Sendung vom 23.2.2016, 20.15 Uhr

Hans-Christian Ströbele MdB, Rechtsanwalt im Gespräch mit Corinna Spies

Spies: Willkommen zum alpha-Forum, verehrte Zuschauerinnen und Zuschauer. Gast im Studio ist heute Hans-Christian Ströbele, Politiker der Grünen, von Beruf Rechtsanwalt; er ist seit 1998 durchgehend im Deutschen und schon einmal in den 80er Jahren Bundestagsabgeordneter gewesen. Ich muss jetzt, Herr Ströbele, und obwohl ich mir das ganz anders vorgenommen hatte, mit dem Boulevardesken anfangen. Es geht um Ihr Radl, wie man in Bayern sagen würde. Sie sind ja nicht nur dafür berühmt, dass Sie Vegetarier sind, dass Sie nicht rauchen, keinen Alkohol trinken, noch nicht einmal Kaffee trinken, dass Sie also erschreckend gesund leben, sondern auch dafür, dass Sie sehr, sehr viel mit dem Rad durch fahren. Sie haben mir vorhin erzählt, dass Ihr Rad nun ins Museum kommt. Ins "Haus der Geschichte der Bundesrepublik" womöglich? Ströbele: Das will ich sehr hoffen. Wobei ich zu den Attributen, die Sie aufgezählt haben, sagen muss, dass alle nicht zu 100 Prozent stimmen. Spies: Ich habe es geahnt. Ströbele: Ich hatte z. B. mein Leben lang immer ein Auto, im Augenblick habe ich so ein Auto mit Hybridelektroantrieb. Ich fahre damit aber nicht in Berlin bzw. fahre nur ganz, ganz selten damit, wenn ich was transportieren will oder mit anderen zusammen fahren will. Aber ich fahre in der Tat täglich mit meinem Fahrrad und kombiniere das Radfahren auch mit dem sehr guten öffentlichen Nahverkehrssystem in Berlin, also mit der U-Bahn und S-Bahn, in die ich das Fahrrad auch mal mitnehme, wenn es regnet oder so. Ich bin z. B. auch hierher ins Studio mit dem Fahrrad gekommen. Dieses Fahrrad ist inzwischen nicht nur 18 Jahre alt, sondern, und das ist, wie ich glaube, wirklich etwas ganz Besonderes, ich habe es bereits zwei Mal wiederbekommen, nachdem es mir gestohlen worden war. Diese beiden Diebstähle waren echte Diebstähle, also mit Anzeige bei der Polizei usw. Einmal hat mir die Polizei mein Rad wiedergebracht: Sie haben innerhalb einen Radfahrer bemerkt, den sie überprüft haben, weil er, wie sie mir das gesagt haben, irgendwie nicht wirklich auf dieses Fahrrad gepasst hat. Sie haben es ihm dann quasi unter dem Hintern weggenommen und mich irgendwann angerufen und mir mitgeteilt, sie hätten mein Fahrrad wiedergefunden. Das war übrigens auch das einzige Mal in meinem Leben, dass ich mit einem schönen Blumenstrauß in der Hand auf eine Polizeiwache gegangen bin, den ich den Menschen dort aus Dankbarkeit überreicht habe. Das andere Mal waren die Fahrradkuriere bei der Wiederbeschaffung meines Rades involviert. Ich kenne einige von den vielen Fahrradkurieren hier in Berlin persönlich und habe denen erzählt, dass man mir mein Fahrrad gestohlen habe. Es war mir vor dem Reichstag am Osteingang geklaut worden. Ich habe daher diesen Fahrradkurieren ein Flugblatt mitgegeben, auf dem ein Foto meines Fahrrades war und eine genaue Beschreibung. Denn Fahrradkuriere kommen ja viel herum in der Stadt und sehen viel, weswegen ich sie gebeten habe, sie sollten doch mal darauf achten, ob sie mein Rad nicht irgendwo sehen. Und in der Tat wurde ich schon drei Tage später an einem Sonntag von ihnen angerufen. Sie sagten mir: "Dein Fahrrad ist hier!" Sie hatten es nämlich irgendwo auf einem Flohmarkt in Berlin gesehen, wo es zum Verkauf angeboten worden war. Ich habe mir dort dann mein Fahrrad quasi zurückgekauft. Spies: Sie sind ein echtes Glückskind. Ströbele: Es war halt zwei Mal weg und ich habe es jedes Mal wiederbekommen. Das zeigt eigentlich: Man soll sich immer bemühen und die Hoffnung nicht aufgeben. Spies: Sie stehen in der Tat für Hartnäckigkeit, für das Ausloten von Grenzen, auch der Grenzen des Rechtsstaates. Sie haben schon erwähnt, dass Sie da zum ersten und einzigen Mal mit einem Blumenstrauß auf eine Polizeiwache gegangen sind, denn das ist ja ansonsten nicht unbedingt Ihre Art, mit der Polizei umzugehen. Berühmt geworden sind Sie als Anwalt von APO-Aktivisten und Mitgliedern der "Baader-Meinhof-Bande", wie sie der Volksmund nannte, also der "Roten-Armee-Fraktion", wie sie sich selbst nannte. Auf diesen Teil der Geschichte und die Themen der Gegenwart kommen wir später selbstverständlich auch noch zu sprechen, das ist klar. Aber ich habe mir überlegt, dass Ihr Leben doch von so starken Veränderungen gekennzeichnet ist, dass es sich lohnt, wirklich am Anfang anzufangen, um nicht den Faden zu verlieren. Sie sind 1939 in Schkopau bei Halle geboren; ich hoffe, ich habe es richtig ausgesprochen. Ströbele: Ja. Spies: Wurde Ihnen denn der Kampf für das Richtige in der Politik schon in die Wiege gelegt? Ströbele: Nein, das glaube ich nicht, das ist ja auch erst sehr, sehr spät entstanden. Es gibt jetzt einen Biografen von mir, der jüngst herausgefunden hat – mir war das selbst auch nicht klar gewesen –, dass das wahrscheinlich während der Bundeswehrzeit gewesen ist. Ich war der zweite Jahrgang, der nach dem Krieg überhaupt zur Bundeswehr eingezogen worden ist. Das war im Jahr 1959, und dort bei der Bundeswehr habe ich so etwas ganz offensichtlich entwickelt. Nein, ich bin in Schkopau bei Halle geboren, weiß dazu aber nur noch ganz wenig, weil meine Eltern damals dort weggezogen sind. Die Amerikaner hatten dieses Gebiet erobert, zogen sich aber ein paar Tage später wieder zurück, weil Deutschland für die Zeit nach dem Krieg eben anders aufgeteilt worden war, d. h. es sind dann die Sowjets gekommen. Die Amerikaner haben aber bei ihrem Rückzug die Akademiker aus dem dortigen Chemiewerk mitsamt deren Familien in Richtung Westen mitgenommen. Es hieß damals von einem Tag auf den anderen: "Jeder darf nur einen Koffer mitnehmen!" Dieser Koffer wurde auf die Pritsche eines Lastwagens geworfen und dann ging es über die Demarkationslinie in Richtung Westen. Ich bin also an sich ein Wessi. Spies: Ihr Vater war Chemiker in den Buna-Werken, einer Tochter der IG- Farben, und Ihre Mutter Rechtsanwältin. Ströbele: Nein. Sie war eine der ganz, ganz wenigen Juristinnen – damals gab es