Plenarprotokoll 15/89

Deutscher

Stenografischer Bericht

89. Sitzung

Berlin, Freitag, den 30. Januar 2004

Inhalt:

Benennung des AbgeordnetenDr. Volker fraktionslos ...... 7898 C Wissing als nachfolgendes Mitglied im Deut- Dr. Dieter Wiefelspütz SPD ...... 7899 C schen Bundestag ...... 7881 A CDU/CSU ...... 7900 D Nachträgliche Ausschussüberweisungen . . . . 7881 B

Tagesordnungspunkt 19: Tagesordnungspunkt 18: a) Antrag der Fraktionen der CDU/CSU Erste Beratung des von der Bundesregie- und der FDP: Leitlinien für die Voll- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- endung der Bahnreform zes zur Neuregelung von Luftsicher- (Drucksache 15/2156) ...... 7902 A heitsaufgaben (Drucksache 15/2361) ...... 7881 B b) Antrag der Abgeordneten (Bayreuth), Joachim Günther , Bundesminister BMI ...... 7881 B (Plauen), weiterer Abgeordneter und Wolfgang Bosbach CDU/CSU ...... 7883 C der Fraktion der FDP: Gutachtenver- gabe zu Fahrgastrechten revidieren – BÜNDNIS 90/ Neutralen Gutachter beauftragen DIE GRÜNEN ...... 7885 D (Drucksache 15/2279) ...... 7902 A FDP ...... 7886 D Dirk Fischer () CDU/CSU ...... 7902 B Frank Hofmann (Volkach) SPD ...... 7888 C Reinhard Weis (Stendal) SPD ...... 7904 C CDU/CSU ...... 7889 D Horst Friedrich (Bayreuth) FDP ...... 7907 C Otto Schily, Bundesminister BMI ...... 7891 D Albert Schmidt (Ingolstadt) BÜNDNIS 90/ Clemens Binninger CDU/CSU ...... 7892 C DIE GRÜNEN ...... 7909 B Ernst Burgbacher FDP ...... 7893 A CDU/CSU ...... 7912 B Hans-Christian Ströbele BÜNDNIS 90/ , Parl. Staatssekretärin DIE GRÜNEN ...... 7893 B BMVBW...... 7914 C Dr. FDP ...... 7893 D CDU/CSU ...... 7916 B Wolfgang Bosbach CDU/CSU ...... 7895 B Sören Bartol SPD ...... 7918 A Hans-Christian Ströbele BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN ...... 7895 D Silke Stokar von Neuforn BÜNDNIS 90/ Tagesordnungspunkt 20: DIE GRÜNEN ...... 7896 A Zweite und dritte Beratung des von den Jürgen Herrmann CDU/CSU ...... 7896 C Fraktionen der SPD und des BÜNDNIS- Gerold Reichenbach SPD ...... 7897 B SES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten II Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 89. Sitzung. , Freitag, den 30. Januar 2004

Entwurfs eines Vierundzwanzigsten Ge- Tagesordnungspunkt 23: setzes zur Änderung des Abgeordneten- a) Antrag der Abgeordneten Dr. Christel gesetzes Happach-Kasan, Hans-Michael Gold- (Drucksache 15/2440) ...... 7919 C mann, weiterer Abgeordneter und der Dr. Uwe Küster SPD ...... 7919 D Fraktion der FDP: Distanzierung der Bundesregierung von gesetzwidri- CDU/CSU ...... 7920 D gen Zerstörungen von Freisetzungs- (Köln) BÜNDNIS 90/ versuchen mit gentechnisch verän- derten Pflanzen DIE GRÜNEN ...... 7921 C (Drucksache 15/1825) ...... 7934 A Jörg van Essen FDP ...... 7922 C b) Antrag der Abgeordneten Dr. Christel Happach-Kasan, Hans-Michael Goldmann, weiterer Abgeordneter und Tagesordnungspunkt 22: der Fraktion der FDP: Freilandversu- che mit gentechnisch veränderten a) Antrag der Abgeordneten Michael Apfelsorten in Pillnitz und Quedlin- Müller (Düsseldorf), Astrid Klug, wei- burg durchführen terer Abgeordneter und der Fraktion (Drucksache 15/2352) ...... 7934 B der SPD, der Abgeordneten , Dr. Reinhard Loske, weite- Dr. Christel Happach-Kasan FDP ...... 7934 C rer Abgeordneter und der Fraktion des Dr. Gerald Thalheim, Parl. Staatssekretär BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN so- BMVEL ...... 7936 A wie der Abgeordneten , Birgit Homburger, Rainer Brüderle Dr. Christel Happach-Kasan FDP ...... 7937 A und der Fraktion der FDP: Einrich- CDU/CSU ...... 7937 D tung eines parlamentarischen Beira- tes für nachhaltige Entwicklung BÜNDNIS 90/ (Drucksache 15/2441) ...... 7923 B DIE GRÜNEN ...... 7939 B b) Bericht des Ausschusses für Bildung, Dr. Christel Happach-Kasan FDP ...... 7940 D Forschung und Technikfolgenabschät- Christa Reichard (Dresden) CDU/CSU . . . . 7941 B zung gemäß § 56 a der Geschäftsord- nung: Technikfolgenabschätzung hier: Sachstandsbericht – „Lang- Zusatztagesordnungspunkt 6: zeit- und Querschnittsfragen in eu- ropäischen Regierungen und Parla- Aktuelle Stunde auf Verlangen der Frak- menten“ tion der CDU/CSU: Zukunft der Pflege- (Drucksache 15/2129) ...... 7923 B versicherung CDU/CSU ...... 7942 B in Verbindung mit , Bundesministerin BMGS . . . . 7943 C (Münster) FDP ...... 7945 B Zusatztagesordnungspunkt 5: Petra Selg BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . 7946 D Antrag der Fraktion der CDU/CSU: Dr. Gesine Lötzsch fraktionslos ...... 7948 A Einrichtung eines Zukunftsaus- Verena Butalikakis CDU/CSU ...... 7948 D schusses (Drucksache 15/2387) ...... 7923 C Erika Lotz SPD ...... 7949 D Michael Müller (Düsseldorf) SPD ...... 7923 C Hildegard Müller CDU/CSU ...... 7951 A BÜNDNIS 90/ Dr. Günter Krings CDU/CSU ...... 7924 D DIE GRÜNEN ...... 7952 B Winfried Hermann BÜNDNIS 90/ Matthias Sehling CDU/CSU ...... 7953 B DIE GRÜNEN ...... 7926 B SPD ...... 7954 B Michael Kauch FDP ...... 7927 D CDU/CSU ...... 7956 A Dr. CDU/CSU ...... 7929 A Dr. Marlies Volkmer SPD ...... 7957 A Astrid Klug SPD ...... 7930 B Annette Widmann-Mauz CDU/CSU ...... 7957 D CDU/CSU ...... 7932 B Horst Schmidbauer (Nürnberg) SPD ...... 7959 B Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 89. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2004 III

Nächste Sitzung ...... 7960 D Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung der Anlage 1 Anträge: Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 7961 A – Distanzierung der Bundesregierung von gesetzwidrigen Zerstörungen von Freisetzungsversuchen mit gen- Anlage 2 technisch veränderten Pflanzen Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung der – Freilandversuche mit gentechnisch Anträge: veränderten Apfelsorten in Pillnitz und Quedlinburg durchführen – Leitlinien für die Vollendung der Bahnreform (Tagesordnungspunkt 23 a und b) – Gutachtenvergabe zu Fahrgastrech- Matthias Weisheit SPD ...... 7962 C ten revidieren – Neutralen Gutach- ter beauftragen (Tagesordnungspunkt 19 a und b) Anlage 4 Dr. Gesine Lötzsch fraktionslos ...... 7962 A Amtliche Mitteilungen ...... 7963 C

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 89. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2004 7881

(A) (C) Redetext

89. Sitzung

Berlin, Freitag, den 30. Januar 2004

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident : Gefahren konfrontiert sind, die die bisherigen Dimensio- Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die nen, die wir aus der Vergangenheit kennen, bei weitem Sitzung ist eröffnet. übersteigen. Seit dem 11. September 2001 sieht die Welt Als Nachfolger für die verstorbene Kollegin Marita anders aus als zuvor. Wir müssen uns auf diese Gefahren Sehn hat der AbgeordneteDr. am einstellen und dürfen in der Wachsamkeit nicht nachlas- 23. Januar 2004 die Mitgliedschaft im Deutschen Bun- sen. destag erworben. Ich begrüße den neuen Kollegen sehr Neue Sicherheitserfordernisse brauchen auch eine herzlich. klare rechtliche Grundlage. Die rechtlichen Grundlagen (Beifall) müssen praxisnah und übersichtlich sein. Daher hat die Bundesregierung einen Gesetzentwurf zur Neuregelung Interfraktionell ist vereinbart worden, die Gesetzent- von Luftsicherheitsaufgaben vorgelegt, den wir heute würfe der Bundesregierung zum Telekommunikations- beraten. (B) gesetz auf Drucksachen 15/2316 und 15/2345 und zur (D) Anpassung des Baugesetzbuches an EU-Richtlinien auf Das neue Gesetz fasst erstmals alle Regelungen zu- Drucksache 15/2250 jeweils dem Ausschuss für Touris- sammen, die der Abwehr von Gewaltakten gegen den mus nachträglich zur Mitberatung zu überweisen. Sind Luftverkehr dienen. Wir könnten als Leitsatz formulie- Sie damit einverstanden? – Ich höre keinen Wider-ren: Luftsicherheit aus einer Hand. spruch. Dann ist so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf: Neben den Regelungen zum Einsatz der Streitkräfte handelt es sich insbesondere um die Vorschriften hin- Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- sichtlich der Eigensicherungsmaßnahmen der Flugha- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neure- fenbetreiber und Luftfahrtunternehmen, die hoheitli- gelung von Luftsicherheitsaufgaben chen Maßnahmen zur Kontrolle der Passagiere und ihres – Drucksache 15/2361 – Gepäcks sowie die Regelungen über die Zuverlässig- Überweisungsvorschlag: keitsüberprüfung von Personengruppen im Bereich der Innenausschuss (f) Luftfahrt. Auswärtiger Ausschuss Rechtsausschuss Die Zusammenfassung dieser Regelungen steht auch Verteidigungsausschuss im Einklang mit der internationalen Entwicklung. Auch Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Tourismus andere Staaten haben sich entschlossen, Neuregelungen zu treffen. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. – Ich Auf europäischer Ebene ist die am 19. Januar vergan- höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. genen Jahres in Kraft getretene Luftsicherheitsverord- Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Bundes- nung maßgeblich. Ein Regelungsausschuss wird in den minister Otto Schily das Wort. nächsten Jahren kontinuierlich Duchführungsbestim- mungen beschließen. Diese werden zum Teil auch eine (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Anpassung nationaler Luftsicherheitsbestimmungen er- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) forderlich machen. Ein eigenständiges Luftsicherheits- gesetz erleichtert diese Anpassungen und vereinfacht Otto Schily, Bundesminister des Innern: den Anwendern den Überblick über die einschlägigen Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen! Vorschriften. Andere Länder verfügen schon jetzt über Ich denke, wir sind uns alledarüber einig, dass wir mit ein solches Regelwerk. 7882 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 89. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2004

Bundesminister Otto Schily (A) Im internationalen Vergleich haben die Luftsicher-im Oktober letzten Jahres mit Vertretern von 29 Staaten (C) heitsmaßnahmen in Deutschland ein sehr hohes Niveau. Möglichkeiten einer intensiveren Zusammenarbeit auch Das wird auch international anerkannt. Das war schon auf dem Gebiet der Aus- und Fortbildung erörtert wor- weit vor dem 11. September 2001 der Fall. Gleichwohl den. Ich möchte an dieser Stelle gerade den Beamten, die hat die Bundesregierung unmittelbar nach den Anschlä- diese schwierige Aufgabe übernommen haben, beson- gen in den USA das gesamte System der nationalenders herzlich danken. Luftsicherheitsmaßnahmen überprüft und Maßnahmen (Beifall im ganzen Hause) zu seiner Verbesserung ergriffen. Ich habe eine Reihe von Gesprächen auch mit den Chefs der entsprechenden Das Einsatzkonzept für Flugsicherheitsbegleiter erfor- Unternehmen geführt. dert aber eine strikt vertrauliche Behandlung der Details, wie sich jeder denken kann. Daher wird über Einzelhei- Wir brauchen allerdings zur Sicherung des Luftver- ten der konkreten Personalstärke, der Vorgehensweisen, kehrs auch ein hohes Maß an Engagement und Eigenver- der Bewaffnungen und der technischen Ausstattungen in antwortung der Wirtschaft, also der privaten Infrastruk- der Öffentlichkeit nicht diskutiert. Dafür muss ich die turbetreiber. Ziel der gemeinsamen Anstrengungen muss Damen und Herren der Presse um Verständnis bitten. ein zuverlässiges, in sich schlüssiges und umfassendes Gesamtsystem sein. Wirksame Sicherheit entsteht durch Einen wichtigen Beitrag zur Erhöhung der Luftsicher- ein Ineinandergreifen einer Vielzahl von Vorkehrungen heit stellt dieEinführung biometrischer Verfahren und Kontrollmaßnahmen. Wir sprechen daher – das habe dar. Die Erfassung biometrischer Merkmale – seien es ich schon in der Vergangenheit immer getan – von einem Fingerabdrücke, Lichtbilder oder Irisfotos – erleichtert gestaffelten Schutzsystem. nicht nur die Identifikation von einreisenden Personen und Passagieren, sondern dient vor allem auch der zu- Nach den Terroranschlägen in den USA sind zunächst verlässigen Verifikation, also der eindeutigen Zuordnung die Kontrollmaßnahmen auf den deutschen Flughäfen von Dokumenten zu ihren Inhabern. verstärkt worden, und zwar insbesondere für sämtliche Flüge in die USA und nach Israel sowie für britische Vor der Einführung neuer Techniken müssen diese je- Luftverkehrsunternehmen, weil dort besondere Gefah- doch in der Praxis getestet werden und so weit wie mög- renlagen angenommen werden müssen. Wir habenlich international standardisiert sein. Die Bundesregie- außerdem eine jährlich zu wiederholende Zuverlässig- rung setzt sich daher maßgeblich für ein abgestimmtes keitsüberprüfung für das Personal in sicherheitsempfind- Vorgehen der Europäischen Union und der G-8-Staaten lichen Bereichen der Flughäfen verbindlich eingeführt. ein. Das nächste Biometrieprojekt in Deutschland ist die Diese Überprüfung wird mit dem vorliegenden Gesetz- automatisierte und biometriegestützte Grenzkontrolle, entwurf noch einmal verschärft. die der Bundesgrenzschutz auf dem Frankfurter Flugha- (B) (D) fen starten wird. In zwei Wochen werden wir mit einem In internationalen Verhandlungen konnte eine rasche sechsmonatigen Praxistest beginnen. Einigung über den Einbau schusssicherer Cockpittü- ren erreicht und umgesetzt werden. Auch aufgegebenes Die zahlreichen und aufeinander abgestimmten vor- Reisegepäck wird inzwischen zu 100 Prozent überprüft. beugenden Maßnahmen gewährleisten ein außerordent- Seit dem 19. Januar dieses Jahres werden ebenfalls Wa- lich hohes Maß an Sicherheit. Die Qualitätsanforderun- ren und Personal im Sicherheitsbereich auf Flughäfen gen sind enorm. Wir müssen uns aber auch die entsprechenden Sicherheitskontrollen unterzogen. Da- quantitative Herausforderung noch einmal vor Augen bei werden die betrieblichen Erfordernisse der Flugha- führen: Weltweit reisen jährlich mehr als 1,6 Milliarden fenbetreiber selbstverständlich angemessen berücksich- Passagiere mit dem Flugzeug. Allein in Deutschland gab tigt. es im vergangenen Jahr rund 120 Millionen Fluggäste. Angesichts dieser Zahlen wäre es fahrlässig, einVersa- In das Gesamtkonzept gehört auch der Einsatz von gen des Schutzsystems nicht in Betracht zu ziehen. Wir Flugsicherheitsbegleitern in deutschen Luftfahrzeugen. müssen auch an den Ernstfall denken, dass ein Flugzeug Der Bundesgrenzschutz hat damit schon wenige Tage in die Hände von Terroristen oder eines verwirrten Ein- nach den Anschlägen in den USA begonnen. Ich freue zeltäters fällt, wie wir es damals in Frankfurt erlebt ha- mich darüber, dass wir in dieser Frage auch mit der ame- ben. rikanischen Regierung, insbesondere mit dem neuen Mi- nister für Homeland Security, Tom Ridge, gut zusam- Diesem hypothetischen Fall, der hoffentlich nie ein- menarbeiten. Beim BGS in Frankfurt am Main habe ich treten wird, trägt der dritte Abschnitt dieses Gesetz- eine Inspektion „Sicherheit im Luftverkehr“ einrichten entwurfs Rechnung; er regelt die Unterstützung und lassen, die den Einsatz der Flugsicherheitsbegleiter orga- Amtshilfe der Streitkräfte bei schwerwiegenden Gefah- nisiert sowie eine beständige Analyse und Auswertung renlagen, in denen die Länder nicht über die personelle lagerelevanter Erkenntnisse durchführt. und technische Ausstattung zum Handeln verfügen. Vo- raussetzung für rasches, effizientes und verantwortbares Die Anforderungen an Flugsicherheitsbegleiter sind Handeln in diesem Bereich sind Rechtssicherheit und außergewöhnlich hoch, gerade weil sie unter den übri- Rechtsklarheit, zumal für die Soldatinnen und Soldaten gen Fluggästen unauffällig bleiben und nur im Ernstfall der Bundeswehr. eingreifen sollen. Der Bundesgrenzschutz hat diesbezüg- lich in den vergangenen zwei Jahren vorbildliche Arbeit Die Bundesregierung hat sich daher entschlossen, den geleistet. Auf einer internationalen Tagung für Flugsi- durch die Verfassung bereits erlaubten Einsatz der Streit- cherheitsbegleiter in der Grenzschutzschule Lübeck sind kräfte zur Bekämpfung schwerer Gefahren, die aus dem Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 89. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2004 7883

Bundesminister Otto Schily (A) Luftraum kommen, näher auszugestalten. Dies geschieht scheidungsträger in Bezug auf die Luftsicherheitslage(C) im Rahmen der bewährten Sicherheitsarchitektur. Der und die bestehenden Handlungsoptionen. Die Länder Auftrag der Streitkräfte wird nicht erweitert, sondern nur sind in die Informations- und Kommunikationsabläufe konkretisiert. Dieser Punkt ist besonders wichtig; wir einbezogen. Hierzu wurde eine Vereinbarung über die sollten die Abgrenzung zwischen polizeilichen und mili- entsprechenden Melde- und Alarmierungswege getroffen. tärischen Aufgaben nicht aufgeben. Meine Damen und Herren Kollegen, mit dem neuen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Luftsicherheitsgesetz stellen wir den Schutz der zivilen des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Luftfahrt vor kriminellen und terroristischen Angriffen FDP) auf eine solide und übersichtliche Grundlage. Ich hoffe darauf, dass wir alle uns der besonderen Verantwortung Auf Basis von Art. 35 des Grundgesetzes schafft das bewusst sind und die Debatte konstruktiv und sachlich neue Luftsicherheitsgesetz eine solide Voraussetzung für führen werden. die Streitkräfte, um die Polizei bei ihren Aufgaben wirk- sam zu unterstützen, wenn dies die einzige Möglichkeit Vielen Dank. zur Abwendung einer Gefahr für das Leben von Men- schen ist. Der Gesetzentwurf regelt in sehr engen Gren- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ zen auch die Zulässigkeit eines Flugzeugabschusses. Es DIE GRÜNEN) wäre unredlich und unverantwortlich, einer Erklärung gerade in diesem extremen Fall auszuweichen. In unse- Präsident Wolfgang Thierse: rer Demokratie kann nur die Politik eine derart schwere Ich erteile das Wort dem Kollegen Wolfgang Verantwortung übernehmen. Wir dürfen diese Last nicht Bosbach, CDU/CSU-Fraktion. den Soldatinnen und Soldaten aufbürden. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Wolfgang Bosbach (CDU/CSU): BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach die- Nur der Verteidigungsminister kann seinen Piloten einen ser dynamischen Rede des Innenministers können wir entsprechenden Befehl geben. nichts anderes sagen als: Die Unionsfraktion begrüßt die Absicht der Bundesregierung, durch diesen Gesetzent- Die Bundesregierung ist sich der Bedeutung undwurf den Schutz des Luftverkehrs vor kriminellen und Komplexität einer solchen Regelung bewusst. Unser Ge- terroristischen Angriffen zu erhöhen und den Einsatz der setzentwurf sieht keine Änderungen des Grundgesetzes Bundeswehr, genauer gesagt: unserer Luftwaffe, zur Ab- vor. Im weiteren Verlauf der Beratungen sollten wir aber (B) wehr von Gefahren aus der Luft gesetzlich zu regeln.(D) vorurteilsfrei prüfen, ob eine Klarstellung in Art. 35 des Das gilt insbesondere für die Fälle, in denen ein ziviles Grundgesetzes notwendig erscheint oder empfehlens- Flugzeug gestohlen oder mit Gewalt entführt und von wert ist, den Tätern zu einer todbringenden Waffe umfunktioniert (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Hört! Hört!) wird. ohne den materiellen Inhalt dieser Vorschrift zu verän- Die Gewährleistung der inneren Sicherheit ist zwar dern. Es geht also nur um die Ausdrucksweise in diesem grundsätzlich Aufgabe der Länder. In besonderen Gefah- Artikel und nicht um den substanziellen Inhalt, der – da- renlagen aber kann es im wahrsten Sinne des Wortes not- von sind wir überzeugt – eine solche Regelung bereits wendig sein, dem Bund unmittelbar Kompetenzen zu trägt. übertragen. Bei Angriffen aus der Luft dürfte es fast im- mer der Fall sein, dass mehrere Länder betroffen sind. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Da bei dem Tempo und der Reichweite moderner Flug- Die genauen Konstellationen, in denen gekapertezeuge territoriale Zuständigkeiten in wenigen Minuten, Flugzeuge als Waffen gegen Menschen missbrauchtja in Sekunden wechseln können, ist eine Kompetenz werden können, kennen wir nicht. Das Gesetz soll daher des Bundes bei solchen Gefahrenlagen nicht nur sinn- eine generelle Grundlage für das Zusammenwirken aller voll, sondern auch dringend geboten. Gerade dann brau- Beteiligten auf Landes- und Bundesebene schaffen. Die chen wir schnelle Entscheidungsprozesse und kurze Re- Länder behalten ihre Zuständigkeiten und wirken imaktionszeiten. Rahmen ihrer Zuständigkeit an der Gefahrenabwehr mit. Wir begrüßen auch, dass sich die Bundesregierung Um im Ernstfall ein schnelles Handeln tatsächlich zu nicht von den zum Teil wirklich haarsträubenden Argu- gewährleisten, haben wir bereits einNationales Lage- menten aus den eigenen Reihen gegen das Gesetz hat ir- und Führungszentrum Luftsicherheit eingerichtet. Ich ritieren lassen. habe es zusammen mit meinem Kabinettskollegen Struck vor einiger Zeit besucht. Seit dem 1. Oktober 2003 sind in ( [SPD]: Welche denn?) Kalkar Soldaten und Beamte des Bundesgrenzschutzes – Es gab zum Beispiel den Vorwurf, das sei eine Lizenz rund um die Uhr im Einsatz. Ihre Aufgaben sind die Zu- zum Töten. Mit den Regelungen dieses Gesetzes aber sammenfassung, Bewertung und Steuerung aller vorhan- sollen Menschenleben gerettet werden. denen Informationen über die Luftsicherheitslage im deutschen und benachbarten Luftraum, die Einleitung (Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der von operativen Maßnahmen sowie die Beratung der Ent- SPD) 7884 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 89. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2004

Wolfgang Bosbach (A) Gegen einzelne Regelungen des Entwurfs sind von- zu handeln. Wer ihnen dies verweigert, handelt unver-(C) seiten der Länder zum Teil erhebliche fachliche Beden- antwortlich. ken geltend gemacht worden. Auch die Unionsfraktion (Beifall bei der CDU/CSU) sieht an mehreren Stellen Korrekturbedarf. Das möchte ich aber nicht weiter ausführen, zumal die Kollegen Zwar kann die Bundeswehr schon heute im Innern Clemens Binninger und Jürgen Herrmann hierzu noch eingesetzt werden, zum Beispiel bei der Bewältigung sprechen werden. von Naturkatastrophen oder im Spannungs- und Vertei- digungsfall, aber eben nur in den Fällen, in denen es das Der entscheidende Einwand gegen den Gesetzentwurf Grundgesetz ausdrücklich erlaubt. DieAbwehr terro- besteht darin, dass gegen ihn erhebliche verfassungs-ristischer Gefahren im Allgemeinen gehört jedenfalls rechtliche Bedenken bestehen. nicht dazu. Das gilt selbst dann, wenn nur die Bundes- (Beifall bei der CDU/CSU) wehr, nicht aber die Polizeien des Bundes und der Län- der über die Fähigkeiten verfügt, die zur Gefahren- Der geplante Einsatz der Streitkräfte zur Abwehr vonabwehr notwendig und daher zum Schutz der Gefahren aus der Luft dürfte ohne eine Änderung oder Bevölkerung unverzichtbar sind. Ergänzung des Grundgesetzes verfassungswidrig sein. Der Einsatz der Bundeswehr im Innern kann auch Deshalb kann die Bundesregierung nicht erwarten, dass nicht auf Art. 35 Abs. 2 des Grundgesetzes mit der Pas- wir diesem Gesetz vorbehaltlos zustimmen. Gerade weil sage „Hilfe ... bei einem besonders schweren Unglücks- den Streitkräften mit diesem Gesetz sehr weit reichende fall“ gestützt werden. Es ist ja gerade streitig, ob die Befugnisse zur Abwehr von Gefahren bei Inlandstaten Streitkräfte nur für die Bewältigung der Folgen eines be- übertragen werden, ist es zwingend notwendig, ihrenreits eingetretenen Unglücksfalls oder auch zu dessen Einsatz auf eine verlässliche Rechtsgrundlage zu stellen. Verhinderung eingesetzt werden dürfen. Es ist daher not- Genau daran fehlt es. wendig, das Grundgesetz zu ändern oder zu ergänzen Durch ein einfaches Parlamentsgesetz kann dies je- – je nach Sprachgebrauch –, um den Einsatz der Streit- denfalls dann nicht geschehen, wenn dessen Regelungen kräfte im Innern zur Abwehr terroristischer Gefahren im Widerspruch zu unserer Verfassung stehen, und das – nur darum geht es – auf eine sichere Rechtsgrundlage ist der Fall. Diese Rechtsansicht wird im Übrigen auch zu stellen. von elf der 16 Bundesländer im zuständigen Fachaus- Natürlich wird diese Forderung auch heute wieder re- schuss des Bundesrates ausdrücklich geteilt, im Proto- flexartige Empörung bei der Koalition, insbesondere bei koll nachzulesen. Wer sagt, dass im Bundesrat keine ver- den Grünen, auslösen. Die würde sich dann allerdings fassungsrechtlichen Bedenken erhoben wurden, sagtauch gegen den eigenen Verteidigungsminister, gegen (B) (D) nicht die Wahrheit. Peter Struck, richten, der bis zu seiner Domestizierung mittels Kabinettsdisziplin selber eine Änderung des Durch den Gesetzentwurf werden den Streitkräften Grundgesetzes gefordert hat. Selbst der Innenminister bei Inlandstaten eigene Befugnisse übertragen. Sie kön- hat nicht erst heute, sondern bereits im Oktober letzten nen aber nach Art. 35 Abs. 2 und 3 GG nur zur Unter- Jahres eine Ergänzung des Grundgesetzes zur recht- stützung der Länderpolizeien eingesetzt werden. Es ist lichen Klarstellung nicht ausgeschlossen. Demgegen- unstreitig, dass dann dieEntscheidungsgewalt dem je- über hält der verehrte Kollege Dr. Wiefelspütz eine Er- weiligen Land obliegt und das Handeln der Streitkräfte gänzung des Grundgesetzes nicht für erforderlich, und im Rahmen der Amtshilfe den Länderpolizeien zuge- zwar – das muss ich zugestehen – mit einer wirklich rechnet wird. Danach können die Streitkräfte im Rah- nicht unoriginellen Begründung. men der Amtshilferegelungen nur von den Befugnissen Gebrauch machen, die ihnen durch das jeweilige Lan- (Dr. Michael Bürsch [SPD]: Ja, so ist er!) desrecht eingeräumt werden. Der Gesetzentwurf sieht je- Er räumt zwar – ich zitiere – gewisse interpretatorische doch den Einsatz der Streitkräfte aus eigenem Recht vor, Schwierigkeiten ein, fügt aber hinzu, mit einer – so wört- mit einer Entscheidungsgewalt des Bundesministers der lich – mutigen Auslegung des Grundgesetzes könne man Verteidigung und mittels bundesgesetzlicher Befugnisse. den Gesetzentwurf durchaus als verfassungskonform be- Damit überschreitet der Gesetzentwurf die Grenzen der zeichnen. Amtshilfevorschriften des Grundgesetzes. (Heiterkeit bei der CDU/CSU – Hartmut Gerade im Hinblick auf den extremen Fall, in dem ein Koschyk [CDU/CSU]: Nur Mut!) gekapertes und zu einer tödlichen Angriffswaffe um- funktioniertes Flugzeug nur noch durch die Luftwaffe Umgangssprachlich formuliert: Wir biegen uns das zur Umkehr oder zur Landung gezwungen oder durch Grundgesetz zurecht und tun einfach mal so, als ob der Abschuss zum Absturz gebracht werden kann, dürfen Gesetzentwurf dem Grundgesetz entspräche. Das ist sich weder dem Inhaber der Befehlsgewalt noch denVerfassungsrecht à la Wowereit. Ausführenden offene rechtliche Fragen stellen. (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU) So darf man mit unserem Grundgesetz nicht umgehen. Gerade diejenigen, die in einer solchen Extremsituation Selbst die Vertreter der „Das ist doch alles vom die Verantwortung tragen, haben einen Anspruch darauf, Grundgesetz gedeckt“-Theorie bestreiten nicht, dass ihre auf einer sicheren Rechtsgrundlage zu entscheiden und Rechtsansicht streitig ist. Aber gerade in extremen Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 89. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2004 7885

Wolfgang Bosbach (A) Situationen, in denen in kürzester Zeit weitreichendespiel lebenswichtiger Infrastruktureinrichtungen, einset- (C) Entscheidungen mit möglicherweise schwerwiegenden zen können, Folgen getroffen werden, darf es keine schwerwiegen- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE den rechtlichen Zweifel geben. GRÜNEN]: Aha! Da wollen Sie doch mehr! (Beifall bei der CDU/CSU) Das hat nichts mehr mit Luftverkehr zu tun!) Die Verantwortlichen müssen sich darauf verlassen obwohl wir eine ganz konkrete Gefährdungslage haben können, dass ihr Handeln verfassungskonform ist. Für und die Polizeien der Länder und des Bundes diese not- diejenigen, die die Entscheidung über die Alternativen wendige Aufgabe nicht mehr übernehmen können, weil treffen müssen, geht es um eine Entscheidung über Le- sie aufgrund der besonderen Gefährdungen schon jetzt ben und Tod. Jede Entscheidung kann fatal falsch sein. an ihre Grenzen stoßen. Es stellt sich da nur die Frage, Es kann fatal falsch sein, ein Flugzeug zum Absturz zu ob wir die Bevölkerung schutzlos lassen oder nicht. Uns bringen, und es kann fatal falsch sein, es nicht zum Ab- geht es darum, die Bundeswehr zur Abwehr terroris- sturz zu bringen. Wenn etwas passiert, wird selbstver- tischer Gefahren auch dann im Inland einsetzen zu kön- ständlich zu prüfen sein, ob der Befehl rechtmäßig erteilt nen, wenn nur sie über diejenigen Fähigkeiten verfügt, worden ist. Wollen wir denn auch die Entscheidung die- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE ser Frage dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe GRÜNEN]: Also wollen Sie sie doch überall überlassen? einsetzen, auch auf dem Land! – Zurufe von der SPD) (Beifall des Abg. Hartmut Koschyk [CDU/ CSU]) die dringend gebraucht werden, um die Bevölkerung vor schweren Folgen schützen zu können. Das gilt beispiels- Was spricht dagegen, ins Grundgesetz zu schreiben, was weise für die Abwehr von ABC-Gefahren. Wir haben Sie angeblich selber wollen? Nichts spricht dagegen. weltweit die besten ABC-Abwehrkräfte. Es kann doch (Beifall bei der CDU/CSU) nicht sein, dass wir sie, um den Bundesverteidigungs- minister zu zitieren, am Hindukusch einsetzen können, Wahrscheinlich kommt jetzt gleich wieder die Be-aber nicht in Hildesheim, wenn dort eine Gefahr abzu- hauptung, der Union gehe es in Wahrheit nur darum, der wenden ist. Das macht doch keinen Sinn. Bundeswehr generell Polizeiaufgaben zu übertragen. (Beifall bei der CDU/CSU) (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Es wäre verantwortungslos, die Bevölkerung in einer GRÜNEN]: So ist es! – Gegenruf des Abg. solchen Situation nur deshalb schutzlos zu lassen, weil (B) (D) [CDU/CSU]: Jetzt wacht er es für den Einsatz der Bundeswehr zur Gefahrenabwehr auf! Guten Morgen!) an einer sicheren Rechtsgrundlage fehlt. Hierbei darf es Zwar wird diese falsche Behauptung auch durch stän- auch nicht darauf ankommen, ob die terroristische Ge- dige Wiederholung nicht richtig; aber wer in der Sache fahr vom Boden, von See her oder aus der Luft droht. selbst keine Argumente hat, erliegt eben der Versuchung, Wir sind zu jeder Zeit bereit, über die notwendige Än- gegen Forderungen zu polemisieren, die überhaupt nie- derung bzw. Ergänzung des Grundgesetzes mit der Bun- mand erhebt. desregierung und mit derKoalition ernsthaft und kon- struktiv zu verhandeln. Es ist Ihre Entscheidung, ob Sie Deshalb noch einmal zum Mitschreiben: Niemand in dieses Angebot annehmen oder nicht. Sollte ein Einver- der Union denkt daran, der Bundeswehr peu à peu Poli- nehmen nicht erzielbar sein, werden wir einen eigenen zeiaufgaben zu übertragen. Niemand denkt daran, sie zu Gesetzentwurf einbringen. Es ist nicht nur unser Recht, einer Art zweiten Bereitschaftspolizei zu machen, zumal sondern es ist angesichts der terroristischen Gefahren, ja nicht nur die Aufgaben, sondern auch Ausrüstung und die vom Bundesinnenminister richtigerweise regelmäßig Ausbildung von Polizisten und Soldaten völlig verschie- sehr wortreich beschworen werden, auch unsere Pflicht, den sind. Aber mittlerweile müsste eigentlich jedem klar sein, dass sich die traditionelle, in der Vergangenheit gut (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Steuer- begründete, scharfe Trennung von äußerer und inne- reform lässt grüßen! – Weitere Zurufe von der rer Sicherheit nicht mehr aufrechterhalten lässt. Die SPD) Grenzen zwischen innerer und äußerer Sicherheit ver- schwimmen angesichts der terroristischen Bedrohungen die Bevölkerung so wirksam wie möglich zu schützen. immer mehr. Hierauf müssensich sowohl der Gesetz- (Beifall bei der CDU/CSU) geber als auch die Sicherheitsbehörden in geeigneter Weise einstellen, um entsprechend reagieren zu können. Präsident Wolfgang Thierse: Hierfür ist der vorliegende Gesetzentwurf ein gutes Bei- Ich erteile das Wort Silke Stokar von Neuforn, spiel. Er dient ja gerade dazu, die Einsatzkompetenz der Bündnis 90/Die Grünen. Bundeswehr zur Abwehr von Gefahren bei Inlandstaten zu begründen. Silke Stokar von Neuforn(BÜNDNIS 90/DIE Es kann nicht richtig sein, dass wir die Bundeswehr GRÜNEN): außerhalb des Verteidigungs- und Spannungsfalles auch Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Mög- dann nicht zum Schutz ziviler Objekte, also zum Bei- lichkeit eines terroristischen Angriffs mit einem entführten 7886 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 89. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2004

Silke Stokar von Neuforn (A) zivilen Flugzeug ist seit dem 11. September 2001 keine Der Gesetzentwurf sieht zahlreiche weiterepräven- (C) Fiktion mehr, sie ist brutale Realität. Wir können nicht tive Maßnahmen vor, die eine Ergänzung zu dem sind, mehr ausschließen, dass Deutschland Ziel eines ähnli- was Rot-Grün bereits im Rahmen der Sicherheitspakete chen Terrorangriffs werden könnte. Wir tragen die Ver- auf den Weg gebracht hat. So gibt es zum Beispiel er- antwortung; wir müssen uns dieser Realität stellen. Wir weiterte Zuverlässigkeitsüberprüfungen und die Durch- müssen die Voraussetzungen dafür schaffen, mögliche suchungen werden auf das Flughafenpersonal vor dem Gefahren von den Bürgerinnen und Bürgern abwenden Zutritt zu sensiblen Bereichen des Flughafens ausge- zu können. dehnt. Sky Marshals – das wissen Sie – gibt es bereits. In intensiven Beratungsrunden haben wir die hier Wir werden in einer öffentlichen Anhörung – der wir eben von Herrn Bosbach angesprochenen verfassungs- gelassen entgegensehen; Rot-Grün hat sie selber bean- rechtlichen Fragen, die sich insbesondere aus den §§ 13 tragt – die Gelegenheit haben, auch die angesprochenen und 14 ergeben, geprüft. Meine Damen und Herren, wir verfassungsrechtlichen Fragen noch einmal intensiv zu würden als grüne Fraktion – das Gleiche gilt für die SPD erörtern. Ich habe es sehr begrüßt, Herr Bosbach, dass und für die Bundesregierung – nicht hier vor das Parla- der Bundesrat in seinen Einwendungen und in seiner ment treten und Ihnen ein Gesetz vorlegen, wenn wirschriftlichen Stellungnahme mit den 42 Änderungspunk- Zweifel hätten, dass dieses Gesetz verfassungsgemäß ist. ten, die uns vorliegt, keine Bedenken verfassungsrechtli- cher Art geäußert hat. Ich bitte auch die CDU/CSU- Nach sorgfältiger Prüfung unter Einbeziehung derFraktion, bei dem Luftsicherheitsgesetz zu bleiben – Sie Verfassungsreferate aller Ministerien und weiterer Ver- würden sonst dem gemeinsamen Anliegen schaden – fassungsrechtler sind wir zu der Auffassung gelangt,und keine allgemeine Debatte über den Einsatz der Bun- dass das Gesetz verfassungsgemäß ist. Wir sehen keiner- deswehr im Innern zu führen. Wir sehen für einen sol- lei Veranlassung, in Zusammenhang mit dem Luftsicher- chen Einsatz keinen Anlass; wir sehen ihn als schädlich heitsgesetz über eine Verfassungsänderung zu diskutie- an. Wir sind der Auffassung, dass die deutsche Sicher- ren. Ich sage es ganz deutlich: Jede Klarstellung, jede heitsarchitektur verlässlich und gut ist. Ergänzung würde eine Änderung unseres Grundgesetzes nach sich ziehen. Unser Grundgesetz ist klar; Danke schön. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Unklar!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) das Luftsicherheitsgesetz ist verfassungskonform. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Präsident Wolfgang Thierse: und bei der SPD) Ich erteile das Wort Kollegen Ernst Burgbacher, FDP- (B) (D) Fraktion. Der Einsatz der Luftstreitkräfte ist die Ultima Ratio; er ist beschränkt auf den Fall, dass ein Flugzeug von Ter- roristen entführt und als „fliegende Bombe“ gegen das Ernst Burgbacher (FDP): Leben am Boden eingesetzt wird, erfolgt also nur, wenn Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der er das einzige Mittel ist, um eine schwerwiegende Ge- vorliegende Gesetzentwurf berührt außerordentlich fahr für das Leben einer Vielzahl von Menschen abzu- schwierige politische und verfassungsrechtliche, vor al- wenden. lem aber auch schwierige ethische Fragen. Meine Damen und Herren, wir schaffen mit diesem (Dr. Max Stadler [FDP]: Das muss einmal the- deutschen Luftsicherheitsgesetz – der Herr Innenminis- matisiert werden!) ter hat es gesagt – auch nichts gänzlich Neues. Bei einem Herr Bundesminister Schily, ich sichere Ihnen aus- Angriff von außen – wenn etwa ein Flugzeug in Paris drücklich zu: Die FDP-Fraktion wird ergebnisoffen in startet und in den deutschen Luftraum eindringt – ist diesen Diskussionsprozess gehen. Wir sehen der Anhö- schon heute nach Art. 115 a des Grundgesetzes die Zu- rung mit Spannung entgegen und erwarten, dass dabei ständigkeit der Bundeswehr im Luftverkehr gegeben. nicht nur Verfassungsrechtler, sondern auch Luftfahrt- Außerdem gibt es eine entsprechende NATO-Verord- und Luftsicherheitsexperten befragt werden. Auch in nung. Die meisten europäischen Länder haben diese Mi- dem Bereich der Luftsicherheit gibt es eine ganze Reihe litärverordnung übernommen. Es gibt eine Regelungslü- von Problemen, die nach unserer Ansicht bisher noch cke lediglich bei deutschen Inlandsflügen. nicht gelöst sind. Meine Damen und Herren, ich komme zu einigen In einem weiten Bereich, was die Sicherheit an Flug- weiteren Aspekten des Luftsicherheitsgesetzes. Ich gehe häfen, die Überprüfung von Passagieren und von Perso- davon aus, dass wir uns einig sind, dass wir präventiv al- nal betrifft, sind wir uns weitgehend einig. Darüber brau- les tun müssen, dass der schlimmste Fall nie Wirklich- chen wir heute nicht zu diskutieren. keit wird. Die Sicherheit in der Luft fängt am Boden an. Am Boden müssen wir präventiv tätig werden, um Kata- Es gibt trotzdem viele Fragen und erhebliche Zweifel strophen in der Luft zu verhindern. Die Zustimmung zu und Bedenken bei der FDP-Fraktion, die ich trotz meiner den erweiterten Kontrollen, Zuverlässigkeitsprüfungen kurzen Redezeit ansprechen will. Der Bundesrat hat in und neuen Dateien ist uns nicht leicht gefallen. Um aber seiner Stellungnahme gesetzestechnische Bedenken im Vorfeld zu verhindern, dass es zu einer Katastrophe erhoben, die nicht von der Hand zu weisen sind. Der kommt, haben wir diesen Regelungen zugestimmt. Bundesrat hat moniert, dass dieVerteilung der Rege- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 89. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2004 7887

