]: Doch!) Pro-Kopf-Verbrauch in der Bevölkerung sehr gestie- gen ist. Veränderte Zubereitungsgewohnheiten tun Angesichts der unzureichenden Datenlage würde ich ein übriges. die Situation für die neuen Bundesländer nicht mit „anhaltender Stabilisierung" bezeichnen. Denn die Wie sieht eigentlich die Situation für die Fischer besonders verlustreichen Jahre 1993 und 1994 sind aus? Das Wort „katastrophal" wird dem Stand nicht bei weitem nicht aufgeholt. Gerade in den neuen annähernd gerecht. In Mecklenburg-Vorpommern Ländern schlagen jetzt die Belastungen zu Buche: hat sich das absolute Stillegen und Abwracken der zum einen aus Altschulden - ich habe bereits darauf Fischereifahrzeuge fortgesetzt, der Abbau an Ar- hingewiesen -, zum anderen aus Zinsen und Tilgung beitsplätzen ist immens. 1990 hatte dort die große für die getätigten Investitionen. Hochseefischerei noch 30 Schiffe. Stand 1. Januar 1995: 8 Schiffe. Bei der kleinen Hochseefischerei sagt Immer noch haben die Vollerwerbsbetriebe Ei- der Abbau im Schiffbereich, nämlich 118, nicht allzu- genkapitalverluste zu verzeichnen; sie betrugen im viel aus. Aber von den am 1. Januar 1990 noch vor- Berichtszeitraum ungefähr 50 %. Die Stabilität und handenen 2 000 Arbeitsplätzen sind zur Zeit noch Existenzfähigkeit dieser Betriebe gerät gefährlich ins weniger als 650 vorhanden; Tendenz sinkend. Wanken. Außerdem gibt es immer noch eine äußerst unbefriedigende landwirtschaftliche Struktur. Sie Die Krabbenfischerei Schleswig-Holsteins kann müssen sich in der Koalition und in Ihrem Ministe- auch nicht gerade überschäumende Gewinne ab- rium endlich einig werden und erforderliche Rechts- schöpfen. Die deutsche Hochseefischerei in Cuxha- grundlagen schaffen, z. B. im Bodenschutzgesetz, im ven muß einen Vollfroster verkaufen, einen von den Bundesnaturschutzgesetz und auch bei der Dünge- letzten dreien, da sie ihn auf Grund der schlechten verordnung. Fangmöglichkeiten vor Grönland, wo sie zwar eine ausreichende Quote hat, aber nur kleine Kabeljaue (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ vorhanden sind, nicht einsetzen kann. DIE GRÜNEN) (Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Wo sollen sie denn Daß dies hier geht, haben einige Länder vorgemacht. fischen, wenn keine Fische da sind?) 2306 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995

Ilse Janz Aber wenn Sie, wie das anscheinend der Fall ist, So weit, so gut. Diese Tendenz tragen wir mit. Aber den Haushalt ohne Kenntnis betrachten - denn sonst nach unserer Auffassung kann das Ministerium nicht könnten die dummen Zwischenbemerkungen nicht nur auf die Länder verweisen, wie es das immer tut, kommen -, was die Inhalte angeht. Das Ministerium und die Re- gierungskoalition müssen auch sagen, in welche (Beifall bei der SPD) Richtung die Reise gehen soll. könnte man bei den deutlich zurückgegangenen fi- Uns auf eine Anfrage mitzuteilen, daß das Ergeb- nanziellen Aufwendungen für die Fischerei meinen, nis einer Bilanz der zusätzlichen Investition z. B. im daß alles bestens läuft. überbetrieblichen Bereich und dem verstärkt geför- derten einzelbetrieblichen Bereich davon abhängig (Zurufe von der CDU/CSU) sei, in welchem Bereich die Länder umschichten wol- len, heißt nur eine Abschiebung der Verantwortung - Ich scheine Recht zu haben, weil Sie sich so aufre- auf die Länder. gen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- Weit gefehlt! Auf Grund der in den vergangenen ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Jahren konsequent reduzierten Fischereifahrzeuge im Osten wie im Westen sind die Beträge für Ab Das Ministerium ist doch wohl gleichberechtigter wrack- und Stillegekosten drastisch zurückgegan- Partner im PLANAK und kann und soll eigene Initia- gen. Kleine Fangmengen, schlechte oder zu junge tiven und Ideen durchsetzen. Fischbestände, niedrigste Erzeugerpreise, läßt un- sere Fischerei nicht mehr konkurrenzfähig sein. Hier Beim Küstenschutz hat sich das Ministerium eben- muß etwas getan werden, denn sonst stehen diese falls schlicht und einfach auf die Länder zurückgezo- traditionsreichen Unternehmen eines Tages vor dem gen. Ich will Ihnen ganz deutlich sagen, daß das so Ruin. nicht geht. Auch der Bund muß sich endlich einmal entscheiden, wie wichtig ihm der Küstenschutz ist; Mir ist es deswegen im übrigen auch unerklärlich, denn immerhin trägt er 70 % der Kosten. daß Sie angesichts der abgespeckten Situation bei (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- uns immer wieder von einem weiteren Kapazitätsab- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) bau sprechen können. Hier bei uns ist die Vorlei- stung erbracht, Herr Minister Borchert. Die Beträge für den Küstenschutz sind ständig zu- rückgegangen. 1991 waren es noch 147,1 Millionen (Beifall bei der SPD) DM Anteil des Bundes. In 1994 wurde kontinuierlich zurückgefahren auf 131,7 Millionen DM. In den jetzi- Aber ich bin dann wieder mit Ihnen einig, was Ihre gen Verhandlungen im PLANAK, die in diesem Mo- Forderung zum Kapazitätsabbau der überdimensio- nat vorgelegt wurden, gibt es zum Küstenschutz nalen Flotten in der Gemeinschaft angehen. Tun Sie überhaupt noch kein Ergebnis. Dabei liegen die An- jetzt etwas! meldungen der Länder immer wesentlich höher, z. B. in 1995 207,9 Millionen DM, so daß ein Bundesanteil Wenn ich mir den Streit zwischen der EU und Ka- von 145,5 Millionen DM erforderlich gewesen wäre. nada ansehe, dann scheint dies nur die Spitze des Wir haben als Bundestagsfraktion der SPD im Haus- Eisberges zu sein. Der massive Widerstand gegen die haltsausschuß darauf gedrängt, daß ein fester Betrag Nichtbeachtung von international vereinbarten für Küstenschutzmaßnahmen eingestellt wird. Un- Fang- und Erhaltungsmaßnahmen muß endlich her. sere Forderung von 200 Millionen DM wurde aber Der Fang von untermäßigen und Jungfischen muß abgelehnt. unterbleiben, damit sich die Bestände regenerieren können. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Gestatten Sie (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne eine Zwischenfrage des Abgeordneten Carstensen? ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wir müssen aber gar nicht bis nach Kanada Ilse Janz (SPD): Nein, danke, möchte ich nicht. schauen. Auch im EU-Bereich gibt es intern die Pro- bleme; aber leider fehlen uns die Beweise. Dies alles Was wir auch überhaupt nicht verstehen, ist die zeigt deutlich: Sie müssen in Brüssel auf eine neue Haltung der Bundesregierung zu dem Problem Bin- Fischereipolitik drängen. nenhochwasser. Dieses jährliche pressewirksame Jammern in der Hochwasserzeit reicht nicht. - Noch ein Wort zur Gemeinschaftsaufgabe Agrar- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) struktur und Küstenschutz. Hier ist Auffassung des Ministeriums, daß 1995 im Rahmenplan, der gemein- Wir haben Ihnen den vernünftigen Vorschlag ge- sam mit den Ländern abgesprochen wird, wegen der macht, 50 Millionen DM an Soforthilfe einzustellen angespannten Haushaltslage Prioritäten zu setzen und im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe die Fi- seien, insbesondere bei der einzelbetrieblichen För- nanzierung der Vorsorgemaßnahmen gegen Binnen- derung. Damit sollen die Leistungsfähigkeit der ein- hochwasser einzuschließen. zelnen Betriebe verbessert und die deutsche Land- wirtschaft wettbewerbsfähiger gemacht werden. (Beifall bei der SPD)

Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995 2307

Ilse Janz Dies haben Sie abgelehnt. Sie sind dann auf zinsver- Meine sehr verehrten Damen und Herren, erst vor billigte Darlehen gekommen. Das mag eine kurzfri- wenigen Wochen hat dieser Bundestag den Agrarbe- stige Lösung sein, ist aber nie eine langfristige Hilfe. richt und damit die Lage der Landwirtschaft erörtert. Wir haben in der Beratung des Agraretats des Haus- Wissen Sie, es macht keinen Sinn haltsausschusses versucht, der besonderen Situation (Abg. Carl-Detlev Freiherr von Hammer und den besonderen Belangen der Landwirtschaft stein [CDU/CSU] meldet sich zu einer Zwi Rechnung zu tragen. Insbesondere wegen der Lei- schenfrage) stungen und Zahlungen für von der EU nicht über- nommene Marktordnungsausgaben, aber auch we- - ach, Charly, setz dich doch mal hin -, bei eingetre- gen zusätzlicher Ausgaben für Maßnahmen zur Be- tenem Hochwasser ständig zu jammern, aber eine kämpfung der Schweinepest und zugunsten des vernünftige, langfristige Vorsorge abzulehnen. Ich Milchsektors hat der Agraretat in den Beratungen kann Ihnen versichern: Wir werden im Haushalt 1996 trotz Einsparungen an verschiedenen Stellen insge- wieder auf Sie zukommen. Dann werden wir mit Ih- samt eine Erhöhung von 155 Millionen DM erfahren. nen weiter über den Stellenwert der Gemeinschafts- aufgabe streiten. Denn 1994 waren es noch 2,5 Mil- (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Da muß liarden DM Mittel, 1995 nur noch 2,44 Milliarden man sich fragen, wo das meiste Geld hinge DM, wovon 100 Millionen DM in die einzelbetriebli- flossen ist! - Gegenruf der Abg. Lisa Peters che Förderung gegangen sind, und das trotz erwei- [F.D.P.]: Nach Niedersachsen!) terter Aufgaben der Gemeinschaftsaufgabe. Es kann einfach nicht sein, daß hier ständig eine Reduzierung Eine besondere Entwicklung in der Landwirtschaft des Plafonds vorgenommen wird. Wir machen dies zeigt aber auch, daß erstens die vielgescholtene EG- nicht mit. Agrarreform positive Wirkung zeigt, zweitens un- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne sere nationalen Mittel einen ganz wesentlichen Bei- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) trag zum Einkommen und zu dessen Stabilisierung leisten und daß das agrarpolitische Ziel der Entla- Aus diesen und den von mir vorher genannten stung der Märkte richtig und erfolgreich ist. Gründen wird es Ihnen auch keine besondere Ver- wunderung abringen, daß die SPD-Bundestagsfrak- So hat z. B. ein bayerisches landwirtschaftliches tion den Einzelplan 10 ablehnen wird. Fachblatt bereits im August 1994 positiv festgestellt: Zum Antrag der GRÜNEN möchte ich sagen: Auch Als Grundlage für die Preisfindung dienen nicht diesen werden wir ablehnen, und zwar deshalb, weil mehr wie in den Vorjahren die Interventionsprei- er jetzt erneut massiv in den GA-Haushalt eingreift se, sondern die aktuellen Verhältnisse am Markt, und damit die Mittel in anderen Bereichen ein- die von Angebot und Nachfrage bestimmt wer- schränkt. Wir sind gerne bereit, für den Haushalt den. 1996 mit Ihnen darüber zu reden; denn Ihre Ziele tei- len wir. (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Was immer Ich danke für nicht immer ganz ungeteilte Auf- von der SPD bestritten wurde!) merksamkeit. Dadurch wird sozusagen im nachhinein bestätigt, (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE daß eine sogenannte aktive Preispolitik, wie sie GRÜNEN und der PDS) lange Jahre gefordert und verstanden wurde, mit den alten Instrumenten nicht leistbar war, für die öf- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat fentlichen Kassen unbezahlbar wurde und für die der Abgeordnete Kalb. Bauern immer weniger erbrachte.

Den größten Ausgabenblock, meine sehr verehrten Bartholomäus Kalb (CDU/CSU): Verehrte Frau Damen und Herren, stellen mit über 7 Milliarden DM Präsidentin! Meine Damen und Herren Kolleginnen die Mittel für den Agrarsozialbereich dar. Ich denke, und Kollegen! Ich weiß, daß jetzt viele sehr froh wä- daß dieser Bereich höher bewertet werden dürfte, als ren, wenn ich darum bitten würde, die Rede zu Proto- dies gemeinhin geschieht, weil gerade durch die koll geben zu dürfen. Agrarsozialausgaben ein wesentlicher Beitrag gelei- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE stet wird, um die Spanne zwischen Gewinn und ver- GRÜNEN und der PDS) fügbaren Einkommen der Landwirtschaft kleiner- und die verfügbaren Einkommen vergleichsweise Aber ich denke, es ist keine Schande für dieses Parla- größer zu halten. ment, wenn wir uns auch zu so vorgerückter Stunde noch sehr ernsthaft über die Agrarpolitik und den (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Agraretat unterhalten, (Beifall bei der CDU/CSU) Meine sehr verehrten Damen und Herren, den zweiten großen Block stellt die Gemeinschaftsauf- und ich meine auch, es ist ganz gut, das in dieser Be- gabe zur Verbesserung der Agrarstruktur und des setzung tun zu können. Auch das ist es wert, erwähnt Küstenschutzes dar. Kollegin Janz hat soeben dar- zu werden. über gesprochen. 2308 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995

Bartholomäus Kalb Auf Vorschlag von Bundesminister Borchert haben Stellen Sie sich vor, sie wären ans Licht gekommen die Länder im PLANAK der Verstärkung der einzel- und würden hier sitzen! Welch lange Schatten wür- betrieblichen Investitionsförderung zugestimmt. Im den diese beiden Damen jetzt auf Sie werfen! Hinblick auf die notwendige agrarstrukturelle An- passung vieler Betriebe kommt diesem Schwerpunkt (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) besondere Bedeutung zu. Meine sehr verehrten Damen und Herren, land- Die aus der Gemeinschaftsaufgabe geleistete Aus- wirtschaftsfreundliche Politik spiegelt sich nicht nur gleichszulage in den sogenannten benachteiligten im Agrarhaushalt wider. Sie zeigt sich auch in vielen Gebieten gewinnt unter dem Gesichtspunkt des Ent- anderen die Landwirtschaft tangierenden Gesetzen gelts für landeskulturelle Leistungen immer mehr an und Regelwerken. So ist z. B. im Entwurf des Jahres- Bedeutung und ist für viele Betriebe in schwierigen steuergesetzes vorgesehen, die zunächst bis Ende Agrarzonen zu einem wesentlichen Einkommensbe- 1995 befristete Gewährung von Freibeträgen beim standteil geworden. Verkauf von land- und forstwirtschaftlichen Grund- stücken zur Abfindung weichender Erben in Höhe Leider - ich sage bewußt leider, auch wenn es sich von 120 000 DM und zur Tilgung von Altschulden in um Mittel des Bundes handelt - sind wir gezwungen, Höhe von 90 000 DM bis Ende 1999 zu verlängern. den soziokulturellen Einkommensausgleich weiter Besonders hervorzuheben ist, daß nach dem Entwurf zurückzuführen. Wir wissen, daß das aus anderem des Jahressteuergesetzes, das Bundesfinanzminister Grund entstanden ist und eingeführt wurde, aber er Dr. Waigel hier morgen einbringen wird, der Freibe- wäre auch weiterhin in Verbindung mit der Aus- trag nach § 14a EStG von 90 000 auf 150 000 DM an- gleichszulage ein sehr brauchbares Instrument für ei- gehoben werden soll. nen flächenbezogenen Einkommensausgleich, so wie ihn der Berufsstand als Honorierung für die lan- Ich möchte mich ausdrücklich bei Minister Waigel deskulturelle Leistung immer gefordert hat. und Staatssekretär Professor Faltlhauser dafür be- danken, daß noch Maßnahmen ergriffen werden Während der Bund bis an den obersten Rand von der EU-Ermächtigung Gebrauch gemacht hat, haben konnten, sich die Länder längst aus der Mitfinanzierung ver- abschiedet. Einzig Bayern stellte und stellt seinen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - Landwirten die Mitfinanzierungsanteile entspre- Horst Sielaff [SPD]: Jetzt wird er gelobt!) chend dem ursprünglichen Verteilungsschlüssel zur Verfügung. die, wie ich meine, angesichts des enormen Struktur- wandels für viele landwirtschaftlichen Familien von Das Verhalten der Länder, Herr Kollege Sielaff, größter Bedeutung sind, Herr Kollege Sielaff. verwundert um so mehr, Lassen Sie mich etwas ansprechen, was mich in (Horst Sielaff [SPD]: Das ist eine alte Platte!) den zurückliegenden Wochen sehr geärgert hat. Ich verstehe sehr wohl, wenn Kollegen aus den Kohlere- als Sie und Ihre Kolleginnen und Kollegen aus der vieren für den Erhalt des deutschen Steinkohleberg- SPD landauf und landab immer mit den Forderungen baus leidenschaftlich eintreten. Wenn aber im Zu- nach flächenbezogenen Einkommensübertragungen sammenhang mit der Diskussion, ob die Kohlefinan- durch die Lande gezogen sind. Wenn es darauf an- zierung im bisherigen Umfang aufrechterhalten wer- kommt, ist nichts mehr davon zu hören. den soll oder aufrechterhalten werden muß, einige Kollegen quer durch alle Fraktionen der Meinung Statt dessen verspürt man landwirtschaftsfeindli- sind und dies in geradezu erpresserischer Art und che und landwirtschaftsferne Einstellungen; das Weise deutlich machen: „Wenn ihr nicht für die Koh- habe ich schon einmal gesagt. lefinanzierung seid, dann werden wir euch mal vor- rechnen, wie hoch die Agrarsubventionen sind und (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) wer davon am meisten profitiert; dann werden wir schon sehen, ob das so weitergeht! " , dann finde ich Dies reicht von Frau Griefahn, die einmal Schatten- das unerträglich. ministerin war, über Herrn Düvel bis zu Herrn Kolo. Ähnliche Tendenzen haben Herr Kollege Diller ge- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU stern und die Frau Kollegin Mehl vorhin erkennen und der F.D.P. - Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Die lassen. Leute haben keine Ahnung von der Sache! (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: In Hessen - Horst Sielaff [SPD]: Es ist eure Fraktion, und in Rheinland-Pfalz gibt es schon gar die so diskutiert!) keine Landwirtschaft mehr bei der SPD!) - Nein, Herr Kollege Sielaff. Im übrigen müssen Sie sehr froh sein, daß Frau Griefahn und Frau Schüller, die Zugpferde im Schat- Bei allem Verständnis für die Betroffenheit und tenkabinett des Herrn Scharping, im Schatten ste- den leidenschaftlichen Einsatz ist so etwas nicht hin- hengeblieben sind. nehmbar. Ich will jetzt nicht in eine Kohledebatte ab- gleiten, möchte aber deutlich machen: Es besteht ein (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) himmelweiter Unterschied zwischen dem Steinkoh- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995 2309