ja noch fast überhaupt keine Juristinnen, sondern nur Juristen. Sie hatte Jura studiert und auch ein Referendarexamen gemacht. Nach diesem Examen muss man dann aber noch eine Referendariatszeit machen. Es kam jedoch der leitende Prüfer zu meiner Mutter und sagte zu ihr: "Fräulein Zimmermann, wir gratulieren Ihnen zu Ihrem guten Examen." – Ich glaube, sie war die einzige Frau in ihrem Jahrgang. – "Aber Sie wissen, der Führer erwartet etwas anderes von Ihnen und deswegen ist die Referendariatszeit für Frauen nicht vorgesehen. Der Führer möchte, dass Sie ihm Kinder schenken, vor allem Jungs." Sie hat daraufhin zuerst noch woanders gearbeitet, z. B. in einer Apotheke usw., bis sie schließlich verschiedene Kinder geboren hat, nämlich insgesamt vier. Spies: War sie denn in irgendeiner Weise für Ihren Berufsweg Vorbild? Ströbele: Sie hat natürlich immer erzählt, dass sie eigentlich Jugendrichterin hatte werden wollen. Als ihre Kinder dann alle aus dem Haus waren, hat sie zum Schluss dann sogar noch mit straffälligen Jugendlichen ein bisschen Jugendarbeit gemacht. Ganz zuletzt hat sie also noch Sachen gemacht, die sie eigentlich ihr Leben lang hatte machen wollen. Sie hatte dafür aber eben keine vollständige Ausbildung – aber ganz offenbar eine große Leidenschaft dafür. Spies: Man sucht in so einer Lebensgeschichte natürlich immer nach Logiken, die es so vielleicht gar nicht gibt. Aber wenn Sie sagen, dass das mit der Politik für Sie eigentlich erst in der Bundeswehrzeit begann – Sie haben übrigens nicht verweigert, was damals allerdings überhaupt noch nicht üblich gewesen ist … Ströbele: Ja, das stimmt. Spies: Sie waren bei der Luftwaffe in Aurich: Was hat denn damals dazu geführt, dass Sie, wie Ihr Biograf behauptet, sich dort zum ersten Mal so richtig politisiert haben? Ströbele: Nun, da kam vieles zusammen. Man muss erstens wissen, dass wir damals von ehemaligen Wehrmachtsoffizieren ausgebildet worden sind. Der Feldwebel, den wir hatten, war aus der Wehrmacht. Nur so ganz untere Chargen wie die Leute auf dem Rang eines Leutnants usw. waren neu. Die anderen aber waren alle noch in der Wehrmacht gewesen: Sie hatten auch dementsprechend den Ton und die Schleifermentalität aus der Wehrmacht drauf. Wir haben z. B. auch dieselben Lieder gesungen, die schon die Wehrmacht gesungen hatte. Das Marschieren und die formale Ausbildung waren ganz genauso wie damals in der Wehrmacht. Ich wurde dort wirklich geschliffen, wie ich sagen muss, und ich mochte das überhaupt nicht. Aus diesem Grund habe ich immerzu nach Wegen gesucht, wie ich da irgendwie rauskommen könnte, mit Krankschreibungen usw. Ich war einer der wenigen Abiturienten, die damals mit dabei waren: Wir wurden sehr umworben, Offizier zu werden. Nach einiger Zeit sollte ich Gefreiter werden. Dies habe ich jedoch abgelehnt. Das war schon ein recht großer Akt an oppositionellem Verhalten. Spies: Aus jugendlichem Trotz oder hatte das konkrete Gründe? Ströbele: Es war eine Ungerechtigkeit vorgefallen und ich wollte auf diese aufmerksam machen. Als der Hauptmann vor dem angetretenen Bataillon erklärte, er würde mich jetzt zum Gefreiten befördern, habe ich mich gewehrt dagegen und gesagt: "Herr Hauptmann, ich lehne hiermit die Beförderung zum Gefreiten ab." Das konnte man, das stand sogar im Gesetz und ich habe mich dabei auch auf dieses Gesetz berufen. Ich hatte wirklich dieses Gesetzbuch mit den Wehrgesetzen in meinem Spind liegen. Die Unteroffiziere empfanden mein Verhalten natürlich als völlig daneben: "Was will der denn da?" Danach habe ich so langsam angefangen, auch Kameraden zu beraten – ich habe sogar Liebesbriefe für sie geschrieben. Ich habe so viele Aktivitäten entwickelt, dass ich zum Vertrauensmann gewählt worden bin. Das war so eine Art "Betriebsrat" bei der Bundeswehr. In dieser Funktion habe ich mich dann um solche Sachen wie Disziplinverfahren usw. gekümmert. In dieser Zeit habe ich also so langsam angefangen, auf rechtlicher Grundlage Schlimmes von mir abzuwenden – und von den anderen auch. Spies: Und das in einem System, das – immer noch – auf Befehl und Gehorsam basiert. Ströbele: Ja, damals war das so. Heute sagt man mir immer, dass es nun ganz, ganz anders sei bei der Bundeswehr. Das weiß ich nicht, das kann ich nicht beurteilen, denn da habe ich keinen Einblick. Damals jedoch war das schrecklicherweise so. Ich werfe das noch heute der Bundeswehr vor: Die Bundeswehr ist aus der Wehrmacht heraus entstanden, sie war eine Nachfolgeorganisation der Wehrmacht. Wenn man damals in der Bundeswehr z. B. das Thema "Deserteure in der Wehrmacht" angesprochen hat, dann wurde einem ganz klar gesagt: "Das waren Verräter! Und als solche mussten sie auch entsprechend behandelt werden damals!" Das war eine Zeit, diese Anfangsjahre der Bundeswehr, die man sich heute gar nicht mehr so richtig vorstellen kann. Spies: Ich vermute aber mal und rege damit sozusagen Ihren Biografen an, das zu berücksichtigen, dass dieses rechtliche Denken doch ein Stück weit von der Mutter beeinflusst gewesen ist. Ströbele: Das würde ich nicht ausschließen, aber genau weiß ich das nicht. Solche Wahrnehmungen habe ich jedenfalls als Junge oder auch als Heranwachsender nicht gemacht. Aber es war schon so, dass meine Mutter diese Geschichte mit dem verbotenen Referendariat immer wieder mal erzählt hat. Sie hat das immer mit einem großen Bedauern erzählt und empfand das auch wirklich bis zum Schluss als ungerecht. Spies: Das waren damals für Frauen noch andere Zeiten, das kann man wohl sagen. Sie haben zunächst in Heidelberg und schließlich in Berlin Rechtswissenschaften und Politische Wissenschaften studiert und wurden Rechtsanwalt. Dann kam dieser 2. Juni 1967: Für die etwas jüngeren Zuschauer müsste man doch ein wenig erklären, in welche Zeit Sie damals in Berlin hineingekommen sind. Was waren die Themen, die Sie damals bewegt haben? Welche Atmosphäre haben Sie dort angetroffen? Ströbele: Ich war immer politisch interessiert, ich habe z. B. schon in meiner Bundeswehrzeit "Die Welt" gelesen, also eine Tageszeitung, die