Ernst Burgbacher (A) lungsbereiche auf das Luftverkehrsgesetz und das Luft- Getreu dem Motto „Wir haben ja etwas getan“ wer- (C) sicherheitsgesetz künftig den Überblick über die Rechts- den Vorschriften erlassen, über die Fachleute nur materie erschwert. Dies ist auch unsere Meinung. Es den Kopf schütteln können. wäre daher besser gewesen, Herr Innenminister, das (Sebastian Edathy [SPD]: Machen Sie sich das Luftsicherheitsgesetz auf den zentralen Regelungsge- zu Eigen?) genstand zu beschränken, nämlich auf die Frage des Ein- satzes der Luftwaffe. Wir müssen schon fragen – wir tun das auch in der Anhörung –, welche praktischen Konsequenzen das Ge- (Beifall bei der FDP) setz hat. Ein weitere Frage. Im Gesetz ist ständig von einer (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Luftsicherheitsbehörde die Rede. Es fehlen aber Infor- GRÜNEN]: Es regelt die Zuständigkeit! Das mationen zu dieser Behörde. Die Warnung des Bundes- ist doch vernünftig!) rates vor Synergieverlusten wird in der Gegenäußerung der Bundesregierung nicht wirklich entkräftet. Herr Minister, Sie haben den Fall des Sportflugzeuges über Frankfurt angesprochen. Hat man eigentlich jemals Wir erleben zurzeit in vielen Bereichen rot-grüner Po- ernsthaft darüber diskutiert, was die Alternative war und litik, ganz besonders in der Innenpolitik: Es werden Be- welcher Schaden hätte entstehen können? Was geschähe hörden geschaffen, Behörden umbenannt, umstruktu-eigentlich, wenn ein großes Zivilflugzeug aufgrund tech- riert, Standorte verlagert, Stichwort: Verlegung desnischer Schwierigkeiten, zum Beispiel durch den Ausfall BKA, und es wird – dies ist ein weiteres Beispiel – die der Bordelektronik, in die Nähe eines Kernkraftwerks Errichtung eines Bundesamtes für Bevölkerungsschutz oder eines anderen hochsensiblen Bereichs gelangen und Katastrophenhilfe geplant. würde und seitens der Behörden und der Politik als ge- fährliches Objekt eingestuft würde? Wer will hier den Meine Damen und Herren von Rot-Grün, es nutzt uns Befehl zum Abschuss erteilen? Was ist mit dem Leben nichts, wenn wir jetzt in blinden Aktionismus verfallen. der Flugzeuginsassen? Wir müssen uns auch fragen: Welche Alternativen gibt es? All das sind Fragen, die (Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast [SPD]: Wer wir auf der Expertenanhörung stellen werden. Deshalb macht das denn? – Sebastian Edathy [SPD]: werden wir Wert darauf legen, dass insbesondere auch Fragen Sie einmal Herrn Bosbach!) Luftfahrt- und Luftsicherheitsexperten befragt werden. Das hat noch nie zur Lösung beigetragen, sondern hat Eine ganz große Skepsis verursachen die verfassungs- die Probleme eher verschärft. rechtlichen und rechtspraktischen Aspekte bei uns. Es (B) heißt unter dem Stichwort „Grundrechtseinschränkun-(D) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – gen“ in § 22 des Gesetzentwurfes: Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Auf welcher Veranstaltung sind Sie eigentlich? Sie sind auf Die Grundrechte auf Leben, körperliche Unver- der falschen Veranstaltung!) sehrtheit und Freiheit der Person … und das Grund- recht des Postgeheimnisses … werden nach Maß- Wir sollten die Mitarbeiter der Behörden jetzt nicht ver- gabe dieses Gesetzes eingeschränkt. unsichern und ihre Arbeitskraft verschwenden. Wir soll- ten sie vielmehr gerade in der heutigen Situation ermun- Bei uns schrillen die Alarmglocken. Ich warne mit tern, damit sie ihre Arbeit in optimaler Weise verrichten Benjamin Franklin: können. Darum geht es heute. Deshalb, Herr Minister Wer die Freiheit aufgibt, um Sicherheit zu gewin- Schily, fordere ich Sie eindringlich auf, sich auf diese nen, wird am Ende beides verlieren. Fragen zu beschränken und im Hinblick auf Ämter und Behörden nicht ständig neue Ideen in die Diskussion zu Wenn die Bundesregierung entgegen unserer Tendenz bringen. dabei bleiben sollte, statt allgemeiner Rechtsgrundsätze eine ausformulierte Gesetzesbestimmung für die Zu- Skepsis ist im Hinblick auf den zentralen Punkt des lässigkeit des Abschusses von entführten Flugzeugen neuen Luftsicherheitsgesetzes angebracht, nämlich wenn durchzusetzen, müssen wir über weitere kritische Fragen es um den Versuch geht, denAbschuss von Zivilflug- diskutieren. Ich will in der Kürze der Zeit vier nennen: zeugen durch die Bundeswehr gesetzlich regeln zu Erstens. Mit dem Abschuss eines Flugzeuges ist der wollen. Ich möchte einen Fachmann zitieren, nämlich Schutz des Lebens dritter Personen beabsichtigt. Nur für den Geschäftsführer der dba, Hans Rudolf Wöhrl: diesen einzigen Zweck kann diese einschneidende Maß- In den seltensten Fällen dienen diese neuen Vor-nahme selbstverständlich überhaupt in Betracht kom- schriften und Verordnungen der Sicherheit desmen. Flugverkehrs, sondern nur der Sicherheit von Re- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- gierungen und Behörden, damit man sich im Falle SES 90/DIE GRÜNEN) des Falles von jeglicher Mitverantwortung freispre- chen kann. Lässt das Grundgesetz es aber wirklich zu, das Leben unschuldiger Flugzeuginsassen preiszugeben, um das (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Leben Dritter zu retten? Art. 2 Abs. 2 des Grundgeset- GRÜNEN]: Das ist nun wirklich Unsinn!) zes verbürgt jedem Menschen ohne Unterschied das 7888 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 89. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2004

Ernst Burgbacher (A) Grundrecht auf Leben. Es stellt sich also die Frage, ob (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE (C) eine Abwägung von Leben gegen Leben überhaupt ver- GRÜNEN]: Deshalb steht das hier auch fassungsrechtlich zulässig ist. nicht!) (Dr. Max Stadler [FDP]: Schwierige Frage! – Hierfür hat die deutsche Rechtsordnung seit langem Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE allgemeine Grundsätze entwickelt. Möglicherweise rei- GRÜNEN]: So ist es!) chen die Regeln für „Notstand“ und „Nothilfe“ aus, um die im Einzelfall erforderlichen Entscheidungen zu tref- Zweitens. In der Debatte wird gerne an die polizei- fen. Mit diesen politischen, ethischen und verfassungs- rechtlichen Bestimmungen zum finalen Rettungsschuss rechtlichen Fragen werden wir uns sehr ernsthaft zu be- erinnert. Dieser Vergleich passt aber überhaupt nicht. schäftigen haben. Der finale Rettungsschuss – etwa bei einer Geiselnahme – zielt darauf ab, den Täter an der weiteren Tatausübung Ich danke Ihnen. zu hindern, das Opfer jedoch zu retten. Es besteht aber bei unserem Problem ein gewaltiger Unterschied zu den (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie polizeirechtlichen Bestimmungen zum finalen Rettungs- bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE schuss. Denn beim Abschuss eines Flugzeuges trifft man GRÜNEN) mit Sicherheit nicht nur die Täter, sondern bewusst und unvermeidlich auch die Opfer. Präsident Wolfgang Thierse: Drittens. Im Strafrecht ist durch ständige Rechtspre- Ich erteile das Wort dem Kollegen Frank Hoffmann, chung des Bundesgerichtshofs anerkannt, dass keinSPD-Fraktion. rechtfertigender Notstand vorliegt, wenn ein Mensch ge- tötet wird, um einen anderen zu retten. Frank Hofmann (Volkach) (SPD): (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber GRÜNEN]: Im Gesetz steht auch nichts ande- Herr Burgbacher, mir ist aufgefallen, dass Sie sehr viel res!) Wert auf den Aspekt der Wirtschaft gelegt haben. Ich denke, dass es darum geht, die Wirtschaft bei der Lösung In diesen Fällen nimmt der Bundesgerichtshof eben ge- der Sicherheitsfragen mitzunehmen. rade keinen Rechtfertigungsgrund an, sondern nur einen Schuldausschließungsgrund. (Ernst Burgbacher [FDP]: Ich habe doch nicht von den Interessen der Wirtschaft geredet!) (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE (B) GRÜNEN]: Hier steht auch nichts anderes!) Bundesminister Schily hat angesprochen, dass (D) es auch um das Engagement und das Eigeninteresse der Herr Ströbele, müssen nicht die praktischen Fälle, die Wirtschaft gehe. Ich will gerade in diesem Zusammen- hoffentlich nie eintreten werden, mit den Regeln deshang sagen: Sicherheit geht uns alle an. Sicherheit kann übergesetzlichen Notstands gelöst werden? man nicht beim Staat abladen. Staat, Wirtschaft und Pas- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE sagiere können alle zur Sicherheit beitragen. GRÜNEN]: Richtig! Das bleibt auch so!) Herr Burgbacher, ich möchte auf das Argument der Nach der Kommentarliteratur ist ein Rückgriff des Staa- Zersplitterung der Regelungsbereiche eingehen. Ich tes auf diese allgemeinen Grundsätze in außerordentli- denke, mit der Zusammenfassung der Luftsicherheits- chen Fragen durchaus zulässig. vorschriften in einem Gesetz – wie Bundesminister Otto Schily gesagt hat: durch „Luftsicherheit aus einer Viertens. Selbstverständlich sind wir als FDP bereit, Hand“ – tun wir genau das Richtige. Ich bin auch da- noch einmal die Frage zu thematisieren, ob die Amtshil- von überzeugt, dass wir mit dem neuen Luftsicherheits- fevorschrift des Grundgesetzes, Art. 35, ausreicht, um gesetz, unter Anpassung an die europäische Luftsicher- einen Einsatz der Bundeswehr im Inneren zu erlauben. heitsverordnung, den Standard in den Ländern Europas Wir neigen bisher zu der Auffassung, dass es der Polizei nochmals heben werden. Ich möchte ferner daran erin- nach Art. 35 gestattet ist, die Bundeswehr zu Hilfe zu ru- nern, dass die Ausdehnung der Zuverlässigkeitsüberprü- fen. Dies setzt einen schwerwiegenden Unglücksfall vo- fungen im Luftverkehr Sicherheitslücken schließt. raus. Ob ein terroristischer Angriff unter die Definition des Unglücksfalls zu rechnen ist, muss noch einmal erör- Wir sind davon überzeugt, dass die Gewährleistungen tert werden. von Sicherheit, nicht in der Luft beginnt, auch nicht auf den Flughäfen, sondern bei der allgemeinen Gefahrenabwehr (Beifall des Abg. Frank Hofmann [Volkach] durch die Polizei. Der tatsächliche Schwerpunkt bei die- [SPD]) sem Luftsicherheitsgesetz liegt deswegen nicht in der Ich komme zum Schluss. Es gibt Situationen, dieFrage, ob man ein Flugzeug im Notfall, wenn es die ein- unkalkulierbar sind und bleiben werden. Zu Recht gibt zige Möglichkeit ist, abschießen darf oder nicht, sondern der Standardkommentar zum Strafgesetzbuch vondarin, dass auf dem Boden – bei der Überwachung, der Dreher/Tröndle zu bedenken: Kontrolle – alles getan wird. Unser Leitsatz lautet des- halb: Flugzeugentführungen werden am Boden ermög- Es gibt Güterkollisionen, die sich einer exakten le- licht oder verhindert. Genau das steht im Mittelpunkt des gislatorischen Beschreibung entziehen. Luftsicherheitsgesetzes: schärfere Kontrollen an Flughä- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 89. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2004 7889

Frank Hofmann (Volkach) (A) fen und schärfere Überprüfung von Personen, die aufHunderttausende von Menschen täglich in Flugzeuge(C) dem Flugplatzgelände arbeiten. einsteigen, geht es darum, dass alles getan wird – und zwar doppelt und dreifach –, damit kein Entführungsfall, Daneben ist bereits seit dem 1. Oktober 2003 in kein Sabotageakt und kein Terrorangriff von einem deut- Kalkar das Nationale Lage- und Führungszentrum als schen Flughafen ausgehen. Für den hoffentlich unwahr- zentrales Koordinierungselement im Einsatz. Dort sind scheinlichsten Fall der Fälle eines Einsatzes von Waffen- bereits Soldaten, BGS-Beamte und Mitarbeiter der Flug- gewalt durch die Bundeswehr ist in einem Rechtsstaat sicherung tätig, um Tag und Nacht die Luftsicherheits- eine gesetzliche Regelung erforderlich. lage zu beurteilen. Ebenso wenig wie über dieses Lage- zentrum wird in der Öffentlichkeit auch darüberEine weitere Frage, die sich hier zentral stellt, ist: Ist diskutiert, wo die tatsächlichen Schwerpunkte liegen.für den Einsatz der Bundeswehr zur Gefahrenabwehr Diskutiert wird vielmehr – das haben Sie auch angespro- eine Grundgesetzänderung nötig? Schon im Vorfeld chen, Herr Burgbacher –, ob der Staat anordnen darf,der Erarbeitung des Gesetzentwurfes hat die Fraktion der dass entführte Flugzeuge, die wie am 11. SeptemberCDU/CSU immer wieder gefordert – Herr Bosbach hat 2001 als Waffe benutzt werden, abgeschossen werden, es jetzt auch wieder getan –, der Einsatz der Bundeswehr obwohl dadurch auch unschuldige Passagiere zu Tode müsse hier geregelt werden. Für mich war interessant: kämen. Der Bundesrat wiederholt zwar diese Forderung; dezi- dierte Aussagen zu Unterstützung und Amtshilfe durch Wir machen es uns nicht leicht und wir haben es uns auch die Streitkräfte fehlen jedoch. nicht leicht gemacht und bereits lange über diese Frage dis- kutiert. Es geht nicht nur um die rechtliche Dimension, es Nach der Rede von Herrn Bosbach bin ich mir noch geht auch um die moralisch-ethische Dimension. mehr als schon zuvor im Klaren: Die Fraktion der CDU/ CSU will hier den Hebel für eine allgemeine Regelung (Ernst Burgbacher [FDP]: So ist es!) des Bundeswehreinsatzes im Innern ansetzen. Wir wissen, dass der vorliegende Vorschlag eine neue (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Qualität hat. Aber kann der Staat in Entführungsfällen, GRÜNEN]: Ganz genau!) bei Bedrohungen aus der Luft durch Terroristen, sagen: „Ich handle nicht“? Reichen die allgemeinen Grundsätze Dazu sagen wir entschieden Nein. des deutschen Rechtssystems für den Abschuss von ent- führten Flugzeugen aus, wie die FDP – Herr Burgbacher (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ hat das eben noch einmal bestätigt – meint? Ich möchte DIE GRÜNEN) das mit einem entschiedenen Nein beantworten. DerWir wollen auf keinen Fall Tür und Tor für einen allge- Deutsche Bundestag würde sich aus der Verantwortung (B) meinen Einsatz der Bundeswehr im Innern öffnen. Es(D) stehlen. Wir dürfen die Piloten nicht alleine lassen; sie gibt gute Gründe, nicht die gesamte Sicherheitsarchitek- brauchen eine sichere Rechtsgrundlage. tur zu ändern. Wir werden uns im Rahmen der bewähr- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) ten Sicherheitsarchitektur bewegen können, ohne das Grundgesetz umfassend ändern zu müssen. Die Voten Wir geben ihnen eine klare gesetzliche Grundlage. Dafür der Verfassungsressorts BMI und BMJ zeigen: Eine stehen dann der Verteidigungsminister und, nicht zu ver- Grundgesetzänderung ist nicht erforderlich. gessen, auch der Innenminister – deren Einvernehmen ist nämlich, soweit es geht, herzustellen – in der politi- Ich weiß aus den vielen Vorgesprächen und auch aus schen Verantwortung. Nicht nur das – sie stehen auch in den Reden, die hier schon gehalten wurden, dass dies bei der moralischen Verantwortung und müssen es auch mit uns Innenpolitikern strittig ist. Ich schlage vor, in der ihrem Gewissen vereinbaren. Versetzen wir uns dochnächsten Innenausschusssitzung eine Sachverständigen- einmal in die Lage: Lassen wir einmal an uns heran, wie anhörung zu beschließen, damit wir das Gesetz zügig in es sich anfühlen muss, wenn wir entscheiden müssten, Kraft treten lassen können – zum Schutz der Piloten, ob ein mit Passagieren ll vo besetztes Flugzeug vom zum Schutz der Passagiere und zum Schutz der Bevölke- Himmel geholt werden muss, um Schlimmeres zu verhü- rung. ten! Stellen Sie sich die Gewissensqual vor, in der sich Danke. die Verantwortlichen befinden! Wenn man sich die menschlichen und persönlichen Konsequenzen einer sol- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ chen Entscheidung einmal klar vor Augen hält: Grenzt DIE GRÜNEN) es dann nicht auch fast an Unzumutbarkeit, einem Mi- nister dies abzuverlangen? Präsident Wolfgang Thierse: Wenn man an diesem Punkt angelangt ist, dann ist Ich erteile das Wort dem Kollegen Clemens klar: Diese Verantwortung darf nicht auf den Piloten als Binninger, CDU/CSU-Fraktion. das letzte Glied in der Entscheidungskette abgeschoben werden. Hier hat derGesetzgeber zu handeln und die Clemens Binninger (CDU/CSU): Minister haben die Verantwortung zu übernehmen – Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! auch wenn sie fast unerträglich ist. Hängt damit nun das Meine Damen und Herren! Unsere Gesellschaft ist si- Leben eines Passagiers, der in ein Flugzeug steigt, von cher nirgendwo so leicht zu verwunden wie im Bereich der Nervenstärke und den prognostischen Fähigkeiten der zivilen Luftfahrt. Flugzeuge, die als Waffen einge- des jeweiligen Verteidigungsministers ab? – Nein. Wenn setzt werden, sind ohne Frage eine der größten Gefahren, 7890 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 89. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2004

Clemens Binninger (A) die uns drohen – erst recht, seitdem wir wissen, dass die – wie Sie es auch nennen möchten – nicht grundsätzlich (C) Chefplaner des 11. September – zwischenzeitlich beide entziehen. Auch Kollege Wiefelspütz hat in einem Arti- festgenommen – ursprünglich auch Atomkraftwerke als kel in der Fachzeitschrift „Die Polizei“ vom November Ziele im Visier hatten. letzten Jahres durchaus Sympathien dafür erkennen las- sen, die Verfassung im Bereich des Art. 35 zu ändern. Ich glaube, wir sind uns darüber einig, dass wir alles tun müssen, um solche Anschläge zu verhindern. (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist aber eine Hierzu gehören Maßnahmen am Boden genauso wie Chefsache!) Maßnahmen in der Luft. Das Luftsicherheitsgesetz be- fasst sich mit beiden Dingen. Es regelt Sicherheitsüber- Warum geht es trotzdem nicht vorwärts? Die Gründe prüfungen und die Einrichtung einer Luftsicherheitsbe- hierfür sind bei Ihrem Koalitionspartner, den Grünen, zu hörde – darüber kann man gewiss geteilter Meinungsehen. Sie wissen ganz genau, dass Sie mit diesem Vor- sein –, vor allen Dingen aber den Einsatz der Bundes- haben wieder einmal an Ideologien rütteln, wozu die wehr, der Luftwaffe, im Innern. Das macht Sinn, weil Grünen aber nicht bereit sind. letztendlich nur die Luftwaffe über die personellen und (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE technischen Möglichkeiten verfügt, Gefahren aus der GRÜNEN]: Die Verfassung ist keine Ideolo- Luft abzuwehren. gie! – Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/ Dieses Gesetz aber ohne verfassungsrechtliche DIE GRÜNEN]: Sie rütteln am Grundgesetz!) Grundlage vorzulegen, ist wirklich völlig inakzeptabel. Aber, Frau Stokar von Neuforn, die derzeitige Situation (Beifall bei der CDU/CSU) in diesem Land ist doch niemandem mehr zu vermitteln. Herr Minister Schily, während manche Ihrer Kabinetts- (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE kollegen zu viele Berater haben, haben Sie nach meinem GRÜNEN]: Wie kann man nur das Grundge- Eindruck zu wenige. setz zur Ideologie erklären? Was ist das für eine Haltung? Das ist ja unglaublich!) (Widerspruch bei der SPD) Mittlerweile setzen wir die Bundeswehr auf der ganzen Wer in einem Gesetz erlaubt – das ist die bittere Wahr- Welt ein, um Gefahren aus der Luft oder von der See ab- heit –, dass eine zivile Verkehrsmaschine mit vielen un- zuwehren und um ABC-Schutz zu betreiben. schuldigen Menschen an Bord im schlimmsten Falle ab- geschossen werden kann, der kann doch nicht sagen: (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Das ist von der Verfassungslage gedeckt. GRÜNEN]: Ah!) (B) Sie wissen ganz genau, dass Art. 35 Abs. 1 – dieWir setzen die Bundeswehr auf der ganzen Welt ein.(D) Amtshilfe – hier nicht greift, weil die Bundeswehr eine Nur im eigenen Land, zum Schutz der eigenen Bevöl- ständige eigene Aufgabe übertragen bekommt. Sie wis- kerung, dürfen wir das nicht tun. Das wollen Sie doch sen, dass Art. 35 Abs. 2 und 3 nicht greifen können, weil wohl niemandem erzählen. Das ist völlig inakzeptabel. der dort geforderte Unglücksfall bei einem entführten Deshalb brauchen wir hier eine verfassungsrechtliche Flugzeug gerade noch nicht eingetreten ist. Sie wissen Änderung. auch, dass sich die Bedrohungslage verändert hat, dass (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Cornelie die Grenzen von innerer und äußerer Sicherheit heutzu- Sonntag-Wolgast [SPD]: Wir haben eigene tage verschwimmen. Die Väter unserer Verfassung Regelungen dafür!) konnten diesen Fall noch gar nicht im Blick haben, als sie Abs. 2 und 3 einführten. Die Behauptung, die Verfas- – Nein, dafür besteht keine verfassungsrechtliche Rege- sung decke das ab, ist völlig unglaubwürdig. Das nimmt lung. Ihnen niemand ab. Sie wissen, dass eine solche Regelung, wenn wir sie (Beifall bei der CDU/CSU) schaffen würden, an den Grundfesten Ihrer Auffassun- gen rütteln würde. Aber hier habe ich doch noch etwas In diesem Zusammenhang hilft vielleicht ein Kom- Hoffnung. Denn wer die Bundeswehr, so wie Sie von mentar aus der „Stuttgarter Zeitung“ zu diesem Luftsi- den Grünen, in zahlreiche militärische Einsätze ge- cherheitsgesetz. Er beschreibt in zwei Worten sehr tref- schickt hat und wer auch keine Hemmungen hat, Atom- fend, wie man sich hier darum drückt, die Verfassung zu kraftwerke nach China zu verkaufen, der wird irgend- ändern: „Chaotisch“ und „blamabel“ heißt es in diesem wann auch dann in der Realität ankommen, wenn es um Kommentar. den Schutz der eigenen Bevölkerung geht. Da bin ich (Sebastian Edathy [SPD]: Na, na, na! Das gilt mir sehr sicher. für Ihre Ausführungen, Herr Kollege!) (Sebastian Edathy [SPD]: Gucken Sie mal in Man muss sagen: Die „Stuttgarter Zeitung“ hat in die- Ihre eigenen Reihen!) sem Fall wirklich Recht. Wenn das, was in der „taz“ vom November letzten Über die Gründe, warum Sie sich mit einer Verfassungs- Jahres zu lesen war, stimmt, nämlich dass Sie sich Ihre änderung so schwer tun, kann man nur spekulieren. Denn Zustimmung zum vorliegenden Gesetzentwurf im Kabi- wir wissen, dass sich sowohl Minister Schily als auch Mi- nett dadurch haben erleichtern lassen, dass Sie Ihren nister Struck einer Verfassungsänderung bzw. -klarstellung Wunschkandidaten für die Position des Bundesbeauf- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 89. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2004 7891

Clemens Binninger (A) tragten für den Datenschutz durchsetzen konnten, dann Sind Sie bereit, zu akzeptieren, dass sich die Sicherheits- (C) sagt das alles über Ihr Verständnis von Sicherheitspoli- lage in Deutschland gravierend geändert hat und dass die tik. derzeitige Verfassungslage ihr nicht mehr entspricht? Sind Sie auch bereit, alles dafür zu tun, um den Schutz (Beifall bei der CDU/CSU – Hans-Christian der Bevölkerung in Deutschland vor solchen Anschlägen Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich zu ermöglichen? denke, das Gesetz ist so schlecht! Ich verstehe das gar nicht! – Silke Stokar von Neuforn (Sebastian Edathy [SPD]: Was heißt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch denn das?) Quatsch! – Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Herr Nur wenn Sie dazu bereit sind, macht es Sinn, weiterhin Ströbele, stimmt das?) über diese Thematik zu reden. Wenn Sie nicht dazu be- Herr Kollege Ströbele, Sie haben auch ein seltsames reit sind, dann ist der vorliegende Gesetzentwurf des Verfassungsverständnis, Luftsicherheitsgesetzes das Papier, auf dem er steht, nicht wert. (Sebastian Edathy [SPD]: Das hat er nicht!) Wir werden gespannt sein, welche Argumente Sie da- wenn Sie hier heute sagen, dass alle Regelungen von der für anführen werden, dass doch schon alle Regelungen Verfassung gedeckt sind. durch die Verfassung gedeckt sind. Ich habe es vorhin angesprochen: Hier helfen weder Art. 35 Abs. 1 noch (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE die Abs. 2 und 3 als Rechtsgrundlage weiter. GRÜNEN]: Das steht hier drin!) (Frank Hofmann [Volkach] [SPD]: Wir brau- In der letzten Sitzungswoche waren es die Grünen, die chen keine Anhörung mehr! Er ist schon fest- unseren Antrag auf die Erweiterung der Erfassung des gelegt!) genetischen Fingerabdrucks mit Hinweis auf die Verfas- Sie erfassen die diesbezüglichen Fälle nicht. Den Ab- sung und den Datenschutz abgelehnt haben, schnitt über den Einsatz der Bundeswehr in diesem Ge- (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE setzentwurf auch noch mit dem Wort„Amtshilfe“ zu GRÜNEN]: Ja, so ist es!) überschreiben ist von jeglicher Realität wirklich weit weg. Es ist gerade keine Amtshilfe, wenn hier die Luft- weil ihnen der Datenschutz von Sexualstraftätern wichti- waffe ständig eigene, neue Aufgaben übertragen be- ger war als der Schutz möglicher Opfer vor Sexualstraf- kommt. taten. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE (B) (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da steht: „Unterstützung und (D) GRÜNEN]: Irgendjemand muss ja noch auf Amtshilfe“!) die Verfassung achten!) – Ja, aber hierbei handelt es sich überhaupt nicht um Aber heute wären Sie bereit, einem Gesetzentwurf zuzu- Amtshilfe. Das Wesen der Amtshilfe, Herr Kollege stimmen, der den schwersten nur denkbaren Grundrechts- Ströbele, besteht doch darin, dass eine Dienststelle, die eingriff beinhaltet, ohne dass es dafür eine Verfassungs- eigentlich nicht zuständig ist, in einem Ausnahmefall he- grundlage gibt. rangezogen wird, weil sie über bestimmte Möglichkeiten verfügt, um die Lage besser zu bewältigen. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir verteidigen das Grundgesetz Die Regelung, die Sie in Ihrem Gesetz vorsehen, ist und Sie wollen es kaputtmachen!) aber genau das Gegenteil: Die Bundeswehr wird für den Fall, dass entführte Flugzeuge als Waffe eingesetzt wer- Dazu ist nur ein Wort zu sagen: scheinheilig. den, mit eigener Kompetenz und Entscheidungsgewalt betraut. Das ist alles, nur keine Amtshilfe mehr. Sie wer- (Beifall bei der CDU/CSU) den mir also zugestehen: Dies müssen wir ändern und Inhaltlich sind wir uns bei diesem Gesetzentwurfbrauchen deswegen von Ihnen eine klare Positionierung. – das klang vorhin bereits an – in einigen Punkten, viel- Alles andere hilft uns nicht weiter. leicht sogar in wesentlichen, durchaus einig. (Beifall bei der CDU/CSU) (Sebastian Edathy [SPD]: Das ist aber nicht sonderlich deutlich geworden!) Präsident Wolfgang Thierse: Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich dem Aber wir brauchen Verfassungsänderungen. Das einzige, Abgeordneten Otto Schily. was uns heute hier weiterhilft, sind klare Aussagen von Rot-Grün: Sind Sie bereit, diesen Weg mit uns zu gehen? ( [CDU/CSU]: Er kann es einfach nicht ertragen, dass andere Recht ha- (Sebastian Edathy [SPD]: Welchen denn?) ben!) Sind Sie bereit, mit uns über diese Verfassungsänderun- gen zu reden? Otto Schily (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen! (Sebastian Edathy [SPD]: Ein genereller Ein- Ich glaube, es macht keinen Sinn, dass wir mit dieser De- satz der Bundeswehr im Inland, oder was?) batte die Anhörung des Innenausschusses gewissermaßen 7892 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 89. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2004

Otto Schily (A) vorwegnehmen. Herr Kollege Binninger, die Verve, mit Das ist meine ganz herzliche Bitte. Wenn wir uns das vor (C) der Sie Ihre Position vertreten, erweckt in mir den Ein- Augen halten, dann werden wir, so glaube ich, zu einer druck, dass Sie von dem, was Sie hier vertreten, nicht Einigung gelangen können. sonderlich überzeugt sind. Wenn das der Fall wäre, wür- den Sie Ihre Position anders vortragen und würden mit Vielen Dank. mehr Selbstvertrauen in die Anhörung gehen. Lassen Sie (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten uns doch dort unsere Ansichten mit aller Sachlichkeit des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der austauschen. FDP) Ich bin im Übrigen der Meinung, wir sollten die De- batte nicht so sehr auf den Fall fokussieren, den Herr Burgbacher hier sehr eindrucksvoll geschildert hat. Präsident Wolfgang Thierse: Es haben sich gleich zwei Kollegen angesprochen ge- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) fühlt und möchten darauf eagieren. r Zunächst Kollege Binninger und dann Kollege Burgbacher. Das ist in der Tat ein Thema, das viele moralische und rechtliche Fragen aufwirft. Klar ist: Denjenigen, der in solch einem Fall zu entscheiden hat, würde die Entschei- Clemens Binninger (CDU/CSU): dung in eine wirklich äußerst schwierige Lage bringen. Kollege Peter Struck hat gesagt, dass eine solche Ent- Herr Abgeordneter Schily, ich freue mich, dass meine scheidung, hätte er sie jemals zu treffen – ich hoffe, er Rede Sie dazu bewogen hat, zu erklären, dass wir uns wird niemals in diese Lage kommen –, das Ende seiner über eine Verfassungsänderung, wozu wir eine klare Po- Amtszeit als Minister bedeuten würde. Man muss res- sition haben, Gedanken machen müssen. Ihre Ausfüh- pektieren, wenn sich jemand so einlässt. rungen unterscheiden sich aber fundamental von dem, was kurz zuvor die Kollegin Stokar von den Grünen ge- Das Einzige, das feststeht, wie man in einem solchen sagt hat. Sie hat nämlich gesagt, sie sehe überhaupt kei- Fall zu handeln hat, ist, dass ein solches Vorgehen wirk- nen Bedarf, sich über Verfassungsänderungen Gedanken lich die Ultima Ratio sein muss und sein wird. Bei dem zu machen. Das ist auch das Problem. Ich muss ja nicht Testfall, den wir in Kalkar vorgeführt haben, wurde die auf die Punkte eingehen, bei denen Einigkeit besteht, Maschine nicht abgeschossen, sondern durch militäri- sondern ich gehe auf den Punkt ein, bei dem der Dissens sche Mittel zur Landung gezwungen. Es gibt also eine besteht. Abstufung der Mittel. Deshalb spreche ich immer von einem gestaffelten Abwehrsystem. Der schwerwiegendste Punkt ist nun einmal die Ver- (B) fassungsänderung. Sie sind gesprächsbereit, weil auch(D) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Sie sehen, dass die Rechtsgrundlage, die durch die Ver- fassung gegeben ist, offensichtlich nicht ausreichen Wenn wir uns den Ablauf des 11. Septembers vor Augen kann. führen und präzise durchdenken, was alles diesem Ereig- nis vorausgegangen ist, dann muss uns klar sein, dass die (Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast [SPD]: Nein! Abwehrmechanismen dort anzusetzen sind, damit eine Sie haben es falsch verstanden!) Entführung von vorneherein verhindert wird. Kurz vor dem Eindringen der Flugzeuge in das World Trade Cen- Die Grünen lehnen es strikt ab. Es gibt hier eine riesige ter und in das Pentagon hätte man nicht mehr eingreifen Differenz zwischen beiden Positionen. Das muss geklärt können, man hätte mit militärischen Mitteln nichts mehr werden. Deshalb bleibe ich dabei: Wir haben in der Ver- ausrichten können. fassung keine ausreichende Gesetzesgrundlage hierfür. Für einen solch schwierigen Fall, den Sie zu Recht als Ich bitte Sie also darum, diesen Extremfall auch als solchen beschrieben haben und der hoffentlich nie ein- einen Extremfall anzusehen. Aber dennoch haben dietreten wird Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr einen An- spruch darauf – das war unsere gemeinsame Überzeu- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE gung; ich hoffe, es ist sie auch jetzt noch –, dass wir die GRÜNEN]: Das steht nicht darin!) größtmögliche Transparenz hinsichtlich der rechtlichen – natürlich steht es darin –, brauchen wir aber eine klare Grundlagen herstellen. Deswegen wäre ich Ihnen sehr verfassungsrechtliche Grundlage. dankbar, wenn wir diese Debatte mit der gebotenen Sachlichkeit und, Herr Bosbach, meinethalben auch mit Ich möchte einmal einen kurzen Auszug aus den der notwendigen Dynamik führen. Empfehlungen der Ausschüsse des Bundesrates zum Entwurf dieses Gesetzes zitieren: Aber es ist erforderlich, dass wir aufeinander zuge- hen. In dieser Frage ist es notwendig, dass Konsens in Der Gesetzentwurf begegnet hinsichtlich seiner Re- diesem Hause besteht. Sie hat eine solche Dimension, gelungen zum Einsatz der Streitkräfte der Gefahren dass man über sie nicht parteipolitisch diskutieren kann. aus der Luft ... erheblichen verfassungsrechtlichen Sie ist von solcher Tragweite, dass wir uns auf die sach- Bedenken. lichen Gesichtspunkte konzentrieren müssen. Elf Länder waren dieser Ansicht. Das heißt, wir sollten (Beifall bei Abgeordneten der SPD) sehr genau darüber reden. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 89. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2004 7893