Bartholomäus Kalb lebergbau und der deutschen Landwirtschaft hin- Ulrike Höfken-Deipenbrock (BÜNDNIS 90/DIE sichtlich der Auswirkungen auf unser ganzes Land. GRÜNEN): Ich habe es nicht so mit dem Schreiben von Reden. Deswegen halten wir sie auch lieber. (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. - Eduard Oswald [CDU/CSU]: Das erkennt Herr Kalb, mit den Importen von Steinkohle und sogar ein Nichtlandwirt!) Energie werden wir doch etwas vorsichtig sein. Ich möchte da die Bergleute etwas verteidigen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, mit der Einstellung des Steinkohlebergbaus würden das Ge- Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrter sicht unseres Landes und die Situation insgesamt Herr Minister Borchert! Mit der Vorlage dieses Haus- nicht wesentlich verändert. Auf die Frage der Versor- haltsplans hat die Bundesregierung ihre Drohung gungssicherheit will ich nicht eingehen. wahrgemacht, wieder einmal „verläßliche" Rahmen- bedingungen für die Landwirtschaft gesetzt und die Man mag einwenden, man könne mehr Nahrungs- Unterstützung für Landwirtschaft und Forsten um mittel im Ausland einkaufen. Warum aber, so frage 5,5 % gekürzt. Kontinuität kann man der Bundesre- ich, soll man sich im hochbedeutsamen und hochsen- gierung jedenfalls nicht absprechen. siblen Bereich der Nahrungsmittel auf Importe ver- lassen, wenn man dies in dem vergleichsweise siche- Nun zu den Tiertransporten, wenn wir schon ge- ren Bereich der Energieversorgung nicht tut und des- rade beim Loben sind. wegen Milliardenbeträge einsetzt? Eines kann man (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: ganz bestimmt nicht importieren, nämlich die intakte Aber nicht zuviel!) Natur- und Kulturlandschaft. Sicherlich ist eine Begrenzung wünschenswert und (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU unterstützenswert. Aber ich wäre froh, Sie würden und der F.D.P. sowie des Abg. Horst Sielaff die Exporterstattungen für Lebendviehsubventionen [SPD]) streichen. Das wäre der richtige Schritt und eine Ein- Diese aber gibt es nur durch eine intakte Landwirt- sparmaßnahme. schaft und bäuerliches Wirtschaften. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das ist nicht nur eine Frage der Landwirtschaft Auch daß solche Kürzungen im Haushalt als Erfolg oder der Menschen im ländlichen Raum. Daß unsere verkauft werden, gehört zum Ritual. Landwirtschaft diese mit ihrem Wirtschaften verbun- dene Wohlfahrtsleistung für alle erbringt, ist für die Sehr geehrte Damen und Herren von der Regie- Menschen in den Ballungsgebieten mindestens rungskoalition, Sie werden sich sicher gewundert ha- ebenso bedeutsam und Ausdruck und Bestandteil ben, daß wir es uns verkniffen haben, vorzuschlagen, unseres Wohlstandes, unseres Lebensgefühls und die Gasölbeihilfe und die Mineralölsteuerbefreiung unserer Kultur. zu streichen, obwohl ja auch Herr Heereman Vor- schläge in dieser Richtung macht. Wir haben es nicht (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, getan, nicht, weil wir diese Subventionen für beson- der F.D.P. und der SPD) ders sinnvoll hielten, sondern weil wir der Auffas- - Vielen Dank für die Zustimmung, Kollege Sielaff. sung sind, daß das gesamte EU-Subventionssystem faul ist, auf den Prüfstand gehört und hier die tat- Bei der gegebenen Situation der Märkte einerseits sächlichen Einsparmöglichkeiten liegen. Wir wollen und der nach wie vor gegebenen Steigerung der Flä- keine Flickschusterei zu Lasten einzelner landwirt- chenproduktivität - trotz teilweise erheblicher Redu- schaftlicher Betriebe betreiben, sondern eine ge- zierung des Dünge- und Pflanzenschutzmitteleinsat- samte Debatte. zes - andererseits, Frau Kollegin Janz, kommt der Si- Herr Koppelin, ich habe ganz erstaunt gelesen, daß cherung einer möglichst flächendeckenden Landbe- Sie uns vorwerfen, bei nachwachsenden Rohstoffen wirtschaftung größte Bedeutung zu. eine Streichung vornehmen zu wollen. Sie müssen Deswegen legen wir auch auf den Bereich der das richtig lesen: Wir wollen eine Umwidmung, und nachwachsenden Rohstoffe so großen Wert und ha- zwar von der Treibstofförderung hin zu einer Biomas- ben in diesem Haushalt dafür wieder in besonderer seförderung und einer Förderung im Bereich stoffli- Weise Sorge getragen. cher Verwertung.

Die Zukunft unserer Landwirtschaft und unserer (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ländlichen Regionen wird auch davon abhängen, ob Aus einem Minus von 700 Millionen DM im Einzel- es uns gelingt, mit neuen Produkten neue und zu- plan 10 macht Minister Borchert die Erfolgsmeldung sätzliche Märkte zu erschließen. von plus 100 Millionen DM für die einzelbetriebliche Danke schön. Förderung bzw. das Agrarinvestitionsförderpro- gramm im Rahmen der GA. Da muß ich sagen, Frau (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Janz, daß dem die SPD-regierten Länder ja zuge- stimmt haben. Dazu kann ich nur sagen: Guten Mor- gen! Aber auch das ist Etikettenschwindel, denn die- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat die ses Geld muß durch Umschichtungen irgendwoher Kollegin Uli Höfken. genommen werden. 2310 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995

Ulrike Höfken-Deipenbrock Die Bundesregierung setzt die Prioritäten in Rich- schaftlichen Betriebe zu sichern, sondern durch tung agrarindustrielle Entwicklung. Das ist aber eine Politik, die angemessene Erzeugerpreise keine natürliche Auslese, sondern eine subventio- durchsetzt. nierte Wettbewerbsverzerrung - das an die Herren von der F.D.P. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Zuruf von der F.D.P.: Ja, wie denn?) 1993 sind gerade einmal 0,4 % aller Betriebe bzw. Umwelt- und tiergerechte Produktionsweisen sind 0,7 % aller Vollerwerbsbetriebe in den zweifelhaften nicht erst seit der Klimadebatte eine gesellschaftliche Genuß einer einzelbetrieblichen Förderung gekom- Notwendigkeit. Wenn das Instrument des Agrarinve- men. Das heißt, mit Hilfe von Staatsknete gingen sie stitionsförderprogrammes für eine zukunftsorien- in die Rationalisierung zu Lasten anderer Betriebe, tierte Landwirtschaft wirksam werden soll, dann die ohne diese Förderung auskommen müssen. müssen folgende Forderungen, die wir in einem An- Sie sagen jetzt natürlich, Sie wollen diese Förde- trag einbringen, umgesetzt werden: rung erweitern und den Antragsstau lösen. Aber Die Kriterien Umwelt- und Tiergerechtigkeit müs- auch dann wird dieser Prozentbereich an der Marge sen allen Maßnahmen der Gemeinschaftsaufgabe zu- von 1 bis 2 % bleiben. Auch das ist eine Doppelstrate- grunde gelegt und zentrale Fördervoraussetzung gie der Bundesregierung, auf der einen Seite von der werden; d. h. die allgemeinen Grundsätze bei der Marktwirtschaft zu reden und auf der anderen Seite Gemeinschaftsaufgabe müssen entsprechend geän- staatliche Eingriffe in den Wettbewerb zu praktizie- dert werden. ren. Das können Sie Ihrem Herrn Kollegen Lippold ausrichten. Das zweite. 50 % dieser Mittel sollen in den Berei- chen Vermarktung und Dienstleistung eingesetzt (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) werden. Erzeugerzusammenschlüsse sollen wesent- lich erleichtert werden. Dem stehen im Moment die Es stellt sich die Frage, ob die Minderungen der Rahmenbedingungen entgegen. Mittel zugunsten des AFP sinnvoll sind. Wo soll es denn weniger sein? Bei der Ausgleichszulage für die Eine Förderung in diese Richtung hieße, neue Rah- benachteiligten Gebiete, die dann in Zukunft die menbedingungen für eine Verbesserung der Ein- standortbedingten Nachteile nicht mehr ausgleichen kommen in der Landwirtschaft in Ost und West zu können? Oder aber im Bereich der Dorferneuerung, schaffen, statt Ställe zu bauen, die später ebenfalls was die Möglichkeiten für die regionale Entwicklung mit Staatsgeldern zu Wohn- oder Gewerberaum um- im ländlichen Raum reduziert? Es wird kaum etwas gebaut werden müssen, es sei denn, die Pohl- übrigbleiben für die markt- und standortangepaßte mannschen Skandalproduktionsstätten sind das Leit- Landwirtschaft, für die sicherlich notwendige Unter- bild der Agrarpolitik der Bundesregierung. stützung der Betriebe im Bereich Abwasser, für (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Hochwasserschutzmaßnahmen oder gar den Küsten- Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Was hat schutz. denn das mit Landwirtschaft zu tun?) Mit dem Agrarinvestitionsförderprogramm kön- nen viele Boxenlaufställe im Kreis Bitburg-Prüm ge- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Ich denke, wir baut werden. Allein dort stehen zur Zeit 100 an. Si- wünschen der Kollegin gute Besserung für die cherlich ist es besser, daß unsere regionale Bauwirt- Stimme. schaft in Bitburg-Prüm und im Kreis Trier sich mit (Beifall) Stallbauten statt mit privat finanzierten Autobahnen Der Kollege Jürgen Koppelin hat darum gebeten, beschäftigt. seine Rede zu Protokoll geben zu dürfen. Sind Sie da- mit einverstanden? *) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall im ganzen Hause) Die Gefahr ist aber groß, daß diese Vorhaben als Bau- ruinen enden. Diese Entwicklung haben wir z. B. im - Das ist der Fall. Schweinebereich vorexerziert bekommen. Als nächstes erteile ich dem Abgeordneten Wer soll denn die Arbeit in den aufgestockten Stäl- Dr. Günther Maleuda das Wort. len bei sinkenden Milchpreisen noch leisten, wenn sich nicht gleichzeitig das Einkommen so weit er- Dr. Günther Maleuda (PDS): Frau Präsidentin! höht, daß Arbeitskräfte bezahlt werden können? Meine Damen und Herren! Die Präsidentin des Deut- Auch Kooperationen können eine solche Entwick- schen Bundestages, Frau Professor Süssmuth, ge- - lung nicht auffangen. Keine Hofnachfolgerin und währte der „Berliner Morgenpost" ein Interview zur kein Hofnachfolger, keine Betriebsleiterin und kein Verwaltungsreform, veröffentlicht in der letzten Betriebsleiter - auch nicht im Osten - wird noch in Sonntagsausgabe. Ich meine, gerade im Zusammen- der Lage und bereit sein, die immer größer werden- hang mit dem Verlauf der heutigen Debatte kann den arbeitsmäßigen und finanziellen Belastungen man einen guten Vergleich dazu herstellen. Ich und Schuldenlasten zu tragen, die die Konsequenzen finde, sie hat dort vor allem solche Fragen aufgewor- Ihrer Agrarförderung sind. fen, die im Zusammenhang mit der Verlagerung wichtiger fachlicher Probleme in die Fachausschüsse Nicht durch eine immer stärkere Intensivierung der Produktion ist die Existenz der meisten landwirt *) Anlage 4 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995 2311