dort ausgelegen ist. Auch in meinem Elternhaus hatte ich schon regelmäßig Zeitung gelesen und habe später in Berlin auch sofort Zeitungen abonniert. Ich war also immer an der Politik interessiert, aber nie selbst aktiv. In Berlin entstanden damals ja die ersten Anfänge einer linken außerparlamentarischen Oppositionsbewegung. Das waren zuerst nur ein paar Dutzend Leute und später zunächst auch nur ein paar Hundert. Das habe ich mit Interesse beobachtet und darüber in der Zeitung gelesen, ohne mich selbst daran zu beteiligen. Der 2. Juni 1967 war dann fast schon so etwas wie eine Art Zeitenwende – auch für mich. Anlässlich des Besuchs des in seinem Heimatland sehr diktatorisch regierenden Schahs von Persien in Berlin gab es große Demonstrationen von Studenten: bereits tagsüber vor dem Schöneberger Rathaus und später dann vor der Deutschen Oper. Es waren vielleicht 1000 oder auch ein paar mehr Studenten, die da demonstriert haben. Ich habe das alles mit Interesse beobachtet und bei dieser Demonstration vor der Deutschen Oper am Abend wurde ein Student erschossen. Spies: Das war Benno Ohnesorg. Ströbele: Wie wir heute wissen, wurde er von einem Polizisten nicht aus Versehen erschossen. Dieser Polizist hat ihm in den Kopf geschossen, d. h. es war nicht so, dass der Polizist in die Luft geschossen und die Kugel irgendwie zufällig Benno Ohnesorg getroffen hätte. Nein, das war ganz offenbar ein gezielter Schuss. Das hat selbstverständlich zu einer erheblichen Eskalation und Empörung beigetragen. Noch in dieser Nacht war alles ungeheuer aufgeregt und aufregend und auch ich habe mich da an verschiedenen Diskussionen zu diesem Vorfall beteiligt. Es hatte aber in dieser Nacht zunächst genau umgekehrt geheißen: Ein Student hätte einen Polizisten niedergestochen. Es kam aber bald heraus, dass das nicht stimmte, sondern dass ein Polizist einen Studenten erschossen hat. Mich haben diese Vorfälle wirklich ungeheuer umgetrieben. Aufgeregt hat mich auch, wie am nächsten Tag über diese Demonstration in den Medien berichtet wurde. Heute muss man sagen, dass diese Demonstrationen gegen den Schah vom politischen Anlass her absolut berechtigt gewesen sind. Das war uns zwar auch damals schon klar gewesen, aber in der deutschen Öffentlichkeit wurde eine Demonstration gegen den Schah als Sakrileg empfunden: "Wie kann man nur gegen den Schah demonstrieren! Noch dazu, wo er früher mit Soraya eine aus Deutschland stammende Kaiserin an seiner Seite hatte!" Und der Schah von Persien und seine damalige wie auch seine aktuelle Frau waren ja auch in der Tat davor und danach absolute Stars im deutschen Blätterwald. Es ist damals über diese Demonstration völlig falsch berichtet worden. Man sah das Bild einer Frau, die sich den Kopf hielt und der das Blut herunterlief. Unter diesem Bild hieß es, diese Frau sei von den Steinen der Chaoten getroffen worden. Ja, es hatte Steinwürfe gegeben, das stimmt. Aber es kam im Laufe des nächsten Tages heraus, dass das überhaupt nicht gestimmt hat: Nein, diese Frau war von einem Polizeiknüppel getroffen worden. Diese Ereignisse haben mich dazu gebracht, dass ich mir gesagt habe: Da muss ich jetzt irgendwie mitmachen. Also bin ich zu Rechtsanwalt Mahler gegangen – es war schon 1967 der berühmte APO-Anwalt – und habe zu ihm gesagt: "Ich stelle meine Hilfe, meine Dienste zur Verfügung, um die Studenten vor Gericht zu verteidigen, um die Vorwürfe gegen die Studenten aufzuklären usw." So fing meine politische Anwaltstätigkeit an. Spies: Es ist sehr interessant, in diese Zeit zurückzuschauen und über sie nachzulesen in diesem Film und diesem Buch "Die Anwälte – Eine deutsche Geschichte", denn dort wird die Rolle von drei Anwälten der damaligen Zeit und deren weiterer Lebensweg beleuchtet: Es geht um , um Sie und um Otto Schily. Sie drei sind dann ja ganz unterschiedliche Wege gegangen: Horst Mahler ist ganz nach rechts gegangen, Otto Schily wurde irgendwann Innenminister, und auch Sie gingen in das Herz der Republik, nämlich als Abgeordneter ins Parlament, in den Bundestag. Dies sei aber nur am Rande erwähnt, denn im Detail kann man das dort alles nachlesen und anschauen. Seitdem ich das gemacht habe, weiß ich z. B. auch genauer, wie viel Desinformation damals gelaufen ist. Und man muss eben dazusagen, dass der Polizist, der am 2. Juni 1967 auf Benno Ohnesorg geschossen hat, möglicherweise – viele Indizien sprechen dafür – vom SED-Regime gesteuert worden war. Ströbele: Nein, nein, er war schlicht Mitglied der Stasi. Spies: Bewiesen ist das nicht, aber vieles spricht dafür. Ströbele: Dieser Herr Kurras war in Westberlin im politischen Bereich Polizeikommissar. Er hat offensichtlich für die Stasi gearbeitet. Darüber gibt es Unterlagen. Das wird auch gar nicht bestritten und ist auch von ihm danach gar nicht bestritten worden, als das herausgekommen ist. Er hat im Auftrag der Stasi in der Westberliner Polizei gearbeitet. Man hat dann überlegt, ob die Stasi vielleicht ganz konkret befohlen hätte, diesen Schuss abzugeben, um die Verhältnisse in Westberlin anzuheizen. Davon halte ich jedoch wenig, denn es gibt keine konkreten Anhaltspunkte dafür, dass ihn die Stasi dazu veranlasst hätte, auf einen Studenten zu schießen. Nun, das war eben ein Radikaler. Spies: Sie haben das jetzt sehr gut nachvollziehbar geschildert, wie Sie von der Betreuung der Soldaten in rechtlichen Fragen zur Betreuung der Studenten gekommen sind, die ja auch jung waren. Sie selbst waren damals ja auch noch sehr jung. Ströbele: Wobei ich doch immer schon ein bisschen älter war als die Studenten, denn ich war zu der Zeit damals ja schon Referendar. Spies: Aber Sie waren 1967 auch noch nicht einmal 30 Jahre alt, wenn ich richtig gerechnet habe. Ströbele: Das stimmt. Spies: Das heißt in meinen Augen, Sie waren damals noch jung. Ich mache mal einen Sprung ins Jahr 1981, um damit diese Zeit ein wenig einzurahmen. 