Clemens Binninger (A) Es wird aber Ihr und nicht unser Problem sein, dieRegelung findet sich in dem Gesetz nicht. Wir haben sie (C) Grünen von ihrer Position abzubringen oder es ohne die dort bewusst nicht hineingeschrieben, weil man dadurch Grünen mit uns zu machen. Wir sind dazu bereit. tatsächlich versuchen würde, einen Fall des übergesetzli- chen Notstandes zu regeln. Die Regelung eines überge- (Beifall bei der CDU/CSU) setzlichen Notstandes muss weiterhin gemäß den Krite- rien vorgenommen werden, welche die Rechtsprechung Präsident Wolfgang Thierse: festgelegt hat. Das kann und soll man in einem Gesetz Kollege Burgbacher, bitte. nicht regeln. In diesem Gesetz wird lediglich die Anwendung von Waffengewalt geregelt, ohne dass darüber entschieden Ernst Burgbacher (FDP): wird, inwieweit von der Anwendung von Waffengewalt Herr Kollege Schily, es ist als Vertreter einer kleinen Menschen betroffen sind und welche Menschen gegebe- Fraktion, die nur wenig Redezeit zur Verfügung hat, im- nenfalls betroffen sind, ob es nur die Täter oder auch mer schwierig, entsprechende Schwerpunkte zu setzen. Nichtbeteiligte sind. Das ist in diesem Gesetz absichtlich Deshalb möchte ich noch einmal klarstellen – ich habe nicht geregelt worden. es bereits in einem Satz gesagt –: Zwischen uns besteht in sehr großen Bereich Konsens. Deshalb können Sie sich diese Auseinandersetzung nicht ersparen. Sie müssten sie bei der gegenwärtigen Natürlich geht es uns allen darum, solche terroristi- Rechtslage führen und Sie werden sie auch dann zu füh- schen Anschläge im Vorfeld zu verhindern. Alle Sicher- ren haben, wenn dieses Gesetz in Kraft getreten ist. Das heitsvorkehrungen auf Flughäfen, beim Personal und bei ist Absicht. den Passagieren, die möglich sind, müssen getroffen werden. Das ist völlig unstrittig. Ich habe mich auf den schwerwiegenden Fall konzentriert, weil ich glaube, Präsident Wolfgang Thierse: dass hier tatsächlich der Knackpunkt im Gesetzentwurf Kollege Ströbele, gestatten Sie eine Zwischenfrage ist. Es wird die Frage auftauchen, ob die bisherigen Re- des Kollegen Stadler? gelungen im Gesetz wirklich ausreichen oder ob wir weitere Maßnahmen brauchen. Eine andere Frage, die uns ebenfalls wirklich bewegt, lautet: Was sind die Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE Grundlagen für den Verteidigungs- und den Innenminis- GRÜNEN): ter, wenn wir dieses Gesetz verabschieden? Ich glaube, Ja, natürlich. das sollten wir alle miteinander mit großem Ernst disku- (B) tieren. Würde die Schwelle nicht ein Stück weit gesenkt (D) werden, wenn der Minister Instrumente an die Hand be- Dr. Max Stadler (FDP): käme, die er bisher nicht hatte? Kann das nicht sogar Herr Kollege Ströbele, sind Sie bereit, zur Kenntnis dazu führen, dass er in einer bestimmten Phase fast dazu zu nehmen, dass in § 14 Abs. 3 dieses Entwurfs Folgen- genötigt wird, etwas zu tun? Über diese Fragen müssen des formuliert ist: wir diskutieren. Die unmittelbare Einwirkung mit Waffengewalt ist Ich möchte noch einmal betonen: Wir als FDP-Frak- nur zulässig, wenn nach den Umständen davon aus- tion diskutieren intern darüber und gehen ergebnisoffen zugehen ist, dass das Luftfahrzeug gegen das Leben in die Anhörung. Diese neuen Erfordernisse, die auf uns von Menschen eingesetzt werden soll, … alle zukommen, bedürfen neuer Antworten. Man muss Stimmen Sie mir zu, dass durch diese Formulierung die einiges überdenken. Wir sind aber nicht bereit, gewisse unmittelbare Einwirkung mit Waffengewalt – im Klar- Grundsätze über Bord zu werfen. In diesem Spannungs- text: der Abschuss eines Flugzeuges – möglich ist, selbst feld werden wir das diskutieren. wenn dieses Flugzeug nicht nur mit einem Täter, son- (Beifall bei der FDP) dern auch mit unschuldigen Passagieren besetzt ist? Das führt zu einem unglaublich schwierig zu lösen- Präsident Wolfgang Thierse: den Problem, weil Art. 2 des Grundgesetzes ohne Wenn Nun erteile ich Kollegen Christian Ströbele, Fraktion und Aber jedem, auch dem unschuldigen Passagier an Bündnis 90/Die Grünen, das Wort. Bord eines solchen Flugzeuges, das Grundrecht auf Le- ben garantiert. Wenn man nun versucht – natürlich in gu- (Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Mäßigen Sie ter Absicht –, eine Lösung herbeizuführen, um das Le- sich, Herr Ströbele!) ben Dritter zu retten, führt dies zu einem unauflösbaren Dilemma, weil man nicht Leben gegen Leben abwägen kann. Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Stimmen Sie mir zu, dass es aus dieser Ausgangslage Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! heraus sehr wohl erörternswert ist, ob der Staat nicht Herr Kollege Burgbacher, in diesem Gesetz findet sich darauf verzichten muss, ein unlösbares Dilemma gesetz- gerade keine Regelung für den Abschuss eines Flugzeu- lich zu normieren, sodass im Einzelfall eine unumgäng- ges, das mit Passagieren besetzt ist, die überhaupt keinen liche Entscheidung nach allgemeinen Grundsätzen zu Bezug zu einem terroristischen Anschlag haben. Diese treffen ist? 7894 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 89. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2004

(A) Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE die Union den Einsatz der Soldaten der Bundeswehr im (C) GRÜNEN): Inland auch über solche Fälle hinaus ausdehnen möchte. Herr Kollege, ich stimme Ihnen in allen Punkten zu, Dann haben Sie weiter ausgeführt, die Grünen würden in die Sie genannt haben. Dieses Dilemma gibt es in dersolchen Fällen reflexartig reagieren und der Union im- Tat. Der Staat – das war für mich eine der Antriebsfe- mer gleich das Schlimmste unterstellen. Im nächsten dern, warum wir die Regelung so und nicht anders ge- Absatz haben Sie dann minutenlang erläutert, in welchen troffen haben; es gab dazu andere Vorschläge – kann und Bereichen Sie über diesen Fall hinaus die Bundeswehr soll aufgrund der verfassungsrechtlichen und menschli- einsetzen möchten. chen Überlegungen, die Sie angesprochen haben, für dieses Dilemma keine gesetzliche Regelung treffen. (Jürgen Herrmann [CDU/CSU]: Das macht auch Sinn!) (Ernst Burgbacher [FDP]: Aber es steht doch drin!) Ich weiß nicht, wie das zusammenpassen soll. Dazu – darin stimme ich mit Ihnen nicht überein – Unser Gesetz wird einen Einsatz der Bundeswehr findet sich für diesen Fall keine Regelung. Was durch ausschließlich für Luftzwischenfälle regeln, nicht für ir- Waffengewalt bewirkt wird, hängt von dem jeweiligen gendetwas anderes. Sie wollen, dass die Bundeswehr im Einzelfall ab. Wenn die Möglichkeit besteht – der Innen- Inneren in unendlich vielen Bereichen eingesetzt werden minister hat es angeführt –, könnte dies eine Einwirkung kann. Sie haben gesagt: auf dem Land, zu Wasser und sein, mit der das Flugzeug zur vorzeitigen Landung ver- bei allen möglichen Gelegenheiten. – Das ist der Unter- anlasst wird. schied zwischen der Union und der Koalition. Das wol- len wir nicht. Wir wollen nicht, dass die Bundeswehr zu (Dr. Max Stadler [FDP]: Das steht in Abs. 1!) einem Allzweckmittel bei der Bekämpfung von Sicher- Das könnte aber auch der Abschuss eines Flugzeugesheitsgefahren in der Bundesrepublik Deutschland wird. sein. Aber hier ist überhaupt nicht geregelt, ob und unter welchen Gesichtspunkten diese Regelung angewendet (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – werden soll oder darf, wenn das Flugzeug nicht nur mit [Heilbronn] [CDU/CSU]: Kein Tätern, Beschuldigten oder Verdächtigen, sondern auch Mensch will das! Quatsch!) mit unbeteiligten Zivilisten besetzt ist. Jetzt komme ich zu der verfassungsrechtlichen Frage, All das ist nicht geregelt. Das muss nach wie vor nach Herr Kollege Bosbach. Sie haben gesagt – das steht auch den normalen Kriterien entweder des übergesetzlichen in einem Teil der Überschrift –, die Bundeswehr solle le- Notstandes – wenn für staatliches Handeln auch überge- diglich im Wege der Amtshilfe für die Länder, das heißt (B) setzlicher Notstand Anwendung finden kann – oder nach innerhalb des Kompetenzbereiches der Länder, einge-(D) den sonstigen Regelungen für Notstand und Nothilfesetzt werden. Das stimmt nur zum Teil. Das stimmt nur entschieden werden. Wir haben gerade nicht gesagt:für den Fall des Art. 35 Abs. 2 Grundgesetz, nicht für Wenn soundsoviele Menschenleben in Gefahr sind, dann den Fall des Art. 35 Abs. 3 Grundgesetz. dürfen durch unmittelbaren Einsatz von Waffengewalt Für den Fall des Art. 35 Abs. 3 hat die Bundesregie- eine entsprechende Zahl von Menschen getötet wer-rung nämlich ausdrücklich ein eigenes Recht – so steht den. – Diese Abwägung wird dem Verteidigungsminis- es schon heute im Grundgesetz –, die Länder anzuwei- ter, der hierüber zu entscheiden hat, durch das Gesetzsen. Das heißt, die Bundesregierung kann die Bundes- nicht abgenommen. Das bleibt nach wie vor eine Abwä- wehr gemäß Art. 35 Abs. 3 nach eigenem Recht einset- gung nach allgemeinen Regeln. Darauf lege ich ganz zen, wenn es sich um einen länderübergreifenden besonderen Wert. Sie haben völlig Recht: Die Frage ist, Zwischenfall handelt. Aus diesem Grunde passt Ihre Ar- ob der Gesetzgeber eine solche Regelung überhaupt tref- gumentation überhaupt nicht auf den Art. 35 Abs. 3. fen darf. Denn das ist ein völlig anderer Fall. Wir wollen mit der Anders ist es bei dem so genannten finalen Rettungs- Regelung dieses Gesetzes der Bundeswehr und im Übri- schuss. gen auch der Bundesregierung gerade nicht mehr Kom- petenzen geben, als das Grundgesetz heute schon zubil- (Dr. Max Stadler [FDP]: Richtig!) ligt. Dazu steht in den einschlägigen Gesetzen, dass ein mit Deshalb haben wir sowohl den Abs. 2 als auch den an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit tödlicher Abs. 3 des Art. 35 des Grundgesetzes ausdrücklich in Schuss abgegeben werden darf, wenn bestimmte Voraus- das Gesetz geschrieben und darüber hinaus sogar einen setzungen erfüllt sind. Eine solche Festlegung haben wir Teil des Wortlautes der beiden Grundgesetzbestimmun- in dem vorliegenden Gesetz nicht getroffen, weil da- gen in das Gesetz übernommen, und zwar aus einem ein- durch – das haben mehrere Redner richtig gesagt – nicht zigen Grund: um klar zu machen, dass wir mit diesem nur Täter, sondern auch völlig Unbeteiligte in Gefahr ge- Gesetz nicht mehr Rechte an die Bundeswehr oder die bracht werden. Diesen Konflikt kann und will das Ge- Bundesregierung geben wollen, als ihnen heute schon setz nicht regeln. vom Grundgesetz her zufallen. Deshalb kann es keine Nun komme ich zu dem Kollegen Bosbach. Herr Kol- Auseinandersetzung darüber geben, ob das verfassungs- lege Bosbach, Sie haben ein etwas eigenartiges Beispiel gemäß ist. Denn wir orientieren uns im Wortlaut genau von Dialektik gebracht, das etwas daneben war. Zu-an den Bestimmungen des Grundgesetzes. Dieses Gesetz nächst haben Sie erklärt, es sei eine Unterstellung, dass ist kein Gesetz, das den Abschuss von Passagierflug- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 89. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2004 7895

Hans-Christian Ströbele (A) zeugen, die mit unschuldigen Menschen besetzt sind, setzt werden kann? Das gilt völlig unabhängig davon, ob (C) rechtfertigen soll. die Gefahr von der See, aus der Luft oder auf dem Boden droht. (Clemens Binninger [CDU/CSU]: Erlaubt es aber!) Die Polizeien des Bundes und der Länder haben keine Luftstreitkraft und keine ABC-Abwehrkräfte. Können Dieses Gesetz ist lediglich ein Gesetz, das nach der wir vor diesem Hintergrund die Bevölkerung mit der Be- bestehenden Rechtslage eine Zuständigkeit festlegt, da- gründung ungeschützt lassen, dass die Bundeswehr nicht mit sich nicht so etwas wie bei dem Zwischenfall in eingesetzt werden kann? Die Bundeswehr soll bei der Frankfurt wiederholt, wo unterschiedliche Instanzen und Abwehr terroristischer Gefahren ausschließlich dann im Behörden sich darüber auseinander gesetzt haben, wer Inland eingesetzt werden, wenn die Polizei – aus wel- für die Entscheidung zuständig ist. Solche Fälle wollen chen Gründen auch immer – nicht in der Lage ist, die wir klar regeln. In diesem Gesetz ist geregelt, dass Gefahr abzuwehren. grundsätzlich die Zuständigkeit beim Bundesverteidi- gungsminister bzw. bei seinem Stellvertreter liegt. Die- (Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast [SPD]: Das ses Gesetz sagt eindeutig, dass wir keine Legitimation sagt doch das Grundgesetz schon! – Silke zum Abschuss unschuldiger Menschen in Passagierflug- Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- zeugen erteilen wollen. Wir binden die Entscheidung NEN]: Das steht im Grundgesetz!) vielmehr an die allgemeinen Rechtsgrundsätze und die Niemand denkt daran, die Artillerie gegen Ladendiebe allgemeinen Abwägungsregelungen, an die sich selbst- einzusetzen. Ich weiß, dass es in diesem Zusammenhang verständlich der Bundesverteidigungsminister zu halten ein Verhetzungspotenzial gibt. Frau Kollegin Stokar hat hat. in einer anderen Debatte im Deutschen Bundestag über Deshalb ist das Gesetz so in Ordnung. Es regelt einen uns gesagt, wir wollten die Armee gegen Bürgerkriegs- Fall, der hoffentlich nie eintritt und bisher noch nie ein- flüchtlinge einsetzen. – Dieses Niveau ist nicht mehr zu getreten ist. Es ist völlig zu Recht darauf hingewiesen unterbieten. worden, dass auch der Anschlag vom 11. September (Beifall bei der CDU/CSU) kein Beispiel war. Das Gesetz regelt einen bisher Gott sei Dank theoretischen Fall. Ich hoffe, dass diese Be- Sie müssen die Frage beantworten, ob Sie in einem stimmung des Gesetzes nie angewendet werden muss. solchen Fall, den wir uns alle nicht wünschen, die Bevöl- Ich denke, diese Bestimmung ist vertretbar und verfas- kerung schutzlos lassen oder ob Sie eine entsprechende sungsgemäß. Das wird sich auch bei der Anhörung im Grundgesetzänderung durchführen wollen. Rechtsausschuss erweisen. (Hans-Joachim Hacker [SPD]: Art. 35! Amts- (B) (D) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hilfe, Herr Bosbach!) sowie bei Abgeordneten der SPD) Eine dritte Möglichkeit gibt es nicht.

Präsident Wolfgang Thierse: (Beifall bei der CDU/CSU) Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem Kollegen Wolfgang Bosbach. Präsident Wolfgang Thierse: Kollege Ströbele. Wolfgang Bosbach (CDU/CSU): Herr Kollege Ströbele, ich erkläre Ihnen das gerne Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE noch einmal. Die politischen Kontroversen leiden darun- GRÜNEN): ter, dass sich die Argumentation gegen eine Behauptung Herr Kollege Bosbach, waren die Väter und die weni- richtet, die niemand geäußert hat. Ich habe wortwörtlich gen Mütter des Grundgesetzes Ihrer Meinung nach so gesagt, dass es nicht darum gehen könne, der Bundes- wenig vorausschauend, dass die von Ihnen konstruierten wehr sukzessive Aufgaben der Polizei zu übertragen. Ich Fälle im Grundgesetz nicht geregelt worden sind? Wenn habe wörtlich gesagt, dass niemand daran denke, dieSie Art. 35 Abs. 2 noch einmal gründlich lesen, dann Bundeswehr in eine Art Bereitschaftspolizei umzuwan- stellen Sie fest, dass auch in genau solchen Fällen, in de- deln, und ich habe darauf hingewiesen, dass Ausbildung nen die Mittel der Polizei nicht ausreichen – so ist das und Ausrüstung von Soldaten und Polizisten grundver- definiert –, das Land beim Bund und auch bei der Bun- schieden sind. deswehr Amtshilfe ersuchen kann. (Frank Hofmann [Volkach] [SPD]: Das haben (Wolfgang Bosbach [CDU/CSU]: Nach Lan- Sie auch gesagt!) desrecht! Aber hier ist doch eine Bundeskom- petenz in Rede!) Es geht um folgende Konstellation: Kann es richtig sein, die Bevölkerung bei Inlandstaten, die mit militäri- – Wenn nur ein Bundesland betroffen ist, dann ist auch schen Mitteln geführt werden oder Folgen von militäri- das Landesrecht ausreichend. Dann können sich zum scher Wucht haben – wie am 11. September –, nur des- Beispiel das Land Nordrhein-Westfalen oder das Land halb schutzlos zu lassen, weil die Polizei erkennbar nicht Hessen an die Bundesregierung und an das zuständige über die Mittel verfügt, diese Gefahr abzuwehren, und Ministerium wenden und mit dem Hinweis darauf, dass die Bundeswehr nach geltendem Verfassungsrecht bei die eigenen Mittel nicht ausreichen, Amtshilfe erbitten. Inlandstaten nicht zur Gefahrenabwehr im Inland einge- Wenn mehrere Bundesländer betroffen sind, dann bietet 7896 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 89. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2004

Hans-Christian Ströbele (A) das Grundgesetz schon heute der Bundesregierung die Ich gebe dem Kollegen Jürgen Herrmann, der brav(C) Möglichkeit, für die Länder Entscheidungen zu treffen, gewartet hat, das Wort. ihnen Weisungen zu erteilen und dort Sicherheitskräfte einzusetzen. (CDU/CSU): Der Unterschied zwischen Ihnen und uns besteht da- Jürgen Herrmann rin, dass Sie ein solches neues Gesetz, das dann wohl Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und nicht Luftsicherheitsgesetz heißen könnte, sondern eher Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem heu- eine Überschrift wie „Allgemeines Inlandseinsatzrecht tigen Tag endet – zumindest teilweise – eine lange Zeit für die Bundeswehr“ tragen müsste – schließlich wollen des Wartens. Nach mehr als zwei Jahren – genau gerech- Sie seinen Geltungsbereich nicht auf Luftzwischenfälle net sind bereits 871 Tage seit den Terroranschlägen in reduzieren oder konzentrieren; nur so ist es zu verstehen –, den USA am 11. September 2001 vergangen – schafft es auf alle Bereiche ausdehnen wollen. die rot-grüne Regierungskoalition endlich, einen Gesetz- entwurf vorzulegen, der sich gezielt, aber bei weitem (Wolfgang Bosbach [CDU/CSU]: Nein!) nicht ausreichend mit den Auswirkungen von möglichen Wir achten die Regelungen des Grundgesetzes und wol- Terroranschlägen beschäftigt. Sicherlich wurden zwi- len sie im Gegensatz zu Ihnen weder ändern noch gar er- schenzeitlich Sicherheitspakete verabschiedet. Diese weitern. Insofern – das muss immer wieder betont wer- waren aber nicht konkret auf spezielle Szenarien abge- den – besteht ein grundsätzlichen Unterschied zwischen stimmt. Ihnen und uns. Der nun vorliegende Entwurf eines Gesetzes zur Neu- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) regelung von Luftsicherheitsaufgaben kann nur der erste Schritt sein, der heutigen Bedrohung durch terroristische Präsident Wolfgang Thierse: Aktivitäten vorzubeugen. Dies gilt umso mehr, als die Die Kollegin Stokar hat auch noch das Bedürfnis, auf asymmetrische Bedrohung durch den internationalen Ihre Ausführungen zu reagieren, Herr Bosbach. DasTerrorismus ein erschreckendes Maß angenommen hat, nennt man Streuwirkung. das es unumgänglich macht, ausreichende gesetzliche Grundlagen zu schaffen. Kein Szenario von Selbstmord- (Heiterkeit – Wolfgang Bosbach [CDU/CSU]: attentätern ist heute mehr unvorstellbar. Die Urheber von Kollateralschaden!) terroristischen Attacken sind oftmals nicht auszuma- chen. Ob staatlich gelenkt, durch Warlords unterstützt Silke Stokar von Neuforn(BÜNDNIS 90/DIE oder von Einzeltätern angezettelt, Terrorangriffe sind un- (B) GRÜNEN): berechenbar und drohen zu Wasser, zu Lande und aus(D) Wenn ich hier schon direkt angesprochen werde und der Luft. wenn wir entgegen dem Rat unseres Herrn Ministers versuchen, tief greifende verfassungsrechtliche Fragen In der Begründung Ihres Gesetzentwurfes weisen Sie im Rahmen von Kurzinterventionen zu klären, dannausdrücklich auf die Terroranschläge in den USA, aber möchte ich an Sie, Herr Kollege Bosbach, eine Frageauch auf die Entführung des Motorseglers am 5. Januar richten. 2003 in Frankfurt am Main hin. Hier stellt sich – Bezug nehmend auf den langen Entscheidungsprozess – nicht Ist Ihnen eigentlich bekannt, dass unter Rot-Grün die nur dem aufmerksamen Beobachter die Frage: Warum Berufsfeuerwehr und das Technische Hilfswerk mit so haben die zuständigen Regierungsbehörden nicht schnel- exzellenten ABC-Schutzfahrzeugen – das gab es unter ler gehandelt und einen umfassenden Gesetzentwurf vor- Ihrer Regierung nicht – ausgerüstet worden sind, dass gelegt? – Sicherlich waren die unterschiedlichen Sicht- alle Experten, mit denen ich gesprochen habe, der Über- weisen der Regierungsfraktionen – Kollege Binninger zeugung sind, dass diese Fahrzeuge für ABC-Einsätze hat das bereits heute Morgen ausführlich dargelegt – da- im Innern viel besser geeignet sind als die bei der Bun- für verantwortlich, ob zum Beispiel die Bundeswehr bei deswehr vorhandenen ABC-Spürpanzer, die für andere der Sachverhaltslösung mit einbezogen werden darf oder Aufgaben konzipiert sind, und dass auch das dort tätige nicht. Aber auch die Frage nach den gesetzlichen Grund- Personal viel besser ausgebildet ist als das der Bundes- lagen – sie wurden bereits heute Morgen mehrfach ange- wehr? sprochen – entzweite die Regierungskoalition. (Wolfgang Bosbach [CDU/CSU]: Dann sind wir uns ja einig!) Die CDU/CSU-Fraktion hat keinerlei Bedenken ge- gen den Einsatz unserer Soldatinnen und Soldaten im In- – Ich bitte Sie! Sie haben doch gerade behauptet, dass land, wenn dies zum Schutz unserer Bevölkerung ge- wir von Rot-Grün – das weise ich hiermit mit aller Ent- schieht und auf eine verfassungsrechtlich gesicherte schiedenheit zurück – im Falle eines ABC-AngriffsGrundlage gestellt wird. Es macht wahrlich keinen Sinn, durch Terroristen unsere Bevölkerung schutzlos ließen. wenn wir unsere sehr gut ausgebildeten Militärs in der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ganzen Welt zur Terrorismusbekämpfung einsetzen dür- sowie bei Abgeordneten der SPD) fen, der deutschen Bevölkerung dieser Schutz aber ver- wehrt bleibt bzw. im internen Koalitionsstreit auf der Strecke bleibt. Präsident Wolfgang Thierse: Wir wollen jetzt die Zwiegespräche beenden. (Beifall bei der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 89. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2004 7897

Jürgen Herrmann (A) Die CDU/CSU-Fraktion hat sich in dieser Frage immer Jürgen Herrmann (CDU/CSU): (C) klar positioniert. Wir befürworten und fordern eine Herr Kollege, Sie werden auch zur Kenntnis nehmen Grundgesetzänderung im Hinblick auf den Einsatz der müssen, dass die technischen Voraussetzungen bei der Bundeswehr im Inland. Dies gilt insbesondere bei den Bundeswehr noch immer andere als die beim THW sind neu zu regelnden Anforderungsprofilen. (Widerspruch bei der SPD) (Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: und dass die gut ausgerüstete Bundeswehr von Ihnen zu Was denn jetzt? Bosbach erzählt etwas ganz speziellen Einsätzen dieser Art entsandt worden ist. Ich anderes!) erinnere daran, dass Sie die ABC-Abwehrtruppe nach – Die Grundgesetzänderung muss her, auch wenn SieKuwait entsandt haben – nehmen Sie mir mein Interesse sich ständig mit Hilfsformulierungen begnügen wollen. daran bitte ab; denn sie ist unter anderem in meinem Wahlkreis Höxter stationiert –, um dort die Sicherheit (Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Ihr der Bevölkerung zu gewährleisten. wollt einen Einsatz der Bundeswehr im In- nern!) (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Kuwait ist nicht Deutschland! Die – Generell wollen wir diesen Einsatz nicht. Das ist doch deutsche Feuerwehr ist in Kuwait nicht zustän- schon heute Morgen so oft zum Ausdruck gekommen, dig!) dass wir es hier wohl nicht mehr zu erwähnen brauchen. Sie sollten den Kollegen vielleicht einmal zuhören! Herr Aus genau diesem Grund sollten wir in einem Extremfall Bosbach hat sowohl in seiner Rede als auch in der Kurz- nicht darauf verzichten, die Bundeswehr im Inland zum intervention gesagt, dass wir die Bundeswehr im Inland ABC-Schutz einzusetzen. nicht konsequent, sondern nur bei ganz bestimmten Sze- (Beifall bei der CDU/CSU) narien einsetzen wollen. Dass es hier um eine Grundgesetzänderung geht, das (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE hat auch der Verteidigungsminister bereits im letzten GRÜNEN]: Aber bei vielen Szenarien!) Jahr erkannt und nicht erst, nachdem ein Flugzeug über Aufgrund der rechtlichen Erfordernisse hat der ehe- der Frankfurter Skyline für Verunsicherung gesorgt hat. malige Bundesverfassungsrichter Konrad Hesse mit gu- Auch er begrüßte eineGrundgesetzänderung. Der tem Grund gefordert, dass die verfassungsrechtlichenBundesminister hat noch im Oktober eingeräumt, „dass Grundlagen in besonderem Maße den Anforderungen man über eine Klarstellung nachdenken kann“. Es ist be- der Rechtsklarheit, der Verständlichkeit und der Über- dauerlich, dass aus dieser Klarstellung ein Gesetzent- (B) sichtlichkeit genügen müssen. Ich meine, dass der Ent- wurf gebastelt wurde, dem gerade diese Klarheit fehlt. (D) wurf des Luftsicherheitsgesetzes diesem Anspruch nicht Der Innenausschuss des Bundesrates – das ist eben gerecht wird. schon angesprochen worden; Kollege Binninger ist da- rauf eingegangen – hat sich ganz klar dafür ausgespro- (Sebastian Edathy [SPD]: Wir chen, dass grundgesetzliche Änderungen vorgenommen meinen das schon!) werden müssen. Sie sollten auch zur Kenntnis nehmen, – Ja, das ist klar. dass sich SPD-geführte Bundesländer dieser Auffassung angeschlossen haben. Präsident Wolfgang Thierse: Eine Anpassung wäre notwendig. Dies gilt insbeson- Kollege Herrmann, gestatten Sie eine Zwischenfrage? dere unter dem Gesichtspunkt, den bei der Bewältigung von so genannten Renegade-Fällen eingesetzten Ent- Jürgen Herrmann (CDU/CSU): scheidungsträgern eine sichere gesetzliche Grundlage zu gewähren. Das Nationale Lage- und Führungszentrum in Bitte. Kalkar am Niederrhein – dort sind Soldaten, BGS-Be- amte und Mitarbeiter der Flugsicherung tätig – leistet Gerold Reichenbach (SPD): hierbei eine hervorragende Arbeit. Auch wenn der Rene- Herr Kollege, Sie haben jetzt wieder das Beispielgade-Fall – hoffentlich – die Ausnahme bleibt, kann die ABC-Schutz angeführt. Herr Bosbach wollte daraufgeleistete Arbeit nicht hoch genug bewertet werden. nicht eingehen. Können Sie der staunenden Bevölkerung Mehrere hundert Flugbewegungen gleichzeitig auf den erklären, warum Sie 384 bestausgerüstete ABC-Spür- Bildschirmen erfordern höchste Aufmerksamkeit. fahrzeuge, die der Bund für den ABC-Schutz ausgelie- fert hat und die im Wesentlichen von gut ausgebildeten Durchschnittlich täglich sechs „Losscomms“ – es Feuerwehrleuten geführt werden, durch geht rund um Fälle, in denen der Funkkontakt von sich nä- 17 Bundeswehrfahrzeuge mit gleicher, teilweise älterer hernden Flugobjekten für längere Zeit abgebrochen ist – Technik ersetzen wollen, nur weil sie gepanzert sind?zeigen jedoch, wie schnell sich die Situation verändern Wie wollen Sie der Bevölkerung erklären, dass wir das kann. Am Ende der möglicherweise eingeleiteten opera- Grundgesetz nur wegen dieser Panzerung ändern müs- tiven Maßnahmen könnte der Abschuss eines mit vie- sen? len hundert Passagieren besetzten und für einen terro- ristischen Angriff gekaperten Ferienfliegers – das wäre (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ für uns alle wohl der schlimmste Fall – stehen. Gerade DIE GRÜNEN) deshalb wird es unser Anliegen bleiben, die an der 7898 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 89. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2004

Jürgen Herrmann (A) Entscheidung Beteiligten mit ausreichenden und verfas- Kompetenzen einzuräumen, die allein in den Aufgaben- (C) sungsrechtlich einwandfreien gesetzlichen Grundlagen katalog der Polizei fallen. Wir sind aber in dem Bemü- auszustatten. hen, den bestmöglichen Schutz für die Menschen in un- serem Land zu garantieren, aufgefordert, alles zu tun, Lassen Sie mich auf die von mir zuvor genanntendamit wir weiter in Frieden und Freiheit leben können. Fallgruppen terroristischer Angriffe zurückkommen. Mit dem nun vorliegenden Luftsicherheitsgesetz wird le- (Beifall bei der CDU/CSU) diglich, mehr schlecht als recht, die Security am Himmel geregelt. Die von mir zu Beginn genannten Fälle der ter- Präsident Wolfgang Thierse: roristischen Bedrohung zu Wasser oder zu Lande werden Ich erteile das Wort der Kollegin Petra Pau. nicht erfasst. Obwohl wir immer wieder über diese Sze- narien sprechen, haben Sie es hier versäumt, klare Grundlagen zu schaffen, die einen umfassenden Schutz Petra Pau (fraktionslos): der Bevölkerung gewährleisten. Es macht wenig Sinn, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir die eben genannten Fallgruppen auch noch in Einzelge- diskutieren heute über ein Luftsicherheitsgesetz, ein Ge- setzen regeln zu wollen. Dies würde bei der Arbeitsge- setz, von dem der uns alle beratende wissenschaftliche schwindigkeit der Koalition zu lange dauern. Parlamentsdienst bereits vor zwei Jahren gesagt hat, es sei völlig unnötig. Ein sinnvoller Ansatz zur Bekämpfung terroristischer Gefahren wäre die Einbindung von innerer und äußerer Die wiederkehrende Begründung für dieses Gesetz ist Sicherheit in einGesamtverteidigungskonzept bei reichlich bemüht worden. Sie wollen die Bundesrepublik gleichzeitiger Umsetzung einer ressortübergreifenden und ihre Menschen vor Terrorakten schützen. Zu solchen Sicherheitspolitik. Landesverteidigung und Heimat-Terrorakten rechnen Sie Angriffe mit entführten Ver- schutz müssen viel stärker als bisher in Einklang ge-kehrsflugzeugen auf Atommeiler oder dicht besiedelte bracht werden, Sicherheitslücken müssen geschlossen Städte. Dafür wollen Sie eine Sonderermächtigung, die werden. Zu diesem Ergebnis ist man im Übrigen auch den Einsatz der Bundeswehr im Innern regelt, wohl- auf einer Fachtagung von Sicherheitsexperten am ver- gemerkt über das in Ausnahmesituationen ohnehin gangenen Dienstag bei einer Veranstaltung der Bertels- schon zulässige Maß des Einsatzes der Bundeswehr hi- mann-Stiftung gekommen. Eckart Werthebach, ehemali- naus. Das ist der erste Grund, warum die PDS im Bun- ger Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, destag diese Gesetzesvorlage ablehnt. sprach sich in diesem Zusammenhang dafür aus, den (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [fraktions- Schutz der Bevölkerung vor terroristischen Anschlägen los] – Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/ (B) als Gemeinschaftsaufgabe in das Grundgesetz aufzuneh- DIE GRÜNEN]: Wo steht das denn im Ge- (D) men. setz?) (Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast [SPD]: Das er- Sie wissen, dass Ihr Gesetz zudem eine sehr kompli- zählt er seit zwei Jahren!) zierte ethische Frage berührt. , vielen – Auch wenn das schon seit zwei Jahren gesagt wird: Ir- noch als Vizepräsident des Bundestages bekannt, ande- gendwann müssten Sie es einmal begreifen, damit wir ren als früherer Bundesinnenminister, fragt dazu: Will diese Dinge gemeinsam umsetzen können. der Minister den lieben Gott spielen? (Beifall bei der CDU/CSU) (Wolfgang Bosbach [CDU/CSU]: Wann war der Bundesinnenminister?) Neben der Stärkung der originär zuständigen Stellen der Terrorismusbekämpfung sowie der zivilen Katastro- Sein Gedankenspiel ist leicht nachzuvollziehen – der phenschutzbehörden und Hilfsdienste ist es zwingend er- Kollege Stadler hat dies vorhin schon dargestellt –: Ge- forderlich, die zivil-militärische Zusammenarbeit im In- setzt den Fall, ein Passagierflugzeug wird entführt. Dann land wieder zu beleben. Hierbei sollten wir uns diefliegen mit ihm zwei oder drei Täter sowie 100 oder Fähigkeiten der Bundeswehr zunutze machen, ohne200 Passagiere, also Opfer des Verbrechens. Sie vermu- gleich die Grundfeste der Demokratie gefährdet zu se- ten, dass die Entführer einen Terroranschlag im Schilde hen. führen, und es gelingt Ihnen nicht, dieses Flugzeug abzu- drängen und zur Landung zu zwingen. Sie geben also In besonderen Gefährdungslagen, zum Beispiel im den Befehl zum Abschuss des Flugzeuges. Mit einem Katastrophenschutz oder bei der Abwehr und Bewälti- solchen Befehl würden Sie zugleich das Todesurteil über gung terroristischer Gefahren, muss die Bundeswehr mit 100 oder 200 unschuldige Passagiere fällen, und zwar ihren spezifischen Fähigkeiten zur Unterstützung – wirk- nur auf diese Vermutung hin. Wer soll, wer will das Le- lich nur zur Unterstützung – von Polizei und BGS er-ben der Bewohnerinnen und Bewohner zum Beispiel ei- mächtigt werden. Hierzu werden seitens der CDU/CSU- nes Hochhauses gegen das Leben dieser 100 oder Fraktion in Zusammenarbeit mit dem Bundesrat – Kol- 200 Passagiere abwägen und dann eine Entscheidung lege Bosbach hat das schon angesprochen – demnächst treffen? entsprechende gesetzliche Regelungen auf den Weg ge- bracht. Nun kann man über den moralischen Aspekt trefflich streiten. Es ist aber auch ein rechtlicher Aspekt. Un- Lassen Sie mich zum Abschluss jedoch eines feststel- bestreitbar ist, dass der Verband der Allgemeinen Luft- len: Unserer Fraktion liegt es fern, der Bundeswehrfahrt e. V. auch nach Abwägung dieser Argumente Ihr Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 89. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2004 7899

Petra Pau (A) Luftsicherheitsgesetz ablehnt. Er ist der Auffassung, es Dr. Dieter Wiefelspütz (SPD): (C) sei „nicht dazu geeignet, die Sicherheit in der Luftfahrt Herr Präsident, gelegentlich habe ich den Eindruck, zu erhöhen“. Kein bislang bekannter Fall, so der Ver-dass in diesem Parlament zu viele Juristen sitzen. Die band, rechtfertige dieses Streben nach einem utopischen, haben die besondere Fähigkeit, Debatten in Richtungen also nicht herstellbaren Sicherheitsniveau. Auch der Ver- zu bringen, die vielleicht doch nicht angebracht sind. band der Allgemeinen Luftfahrt e. V. wittert also andere Beweggründe für dieses Gesetz als die von Ihnen hier Präsident Wolfgang Thierse: bemühten. Aber wenigstens hier oben sitzt ein Nichtjurist. Damit steht er nicht allein. Auch bei der Humanisti- (Wolfgang Bosbach [CDU/CSU]: Das ist ir- schen Union schrillen alle Alarmglocken. Sie meint, gendwie beruhigend!) dass Sie mit diesem Gesetz eine Superbehörde Flugsi- cherheit schaffen, die unter anderem mit den deutschen Inlands- und Auslandsgeheimdiensten zusammenarbei- Dr. Dieter Wiefelspütz (SPD): ten Respekt, Respekt. – Ich gehöre ja selber zu dieser seltsamen Berufsgruppe. (Hans-Joachim Hacker [SPD]: Böswillige Unterstellung!) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe den Ein- druck, dass in der Debatte heute manche Chance ver- und präventiv Daten über potenzielle Terroristen sam- passt worden ist, miteinander zu reden. Stattdessen meln soll. Dazu gehören auch die angesammelten Daten wurde, wie ich leider häufiger habe feststellen müssen, zu den Sicherheitsüberprüfungen an und auf Flughäfen. aneinander vorbeigeredet. Potenziell verdächtig sind Flugpersonal, Flughafenmit- arbeiter, aber auch Lieferanten, also Zigtausende. Wir alle wissen, dass die zivile Luftfahrt besonders verletzbar ist. Die Philosophie der Sicherheitsarbeit die- (Sebastian Edathy [SPD]: Wer am Flughafen ser Bundesregierung, dieses Bundesinnenministers und arbeitet, soll nicht überprüft werden? Das kann dieser rot-grünen Koalition heißt: Wer mehr Sicherheit doch nicht Ihr Ernst sein!) in der Luft haben will, muss deutlich mehr für die Si- Hinzurechnen muss man das, was an persönlichen Daten cherheit am Boden tun. – Das ist der Kern des Luftsi- zwischen der EU und den USA ausgetauscht wird bzw. cherheitsgesetzes und das ist der Kern zahlreicher Maß- demnächst gehandelt werden soll. Das hat weder etwas nahmen, schon seit Jahren, nicht erst seit dem mit der Flugsicherheit noch mit dem Grundgesetz zu tun. 11. September 2001. Das ist ein Prozess, der weiterge- Wenn Sie all die Regelungen wollen, die in diesem Ge- hen wird. Es gibt keine totale Sicherheit, aber man kann (B) setzentwurf stehen, dann – da hat Herr Bosbach Recht – das Menschenmögliche tun. Das packen wir an, sehr(D) bewegen Sie sich tatsächlich nicht mehr auf dem Boden überzeugend, mit sehr viel Geld, mit sehr viel Initiative, des Grundgesetzes. Wenn Sie konsequent sein wollen, mit sehr viel qualifizierten Mitarbeiterinnen und Mitar- dann müssen Sie unsere Verfassung in diesem Sinn än- beitern. Wir bemühen uns, zu erreichen, dass sie in Zu- dern. kunft noch bessere Arbeit abliefern können, als sie das heute schon tun. Wir erreichen Schritt für Schritt höhere (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch Standards. Das ist in dieserDebatte, wie ich finde, viel [fraktionslos]) zu wenig vorgekommen und viel zu wenig gewürdigt worden. Ich sage noch einmal ausdrücklich, dass der Die PDS sagt dazu klar Nein. Bundesinnenminister die gemeinsame Unterstützung der Nach dem Eiertanz, den der Kollege Ströbele heute rot-grünen Koalition dabei hat, seine Bemühungen in hier aufgeführt hat, sagen ich Ihnen, liebe Kolleginnen dieser Richtung fortzuführen. und Kollegen von den Grünen: Behaupten Sie nicht Wir werden auch andere Teile in diesem Sicherheits- mehr, dass Sie Welten von der Bürgerrechtspolitik und bereich komplettieren, beispielsweise den Küsten- und der Innenpolitik der CDU/CSU trennen! Meeresschutz. Dazu werden demnächst ähnliche Mo- (Wolfgang Bosbach [CDU/CSU]: Jetzt muss delle vorgestellt werden und dann sicherlich auch auf ich aufpassen! Jetzt werde ich unruhig! – eine gute organisatorische und gegebenenfalls gesetzli- Clemens Binninger [CDU/CSU]: Jetzt wehren che Grundlage gestellt werden. wir uns aber!) Bei dem Gesetz zur Neuregelung von Luftsicherheits- Wenn man sich die Ergebnisse Ihrer Politik ansieht,aufgaben finde ich sehr wichtig, dass die Sicherheitsar- kommt man zu dem Schluss: Das sind nur noch Mikro- chitektur unseres Landes nicht verändert, sondern ge- welten, die mit bloßem Auge überhaupt nicht mehr zu stärkt wird. erkennen sind. Sie schütten nur noch Ihre Soße darüber. (Beifall bei der SPD) (Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch Diese Sicherheitsarchitektur der Bundesrepublik [fraktionslos]) Deutschland besteht aus der Sicherheitsarbeit, aus der guten Zusammenarbeit von Bund und Ländern. Das hat Präsident Wolfgang Thierse: sich bewährt. Daran wollen wir nichts ändern. Es gibt für Ich erteile Kollegen Dieter Wiefelspütz, SPD-Frak- die äußere Sicherheit die Bundeswehr – mit einem hohen tion, das Wort. Leistungsprofil – und es gibt für die innere Sicherheit die 7900 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 89. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2004