Dr. Günther Maleuda stehen. Die Tatsache, daß wir uns jetzt schon in der Nun ist gegen die Verstärkung der einzelbetriebli- 17. Beratungsstunde des heutigen Tages befinden, chen Förderung nichts einzuwenden. Im Gegenteil, unterstreicht Überlegungen in dieser Richtung. die Abgeordnetengruppe der PDS unterstützt aus- drücklich das im Agrarbericht 1995 formulierte Ziel, (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Das ist halt in der Bundesrepublik eine leistungs- und wettbe- der Unterschied zwischen Demokratie und werbsfähige, marktorientierte und umweltverträgli- Diktatur!) che Landwirtschaft aufzubauen. - Selbstverständlich. Das wollte ich damit zum Aus- Auch uns ist natürlich klar, daß die Möglichkeiten druck bringen. eines Agrarhaushaltes begrenzt sind. Jeder kann den Meine Damen und Herren, obwohl der Agraretat eigentlichen Wert der einzelbetrieblichen Förderung 1995 gegenüber 1994 um über 700 Millionen DM ge- jedoch erkennen, wenn er erfährt, daß in den letzten kürzt wurde, erfolgte im Ausschuß für Ernährung, drei Jahren jährlich nur etwa 2 125 Betriebe die Mit- Landwirtschaft und Forsten nach kontroverser sachli- tel der einzelbetrieblichen Förderung erhalten ha- cher Diskussion eine mehrheitliche Zustimmung. Da- ben. Das sind weniger als 0,4 % aller landwirtschaft- mit waren eigentlich bereits die wesentlichen Ent- lichen Betriebe bzw. knapp 1 % der Vollerwerbsbe- scheidungen zum Einzelplan 10 getroffen. triebe. Wie wir inzwischen über die Ergebnisse der PLA- Die Anträge der Abgeordnetengruppe der PDS NAK-Runde aus dem „Bayernkurier" erfahren konn- wurden abgelehnt. Wir möchten sie aber zusammen- ten, gefaßt doch öffentlich machen. Sie bezogen sich vor allem auf konkrete Soll-Ist-Nachweise in der Per- (Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Sie lesen sonalpolitik des Landwirtschaftsministeriums, eine aber gute Zeitungen!) Kürzung der Mittel für Anzeigen und Beilagen zur Regierungspropaganda um 50 % sowie die Aufstok- hat sich bei den Vergabekriterien für die einzelbe- kung der Zuschüsse für bundeszentrale Informa- triebliche Förderung der bayerische Landwirtschafts- tionsveranstaltungen der Gewerkschaft Gartenbau, minister durchgesetzt. Danach sind nur Betriebe mit Land- und Forstwirtschaft auf 100 000 DM. bis zu zwei Beschäftigten anspruchsberechtigt. (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Und bei Da meine Redezeit abgelaufen ist, möchte ich ab- den juristischen Personen!) schließend nur noch sagen, daß der Agrarhaushalt der Regierung nach unserer Auffassung der realen - Das hatten wir nicht besonders hervorgehoben. Lage und den Erwartungen der Bauern nicht gerecht Aber wenn Sie das so sagen, würde ich meinen: wird. Unter diesem Gesichtspunkt können wir die- Auch dafür, warum nicht? sem Haushaltsplan nicht zustimmen. Vorgeschlagen war ferner, Fördermittel in Höhe Ich danke Ihnen. von 500 000 DM für betriebswirtschaftliche Untersu- chungen zur Einordnung nachwachsender Rohstoffe (Beifall bei der PDS) in landwirtschaftliche Unternehmen, eine zweckmä- ßige Standortverteilung des Anbaus sowie der Verar- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat beitung dieser Rohstoffe bereitzustellen. Die Zielstel- jetzt der Abgeordnete Meinolf Michels. lung der Dorfrevitalisierung in den neuen Bundes- ländern sollte um neue marktorientierte landwirt- (CDU/CSU): Sehr verehrte Frau schaftliche bzw. außerlandwirtschaftliche Beschäfti- Meinolf Michels Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu frü- gungsfelder als Grundlage dauerhafter Arbeitsplätze her Stunde am Morgen die Haushaltsberatung zur erweitert werden. Landwirtschaft ist ein gutes Omen. Wir hatten vorgeschlagen, die Fördermittel der Die Haushaltsberatungen standen unter der Not- Agrarwirtschaft in Mittel- und Osteuropa als Hilfe wendigkeit, den Haushalt zu konsolidieren und Aus- zur Selbsthilfe und weniger als Brücke für Investi- gaben zu kürzen. Herr Minister Borchert, ich möchte tionsvorhaben der deutschen Wirtschaft einzusetzen. Ihnen und Ihrem Hause für den Kampf, den Sie im Schließlich wurde der Antrag gestellt, die Mittel für Interesse der deutschen Ernährungs- und Landwirt- Untersuchungen zur Umgestaltung in den neuen schaft ständig führen, recht herzlich danken. Bundesländern und zur EG-Agrarpolitik um 20 % zu erhöhen und damit auch landwirtschaftliche Fakultä- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) ten und andere wissenschaftliche Einrichtungen im Osten zu beauftragen. Der Agrarhaushalt konnte von Einsparungen über Gebühr verschont werden. Dies ist anzuerkennen. Es Meine Damen und Herren, als eine besondere ist auch gut so, denn in vielen landwirtschaftlichen haushaltspolitische Maßnahme der Bundesregierung Betrieben ist die Grenze der Belastbarkeit erreicht. wird die Erhöhung der einzelbetrieblichen Förde- Agrarreform und GATT-Abkommen verlangen unse- rung hervorgehoben. Wissen muß man jedoch, daß ren Landwirten ein Höchstmaß an Einsatz und An- in der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der passung ab. Die dritte Stufe der Agrarreform führt zu Agrarstruktur und des Küstenschutzes" gegenüber einem weiteren starken Einschnitt. Da sind von Brüs- 1994 ein Betrag von über 200 Millionen DM gestri- sel verordnete zusätzliche Preissenkungen nicht chen wurde. Das heißt, es erfolgte eine Umverteilung mehr akzeptabel. Im Währungsbereich darf es keine im Haushalt auf Kosten anderer Positionen. weiteren Sonderlasten für die deutsche Landwirt- 2312 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995