1981 wurden Sie wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung zu einer Gefängnisstrafe auf Bewährung verurteilt. Ströbele: Einer kriminellen Vereinigung, wie sie damals noch hieß. Spies: Gemeint war die "Rote Armee Fraktion", also die RAF von Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Ulrike Meinhof und anderen. Was ist in diesen Jahren bis 1981 passiert, warum wurden Sie der "Terroristenanwalt", der RAF-Anwalt, wie Sie in der Öffentlichkeit genannt wurden? Sie waren allerdings nicht alleine der Verteidiger dieser Terroristen, sondern Sie waren das zusammen mit Horst Mahler und Otto Schily und einigen weiteren. Was ist in dieser Zeit passiert, das dann zu dieser Verurteilung geführt hat – auch wenn ich nicht davon ausgehe, dass Sie mit dieser Verurteilung einverstanden waren? Ströbele: Ich bin mit dieser Verurteilung heute noch nicht einverstanden und war das damals auch nicht. Ich habe lange Zeit zuerst einige Studenten – so von 1967 bis 1970 – vor Gericht vertreten. Da gab es sehr interessante Verfahren und Prozesse. Ein Teil der Außerparlamentarischen Opposition radikalisierte sich dann aber. Man muss allerdings sagen, dass das nur ein ganz, ganz kleiner Teil war. Dazu gehörten auch diejenigen, die die sogenannte erste Generation der RAF bildeten. Diese Leute gingen in den Untergrund und wollten den bewaffneten Kampf in die Städte nach Deutschland bringen – und haben ihn auch gebracht, ganz so, wie das in Südamerika der Fall gewesen ist wie z. B. in Uruguay. Ich kannte diese Leute z. T. ja persönlich von Demonstrationen, von Diskussionsveranstaltungen, auf denen man gewesen ist, auf denen man sich gesehen hat, und anschließend ist man mit denen eben in eine Kneipe gegangen. Da ich diese Leute also persönlich gekannt habe, war es für mich völlig selbstverständlich, ihre Verteidigung zu übernehmen, als sie im Gefängnis saßen. Sie schrieben mir: "Willst du nicht vorbeikommen und mich verteidigen?" Wir nannten uns damals untereinander ja "Genosse". Ich habe also deren Verfahren übernommen. Von der sogenannten ersten Generation hatte ich von allen bzw. fast allen das anwaltliche Mandat. Das hat bedingt, dass ich viel Zeit in den Gefängnissen verbracht habe, wo ich sie besucht habe, um sie dann hier in Berlin, aber auch in anderen Städten und letztlich auch in Stuttgart-Stammheim vor Gericht zu verteidigen. Wir wurden damals nicht nur von der Justiz, sondern vor allem von der Presse, von den Medien überhaupt beschimpft: "Terroranwalt", "RAF-Anwalt", "Terrorist" usw. Man hat mich auch konkret bedroht und wir wurden vom Verfassungsschutz überwacht. Wie ich heute weiß, waren wir vier Anwälte vom "Sozialistischen Anwaltskollektiv" nämlich Objekte des Verfassungsschutzes: Wir hatten bei uns im Büro eine Mitarbeiterin des Verfassungsschutzes sitzen, die bei uns verdeckt als Sekretärin arbeitete. Das waren alles so Geschichten, die damals passierten. Mir wurde damals z. B. auch mal eine scharfe Patrone ins Haus geschickt: Damit wird ein Todesurteil über einen symbolisiert. Diese Sendung ist damals zwar bei der Post kontrolliert, aber eben weitergeleitet worden zu mir. Ich habe diese Patrone dann bei der Polizei abgegeben. Da geschahen also Dinge, die man sich heute gar nicht mehr vorstellen kann. Zum Schluss, kurz vor Beginn des Stammheimer Prozesses gegen Baader, Meinhof und Ensslin, wurde ich aus dem Verfahren ausgeschlossen, weil ich in Verdacht geraten war, mit meiner Verteidigertätigkeit den Zusammenhalt der Gruppe in den Gefängnissen unterstützt zu haben. Spies: Und zwar durch die Weitergabe von Informationen unter den Gefangenen. Ströbele: Ja, aber nicht durch Weitergabe von Informationen von draußen, sondern unter den Gefangenen selbst. Das habe ich immer für richtig gehalten und halte ich auch heute noch für richtig. Nach der damaligen Gesetzeslage war das meiner Ansicht nach auch zulässig. Man hat damals auch gar nicht bestritten, dass man das grundsätzlich dürfe. Aber das, was sich dann unter den Diskussionspapieren fand, hat man mir zum Vorwurf gemacht: Das waren nämlich Papiere, in denen es um Sprengstoffeinrichtungen ging usw. Wir Anwälte haben gesagt: "Für die Vorbereitung der Verteidigung ist die interne Informationsweitergabe notwendig, damit wir nachher auch entsprechende Beweisanträge stellen können usw." Aber die Justiz hat das anders gesehen und ich war auch hier in Berlin für drei Wochen in Untersuchungshaft. Nach diesen drei Wochen wurde ich entlassen, war aber die ganze Zeit über weiterhin Anwalt. Auch in der Untersuchungshaft habe ich meine anwaltliche Beratung weiter ausgeführt: im Flur oder über das Fenster hinweg zu den Nachbarn. Ich wurde nach einiger Zeit verurteilt und ging in Revision. Am Ende kam eine zehnmonatige Freiheitsstrafe auf Bewährung heraus. Ich will das hier nicht alles ausbreiten, aber die Anklageschrift war 500 Seiten stark und auch das Urteil hatte sehr, sehr viele Seiten. In diesem Urteil steht vieles drin, aber ich sage noch heute: Das war damals eine besondere Situation, wie sie heute nicht mehr passieren würde. Aber weil damals diese Angeklagten in den Gefängnissen meiner Ansicht nach ungerecht behandelt worden sind, weil sie isoliert worden sind, weil sie im Gefängnis krank wurden, waren besondere Maßnahmen auch aufseiten der Verteidigung erforderlich, sodass ich heute immer noch sage: Ich fühle mich zu Unrecht verurteilt. Spies: Außerdem steht ja jedem Häftling, der sich auf seinen Prozess vorbereitet, ein Anwalt zu. In derselben Zeit wurden Sie ja auch aus der ersten Partei, in die Sie eingetreten waren, ausgeschlossen, nämlich aus der SPD. 1970 waren Sie eingetreten, 1975 wurden Sie ausgeschlossen, weil Sie in einem Brief an die RAF-Gefangenen diese mit "liebe Genossen" angesprochen hatten. Ströbele: Genau. Ich hatte es vorhin ja schon gesagt: In dieser ganzen APO-Zeit, in dieser Zeit der Studentenrevolte war es völlig normal, sich untereinander als "Genosse" anzusprechen. Nachdem diese Leute dann im Gefängnis waren, habe ich keinen Grund gesehen, sie nicht mehr mit "Genosse" anzusprechen. Das ist so ähnlich, als würde man als Rechtsanwältin oder Rechtsanwalt Familienmitglieder oder Freunde vor Gericht vertreten: Da siezt man