Dr. Dieter Wiefelspütz (A) Polizei und den Bundesgrenzschutz. Das ist die grundle- serem Grundgesetz? Dürften wir die Bundeswehr nicht (C) gende Aufgabenverteilung, die sich in unserem Staat be- einsetzen? Meine persönliche Überzeugung ist: Eine sol- währt hat. An ihr wollen wir nichts ändern. Wenn Sie, che Lücke besteht nicht. Die Bundeswehr dürfte nach Herr Binninger und Herr Bosbach, sagen, dass Sie daran dem Grundgesetz schon heute – jetzt in dieser Sekunde – nichts ändern wollen, nehmen wir Sie beim Wort. eingesetzt werden. Man hörte auch schon einmal anderes von Ihnen. Ich (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des erinnere an Gesetzesinitiativen in den vergangenen Le- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Hans- gislaturperioden im Bundesrat, bei denen das anders Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ausgesehen hat. Wenn Sie heute sagen, dass Sie an dem NEN]: Genau! – Clemens Binninger [CDU/ bewährten Zusammenspiel in unserer Sicherheitsarchi- CSU]: Wo steht das?) tektur nichts ändern wollen, besteht zwischen uns ein Stück weit Gemeinsamkeit. Das möchte ich unterstrei- – Wir dürfen die Bundeswehr nach Maßgabe von Art. 35 chen und keine anders lautenden Verdächtigungen aneinsetzen. Ihre Adresse richten. Vielmehr nehme ich Sie beim Am 5. Januar letzten Jahres, Herr Bosbach, sind zwei Wort, dass Sie an dieser Architektur nichts ändern wol- Abfangjäger in Frankfurt aufgestiegen. Zum Glück hat len. man diesen Fall friedlich lösen können. Aber war dieses Wir haben hier viel von Verfassungsänderungen ge- Verhalten der Bundeswehr rechtswidrig? Nein, es war hört. Ich will vorab mit Ihnen einmal zwei Fragen debat- rechtmäßig. Allerdings haben wir gesagt, dass wir hier- tieren. für eine klare Rechtsgrundlage schaffen wollen. Man hätte sich, Herr Burgbacher, durchaus die Frage stellen Denken Sie doch bitte als Erstes daran, wie sich die können: Sollen wir einen solchen Extremfall überhaupt Position Deutschlands zur Frage Auslandseinsätze der regeln? Bundeswehr entwickelt hat. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des (Ernst Burgbacher [FDP]: Fragen Sie einmal BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Ernst die Grünen! – Weitere Zurufe von der FDP Burgbacher [FDP]: Das ist die Frage!) und der CDU/CSU) Das infrage zu stellen ist eine durchaus vertretbare Argu- Überlegen Sie bitte einmal, was von der rechten und der mentation. linken Seite des Hauses zu dieser Fragestellung mit Be- rufung auf die Verfassung alles vertreten worden ist. Präsident Wolfgang Thierse: (B) (Clemens Binninger [CDU/CSU]: Vor allem Kollege Wiefelspütz, gestatten Sie eine Zwischen-(D) von der linken Seite!) frage des Kollegen Bosbach? – Herr Binninger, lassen Sie uns doch einmal den Ver- such unternehmen, miteinander zu reden, statt über- Dr. Dieter Wiefelspütz (SPD): einander herzufallen. Bitte. (Clemens Binninger [CDU/CSU]: Die Unter- Wolfgang Bosbach (CDU/CSU): schiede muss man benennen!) Herr Kollege Wiefelspütz, ich habe allen Respekt vor Nehmen Sie doch auch einmal meine Argumente wahr. – Ihrer Rechtsansicht. Vor mir liegt die „Zeitschrift für Ihre Fraktion hat noch vor wenigen Jahren eine Ände- Rechtspolitik“, Ausgabe 4/2003, in der auch ein Artikel rung des Art. 87 a Grundgesetz vorgeschlagen; daranvon Ihnen steht. Haben Sie den Artikel gelesen, der ne- wollen Sie sich heute nicht mehr gerne erinnern lassen. ben Ihrem Artikel gestanden hat? In ihm ist mit überzeu- Wir haben das Grundgesetz nicht geändert, obwohl wir genden Argumenten zumindest festgestellt worden: eine völlig andere Staatspraxis haben. Bis 1993/94 ist von der damaligen Bundesregierung behauptet worden, Die Meinung, die Streitkräfte hätten … eingesetzt Auslandseinsätze der Bundeswehr seien nicht zulässig. werden dürfen, ist vertretbar, aber wenig gesichert. Heute machen wir das alles, ohne das Grundgesetz geän- Die Rechtslage ist unklar und verworren … Man dert zu haben, weil wir wissen, dass die Verfassung das sollte nicht auch diese Frage dem BVerfG zuschie- zulässt. Ich bitte einmal zu überlegen, ob wir mit Grund- ben. gesetzänderungen nicht besonders vorsichtig sein soll- Der Autor ist immerhin ein ehemaliger Richter am Bun- ten. desverfassungsgericht, nämlich Professor Dr. Klein. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ist Ihnen bekannt, dass der ehemalige Bundesminister DIE GRÜNEN) der Verteidigung Georg Leber, rückblickend auf einen Natürlich kann man das Grundgesetz ändern. Die Frage Luftzwischenfall während der Schlussfeier der Olympi- ist aber: Ist das wirklich zwingend erforderlich? schen Spiele 1972 in München, in seinen Memoiren ge- schrieben hat, diese Rechtsfrage müsse unbedingt ein- Ich möchte Ihnen eine zweite Frage stellen: Was wäre mal verfassungsrechtlich geklärt werden, denn sie sei denn, wenn es heute einen solchenLuftzwischenfall verfassungsrechtlich nicht klar und es sei keinem zu- – wir alle hoffen, dass er nie passieren möge – gäbe?zumuten, auf einer unsicheren verfassungsrechtlichen Hätten wir dann, Herr Bosbach, eine Schutzlücke in un- Grundlage zu entscheiden und zu handeln? Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 89. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2004 7901

(A) Dr. Dieter Wiefelspütz (SPD): wäre in der Tat eine schlechte Verfassung. Wir haben ein (C) Herr Bosbach, selbstverständlich kenne ich diesengutes Grundgesetz, Herr Bosbach. Lesen Sie es, studie- Beitrag von Herrn , der – anders, als ren Sie es, verinnerlichen Sie es! Sie es vortragen – anerkennt, dass meine Auffassung Wir können das Grundgesetz natürlich ändern; aber vertretbar ist. Ich spreche über Kollegen, die sich rechts- wir haben schon eine ganz besondere Beweislast, wenn wissenschaftlich äußern, selbstverständlich sehr fair und wir das tun. Wir haben vielleicht an der einen oder ande- respektvoll. Ich kenne die Diskussionen sehr genau und ren Stelle eher zu viel des Guten auf diesem Sektor ge- ich kann Ihnen nur sagen: Ich freue mich auf die Anhö- tan, statt klug mit der Verfassung umzugehen. Ich rung vor dem Innenausschuss, ich bin geradezu rasend stimme Ihnen zu, Herr Bosbach und Herr Binninger: Es interessiert an dieser Anhörung, und ich werde keine Se- lohnt sich, über die verfassungsrechtliche Seite zu disku- kunde fehlen, lieber Herr Bosbach; denn ich bin wirklich tieren, natürlich. Als 1968 Art. 35 des Grundgesetzes hochgespannt auf die Äußerungen der ersten Garde der verfasst wurde, gab es die heutige terroristische Bedro- deutschen Verfassungsrechtler, die dort vertreten sein hung nicht. werden. Ich habe mich schon selber als Sachverständi- gen ins Gespräch gebracht, (Clemens Binninger [CDU/CSU]: In der Tat!) (Heiterkeit und Beifall bei der SPD) Art. 35 hat seine innere Ursache in der Flutkatastrophe von 1962; das wissen wir alle. Sollen wir wegen jeder aber meine Fraktion will mich nicht vorschlagen, Herr neuartigen Gefahr die Verfassung ändern, meine Damen Bosbach, was ich sehr bedaure. und Herren? Sollten wir, der Bundestag, uns nicht viel- Ich kenne diese Debatte natürlich; aber ich bitte sehr mehr bemühen, eine gemeinsame, kluge Interpretation um Verständnis für die Position, die ich vertrete – nicht dieses Grundgesetzes vorzunehmen? Das ist doch das nur mit einer Sprechblase in der „Zeit“, die Sie zitiert ha- viel näher Liegende! ben, sondern in Form einer vertieften Auseinanderset- Hier ist immer die Rede davon, was die Bundeswehr zung mit den Fragestellungen in der „Zeitschrift für darf und was sie nicht darf. Ich rate Ihnen, auch darüber Rechtspolitik“, in der Zeitschrift „Die Polizei“, in der einmal etwas mehr nachzudenken. Die Bundeswehr darf „Neuen Zeitschrift für Wehrrecht“ und in anderen Publi- – der Bundesinnenminister hat dankenswerterweise eine kationen –, nämlich dass das sehr wohl verfassungs-Arbeitsgruppe eingesetzt, um das klären zu lassen – der rechtlich vertretbar ist. Gehen Sie bitte davon aus, dass Polizei in weit größerem Maße Amtshilfe leisten, als das diese Bundesregierung und die rot-grüne Koalition nie- landläufig angenommen wird. Selbstverständlich kann mals ein Gesetz zu einer ersten Lesung in den Bundestag die Bundeswehr in vielen Bereichen helfen. Es gibt ver- einbringen würden, bei dem sie verfassungsrechtliche fassungsrechtlich lediglich dann ein Problem, wenn sie (B) (D) Zweifel hätten. Das wäre doch nicht verantwortbar! mit Zwangswirkung eingesetzt wird; dann bedarf es in (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ der Tat einer grundgesetzlichen Ermächtigung. Selbst DIE GRÜNEN) der berühmte Spürpanzer „Fuchs“ oder andere gepan- zerte Fahrzeuge dürfen in Deutschland im Innern einge- Das kann man uns auch nicht unterstellen. setzt werden, solange die Soldaten nicht bewaffnet sind. Ich weiß, dass man in dieser Frage anderer Auffas- Das geht alles; man muss das nur einmal durchchecken. sung sein kann. Wir werdenuns selbstverständlich der Ich bin sehr an den Ergebnissen der Arbeitsgruppe der Anhörung stellen. Wir sind hochinteressiert und offen; Innenministerkonferenz interessiert. man kann mich überzeugen. Aber Sie sollten auch un- sere Überzeugung zur Kenntnis nehmen. Wenn Sie die Präsident Wolfgang Thierse: Verfassung so interpretieren, dass man zwar die Folgen Herr Kollege Wiefelspütz, Sie müssen bitte zum Ende von Unfällen mithilfe der Bundeswehr beseitigen darf, kommen. aber nicht die Ursachen, dann kann ich nur sagen: Die Verfassung ist klüger als Sie und Herr Binninger. Dr. Dieter Wiefelspütz (SPD): (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ich komme gerne zum Ende. Diese Debatte soll nicht DIE GRÜNEN) zu einem juristischen Seminar werden; das wäre in der Tat fatal. Es wäre wirklich ein Schildbürgerstreich, wenn in der Verfassung stünde, dass man warten müsste, bis ein Un- Ich bin der Auffassung, dass dieses Gesetz ein ganz glück passiert, und dann nur aufräumen dürfte, dass aber, wichtiger Beitrag ist, die Sicherheitsarchitektur in wenn die Möglichkeit bestünde, das Unglück dennoch Deutschland zu verstärken und zu vertiefen. Es ist ein nicht verhindert werden dürfte. Das ist doch abwegig, weiterer großer Erfolg von Rot-Grün und von Bundes- Herr Bosbach! innenminister Otto Schily. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Schönen Dank. DIE GRÜNEN – Wolfgang Bosbach [CDU/ (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten CSU]: Also Ja zum Einsatz der Bundeswehr des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) im Innern!) Ich sage: abwegig! Die Verfassung ist klüger als Sie. Präsident Wolfgang Thierse: Eine Verfassung, die solch eine Interpretation zuließe, Ich schließe die Aussprache. 7902 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 89. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2004

Präsident Wolfgang Thierse (A) Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- Der Bund gibt der Bahn nicht das versprochene Geld (C) wurfs auf Drucksache 15/2361 an die in der Tagesord- für Schieneninvestitionen. Mehdorn muss den Tiefbau- nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es unternehmen schreiben, dass alle Ausschreibungen und dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Vergaben gestoppt und laufende Bauvorhaben qualifi- Dann ist die Überweisung so beschlossen. ziert abgebrochen werden müssen. Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 19 a und 19 b (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist ja ungeheu- auf: erlich!) a) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ Wir wollen, dass die von uns 1994 begonnene Bahn- CSU und der FDP reform konsequent weitergeführt wird. Wird dieses im Moment aber getan? Die damaligen Ziele gelten unver- Leitlinien für die Vollendung der Bahnreform ändert: mehr Verkehr auf die Schiene und weniger Be- – Drucksache 15/2156 – lastung des Steuerzahlers. Deshalb wollen wir unterneh- merische Unabhängigkeit der Bahn statt Behördenbahn, Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) Leistungs- und Qualitätssteigerung sowie mehr Wettbe- Rechtsausschuss werb und dazu einen diskriminierungsfreien Zugang Finanzausschuss Dritter zum Schienennetz. Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit Haushaltsausschuss (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst Offenbar hat die Bundesregierung diese Ziele aus den Friedrich (Bayreuth), Joachim Günther (Plauen), Augen verloren; denn seit Schröders Amtsantritt ist die Eberhard Otto (Godern), weiterer Abgeordneter Bahnreform mit einem klaren Dezentralisierungsmodell und der Fraktion der FDP durch ein Rezentralisierungsmodell mit einem ständig wachsenden Wasserkopf und einem kleinen Napoleon an Gutachtenvergabe zu Fahrgastrechten revi- der Spitze ersetzt worden. dieren – Neutralen Gutachter beauftragen ( [CDU/CSU]: „Kleiner – Drucksache 15/2279 – Napoleon“ ist richtig!) Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) Das hat natürlich Konsequenzen. Es gibt amtliche Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Zahlen des Bundesverkehrsministeriums, veröffentlicht Landwirtschaft in „Verkehr in Zahlen“, und des Bundesfinanzministe- (B) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für riums. Gelegentlich wundert mich, dass die DB AG und (D) die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. – Ich Herr Mehdorn in Diskussionen diese amtlichen Zahlen höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. bestreiten und behaupten, sie seien Unfug. Dass so mit der Wahrheit umgegangen wird, ist unerträglich. Liest Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem man diese unbestreitbaren amtlichen Zahlen, die mehr Kollegen Dirk Fischer, CDU/CSU-Fraktion. aussagen als die unternehmensgefertigte Propaganda, dann wird deutlich, dassdie DB AG auf dem besten (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wege zurück in die Pflegebedürftigkeit ist.

Dirk Fischer (Hamburg) (CDU/CSU): (Vorsitz: Vizepräsident Dr. ) Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Erstens. Nach unserer Auffassung ist diese Bundes- Kollegen! Es ist höchste senbahn Ei für die richtigen regierung mit ihren vier Kurzfrist-Verkehrsministern Weichenstellungen zur Vollendung der Bahnreform. schuld daran. Sie haben es versäumt, für klare ordnungs- politische Rahmenbedingungen zu sorgen. ( [Zingst] [CDU/CSU]: „Höchste Eisenbahn“ im wahrsten Sinne des Wortes!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Das Maut-Desaster zeigt in erschreckender Deutlich- Ordnungspolitik ist aber die originäre Aufgabe des Staa- keit, wohin die Reise unter rot-grüner Verkehrspolitik tes. geht: nicht nur aufs Abstellgleis, sondern führerlos und mit Volldampf ins Chaos. ( [CDU/CSU]: Das stimmt! So steht es in der Verfassung!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Reinhard Weis [Stendal] [SPD]: Dass Dampf- Dem Vorstandschef Mehdorn wird ein Gebaren erlaubt, lokomotiven nicht mehr fahren, wissen Sie?!) als würde Daimler-Chef Schrempp zu Trittin ins Minis- terium laufen und sich selbst niedrige Abgasgrenzwerte – Herr Kollege Weis, bevor Sie einen weiteren Zwi-machen. Dies darf nicht hingenommen werden. Denn so schenruf machen, möchte ich Sie darauf hinweisen, dass wird die Chance vergeben, zu einer leistungsfähigen im Moment eine Meldung über den Ticker läuft, dass die kundenorientierten Wettbewerbsbranche, die zu größerer Eisenbahngewerkschaft Transnet bekannt gibt, dass der Verlässlichkeit, Sicherheit und sinkenden Preisen führt, Vorstand der DB AG für 2 500 Arbeitnehmer Kurzarbeit zu kommen. So bleibt ein unverändert dominierendes beantragt hat. Ich sage dies, damit Sie wissen, was die monopolistisches Staatsunternehmen mit Marktanteilen Stunde geschlagen hat und wie die Wahrheit aussieht. im Schienenverkehr von 99,5 Prozent im Personenfern- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 89. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2004 7903

Dirk Fischer (Hamburg) (A) verkehr, 91,5 Prozent im Personennahverkehr – ohne die Fünftens. Seit Jahren stagnieren die Umsätze bei rund (C) Regionalisierungsmittel und die Bestellermöglichkeiten 15 Milliarden Euro. Hierbei muss man den Zukauf von der Länder hätten wir wahrscheinlich auch hier einenStinnes natürlich herauslassen. Diese Situation besteht Anteil von knapp 99 Prozent – und 97,2 Prozent im Gü- trotz regelmäßiger Preiserhöhungen. Zum 1. April 2004 terverkehr bestehen. wird eine weitere Preiserhöhung von im Durchschnitt 3,4 Prozent als ein massives Kundenopfer für das fehlge- Die Konsequenz ist: Wann und wo im Schienenver- schlagene Bahnpreissystem durchgesetzt. Der angeblich kehr Wettbewerb stattfinden darf, entscheidet letztlich attraktive Höchstpreis von 111 Euro für Fahrtstrecken Herr Mehdorn. Ich finde, dazu passt ein Zitat. Er hatvon mehr als 700 Kilometer ist nur für Flensburger at- wörtlich gesagt: traktiv, die ständig zum Bodensee reisen und dabei hart- Mein größtes Problem ist, dass alle eine kleinenäckig jedes Angebot eines Billigfliegers ignorieren – elektrische Eisenbahn zu Hause haben, damit spie- und das, obwohl Herr Mehdorn im Oktober 2002 im len und Spaß haben. Und alle denken, sie könnten Fernsehsender Phoenix wörtlich sagte, Zugfahrten über auch mit der großen Eisenbahn spielen. Ich bin aber vier Stunden seien eine Tortur. der Einzige, der die große hat. Es drängt sich die Frage auf: Ist dieses Unternehmen Das könnte auch von Napoleon stammen. börsenreif? Werden Aktionäre – vor allem nach den tol- len Erfahrungen bei der Telekom – wie wild hinter DB- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Aktien her sein? Ein Kriterium der Börsenfähigkeit von Transportunternehmen ist die Bewertung mit dem Elffa- Zweitens. Durch Minister Stolpes Glanzleistung bei chen des EBIT, also des Jahresgewinns vor Zinsen und der Einführung der LKW-Maut sinken die Haushalts- Steuern. Dies würde bei der DB AG ein EBIT von mittel für Bahninvestitionen von 4,4 Milliarden Euro 1,6 Milliarden Euro erfordern. Nach der letzten verbind- auf nur noch 3,3 Milliarden Euro in diesem Jahr; Ten- lichen Zahl von 2002 lag das EBIT leider bei nur denz weiter fallend. 37 Millionen Euro. Ein weiteres Kriterium der Börsenfä- (Zuruf des Abg. Reinhard Weis [Stendal] higkeit ist der Free Cash Flow, der auch die Dividenden- [SPD]) fähigkeit des Unternehmens ausdrückt. Dieser müsste plus 1,4 Milliarden Euro betragen. Leider lag die letzte Denn nach der Haushaltsplanung – Herr Kollege Weis, verbindliche Zahl 2002 bei minus 1,4 Milliarden Euro. ich wundere mich, dass Sie das alles so gelassen hinneh- Die DB AG bräuchte für ein Rating A – sonst würden men – die Zinsen sehr teuer – eine Tilgungsdeckung von 30 Prozent. 2002 hatte sie leider nur eine von (B) (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Das wundert 11,1 Prozent. Das Verhältnis von Fremd- und Eigenkapi- (D) mich auch!) tal muss bei etwa 1 : 1 liegen, bei der DB AG lag es aber sollen diese Mittel bis 2008 sogar auf nur noch knapp 2002 bei 2,7 : 1. 3 Milliarden Euro reduziert werden. Diese Zahlen habe ich mir nicht ausgedacht, um ir- (Zuruf von der SPD: Wer ist schuld?) gendetwas infrage zu stellen, was wunderbar ist, sondern das sind die Zahlen der Bundesregierung. Neubauvorhaben müssen gestoppt und in die Zukunft (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Ah ja! – Renate verschoben werden. Selbst für die Erhaltung des Be- Blank [CDU/CSU]: Das ist interessant!) standsnetzes reichen die Mittel nicht aus. England lässt grüßen! Wie man hört, ist die Eigenkapitaldecke der DB AG in der Zwischenzeit recht dünn geworden. Am (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Es ist eigentlich 31. Dezember 2002 betrug dieEigenkapitalquote ein Skandal, dass das so ist!) 12,4 Prozent und sie ist zwischenzeitlich weiter gesun- Drittens. Die rapide Entwicklung derNeuverschul- ken. dung der DB AG ist besorgniserregend. Zu leiden haben (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Das über- am Ende wie immer die Bürger und Steuerzahler, denen rascht aber nicht!) mittlerweile zusätzlich zur Entschuldung zu Beginn der Bahnreform 1994 trotz weiter fließender erheblicherDas heißt, das Unternehmen braucht eine Kapitalspritze staatlicher Subventionen Neuschulden von des rund Bundes, was vor allem ihre Kreditfähigkeit bei den 25 Milliarden Euro, aufgelaufen zwischen 1994 undBanken stärken würde. 2003 – dies ist ein zweieinhalbmal so hohes Verschul- Angeblich – so hört man – will die Pflegemutter zur dungstempo wie vor der Bahnreform –, auf ihr Schuld- Pflegetochter ganz besonders lieb sein. So soll angeblich konto geschrieben werden. die Eigenmittelbeteiligung der DB AG an Infrastruktur- (Zuruf von der CDU/CSU: Wahnsinn!) projekten von 2004 bis 2008 um 750 Millionen Euro ge- mindert werden. Angeblich sollen auch künftig in erheb- Viertens. Seit Jahren sinken die Verkehrsleistungen lichem Umfang dem Unternehmen gegebene zinslose kontinuierlich. Die letzten verbindlichen amtlichen Zah- Darlehen des Bundes in Eigenkapital umgewandelt wer- len liegen bei minus 6,2 Prozent im Schienenpersonen- den. So soll wohl auch die Mitwirkung des Deutschen verkehr und minus 3,2 Prozent im Schienengüterver-Bundestages an Investitionsentscheidungen Schiene kehr. über den Bedarfsplan Schiene ausgehebelt werden. 7904 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 89. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2004

Dirk Fischer (Hamburg) (A) (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Da schau gewinnt den Eindruck, dass man noch nicht einmal die (C) her!) minimalen Forderungen der Task Force beschleunigt umsetzen will. Ich frage also: Wann können wir endlich Die Forderungen meiner Fraktion lauten: Wir wollen mit dem Gesetzentwurf der Bundesregierung rechnen? unverändert an dem Ziel eines Schienenverkehrsmarktes festhalten, auf dem kundenfreundliche und in fairem Wettbewerb konkurrierende Unternehmen tätig sind. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Herr Kollege, denken Sie bitte an Ihre Redezeit. (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Genau!) (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Ich könnte ihm Davon kann aber auch nach zehn Jahren Bahnreform im- ewig zuhören!) mer noch keine Rede sein.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dirk Fischer (Hamburg) (CDU/CSU): Ich sage ganz deutlich: Uns geht es darum, die Infra- Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. – Eine zü- strukturverantwortung des Staates für sein steuerfi- gige und umfassende Bestandsaufnahme und kritische nanziertes Schienennetz zu erhalten. Bewertung der Effekte der Bahnreform mit externer Evaluierung und ordnungspolitischen Empfehlungen an (Beifall des Abg. Eduard Oswald [CDU/ den Gesetzgeber und den Bund als Alleineigentümer ist CSU]) unaufschiebbar. Darauf haben wir als Parlament einen Das Schienennetz darf nach den schlechten Erfahrungen Anspruch und – das sage ich ausdrücklich – das verlan- in England nicht zum Renditeobjekt des Kapitalmarkts gen wir von der Bundesregierung. gemacht werden. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Dies geschähe allerdings, würde man entgegen den Pla- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: nungen der Bahnreform 1994 die Gesamtholding ein- Das Wort hat nun der Kollege Reinhard Weis, SPD- schließlich Netz an die Börse bringen. Darum wird im Fraktion. Kern gestritten. (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Jetzt kommt die (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Jawohl!) Antwort!) Der diskriminierungsfreie Zugang eines jeden Wettbewerbers zum Schienennetz ist für uns von heraus- Reinhard Weis (Stendal) (SPD): (B) ragender Bedeutung. Ich erinnere daran, dass der Sach- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und (D) verständige Pällmann als Vorsitzender der Pällmann-Kollegen! Wer die Diskussionen im Bundestag zum Kommission in unserem Ausschuss danach gefragt hat, Thema Bahnpolitik seit Beginn der Bahnreform auf- warum die Bahn das System CIR-ELKE nicht weiterent- merksam verfolgt hat, der muss bei der heutigen Opposi- wickelt hat, das durch Verringerung der Blockabstände tion – hier meine ich vor allen Dingen die Union – einen erheblich mehr Abwicklungskapazität im deutschenerstaunlichen Wandlungsprozess feststellen. Man könnte Schienennetz bringen würde und damit die Finanzierung sagen, die Union hat sich im Laufe der Zeit mehrere zugunsten der Steuerzahler günstiger gestalten würde. Häutungen erlaubt. Damit würden mehr Trassenentgelte eingenommen. (Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Über- (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!) haupt nicht! – Eduard Oswald [CDU/CSU]: Wir sind sehr gradlinig!) Warum wurde es nicht weiterentwickelt? Die Bahn hat überhaupt kein Interesse daran, über den Eigenbedarf In der 13. Wahlperiode feierten Sie – damals noch als hinaus Kapazitäten bereitzustellen, die nur von Wettbe- Regierungsfraktion – die Bahnreform als durchaus er- werbern genutzt werden. Die Bahn schätzt es eher zu sa- folgreich. Aus einigen Reden des Kollegen Fischer geht gen: Das tut uns Leid, es ist nichts mehr frei; der Fahr- das klar hervor. An keiner Stelle findet sich bei der plan ist ausgereizt, ihr könnt nicht mehr. Union vor 1998 ein Hinweis auf die Trennung von Netz Das ist nicht unser Vorwurf, sondern der Vorwurf des und Betrieb als das zentrale bahnpolitische Thema; Vorsitzenden der Pällmann-Kommission, die Herrganz anders, als Herr Fischer es jetzt zum Ende seiner Müntefering seinerzeit als Minister einberufen hat. Da- Rede vorgestellt hat. ran möchte ich hier erinnern. (Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Nein!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Natürlich weiß ich, dass die Trennung in der Bahnreform Warum lässt sich die Bundesregierung bei der Umset- als eine Option angelegt war, sie war aber nicht zwin- zung der Task-Force-Ergebnisse – nach EU-Richtlinie gend. Sonst hätte man vor zehn Jahren der DB AG das müssten sie seit dem 15. März 2003 im Gesetzblatt ste- Eigentum am Netz ja nicht übertragen. hen – so viel Zeit? Das ist doch immerhin ein sinnvoller (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Das ist Zwischenschritt bei der Reform des Eisenbahnwesens. nicht wahr!) Ich dachte eigentlich, Herr Mehdorn würde gewaltigen Druck machen. Es ist aber gar nichts passiert, und man Daran waren Sie maßgeblich beteiligt. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 89. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2004 7905

Reinhard Weis (Stendal) (A) (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Man sollte Das zweite Ziel der Bahnreform, mehr Verkehr auf (C) hier nicht die Märchen des Herrn Mehdorn er- die Schiene zu bringen, ist bisher nur teilweise erreicht zählen!) worden. Ich akzeptiere auch, dass die Bundesregierung in die- (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Gar nicht!) sen zehn Jahren ergebnisoffen weitergedacht hat. Die Frage, ob die DB AG mit oder ohne Netz bessere Chan- Da liegt keine Erfolgsbilanz vor. Im Personennahverkehr cen im Wettbewerb haben wird, können wir nicht allein ist die Rechnung durch die Regionalisierung aufgegan- nach reinen Wettbewerbskriterien beantworten. Wer am gen. Die Zuwachsraten imPersonennahverkehr der vergangenen Mittwoch die Veranstaltung des Deutschen letzten Jahre sind unbestreitbar. Hier hat die Schiene mit Verkehrsforums zur Bilanz und zu Ausblicken der Bahn- rund 30 Prozent zugelegt. Im Personenfernverkehr und reform unvoreingenommen verfolgt hat, der wird zuge- stärker noch im Güterverkehr muss die Schiene natürlich ben müssen, dass der reinen Wettbewerbstheorie einenoch deutlich zulegen. Da sind die Ziele nicht erreicht ganze Reihe praktischer Probleme gegenüberstehen. worden. Wir dürfen auch die betriebswirtschaftliche Seite un- (Zuruf von der SPD: Richtig!) seres bundeseigenen Unternehmens nicht ausblenden. In beiden Bereichen ist vor allem die DB AG als größter Dazu gehört natürlich auch die Frage, ob der Konzern Transporteur, aber auch die Politik in der Pflicht. Unsere mit oder ohne Netz die besseren Chancen beim Einwer- Aufgabe wird es auch in den kommenden Jahren sein, ben privaten Kapitals hat. Wer diese Fragen vorschnell die Rahmenbedingungen für die Schiene zu verbessern, ideologisch oder parteipolitisch beantwortet, schwächt und zwar für die DB AG genauso wie für alle Eisenbah- das leistungsfähigste deutsche Bahnunternehmen vornen, die in Konkurrenz zur DB AG ihre Positionen am Öffnung des europäischen Schienenverkehrsmarktes.Markt verbessern sollen. Das kann nicht in unserem nationalen Interesse liegen. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Albert (Beifall bei der SPD) Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/DIE Ich komme zurück zu den Anträgen der CDU/CSU- GRÜNEN]) und der FDP-Opposition, die Anlass der heutigen De- Für den Güterverkehr möchte ich beispielhaft das batte sind. Ihre Schwerpunktverlagerung auf die Tren- von uns in Gang gesetzteGleisanschlussprogramm nung von Netz und Betrieb zeigte sich schlagartig, als nennen. Mit diesem Programm kann es gelingen, dem Sie sich nach der Bundestagswahl 1998 auf den Opposi- Schienengüterverkehr zusätzliche Potenziale zu erschlie- tionsbänken wiederfanden. Das Thema stand plötzlich ßen. Für das Haushaltsjahr 2004 beginnen wir bereits im Mittelpunkt. Es sollte neuen Schwung für das System (B) mit der Förderung von privaten Gleisanschlüssen. (D) Schiene bringen – so titelte auch ein Antrag der CDU/ CSU-Fraktion. Es gab einen weiteren zur konsequenten (Zuruf von der SPD: Bravo!) Trennung von Netz und Betrieb im deutschen Schienen- Mehr Unternehmen als bisher sollen mit Gleisanschlüs- verkehr. Sie hielten sogar Anfang 2002 einen verkehrs- sen direkt an die Schiene angebunden werden. politischen Kongress ab. (Zuruf von der SPD: Das haut hin!) (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Großes Echo!) Selbstverständlich werden wir diese Förderung an ver- Erst Ihr Kanzlerkandidat, der bayerische Ministerpräsi- bindliche Zusagen zur Transportmenge knüpfen, damit dent, hatte damals am 22. April 2002 – übrigens pikan- keine Fehlförderungen initiiert werden. terweise trotz Ihres verkehrspolitischen Kongresses und entgegen der erwünschten Botschaft – die Diskussion (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Mit wel- über das Thema Trennung für beendet erklärt. Das war chem Geld denn? Wo soll denn das herkom- ein erneuter Richtungswechsel in Ihrem Zickzackkurs. men?) (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ Mit den verbesserten Netzstrukturen im Netzzugang DIE GRÜNEN]: Das stimmt!) werden wir die Attraktivität der Schiene für die verla- dende Wirtschaft deutlich erhöhen. Wenn wir heute über die Bahnreform reden, ist dreier- lei festzuhalten: (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Ihr könnt ja nicht mal das einhalten, was ihr zugesagt Das erste Ziel, die Haushaltsentlastung, ist erreicht habt, geschweige denn neue Projekte!) worden, und zwar stärker, als nach den Prognosen vor der Bahnreform ursprünglich erwartet. Sie behauptenDieses Konzept funktioniert in unserem Nachbarland das Gegenteil, aber hier gilt: Wenn man alle gesetzlichen Österreich sehr erfolgreich. Zahlungsverpflichtungen des Bundes im Bahnsektor, (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des zum Beispiel für den Beamtenbereich, der jetzt im Bun- Abg. Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ deseisenbahnvermögen verankert ist, und auch die In- DIE GRÜNEN]) vestitionsmittel des Bundes für das Netz, die mit Verfas- sungsauftrag begründet sind, berücksichtigt, hat sich die Selbstverständlich kann ein verstärkter Wettbewerb Haushaltsbelastung für die DB AG gegenüber der Situa- auf der Schiene zu mehr Schienenverkehr führen. Ich tion der alten Bundesbahn und der Reichsbahn deutlich glaube, auch das ist unbestritten. Mit der jetzt anstehen- verringert. Das ist unbestreitbar. den Novelle des Allgemeinen Eisenbahngesetzes 7906 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 89. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2004

Reinhard Weis (Stendal) (A) werden wir den Ordnungsrahmen dafür neu stecken. Die nicht mehr ernsthaft verfolgen. Damit wären wir wieder (C) Empfehlungen der Task Force „Zukunft der Schiene“, bei dem Zickzackkurs, den ich bereits vorhin erwähnte. die mit dem neuen europäischen Recht im Einklang sind, Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir über die werden wir mit der AEG-Novelle in vollem Umfang um- Perspektiven des größten deutschen Eisenbahnunterneh- setzen. Ich freue mich, dass auch die Opposition diese mens sprechen, müssen wir auch über seineKapital- Empfehlungen inzwischen als einen wichtigen Schritt in marktfähigkeit diskutieren. In seiner Rede anlässlich Richtung mehr Wettbewerb anerkannt hat. des zehnten Jahrestages der Deutschen Bahn AG hat der (Zuruf von der SPD: Ja, manchmal sind sie Bundeskanzler am 14. Januar dieses Jahres deutlich ge- auch sehr vernünftig!) macht – ich zitiere ihn –: Drittens muss ich sagen: Die Bahnreform dauert wei- Und wenn man eine konsequente unternehmerische ter an. Ein Teil des Weges ist geschafft. Einen weiteren Ausrichtung will, dann muss man sich auch mit Teil haben wir noch vor uns. Das gilt auch für den dem Thema des Börsengangs der Deutschen Sanierungsprozess bei der DB AG, dem größten deut- Bahn AG beschäftigen. Nach meiner festen Über- schen Bahnunternehmen. Der Vorstandsvorsitzende, zeugung wird die Beteiligung privater Investoren Hartmut Mehdorn, den Sie offensichtlich als Ihren die unternehmerische Entwicklung der Bahn be- Hauptgegner auserkoren haben, hat hier in den letzten schleunigen. Auch deshalb ist ein Börsengang der Jahren insgesamt einen erfolgreichen Job gemacht. Das Bahn ein wichtiges Ziel der Bundesregierung. sage ich mit aller Deutlichkeit, auch wenn es Vorstands- Damit ist meiner Meinung nach alles zur Begründung entscheidungen geben mag, die im Nachhinein korrigiert der Überlegungen zum Thema Börsengang gesagt. werden mussten. Es gab Entscheidungen, die uns Politi- ker geärgert haben oder für die uns das Verständnis Ich denke, wir sind uns fraktionsübergreifend einig, fehlte. Bis heute haben allerdings einige Politiker, aber dass ein solcher Schritt aber nur dann sinnvoll und er- auch Journalisten und die Öffentlichkeit noch nicht ak- folgversprechend sein kann, wenn die betriebswirt- zeptiert, dass wir uns 1993 alle miteinander für die Um- schaftlichen Voraussetzungen dafür erfüllt sind. gestaltung der Bahn in ein Wirtschaftsunternehmen ent- schieden haben. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Zuruf von der SPD: Sehr gut!) Die Bahn muss dauerhaft schwarze Zahlen vorlegen. Das bedeutet, dass der Vorstand für den wirtschaftlichen (Zuruf von der SPD: So ist es!) Erfolg des Unternehmens einzustehen hat. Eine schöne Bilanz in einem guten Jahr reicht nicht. (B) (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Donnerwet- (D) ter! Das ist ja eine völlig neue Erkenntnis!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Die Fortschritte, die das Unternehmen DB AG inzwi- schen gemacht hat, kann und darf man nicht wegdisku- Daher erwarten wir von der Bundesregierung und tieren. Ein Zuwachs an Produktivität, ein besseres Kos- dem Bahnvorstand, dass sie im Anschluss an eine einge- tenmanagement und eine stärkere Kundenorientierung hende betriebswirtschaftliche Prüfung die Chancen und sind klar erkennbar geworden. Es ist aber auch allenRisiken eines Börsengangs klar aufzeigen. klar, dass die Bahn noch leistungsfähiger werden und sich noch mehr an den Interessen und Bedürfnissen ihrer (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist wahr! Wo Kunden orientieren muss. er Recht hat, hat er Recht!) Wir erwarten, dass die Bundesregierung die verkehrs- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ und haushaltspolitischen Auswirkungen eines Börsen- DIE GRÜNEN) gangs umfassend prüft. Natürlich werden wir uns in die- Allerdings ist es mit derGrundsatzentscheidung für sen Prozess einbringen müssen. eine unternehmerische Bahn unvereinbar, dass Sie – ich (Zuruf von der SPD: Aber ganz sicher! – Zuruf schaue wieder in Richtung CDU/CSU –, wie gegen Ende von der CDU/CSU: Wenn wir dürfen!) der letzten Legislaturperiode geschehen, die Finanzierung des Personenfernverkehrs durch den Bund fordern. Hierzu Vor allem das verkehrspolitische Ziel, mehr Verkehr auf gibt es einen Antrag von Ihnen mit dem Titel „Gewähr- die Schiene zu bringen, muss auch nach einem Börsen- leistung des Schienenpersonenfernverkehrs“. Durch die gang bzw. nach der Herstellung der Börsenfähigkeit der Umsetzung dieser Forderung würde der jetzt eigenwirt- DB AG verfolgt werden. schaftliche Sektor des Unternehmens wieder dauerhaft von staatlichen Zuschüssen abhängig. Damit wird klar: Weder die Kapitalmarktfähigkeit noch ein Börsengang können und dürfen Selbstzweck (Zuruf von der SPD: Das kann doch nicht sein. Messlatte ist auch dabei das verkehrspolitische wahr sein!) Ziel. Wir legen daher großen Wert darauf, dass das Schienennetz in Bezug auf Netzstandards und Netz- An dieser Stelle hätten Ihr Subventionsabbauspezialist, größe eindeutig definiert wird. Ministerpräsident Koch, und unserer, Ministerpräsident Steinbrück, den Rotstift dann allerdings zu Recht ange- (Dr. [SPD]: Darauf müssen wir setzt. Ich nehme aber an, dass Sie diese Linie inzwischen sehr aufpassen!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 89. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2004 7907