Meinolf Michels schaft geben. Eine Anpassung der landwirtschaftli- fähigkeit der Betriebe zu stärken und der für 1995 chen Umrechnungskurse hätte unmittelbar Preisver- beschlossenen vereinfachten finanziellen Aufstok- luste zur Folge. Diese müßten vom europäischen kung bei der einzelbetrieblichen Investitionsförde- Haushalt unverzüglich und ungekürzt ausgeglichen rung zu einem großen Erfolg zu verhelfen. werden, denn sie sind die direkte Folge der Integra- tion, und sie treffen einseitig die deutsche Landwirt- Die Landwirtschaft in den neuen Bundesländern schaft. hat sich besser entwickelt als andere Bereiche der gewerblichen Wirtschaft. Dies ist vor allem auf ihre Schon gegenwärtig entstehen der deutschen Land- umgehende volle Integration in das EU-Marktord- wirtschaft wie der gewerblichen Wirtschaft durch die nungssystem zurückzuführen. Die Landwirtschaft ist starken Währungsschwankungen Wettbewerbs- aber auch in der Umstrukturierung ein sehr gutes nachteile. Bereits jetzt gehen unserer Landwirtschaft Stück vorangekommen. Dies ist in erster Linie ein Er- Marktanteile z. B. bei Rind- und Schweinefleisch, folg der in der Landwirtschaft tätigen Menschen. Obst und vor allem bei Milch und Milchprodukten Viele haben oft unter großen Schwierigkeiten einen verloren. Währungsbedingt erhalten die Milcherzeu- Neuanfang gewagt und geschafft. ger in den Schwachwährungsländern dadurch Preis- vorteile. In diesen Ländern gibt es daher wenig Be- Mit der Entschuldungs- und Förderpolitik konnte reitschaft zur Anpassung auch der Milchquoten. Der die Entwicklung der Betriebe entscheidend unter- subventionierte Absatz überschüssiger Milchpro- stützt werden. Es kommt jetzt darauf an, die Förder- dukte ist keine Dauerlösung. Darüber hinaus üben bedingungen in Deutschland zu vereinheitlichen die Überschüsse Druck auf die Erzeugerpreise aus. und ab Januar 1997 in Kraft zu setzen. Wir müssen Zusammen mit einer aufwertenden Währung kann für die deutsche Landwirtschaft eine einheitliche dies von der Landwirtschaft nicht so ohne weiteres Agrarpolitik gestalten. Diese muß der deutschen verkraftet werden. In England macht der Anteil der Landwirtschaft insgesamt gerecht werden. Sie sollte währungsbedingten Veränderungen an der Anhe- aber auch den regional unterschiedlichen Strukturen bung der Milchpreise seit 1984 bis heute 49 % aus. und Produktionsbedingungen in Deutschland Rech- nung tragen. (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Hört! Hört!) Die Altschuldenregelung hat verhindert, daß Be- triebe auf Grund von Zahlungsverpflichtungen aus Die Quotenregelung wird über das Jahr 2000 Be- Altschulden zusammenbrechen. Sie bietet den Un- stand haben. Sie ist ein Schutzwall gegen ein Ab- ternehmen die Chance, in einem für langfristige Dar- wandern der Quoten aus den angestammten Regio- lehen üblichen Zeitraum die Altschulden zu tilgen. nen geworden und verhindert den weiteren Milch- Die Unternehmen müssen diese Chance aber auch preisverfall. Dabei müssen die Milcherzeugerbe- nutzen. Restschulden und aufgelaufene Zinsen müs- triebe gestärkt werden. Die Milchquoten gehören sen unbedingt bedient werden. eben in die Hände der aktiven Milcherzeuger. (Beifall des Abg. Siegfried Ho rnung [CDU/ (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - CSU]) Horst Sielaff [SPD]: Das unterstützen wir, Meinolf!) Davon sollten die Betriebe und die Banken in jedem Sie dürfen nicht zum Spekulationsobjekt werden, Fall ausgehen. Die Bundesregierung tut gut, diese wenn die unterschiedlichen Milchquotensysteme in Position unmißverständlich klarzustellen. Deutschland Ost und West zusammengeführt wer- Auch in Zukunft ist es unser Anliegen, die mit dem den. Strukturwandel einhergehenden Härten zu mildern. Übergeordnetes Ziel ist ein annäherndes Gleichge- Auch deshalb räumen wir der landwirtschaftlichen wicht in Europa. Dies ist auch im Interesse gerade Sozialpolitik einen sehr hohen Stellenwert ein. Die unserer Landwirtschaft. Daher dürfen die bisherigen unter großen Anstrengungen zuwege gebrachte Erfolge in der EU nicht durch eine einseitige Oster- Agrarstrukturreform wird weitergeführt werden müs- weiterung unterlaufen werden. Der Beitritt muß sich sen. Wir werden uns in einer Arbeitsgruppe intensiv sehr behutsam und mit langen Übergangszeiten voll- mit den Beschwerdefällen beschäftigen, damit Ne- ziehen. Andererseits profitiert auch die deutsche benerwerbsbetriebe auch hier ohne besondere Här- Land- und Ernährungswirtschaft von der wachsen- ten weiter integriert werden können. den Kaufkraft in diesen Ländern. Unterschiedliche Mehrwertsteuersätze an den Grenzen zu den EU- In diesem Sinne glauben wir, der Agrarpolitik, die Partnerstaaten schwächen unsere Agrarwirtschaft. bisher schwierige Kluften überwinden konnte, auch in Zukunft zum Erfolg weiterverhelfen zu können. (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Und sind das größte Übel!) Schönen Dank. Trotz einiger kurzfristiger Vorteile geht dies letztlich (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- auch zu Lasten der Landwirtschaft. Daher müssen ordneten der F.D.P. und der SPD) die Steuerunterschiede abgebaut werden.

Um im europäischen Wettbewerb mithalten zu Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat können, müssen sich die Betriebe weiter strukturell jetzt der Minister für Ernährung, Landwirtschaft und anpassen können. Es geht darum, die Wettbewerbs- Forsten, Jochen Borchert. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995 2313

Jochen Borchert, Bundesminister für Ernährung, Angesichts der derzeitigen Umsetzung der dritten Landwirtschaft und Forsten: Frau Präsidentin! Liebe Stufe der Agrarreform haben wir in Brüssel, in Eu- Kolleginnen und Kollegen! Im Interesse der Öffent- ropa, alle Preisvorschläge abgelehnt, die direkt oder lichkeit der Agrarpolitik sollten wir sicher diese De- indirekt über die Vorschläge der Agarreform hinaus- batte nicht immer zu dieser frühen Morgenstunde gehen. Dies gilt bei Getreide für die Verkürzung des führen, auch wenn es die Bauern gewohnt sind, früh Interventionszeitraumes, für die Verkürzung der mo- aufzustehen. natlichen Reports, aber auch für die Kürzung des Butterinterventionspreises. Ich meine, Bauern brau- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU chen in dieser Phase ein Signal für eine verläßliche und der F.D.P.) und beständige Agrarpolitik und ein Signal dafür, daß wir die Preise der Agarreform einhalten. Aber die Beteiligung und die Präsenz der Kollegen an der Debatte zeigen das Interesse an der Agrarpoli- (Beifall bei der CDU/CSU - Wilhelm tik, wenngleich das Interesse, Herr Sielaff, sehr un- Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das kriegen Sie terschiedlich ausgeprägt ist. doch nicht von dieser Bundesregierung!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P. - Horst Sielaff [SPD]: Was Frau Janz, Sie haben die Agrarreform als einen soll diese Polemik jetzt?) wichtigen Schritt gelobt, aber Weiterentwicklung ge- fordert. Ich glaube, daß die Weiterentwicklung erst Ich darf mich sehr herzlich bei den Berichterstat- stattfinden kann, wenn wir diese Agrarreform umge- tern für die konstruktive und intensive Beratung des setzt haben. Wir befinden uns jetzt in der dritten Einzelplans bedanken. Ich bedanke mich auch sehr Stufe der Agrarreform. Erst wenn diese Agrarreform herzlich bei den Mitarbeitern für die viele Arbeit, die umgesetzt ist, sollten wir prüfen, wo die Ziele er- sie auch in der vergangenen Zeit wieder auf sich ge- reicht worden sind und wo nicht. Dort, wo die Ziele nommen haben, vor allen Dingen, wenn es darum nicht erreicht worden sind, sollten wir die Agrarre- ging, in langen Brüsseler Nächten die Interessen der form weiterentwickeln, auch in die Richtung, daß die deutschen Bauern auch in Europa zu vertreten. Landwirtschaft zunehmend stärker Rücksicht auf In- teressen des Tierschutzes und auf ökologische Be- Mich hatte es etwas verblüfft, Frau Janz, daß hier lange nimmt. auch von anderen beklagt wurde, daß in diesem Agraretat gekürzt worden ist. Ich habe nicht gehört, Zu Recht hat die agrarmonetäre Frage im Agrarrat daß Sie im Rahmen der Haushaltsberatungen Vor- eine wichtige Rolle gespielt. Ich habe unmißver- schläge dafür gemacht haben, wo an anderer Stelle ständlich deutlich gemacht, daß an der Aufwertungs- eingespart werden kann, um den Agraretat aufzu- festigkeit der Ausgleichszahlungen der Agrarreform stocken. nicht gerüttelt werden darf, und ich habe auch dar- Ich finde, wir können nicht Kürzungen beklagen, auf hingewiesen, daß die derzeitige Entwicklung der zugleich beklagen, daß der Haushalt nicht energisch Währungen nicht in erster Linie durch wirtschaftliche genug konsolidiert wird, und keine Vorschläge dazu Daten, sondern durch Spekulation bestimmt ist. machen, wo von anderen Einzelplänen zu diesem (Zustimmung bei der CDU/CSU und der Einzelplan umgeschichtet werden soll. F.D.P.) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ordneten der F.D.P.) Herr Thalheim, da kann man es sich nicht so ein- fach machen, wie Sie es sich in Ihrer Presseerklärung Lassen Sie mich mit den Ausführungen zur Fische- gemacht haben, zu fordern, Bundesregierung und reipolitik beginnen. Sie haben auf der einen Seite Bundesbank seien aufgerufen, Maßnahmen zu er- beklagt, daß der Kapazitätsabbau in der deutschen greifen, damit die durch wirtschaftliche Daten kei- Fischereiflotte stattgefunden hat, und haben gleich- neswegs gerechtfertigte Spekulation ein Ende finde, zeitig bedauert - das zeigt der Fang untermäßiger Fi- aber nicht zu sagen, welche Maßnahmen das wohl sche -, daß die Bestände viel zu stark überfischt wor- sein könnten. Ich wäre sehr daran interessiert, ein- den sind. Ich glaube, es geht nicht beides: Kapazität mal zu hören, welche Maßnahmen das möglicher- beibehalten und gleichzeitig Bestände schonen. Wir weise sein könnten. sind uns doch darüber einig, daß nach dem Abbau in Deutschland jetzt dringend auch der Abbau in den Wir werden bei der weiteren Beratung der agrar- anderen europäischen Ländern erfolgen muß. monetären Fragen - diese findet auf der Sonderrats- sitzung am 10. und 11. April statt - darauf drängen, (Beifall bei Abgeordneten der SPD) daß es hier nicht zu Belastungen der Landwirtschaft Meine Damen und Herren, die Bundesregierung kommt, und wir werden alles tun, um negative Aus- unterstützt die Landwirtschaft mit der Förderung im wirkungen zu vermeiden. Nur, verehrte Frau Kolle- Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe mit steigenden gin, wir können natürlich die Risiken jetzt noch nicht Mitteln in der Agrarsozialpolitik. Sie sichert eine flä- in den Haushalt einstellen. Dies würde gegen alle chendeckende Landwirtschaft u. a. mit der Aus- Haushaltsgrundsätze verstoßen, weil überhaupt noch gleichszulage, die unter dieser Bundesregierung in nicht absehbar ist, ob und in welcher Höhe über- den vergangenen Jahren verdreifacht worden ist. haupt nationale Ausgleichsleistungen anfallen. Ich glaube, Sie sollten sich über die Rahmenbedingun- (Beifall bei der CDU/CSU) gen der Haushaltsordnung noch einmal erkundigen. 2314 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995