diese Menschen ja auch nicht plötzlich. Ich habe also diese Benennung einfach beibehalten, was mir dann ausgelegt wurde als was weiß ich wie schlimm. Spies: Das ist alles Vergangenheit und gehört zu einer bestimmten Phase der Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg, der Nazidiktatur und dem Völkermord. Ich wollte Sie danach befragen, nicht damit Sie sich erneut rechtfertigen müssen, sondern ich habe deswegen gefragt, weil ich mir denke, dass Sie damit auch einen Teil der Geschichte der Republik mitgetragen und auch mitgeprägt haben. Sie waren damals ja nicht alleine, sondern es waren noch Otto Schily und Horst Mahler als Anwälte mit beteiligt. Es wird Ihnen dreien zugeschrieben, dass Sie auch die Atmosphäre im Gerichtssaal verändert haben. In diesem Fall kann man tatsächlich vom "Muff unter den Talaren" sprechen, mit dem Sie ein wenig aufgeräumt haben. Sie haben nämlich allgemein das Selbstbewusstsein der Anwälte vor Gericht gestärkt. Ströbele: Ich nehme in der Tat für uns in Anspruch, dass wir vom Sozialistischen Anwaltskollektiv – es waren noch Klaus Eschen, Henning Spangenberg und Ulrich K. Preuß mit dabei und ebenso die Anwaltskollektive bzw. Anwaltsbüros in ganz Westdeutschland, die solche Verfahren übernommen haben – schlicht die Strafprozessordnung wiederentdeckt haben. Wir haben sie wirklich "wiederentdeckt", denn davor war es in Strafverfahren wirklich sehr üblich gewesen, dass die Verteidiger ihre Hauptaufgabe darin gesehen haben, sich mit dem Gericht irgendwie zu einigen. Wir haben z. B. auch die Vorschrift, dass man einen Richter wegen Befangenheit ablehnen kann, praktiziert – zum Leidwesen vieler Richter. Ich kann mich noch an einen Fall erinnern, in dem wir das mehrfach gemacht haben. Da saß z. B. ein altes NSDAP-Mitglied als Richter in einem politischen Verfahren: Dabei ging es nicht um irgendwelche RAF-Geschichten, sondern um andere Vorwürfe, denn es ging u. a. darum, dass bestimmte politische Plakate als Aufforderung zu strafbaren Handlungen angesehen wurden. Wir haben damals in diesem Verfahren den Richter abgelehnt und haben gesagt, er sei vorbelastet und überhaupt nicht geeignet, über diesen Prozess unabhängig zu entscheiden usw. Ich glaube, es hat der Justiz und den Strafverfahren insgesamt gut getan, dass wir solche Sachen gemacht haben, denn dadurch kam ein neuer Wind in die Gerichtssäle und Strafverfahren. Wir haben das damals "konfrontative Verteidigung" genannt, denn die Angeklagten, die wir vertreten haben wie z. B. Rudi Dutschke, saßen da nicht brav im Gerichtssaal herum und haben auf ihre Strafe gewartet. Stattdessen hat jemand wie Rudi Dutschke dort Reden gehalten und verteidigt, warum man demonstrieren musste, warum man gegen eine Polizeikette anrennen musste usw. Es hatten bis dahin eben noch ganz andere Verhältnisse geherrscht im Gerichtssaal. Bei bestimmten geeigneten Verfahren wird diese konfrontative Verteidigung heute noch praktiziert von einigen Kollegen. Spies: Es ist jetzt ziemlich deutlich geworden, dass das eine bestimmte Phase in der Entwicklung dieser Gesellschaft gewesen ist. Sie haben dann aber alle unterschiedliche Wege eingeschlagen. Otto Schily hat zwar mit Ihnen zusammen noch die Grünen initiiert und mitgegründet, ist dann aber später in die SPD eingetreten. Sie haben hier in Berlin den Landesverband der Grünen mitgegründet und auch die Grünen bundesweit. Sie haben aber auch die "TAZ" mitgegründet, d. h. Sie waren einer der führenden Leute in der Phase, in der die Bewegungen entstanden, die dann schließlich zum "Marsch durch die Institutionen" führten, wenn man das so sagen kann. Sie schütteln den Kopf? Dieser Begriff "Marsch durch die Institutionen" als Schlagwort aus dieser Zeit gefällt Ihnen nicht? Ströbele: Dieses Wort stammte eigentlich aus der APO-Zeit, d. h. aus der Bewegung von ungefähr 1965 bis ungefähr Ende der 70er Jahre. Danach gab es dann ja sehr starke und übrigens auch viel größere politische Bewegungen mit riesengroßen Demonstrationen: Denken Sie nur an die Anti-AKW-Bewegung, an die Friedensbewegung usw. Am Anfang hatte ich mit der Anti-AKW-Bewegung sogar meine Probleme. Denn die APO war ja noch der Meinung gewesen, dass Atomkraftwerke etwas Nützliches sein können. Auch ich musste erst mühsam lernen, dass das nicht stimmt … Spies: Dass der Protest dagegen eben nicht nur "Gedöns" ist. Ströbele: Ja. Man hat damals in der APO gedacht, dass das doch eine tolle Energieform sei: Man hielt die Atomenergie für eine Art Perpetuum mobile, das überall die Arbeitskraft ersetzen könne und das überhaupt etwas ganz Tolles sei. Die Gefahren dabei haben wir nicht gesehen. Später haben wir das allerdings gelernt und so habe auch ich dann gegen Atomkraftwerke demonstriert. Aus all diesen verschiedenen sozialen Bewegungen und Umweltbewegungen – denken Sie nur an die Frauenbewegung, die damals eine ganz wichtige Rolle gespielt hat – sind letztlich die Grünen entstanden. Die Vorläufer der Grünen waren die Alternativen Listen gewesen; in Berlin hieß sie "Alternative Liste für Demokratie und Umweltschutz". Mit diesen Alternativen Listen sind damals erste Parteiansätze entstanden, obwohl wir ja niemals eine Partei werden wollten, definitiv nicht. Stattdessen wollten wir so eine Art Spielbein der sozialen und Umweltbewegung in den Parlamenten sein, wie wir das damals ausgedrückt haben. Wir wollten also auch in den Parlamenten die Gelegenheit nutzen, um unsere Ideen voranzubringen, sie zur Geltung zu bringen. Spies: Dieses Ressentiment gegen Parteien hat ja eine lange Geschichte in Deutschland, eigentlich schon, seit es überhaupt Parteien gibt. Vielleicht gibt es dieses Ressentiment aber auch weltweit. Dieses Ressentiment ist ja heutzutage auch wieder sehr stark: Teilen Sie dieses Ressentiment immer noch? Warum sind Parteien, die ja eigentlich auch Gestalter des demokratischen Lebens sind, so etwas Verwerfliches oder Gefährliches? Das frage ich heute natürlich den Parteipolitiker Hans-Christian Ströbele. Ströbele: Ich nehme da keine Partei aus: Parteien haben die Tendenz, sich irgendwie