Reinhard Weis (Stendal) (A) – Richtig. – Um das verkehrspolitische Ziel zu erreichen, Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Prozess der(C) müssen alle Modelle für eine Zuordnung des Netzes um- Bahnreform ist noch nicht abgeschlossen. Mit der Ge- fassend und ergebnisoffen geprüft werden. setzgebung zur Umsetzung des ersten europäischen Eisenbahnpaketes werden wir diesen Weg weitergehen. Bundesregierung und Koalitionsfraktionen nehmen Die öffentliche Anhörung am 29. März zur Bilanz der ihre Infrastrukturverantwortung sehr ernst; wir brau- Bahnreform und zum Ausblick wird uns dafür weitere chen also keine Ermahnung des Kollegen Fischer. Anregungen geben. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ich möchte abschließend die Opposition bitten, im DIE GRÜNEN) Streit um die besseren Argumente nicht nur die Bedingun- Wir haben in den letzten Jahren erhebliche Mittel für den gen für den Wettbewerb auf dem deutschen Schienennetz Aus- und Neubau sowie die Modernisierung des Schie- im Blick zu haben, sondern auch die strategische Stärke nennetzes bereitgestellt. Deutlich mehr Mittel sind von unseres größten deutschen Schienenverkehrsanbieters für uns vergeben worden als von Ihnen in den letzten Jahren den beginnenden europäischen Wettbewerb auf der Ihrer Regierungsverantwortung. Das verschweigen Sie Schiene. Wir könnten dann – davon bin ich überzeugt – gerne. manche Auseinandersetzung sachbezogener miteinander ausfechten. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Horst Friedrich [Bayreuth] Danke für die Aufmerksamkeit. [FDP]: Das ist doch nicht wahr!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Wegen Ihrer finanziellen Fehlentscheidungen bei der DIE GRÜNEN) Bahn wurde vor allem das Bestandsnetz der Bahn in den ersten Jahren nach der Bahnreform sträflich vernachläs- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: sigt. Ich erteile das Wort dem Kollegen Horst Friedrich, FDP-Fraktion. (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Na, na! Jetzt ge- hen Sie aber zu weit!) Horst Friedrich (Bayreuth) (FDP): Rot-Grün hat diese Fehlentwicklung gestoppt und die In- Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle- vestitionsmittel für die Schiene deutlich aufgestockt.gen! Es ist Zeit, dass die Debatte über zehn Jahre Bahn- Diese Tatsache kann gar nicht oft genug wiederholt wer- reform wieder die Institution erreicht, von der sie ausge- den. gangen ist, nämlich das deutsche Parlament. (B) (Siegfried Scheffler [SPD]: Sie ist (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (D) objektiv richtig!) Wir hatten hier die Grundlagen dafür geschaffen. Wir Zusätzlich haben wir dieInvestitionen für die sind deswegen auch berechtigt, hier und heute, losgelöst Schiene von zinslosen Darlehen ganz überwiegend auf von Jubelfeiern wie im Ritz-Carlton, einen Blick auf die Baukostenzuschüsse umgestellt. Wir haben den Schwer- Fakten zu werfen, um zu sehen, wie die Situation tat- punkt der Investitionen auf die Erhaltung und die Mo- sächlich aussieht. Dankenswerterweise hat die Parla- dernisierung des Bestandsnetzes verlagert. Auch hier ha- mentsgruppe Schienenverkehr vorgestern einen ersten ben wir neue Akzente in der Bahnpolitik gesetzt. Schritt gemacht, insbesondere Herr Pällmann, der aufge- zählt hat, dass nicht alles so goldig aussieht, wie es ge- Trotz der aktuellen Finanzengpässe, die in diesensagt wurde und wie es manchmal scheint. Tagen berechtigterweise diskutiert werden – in erster Linie im Rahmen der Diskussion um das Thema Maut- Nur damit keine Missverständnisse aufkommen: Alle ausfälle, aber auch im Rahmen der Diskussion um die Zahlen, die ich nenne, entstammen dem Büchlein „Ver- unseligen Vorschläge der Ministerpräsidenten Koch und kehr in Zahlen“. Steinbrück, die sich verheerend auf die Schienenver- (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Wer hat das kehrspolitik auswirken würden –, denn herausgegeben?) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Herausgeber ist das Bundesministerium für Verkehr. Ver- DIE GRÜNEN) antwortlich ist das DIW, also weder die FDP-Fraktion werden wir eine solide und planbare finanzielle Grund- noch ich als Abgeordneter. Das sage ich, damit es hinter- lage für die Erhaltung und den Ausbau des Schienennet- her keinen Ärger mit irgendwelchen Gerichten gibt. zes schaffen. Die Lösung können wir Ihnen jetzt noch (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ nicht präsentieren, aber Sie können uns abnehmen, dass DIE GRÜNEN]: Wo kein Kläger, da auch kein wir sie schnell vorlegen werden. Denn es ist eine Bin- Richter!) senweisheit: Die Bahnen – ich rede ausdrücklich im Plu- ral – brauchen ein leistungsfähiges Schienennetz, um im Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bahnreform von Wettbewerb mit den anderen Verkehrsträgern bestehen 1993/94 hatte drei große Schwerpunkte. Einer davon, die zu können. Organisationsprivatisierung, ist vor allen Dingen – die- sen Dank muss man aussprechen – auch dank derEin- (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ satzbereitschaft der Mitarbeiter der Bahn einigerma- DIE GRÜNEN]: Richtig!) ßen gelungen. Das will niemand klein reden und das 7908 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 89. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2004

Horst Friedrich (Bayreuth) (A) redet auch niemand klein. Das kann uns aber doch nicht leginnen und Kollegen von Rot-Grün, man muss sich(C) daran hindern, kritisch zu hinterfragen, wie es mit den doch tatsächlich fragen, wie man denn bei der Erstellung anderen beiden Zielen aussieht, die mindestens gleich- des Bundesverkehrswegeplanes ernsthaft annehmen wertig waren, kann, bis 2015 auf der Schiene eine Steigerung um 100 Prozent hinzubekommen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Jörg van Essen [FDP]: Höchstens bei der Mo- nämlich weniger Belastung für den Steuerzahler und delleisenbahn! Nicht bei der großen Bahn!) mehr Verkehr auf die Schiene. Wenn man sich wirklich Gedanken darüber macht, wie Sie machen sich doch selbst etwas vor, ohne zur Kennt- es weitergehen soll, dann muss man sich hier genau über- nis zu nehmen, was notwendig ist. legen, wie das Zahlenmaterial zustande gekommen ist, auf Hier sind wir beim eigentlichen Punkt: Eine diskrimi- das sich Herr Mehdorn nochvorgestern bezogen hat. Er nierungsfreie Öffnung des Netzes ist notwendig. Herr hat gesagt, die Schiene habe imPersonenverkehr von Kollege Weis, das ist bei uns nicht erst seit dem Regie- 1993 bis heute einen Zuwachs von 11 Prozent aufzuwei- rungswechsel im Jahre 1998 ein Thema. sen. Ich empfehle einen Blick in das schon zitierte Büch- lein „Verkehr in Zahlen“. Wenn man sich die Seite 213 (Renate Blank [CDU/CSU]: anschaut, wird man feststellen, dass es bestenfalls von Sondern schon vorher!) 1994 auf 1995 einen Zuwachsgab. In der Fußnote auf der Seite 212 steht jedoch: „Ab 1995 Neuberechnung der Dass allerdings ausgerechnet Sie den Finger heben und Personenverkehrszahlen durch die Deutsche Bahn AG“. sagen, wir hätten das damals nicht umgesetzt, ist natür- Von 1995 bis jetzt das alte Lied: Von da an ging es näm- lich pfiffig. Wenn ich mich nämlich recht erinnere, dann lich bergab. Wenn man schon statistische Daten erfasst sind bestimmte Bedingungen der Bahnreform damals und sie vergleicht, dann muss man auch konsistentenur deswegen nicht umgesetzt worden, weil die SPD un- Zeiträume heranziehen. Man darf keine Kunstzahl aus ter dem Druck der Grundgesetzänderung über die Län- dem Jahre 1993 nehmen und sie mit der entsprechenden derkammer bestimmte Stellschrauben festgezurrt hatte, Größe von heute vergleichen, wenn man inzwischen die wodurch eine klare ordnungspolitische Ausrichtung, die Berechnungsart verändert hat. in der Vorlage der Regierungskommission Bahn zum Ausdruck kam und die auch wir befürwortet haben, ver- Die gleiche Argumentation gilt natürlich auch für die hindert wurde. sehr monokausale Kette, man müsse nur die anderen Verkehrsträger kräftig verteuern, damit die Schiene im (Jörg van Essen [FDP]: So ist es!) (B) Güterbereich eine Chance hat. Herr Kollege Weis, wenn (D) das so wäre, dann müsste der Güterverkehr auf der Wer eine Kombination aus Markt und Marx ins Gesetz Schiene seit 1998 geradezu explodiert sein; denn durch schreibt, der erhält Murks und keine ordnungspolitische Ihre Politik ist die Belastung für den Verkehrsträger Klarheit. Genau das ist die Realität, von der wir jetzt Straße um sage und schreibe 14 Milliarden Euro ange- ausgehen müssen. wachsen, wobei die Maut hier noch gar nicht eingerech- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) net ist. Es wird auch nicht dadurch besser, dass die Bahn jetzt (Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: sagt: Wer nicht glühenden Herzens und vollen Mundes 44 Milliarden Euro!) alles das lauthals nachschreit, was wir vorgeben, der ist – Herr Kollege Fischer, sie ist um 14 Milliarden Euro gegen die Bahnreform und gegen die Bahner und der re- auf derzeit 50 Milliarden Euro angewachsen. det die Erfolge klein. Das ist doch Unsinn. Niemand macht das. Aber ich lasse mir weder von Herrn Mehdorn Was ist aber die Sachlage? Schauen wir einmal näher noch von sonst jemandem verbieten, berechtigte sach- hin. Der Anteil des Güterverkehrs auf der Schiene hat liche Kritik, die sich auf Fakten stützt, vorzutragen. von 15,7 Prozent auf 14,2 Prozent abgenommen. DasDiese Kritik soll dazu beitragen, das Thema weiter zu Gegenteil ist also passiert. Man kann nun natürlich etwas diskutieren und Probleme aufzuzeigen, um an den richti- tun: Man kann so lange an der Kostenschraube für die gen Stellschrauben zu drehen. anderen Verkehrsträger – darin bezieht man dann die Billigflieger mit ein – drehen, bis es irgendwann viel- Wie notwendig Wettbewerb und Öffnung tatsächlich leicht doch zu einer Bewegung kommt. Dann muss man sind, zeigt die Diskussion über unseren zweiten Antrag: allerdings auch fragen, welcher gesamtwirtschaftliche die Vergabe eines Gutachtens zu Fahrgastrechten auf Schaden entsteht, wenn man andere Verkehrsträger kon- der Schiene. Es ist geradezu abenteuerlich: Die Frau tinuierlich verteuert, nur damit irgendeiner irgendwann Staatssekretärin kommt in den Ausschuss und erzählt vielleicht einmal besser wird. frohen Herzens, der Gutachterauftrag sei in öffentlicher Ausschreibung an Herrn Freise vergeben worden. Be- Es muss doch geradezu aufweckend sein, dass selbst worben hat er sich als Professor der Universität zu Herr Mehdorn vorgestern zugegeben hat, dass er Pro- Frankfurt. Dort ist er auch Professor, einmal die Woche bleme hatte, die Zuwächse des letzten Jahres, die da-hält er dort eine Vorlesung. durch zustande kamen, dass für die Binnenschifffahrt zu wenig Wasser in den Flüssen war, zu bewältigen, und (Dr. Peter Danckert [SPD]: Das reicht doch! – dass vieles davon auf der Straße gelandet ist. Liebe Kol- Siegfried Scheffler [SPD]: Vorurteile!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 89. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2004 7909

Horst Friedrich (Bayreuth) (A) Im Hauptberuf ist er aber Geschäftsführer der Deutschen (Beifall im ganzen Hause – Horst Friedrich (C) Verkehrs-Assekuranz. Sie ist zu 75 Prozent eine Tochter [Bayreuth] [FDP]: Das habe ich doch betont! der Deutschen Bahn AG, die restlichen 25 Prozent wer- Dr. Peter Danckert [SPD]: Man kann auch den vom Sozialwerk der Bahngewerkschaften finanziert. wiederholen, was der Friedrich sagt! – Horst Wie so jemand bei aller fachlichen Akzeptanz in der Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Warum regt ihr Lage sein kann, ein neutrales Gutachten in der Abwä- euch denn so auf? – Dr. Peter Danckert [SPD]: gung zwischen Ansprüchen der Fahrgäste und der Bahn Wir regen uns doch nicht auf! Sie regen sich zu erstellen, hat sich mir bisher noch nicht erschlossen. auf! – Gegenruf des Abg. Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Ich rege mich nicht auf!) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Volkmar Uwe Vogel [CDU/CSU]: Gerster fragen!) Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Ich stelle fest, dass wechselseitig keine Aufregung be- Dankenswerterweise hat Herr Freise zumindest die steht, sodass der Fortsetzung der Rede des Kollegen Größe gehabt, vor diesem Hintergrund den Gutachter- Schmidt nichts im Wege steht. auftrag zurückzugeben. Jetzt müssen wir dafür sorgen, dass dieser Fehler nicht wiederholt wird. Ich habe inzwi- Albert Schmidt (Ingolstadt) (BÜNDNIS 90/DIE schen gehört, wer sich unter anderem um diesen Auftrag GRÜNEN): beworben hat, nämlich die Allianz pro Schiene. Dazu Der zweite Punkt, den ich ansprechen möchte, ist der kann ich nur sagen: Wir kommen vom Regen in dieVollzug der Bahnreform. Diese Reform hat den Bundes- Traufe. Es muss deutlich gemacht werden: Wer diesen haushalt und damit auch den Steuerzahler in erhebli- Gutachterauftrag bekommt, der muss tatsächlich unab- chem Umfang entlastet. hängig sein. Dann können wir gern über den Inhalt re- den. Das zeigt eigentlich, wie notwendig klare ordnungs- (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Wo denn?) politische Grundausrichtungen sind, sonst kann es nichts Dies war eines der Hauptziele der Bahnreform. Helmut werden. Das ist die politische Aufgabe. Schmidt hat damals gesagt: Bundesbahn oder Bundes- (Dr. Peter Danckert [SPD]: Wen schlagen Sie wehr – beides zugleich kann man sich eigentlich nicht denn vor?) leisten. (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Ihr schafft Das werden wir in der Anhörung am 29. März deutlich beides nicht!) machen. Dann bin ich gespannt, Herr Kollege Danckert, was Sie dazu sagen. Ich will mich nun nicht darüber streiten, ob der Bundes- (B) haushalt um 108 oder nur um 50 Milliarden Euro entlas- (D) Herzlichen Dank. tet worden ist. Eines steht fest: Die Entlastung für den (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Haushalt ist deutlich höher, als 1993 vorhergesagt wurde. Das ist ein Erfolg.

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Ich erteile das Wort dem Kollegen Albert Schmidt, Bündnis 90/Die Grünen. Dritter Punkt. Dank gewaltiger Investitionen, in Stre- cke wie in neue Züge, ist die Bahn heute leistungsfähiger und moderner als vor zehn Jahren. Allein unter der Albert Schmidt (Ingolstadt) (BÜNDNIS 90/DIE Amtszeit dieser Regierung seit 1998 wurden dieSchie- GRÜNEN): nenbaumittel von damals unter 5 Milliarden DM auf Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und ein Rekordniveau von zuletzt, im Jahr 2003, 4,5 Milliar- Kollegen! Zehn Jahre Bahnreform – das ist weder ein den Euro gesteigert. Grund zum Jammern noch zum Jubeln. Es ist der Anlass für eine ehrliche und, wie ich meine, durchaus selbstkri- (Dr. Peter Danckert [SPD]: Das ist fast ver- tische Zwischenbilanz. Genau das will ich hier versu- doppelt! – Siegfried Scheffler [SPD]: Da könnt chen. ihr ruhig mal klatschen!) Zu den wichtigsten Pluspunkten dieser Zwischen-Der damit erreichte Fortschritt ist von den Kundinnen bilanz gehört aus unserer Sicht erstens die Umwandlung und Kunden jeden Tag buchstäblich „erfahrbar“. der früheren Behördenbahn – nach der schwierigen In- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN tegration der Reichsbahn in die Bundesbahn – in ein pri- und bei der SPD) vatrechtlich organisiertes Unternehmen. Das hat un- bestreitbar große Fortschritte in der ProduktivitätDas heißt nämlich: moderne Streckentechnik und kom- ermöglicht. Dabei streite ich mich hier nicht um Zahlen. fortablere Fahrzeuge, insbesondere im Nahverkehr. Das Vor allem die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter waren ganze alte Gerümpel ist von der Schiene. In vielen Städ- und sind es, die hier Gewaltiges geleistet haben, undten gibt es neue und attraktive Bahnhöfe. Darauf kann und darauf darf man stolz sein. zwar zum Teil oft unter großen persönlichen Opfern. Ich bin froh, dass wir alle zusammen der Auffassung sind, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dass ihnen der Dank und die Anerkennung des ganzen und bei der SPD – Zustimmung bei Abgeord- Hauses gebührt. neten der CDU/CSU – Dr. Peter Danckert 7910 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 89. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2004

Albert Schmidt (Ingolstadt) (A) [SPD]: Das Nicken ist im Protokoll nicht zu Auch wenn wir jetzt mit Recht verlangen, die Pendler-(C) sehen! – Eduard Oswald [CDU/CSU]: Ruhe pauschale insgesamt zu senken, so wird es eine Rück- auf der linken Seite!) kehr zur Privilegierung der Autofahrer nicht mehr ge- ben. Das ist vorbei. Der vierte Pluspunkt. ImNahverkehr konnte das Zugangebot um 20 Prozent gesteigert werden. Die Ver- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN kehrsleistung ist meines Erachtens, nach Durchsicht al- und bei der SPD) ler kritischen statistischen Veränderungen, durchaus ge- wachsen. Ich streite mich nicht um Zahlen, aber es hat Dem aber stehen ernüchternde Ergebnisse in anderen ein erhebliches Wachstum gegeben. Voraussetzung dafür Bereichen gegenüber, die ich genauso deutlich benennen sind allerdings auch die enormen Regionalisierungs-möchte. Erster Punkt. Das Hauptziel der Bahnreform mittel, die der Bund jedes Jahr zur Verfügung stellt. – das ist wiederholt angesprochen worden –, nämlich mehr Verkehr von der Straße auf die Schiene zu holen, (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Aber nur wurde, anders als im Nahverkehr, im Fernverkehr und da!) im Güterverkehr nicht oder nur ungenügend erreicht. Auch diesen Posten haben wir unter Rot-Grün auf heute Auch die Umsatzentwicklung in diesen Segmenten sta- knapp 7 Milliarden Euro pro Jahr erhöht und sogar bis gniert seit Jahren. 2007 dynamisiert. Ich kenne kein einziges Bundesge- (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Ein weite- setz, das dermaßen großzügig ist wie das Regionalisie- res Abweichen von der Prognose!) rungsgesetz. Durch hausgemachte Fehler im Bahnmanagement, be- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sonders durch das verkorkste Fahrpreissystem des letz- und bei der SPD – Horst Friedrich [Bayreuth] ten Jahres, wurden zusätzlich Umsatzeinbrüche verur- [FDP]: Jetzt wird wieder gekürzt!) sacht, deren Behebung jetzt Zeit und zusätzlichen – Eine einmalige kleine Delle in Höhe von 2 Prozent ist Aufwand kostet. verkraftbar. Zweiter Punkt. Ich sage selbstkritisch dazu – Ihre Mi- (Lachen bei der CDU/CSU) nister waren da nicht unbeteiligt –: Es wurde zu lange zu viel Geld in einige wenige überteuerteGroßprojekte Es ist richtig, dass wir erhöht haben und dynamisieren, unter Vernachlässigung des Bestandsnetzes in der Fläche denn im Nahverkehr wird jeden Tag die Schlacht ge-gesteckt. schlagen. Dort sind jeden Tag über 5 Millionen Fahr- gäste unterwegs. 90 Prozent aller Bahnfahrerinnen und (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (B) Bahnfahrer sind im Nahverkehr unterwegs, auf dem Weg und bei der SPD) (D) zur Arbeit oder im Freizeitverkehr. Dort wird von der Das haben wir ein Stück weit korrigiert, aber es belastet DB-Regio, aber zunehmend auch von anderen Bahnen uns noch. der Hauptumsatz jeden Tag gemacht. Jetzt sage ich all den Schlaumeiern, die behaupten, das sei zu viel Geld Ein dritter Punkt, der selbstkritisch zu sehen ist: Der für die Schiene: Stellen Sie sich bitte einmal einen Mo- mit der Bahnreform eingeschlagene Weg zu selbststän- ment vor, diese 5 Millionen Fahrgäste pro Tag allein im dig operierenden Transportgesellschaften im Nahver- Nahverkehr würde man zusätzlich auf den Straßen unse- kehr, Fernverkehr und Güterverkehr wurde zugunsten rer Innenstädte, unserer Ballungszentren und auf deneiner immer zentralistischeren Konzernstruktur verlas- Pendlerstrecken wiederfinden. Das wäre der Dauerstau. sen. Das halte ich für eine fatale Fehlentwicklung. Das wäre das Ende der Mobilität auch auf der Straße. (Beifall im ganzen Hause) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) Vierter Punkt. Auch die Absicht, durch mehr Wettbe- werb mehr Leben in die Bude zu bringen, also mehr Ver- Deshalb ist das ein Erfolg. kehr auf die Schiene zu bringen, wurde nur unzurei- Fünfter Punkt. Es gab Fortschritte bei der Herstellung chend umgesetzt. von Chancengleichheit. Das ist in erster Linie unser poli- (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Dann än- tischer Job gewesen. Wir haben Fortschritte erzielt. Ich dert es doch!) nenne die Gleichbehandlung bei den Investivmitteln. Das ist auch schon vom Kollegen Reinhard Weis ange- Ich möchte aber hinzufügen: Wenn ich unsere Nachbar- sprochen worden. Ich nenne die Befreiung der Bahnländer sehe, dann stelle ich fest, dass die Situation dort vom halben Ökosteuersatz von ihren Linienbussennoch viel schlechter als bei uns ist. Da müssen wir uns – die Bahn hat auch Busse –, über die S-Bahn bis hinnicht verstecken. zum ICE, was mit jedem Erhöhungsschritt der Öko- (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Wir sollten steuer einen relativen Preisvorteil zugunsten der Bahn uns nicht an den Schlechteren orientieren!) gebracht hat. Ich nenne die Angleichung derPendler- pauschale durch die Anhebung auf das gleiche Niveau – Ganz richtig. Da stimme ich ausdrücklich zu. – wie für den Autofahrer. Fünfter Punkt. Der Schuldenstand ist schon ange- (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Was hat sprochen worden. Den sehe ich genauso wie andere Kol- uns das genützt?) legen auch mit Sorge. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 89. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2004 7911

Albert Schmidt (Ingolstadt) (A) Was bleibt nach dieser durchwachsenen Bilanz zu (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Ich auch!) (C) tun? Die Weichen müssen noch konsequenter nicht nur pro Bahn, sondern pro Schiene gestellt werden. DennAuch wir kämpfen dafür, dass die Bahn über ausrei- viele Unternehmen sollen dort erfolgreich arbeiten kön- chende Mittel verfügen kann. nen. Aber eines kann ich nicht nachvollziehen: Warum will der Bahnvorstand den Hauptbremsklotz für seine (Beifall im ganzen Hause) Unternehmensbilanz – nämlich das Netz – unbedingt im Erstens. Die Bahn muss pünktlicher und vor allem im Konzern behalten? Kommunikationsstil gegenüber dem Kunden freund- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, licher werden. Was wir zum Teil in letzter Zeit gehört bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Ab- haben, grenzt an Kundenbeschimpfung. Das muss auf- geordneten der SPD) hören. Der Streckenausbau und -neubau wird immer vom (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN guten Willen des Finanzministers, von den politischen und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Mehrheiten und zum Teil sogar von der Unfähigkeit der CDU/CSU) deutschen Industrie abhängig sein, die in einem Konsor- Zweitens. Durch einen verbessertenMarktzugang tium namens Toll Collect mittelbar negativen Einfluss auch für andere Bahnunternehmen kann und muss mehr auf die Bilanz der Deutschen Bahn AG im Jahr 2004 Dynamik entstehen. Die Novellierung des Allgemeinen ausübt. Warum um Himmels willen will man diese Ab- Eisenbahngesetzes, die längst überfällig ist, hängigkeiten zementieren, statt sie aufzulösen? Das ver- stehe ich nicht. (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Ja, wann kommt sie denn?) (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Das wird die große Frage des Jahres 2004 sein!) wird hoffentlich ein wichtiger erster Schritt in diese Richtung sein. Ich glaube, der integrierte Börsengang würde eine solche Zementierung bedeuten. Das wäre so, als würde Drittens. Das sage ich in allem Ernst, liebe Kollegin- man die Unternehmensbilanzen der LKW-Spediteure nen und Kollegen: Hände weg vom Schienen- und vom vom Straßenbauetat des Bundes abhängig machen. Das Bahnetat! aber geht schief. (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Wer hat Notwendig ist, das Unternehmen Bahn für die Beteili- denn die Mehrheit?) gung privaten Kapitals attraktiv zu machen. Darin teile (B) (D) Das ist kein Steinbruch zur Haushaltssanierung. Es gibt ich die Auffassung des Kollegen Reinhard Weis völlig. keinen sachlichen Grund für einen Stillstand oder Rück- Das bedeutet aber die konsequente Weiterentwicklung schritt bei der Modernisierung der Infrastruktur oder der einer Unternehmensstruktur, die auch zielführend ist. Fahrzeuge. Notwendig ist vielmehr eineVerstetigung Das Streckennetz wird immer – wie auch das Straßen- der Bundesmittel auf dem von uns erreichten hohen Ni- netz – ein Zuschussgeschäft sein. veau. Dafür kämpfen wir. (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: So ist es!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Das Streckennetz ist dem Gemeinwohl verpflichtet. Das und bei der SPD – Werner Kuhn [Zingst] heißt, Infrastruktur muss auch dort vorgehalten werden, [CDU/CSU]: Tun Sie das auch in der Regie- wo sie sich nicht unbedingt rechnet. Das Streckennetz ist rungskoalition!) als Renditeobjekt für private Anleger ungeeignet. Denn Angesichts der knappen Kassen weise ich aber auch anders als mildtätige Einrichtungen wollen sie ihr Kapi- darauf hin – ich bin kein Illusionist; ich gelte als Realpo- tal verzinst sehen. litiker –: Wir müssen von überteuerten Lieblings- und (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Das ist Prestigeprojekten Abschied nehmen. Auch das gehört auch gut so!) zur selbstkritischen Bestandsaufnahme. Das aber ist bei Beteiligungen öffentlicher an Infrastruk- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- tur nicht zu erwarten. SES 90/DIE GRÜNEN) Mit dem Transportgeschäft dagegen lässt sich, wenn Ich will an dieser Stelle die einzelnen Projekte nicht man es richtig macht, Geld verdienen. nennen, um keinen Zoff anzufangen, aber die betreffen- den Herrschaften wissen sehr genau, was gemeint ist. (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Das ist keine staatliche Aufgabe!) (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Dann gu- cken wir einmal in den Verkehrswegeplan! Deshalb liegt es für mich in der Logik der Bahnre- Wer hat den denn beschlossen?) form, die Transportgesellschaften schrittweise zu priva- tisieren, das Eigentum an der Infrastruktur aber in der Ich kann die Sorge des Vorstandsvorsitzenden deröffentlichen Hand zu halten. Was die Regionalnetze an- Deutschen Bahn AG, Hartmut Mehdorn, um ausrei-geht, könnten das durchaus die Länder sein, die auch den chende Bundesmittel für dasSchienennetz durchaus Verkehr auf diesen Netzen bestellen und sehr gut geeig- nachvollziehen. net wären, ihre eigenen Netze zu bekommen. 7912 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 89. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2004

Albert Schmidt (Ingolstadt) (A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schlecht gemacht werde unddass die positiven Ergeb- (C) und bei der SPD sowie des Abg. Dirk Fischer nisse zu wenig gewürdigt worden seien. Deshalb möchte [Hamburg] [CDU/CSU] – Horst Friedrich ich als einleitenden Satz anmerken, dass die Bahnreform [Bayreuth] [FDP]: Das wird nichts!) als Konzeption und grundsätzliche ordnungspolitische Entscheidung richtig war und durchaus einen Erfolg dar- Ein überstürzter Börsengang nach einem falschen stellt. An diesem Erfolg haben damals sehr viele mitge- Modell, erkauft durch einen halben Investitionsstopp des wirkt: Konzerns bei der Infrastruktur und bei der Fahrzeug- beschaffung zur Erreichung schwarzer Zahlen auf Teufel (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Das ist wahr!) komm raus, hilft uns nicht weiter. Im Gegenteil: Er rich- tet Schaden an. neben der damaligen Bundesregierung alle Fraktionen dieses Hauses außer der PDS, der Bundesrat, die Eisen- Deshalb liegt es in unserer gemeinsamen Verantwor- bahner, und zwar sowohl vor als auch nach 1993, und tung, die Weichen richtig zu stellen und darüber hinaus auch die für die Bahn zuständigen gewerkschaftlichen für mehr Chancengleichheit für alle Bahnen gegenüber Organisationen. Das sei nochmals in Erinnerung geru- den anderen Verkehrsträgern zu sorgen. Das heißt fürfen. mich: Weg mit dem Mehrwertsteuerprivileg im grenz- überschreitenden Luftverkehr! Schluss mit dem Skandal Der Erfolg liegt auch darin, dass das Riesenschiff Deut- der einseitigen Privilegierung des Luftverkehrs bei der sche Bahn durch die vorgenommene prinzipielle Weichen- Kerosinsteuer! stellung auf einen zukunftsträchtigen Kurs gelenkt wor- den ist. Das ist ein ordnungspolitischer Erfolg – das wollen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wir durchaus anerkennen –, um den uns heute viele an- sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) dere Länder beneiden, die einen solchen radikalen Das schadet übrigens auch dem Autoverkehr. Schritt bis heute nicht gewagt haben, die sich aber darü- ber im Klaren sind, dass sie ihn in den nächsten Jahren Weg mit den rechtlichen und technischen Grenzbar- gehen müssen. Ich kann außerdem bestätigen, dass das rieren innerhalb der Europäischen Union! Erscheinungsbild der Bahn in vielen Bereichen durchaus attraktiver geworden ist. Aber das ändert nichts daran, Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: dass damals viele Mittel, die der Bund zur Verfügung ge- Herr Kollege, denken Sie bitte an Ihre Redezeit. stellt hat, nicht abgerufen worden sind. Herr Kollege Schmidt, wenn Sie gebetsmühlenartig darauf hinweisen, (Ingolstadt) (BÜNDNIS 90/DIE Albert Schmidt (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (B) GRÜNEN]: Ich bin ein frommer Mensch!) (D) Herr Präsident, ich komme zum letzten Satz. – Für mich besteht der nächste Schritt – neben der Einführung dass seinerzeit weniger Geld zur Verfügung gestellt wor- der LKW-Maut, mit der die Waffengleichheit mit dem den sei als in den letzten Jahren, dann muss ich Ihnen sa- Güterzug hergestellt wird – konkret in der Halbierung gen, dass das nicht zutreffend ist; denn Sie verschweigen der Mehrwertsteuer für den Fernverkehr, wie es in ande- den anderen Teil der Wahrheit, dass das Geld zwar, wie ren europäischen Ländern längst der Fall ist. Diesesgesagt, vorhanden gewesen ist, dass es aber von der Preissignal verstehen die Kunden; es hilft ihnen bei der Bahn nicht verbaut bzw. verplant werden konnte. Kaufentscheidung. (Beifall bei der CDU/CSU – Albert Schmidt Es gibt viel zu tun – für den Vorstand, aber auch für [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: uns in der Verkehrspolitik. Lassen Sie uns das Thema Das war noch nicht einmal vorhanden! – Horst diskutieren, aber nicht zu lange! Packen wir es an! Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Es war vorhan- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN den! Das gibt die Bahn inzwischen sogar zu!) und der SPD sowie bei Abgeordneten der Wenn wir schon dabei sind, Bilanz zu ziehen, möchte ich FDP – Eduard Oswald [CDU/CSU]: An wen noch darauf hinweisen, dass Sie auf dem besten Wege haben sich diese Worte jetzt wohl gerichtet?) sind, die Mittel für die Bahn auf unter 4 Milliarden Euro zu senken, also unter das, was beispielsweise Herr Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Pällmann auf der besagten Veranstaltung als unverzicht- Nun hat der Kollege Eduard Lintner für die CDU/bares Minimum bezeichnet hat. CSU-Fraktion das Wort. (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das wissen wir schon lange! Eduard Lintner (CDU/CSU): Auch das haben Sie nicht annähernd erreicht!) Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch ich war auf Wir müssen leider feststellen – der Kollege Fischer der Veranstaltung der Parlamentsgruppe „Schiene“, und der Kollege Friedrich haben das bereits erwähnt –, dass die wesentlichen Zielsetzungen der Bahnreform (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Eine sehr gute heute wieder gefährdet sind. Das liegt auch daran, dass Parlamentsgruppe!) sie nicht konsequent weiter verfolgt worden ist, Herr die schon mehrfach angesprochen worden ist und auf der Kollege Weis. Ich wundere mich, dass Sie uns Inkonse- darüber geklagt worden ist, dass die Bahnreform zuquenz bei der Bahnpolitik vorwerfen; denn ich denke, Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 89. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2004 7913

Eduard Lintner (A) dass wir in diesem Bereichein Muster an Konsequenz Das Ganze wäre aus unserer Sicht vielleicht nicht so (C) sind. dramatisch, wenn sich die SNCF, die staatliche französi- sche Eisenbahngesellschaft, über Tochterfirmen hier bei (Lachen bei der SPD – Siegfried Scheffler uns nicht wie der Hecht im Karpfenteich verhielte, wäh- [SPD]: Das ist ein kleiner Scherz hier im Ple- rend unserer Bahn andererseits nicht erlaubt wird, in num!) Frankreich tätig zu werden. Sie sind doch dabei, vom Pfad der Tugend abzuwei- Solange der von mir kurz beschriebene Zustand an- chen. Bezeichnend ist, dass, als Herr Schmidt für eine hält, ist es einfach nicht zu erwarten, dass die Bahn in Trennung von Netz und Betrieb plädiert hat, der Bei- der Lage ist, im internationalen Güterverkehr, beispiels- fall nicht nur von der rechten Seite kam, sondern dass weise dem LKW, Paroli zu bieten. Faktisch ist es doch auch einige Ihrer Kollegen geklatscht haben. Das ist ein so, dass heute Züge der Bahn, etwa an der Grenze zu deutlicher Hinweis auf die richtige Weichenstellung. Frankreich oder innerhalb Frankreichs, tagelang stehen (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ und dass damit natürlich jegliche Verlässlichkeit, was DIE GRÜNEN]: Das Wort Trennung habe ich die Transportzeit, die Pünktlichkeit usw. angeht, verlo- gar nicht in den Mund genommen!) ren geht. Damit wird dem LKW ein ganz entscheidender Vorteil verschafft, der bis heute leider nicht beseitigt Bahnchef Hartmut Mehdorn hat beim gestrigen Emp- worden ist. fang gesagt, man sei noch lange nicht fertig. Damit hat An dieser Stelle setzt mein Vorwurf gegenüber der er natürlich völlig Recht.Insbesondere sind bis heute Bundesregierung an. Wir beklagen diesen Zustand seit zwei Kernziele nicht erreicht worden: die Stärkung der Jahren; dennoch hat sie es versäumt, innerhalb der EU Schiene innerhalb des Verkehrsmarktes und die nachhal- mit Nachdruck auf eine Änderung dieser Situation hin- tige Entlastung des Bundeshaushalts. Die Zahlen sind al- zuwirken. Vielmehr hat man in einer Art Kuhhandel les andere als positiv. Der Personenverkehr stagniert im Kompromisse zugunsten bestimmter Branchen geschlos- Großen und Ganzen, und dies auch nur deshalb, weil im sen. Einen solchen Kompromiss ist man beispielsweise regionalen Bereich deutliche Zuwächse zu verzeichnen zugunsten des Bergbaus und zulasten des Verkehrs und sind. Der Anteil des Güterverkehrs ist mittlerweile von damit der Bahn eingegangen. weit über 20 Prozent auf unter 15 Prozent gefallen. Dazu ist es deshalb gekommen, weil die Bundesregierung und Das – bereits erwähnte – neueEU-Eisenbahnpaket insbesondere ihre zahlreichen Verkehrsminister nichtenthält die Vorgabe der Liberalisierung bis 2006. Dies solche Rahmenbedingungen geschaffen haben, dass die droht dadurch stark verwässert zu werden, dass man Bahn hätte loslegen können und in der Lage gewesenversucht, diesen Termin bis zur Liberalisierung der na- (B) wäre, ungezwungener zu wirtschaften, als sie das tat-tionalen Netze, also um Jahre, hinauszuschieben. Nicht (D) sächlich tun konnte. umsonst hat Herr Mehdorn den Vertretern der Bundesre- gierung auf dem gestrigen Empfang gesagt, dass die Öff- Lassen Sie mich einen Aspekt herausheben, der in die- nung der Grenzen ein wesentlicher Faktor für den Erfolg sem Zusammenhang nicht unterschätzt werden sollte – er der Bahn sei. Darin ist ihm zuzustimmen. Wiederum an hat auch bei den Veranstaltungen, die diese Woche statt- die Vertreter der Bundesregierung gewandt, sagte er, sie gefunden haben, eine gewisse Rolle gespielt –: Wir alle müssten mit eiserner Hand als Vertreter Deutschlands in wissen – das ist völlig unbestritten –, dass vor allem der Brüssel dafür eintreten, dass der Termin der Liberalisie- Gütertransport über längere Strecken eine besonders rung eingehalten wird. starke Seite des Schienenverkehrs ist. Angesichts dessen ist Deutschland fast zu klein. Die Bahn hat deshalb ein Wie Sie sehen, wird die Dramatik in dieser Angele- ganz elementares Interesse daran, Güter auch übergenheit gar nicht von der Opposition erzeugt, sondern Staatsgrenzen hinweg möglichst reibungslos transportie- von denen, die unter den gegenwärtigen Bedingungen zu ren zu können. leiden haben, nämlich von den Vertretern der Deutschen Bahn. Die Bundesregierung muss sich hier Versäum- Im Gegensatz zum LKW, der innerhalb der EU heute nisse vorhalten lassen. Ich hoffe, dass sie die Chance, die praktisch jeden Punkt, ohne anzuhalten, anfahren kann, sich bei den Verhandlungen wieder ergibt, entschlosse- dürfen die Züge der Deutsche Bahn nicht einfach nach ner ergreift, als sie es in der Vergangenheit getan hat. Frankreich oder nach Italien fahren, sondern sie müssen vorher zahlreiche Hindernisse überwinden. Soweit diese Ein weiterer Kernpunkt war die Frage der Zuschüsse technischer Art sind, handelt es sich um etwas Lästiges, aus dem Bundeshaushalt. Es geht darum, wie die Bahn was bewältigt werden muss; darin sind wir uns einig.in die Lage versetzt werden kann, wirtschaftlichere Er- Aber wo ein Wille ist, ist sicherlich auch ein Weg. gebnisse zu erzielen. Wie bereits betont worden ist, spielt die Wettbewerbsfähigkeit dabei eine große Rolle. Dieser Wille hat bis heute im Hinblick auf die Öff- Hier muss die Bahn aber auch die Bereitschaft haben, nung der nationalen Schienennetze für die ausländische sich diesem Wettbewerb ehrlich zu stellen. und für die inländische Konkurrenz gefehlt. Deutschland hat seine Schienenwege geöffnet und andere wichtige Ich möchte jetzt nicht auf die grundsätzlichen As- europäische Länder sind ihm dabei bis heute leider nicht pekte eingehen. Eines aber ist mir bei der Diskussion der gefolgt. Frankreich leistet noch immer ganz hartnäcki- letzten Tage aufgefallen: Die Bahn lässt sich offenbar gen Widerstand, wenn es um die Liberalisierung des Zu- von Investmentbankern ausrechnen, was zu erwarten gangs zum eigenen Schienennetz geht. wäre, wenn sie die materielle Privatisierung, also den 7914 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 89. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2004