Bundesminister Jochen Borchert Ich bedanke mich für das Lob für meine Bemühun- Ein wichtiger Bereich bleibt auch in Zukunft die gen im Bereich der Tiertransporte. Dabei habe ich Förderung der nachwachsenden Rohstoffe. Hier wer- auch mit Interesse zur Kenntnis genommen, daß Sie den wir weiter an der Spitze der Entwicklung in erklärt haben, daß ich hierbei von der SPD-Fraktion Europa bleiben. unterstützt werde, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- (Horst Sielaff [SPD]: Hoffentlich fallen Sie ordneten der F.D.P.) nicht um!) Deswegen werden wir weiter intensiv in den Bereich Forschung, Entwicklung, Förderung von Modellvor- aber von höherer Stelle Hilfe erhalten habe, und habe dabei festgestellt, daß Frau Bardot offensicht- haben investieren, um rechtzeitig neue Märkte zu entwickeln. lich die höhere Stelle ist. Damit haben Sie gleichzei- tig den Stellenwert der SPD-Fraktion charakterisiert. (Horst Sielaff [SPD]: Auch für die Vermark- tung!) (Beifall bei der CDU/CSU - Ilse Janz [SPD]: Es war das letzte Mal, daß ich Sie gelobt Meine Damen und Herren, wir werden unsere An- habe!) strengungen darauf konzentrieren, eine leistungsfä- hige Landwirtschaft zu erhalten, die nach bäuerli- Frau Höfken-Deipenbrock, Sie werden wahr- chen Prinzipien wirtschaftet, die nachhaltig wirt- scheinlich beobachtet haben, daß wir die Export- schaftet, die hochwertige Nahrungsgüter und Roh- erstattung für Lebendvieh ständig gesenkt haben. stoffe erzeugt. Wir werden eine Landwirtschaft för- Nur zu fordern, die Exporterstattung ganz zu strei- dern, die die Umwelt schont und die Landschaft chen und damit die Probleme der Tiertransporte zu pflegt. Denn nur mit einer bäuerlichen Landwirt- lösen, ist natürlich etwas zu kurz gesprungen. Was schaft werden wir eine Kulturlandschaft in allen Re- wir im Augenblick in erster Linie regeln müssen, gionen Deutschlands erhalten können. sind doch die Tiertransporte in Europa, und die Tier- transporte in Europa sind unabhängig von den (Beifall bei der CDU/CSU) Exporterstattungen, die wir für Lebendvieh zahlen. Mit den Maßnahmen der nationalen und europäi- Deshalb müssen wir beides machen, den Anteil der schen Agrarpolitik werden wir diese Ziele erreichen. Lebendviehexporte und die Transportzeiten in Euro- Der Agrarhaushalt 1995 setzt hier die richtigen Ak- pa reduzieren. zente. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Horst Sielaff [SPD]: Nein!) Mit der einzelbetrieblichen Förderung sind wir, Er beweist, daß sich die Bauern auf diese Bundesre- glaube ich, auf einem richtigen Weg. Hier haben wir gierung verlassen können. Prioriäten gesetzt. Diese Prioritäten sind auch von (Horst Sielaff [SPD]: Das glauben Sie doch den Bundesländern akzeptiert worden. Wir haben in- selbst nicht!) nerhalb der Gemeinschaftsaufgabe umgeschichtet und haben 100 Millionen DM mehr für die einzelbe- Ich darf auch die SPD-Opposition um Zustimmung triebliche Förderung zur Verfügung gestellt. Wenn in zum Einzelplan 10 bitten. Ich meine, Sie sollten mit dem Antrag der GRÜNEN kritisiert wird, hier sei zu einer Zustimmung Ihr Interesse an der Entwicklung Lasten der Länder umgeschichtet worden, sage ich: der Landwirtschaft signalisieren Hier ist nicht zu Lasten der Länder umgeschichtet worden. Ihr Antrag, der diese Umschichtung nur für (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. etwas andere Zwecke einsetzen will, würde natürlich Lisa Peters [F.D.P.]) auf die Länder die gleichen Auswirkungen haben und zeigen, daß Ihr Interesse ernsthafter ist, als es wie unser Umschichtungsantrag. Ihre jetzige Beteiligung vermuten läßt. Ich will zu Ihrem Antrag nur darauf hinweisen: Wir Herzlichen Dank. fördern im einzelbetrieblichen Bereich, weil es hier einen Antragsstau gibt, weil junge Landwirte im Au- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) genblick nicht investieren können, da ihre Anträge nicht genehmigt werden können. Wir fördern - wir Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Liebe Kollegin- haben dies ausgeweitet - auch Maßnahmen im öko- nen und Kollegen, wir kommen damit zu später logischen Bereich. Wir werden dies weiter auswei- Stunde und bei gut gefülltem Hause zur Abstim- ten. Hier gibt es keinen Antragsstau. Deswegen ist in mung über den Einzelplan 10, Bundesministerium dem Bereich eine Verstärkung, eine Umschichtung für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten. nicht erforderlich. Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion Im Bereich der Milchviehhaltung werden wir BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auf Drucksache 13/924 rechtzeitig die Milchquotenregelung über das Jahr vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für 2000 hinaus verlängern. Wir werden dabei auch den Änderungsantrag? - Gegenprobe! - Enthaltun- rechtzeitig nach intensiver Diskussion mit den Frak- gen? Der Änderungsantrag ist bei Zustimmung der tionen und dem Berufsstand entscheiden, ob und in Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der welcher Form wir diese Milchquotenregelung weiter Gruppe der PDS und gegen die Stimmen von CDU/ verbessern. CSU, F.D.P. und SPD abgelehnt. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995 2315

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer Wer stimmt für den Einzelplan 10 in der Ausschuß- werden. Sind Sie mit der Erweiterung der Tagesord- fassung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Ein- nung einverstanden? - Das ist der Fall. Sind Sie auch zelplan 10 ist mit den Stimmen der Regierungskoali- mit der Überweisung einverstanden? - Auch das ist tion gegen die Stimmen der Opposition angenom- der Fall. Dann ist das so beschlossen. men. Weitere Wortmeldungen liegen für die heutige Sit- Interfraktionell ist vereinbart, die heutige Tages- zung nicht vor. ordnung um die Beratung des Antrags der Gruppe der PDS zur Einladung von Repräsentanten aller Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes- Länder, die Opfer des von Nazi-Deutschland ausge- tages auf heute, Donnerstag, 30. März 1995, 9 Uhr ein. gangenen Aggressionskrieges wurden, zu erweitern. Die Sitzung ist geschlossen. Der Antrag auf Drucksache 13/965 soll jetzt gleich, ohne Aussprache, an den Ältestenrat überwiesen (Schluß der Sitzung: 01.30 Uhr)

Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995 2313'

Anlagen zum Stenographischen Bericht

Anlage 1 dem zurückzuführen ist. Im Westen stieg nämlich der Kohlendioxid-Ausstoß um 3 %, im Verkehrssek- Liste der entschuldigten Abgeordneten tor - hören Sie gut zu, Herr Wissmann - sogar um 17 % zwischen 1987 und 1992. Ihr Haushalt ist ein entschuldigt bis Klimakiller-Haushalt und ein sicherer Garant dafür, Abgeordnete(r) einschließlich daß diese Steigerungsraten auf weitere Jahre festge- schrieben werden. Adler, Brigitte SPD 29. 03. 95 Erforderlich wäre wohl eine Umweltverträglich- Büttner (Ingolstadt), SPD 29. 03. 95 keitsprüfung für Ihren gesamten Haushalt. Mit dieser Hans Zielrichtung müßte dann auch der Bundesverkehrs- Büttner (Schönebeck), CDU/CSU 29. 03. 95 wegeplan revidiert werden. Ein erster Schritt wäre Hartmut ein Ausbaustopp für Bundesfernstraßen in den alten Gansel, Norbert SPD 29. 03. 95 Bundesländern. Dr. Hartenstein, Liesel SPD 29. 03. 95 Konnte man bisher darauf hoffen, daß das, was Heym, Stefan PDS 29. 03. 95 Studien und Appelle nicht vermochten, nämlich wei- Meißner, Herbert SPD 29. 03. 95 teres durch Straßenneubau induziertes Verkehrs- wachstum zu verhindern, dann letztlich durch leere Tippach, Steffen PDS 29. 03. 95 Kassen des Bundes bedingt wurde, so gilt auch das Vergin, Siegfried SPD 29. 03. 95 seit neuestem nicht mehr. Die Bundesregierung läßt Welt, Jochen SPD 29. 03. 95 sich den Straßenneubau privat vorfinanzieren und baut so einen weiteren Schattenhaushalt auf. Um auf dem Papier einen Anstieg der Neuverschuldung zu vermeiden, verschwendet die Bundesregierung zig Millionen DM. Das Konzessionsmodell ist nämlich gegenüber einer Haushaltsfinanzierung schlicht und einfach unwirtschaftlich. Die Projekte verteuern sich Anlage 2 durch die Einschaltung privater Geldgeber um 30 bis 40 %, da der Staat für die hohen Refinanzie- Zu Protokoll gegebene Rede rungskosten der privaten Projektträger aufkommen zu Tagesordnungspunkt I 22 muß. (Haushaltsgesetz 1995 - Einzelplan 12 - Nun sagen Sie, es handelt sich bei den Projekten, Bundesministerium für Verkehr) für die jetzt Verpflichtungsermächtigungen ausge- bracht sind, ja nur um Pilotprojekte. Sie wollen testen, wie sich die private Vorfinanzierung gesamt- Völker erwar Dr. Dagmar Enkelmann (PDS): „Die wirtschaftlich auswirkt. Das ist doch lächerlich. Kön- ten von uns, daß wir die notwendigen Beschlüsse fas- nen Sie mir einen Grund nennen, warum die Berech- sen, um sie vor drohendem Schaden zu bewahren", nungen des Bundesrechnungshofes nicht ausrei- so wird Umweltministerin Merkel aus ihrer Eröff- chend sein sollten, um das zu belegen, was heute nungsrede der Klimakonferenz zitiert. Wenn ich mir ohnehin schon jedes Kind weiß: Der Kauf auf Raten einerseits solch beschwörende Reden anhöre und an- kommt teurer. Der Bundesrechnungshof hat berech- dererseits die nackten Tatsachen dieses Haushalts net, daß eine private Vorfinanzierung beim Engel- betrachte, kann ich mich nur wundern. Wo, bitte berg-Tunnel z. B. rund 8 Millionen und bei der vier- schön, sind denn die „notwendigen Beschlüsse", die ten Elbtunnel-Röhre sogar mehr als 23 Millionen DM eine Klimakatastrophe vielleicht noch abwenden teurer würde. Das sollte eigentlich ausreichen, um je- könnten? den verantwortlich denkenden Menschen von solch Ist das vielleicht der Beschluß, die Mittel für Inve- abenteuerlichen Finanzierungsmodellen abzubrin- stitionen in die Schiene um mehr als eine halbe Mil- gen. liarde DM zu kürzen und die vorgesehenen Kür- zungen für Straßenbauinvestitionen wieder um Auch das Argument, Sie kaufen damit Zeit ein, ist 350 Millionen DM zurückzunehmen? Ist damit viel- an den Haaren herbeigezogen. Der öffentliche Haus- - leicht der Beschluß gemeint, in diesem Land, das halt kann jederzeit Kredite für Investitionen in unbe- ohnehin über eines der dichtesten Straßennetze der grenzter Höhe aufnehmen. Wenn Sie das täten, müß- Welt verfügt, jährlich über 8 Milliarden DM in Stra- ten Sie allerdings den Bürgerinnen und Bürgern die ßen zu investieren? Wahrheit darüber sagen, wie verschuldet diese Bun- desregierung tatsächlich ist. Haushaltswahrheit und Die Glaubwürdigkeit dieser Bundesregierung ist Haushaltsklarheit aber scheuen Sie wie der Teufel wirklich keinen Pfifferling mehr wert. Sie heften sich das Weihwasser. den Rückgang der CO2-Emissionen stolz als Erfolg Ihrer Reduktionsbemühungen an die Brust und ver- So lügen Sie sich, vor allem aber den Bürgerinnen schweigen dabei, daß der verzeichnete Rückgang und Bürgern in die Taschen und bauen weiter an der nur auf die Deindustrialisierung in den neuen Län- betonierten Republik Deutschland. 2318* Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995