zu verselbstständigen und so etwas wie ein Karriereapparat zu werden. Man muss sich jedenfalls in normalen Parteien zuerst einmal in einem langen Prozess nach oben dienen, wie ich fast sagen möchte, bis man irgendwo oben angekommen ist. Die Posten, die es zu verteilen gibt, werden eben auch über die Parteien verteilt. Es gibt daher an unserer parlamentarischen Demokratie sehr viel Kritik an der Macht der Parteien und auch ich teile diese Kritik. Es müssen bei uns Abgeordnete Sachen zustimmen, von denen sie eigentlich nicht überzeugt sind. Weil man aber die eigene Regierung, die man ja selbst gewählt und propagiert hat, für die man Wahlkampf gemacht hat, stützen muss, kann es zu Entscheidungen kommen, bei denen der Einzelne eigentlich sagen müsste: "Das will ich doch gar nicht, dem will ich doch eigentlich nicht zustimmen." Und in einigen Fällen muss man sich als Abgeordneter sogar sagen: "Das verstößt doch gegen unser Parteiprogramm!" Aber dann wird man eben in so eine Art Fraktionsdisziplin genommen, die es nach dem Gesetz eigentlich gar nicht geben darf, und muss dann Sachen machen, die meiner Ansicht nach nicht demokratisch sind. Das ist ein Problemfeld, mit dem ich mich immer wieder herumschlage, weil ich immer wieder Nein sage. Ich habe ja in der Zeit der rot-grünen Koalition auch solche Kompromisse gemacht, keine Frage. Aber es gab bei mir auch immer eine Grenze. Spies: Da zitiere ich jetzt ausnahmsweise mal einen Kollegen, und zwar einen Kollegen von der "Zeit", der Sie im Jahr 2013 begleitet hat, als Sie im Bundestagswahlkampf zum vierten Mal um ein Direktmandat gekämpft haben. Er hat dabei über Sie geschrieben: "Er ist einer, der immer auf der Seite der Schwachen war. Es gibt keine Minderheit, für die er noch nicht demonstriert hat. Er verkörpert den Erfolg seiner Partei und ihre Schwäche zugleich. Die Grünen schmücken sich gerne mit altem Revoluzzergeist, sind aber längst eine ziemlich gewöhnliche, schon ein bisschen langweilige Partei geworden." Ich will Sie jetzt gar nicht nach diesem Seitenhieb auf Ihre Partei fragen, sondern fasse dieses Zitat als Anmoderation für den Teil der Geschichte auf, in dem Sie ein weiteres Mal bzw. neu berühmt wurden. Ich meine Ihre "Dissidentenrolle" bei den Grünen und eben auch innerhalb der rot-grünen Koalition, die Sie einerseits mit ermöglicht haben, bei der Sie aber zeitweise an entscheidenden Punkten im Widerspruch zu ihrer eigenen Partei und zur Koalitionsräson standen. Ich nehme nur mal das Thema der Beteiligung der Bundeswehr an Kriegseinsätzen im Balkankrieg und im Afghanistankrieg. Das hat dazu geführt, dass man Sie auch gerne einen Querulanten genannt hat und dass Ihr Rederecht im Deutschen Bundestag vonseiten Ihrer eigenen Fraktion nicht so gerne gesehen wurde, weswegen Sie oft zum Instrument der Persönlichen Erklärung greifen mussten. Wie haben Sie das ausgehalten über all die Jahre? Dass das dann mit dem Direktmandat in gewisser Weise ein Happy End gegeben hat, können wir anschließend dann auch noch erzählen. Wie haben Sie das ausgehalten in dieser Phase, als Sie ziemlich massiv ausgegrenzt worden sind? Ströbele: Das war natürlich schon schwierig. Ich habe immer versucht, gerade in der Zeit der rot-grünen Koalition, also von 1998 bis 2005 alle Entscheidungen mitzutragen, weil ich diese rot-grüne Regierung ja gewollt habe. Denn ich war und bin heute noch der Auffassung, dass da wichtige Dinge angeschoben worden sind – wenn auch viel zu wenige. Es ging jedenfalls um wichtige Dinge, für die es sich gelohnt hat, sich einzusetzen: bei der Frage des Atomausstiegs, bei ökologischen Fragen und auch bei sozialen Fragen. Aber es gab eben auch Entscheidungen, bei denen ich gesagt habe: "Das könnte eine rot-grüne Regierung auch anders machen." Nehmen wir als Beispiel die Beteiligung am Kosovo- Krieg, die Beteiligung am Afghanistan-Krieg und die Hartz-IV-Regelung, wie sie letztlich verabschiedet worden ist. Bei all diesen Entscheidungen habe ich gesagt: "Das ist nicht erforderlich." Denn wir, die Grünen, haben doch immer gesagt, und das stand auch im Parteiprogramm, Auslandseinsätze kommen, wenn überhaupt, nur als allerallerletzte Möglichkeit infrage, als Ultima Ratio, wie es lateinisch heißt. So weit waren wir bei diesen Entscheidungen aber nicht. Einmal war es so, dass das nur deswegen so gemacht worden ist, weil die Amerikaner das wollten: Das war scheinbar viel wichtiger, als dass man davon überzeugt gewesen wäre, dass dieser Einsatz richtig ist. Ich habe da jedenfalls gesagt: "Nein, da hättet ihr den Amerikanern sagen müssen, wir in Deutschland haben inzwischen glücklicherweise eine Friedenstradition." Auch die vorherigen Regierungen, also auch die Regierungen unter hatten es immer vermieden, so etwas zu machen. Da mussten es doch nicht die Grünen sein, die es ermöglichten, dass sich deutsche Truppen nun auch an Kriegen beteiligen. Und heute sage ich – ich gebe zu, dass ich das damals so noch nicht gewusst habe –, dass nach 13 Jahren der Krieg in Afghanistan verloren ist, ein Krieg, der unendlich viele Opfer gekostet und inzwischen drei Millionen Flüchtlinge hervorgebracht hat. Ich hatte also recht, leider. Das war von Anfang an Quatsch, das war falsch, das war politisch falsch. Ich bin kein Pazifist, d. h. ich habe mich nicht deshalb dagegen gewehrt, weil ich als Pazifist grundsätzlich dagegen wäre, dass man sich an Kriegen beteiligt; nein, ich habe mich deswegen dagegen gestellt, weil das nicht notwendig gewesen ist, weil das nicht richtig gewesen ist. Mit diesem Krieg ist noch viel Schlimmeres angerichtet worden! Denken Sie an den Kosovo-Krieg davor: Da gab es doch wirklich Alternativen. Ich könnte Ihnen diese jetzt alle aufzählen, aber das würde zu lange dauern. Daraus hätte man doch lernen können. Auch heute ist es für eine deutsche Beteiligung an einem Krieg viel wichtiger, dass irgendein Bündnis, in dem wir Mitglied sind, das angeblich verlangt. Das ist viel wichtiger, als dass man von den Argumenten überzeugt wäre, warum man was in so einem Krieg wie erreichen kann. Aber