Eduard Lintner (A) Börsengang, in der Einheit von Netz und Betrieb be- Eduard Lintner (CDU/CSU): (C) treibt. Sie weigert sich aber hartnäckig, dieselbe Rech- – sofort, Herr Präsident –, ob Sie es mit der Bahnre- nung auch für die Konstruktion „Trennung von Netz und form ehrlich meinen oder nicht. Betrieb“ anstellen zu lassen. Vielen Dank. (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Ein Schelm, wer Böses dabei denkt!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP] – Eduard Nun frage ich Sie: Können wir es verantworten, ins- Oswald [CDU/CSU]: Jawohl! Das ist der besondere der Bund als Eigentümer der Bahn, dass eine Punkt!) so schwer wiegende Entscheidung auf der Grundlage un- vollkommener Erkenntnisse bzw. Informationen getrof- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: fen wird? Es wäre doch insbesondere aufgrund der be- Das Wort hat nun die Parlamentarische Staatssekretä- stehenden kontroversen Meinungslage das Mindeste,rin Angelika Mertens. von der Bahn zu fordern, dass sie neben der Variante „Netz und Betrieb“ auch die Variante „Trennung von Netz und Betrieb“ prüfen lässt. Dann wäre eine Grund- Angelika Mertens, Parl. Staatssekretärin beim Bun- lage gegeben, auf der wir und möglicherweise auch sie desminister für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen: selbst ehrlich beurteilen könnten, was der richtige Weg Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle- ist. gen! Herrn Lintner kann man eigentlich nur beglück- wünschen für diese in vielen Phasen wohltuend gute Ich sage Ihnen heute schon: Wenn die Bahn diese Al- Rede. Ich werde gleich darauf zurückkommen, weil er ternative tatsächlich nicht untersuchen lässt, was leider einen sehr wichtigen Punkt angesprochen hat; denn ich zu erwarten ist, dann ist es die Pflicht der Bundesregie- denke, die offenen Grenzen sind für das, was wir vorha- rung, diese Variante prüfen zu lassen. ben, das A und O. (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Ich will zu Beginn ganz kurz etwas zum Haushalt sa- Aber neutral!) gen. Wir haben objektiv Probleme. Das hat mit der Maut zu tun, das hat aber auch mit dem Ergebnis im Vermitt- – Von neutralen Gutachtern, selbstverständlich, Herrlungsausschuss zu tun. Es hat damit zu tun, dass es zwei Kollege Friedrich. – Nur dann sind wir in der Lage, eine Ministerpräsidenten gibt – der eine heißt Koch, der an- vernünftige Entscheidung zu treffen. dere heißt Steinbrück –, die sich etwas ausgedacht ha- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- ben, was zulasten der Bahn geht. (B) (D) neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich habe immer ein bisschen das Gefühl, dass Sie diese Herren gar nicht kennen. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: (Jörg van Essen [FDP]: Bei uns im Lande Herr Kollege, ich muss Sie darauf aufmerksam ma- kennt man die kaum! – Horst Friedrich [Bay- chen, dass Ihre Redezeit schon deutlich überschritten ist. reuth] [FDP]: Wenn ich mich recht erinnere, ist einer davon Mitglied der SPD!) Eduard Lintner (CDU/CSU): Wir werden uns damit befassen müssen. Ich bin dabei zum Schluss zu kommen, Herr Präsi- dent. (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Es war doch die Bundesregierung, die dieses Papier Aus diesen Worten mögen Sie erkennen, dass wir eingeführt hat! Wer hat denn das Koch/Stein- weiterhin bereit sind, konstruktiv, kritisch, aber auch brück-Papier überhaupt zur Grundlage ge- zielorientiert das weitere Schicksal der Bahnreform zu macht? Beschwert euch doch nicht!) begleiten. – Die FDP kann sich zurücklehnen; das stimmt. – Ich (Eduard Oswald [CDU/CSU]: So ist es! Wir stimme dem Subventionsbegriff dieser beiden Herren wollen Erfolge sehen! Uns liegt die Bahn am nicht zu. Ich denke, dass wir darüber reden müssen. Herzen!) Vor einigen Tagen haben wir denzehnjährigen Wir werden aber sehr darauf achten – das ist einer der Geburtstag der DB AG begangen. Ich werte den An- Punkte, an denen das ganz deutlich wird – trag der CDU/CSU und der FDP als eine Art Wortmel- dung zum Geburtstag. Für eine Glückwunschkarte hat es nicht ganz gereicht. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Nein, Herr Kollege, ich muss Sie jetzt wirklich bitten, Für eine Opposition ist das auch nicht ganz einfach, den Schluss nicht nur anzukündigen, sondern ihn auch sie ist in einer Art Zwickmühle: Es darf auf keinen Fall zu vollziehen. der Eindruck hinterlassen werden, dass es nicht so schlecht läuft, wie man es sich gewünscht hat. Auf der (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ anderen Seite muss man natürlich alles vermeiden, was DIE GRÜNEN]: Das hat er immer so gemacht! auch nur ansatzweise darauf hindeuten könnte, dass man Die ganze Bahnpolitik von denen ist so!) die eigene Reform infrage stellt. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 89. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2004 7915

Parl. Staatssekretärin Angelika Mertens (A) Ich habe dieses Problem nicht, ganz abgesehen da- ten. Deshalb sind die Spediteure und Verlader hier sehr (C) von, dass ich, als die Bahnreform beschlossen wurde,zurückhaltend – bei allen kleinen und vielleicht auch al- noch nicht im Parlament war. Ich kann nur sagen: Es war len größeren Erfolgen, die wir haben, vor allem im kom- eine richtige Reform, es wareine gute Reform, es war binierten Verkehr. Die Alternative ist ganz einfach – wir eine der wichtigsten Reformen dieses Landes. Nachalle wissen das im Grunde –: Entweder gibt es für den zehn Jahren kann man auch sagen: Die Reform warSchienenverkehr offene Grenzen oder der Schienenver- überfällig. Sie war für die Entwicklung des Verkehrs-kehr, vor allem der Güterverkehr, wird zweite Wahl blei- marktes wichtig. Ich bin froh darüber und stolz darauf, ben. dass meine Partei dabei war. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Das erste Eisenbahnpaket stammt aus dem Jahr 1991. Ich teile das, was Herr Friedrich gesagt hat, nicht. Er Was die formale Umsetzung angeht, sage ich hier nur: hat gemeint, der Kompromiss sei letztlich Murks; Marx Asche auf unser Haupt. Ich denke aber, dass wir nicht und Markt könne man nicht miteinander verbinden. die Letzten sein werden, die das für sich sagen müssen. (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Ich habe (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ gesagt: Die Kombination von Markt und Marx DIE GRÜNEN]: Das stimmt!) ist meistens Murks!) Sie wissen, dass derzeit ein Gesetzentwurf in der Län- – Sie können nachher nachlesen, was Sie gesagt haben, der- und Verbändeanhörung ist. Herr Friedrich. Was die faktische Umsetzung angeht: Wir haben un- (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Ich brau- ser Netz geöffnet. Fast 300 Unternehmen fahren auf dem che nicht nachzulesen! Ich weiß, was ich ge- Netz der DB AG. Der übliche Einwand, dabei handele es sagt habe! Nur Sie wissen es nicht! – Eduard sich nur um Museumsbahnen, ist – Sie wissen das auch – Oswald [CDU/CSU]: Jetzt wissen wir doch falsch. Der Großteil der Unternehmen, die darauf fahren, alle, dass Marx Murks ist!) hat nichts mit dem Freizeitgedanken zu tun. Vielleicht haben Sie jetzt auch einen falschen Eindruck Meine Damen und Herren von CDU/CSU und FDP, hinterlassen. – Ich denke jedenfalls, dass diese Reform mit Ihrem Antrag rennen Sie zum Teil offene Türen ein. richtig und gut war. (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Schauen Die Reform ist nicht vollendet. Vor allem was die wir mal, wo die Mauern dann sind!) Verlagerung von der Straße auf die Schiene angeht, ha- Sie unterstellen aber auch so etwas wie Verrat an der (B) ben wir alle uns mehr erhofft. Das hat nicht nur mit den (D) Bahnreform. absoluten Zahlen zu tun, sondern das hat vor allem mit dem Modal Split zutun. Da gibt es – da beißt die Maus (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Wo steht doch überhaupt keinen Faden ab – große Enttäuschung. etwas von Verrat? Vielleicht von Fahrrad, aber nicht von Verrat!) (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Aus die Maus!) Das Gegenteil ist der Fall. Da sollten wir aber auch fair sein. Wir können das nicht Zur Vollendung der Bahnreform gehört auch das Er- der DB AG allein anlasten. reichen der Kapitalmarktfähigkeit. Dazu zitiere ich einmal sehr verkürzt den Aufsichtsratsvorsitzenden (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ Dr. Frenzel, DIE GRÜNEN]: Das ist wahr!) (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Das macht Verlader und Spediteure, egal ob zu Wasser, zu Lande es nicht besser!) oder in der Luft, gehören in der Regel nicht zu den Ro- mantikern. der gestern eigentlich nur gesagt hat: Was denn sonst? (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Was heißt (Albert Schmidt [Ingolstadt] [BÜNDNIS 90/ das denn?) DIE GRÜNEN]: Die Frage ist, wie! – Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Bei seiner Histo- Für sie zählen Preis und Zuverlässigkeit als Kombina- rie stelle ich mir das auch so vor!) tion, fast sogar symbiotisch. Ich kann das hier nur unterstreichen. (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Offen- sichtlich zwei Punkte, die die Bahn nicht hin- Der Antrag enthält einige Detailforderungen für den kriegt!) Fall des Börsengangs. Deshalb möchte ich an dieser Stelle Folgendes noch einmal sehr deutlich machen: Ich hatte das Vergnügen, neulich im Musterland der Nichts wird aus dem Handgelenk entschieden. Für einen Schienenwege, in der Schweiz, an einer internationalen solchen Schritt brauchen wir, wie damals bei der Bahn- Tagung teilzunehmen. Dort hat man versucht, sein Sor- reform, gute und verlässliche Informationen sowie einen genkind darzustellen. Das Sorgenkind ist trotz der gesellschaftspolitischen Konsens. Schwerverkehrsabgabe der grenzüberschreitende Gü- terverkehr. Man hat Probleme mit der Pünktlichkeit. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Genau das bedrückt und ärgert auch uns hier am meis- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) 7916 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 89. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2004

Parl. Staatssekretärin Angelika Mertens (A) Das betrifft auch die Entscheidung des Eigentümers (Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (C) über einen möglichen Börsengang. Nach wie vor bleibt DIE GRÜNEN) das grundlegende Ziel, die DB AG börsenfähig zu ma- chen. Priorität hat dabei die Herstellung der Kapital-– Ich sehe an Ihren Reaktionen ja, dass auch Sie solche marktfähigkeit des Unternehmens. Erst wenn dieseGespräche führen. – Es ist ja nicht so, wie es hier von ei- Grundvoraussetzung erfüllt ist, kann über einen Börsen- nigen dargestellt wurde, dass alles im grünen Bereich sei gang entschieden werden. Das Bundesministerium für und alles wunderbar laufe, man nur mit der Privatisie- Verkehr, Bau- und Wohnungswesen ist ja nicht das ein- rung nicht ganz zurechtkomme. Sie müssen einfach ein- zige Ressort – wenn auch das wichtigste –, das daran be- mal sehen, was im Betrieb konkret passiert: Sie bekom- teiligt ist. Es sind deshalb jetzt gemeinsame Arbeitsgrup- men keine Anschlusszüge, weil der eigene Zug laufend pen der Ressorts und der DB AG gebildet worden. Wir verspätet ist. nehmen dabei die verfassungsrechtliche Verantwortung, Was sich der Kunde von der Bahn wünscht, ist die der Bund für das Schienennetz hat, sehr ernst. Verlässlichkeit. Genau das ist das, was das Bahnsystem Meine Damen und Herren, die Task Force „Zukunft in Deutschland nicht bringt. Es ist nicht verlässlich. Als der Schiene“ hat nach sorgfältiger Prüfung Empfehlun- Nutzer kann man sich bei seinen Planungen nicht darauf gen abgegeben, unter anderem die Empfehlung, das Un- verlassen. Oft sind die Klimaanlagen defekt und die Kü- ternehmen nicht aufzuspalten, sondern als Holding be- chen ausgefallen oder werden nicht bewirtschaftet. So stehen zu lassen. Ich glaube, dass in diesem Punkt der hat man keine Möglichkeit, sich unterwegs zu versorgen. meiste Dissens zwischen uns besteht. Andauernd passieren diese Dinge. Ich würde mich freuen – das ist jetzt nicht als Ange- (Siegfried Scheffler [SPD]: Das ist doch bot von oben herab, sondern als freundliche Aufforde- Quatsch und Blödsinn! – Weiterer Zuruf von rung zu verstehen –, wenn wir unaufgeregt, in gegensei- der SPD: Sie übertreiben jetzt!) tigem Respekt und ohne Vorbedingungen – es wird ja Insofern ist das, was mit der Bahnreform für die Nutzer immer wieder versucht, solche hier hereinzubringen – erreicht werden sollte, aus Sicht der Kunden noch lange über das gemeinsame Ziel, nämlich den erfolgreichen nicht erreicht. Abschluss der Bahnreform, miteinander sprechen könn- ten. Ich stehe Ihnen hierfür jederzeit zur Verfügung. Ich (Beifall bei der CDU/CSU) würde mich freuen, wenn Sie darauf eingehen würden. Mit der Bahnreform sind von der Politik bestimmte Ich glaube, dass wir wie damals bei der Bahnreform ge- Ziele verfolgt worden – wir haben das heute Morgen meinsam vorgehen sollten. Noch ist es nicht so weit. Im schon mehrfach gehört –, beispielsweise mehr Verkehr Moment werden wir nichts entscheiden. Erst brauchen (B) von der Straße auf die Schiene zu bringen und eine Ent- (D) wir gute Informationen, bevor wir etwas entscheiden.lastung des Bundeshaushaltes zu erreichen. Zum Letzte- Diese werden wir Ihnen zur Verfügung stellen und wir ren ist schon einiges gesagt worden. Ich sage jetzt noch sollten sie auch gemeinsam miteinander diskutieren. etwas zur verkehrspolitischen Zielsetzung,mehr Ver- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ kehr auf die Schiene zu bringen. Dieses Ziel ist ja so DIE GRÜNEN) nicht erreicht worden. Die Bahn hat immer geringere Anteile an den Verkehrsleistungen. Wir wollen hoffen, dass der Erwerb von Stinnes und die Umgestaltung zu Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Railion wenigstens im Cargo-Bereich den Durchbruch Ich erteile das Wort dem Kollegen Enak Ferlemann, bringt, den wir uns alle erhoffen. Dies scheint ein gelun- CDU/CSU-Fraktion. gener Zukauf zu sein; wollen wir sehen, wie es sich ent- (Beifall bei der CDU/CSU) wickelt. Das Erscheinungsbild ist katastrophal. Enak Ferlemann (CDU/CSU): (Siegfried Scheffler [SPD]: Das ist doch Blöd- Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten sinn!) Damen und Herren! Zehn Jahre Bahnreform – man muss, wie ich glaube, auch die Sichtweise derer berück- Die Preisreform, über die wir, im Übrigen auch im Aus- sichtigen, für die wir Politik machen, nämlich die Bürge- schuss, sehr engagiert diskutiert haben – das ist noch gar rinnen und Bürger dieses Landes und damit auch die nicht lange her –, war ein klarer Fehlschlag, eine Nutzer des Verkehrsträgers Schiene. Ich als Vielfahrer schlimme Marketingmaßnahme, die zurückgenommen bei der Bahn bekomme immer einiges zu hören, wenn und jetzt deutlich verbessert wurde. bekannt wird, dass ein Bundestagsabgeordneter im Zug ist, der auch noch Verkehrspolitik macht. Zur Verlässlichkeit habe ich einiges gesagt. (Sören Bartol [SPD]: Haben Sie ein Schild (Siegfried Scheffler [SPD]: Jetzt beschimpfen umhängen?) Sie die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der DB AG!) So bekommen Sie immer wieder zu hören, dass Reisen mit der DB AG, also Bahn fahren, immer noch eine mo- Herr Schmidt hat gesagt, die Qualität der Züge habe derne Form des Abenteuers ist. sich verbessert. Bei den Zügen, mit denen ich fahre, kann ich das nicht feststellen. Der Gipfel war – das habe Sie können allerlei mit der Bahn erleben. ich selber erlebt –, dass das Zugmaterial in einem Fall so Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 89. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2004 7917

Enak Ferlemann (A) alt war, dass die Lokomotive vor einem Zug gebrannt (Reinhard Weis [Stendal] [SPD]: „Bleibt“? Er (C) hat. Sie müssen sich einmal vorstellen, was das für die ist es nicht! Das ist doch sachlich falsch!) Reisenden bedeutet. Ich habe selber erlebt, dass die frei- willige Feuerwehr das Feuer an der Lokomotive löschen Die verfassungsrechtlich verankerte Verantwortung des musste. Meine Damen und Herren, wenn Sie in Bezug Bundes für die Schieneninfrastruktur muss konkretisiert auf die Züge von einem Qualitätsstandard sprechen,und gesichert werden. Ich kann mir natürlich vorstellen, dann müssen Sie auf anderen Strecken fahren als ich. dass die DB AG gerne das Netz privatisieren möchte – was hat sie denn sonst schon an Sicherheiten zu bieten? (Sören Bartol [SPD]: Das ist wohl wahr!) Wenn sie für einen Börsengang kapitalmarktfähig wer- den will, dann muss sie Sicherheiten bieten. Wenn sie Ein schlechter Standard ist das, was die Leute tagtäglich die nicht hat, dann kann sie nicht so privatisiert werden, erleben. wie man sich das gemeinhin vorstellt. Da scheint ein (Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch bei großes strukturelles Problem in der Politik zu liegen. der SPD) Dass Herr Mehdorn das Interesse nicht hat, kann man – Ich finde es gut, wenn bei Ihnen etwas Bewegung bei nachvollziehen; er ist seinen privatwirtschaftlich orien- diesem Thema ist; das halte ich für richtig. tierten Zielen verpflichtet. Aber wir als Deutscher Bun- destag haben andere Zieleim Auge, die wir nur errei- Wie sieht es mit demWettbewerb aus? Wir haben chen können, wenn wir die Verantwortung für die auf der Schiene keinen Wettbewerb. Es gibt einige an- Schieneninfrastruktur weiterhin im Hause behalten. Es dere Betreiber, zum größten Teil auf Nebenstrecken,ist eben nicht so, dass, wie oft dargestellt wird, aus- kaum auf Hauptstrecken, im Kerngeschäft. Woran liegt schließlich die DB AG zuständig sei; nein, Alleineigen- das? Die Deutsche Bahn AG kann kein Interesse daran tümer ist die Bundesrepublik Deutschland und damit ist haben, Konkurrenz auf die Schiene zu lassen, weil es ihr die Regierung in der Verantwortung. Sie sitzt ja auch in unmittelbar schadet. den Aufsichtsräten und kann die Politik der Bahn gut mitsteuern und mitentwickeln. Das wird leider viel zu Es gibt auch keine nachhaltige Entlastung des Bun- wenig getan. deshaushaltes. Wir hatten bei der Bahn von 1961 bis 1993 Verbindlichkeiten inHöhe von 34,3 Milliarden Deshalb ist eine materielle Privatisierung – auch nur Euro; in der Zeit von 1994 bis Ende 2002 sind schonTeilprivatisierung – der Deutschen Bahn mit Netz abzu- wieder 24,5 Milliarden Euro an neuen Schulden bei der lehnen. Ein Vorgriff auf zukünftige Gestaltungsmöglich- Deutschen Bahn aufgelaufen. Das zeigt, in welcher Ra- keiten des Haushaltsgesetzgebers etwa in Form einer (B) sanz wir hier in eine Schuldenbahn gelaufen sind. Und langfristigen Verpflichtungsermächtigung für Infrastruk- (D) das Thema ist noch lange nicht beendet: Das Netz hängt turinvestitionsmittel muss ausgeschlossen werden. am Tropf des Bundes und der Nahverkehr hängt am Tropf der Länder. Benötigt wird eine konsequente Ausrichtung der Schienenverkehrspolitik darauf, den entscheidenden (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Beides Schritt zu einer Wettbewerbsbranche zu vollziehen und hängt am Geld des Steuerzahlers!) den dazu notwendigen Wettbewerbsrahmen zu schaffen. Das kann nur dann gelingen, wenn das bundeseigene – Genau, beides hängt am Geld des Steuerzahlers. Inso- Unternehmen Deutsche Bahn AG dazu angehalten wird, fern wird auch der Bundeshaushalt nicht entlastet. Damit einen ordnungspolitischen Auftrag des Eigentümers un- ist für eine Privatisierung, wie sie angedacht wurde, ternehmenspolitisch umzusetzen. Kernelement dieses noch kein Raum. Das Ziel wurde nicht erreicht. ordnungspolitischen Auftrags muss sein, den strategi- Deswegen muss die Bundesregierung zehn Jahre nach schen Ansatz der zweiten und dritten Stufe der Bahn- der Bahnreform eine umfassende Bestandsaufnahme und reform wieder aufzugreifen und fortzuführen. Bewertung der Erfolge sowie der vielen Misserfolge der Reform mittels externer Evaluierung durchführen.Eine zukünftige Organisationsstruktur der Deutschen Gleichzeitig bedürfen die verkehrs- und haushaltspoliti- Bahn AG muss, wie im Rahmen der Bahnreform vorge- schen Voraussetzungen und Auswirkungen einesBör- sehen, dem Transparenzgedanken Rechnung tragen. Das senganges der DB AG einer eingehenden Prüfung. Ich gilt insbesondere für die Unternehmensbereiche, in die stimme denjenigen zu, die heute schon gesagt haben,öffentliche Finanzmittel fließen. Direkte oder indirekte dass der Deutsche Bundestag frühzeitig beteiligt werden Querfinanzierungen, wie bei der Maut – wenn sie denn muss, um die Voraussetzungen für eine breite Unterstüt- kommt – vorgesehen, sind zu vermeiden. zung der zukünftigen Schienenverkehrspolitik zu schaf- Als erster Schritt sind die Empfehlungen der Task fen, wie sie bereits ursprünglich Grundlage der Bahnre- Force „Zukunft der Schiene“ unverzüglich umzusetzen, form war. wobei die Vorgaben des Eisenbahninfrastrukturpakets (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- der Europäischen Union, das die EU-Richtlinien bein- neten der FDP) haltet, strikt beachtet werden müssen. Die Richtlinien hätten bereits bis zum 15. März 2003 in deutsches Recht Das Wichtigste scheint zu sein, dass der Bund – zu- umgesetzt sein müssen. Das haben Sie nicht erreicht; das mindest mittelbar – Alleineigentümer des Schienennet- liegt noch vor uns. Auch das ist ein großes Versagen der zes der DB AG bleibt. Regierung. 7918 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 89. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2004

Enak Ferlemann (A) In einem nächsten Schritt – das ist das Wesentliche – Verhältnis im öffentlichen Verkehr stimmt, werden mehr (C) muss die Privatisierung der Verkehrsbereiche des DB- Menschen das Auto stehen lassen. Konzerns eingeleitet werden. Der danach im Bundesei- gentum verbleibende DB-Konzern wird auf die Schie- (Dr. Peter Danckert [SPD]: Sehr richtig!) neninfrastruktur reduziert, inklusive aller Einrichtungen, Wir haben deshalb bereits 2002 die Initiative ergriffen zu denen alle Wettbewerber in fairer Weise einen Zu-mit unserem Antrag „Qualitätsoffensive im öffentlichen gang haben müssen. Personenverkehr – Verbraucherschutz und Kundenrechte stärken“ und die Bundesregierung mit der Erstellung ei- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: ner umfassenden Bestandsaufnahme beauftragt. Das Herr Kollege, bitte achten auch Sie auf die Redezeit. Forschungsvorhaben ist im letzten Sommer ausgeschrie- ben und Ende des Jahres vergeben worden. Wie Sie, Enak Ferlemann (CDU/CSU): meine Damen und Herren von der FDP und vor allem Herr Präsident, ich komme zum Schluss. mein lieber Kollege Horst Friedrich, wissen, ist Ihr An- trag, das Vorhaben neu auszuschreiben, bereits überholt. Die Bahnreform muss nach zehn Jahren neu bewertet werden. Daraus müssen die richtigen Konsequenzen Die Entscheidung des Verkehrsministeriums, den Ju- zum Wohle des Verkehrsträgers Schiene und damit zum risten Rainer Freise als Gutachter einzusetzen, war fach- Wohle aller Bürgerinnen und Bürger gezogen werden. lich gut begründet. Doch ist der Verdacht – ob begründet oder unbegründet –, er vertrete einseitig die Interessen Ich danke für die Aufmerksamkeit. der Deutschen Bahn AG, unserer Absicht, eine ausgewo- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) gene Regelung der Fahrgastrechte zu finden, nicht zu- träglich. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: (Dr. Peter Danckert [SPD]: Richtig!) Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Sören Bartol, SPD-Fraktion. Wir hoffen nun, dass die neue Ausschreibungsrunde mehr Angebote unabhängiger, fachlich qualifizierter Gutachter bringt. Wir erwarten auch, dass das Verkehrs- Sören Bartol (SPD): ministerium zügig die vom Parlament geforderte umfas- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und sende Bestandsaufnahme vorlegt, in der Handlungsalter- Kollegen! Herr Ferlemann, am Anfang meiner Redenativen auch für die Neuregelung der Fahrgastrechte muss ich Ihnen sagen: Es ist mir völlig unverständlich, aufgezeigt werden. Dies ist auch vor dem Hintergrund wo Sie in Deutschland mit der Bahn fahren. (B) der anstehenden EU-Regelung für den grenzüberschrei- (D) (Enak Ferlemann [CDU/CSU]: Sie können tenden Personenverkehr sehr wichtig. Die Kommission mich einmal begleiten!) wird wahrscheinlich noch vor der Sommerpause einen Entwurf vorlegen. Wir brauchen gerade deshalb zügig Ich glaube, dass Sie den Schwerpunkt eindeutig auf das eine fundierte Entscheidungsgrundlage. Auto legen. (Dr. Peter Danckert [SPD]: Sehr richtig!) (Enak Ferlemann [CDU/CSU]: Nein!) Wenn wir Kundenrechte stärken, aber die Verkehrs- Sonst hätten Sie gemerkt, dass sich nach zehn Jahrenunternehmen nicht überfordern wollen, gehört dazu auch Bahnreform doch einiges bei der Bahn geändert hat. eine realistische Abschätzung der Folgen. Eine Verbes- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ serung der Fahrgastrechte ist nicht im Interesse der Kun- DIE GRÜNEN) dinnen und Kunden, wenn sie deswegen deutlich mehr zahlen müssen und/oder länger unterwegs sind. Denn Sie hätten ebenfalls gemerkt, dass in Deutschland eine gerade bei der in Deutschland großen und in Europa bei- brennende Lok nicht der Normalfall ist. spiellosen Taktdichte ist das Risiko hoch, einen An- Herr Ferlemann, ich sage Ihnen ganz ehrlich – das ist schluss zu verpassen, Herr Ferlemann. hier schon von einigen Rednern angesprochen worden –: (Enak Ferlemann [CDU/CSU]: Sehen Sie!) Diese Vorwürfe sind ungerecht gegenüber der Deutschen Bahn AG und vor allen Dingen gegenüber ihren Mitar- Wenn die Verkehrsunternehmen versuchen, dieses Ri- beiterinnen und Mitarbeitern, die sich in diesem Prozess siko durch Angebotsausdünnung und längere Reisezei- nun wahrlich angestrengt haben. ten zu vermeiden, kann dies nicht im Sinne eines attrak- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ tiven öffentlichen Personenverkehrs sein. DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Das Thema Fahrgastrechte hat den Bundestag in den DIE GRÜNEN) vergangenen zwei Jahren wiederholt beschäftigt, zuletzt Lassen Sie uns deshalb gesetzliche Neuregelungen – ob vor zwei Monaten. Dies geschah zu Recht; denn einim BGB oder anderswo – nicht überstürzen, solange wir Baustein einer Strategie für einen attraktiven öffentli- keine fundierten Einschätzungen über die Folgen haben! chen Personenverkehr ist die Stärkung des Verbraucher- schutzes. Nur wenn Busse und Bahnen kundenfreund- (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Das hat lich und zuverlässig sind, nur wenn das Preis-Leistungs- das BGB auch nicht verdient!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 89. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2004 7919

Sören Bartol (A) Die öffentliche Diskussion über diePünktlichkeit Wenn Sie am Markt erfolgreich sein wollen, müssen (C) von Bussen und Bahnen ist indessen nicht wirkungslos Sie sich an den Wünschen der Kunden orientieren. Wer geblieben. Die Deutsche Bahn AG und andere Verkehrs- mehr Fahrgäste und höhere Einnahmen will, muss ein at- unternehmen haben erkannt, dass sie ihr Image verbes- traktives Angebot machen und Fahrgastrechte wirklich sern und Fahrgäste gewinnen, wenn sie bei Verspätun- ernst nehmen. gen mehr als bisher auf Kundenwünsche eingehen. Das Vielen Dank. bedeutet, auch Entschädigungen zu gewähren. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Aha!) DIE GRÜNEN) Auch die Mobilitätsgarantie zum Beispiel des Verkehrs- verbundes Rhein-Ruhr und das Garantieticket des Ver- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: kehrsverbundes Rhein-Sieg zeigen, dass die Verkehrsun- Die Kollegin Dr. Lötzsch hat ihre Rede zu Protokoll ternehmen selbst Lösungen finden können und auchgegeben.1) wollen. Ich schließe damit die Aussprache. Die Deutsche Bahn AG arbeitet daran, ab Oktober 2004 neue Entschädigungsregelungen in ihre Allge- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf meinen Geschäftsbedingungen aufzunehmen. den Drucksachen 15/2156 und 15/2279 an die in der Ta- gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Wenn das Sind Sie damit einverstanden? – Das ist offensichtlich so wird wie das neue Preissystem, kann das der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. nichts werden!) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf: Wir hoffen, dass die Gespräche der Deutschen Bahn AG mit dem Verkehrsministerium und dem Verbraucher- Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio- schutzministerium bald zu einem konkreten Ergebnis nen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE führen. GRÜNEN eingebrachten Entwurfs einesVier- undzwanzigsten Gesetzes zur Änderung des Wer von Ihnen die Bahn nutzt, hat das Bemühen be- Abgeordnetengesetzes merkt, die Fahrgäste am Bahnsteig und im Zug wissen zu lassen, warum sich ein Zug verspätet. – Drucksache 15/1687 – (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Wissen ist (Erste Beratung 66. Sitzung) Macht!) (B) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- (D) Das kommt gut an und zeigt: Gesetzlich geregelte Ent- ses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäfts- schädigungsansprüche sind nicht alles. Aus Sicht der ordnung (1. Ausschuss) Kunden sind für die Attraktivität von Bussen und Bah- – Drucksache 15/2440 – nen auch Kundenfreundlichkeit und Service entschei- dend. Dazu gehören nicht nur Informationen über Ursa- Berichterstattung: chen von Verspätungen und über alternativeAbgeordnete Dr. Uwe Küster Reisemöglichkeiten, sondern auch verständliche Tarife Eckart von Klaeden und eine gute Beratung. Volker Beck (Köln) Jörg van Essen Ich bin überzeugt, dass der zunehmende Wettbewerb, wenn wir ihn fair gestalten, zu günstigen Preisen und Interfraktionell ist für die Aussprache eine Fünfminu- besserer Qualität führt. Auf der Schiene haben wir be- tenrunde vereinbart worden. – Ich höre dazu keinen Wi- reits für mehr Wettbewerb gesorgt, derspruch. Dann können wir so verfahren. (Renate Blank [CDU/CSU]: Das ist aber ganz Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst dem neu!) Kollegen Uwe Küster für die SPD-Fraktion das Wort.

und dies mit Erfolg. Viele neue Bahnbetreiber haben in- Dr. Uwe Küster (SPD): zwischen ihren Weg auf die Trassen der DB Netz gefun- Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- den. Auch das nützt den Verbraucherinnen und Verbrau- ren! Mit dem heute zur Abstimmung stehenden Vierund- chern. zwanzigsten Gesetz zur Änderung des Abgeordnetenge- (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Jeder setzes lösen die Bundestagsfraktionen der SPD und des lange Weg beginnt mit dem ersten Schritt! – Bündnisses 90/Die Grünen das Versprechen ein, alle Gegenrufe von der SPD: Oh!) Bürgerinnen und Bürger ohne Ansehen der Person am notwendigen Umbau des Sozialstaates zu beteiligen. – Herr Friedrich, das war wirklich ein wunderbarer Zu- ruf. – Auch die Abgeordneten des Deutschen Bundestages sind ebenso wie jedermann – anders als immer wieder (Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- behauptet – von den Folgen der Sozialreform betroffen. NEN]: Das müssen wir feiern!) – Genau. 1) Anlage 2 7920 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 89. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2004

Dr. Uwe Küster (A) Bereits im interfraktionellen Entschließungsantrag zum Nein, bei dieser Art vonveröffentlichter Meinung (C) Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Kranken- kam es ausschließlich darauf an, das Bild des Abgeord- versicherung vom September letzten Jahres wurde der neten in der Öffentlichkeit zu diffamieren. Das Mitglied Wille aller Fraktionen des Deutschen Bundestages un- des Deutschen Bundestages sollte nicht als demokratisch missverständlich zum Ausdruck gebracht, die Abgeord- gewählter Vertreter des Volkes, sondern als Absahner neten ebenso wie alle anderen Bürgerinnen und Bürger wahrgenommen werden. Diesen demokratiefeindlichen an der Neugestaltung der Krankenversicherungsleistun- Versuchen der Blätter mit den großen Buchstaben treten gen zu beteiligen. Die für alle geltenden Regelungen der wir entschieden entgegen. Krankenversicherung sollen demnach sowohl für die Abgeordneten des Deutschen Bundestages als auch für Wir können uns nicht unmittelbar gegen eine verzer- Minister und Beamte gelten. rende und verfälschende Berichterstattung wehren, wir können ausschließlich das machen, was wir heute tun: Durch das Gesetz zur Modernisierung des Gesund- Wir können ehrliche, transparente und anständige Ge- heitssystems wurde zur Stabilisierung der Situation der setze verabschieden; wir können nur versuchen, die öf- gesetzlichen Krankenversicherung das so genannte Ster- fentliche Wahrnehmung mit Transparenz und Offenheit begeld aus dem Leistungskatalog des Sozialgesetzbu- zu beeinflussen. ches vollständig gestrichen. Für Beihilfeberechtigte wurde eine wirkungsgleiche Anpassung der Beihilfevor- Lassen Sie mich zum Abschluss daher Folgendes schriften vorgenommen. Damit wurde die Forderung des feststellen: Der von der Koalition vorgelegte Gesetzent- Deutschen Bundestages für Abgeordnete automatisch wurf zeigt den Willen aller Abgeordneten des Deutschen mit umgesetzt. Bundestages, die der Allgemeinheit auferlegten Lasten solidarisch mitzutragen. Sonderrechte für Abgeordnete Es war nie unsere Absicht, die Gesundheitsreform nur im Bereich der Krankenversicherung wird es nach dem formal nachzuvollziehen. Vielmehr ist es die Überzeu- Willen der SPD-Bundestagsfraktion nicht geben. Der gung meiner Fraktion, dass dort, wo der Abgeordnete heute vorliegende Gesetzentwurf ist ein Beweis für die wie jedermann an einer sozialen Leistung unseres Ge- Richtigkeit und Verlässlichkeit der politischen Aussagen meinwesens teilnimmt, auch materiell eine Gleichstel- meiner Fraktion. Ich bitte Sie daher alle, dem vorliegen- lung erreicht werden muss. Daher haben die Fraktion der den Gesetzentwurf zuzustimmen. Grünen und meine Fraktion bereits Anfang Oktober letz- ten Jahres den heute zu behandelnden Gesetzentwurf in Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. die parlamentarischen Beratungen eingebracht. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (B) Der Gesetzentwurf sieht vor, den Hinterbliebenen ei- (D) nes Abgeordneten des Deutschen Bundestages einen der ursprünglichen Höhe des Sterbegeldes in der gesetzli- Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: chen Krankenversicherung entsprechenden Betrag in Das Wort hat der Kollege Eckart von Klaeden, CDU/ Höhe von 1 050 Euro abzuziehen. Die Hinterbliebenen CSU-Fraktion. eines verstorbenen Abgeordneten erhalten also zukünftig keinerlei Zuschüsse zu den Bestattungskosten. Eckart von Klaeden (CDU/CSU): Darüber hinaus haben alle Fraktionen die Einbezie- Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen! hung der ehemaligen Abgeordneten in die Pflicht derEs gehört zu den in der Öffentlichkeit sorgsam gepfleg- Rentner, zukünftig den vollen Pflegeversicherungsbei- ten Irrtümern, dass es für Abgeordnete ein Sonderrecht trag zu leisten, beschlossen. Wir setzen damit den unter in der Krankenversicherung gebe. Das ist falsch. Abge- allen Fraktionen unumstrittenen Weg der solidarischen ordnete können, wenn sie aus dem Beamtenverhältnis Teilhabe der Abgeordneten an den Reformen der Sozial- kommen, wählen, ob sie weiter beihilfeberechtigt sein kassen fort. Das, was wir den Bürgerinnen und Bürgern wollen. Alternativ gibt esfür sie wie für alle anderen zumuten müssen, fordern wir uns auch selbst ab. Bürger, die derselben Gehaltsklasse angehören, die Möglichkeit, entweder freiwillig Mitglied in der gesetz- Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang kurz auf lichen Krankenversicherung zu sein oder sich vollstän- die veröffentlichte Meinung zum Thema „Sterbegeld dig privat zu versichern. Es gibt also kein Privileg für und Abgeordnete“ eingehen. Das, was wir und die deut- Abgeordnete. Aus den von mir beschriebenen Gründen sche Öffentlichkeit im Herbst des letzten Jahres erlebt gelten entweder die allgemeinen Regelungen für den öf- haben, hat mich persönlich sehr getroffen. Es stand der fentlichen Dienst oder die der privaten oder gesetzlichen Vorwurf im Raum, Abgeordnete würden sich dem Weg- Krankenversicherung, je nachdem, welche Wahl getrof- fall des Sterbegeldes entziehen. Dies war und ist – der fen wurde. heutige Tag zeigt es deutlich – nie die Absicht gewesen. Hier wurde eine Kampagne gestartet, in der es nicht da- Das hat zur Konsequenz, dass die Abgeordneten, die rauf ankam, was ein Abgeordneter persönlich leistet. Es sich für eine freiwillige Mitgliedschaft in der gesetz- kam auch nicht darauf an, ob wir Abgeordnete die kom- lichen Krankenversicherung entscheiden, die dort vorge- plexe Rechtslage, die von den Fachministerien nommenen in Leistungsreduzierungen mitzutragen haben. schwierigen Beratungen und Verhandlungen geschaffen Für die anderen gilt, dass der Umfang der Leistungen wurde, quasi über Nacht in das Rechtssystem des Abge- Bestandteil des zivilrechtlichen Vertrages mit ihrer pri- ordnetengesetzes umsetzen konnten. vaten Krankenversicherung ist. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 89. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2004 7921