Anlage 3 punkte abzubauen und schnellstmöglich zu einer tragfähigen Lösung zu gelangen. Wir haben in unse- Zu Protokoll gegebene Rede rem Positionspapier ganz deutlich festgestellt, daß zu Tagesordnungspunkt I 23 bis zum Jahre 1998 der Telekom AG die Möglichkeit (Haushaltsgesetz 1995 eingeräumt werden muß, sich geordnet auf den Wett- - Einzelplan 13 - bewerbsmarkt einzurichten. Dies entspricht unserer Bundesministerium für Post Überzeugung, da eine finanziell angeschlagene und Telekommunikation) Deutsche Telekom AG weder der deutschen Wirt- schaft in ihrer Gesamtheit dienen würde noch im Hinblick auf den zukünftigen Börsengang und den (Kirchheim) (CDU/CSU): Die Auf Elmar Müller Finanzplatz Deutschland hinnehmbar wäre. gabe, die wir uns mit der Postreform II gestellt ha- ben, war es, das Überleben der Postunternehmen auf Es kann auch keine Rede davon sein, daß die Tele- Dauer zu sichern und gleichzeitig Leben in den Kom- kom übermäßig einseitig belastet werden soll. Aber, munikationsmarkt zu bringen. Meine Kollegen und um es klar und deutlich zu sagen: Wir werden hier ich wissen, daß wir uns hier auf einer schwierigen einen Markt und einen fairen Wettbewerb erst schaf- Gratwanderung befinden. fen müssen. So scheint es mir bezeichnend, daß es in der CSU Die Warnung der SPD vor einer übermäßigen Herrn Stoiber deutlich zu langsam mit dem Wegfall asymmetrischen Belastung der Telekom AG scheint der Telekommonopole geht, wogegen Herr Waigel, konsensfähig zu sein. Wir sollten uns doch einig sein, aus Sorge um eine zu starke Belastung der Telekom AG, daß das fünftgrößte deutsche Unternehmen mit zur Zurückhaltung mahnt. einem Umsatz von fast 70 Milliarden D-Mark und Die F.D.P. macht es sich da viel leichter. Sie fordert dem einzigen flächendeckenden Kommunikations- den Fortfall der Monopole und verheimlicht ihrer netz eine andere Infrastrukturverantwortung tragen Klientel einfach, daß sie dem Gesetz selbst zu- muß als etwa kleine mittelständische Anbieter zu- gestimmt hat, mit dem der Telekom AG bis zum künftiger Telefondienstleistungen. Gerade hier kom- 1. Januar 1998 das Netz- und Sprachdienstmonopol men doch regional beschränkte oder sogar anwen- übertragen wurde. dungsbezogen innovative Dienste in Betracht. Unzuständigkeitshalber, aber wortreich kann Herr Es gibt unzählige technische Anwendungsmög- Rexrodt als Bundeswirtschaftsminister dann genau lichkeiten, die nur für kleine Benutzergruppen Sinn das anmahnen, was der Bundespostminister gerade machen. Der Markt wird sofort versuchen, die jeweils erarbeitet und Anfang dieser Woche veröffentlicht erforderlichen Techniken den Kunden zur Verfügung hat, nämlich die Eckpunkte des zukünftigen Regulie- zu stellen. Vielen Anwendungen im Multimediabe- rungsrahmens im Telekommunikationsbereich. reich, wie z. B. Homeshopping, kommt gerade außer- halb der Ballungsräume große Bedeutung zu. Pau- Die SPD tut sich wie gewohnt schwer. Die einen schale Ausbauverpflichtungen würden mittelständi- fürchten mit einem schrittweise wachsenden Wettbe- sche Unternehmen völlig überfordern und auch gar werb um den Börsenwert der Deutschen Telekom keinen Sinn machen, da nur Megakonsortien derar- AG und unterschätzen offensichtlich die Intelligenz tige Investitionen aufbringen könnten. Hunderte der Anleger. Wer kauft schon gerne einen Monopoli- kleine zusammenwachsende Inseln decken die Be- sten im Sack, der 1998 plötzlich nackt vor den Anle- dürfnisse der Bürger aber sicher besser ab, als auf gern steht, weil man ihm in einem Rutsch die schüt- wenige Großunternehmen zu setzen. zende Monopoldecke weggezogen hat. Die anderen in der SPD setzen zwar auf die im Wettbewerb neu Wir wollen nicht Flächendeckung als Auflage für entstehenden zukunftssicheren Beschäftigungsmög- alle. Wir wollen Flächendeckung durch alle! Das be- lichkeiten, entpuppen sich aber allzu schnell als deutet, Insellösungen ja, und zwar so schnell und so Pseudoliberale, deren Presseerklärungen mit Vor- viele wie möglich. sicht zu genießen sind. Wie können Sie denn, Herr Bury, von einer Schief- Für sehr begrüßenswert halte ich das erste kon- lage unseres Wettbewerbsmodells sprechen, wenn krete Papier der SPD zur Liberalisierung des Tele- wir Unternehmen mit vielleicht einigen Dutzend Be- kommunikationsmarktes, so wie es als Presseerklä- schäftigten nicht mit den gleichen Infrastrukturauf- rung am letzten Wochenende abgesetzt worden ist. lagen belasten wollen wie die Deutsche Telekom mit Allerdings erscheint die plakative Kritik an dem Ent- über einer Viertelmillion Mitarbeitern? Sie fordern wurf eines Eckpunktepapiers des Ministers eher gro- Chancengleichheit und gleichzeitig Infrastrukturauf- tesk, da man offensichtlich weder den vollständigen lagen bereits bei unter 25 % Marktanteil. Ab wieviel- Inhalt kannte noch bereit war, zwei Tage bis zur Vor- Prozent, Herr Bury, gedenken Sie denn bei Ihrer Art lage des Eckpunktepapiers zu warten. Einer seriösen Chancengleichheit kleine Anbieter genauso zu be- und der Sache angemessenen Auseinandersetzung handeln wie den fünftgrößten Telekommunikations- scheint es mir nicht dienlich, sich mit „bekanntge- konzern der Welt? wordenen Vorstellungen" eines Entwurfs statt mit Für kritisch und undurchführbar halte ich die For- dem Papier selbst auseinanderzusetzen. derung der SPD nach Bereitstellung einer breitbandi- Wer die Papiere sorgfältig studiert, wird feststellen, gen Infrastruktur für alle Bürger, und das, wie der daß wir nicht weit auseinanderliegen, und es sollte Vorsitzende des Postausschusses, der Kollege Börn- uns gelingen, mit vernünftigen Argumenten Dissens sen, gefordert hat, innerhalb etwa 5 Jahren. Dies Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995 2319*

geht jedoch völlig an den Realitäten vorbei und wäre der Zeit, über die Papiere zu sprechen und offen zu nicht einmal, und dies weiß die SPD ganz genau, diskutieren. Drohungen sind da sicherlich wenig hilf- vom bisherigen Monopolunternehmen Telekom zu reich. leisten, geschweige denn zu finanzieren.

Bei rund 37 Millionen Wohnungen liegt der Versor- gungsgrad etwa beim Breitbandkabelnetz der Tele- kom nach nunmehr 12 Jahren bei immerhin 62 %. Nach 5 Jahren waren gerade einmal 3 Millionen Anlage 4 Wohnungen angeschlossen. Kein Mensch - ja nicht einmal Politiker - hätte von der Telekom jemals ge- Zu Protokoll gegebene Rede fordert, den bevorzugten Ausbau von Ballungsgebie- zu Tagesordnungspunkt I 24 ten zu stoppen und statt dessen ländliche Regionen (Haushaltsgesetz 1995 zu erschließen. Zu Recht hat sich die Telekom auf - Einzelplan 10 - Ballungsräume konzentriert, und selbst hier warf ihr Bundesministerium für Ernährung, der Bundesrechungshof noch das „planlose Verlegen Landwirtschaft und Forsten) von Fernsehkabeln" vor.