es heißt eben immer: "Wir können uns doch nicht als NATO-Mitglied heraushalten bei solchen Sachen." Doch, wir könnten das! Frankreich hat das gemacht, Kanada hat das gemacht, andere Länder haben das gemacht. Diese Möglichkeiten sollte man also nutzen, um die Sachen wirklich abzuklopfen und sich nicht in Kriege hineinziehen zu lassen, die von Anfang an falsch sind, bei denen man nicht weiß, wie sie ausgehen und wie man da wieder rauskommt und die dann auch wirklich ganz schrecklich enden – wie z. B. im Irak. Spies: Letztlich geht es also an dieser Stelle auch wieder um das Thema "Gewalt", das ja in Ihrem gesamten politischen Leben immer wieder eine Rolle gespielt hat, wenn ich an Ihre Zeit als Anwalt der RAF-Mitglieder denke – und ganz abgesehen davon, dass wir uns ja alle mit diesem Thema auseinandersetzen müssen. Lassen Sie mich an dieser Stelle einen Sprung in die Gegenwart machen, hin zu diesen Bürgerbewegungen, die z. T. von Rechtsextremisten angeführt werden, die sich nun mit der Flüchtlingssituation befassen. Dass sie sich mit der Flüchtlingssituation auseinandersetzen, kann man ja eigentlich gar nicht sagen, sondern diese Bewegungen stehen einfach nur auf gegen die Tatsache, dass so viele Flüchtlinge ins Land kommen. Sie selbst sind mal in einem Wahlkampf von einem Neonazi zusammengeschlagen worden, sind dann aber seiner selbst habhaft geworden, wie ich gelesen habe: Das heißt, Sie haben sich wieder aufgerappelt, haben diesen Mann verfolgt und ihn der Polizei übergeben können. Dass das möglich war, finde ich ganz toll. Wie sehen Sie denn diese Entwicklung des Rechtsextremismus in Deutschland, des Rechtsradikalismus, des Rechtspopulismus? Denken Sie manchmal darüber nach, was eigentlich die RAF vom NSU unterschieden hat? Oder ist diese Frage politisch zu platt? Ströbele: Nein, diese Frage wird immer wieder gestellt. Dass auch die RAF Gewalt angewendet hat, ist ja schlechterdings nicht zu bestreiten. Aber die Frage ist doch immer, aus welchem Impetus heraus man so etwas macht, was man damit erreichen will. Da ist das natürlich das absolute Gegenteil: Ob man eine andere, eine sozialere, eine sozialistische Gesellschaft will oder ob man eine rassistische, rechtsextreme Gesellschaft will, die den Menschen die Grundrechte nehmen will. Das ist doch eine völlig andere Situation. Ich war bereits zu Beginn der 90er Jahre sehr, sehr engagiert gegen diese rechtsradikalen Bewegungen, denn damals gab es hier in Deutschland ja auch schon Pogrome gegen Migrantenhäuser und - heime. Ich habe damals auch diese Familie aus Mölln vertreten als Nebenkläger im Verfahren gegen die Täter, die das Wohnhaus dieser Familie angezündet hatten, wobei mehrere Familienmitglieder ermordet wurden. Ich habe mich also damals schon mit dieser Szene beschäftigt und weiß von daher, wie gefährlich die rechte Szene ist, wie sehr sie vernetzt ist und wie stark sie der Auffassung ist und daher auch ihre ganze Legitimation nimmt: "Wir führen doch nur das aus, was der große, der größte Teil der Bevölkerung eigentlich will oder denkt." Damals hat es ja in Deutschland auch schon eine sehr starke Anti-Migranten- Auffassung gegeben: "Ausländerhass" haben wir das damals genannt. Diese Neonazis waren also der Auffassung, dass der größte Teil der Bevölkerung eigentlich hinter ihnen steht. Damals gab es leider auch schlimme Äußerungen von führenden Politikern, die das mit gestützt haben. Heute ist die Situation anders, aber diese Gefahr ist vorhanden. Ich habe mich ja auch im Deutschen Bundestag mit dem NSU, also dem Nationalsozialistischen Untergrund befasst, der über ein Jahrzehnt lang in Deutschland aktiv gewesen ist und gemordet hat, weil ich Mitglied des entsprechenden Untersuchungsausschusses gewesen bin. Ich weiß von all diesen Gefahren und würde es daher weit von mir weisen, dass das irgendetwas zu tun hätte mit dem, was die RAF damals gemacht hat. Spies: An dieser Stelle würde mich interessieren, ob Sie glauben, dass es in der deutschen Bevölkerung überhaupt ein positives Verhältnis zum Gewaltmonopol des Staates gibt: Ist das überhaupt im Bewusstsein der Bevölkerung bei uns vorhanden? Ist der Wert dieses Gewaltmonopols – insofern Sie es wie ich überhaupt als Wert erachten, dass das Monopol der Gewaltausübung beim Staat liegt – überhaupt im Bewusstsein vorhanden? Ströbele: Ich glaube, das ist in vielen Ländern der Welt – an der Spitze stehen hier sicherlich die USA – in der Bevölkerung ganz überwiegend nicht wirklich verankert. In den USA nimmt ja quasi jeder für sich in Anspruch, mindestens ein Gewehr zu Hause zu haben, um selbst Gewalt ausüben zu können, wenn irgendetwas passieren sollte, wenn er sich in Gefahr befindet usw. Selbstverständlich gibt es diese Einstellung auch in Deutschland. Heute werden in Deutschland wieder Asylbewerberheime bzw. -unterkünfte angezündet. Leider passiert das jetzt dauernd, weil der Staat es nicht schafft, diese zu schützen. Dass da dann solche Überlegungen aufkommen, ist klar. Aber auch sonst ist es meiner Meinung nach so, dass die Verankerung dieser Auffassung vom Gewaltmonopol des Staates daran scheitert, dass es leider auch immer wieder sehr viele Beispiele dafür gibt, dass die staatliche Gewalt einseitig eingesetzt wird, dass es also entsprechende Erfahrungen mit dieser Staatsgewalt gibt. Spies: Die Staatsgewalt wird also in jedem Fall ambivalent erlebt. Ich würde jetzt gerne noch dieses vorhin kurz erwähnte Happy End bezüglich Ihres Verhältnisses zu Ihrer Partei ansprechen. 