Eckart von Klaeden (A) Wir sprechen heute erneut über die Streichung des so Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: (C) genannten Sterbegeldes für Abgeordnete. Auch dazu hat Ich erteile dem Kollegen Volker Beck, Bündnis 90/ es eine ganze Reihe von Verwirrungen gegeben. DasDie Grünen, das Wort. Sterbegeld für Abgeordnete ist bereits 1989 im Rah- men einer Gesundheitsreform gestrichen worden. Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Jörg van Essen [FDP]: Genauso ist es!) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr von Klaeden, Sie müssen sich schon entscheiden, was Sie Die damalige Regelung im Abgeordnetengesetz ist er- den Bürgerinnen und Bürgern versprechen wollen, nied- satzlos gestrichen worden. Man hat stattdessen ein Über- rigere Beiträge oder höhereLeistungen. Beides gleich- brückungsgeld eingeführt, bei dem ausdrücklich nicht zeitig geht nicht, wenn Sienicht irgendwo eine Geld- auf die Bestattungskosten Bezug genommen wurde. Es druckmaschine anwerfen. ist vielmehr an ähnliche Regelungen in Tarifverträgen der freien Wirtschaft angelehnt worden. (Zuruf von der SPD: Die Union kann das!) Dieses Überbrückungsgeld, das ausdrücklich kein Das gebietet die Seriosität dieser Diskussion, ist aber nur Sterbegeld gewesen ist, kürzen wir nun um 1 050 Euro. ein Teil des Problems, das wir hier jetzt diskutieren wol- Dieser Betrag entspricht der Leistungsreduzierung in der len. gesetzlichen Krankenkasse. Die Kolleginnen und Kolle- Wir haben als Koalition ganz klar gesagt: All das, was gen, die freiwillig gesetzlich versichert sind, werden da- wir den Bürgerinnen und Bürgern, die Mitglied in den mit dreimal betroffen, nämlich durch die Streichung des gesetzlichen Sozialversicherungssystemen sind, durch Sterbegeldes im Abgeordnetenrecht, die Streichung in die Reformen zumuten, wollen wir wirkungsgleich auf der gesetzlichen Krankenversicherung und jetzt noch Beamte und Abgeordnete übertragen. Es kann nämlich einmal durch die Reduzierung des Überbrückungsgeldes nicht sein, dass eine gesellschaftliche Gruppe von den im Abgeordnetenrecht. Die anderen haben den Vorteil, Reformen ausgenommen wird, die jedoch grundsätzlich nur zweimal eine Kürzung hinnehmen zu müssen. ihre Leistungen aus den gesetzlichen Systemen dieses Wir halten es angesichts der öffentlichen Diskussion Staates erhält. Es müssen gleiche Bedingungen für die gleichwohl für richtig, das zu tun. Dieser komplizierte gleiche soziale Sicherheit gelten. Sachverhalt ist offensichtlich nicht zu vermitteln und der Wenn wir die Rentenreform abgeschlossen haben, eine oder andere Journalist hat scheinbar auch kein Inte- werden wir uns auch noch einmal die Altersbezüge für resse daran, ihn zu verstehen. die Abgeordneten ansehen müssen. Wir müssen dann (Jörg van Essen [FDP]: Auch das ist leider die entsprechenden Beträge wirkungsgleich in gleichem (D) (B) richtig!) Umfang senken, wie wir das für die gesetzliche Renten- versicherung vorgeschlagen haben. Diese Streichung findet also die Zustimmung unserer Fraktion. Mit diesem Gesetzentwurf zeigen wir heute, dass wir auch nicht ein Jota, einen Hauch von Nichtübertragung Der zweite Punkt, über den wir heute beschließen, be- zulassen. Wir haben dieses Gesetz ursprünglich in An- trifft die Einführung einer Regelung, nach der ehemalige griff genommen, um der Bundesrepublik Deutschland Abgeordnete den vollenPflegeversicherungsbeitrag sage und schreibe 3 500 Euro – so die Verwaltung – im zahlen müssen. Damit übernehmen wir für ehemalige Jahr zu sparen. Abgeordnete die Regelung, die von der Koalition für die gesetzliche Rentenversicherung eingeführt worden ist. Nun ist es so, dass natürlich die gesetzlich versicher- ten Kollegen, die schon von der Streichung des Sterbe- Ich will ganz deutlich sagen, dass wir die Einführung geldes in der gesetzlichen Krankenversicherung betrof- dieser Regelung in die gesetzliche Rentenversicherung fen sind, besonders belastet werden. Angesichts der abgelehnt haben und auch weiterhin ablehnen, denn da- Regelung für das Überbrückungsgeld für verstorbene durch kommt es zum ersten Mal zu einer realen Renten- Abgeordnete, bei dessen Berechnung damals fiktive Be- kürzung. Das ist weder mit dem Wahlversprechen der stattungskosten angesetzt worden sind, haben wir, um Koalition zu vereinbaren noch entspricht es unserer Vor- die Sache ganz perfekt zu machen, gesagt: Die Erstat- stellung von einer leistungsbezogenen Rente. tung dieser Bestattungskosten muss gestrichen werden, Es wäre aber umgekehrt nicht hinnehmbar, wenn die wenn auch für den einfachen Bürger und die einfache Bürger diese Kürzung in der Rentenversicherung hin- Bürgerin diese Bestattungskosten nicht von der gesetzli- nehmen müssten, wir aber gleichzeitig den hälftigenchen Krankenversicherung abgedeckt werden. Das ist Pflegeversicherungsbeitrag für ehemalige Abgeordnete zwar nur ein kleiner Schritt, aber er zeigt, dass Abgeord- erhalten wollten. Deswegen übernehmen wir diese Re- nete – entgegen dem öffentlichen Vorurteil – keinerlei gelung aus der Rentenversicherung 1 : 1 ins Abgeordne- Sonderrechte genießen, sondern dass entsprechende An- tenrecht. Damit ist aber nicht zu verbinden, dass wir auf gleichungen minutiös, bis ins Kleinste, umgesetzt wer- diese Weise im Nachhinein der Änderung des Renten- den. rechts zustimmen wollen. Der zweite Punkt, den wir erst im Laufe des Verfah- Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. rens in die Vorlage aufgenommen haben und der gar nicht Anlass für diesen Gesetzentwurf war, war auch (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Gegenstand der Sozialreformen: die Regelungen zur 7922 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 89. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2004

Volker Beck (Köln) (A) Übernahme der Pflegeversicherungsbeiträge durch geordnete und Selbstständige, Beamte und Rentner glei- (C) Rentner. Es ist so, dass den Rentnern die Leistungen der chermaßen – im selben System integriert sind. Pflegeversicherung gewährt werden, obwohl die heuti- gen Rentner, denen diese Leistungen zugute kommen, Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: während ihrer Erwerbsphase regelmäßig nicht oder nur Herr Kollege! kurz durch eigene Beiträge zur Finanzierung beigetragen haben. Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das war einer der Gründe, warum man sich entschie- Wir hoffen, dass wir darüber in der nächsten Zeit dis- den hat, für Rentner den vollen Pflegeversicherungsbei- kutieren werden. Dann wird dieses Problem, zumindest trag zu erheben. Dies führt für diese Rentnerinnen und für den Bereich der Krankenversicherung, gelöst sein. Rentner zu einer Kürzung der Rentenbezüge. Da auch Vielen Dank, Herr Präsident, für Ihre Geduld. die Abgeordneten, die Altersbezüge auf der Basis ihrer Abgeordnetenentschädigung bekommen, nicht länger (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingezahlt haben, haben wirdiese Regelung wirkungs- sowie bei Abgeordneten der SPD) gleich auf sie übertragen. Hier geht es tatsächlich um ein bisschen Geld: Die geschätzten Einsparungen betragen Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: circa 100 000 Euro pro Jahr. Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Meine Damen und Herren, in den letzten WochenKollege Jörg van Essen, FDP-Fraktion. wurde eine absurde Diskussion geführt, weil die Kennt- nisse über die Bezugssysteme von Abgeordneten in der Jörg van Essen (FDP): Bevölkerung nicht hinreichend verbreitet sind. Dabei Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nur ging es um die Praxisgebühr, die Abgeordnete zahlen. Eintopf wird durch häufiges Erwärmen besser. Bei De- Für Abgeordnete gab es bei der Praxisgebühr nie eine batten im Bundestag ist das nicht so. Zwar spürt man das Sonderregelung. häufig nicht so sehr, aber es stimmt. Deswegen kann ich für meine Fraktion, die FDP-Bundestagsfraktion, erklä- (Jörg van Essen [FDP]: Ja, richtig!) ren: Alle Argumente, die hier bisher vorgetragen worden Allerdings besteht das Problem, dass es hier im Bundes- sind, werden von uns geteilt. Für Abgeordnete gibt es tag – Entsprechendes gilt für die gesamte Gesellschaft – keine Sonderversorgung und keine Sonderregelungen, sozialversicherungsrechtlich dreierlei Sorten von Abge- sondern sie werden jeweils so behandelt wie diejenigen, ordneten gibt: diejenigen, die freiwillig in einer gesetz- die in gleicher Weise wie sie versichert sind. Das ist un- (B) lichen Krankenversicherung versichert sind, sere Maxime, die wir auch in Zukunft vertreten werden; (D) auch dann, wenn wir die eine oder andere Regelung (Zuruf von der SPD: Ja, hier!) – beispielsweise die Praxisgebühr, die wir für falsch ehemalige Beamte, die beihilfeberechtigt sind, und die halten – heftig kritisieren. Daher haben wir als FDP- Kolleginnen und Kollegen, die Mitglied einer privaten Bundestagsfraktion einen Antrag in den Deutschen Bun- Krankenversicherung sind. destag eingebracht, sie wieder abzuschaffen. Das sind drei grundverschiedene Systeme. In der Tat (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) hatten wir Probleme, folgende Frage zu beantworten: Wie kann die Regelung der gesetzlichen Krankenver-Aber solange die Bürger, die in der gesetzlichen Kran- sicherung in das System der Beihilfe, das ganz anders kenversicherung versichert sind, die Praxisgebühr zah- funktioniert, wirkungsgleich übertragen werden? Einlen müssen, müssen das selbstverständlich auch die Ab- Beamter zahlt nämlich die eine Hälfte seiner Aufwen- geordneten tun. dungen selbst; dafür muss er sich versichern. Die andere Hälfte zahlt der Staat, nicht irgendeine Krankenkasse. Es Ich will einen Aspekt nachtragen, den die Kollegen war strittig, wie man diese Regelung wirkungsgleichnicht angesprochen haben. Bei der Kampagne, die leider überträgt. Allerdings war diese Frage nicht strittig, weil von einem unserer Kollegen losgetreten worden ist, ist in es hierbei um Abgeordnete ging, sondern weil es um das der Presse immer wieder behauptet worden, die Abge- System der Beamtenversorgung ging. ordneten brauchten keine Praxisgebühr zu bezahlen. Ich will die Fakten hierzu liefern: Etwa die Hälfte unserer Hier haben wir dem öffentlichen Druck in gewisser Kollegen ist in der gesetzlichen Krankenversicherung Weise nachgegeben, obwohl es auch vorher schon eine versichert. Form der wirkungsgleichen Übertragung gab. Das kann (Dr. [CDU/CSU]: Richtig!) man finden, wie man mag. Letztendlich sehen wir aber, dass die unterschiedlichen Systeme, die im Bereich der Für sie hat von Anfang an die gleiche Regelung wie für Krankenversicherung bestehen, von den Menschen nicht alle anderen gesetzlich versicherten Bürger gegolten. mehr verstanden und offensichtlich auch wegen ihrer un- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie terschiedlichen Struktur als ungerecht empfunden wer- bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE den. Deshalb meine ich, dass diese Diskussion erneut ge- GRÜNEN) zeigt hat, dass die einzig vernünftige Lösung die Perspektive einer Bürgerversicherung ist: einer Ver- Das sollte meiner Meinung nach in dieser Debatte ange- sicherung, bei der alle Bürgerinnen und Bürger – Ab-sprochen werden, weil wir so deutlich machen können, Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 89. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2004 7923

Jörg van Essen (A) dass die Diskussion, die der Kollege losgetreten hat,ZP 5 Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU (C) ohne jeglichen Grund geführt wird. Einrichtung eines Zukunftsausschusses Wir schaffen heute die Grundlage für dieGleichbe- handlung von Abgeordneten und allen anderen Bür- – Drucksache 15/2387 – gern. Diese Gleichbehandlung ist für uns ganz selbstver- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die ständlich; das hat schon immer gegolten. Wir als FDP- Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich Bundestagsfraktion werden dem Gesetzentwurf zustim- höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. men. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Kollegen Michael Müller.

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Michael Müller (Düsseldorf) (SPD): Ich schließe die Aussprache. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Seit 1987 Wir kommen zur Abstimmung über den von denwird über die Idee der Nachhaltigkeit gesprochen. In Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen der Zwischenzeit wurden in der Bundesrepublik Vor- eingebrachten Entwurf eines Vierundzwanzigsten Geset- arbeiten hierzu geleistet. In der Europäischen Union gibt zes zur Änderung des Abgeordnetengesetzes es auf einen Beschluss dazu, an dem sich die Europäische Drucksache 15/1687. Der Ausschuss für Wahlprüfung, Union als Leitlinie orientieren will. Auf internationaler Immunität und Geschäftsordnung empfiehlt in seinerEbene haben dazu zwei Weltgipfel stattgefunden. Daraus Beschlussempfehlung auf Drucksache 15/2440, den Ge- wollen wir nun die Konsequenz ziehen. Wir meinen, setzentwurf in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich dass auch das Parlament, also das Gremium, das die po- bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschuss- litischen Diskussionen in unserem Land zu führen hat, fassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer institutionell die Debatte über Nachhaltigkeit führen stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Damit ist der Ge- sollte. Das halten wir für einen wichtigen Beitrag, um setzentwurf in zweiter Beratung angenommen. die Zukunftsfähigkeit zu sichern und um dafür zu sor- gen, dass die langfristig aktuellen, globalen Themen im Dritte Beratung Bundestag stärker und kontinuierlicher diskutiert wer- und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem den. Das ist Hintergrund und Sinn unseres Antrags. Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Um der Globalisierung begegnen zu können, brau- Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist der chen wir ein zeitgemäßes Konzept. Die Nachhaltigkeit Gesetzentwurf einstimmig angenommen. (B) betrachten wir dabei als einen wichtigen Ansatzpunkt. In (D) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 sowie Zusatz- dieser Hinsicht gibt es, wie ich meine, auch keinen Wi- punkt 5 auf: derspruch zwischen den Fraktionen. Ich begrüße im Grundsatz auch Ihren Antrag auf Einrichtung eines Zu- 22 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael kunftsausschusses, auch wenn ich mich etwas darüber Müller (Düsseldorf), Astrid Klug, Ulrike Mehl, wundern musste, dass das Thema Nachhaltigkeit in der weiterer Abgeordneter und der Fraktionen derEndfassung nicht mehr enthalten ist. Aus meiner Sicht SPD, der Abgeordneten Winfried Hermann,ist Nachhaltigkeit das wichtigste Synonym für Zukunfts- Dr. Reinhard Loske, Volker Beck (Köln), weite- fähigkeit. Aber im Grundsatz schätzen Sie die Bedeu- rer Abgeordneter und der Fraktion des BÜND- tung dieses Themas genauso hoch ein wie wir. Das fin- NISSES 90/DIE GRÜNEN sowie der Abgeord- den wir gut. neten Michael Kauch, Birgit Homburger, Rainer Brüderle und der Fraktion der FDP Wir, das Parlament, müssen uns einigen, dass wir nicht nur über die Tagespolitik entscheiden, Krisen- Einrichtung eines parlamentarischen Beirates management betreiben und das, was uns gerade von Eu- für nachhaltige Entwicklung ropa zugewiesen wird, behandeln, sondern dass wir auch – Drucksache 15/2441 - die langfristigen zentralen Themen bearbeiten, die mit den Stichworten Zukunftsverträglichkeit, Nachhaltig- b) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bil- keit usw. beschrieben werden können. dung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (17. Ausschuss) gemäß § 56 a der Geschäftsord- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Winfried nung Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Technikfolgenabschätzung Aus meiner Sicht ist bei der Entwicklung der Zivili- sation eine dreifache Problematik zu erkennen: hier: Sachstandsbericht – „Langzeit- und Quer- schnittsfragen in europäischen Regierungen Erstens. Wenn wir die großen Zukunftsprobleme lö- und Parlamenten“ sen wollen, dann müssen wir zu einem anderen Umgang – Drucksache 15/2129 – mit der Zeit kommen. Es ist beispielsweise nicht mög- lich, die großen ökologischen Probleme und die Fragen Überweisungsvorschlag: der Innovation sowie der Generationengerechtigkeit zu Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f) lösen bzw. zu beantworten, wenn wir nicht zu einem an- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit deren Umgang mit der Zeit kommen. Das heißt, wir sind 7924 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 89. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2004

Michael Müller (Düsseldorf) (A) zu Lösungen nicht in der Lage, wenn allein die Kurzfris- ohne Einordnung in eine Dauerhaftigkeit, wird (C) auf tigkeit der Maßstab bei politischen EntscheidungenDauer keinen Bestand haben. Deshalb ist die Idee der bleibt. Damit kann man keine Zukunftsprobleme lösen. Nachhaltigkeit gleichzeitig auch die Idee einer langfristi- Die Idee der Nachhaltigkeit bedeutet in erster Linie, zu gen und umfassende Reform, die vor allem vor dem Hin- einem längerfristigen rationalen Umgang mit der Zeit zu tergrund der Globalisierung eine wachsende Bedeutung kommen. gewinnt. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Winfried Lassen Sie mich einen zweiten sehr wichtigen Punkt Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) nennen. Vor dem Hintergrund der zunehmendglobalen Probleme fragt man sich, wer diese Probleme eigentlich Der zweite wesentliche Aspekt der Nachhaltigkeit ist noch steuern und regulieren kann. Ich sage: Ich möchte aus meiner Sicht, dass wir den historischen Fehler der kein globales Regime, weil es sich dabei aus meiner modernen Zivilisation überwinden müssen. Die moderne Sicht um eine technokratische Weltherrschaft handeln Zivilisation hat nämlich eigentlich schon seit Beginn der würde, die allein schon deshalb, weil sie so weit vom Aufklärung, zum Teil aber auch schon seit Beginn der Bürger entfernt ist, die Freiheitsrechte fundamental ein- Neuzeit immer geglaubt, die Natur sei ein sich selbst re- schränken müsste. Die große Idee der Nachhaltigkeit hat gulierendes System. Die Grundidee der Moderne war eine Chance, weil sie sehr unterschiedliche Wege zu- immer, es gehe alles immer weiter, schneller und größer. lässt, auf denen man Probleme löst. Mit der Nachhaltig- Tatsächlich sind dienatürlichen Lebensgrundlagen keit beschreiben wir Probleme, Prinzipien und Regeln. aber ein limitierender Faktor. Wir können eben nicht von Wie Nachhaltigkeit in den einzelnen Feldern umgesetzt einer Grenzenlosigkeit ausgehen. Insbesondere aufgrund wird, ist von Mal zu Mal, von Land zu Land und von der Erkenntnisse der Ökologie muss man postulieren: Akteur zu Akteur verschieden. Dies bietet die große Die Menschheit muss mit Grenzen rational umgehen. Chance, eine globale Politik in Gang zu setzen, ohne da- Das bedeutet zwar nicht die Aufgabe des Wachstumsge- für die Einrichtung eines Weltregimes vorauszusetzen, dankens, aber das bedeutet die Überführung und Fortent- welches sowieso am Widerstand großer Staaten schei- wicklung des Wachstumsgedankens hin zur Idee der tern würde und welches auch unter Demokratieaspekten Entwicklung eines qualitativen Wachstums, wie wir es problematisch wäre. früher bezeichnet haben, bzw. einer nachhaltigen Ent- wicklung, wie es aus meiner Sicht heute zu bezeichnen Was wir machen wollen, ist, den Prozess der Nachhal- ist. tigkeit zu begleiten. Die Bundesregierung legt dazu den zweiten Bericht vor, mit dem sich das Parlament stärker Drittens. In einer arbeitsteiligen Gesellschaft gibt es als bisher beschäftigen muss. Es kann nicht sein, dass immer mehr Teillogiken, die für sich genommen fast wir überall in unseren Reden das Prinzip der Nachhaltig- (B) alle richtig sind, insgesamt aber nicht stimmig sind. (D) keit hochhalten und es im Bundestag nicht systematisch Nachhaltigkeit ist ein Ansatz, um Teilbereiche wieder zu verfolgen. Insofern wäre die Einrichtung eines Beirates einem organischen Ganzen zusammenzuführen, wie es genau das Richtige. der Club of Rome gesagt hat. Insofern kennzeichnet die Idee der Nachhaltigkeit für uns in erster Linie einen Pro- Vielen Dank. zess, umzudenken, neue Schwerpunkte zu setzen und zu begreifen, dass wir auf die drei großen Herausforderun- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gen, nämlich auf den Umgang mit der Zeit, den Umgang DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der mit Grenzen und die Integration komplexer Gesellschaf- FDP) ten, andere Antworten geben müssen. Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: Wir haben bewusst keinen Ausschuss gebildet, weil Ich erteile das Wort dem Kollegen Günter Krings, dann sofort die Konkurrenz zu anderen Ausschüssen ent- CDU/CSU-Fraktion. standen wäre. Herr Kollege Krings, wir haben darüber intensiv diskutiert. Wir merkten, dass in allen Fraktionen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Widerstand aufkam und die Frage gestellt wurde, ob denn ein Superausschuss geschaffen werden solle. Des- Dr. Günter Krings (CDU/CSU): halb sagen wir: Wir wollen das nicht. Wir wollen Pro- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und zesse in Gang setzen und diese drei großen Fragen bei Herren Kollegen! Lieber Herr Müller, drei Fraktionen allen Entscheidungen mit einbeziehen. Ich habe Ihren dieses Hauses präsentieren uns heute einen Entwurf für Antrag so verstanden, dass auch Sie das wollen. Deshalb einen Nachhaltigkeitsbeirat, mit dem sie unsere Arbeit glaube ich, dass der Weg, den wir jetzt gewählt haben, im Parlament bereichern wollen. In der Tat klingt der der richtigere ist. Begriff der Nachhaltigkeit modern und schick. Ich kann Meine Damen und Herren, die Idee der Nachhaltig- Ihnen bestätigen: Auch wir haben ihn im Gegensatz zu keit ist eine Chance, in der Bundesrepublik wieder sehr Ihrer Behauptung in unseren Antragstext aufgenommen. viel mehr Zukunftskompetenz und -verankerung zu in- (Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Wo stallieren. Es ist die Idee, das Augenmerk nicht nur auf denn?) die Ökonomie zu legen – so wichtig sie auch ist; ohne eine funktionierende Ökonomie gäbe es auch keine– Im dritten Spiegelstrich unserer Forderungen werden Nachhaltigkeit –; denn eine Ökonomie für sich genom- Sie, wenn Sie genau hinschauen, auf diesen Begriff sto- men, ohne soziale und ökologische Leitplanken undßen. Er springt Sie an dieser Stelle förmlich an. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 89. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2004 7925

Dr. Günter Krings (A) Ich unterstelle den Urhebern dieses Antrags, Herr (Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Das (C) Müller, durchaus die besten Absichten. Aber wir stellen habe ich Ihnen doch erklärt! Sie haben nicht nach langer Beschäftigung mit diesen Themen auch fest: zugehört!) Nicht überall da, wo Nachhaltigkeit draufsteht, ist auch zukunftsfähige und generationengerechte Politik drin. Warum bedienen Sie sich eines gänzlich neuen Kon- struktes namens Beirat? Sie haben eine Erklärung ange- (Beifall bei der CDU/CSU) boten; ich biete Ihnen gleich eine andere an. Die Aufga- ben und Kompetenzen von Ausschüssen sind in der Kratzt man nur ein wenig an der Oberfläche des An-Geschäftsordnung unseres Hauses klar und verbindlich tragstextes, so scheinen einem relativ schnell sehr viel geregelt. Ein Beirat muss seine Rolle erst mühsam fin- mehr Fragen als Antworten entgegen. den. Er läuft daher Gefahr, sich mehr mit sich selbst als mit der Sache zu beschäftigen. Das verläuft dann nach Die erste Frage ergibt sich aus den Aufgaben, die Sie dem Motto: Gut, dass wir einmal darüber geredet haben. Ihrem Nachhaltigkeitsbeirat zubilligen wollen. Warum sprechen Sie nur von parlamentarischer Begleitung der Fakt ist, dass die Regierungsfraktionen bei der ganz Regierungspolitik? Warum darf Ihr Beirat die Nachhal- normalen Einsetzung eines Ausschusses nach den Ge- tigkeitsstrategie nicht aktiv steuern und kontrollieren,schäftsordnungsregeln keinen Zugriff auf den Aus- sondern nur Vorschläge zu ihrer Fortentwicklung ma- schussvorsitz haben. Diesen bekommen sie aber bei dem chen? Es entspricht jedenfalls nicht meinem Selbstver- Sonderkonstrukt Beirat. Da scheint offenbar die nachhal- ständnis als Parlamentarier, wenn einem Bundestagsgre- tige Personalpolitik eines Herrn Müntefering Pate bei mium gerade einmal die Abgabe von Empfehlungen und diesem Antrag gestanden zu haben. die Kontaktpflege zu anderen Parlamenten zugestanden (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Ihr seid wird. schon clever! Das ist ein guter Trick!) (Beifall bei der CDU/CSU – Michael Müller Als Junge Gruppe innerhalb der Unionsfraktion ha- [Düsseldorf] [SPD]: Das ist durch die Verein- ben wir bereits im Herbst des vergangenen Jahres das ten Nationen so geregelt! Das wissen Sie Konzept eines Zukunftsausschusses entwickelt und vor- doch! Das ist internationales Recht!) gestellt. Nahezu jedes Sach- und Fachinteresse – darin Mit einem solchen sehr zurückhaltenden Organ errei-stimme ich Ihnen vollkommen zu, Herr Müller – verfügt chen Sie nichts, außer den Gedanken zukunftsorientier- über eine parlamentarische Lobby in den 21 Ausschüs- ter und nachhaltiger Politik in diesem Hause zu diskredi- sen unseres Hauses. Nur dieInteressen künftiger Ge- tieren. nerationen finden sich in unseren Parlamentsgremien (B) nicht wieder. Man darf sich daher nicht wundern, wenn (D) Die zweite Frage ist, ob die rot-grüne Mehrheit dieses seit Jahrzehnten, quer durchalle Regierungen, Interes- Hauses ausschließlich die Umweltprobleme unseressenkonflikte dadurch gelöst wurden und werden, dass Landes als Belastungen für die künftigen Generatio- man heute allen Seiten Gutes tut und die Zeche erst mor- nen anerkennt. Die Schwerpunktsetzung Ihrer Redegen von denen zahlen lässt, die sich heute noch nicht sprach für mich dafür. Seit der UN-Konferenz für Um- wehren können. Unbeeindruckt von einer schrumpfen- welt und Entwicklung von 1992, auf die Sie sich in Ih- den Zahl von Geburten finanzieren wir unseren heutigen rem Antrag gleich im ersten Absatz beziehen, Konsum auf den immer schmaler werdenden Schultern der künftigen Generationen. Das letzte grandiose Bei- (Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Zu spiel „nachhaltiger“ Finanzpolitik haben Ende letzten Recht!) Jahres Schröder und Eichel geliefert, als sie uns kurz vor Weihnachten eine Steuersenkung mit 80 Prozent Neu- hat der Nachhaltigkeitsbegriff einen sehr viel weiteren verschuldung bescheren wollten. Zuschnitt erhalten. Unsere Fraktion war daran maßgeb- lich beteiligt. (Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Ihr woll- tet doch noch viel mehr!) (Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Leider nicht!) – Wir wollten weniger Neuverschuldung und haben da- für gesorgt, dass die Neuverschuldung in Grenzen ge- Wenn wir uns mit Deutschlands Zukunft beschäftigen, blieben ist. Schauen Sie sich die Protokolle an. Die Neu- dann dürfen wir nicht nur ökologische Altlasten untersu- verschuldungspartei sind leider Sie. chen, (Beifall bei der CDU/CSU – Michael Müller (Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Das wis- [Düsseldorf] [SPD]: Das ist doppelbödig, aber sen wir doch!) nicht nachhaltig!) sondern müssen uns auch überlegen, wie wir die ticken- Der von der CDU/CSU beantragteZukunftsaus- den Zeitbomben in unseren Staatshaushalten und unse- schuss soll anders als Ihr Beirat echteBefugnisse und ren sozialen Sicherungssystemen entschärfen können. eigenständige Aufgaben haben. Er soll Gesetzentwürfe auf ihre Generationenverträglichkeit überprüfen. Er soll Eine weitere Frage. Warum schlägt die Mehrheit die- Schluss machen mit einem politischen Blindflug in unse- ses Hauses nicht schlicht und ergreifend die Einsetzung rer sozial- und finanzpolitischen Gesetzgebung und allen eines Ausschusses zum Thema Nachhaltigkeit vor? Beteiligten vor Augen führen, wie Gesetze von heute 7926 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 89. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2004

Dr. Günter Krings (A) unsere Steuern, Abgaben und Schulden von morgen be- Jetzt – ich muss Ihnen sagen, die Überraschung ist Ihnen (C) einflussen. gelungen – haben Sie in dieser Woche, nachdem Sie jeg- liche Kommunikation verweigert haben, mit Ihrem Zu- Die Idee, die hinter der Verträglichkeitsprüfung steht, kunftsausschuss sozusagen ein Überraschungsei gelan- beruht auf den harten Zahlen der Mathematik und det. Es war in der Tat überraschend, weil ich gedacht heißt: Generationenbilanz. Dieses Informationsinstru- habe, es kommt überhaupt nichts mehr von Ihnen. Ich ment wurde in den USA entwickelt und in Deutschland gebe zu, dass Sie damit eine kesse Oppositionsidee ge- von Professor Bernd Raffelhüschen weiterentwickelt. habt haben. Ich wundere mich, wie Sie mit diesem Vor- Der Name dürfte Ihnen auf der linken Seite des Hauses schlag durch die Fraktion gekommen sind. Ich bin mir noch aus der Rürup-Kommission bekannt sein. relativ sicher, dass Sie unter anderen Bedingungen einen Meine Damen und Herren auf der linken Seite dessolchen Antrag nie hätten präsentieren können. Hauses, wenn es Ihnen schwer fällt, einem Antrag der Union im Deutschen Bundestag zuzustimmen, so hilft (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Wir haben Ihnen vielleicht ein Blick über den Tellerrand unserer bald Gelegenheit, das festzustellen!) nationalen Politik bei Ihrer Entscheidungsfindung. In an- Natürlich haben Sie mit den Begriffen der Zukunft deren Ländern innerhalb und außerhalb der EU wurden und der Generationengerechtigkeit zentrale Fragen der bereits erfolgreiche Strategien für mehr Generationenge- nachhaltigen Entwicklung angesprochen. Aber – hören rechtigkeit im parlamentarischen Verfahren umgesetzt. Sie jetzt genau zu! – Diesen Ansätzen folgt unser Antrag. So hat in Israel die Knesset vor drei Jahren einen neuen parlamentarischen (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Gern!) Ausschuss mit dem Namen „Ausschuss für künftige Ge- Zukunftsfähigkeit und Generationengerechtigkeit sind nerationen“ geschaffen, der Gesetzesvorhaben auf ihre nicht das Gleiche. Nachhaltigkeit ist weit mehr. Da geht Generationenverträglichkeit überprüft. In dem von Ihren es nicht nur um die Generationengerechtigkeit, sondern sozialdemokratischen Bildungspolitikern so gelobten auch um die Gerechtigkeit innerhalb einer Generation, Finnland gibt es bereits seit 1999 einen ähnlich angeleg- zwischen Arm und Reich und zwischen Nord und Süd. ten „Ausschuss für die Zukunft“. Auch deutsche Bun- Es geht übrigens auch um die Frage, wie wir mit den na- desländer, zum Beispiel Sachsen, gehen mit gutem Bei- türlichen Ressourcen umgehen und wie wir Techniken spiel voran. Der Sächsische Landtag hat sich auf und Technologien entwickeln, um die Zukunft bewälti- Betreiben meines Parteifreundes Lars Rohwer für die gen zu können. Einführung einer Generationenbilanz in Deutschland ausgesprochen. (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Aber nicht (B) Ich komme zum Schluss. Meine Damen und Herren nur!) (D) von der SPD und den Grünen, ich kann verstehen, dass Das alles haben Sie ausgeklammert. Insofern muss man Sie angesichts Ihrer aktuellen Umfragewerte schon beim sagen: Ihr Antrag zum Zukunftsausschuss und zur Gene- Wort „Zukunft“ ein flaues Gefühl in der Magengrube be- rationengerechtigkeit deckt nur einen Teilbereich ab. Es kommen. handelt sich nicht wirklich um eine Alternative. Wenn es (Horst Kubatschka [SPD]: Sie werden sich eine solche sein sollte, wäre es eine beschränkte Alterna- noch wundern!) tive. Unter Ihrer Magenverstimmung sollten aber die nach Ich komme nun zu unserem Antrag und unserem An- uns kommenden Generationen wirklich nicht zu leiden satz. Ich möchte gerne anhand von zwei Leitfragen er- haben. Folgen Sie daher zur Abwechslung einmal nicht läutern, warum wir das Ganze machen. Warum brauchen Ihrem Bauch, sondern Ihrem Kopf und stimmen Sie für wir ein solches Gremium und was muss der parlamenta- unseren Zukunftsausschuss! rische Beirat leisten? Danke schön. Zunächst zu der Frage, warum wir ein solches Gre- mium brauchen. Wir wurden auch immer wieder gefragt, (Beifall bei der CDU/CSU) wie es beschaffen sein soll.

Vizepräsident Dr. Norbert Lammert: (Vorsitz: Vizepräsident Dr. Hermann Otto Ich erteile das Wort dem Kollegen Winfried Solms) Hermann, Bündnis 90/Die Grünen. Nach einigen Jahren, in denen ich im Parlament Er- fahrungen in der Frage der Nachhaltigkeit gesammelt Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): habe, muss ich, offen gesagt, feststellen – ich glaube, Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undviele teilen diese kritische Einschätzung –: Obwohl der Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/ Anstoß zur nachhaltigen Entwicklung und zur Nachhal- CSU, vor Monaten haben wir Ihrer Fraktion das Ange- tigkeitsstrategie aus diesem Parlament gekommen ist, bot gemacht, bei einem solchen Gremium mitzuwirken, hat die parlamentarische Beteiligung nicht wirklich bei der Konstruktion des Gremiums und bei den Inhal- gut funktioniert. ten. Lange haben wir nichts von Ihnen gehört. (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Richtig!) (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Schlecht ge- hört!) Sie hat häufig gar nicht stattgefunden. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 89. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2004 7927

Winfried Hermann (A) Wie so oft war es auch in diesem Fall so, dass, wenn Grünen Kabinett und dem Nachhaltigkeitsrat das(C) sich alle zuständig fühlen, letztendlich keiner zuständig dritte Standbein für die nachhaltige Entwicklung im Par- ist. lament. Seine Mitwirkung wird dadurch gewährleistet. (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Neben diesen eher innergesellschaftlichen, nationalen Auch richtig!) Aufgaben haben wir, wie ich meine, auch die vornehme Aufgabe, den internationalen Austausch zu suchen. Sie Das ist ein wesentlicher Grund für unsere Forderunghaben das – darin gebe ich Ihnen völlig Recht – bereits nach einem Gremium, das sich der nachhaltigen Ent-angesprochen. In verschiedenen anderen Ländern wie wicklung in besonderer Weise annimmt. Belgien, Großbritannien und Schweden gibt es parla- Wenn man ein neues Politikkonzept vorlegt, das an- mentarische Gremien, die das Thema bearbeiten. Zudem dere Arbeitsformen verlangt, wird deutlich, dass es aller- gibt es dort regelmäßige Berichte der Regierung im Par- hand Barrieren und Hindernisse gibt. Dazu gehören die lament und konsequente Auseinandersetzungen über den Ressortborniertheit, die Tatsache, dass bei uns alle Zu- Weg zur nachhaltigen Entwicklung. An dieser Stelle ständigkeiten in den Ausschüssen, Gremien und Arbeits- können wir von anderen lernen. kreisen klar geregelt sind, und – was auch von Michael Gleichzeitig müssen wir mit anderen zusammenarbei- Müller angesprochen wurde – die Kurzatmigkeit, derten, damit es uns auf europäischer Ebene gelingt, die Alltagsdruck in der Politik wie auch die fehlende Kohä- Nachhaltigkeitsstrategie für die Europäische Union so renz und Kooperation zwischen Politikfeldern und Han- voranzutreiben, dass sie denselben Maßstäben ent- delnden. Das ist übrigens nicht nur ein Problem der Re- spricht, die wir auf nationaler Ebene immer wieder ein- gierungsparteien, sondern auch der Oppositionsparteien. klagen. Auch hieraus ergibt sich ein Auftrag, nämlich Das ist ein grundlegendes Problem der Politik. die Mitwirkung an einer europäischen Strategie. Der Sachverständigenrat für Umweltfragen und andere Ich komme zum Schluss. Ich habe wie einige andere An- Experten haben uns deutlich ins Stammbuch geschrieben: wesende im Jahr 2002 an einerinterparlamentarischen Hier ist das Parlament nicht gut aufgestellt. Wenn dieKonferenz in Johannesburgteilgenommen, bei der Nachhaltigkeitsstrategie auf parlamentarischer Ebene be- sich Parlamentarier aus aller Welt mit der Frage ausein- gleitet werden soll, dann sind in diesem Bereich institutio- ander gesetzt haben, wie sich die Parlamente bei diesem nelle Verbesserungen notwendig. „Capacity building“Thema einbringen können. heißt der Fachbegriff. Das heißt, wir müssen selbst die In- stitutionen schaffen, mit denen es gelingt, das anspruchs- Im Schlusskommuniqué heißt es: volle Konzept der nachhaltigen Entwicklung voranzutrei- Es ist eine der vordringlichsten Aufgaben der Parla- (B) ben. Dazu gehört, Querschnittsaufgaben und eine mentarier, das Regierungshandeln für nachhaltige(D) langfristige Politik zu organisieren, komplexe Zusam- Entwicklung durch Reform seiner Institution zu menhänge zusammenzuführen und das, was noch weit stärken, einschließlich der politischen Entschei- auseinander klafft, auf bestimmte Leitideen zusammen- dungsprozesse und der Parlamente. zuführen. Ich meine, der Beirat für nachhaltige Entwicklung ist in Ein solches Konzept setzt eine neue Beratungs- und diesem Sinne ein guter Baustein. Dieser Beirat ist – die- Steuerungsstruktur voraus. Dazu soll der Beirat mit bei- ses Wort ist ja im Moment in aller Munde – eine institu- tragen. Er wird das nicht alleine schaffen; aber er stellt tionelle Innovation und Nachhaltigkeit ist ein neues Poli- eine Voraussetzung auf parlamentarischer Ebene dar, um tikkonzept. Beides ist also etwas sehr Innovatives. das zu verbessern, was bisher nicht wirklich gelungen ist. Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, stim- men Sie dem vorliegenden Antrag zu. Wenn Sie heute Der Beirat muss sich aus meiner Sicht zwingend als verlieren, sind Sie herzlich eingeladen, sich mit Ihrem Anwalt der nachhaltigen Entwicklung in diesem Parla- Anliegen betreffend die Generationengerechtigkeit, das ment verstehen und zugleich aufpassen, dass er nicht das wir alle teilen, in den neuen Beirat einzubringen. Dort Parlament quasi entsorgt. Das darf nicht passieren. Der dürfen Sie sich immer zu Wort melden und mitreden. Beirat muss dem Plenum und den Ausschüssen immer wieder Anstöße geben und sich als Ansprechpartner aller Vielen Dank. Abgeordneten verstehen, weil jeder Abgeordnete (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schließlich auch Vermittler und Kommunikator gegen- und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der über den Bürgerinnen und Bürgern in den Wahlkreisen FDP) ist.