Wir brauchen uns doch, lieber Herr Börnsen, nicht Jürgen Koppelin (F.D.P.): Die Haushaltskonsolidie- tatsächlich über die Versorgung mit Kabelfernsehen rung konnte auch vor dem Einzelplan 10 des Bundes- auf dem Lande zu unterhalten, wenn sich heute nach ministers für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten 12 Jahren Breitbandkabelausbau die Bundesbürger nicht haltmachen. Doch dabei haben wir als F.D.P. in unzähligen Stadtrand-Lagen darüber beschweren, die wesentlichen agrarpolitischen Ziele nicht ver- daß die Telekom zu einem weiteren Ausbau aus Ren- nachlässigt. Mein Kollege Günther Bredehorn hat tabilitätsgründen nicht mehr bereit ist. Jeder kennt schon einmal hier sehr richtig festgestellt: „Spar- doch die Klagen abseits gelegener Dörfer aus seinem zwänge können auch etwas Positives haben. Sie Wahlkreis. Und hier betreiben nicht etwa die priva- zwingen zur Prioritätensetzung. " Das geschieht beim ten Anbieter „Rosinenpicken", sondern die Telekom. Einzelplan 10. Sie allein bestimmt nach Rentabilitätsgesichtspunk- ten sogenannte Ausbaugebiete, in denen die priva- Politische Herausforderung der nächsten Jahre ten Kabelnetzbetreiber nicht tätig werden durften. bleibt die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit der Dennoch haben die P rivaten in den vergangenen deutschen Landwirtschaft. Die Landwirte und ihre Jahren bis heute rund 3,5 Millionen Wohneinheiten Familien müssen auch weiterhin die Chance erhal- über Breitbandkabelnetz mit Fernseh- und Hörfunk- ten, ihren eigenen, individuellen Weg bei der Bewirt- programmen in den für die Telekom unrentablen Ge- schaftung ihrer Betriebe zu gehen. Zusätzliche Frei- bieten versorgt. räume zur Steigerung der Produktivität und Effizienz sind dabei notwendig. Den nachwachsenden Roh- Der von der SPD immer wieder bemühte Infra- stoffen gilt dabei unser besonderes Interesse. Ihr An- strukturauftrag wird, wenn man hierunter also die bau kann zukunftsweisend sein. Die Mittel, die wir Versorgung der weniger lukrativen Bereiche in hier den Landwirten zur Verfügung stellen, sind ein Deutschland versteht, ganz eindeutig von den über Beitrag zur Umwelt. Völlig überrascht habe ich bei 300, häufig mittelständischen Wettbewerbern mit Le- den Berichterstattergesprächen zur Kenntnis neh- ben erfüllt. men müssen, daß die GRÜNEN eine Reduzierung der Haushaltsmittel in diesem Bereich wollten. Hier Wenn wir dann auch noch auf neue alte Kampf- zeigt sich die Ernsthaftigkeit „grüner" Politik. begriffe wie der „Zwei-Klassen-Informationsgesell- schaft" verzichten, wird es uns eher gelingen, dem Mit der Anhebung des förderfähigen Investitions- gerecht zu werden, was sowohl Bürger wie Wirt- volumens im Rahmen der einzelbetrieblichen Investi- schaft von uns fordern, nämlich bereits in den näch- tionsförderung auf 100 Millionen DM machen wir sten Monaten die wesentlichen politischen Entschei- den Weg frei für eine zukunftsweisende Agrarpolitik. dungen zu treffen, die einen möglichst raschen Aus- Mit den Komplementärmitteln der Länder stehen da- bau einer zukunftsweisenden deutschen Telekom- mit 170 Millionen DM mehr zur Verfügung. Aber die munikationsinfrastruktur ermöglichen. Herausbildung effizienter Betriebsstrukturen - und die sind notwendig, um langfristig den Sonderstatus Wer allerdings bereits vor der Veröffentlichung des der Landwirtschaft im nationalen und internationa- Eckpunktepapiers des Ministers und ohne ein einzi- len Wirtschaftsgefüge abzubauen - kann nicht allein ges Gespräch abzuwarten mit der notwendigen Zu- über die Stärkung der landwirtschaftlichen Erwerbs- stimmung der SPD im Bundesrat droht, wie der Kol- möglichkeiten erfolgen. Ein zweites wirtschaftliches lege Bury dies meinte tun zu müssen, der scheint un- Standbein muß aufgebaut werden. Die F.D.P. plädiert ter dem ständigen Gefühl zu leiden, ohne massive daher für eine stärkere Gewerbe- und Dienstlei- Drohungen nicht ernstgenommen zu werden. stungsorientierung des landwirtschaftlichen Unter- nehmertums. Die vorgelegten Papiere sollten zur politischen Dis- kussion einladen. Sie dienen nicht als Plattform für Erste und erfolgreiche Schritte sind bereits von den Profilierungsversuche einzelner Politiker. Wir suchen Landwirten gemacht worden. Die Steigerung des Di- konsensfähige Lösungen. Ich glaube, es ist jetzt an rektabsatzes landwirtschaftlicher Produkte ist nur ein 2320' Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 30. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 29. März 1995

Beispiel unter vielen. Hier zeigen sich die Stärken Soviel ist heute schon sicher: Die derzeitigen Haus- der deutschen Landwirtschaft: hohes Qualitätsniveau haltsbelastungen im Agrarbereich sind zu hoch und auf der Basis guter natürlicher Bedingungen kombi- unter den gegebenen wirtschaftlichen Verhältnissen niert mit Anbindung an die Verbraucher. Diese Kom- und Umwälzungsprozessen innerhalb Europas auf bination kann zu einer weiteren, soliden Erwerbs- Dauer nicht vertretbar. quelle für die Landwirte werden. In der Agrarsozialpolitik sind in der letzten Legisla- turperiode die entscheidenden Weichen gestellt wor- Allerdings, wenn wir das von Minister Seehofer den. In den Jahren 1995 bis 1997 wird die Bundesre- vorgelegte Geflügelfleischhygiene-Gesetz beschlie- gierung 1 Milliarde DM bereitstellen. Ein Be trag, mit ßen würden, wäre das ein erheblicher Rückschlag für dem die eigenständige soziale Sicherung der Bäuerin die Bemühungen um die Direktvermarktung. eingeführt werden kann.

Der ländliche Raum bietet sich als Wirtschaftsbasis Das Agrarsozialreformgesetz ist bei den Betroffe- für Unternehmertätigkeit geradezu an. Für kreative nen überwiegend positiv aufgenommen worden. Daß Landwirte, bei denen Selbständigkeit und Gesamt- Kritik geübt wird, ist normal. Wir werden Einwände verantwortung Tradition haben, ist er eine ideale gegenüber einzelnen Bestimmungen des Agrar- Grundlage. Sie sollten ihn verstärkt zum eigenver- sozialgesetzes prüfen. Erste Gespräche sind in der antwortlichen Handeln nutzen. Nicht der staatliche F.D.P. bereits dazu geführt worden. Wichtig war uns, Prämienempfänger, sondern nur der im Wettbewerb daß mit der Agrarsozialreform erreicht wird, daß fit gemachte Unternehmer ist in der Lage, sich gegen rund 230 000 Bäuerinnen endlich eine eigene Alters- die inner- und außereuropäische Konkurrenz durch- sicherung und Schutz bei Erwerbsunfähigkeit erhal- ten, der Explosion der Beiträge zur Altershilfe ein zusetzen. Riegel vorgeschoben wird. Das gesamte System der agrarsozialen Absicherung ist finanziell stabilisiert Der Landwirt als Dienstleister im ländlichen Raum worden. - ein Ziel liberaler Landwirtschaftspolitik, das von uns allen weiter verfolgt werden sollte. Davon pro- Besonders freuen dürfte sich darüber sicher unser fitieren nicht nur die Landwirte und ihre Familien. Freund , der einst die neue Agrarsozialpoli- Deshalb gilt unser uneingeschränktes Ja den Struk- tik einleitete. Von dieser Stelle auch nachträglich turverbesserungen. herzliche Glückwünsche an Josef Ertl zum 70. Geburtstag. Beim Küstenschutz hätte die F.D.P. gern mehr ge- Die Landwirtschaft befindet sich inmitten eines macht. Aber die zuständigen Länderminister haben schwierigen Anpassungsprozesses. Der Haushalt die Latte der Anforderungen zu hoch gelegt. Die trägt dem durchaus Rechnung. Die Vergabe staatli- überzogenen Umweltanforderungen beim Küsten- cher Mittel bietet gerade in Zeiten knapper Kassen schutz in den norddeutschen Ländern sind inzwi- die Chance, den notwendigen Entwicklungsprozeß schen völlig inakzeptabel; die Effizienz der Hilfestel- zu flankieren und Effizienzsteigerungen sowie Struk- lung ist damit nicht mehr sichergestellt. turanpassungen zu beschleunigen. Dauersubventio- nen und Regulierungen müssen abgebaut werden, Nicht nur innerhalb des Agrarsektors sind struktur- neue Subventionsfelder vermieden werden. Denn verbessernde Maßnahmen notwendig, sondern auch heute geht es mehr denn je darum, der unternehme- bei Hilfen für die Schaffung alternativer Beschäfti- rischen Landwirtschaft eine Bresche zu schlagen. gungsmöglichkeiten, in anderen Unternehmensfor- Nur mit ihr ist eine Stärkung der Landwirtschaft men und auch außerhalb der Landwirtschaft. langfristig möglich und auf Dauer erfolgreich.