2002 wollte man Sie ein wenig abstrafen und hat Sie hier in Berlin für die Bundestagswahl auf keinen guten Listenplatz gesetzt. Daraufhin haben Sie sich hier in einem Berliner Wahlbezirk um ein Direktmandat beworben. Sie haben dieses Direktmandat nicht nur 2002 erobert, sondern 2013 nun schon zum vierten Mal. Sie haben damit erreicht, dass dort, wo man Sie einen Querulanten genannt hatte, heute mit Respekt von Ihnen gesprochen wird – selbst bei den Grünen. Und man schmückt sich nun eben gerne mit Ihnen, mit diesem alten Revoluzzergeist. Das möchte ich aber nur als dazwischengeschoben verstanden wissen. Es ist jedenfalls so, dass Sie immer noch das einzige Direktmandat für die Grünen in ganz Deutschland halten. Ströbele: Immer noch und jemals. Das ist auch etwas, auf das ich echt stolz bin. Spies: Das glaube ich. Ströbele: Wenn mich die Leute fragen, wann ich denn je zufrieden gewesen sei in der Politik, dann sage ich immer: Das war im Jahr 2002. Damals ist die neue Liste aufgestellt worden für die Bundestagswahl und dabei bin ich in der Tat nicht auf Platz 2 gekommen in Berlin. Denn dieser zweite Platz war der einzige aussichtsreiche Männerplatz auf der Liste. Aber es hatte eben ein Parteikollege bei dieser Aufstellungswahl die Mehrheit der Versammlung hinter sich gebracht. Da war ich sehr enttäuscht, weil ich das auch als eine Absage an meine Politik verstanden habe, eine Absage an meine politische Praxis in den Jahren von 1998 bis 2002, also gegenüber meinem Verhalten in Sachen Bundeswehreinsatz im Ausland usw. Diese Zurücksetzung auf der Liste hatte meiner Meinung nach eben auch damit zu tun, dass ich gegen diese Kriegseinsätze gestimmt hatte, dass ich nicht nur dagegen gestimmt, sondern sehr häufig auch öffentlich dagegen Stellung bezogen hatte, denn ich hatte ja aus meiner Meinung nie einen Hehl gemacht. In dieser Enttäuschung habe ich mich dann gefragt: "So, was mache ich jetzt?" Es gab verschiedene Varianten, was ich nun machen könnte. Ich wollte mich jedenfalls damit nicht abfinden, und eine Überlegung war eben, doch mal zu versuchen, ein Direktmandat zu bekommen. Dieses Direktmandat zu erobern, war eigentlich völlig aussichtslos. Ich habe dann einen sehr lebendigen und ganz neuen Wahlkampf gemacht, über den immerzu alle Journalisten geschrieben haben: "Der Ströbele macht das gut, aber er hat keine Chance." Denn für ein Direktmandat musste ich ja die Stimmen für die Grünen quasi verdoppeln im Vergleich zur Wahl 1998. Ich habe dann aber ganz knapp dieses Direktmandat gewonnen. Ich bin damals in der Tat drei Tage vor der Wahl von einem Rechtsradikalen, der vorher und auch nachher noch heftig in Erscheinung getreten ist, zwar nicht zusammengeschlagen worden, aber er hat mir doch einen Schlag von hinten in den Nacken verpasst. Das war morgens um acht Uhr, als ich gerade meine Handzettel verteilt habe. Nach diesem Schlag bin ich jedenfalls nur ein wenig in die Knie gegangen, denn sonst hätte ich den ja gar nicht verfolgen können. Er war zwei Köpfe größer als ich, doppelt so breit und so dick wie ich: Ich hätte also in einer direkten körperlichen Auseinandersetzung überhaupt keine Chance gehabt gegen ihn – ich war ja auch damals schon relativ alt. Aber ich bin ihm immerhin hinterher gelaufen und habe immerzu gebrüllt: "Gemeinheit! Schweinerei! Bleiben Sie stehen! Geben Sie mir Ihre Personalien!" Ich habe ihn in der Tat so lange verfolgt, bis irgendwie zufällig eine Polizeistreife vorbei kam. Diese habe ich angehalten und zur Besatzung gesagt: "Der Mann, der mich geschlagen hat, ist dort drüben in den Eingang dieses Hauses hineingegangen." Sie haben ihn tatsächlich erwischt und er ist dann auch verurteilt worden zu einem Jahr und drei Monaten. Das war im Jahr 2002 jedenfalls ein Wahlkampf, der Erfolg hatte. Und dieser Erfolg war dann eben schon mein eigener Erfolg, wie man wirklich sagen muss – und natürlich der Erfolg meines Wahlkampfteams und überhaupt der vielen Leute, die mich unterstützt haben hier bei den Grünen in Berlin. Das habe ich dann immer wieder geschafft und die Wahlergebnisse wurden sogar immer noch besser, sodass ich bei der letzten Wahl mein Direktmandat mit knapp 40 Prozent gewonnen habe – weit vor allen anderen Kandidaten. Das betrachte ich natürlich schon auch als Bestätigung meines politischen Handelns, denn ich gewinne ja bei der Erststimme jedes Mal noch einmal ungefähr so viele Stimmen hinzu, wie die Grünen bei der Zweitstimme insgesamt als Partei bekommen. Das heißt, mich müssen auch Menschen wählen, die ansonsten mit der Zweitstimme die CDU oder die SPD oder die Linken wählen. Darauf ist man natürlich stolz und ich freue mich darüber. Davon lebt ein Politiker und ich werde bis heute auf der Straße oder in S-Bahn angesprochen und die Leute sagen zu mir: "Mensch, mach weiter!" Ich bin jetzt ja doch immerhin schon 76 Jahre alt, aber die Leute sagen immer noch zu mir: "Du darfst nicht aufhören!" Das bauchpinselt einen natürlich schon, da kommt man abends nach Hause und ist zufrieden mit sich. Spies: Das soll auch so sein dürfen nach einem langen, kampferprobten Leben, in dem Sie ja auch viel einstecken mussten. Ströbele: Ja, natürlich, klar. Aber das zeigt, dass sich so etwas auch lohnen kann, dass das auch Anerkennung finden kann. Spies: Wenn man so zäh ist. Ja, das muss man wirklich sagen, da gehört … Ströbele: Ich sage das auch immer zu den jungen Menschen, die zu mir kommen und mich fragen, ob sie sich in die Politik einmischen, ob sie in eine Partei gehen sollen. Ich antworte ihnen dann immer, dass sie als Allererstes ein ganz dickes Fell brauchen und unendlich viel Geduld. Denn wenn es zehn Mal nicht geklappt hat, dann muss man eben auch noch ein elftes Mal demonstrieren, weil es dann vielleicht doch klappt. Spies: Herr Ströbele, vielen Dank für dieses Gespräch. Wir müssen leider Schluss machen, weil unsere Sendezeit zu Ende ist. Das heißt, wir haben es nicht geschafft, über Ihre Begegnung mit Edward Snowden zu sprechen, über Ihre Bemühungen, diesen NSA-Whistleblower nach Deutschland zu holen, über Ihre wichtige Rolle in der Parlamentarischen Kontrollkommission für die Geheimdienste, die ja auch ein gewisses Happy End Ihrer Lebensgeschichte und ihres politischen Lebens darstellt. Für heute ist die Sendezeit leider schon vorbei. Ich bedanke mich sehr, sehr herzlich bei Ihnen. Das, verehrte Zuschauerinnen und Zuschauer, war Hans-Christian Ströbele, Politiker der Grünen, Rechtsanwalt und ein Zeuge und Gestalter deutscher Zeitgeschichte. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit, auf Wiedersehen.

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