Was sind die Aufgaben? Neben denen, die ich bereits Vizepräsident Dr. : ausgeführt habe, ist vor allem wichtig, dass der Beirat an Das Wort hat jetzt der Kollege Michael Kauch von der Gestaltung, Entwicklung und Fortentwicklung der der FDP-Fraktion. nationalen Nachhaltigkeitsstrategie aktiv mitwirkt, statt nur im Nachhinein informiert zu werden, wie es bisher (FDP): zum Teil der Fall war. Michael Kauch Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Deutsch- Notwendig ist eine aktive parlamentarische Beglei- land muss zukunftsfähiger u nd generationengerechter wer- tung. Das heißt, mit dem Beirat entsteht neben demden. Das betrifft die Umwelt und die Ressourcennutzung 7928 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 89. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2004

Michael Kauch (A) ebenso wie die Sozialsysteme, die Bildung und die (Beifall des Abg. Winfried Hermann (C) Staatsfinanzen. Hier stimme ich dem Kollegen von der [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) CDU/CSU ausdrücklich zu. Das wäre ein Signal der Geschlossenheit für eine nach- (Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: haltige Entwicklung in Deutschland gewesen. Doch lei- Das haben wir alle gesagt!) der konnte sich die Union nicht dazu durchringen, unse- ren gemeinsamen Antrag zu unterstützen. Die Fraktion Notwendig ist ein neues Verständnis von Wohlstand und der CDU/CSU hat nun einen eigenen Antrag gestellt Lebensqualität, das sich nicht an Wahlperioden von vier – dieser ist zwei Tage alt –, und das, obwohl Sie uns vor- Jahren, sondern an langen Zeiträumen orientiert. Das ist her klar signalisiert haben, dass Sie gar kein Gremium der Kern nachhaltiger Politik. – keinen Ausschuss, keinen Beirat, nichts – wollen. (Beifall bei der FDP) Wir von der FDP lehnen die Einrichtung des von Ih- Warum ein Beirat für nachhaltige Entwicklung? – In nen geforderten Zukunftsausschusses ab. den meisten europäischen Ländern spielt das Thema (Beifall bei der FDP) Nachhaltigkeit in den Parlamenten kaum eine ernsthafte Rolle. Der Deutsche Bundestag ist hier leider keine Aus- Das Ziel, die Gesetzgebung einer generellen „Generatio- nahme. Zwar wurde mit der Enquete-Kommissionnenverträglichkeitsprüfung“ zu unterziehen, findet je- „Schutz des Menschen und der Umwelt“ ein beachtli- doch unsere Zustimmung. cher Beitrag zur Nachhaltigkeitsdebatte geleistet. Jedoch (Dr. Ole Schröder [CDU/CSU]: Dann stimmen ist daran bislang nicht angeknüpft worden. Die Formu- Sie doch zu!) lierung und die Weiterentwicklung der nationalen Nach- haltigkeitsstrategie erfolgte bisher weitgehend am Parla- Die FDP fordert seit vielen Jahren auch, Generationen- ment vorbei. Sie wurde und wird vom Kanzleramtbilanzen zu erstellen. Allerdings ist Ihr Weg dabei das koordiniert. Wenn ich aber in Richtung Regierungsbank falsche Instrument. schaue, muss ich fragen, wo die Vertreter des Kanzler- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten amtes während dieser Debatte sind. der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) GRÜNEN) Es ist zwar sehr erfreulich, dass drei Ministerien vertre- Das Erstellen von Generationenbilanzen – nach Ihrem ten sind. Aber ich hätte schon eine Präsenz des Kanzler- Antrag soll dies Aufgabe dieses Ausschusses sein – geht amtes erwartet. Der zuständige Staatssekretärsausschuss weit über das hinaus, was ein parlamentarischer Aus- schuss leisten kann. Eine Generationenverträglichkeits- (B) ist jedenfalls jeder Einflussnahme des Parlaments entzo- (D) gen. Er macht Nachhaltigkeit nicht zur Chefsache, son- prüfung, eine Nachhaltigkeitskontrolle oder wie man es dern zur Geheimsache. auch immer nennen mag, muss jeder Fachausschuss zu- nächst einmal selber durchführen. Eine Art Oberkon- Der 2001 von der Bundesregierung als Expertengre- trollausschuss ist nicht der richtige Weg. Ein solcher mium eingesetzte Rat für Nachhaltige Entwicklung Ausschuss wäre mit dieser Arbeit hoffnungslos überfor- krankt an Unterfinanzierung und eine Prüfung der kon- dert. kreten Gesetzgebung auf Nachhaltigkeit und Generatio- nengerechtigkeit findet nicht statt. Wie sonst wären die (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten aktuelle Renten- und die Gesundheitsreform sowie die der SPD) Finanzpolitik der Regierung zu erklären? Schon 2002 Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, im hätte im Zuge der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie Übrigen erscheint mir dieser Antrag eher als ein untaug- ein parlamentarisches Gremium eingesetzt werden müs- licher Versuch, auf ein Boot aufzuspringen, das schon sen, das die Nachhaltigkeitspolitik der Regierung beglei- längst abgelegt hat. tet und kontrolliert. Das haben Sie, liebe Kollegen von Rot-Grün, leider verschleppt. (Beifall bei der FDP) Der Beirat kommt spät. Aber mit der heutigen Ent- Wir – da spreche ich wohl auch für die Kolleginnen und scheidung wird ein wichtiger Schritt in die richtige Rich- Kollegen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen – hätten tung getan. Doch wir sollten weiter und vor allem über Sie gern von Anfang an im Boot gehabt. Doch der von die eigenen nationalen Grenzen hinaus denken. Andere Ihnen gestellte Antrag ist nichts anderes als blanker Ak- EU-Länder wie Großbritannien und Finnland, aber auch tionismus. die anderen skandinavischen Länder sind uns in Sachen (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Nachhaltigkeit voraus. Es ist wichtig – das hat der Kol- der SPD – Widerspruch bei der CDU/CSU) lege Hermann schon angedeutet –, dass wir die Strategie der EU-Kommission für eine nachhaltige Ressourcen- Ich freue mich – lassen Sie mich das zum Abschluss nutzung mit unserer Arbeit thematisch vernetzen. sagen –, dass diese parlamentarische Initiative auf ein breites, die Grenzen von Regierung und Opposition (Beifall bei der FDP) überschreitendes Fundament gestellt wurde. Ich hoffe, dass dies der Anfang einer großen gesellschaftlichen De- Es wäre schön gewesen, wenn es einen gemeinsamen batte über mehr Nachhaltigkeit in unserer Politik wird. Antrag aller Fraktionen zum Thema Nachhaltigkeit ge- geben hätte. Vielen Dank. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 89. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2004 7929

Michael Kauch (A) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten kürzlich: Mama, wer zahlt eigentlich all diese Schulden (C) der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE zurück? Ich antwortete: Du und alle anderen Kinder. Das GRÜNEN – Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: war eine ehrliche Antwort. Sie können sich die Reaktion Dann viel Spaß mit einem Alibigremium!) darauf vorstellen. Sieht so eine nachhaltige Politik aus? Entspricht das Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: der Grundregel der Nachhaltigkeitsstrategie der Bundes- Das Wort hat die Kollegin Dr. Maria Flachsbarth von regierung? Diese Regel besagt: der CDU/CSU-Fraktion. Jede Generation muss ihre Aufgaben selbst lösen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) und darf sie nicht den kommenden Generationen aufbürden. Dr. Maria Flachsbarth (CDU/CSU): (Beifall bei der CDU/CSU) Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- ren! Im Interesse einer nachhaltigen Entwicklung in Ich komme nun auf einen anderen Politikbereich zu Deutschland hat der Deutsche Bundestag die Thematik sprechen, der mir als Umweltpolitikerin besonders am Nachhaltigkeit bereits in zahlreichen Enquete-Kommis- Herzen liegt: die aktuelle Energiepolitik. Deutschland sionen aufgegriffen: Sowohl in der 12. als auch in der bezieht seinen Strom derzeit noch zu 30 Prozent aus 13. und 14. Wahlperiode waren dazu Kommissionen ein- Kernkraftwerken. Rot-Grün hat 2000 den Ausstieg aus gerichtet. Sie trugen die Titel „Schutz des Menschen und der Atomenergie beschlossen; man hat es bislang aber der Umwelt“, „Nachhaltige Energieversorgung“ undversäumt, ein schlüssiges Energiekonzept vorzulegen. „Demographischer Wandel“. Sie beziehen sich auf das (Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Drei-Säulen-Modell: Nachhaltigkeit ist ein Gesamtpaket Stimmt nicht!) aus sozialer, ökonomischer und ökologischer Entwick- lung. Durch die Arbeit dieser Enquete-Kommission wird Die Energieversorgung ist jedoch einer der wichtigsten die Definition von Nachhaltigkeit der Brundtland-Kom- Standortfaktoren; sie wird die Entwicklung Deutsch- mission bekräftigt. Diese Definition besagt, Nachhaltig- lands auf ökologischem, ökonomischem und sozialem keit bedeutet, den Bedürfnissen der heutigen Generation Sektor maßgeblich beeinflussen. zu entsprechen, ohne die Möglichkeiten künftiger Gene- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) rationen, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen, zu ge- fährden. Wie passt der Atomausstieg mit den von Deutschland im Rahmen der Kioto-Verpflichtung und des nationalen Auf Anraten der Enquete-Kommission „Schutz des Klimaschutzziels zu erreichenden Klimaschutzzielen zu- (B) Menschen und der Umwelt“ kam die Bundesregierung (D) sammen? Es liegt kein realistisches, durchgerechnetes im Jahr 2000 der Aufforderung der Agenda 21 von 1992 Szenario vor, das vor dem Hintergrund, dass bis 2020 nach, einen Rat für Nachhaltige Entwicklung einzu- mindestens 45 neue Kraftwerke gebaut werden müssen, setzen, der den Entwurf ner ei nationalen Nachhaltig- schlüssig wäre. keitsstrategie erarbeitet hat. Die Bundesregierung legte diesen Entwurf 2002 vor. (Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Wieso denn das?) (Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Das ist falsch!) Wie passt in dieses Konzept, dass die Bundesregierung die Kohleförderung im Haushalt 2004 mit circa 16 Milli- Wenn man sich mit dem Thema „Nachhaltigkeit in arden Euro festgeschrieben hat? Deutschland“ beschäftigt, dann stellt man fest, dass es keinen Mangel an Sachverstand, Konzepten und sogar Ob man für oder gegen Atomstrom ist, darüber kann konkreten – in mehreren Bereichen vorhandenen – Hand- man sprechen. Aber Deutschland erzeugt Strom aus lungsanweisungen gibt. Kernkraft und hat meiner festen Überzeugung nach da- her auch die ethische Verpflichtung, für eine sichere Ent- Wie sieht es nun aber mit der Umsetzung dieses Wis- sorgung dieses hochgiftigen Abfalls zu sorgen. Ein mög- sens in konkrete Politik aus? Richtet sich Politik in licher Lagerstandort, der Salzstock in Gorleben – er Deutschland an der gleichberechtigten und gleichwerti- könnte geeignet sein –, darf nicht weiter untersucht wer- gen Sicherung und Respektierung ökonomischer, ökolo- den. Nach einer Investition in die Erkundung dieses gischer und sozialer Bedürfnisse der heutigen Genera- Salzstocks in Höhe von 1,3 Milliarden Euro gibt es nun tion und der zukünftigen Generationen aus? Schauen wir ein Moratorium, das pro Jahr lächerliche 20 Millionen uns einige Politikbereiche konkret an. Euro kostet. Finanz- und Haushaltspolitik: Die dramatische Verschul- (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Wir haben es dung der öffentlichen Haushalte des Bundes, der Län- ja!) der und der Kommunen von über 1 300 Milliarden Euro und das wiederholte Verletzen der Maastricht-Kriterien Hochgiftiger Atommüll muss oberirdisch in natürlich ist bereits angesprochen worden. ebenfalls für viel Geld zu errichtenden Zwischenlagern gelagert werden. Ist das nachhaltig? Ich will Ihnen von einer ganz persönlichen Erfahrung berichten. Unser zehnjähriger Junge interessiert sich in- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zu- zwischen für das Lesen von Zeitungen. Er fragte mich ruf von der CDU/CSU: Sehr nachhaltig! – 7930 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 89. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2004

Dr. Maria Flachsbarth (A) Dr. [SPD]: Atomkraft ist per se richtig ist. Darum geht es beim Thema Nachhaltigkeit. (C) nicht nachhaltig!) Frau Flachsbarth, wenn Sie in diesem Zusammenhang die Atomkraft und den Atommüll anführen, dann muss Deutschland war weltweit führend in der Sicherheits- ich sagen, dass Sie den Begriff Nachhaltigkeit offen- technik im Bereich Kernkraft. Qualifizierte Techniker sichtlich immer noch nicht richtig verstanden haben. und Ingenieure wurden im Rahmen des Moratoriums Atomkraft ist per se nicht nachhaltig; entlassen und sind praktisch nicht ersetzbar, da es auch die entsprechenden Ausbildungskapazitäten nicht mehr (Beifall bei der SPD – Dr. Peter Paziorek gibt. Ist das nachhaltig? Hat das etwas mit Verantwor- [CDU/CSU]: Wir haben das doch verstanden! tung für die heutige und kommende Generation zu tun? – Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Sie müs- Ein weiteres Beispiel ist die EU-Chemikalienpolitik. sen sich auch um den Müll kümmern!) Natürlich unterstützen wir das Ziel der EU, den Umgang denn die Atomkraft stellt ein Risiko für die nächsten Ge- mit Chemikalien für Mensch und Umwelt so sicher wie nerationen dar. möglich zu machen. Doch man darf nicht vergessen: Die Sicherheit für den Umgang mit Chemikalien ist bereits Das Wort Nachhaltigkeit hat aber Konjunktur. Wer als im Rahmen einer Vielzahl von Gesetzen und Verordnun- Unternehmer etwas auf sich hält, erstellt einen Nachhal- gen recht gut geregelt. Die neue EU-Chemikalienpolitik tigkeitsbericht. Viele lokale Agendagruppen engagieren gefährdet den größten europäischen Chemiestandortsich vor Ort für konkrete Projekte der Nachhaltigkeit. Deutschland erheblich. Die 90 Prozent kleinen und mitt- Stiftungen und Forschungsinstitute entdecken zuneh- leren Unternehmen in diesem Bereich sind besonders be- mend die Nachhaltigkeit. Nachhaltigkeit ist in aller troffen, da sie durch den Wegfall zahlreicher Stoffe auf Munde. Während sich aber die einen an dem etwas stei- individuelle Kundenwünsche auch in kleinen Chargen fen Begriff verschlucken, wird er von anderen geradezu nicht mehr wie bisher schnell reagieren können. Dasinflationär eingesetzt – für alles, was irgendwie mit Zu- mindert ihre Wettbewerbschancen. Es steht zu befürch- kunft zu tun hat. Ich sage Ihnen: Als Modeerscheinung ten, dass Arbeitsplätze verloren gehen und Firmen ihre ist uns die Nachhaltigkeitsdebatte zu schade. Wir wollen Produktionsstandorte in Drittländer verlegen. Ist das un- stattdessen, dass sie zum Kompass für Gesellschaft und ter besonderer Berücksichtigung ökonomischer, sozialer Politik wird. und ökologischer Gesichtspunkte nachhaltig? (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Winfried (Beifall bei der CDU/CSU) Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Meine Damen und Herren, wie man sieht, haben wir Deshalb haben Bundesregierung und Bundestag vor wieder einmal keinen Mangel an Erkenntnissen, sondern (B) zwei Jahren dieNationale Nachhaltigkeitsstrategie (D) einen Mangel in Bezug auf die Umsetzung konkreter„Perspektiven für Deutschland“ beschlossen. Darin Nachhaltigkeitsziele in konkrete Gesetzesvorhaben. Da- geht es sehr wohl um Generationengerechtigkeit. Es geht bei müsste der Gedanke der Nachhaltigkeit, die Sorge darum, wie wir es erreichen können, dass wir unseren um die Zukunft, immanent in die Ausarbeitung von Ge- Kindern, unseren Enkeln und unseren Urenkeln intakte setzesvorhaben einfließen, sodass ein weiteres Kontroll- natürliche Lebensgrundlagen und genügend finanziellen gremium eigentlich entbehrlich wäre. Spielraum für ihre eigenen Handlungen hinterlassen. Unter den gegebenen Umständen ist allerdings die (Zuruf von der CDU/CSU: Ich sage nur: Pfle- Einrichtung eines Zukunftsausschusses entsprechend un- geversicherung!) serem Antrag erforderlich. Bei dem nunmehr von den Regierungsfraktionen und der FDP vorgeschlagenenEs geht darum, dass wir heute Vorsorge betreiben, indem Beirat handelt es sich hingegen um ein bloßes Phantom. wir in Innovation und Bildung investieren. Herr Krings, In der Geschäftsordnung dieses Hauses taucht dieses In- es geht um wesentlich mehr als nur um Generationenge- stitut nicht auf, stattdessen der Begriff Ausschuss. rechtigkeit. Es geht auch um Lebensqualität, um Mobili- Wir brauchen nicht noch ein Gremium, das sich theo- tät, um gesunde Luft, um gesunde Nahrungsmittel. retisch mit Erkenntnisgewinn beschäftigt. Wir brauchen (Zurufe von der CDU/CSU: Es geht um Zu- endlich eine Regierung, die das als richtig Erkannte auch kunft! – Dann macht doch einen Zukunftsaus- politisch umsetzt. schuss!) Vielen Dank. Es geht um den sozialen Zusammenhalt in der Gesell- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. schaft, um die Verteilung von Arbeit und um Perspekti- Hans-Michael Goldmann [FDP]) ven für Familien. Es geht ferner um unsere Verantwor- tung in der internationalen Zusammenarbeit. Es geht um Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: unseren Beitrag zur gerechten Verteilung von Chancen Das Wort hat jetzt die Kollegin Astrid Klug von der in dieser Welt und zur weltweiten Bekämpfung von Ar- SPD-Fraktion. mut in einer globalisierten Welt. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Winfried Astrid Klug (SPD): Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Po- Hans-Michael Goldmann [FDP]: Reden Sie litik für heute ist nur gut, wenn sie auch morgen noch mal ein bisschen nachhaltiger!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 89. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2004 7931

Astrid Klug (A) Das Green Cabinet, der ressortübergreifende Staats- politischen Handelns diese Orientierung geben kann und (C) sekretärsausschuss, geben muss, und zwar dann, wenn messbare qualitative Maßstäbe für Transparenz sorgen, Ziele vorgeben und (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Für einen eine Zielkontrolle ermöglichen. Die Nachhaltigkeitsstra- Minister hat es nicht gereicht!) tegie mit ihren 21 Indikatoren – das geht von der Res- arbeitet interdisziplinär an der Umsetzung und der Wei- sourcenschonung über die Staatsverschuldung bis zum terentwicklung der Nachhaltigkeitsstrategie. Wir haben Flächenverbrauch und zur Familienpolitik – bietet dafür schon gehört: Es gab in den vergangenen Legislaturperi- viele Ansätze. oden zahlreiche Enquete-Kommissionen, die wichtige Die nationale Nachhaltigkeitsstrategie ist unser Fahr- und wertvolle inhaltliche Grundlagen für unsere Arbeit plan für eine vorausschauende Politik. Jetzt müssen wir gelegt haben. gemeinsam dafür sorgen, dass die ehrgeizigen Ziele, die Der von der Bundesregierung 2001 berufene Nach- die Nachhaltigkeitsstrategie setzt, auch wirklich erreicht haltigkeitsrat hat den Auftrag, die Bundesregierung in werden. Wir brauchen dazu effiziente Instrumente im Sachen Nachhaltigkeitspolitik zu beraten, politischen Entscheidungsprozess, die negative ökologi- sche, ökonomische und soziale Wirkungen minimieren (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Davon merkt und dafür sorgen, dass alle Entscheidungen einen ehrli- man nur nichts! – Weiterer Zuruf von der chen Nachhaltigkeitscheck durchlaufen. CDU/CSU: Wir als Abgeordnete wollen nicht beraten, wir wollen entscheiden!) Wir reden zurzeit viel von Innovation. Ziele, Indikatoren und Projekte vorzuschlagen und die (Helmut Heiderich [CDU/CSU]: Sie machen öffentliche Debatte zu forcieren. Viele wichtige Impulse nur nichts dafür!) – das muss man an dieser Stelle noch einmal betonen – sind in dieser Zeit vom Nachhaltigkeitsrat ausgegangen. Auch der Politikbetrieb unddas klassische Politikver- Uns in der Politik wurden auch kritische Worte mit auf ständnis der letzten Jahre brauchen Innovation. Wir sind den Weg gegeben, die unsere weitere Arbeit prägen soll- der Meinung, dass wir mit dem Beirat, den wir Ihnen ten. heute vorschlagen, genau die richtige Innovation in die- sem Bereich auslösen, damit Nachhaltigkeit eine Chance (Beifall bei Abgeordneten der SPD) hat, auch wirklich umgesetzt zu werden. Wir in der SPD-Fraktion wollen, dass das Parlament (Beifall bei der SPD) in der Nachhaltigkeitsdebatte eine Katalysatorenrolle übernimmt, Die SPD-Fraktion, die Fraktion des Bündnisses 90/ (B) Die Grünen und die FDP-Fraktion schlagen dafür die(D) (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Wir möchten Einrichtung eines Parlamentarischen Beirates für die steuern!) nachhaltige Entwicklung vor. sich aktiv in die Nachhaltigkeitsdebatte einmischt und (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Das wissen die Umsetzung der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie wir ja jetzt!) konstruktiv und kritisch begleitet; denn obwohl mittler- weile viel über Nachhaltigkeit geredet wird, sind wir von Dieser Beirat soll Plattform dem Ziel einer nachhaltigen Politik – da haben Sie völlig (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Mehr platt Recht – immer noch weit entfernt, das aber schon seit als Form!) Jahrzehnten und unabhängig davon, welche Parteifarbe in dieser Republik regiert hat. und Impulsgeber für eine fortschrittliche Nachhaltig- keitsdebatte sein, die interdisziplinär Fäden zusammen- Woran liegt das? Politisches Handeln ist nach wie vor führt, langfristige Perspektiven entwickelt, Querschnitts- viel zu kurzfristig an Haushaltsjahren und an Wahlperio- fragen koordiniert und kritisch hinterfragt, ob politische den orientiert. Entscheidungen dem Ziel der nachhaltigen Wirkung ge- (Zuruf von der CDU/CSU: Sie regieren doch recht werden. gerade!) Der Beirat soll die Umsetzung und die Weiterent- Die Versuchung, in unserer kurzlebigen Mediengesell- wicklung der Nachhaltigkeitsstrategie begleiten, kon- schaft schnell sichtbaren – vermeintlichen – Erfolgentrollieren und auch mitgestalten. Wir wollen Kontakte zu mehr Aufmerksamkeit zu widmen als langfristigen Wir- allen Akteuren der Nachhaltigkeitsdebatte pflegen, mit kungen, ist zu groß. Die Bedürfnisse und Interessen der ihnen Diskussionen führen, uns insbesondere auch mit nächsten Generationen – diese können sich nicht äu- Vertretern anderer Parlamente austauschen und von ih- ßern und nicht in die Debatte einmischen, weil sie noch nen lernen und auf diese Weise die Debatte europaweit gar nicht geboren sind – kommen im politischen Alltags- vernetzen. geschäft immer wieder unter die Räder. An dieser Stelle möchte ich an den TAB-Bericht Die arbeitsteilige Organisation von Politik verhindert „Langzeit- und Querschnittsfragen in europäischen die Klammer, die einzelne Themen und widerstreitende Regierungen und Parlamenten“ erinnern. Dieser Interessen zu einem Leitbild zusammenbindet. Die Men- TAB-Bericht ist auf Initiative der SPD-Bundestagsfrak- schen sehnen sich aber nach Orientierung und Halt. Wir tion entstanden; ich möchte mich dafür besonders bei sind der Meinung, dass die Nachhaltigkeit als Leitbild der Kollegin bedanken. Darin wurde 7932 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 89. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2004

Astrid Klug (A) untersucht, wie andere europäische Länder mit diesem (Kristina Köhler [Wiesbaden] [CDU/CSU]: (C) Thema umgehen, wie dort langfristige politische Strate- Auch dann nicht!) gien und Querschnittsthemen in die politische Debatte eingebunden werden und mit welchen Instrumenten ge- Das Tempo, das Sie an den Tag gelegt haben, um diese arbeitet wird. Das Büro für Technikfolgenabschätzung Dinge durchzudrücken, scheint mir allerdings eher ein hat uns die Empfehlung gegeben, hier bei uns ein parla- Hinweis darauf zu sein, welch schlechtes Gewissen Sie mentarisches Gremium zu installieren, haben. (Lachen bei Abgeordneten der SPD) (Zurufe von der CDU/CSU: Aha!) Über den Kern des Themas sind wir uns doch einig. das diese Debatte begleitet und konstruktiv und kritisch Deshalb will ich hier auch nicht über den Begriff der unterstützt und die entsprechenden Impulse gibt. Nachhaltigkeit reden. Sie wissen selber, dass es sich da- Ich will mich ausdrücklich bei den Kolleginnen und bei im Grunde um einen zutiefst deutschen Begriff han- Kollegen der FDP dafür bedanken, dass sie den Antrag delt, der in der deutschen Forstwirtschaft entwickelt auf Einrichtung dieses Beirats unterstützen und damit wurde. Von Anfang an war damit der Gedanke verbun- das in dieser Frage so wichtige Signal der partei- bzw. den, nur das zu nutzen, was im gleichen Zeitraum wieder fraktionsübergreifenden Verantwortung für die Zukunft nachwächst. Von Anfang an waren in ihm ökologische, geben. Sie unterstreichen damit, wie ernst sie es nehmen. soziale wie auch wirtschaftliche Elemente enthalten. Ich bedauere, dass die CDU/CSU-Fraktion nicht über ih- Aber wenn wir das Thema für so wichtig erachten und ren Schatten springen konnte, stattdessen aber kurz vor im Parlament verankern wollen, müssen wir uns schon Toresschluss wie Phönix aus der Asche ihren Zukunfts- darüber unterhalten, warum wir den Weg der Einrich- ausschuss präsentiert hat,der sich alleine mit demtung eines Beirates wählen und nicht vielmehr einen Thema Generationengerechtigkeit beschäftigen und Ausschuss, wie wir es wollen, im deutschen Parlament diesen Bereich kontrollieren soll. einrichten. Da gehört das Thema nämlich hin. (Dr. Ole Schröder [CDU/CSU]: Alleine? – (Beifall bei der CDU/CSU) Widerspruch bei der CDU/CSU) Der Begriff der Nachhaltigkeit ist seit 1713 unter- schiedlich ausgelegt worden. Die große Euphorie ist erst Liebe Kolleginnen und Kollegen, in Ihrem Antrag durch den Brundtland-Bericht 1987 entstanden. Er fin- steht nichts von Nachhaltigkeit. Das heißt, Sie haben die det sich dann auf der Rio-Konferenz 1992 wieder und Bedeutung dieses Themas nicht begriffen. Nachhaltig- mittlerweile ist er im Nachhaltigkeitskonzept 2002 der keit hat viel mit Generationengerechtigkeit zu tun, aber Bundesregierung wiederzufinden. Jetzt kommt das Inte- eben nicht nur. Es geht dabei um wesentlich mehr. Das (B) ressante: Der Sachverständigenrat für Umweltfragen(D) wollen wir mit unserem Ansatz entsprechend unterstrei- sagt in seiner Stellungnahme zur Konzeption der Bun- chen. desregierung, in Bezug auf die Nachhaltigkeit betreibe (Beifall bei Abgeordneten der SPD) die Bundesregierung eine Begriffsauflösung, sie nehme sie nicht mehr wirklich wahr. Einen Ausschuss nach Ihrem Muster hätten wir ein- richten können, wenn wir das Thema üblichen Parteiritu- (Zuruf von der CDU/CSU: Hört! Hört!) alen und einem Kampf der Generationen hätten ausset- Fritz Vorholz geht in der „Zeit“ sogar noch weiter. Er zen wollen. Aber genau das wollten wir nicht. Wirschreibt: wollen einen Prozess in Gang setzen, wir wollen den Di- alog, wir wollen, dass sich das Politikverständnis weiter- Warum indes das Konvolut entwickelt und es zu einer nachhaltigen Veränderung in – der Bundesregierung – den Köpfen und in den Herzen kommt. Daran mitzuar- beiten, dazu laden wir Sie ausdrücklich ein. mit dem Nachhaltigkeitsetikett geadelt wurde ... ist auf den ersten Blick kaum ersichtlich. Vielen Dank. Nachhaltigkeit wird durch Sie zur Leerformel, die für (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ alles steht, was Rot-Grün sowieso plant bzw. verabschie- DIE GRÜNEN) det; wir erleben es heute wieder. Ich frage Sie: Warum gehen wir eigentlich nicht den Weg, dass wir die Dinge, Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: die heute unter diesem Tagesordnungspunkt zusammen- Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt gefasst sind, in den zuständigen Geschäftsordnungsaus- erteile ich das Wort dem Kollegen Georg Fahrenschon schuss verweisen, um uns dort darüber zu unterhalten? von der CDU/CSU-Fraktion. (Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Da war er doch!) (Beifall bei der CDU/CSU) – Nein, er war es nicht. – Sie drücken auf das Tempo und Georg Fahrenschon (CDU/CSU): drängen auf eine sofortige Abstimmung ohne Überwei- sung. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Frau Kollegin Klug, wenn diese Rede jetzt die Bewer- (Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Stimmt bungsrede für den Vorsitz war, dann war sie okay. doch nicht! Falsch!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 89. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2004 7933

Georg Fahrenschon (A) Ich komme zum Punkt: Der Beirat, den Sie uns hier Parlament muss sich generell mit den Dingen, die in Eu- (C) unbedingt unterjubeln wollen, ropa entwickelt werden, auseinander setzen. Mindestens so wichtig wie Europa muss uns doch die zukünftige (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Entwicklung in Deutschland sein. GRÜNEN]: Nicht unterjubeln, sondern ab- stimmen!) (Beifall bei der CDU/CSU) ist ein weiterer Beleg Ihres falschen Verständnisses von Frau Kollegin Klug, Sie haben den Bericht des Tech- Nachhaltigkeit. nikfolgenabschätzungsbüros genannt. Aber wenn Sie ihn schon zitieren, zitieren Sie ihn bitte richtig! Ich darf Ih- (Beifall bei der CDU/CSU) nen vorlesen, was auf Seite 31 der Drucksache 15/2129 Das ist der Vorwurf, den ich Ihnen machen muss. Wir steht: sind eine parlamentarische Demokratie, noch sind wir Eine hervorgehobene Form der Institutionalisierung keine Räterepublik. der Beschäftigung des Deutschen Bundestages mit (Beifall bei der CDU/CSU – Lachen bei der Langzeit- und Querschnittsfragen wäre – orientiert SPD – Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/ etwa am Modell des Zukunftsausschusses des finni- DIE GRÜNEN]: Was verstehen Sie von schen Parlaments – Räterepublik? – Michael Müller [Düsseldorf] (Zurufe von der CDU/CSU: Aha!) [SPD]: Der erste Beirat zu dem Thema war bei Kohl!) die Einrichtung eines speziellen Gremiums für Nachhaltigkeit oder Zukunftsfragen ... Wir wollen dieses Thema dort behandeln, wo es hinge- hört. Es folgt die Begründung, der wir uns ausdrücklich an- schließen: (Beifall bei der CDU/CSU – Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Kennen Sie den Beirat bei Dies Kohl?) – nur ein Ausschuss – Deshalb lautet unser Gegenkonzept klipp und klar: Wir würde entsprechend der auf Regierungsseite erfolg- brauchen einen Ausschuss. Er muss umfassend zustän- ten Institutionalisierung in Form des Nachhaltig- dig sein, sich selbstverständlich mit Umweltschutz und keitsrates und des Staatssekretärausschusses für der Entwicklung der natürlichen Ressourcen auseinander Nachhaltige Entwicklung die Arbeitsstruktur der setzen, er muss sich aber eben auch mit der demographi- Regierung spiegeln und entspräche der bisherigen (B) schen Entwicklung, mit der Entwicklung auf dem Ar- parlamentarischen Institutionalisierungspraxis. (D) beitsmarkt, mit der Entwicklung der sozialen Siche- rungssysteme und mit der Entwicklung (Beifall von bei der CDU/CSU – Ulrike Mehl Wissenschaft und Bildung am Standort Deutschland aus- [SPD]: Alle, die da klatschen, sollen das mal einander setzen. Er braucht einen umfassenden Auftrag. in ihrer Fraktion durchsetzen! Das möchte ich mal sehen!) (Ulrike Mehl [SPD]: Wie groß soll der Aus- schuss denn werden?) Ich fordere Sie deshalb noch einmal auf – ich kann nur an Sie appellieren –: Machen Sie nicht Politik à la Wir haben auch ein Mittel dazu: das Mittel der Gene- Trittin – tricksen, tarnen, täuschen –, sondern nutzen Sie rationenverträglichkeitsprüfung, das Mittel der Genera- unser Angebot zu einer breiten parlamentarischen Ausei- tionenbilanz ist entwickelt. Selbst die Bundesbanknandersetzung über eine erfolgreiche nachhaltige Ent- macht bereits alljährlich Prüfungen und Rechnungen, die wicklung. die Generationenverträglichkeit, die Generationenbilanz Deutschlands darstellen. Die Werte sind unter Ihrer Re- (Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Das ha- gierung nicht besser geworden; das wundert uns auch ben Sie doch noch nicht einmal im Text ste- nicht. hen!) (Beifall bei der CDU/CSU) Aber wenn schon, denn schon! Lassen Sie uns das rich- tig machen, denn der beste Weg, die Zukunft vorauszu- Meine Damen und Herren, wir fordern bewusst einen sagen, ist, sie zu gestalten. Querschnittsausschuss; wir haben uns das wohl über- legt. Wir wollen diesen Ausschuss vor der ersten Lesung Herzlichen Dank. in den Fachausschüssen mit entsprechenden Themen be- (Beifall bei der CDU/CSU) fassen, um den Fachleuten die Dinge mit auf den Weg zu geben, die wir in diesem Fachausschuss umfassend und generationengerecht entwickeln. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich schließe die Aussprache. (Ulrike Mehl [SPD]: Viel Spaß mit den Kolle- gen!) Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der SPD, des Bündnisses 90/Die Grünen und Dafür gibt es ein Beispiel: Der Europaausschuss ist aus der FDP auf Drucksache 15/2441 mit dem Titel „Ein- denselben Gründen als Querschnittsausschuss aufgestellt richtung eines parlamentarischen Beirates für nachhal- worden, nämlich weil wir gesagt haben: Das deutsche tige Entwicklung“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer 7934 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 89. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2004

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist mit Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): (C) den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es Fraktion gegen die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion an- gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass gentechnisch ver- genommen. änderte Pflanzen eine Gesundheitsgefährdung darstellen, so Ministerin Künast bei der Vorstellung der Novelle des Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufGentechnikgesetzes. Wenn sie Recht hat, dann hat sie Drucksache 15/2129 an die in der Tagesordnung aufge- Recht. führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überwei- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) sung so beschlossen. – Man muss feststellen, dass es erstmalig Beifall der Op- Zusatzpunkt 5. Wir kommen zur Abstimmung über position für eine Feststellung von Ministerin Künast den Antrag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache gibt. 15/2387 mit dem Titel „Einrichtung eines Zukunftsaus- Der Protest grüner Abgeordneter gegen diese zutref- schusses“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt fende Feststellung ließ nicht auf sich warten. Aber er ist dagegen? – Wer enthält sich? – Der Antrag ist mit den in der Sache verfehlt. Mit ihrer Äußerung hat die Minis- Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion terin umgesteuert und anerkannt, was in der Wissen- gegen die Stimmen der CDU/CSU-Fraktion abgelehnt. schaft unumstritten ist. Wir wünschen der Ministerin in dieser Frage Durchsetzungskraft bei ihrer grünen Klien- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 a und 23 b auf: tel. a) Beratung des Antrags der AbgeordnetenIch muss anmerken: Für ihre Parteifreunde ist der Dr. Christel Happach-Kasan, Hans-MichaelVerlust des Feindbildes Grüne Gentechnik schmerzlich. Goldmann, Daniel Bahr (Münster), weiterer Ab- Schon in der Beantwortung einer Kleinen Anfrage der geordneter und der Fraktion der FDP FDP-Fraktion im Frühjahr letzten Jahres war deutlich geworden, dass auch die Bundesregierung für die angeb- Distanzierung der Bundesregierung von ge- lichen Gefahren derGrünen Gentechnik keine Bei- setzwidrigen Zerstörungen von Freisetzungs- spiele kennt. versuchen mit gentechnisch veränderten Pflanzen Bundeskanzler Schröder hat das Jahr mit einer Inno- vationsinitiative begonnen. Das ist gut so. Von dieser – Drucksache 15/1825 – Initiative können aber nur Impulse ausgehen, wenn auch Überweisungsvorschlag: Taten folgen. Die erste Tat muss sein, dass sich die Bun- (B) Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und desregierung von den gesetzwidrigen Zerstörungen von (D) Landwirtschaft (f) Freisetzungsversuchen distanziert. Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung der CDU/CSU) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Sie muss auch den ihr nahe stehenden Kritikern deutlich Technikfolgenabschätzung machen, dass auch sie an rechtsstaatliches Handeln ge- b) Beratung des Antrags der Abgeordnetenbunden sind, und sie muss dieses Handeln auch einfor- Dr. Christel Happach-Kasan, Hans-Michaeldern. Goldmann, Ulrike Flach, weiterer Abgeordneter (Jürgen Koppelin [FDP]: Sehr richtig!) und der Fraktion der FDP Es gibt in unserem Rechtsstaat keinen Freibrief für Freilandversuche mit gentechnisch veränder- rechtswidriges Handeln. ten Apfelsorten in Pillnitz und Quedlinburg durchführen (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) – Drucksache 15/2352 – Die Übersicht über die zerstörten Versuche zeigt: Es Überweisungsvorschlag: wurden Versuchsfelder von Pflanzenzuchtunternehmen Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und genauso zerstört wie Felder, die der Sicherheitsfor- Landwirtschaft (f) Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit schung dienten. Es wurden Felder von Kulturpflanzen Ausschuss für Gesundheit und Soziale Sicherung zerstört, die auskreuzen, genauso wie Felder von Arten, Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit die nicht auskreuzen können. Zerstörung und nichts an- Ausschuss für Bildung, Forschung und deres, was auch sonst als Motiv genannt sein mag, steht Technikfolgenabschätzung im Vordergrund. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die (Beifall des Abg. Jürgen Koppelin [FDP]) Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die FDP-Fraktion fünf Minuten erhalten soll. – Ich höre kei- Der Bund der Pflanzenzüchter beziffert die Schäden nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. durch die Zerstörung von Versuchen auf zwischen 1,5 Millionen und 2,5 Millionen Euro. Hinzu kommt der Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin Verlust an Wissen, an Marktchancen, an Zukunftschan- Christel Happach-Kasan das Wort für die FDP-Fraktion. cen für junge Menschen, die Themen der Sicherheits- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 89. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2004 7935

Dr. Christel Happach-Kasan (A) forschung in Diplom- und Doktorarbeiten bearbeiten Äpfel schmecken gut und sind gesund. (C) wollten. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie Im Grundgesetz ist der Schutz des Eigentums veran- bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- kert. Es kann nicht sein, dass eine Bundesministerin die NISSES 90/DIE GRÜNEN) Zerstörung von Eigentum toleriert. – Ich freue mich, dass ich den Beifall des ganzen Hauses (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) bekomme. Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Ich fordere Sie, Ministerin Künast – ich bedauere sehr, Grünen, Sie widersprechen damit natürlich einer alten dass sie heute nicht anwesend ist –, nachdrücklich auf: Weisheit der Grünen: All das, was Spaß macht und gut Distanzieren Sie sich klipp und klar von den Feldzerstö- schmeckt, ist entweder verboten oder macht dick. – Äp- rungen, egal von wem sie durchgeführt wurden! Das ist fel nicht. das Mindeste, was Sie als Ministerin für den Schutz des Auch Obstbäume werden von Krankheiten bedroht. Eigentums und für unseren Rechtsstaat leisten müssen. Feuerbrand ist eine hoch ansteckende bakterielle Erkran- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten kung, die bereits in den Obstplantagen insbesondere in der CDU/CSU) Baden-Württemberg erhebliche Schäden verursacht hat. Ohne Streuobstwiesen würde die Kulturlandschaft an Es muss Sie doch nachdenklich stimmen, Frau Minis- Reiz verlieren und der Lebensraum für viele Tierarten terin, dass die Biologische Bundesanstalt für Land- und verloren gehen. Forstwirtschaft jährlich 50 000 Euro allein für den Schutz von Versuchsfeldern aufwendet. Das sind Mittel, Deshalb ist es gut, dass sich die Bundesanstalt für die anders wesentlich besser verwandt werden könnten. Züchtungsforschung in der Züchtung von Sorten enga- Da verwundert nicht nur das Verhalten von Ministerin giert, die gegen die bakterielle Erkrankung Feuerbrand Künast, die sich im ZDF auf konkrete Nachfrage nicht und gegen die Pilzerkrankungen Apfelschorf und Apfel- von den gesetzwidrigen Zerstörungen distanziert hat.mehltau resistent sind. Zur Bekämpfung dieser Krank- Auch auf dem Server der Universität Kassel finden sich heiten werden im konventionellen Anbau Antibiotika Links zu den Seiten von Gentechnikgegnern. Dort heißt und Fungizide eingesetzt. Die Bundesregierung setzt es dann – ich zitiere wörtlich –: sich für einen völligen Verzicht der Anwendung antibio- tikahaltiger Pflanzenschutzmittel ein. Wenn man nicht Inwieweit die bereitgestellten Informationen ge-gänzlich auf den Anbau von Äpfeln verzichten will nutzt werden, um die demokratischen Rechte gegen – wer will das wirklich? –, ist das nur möglich, wenn re- die Gentechnologie wahrzunehmen, bleibt jedem sistente Sorten zur Verfügung stehen. Die mit herkömm- (B) und jeder selbst überlassen. lichen Methoden gezüchteten Sorten genügen nicht den (D) Ein Schelm, der Böses dabei denkt! Kriterien, die an eine Weltsorte gestellt werden. Daher ist es konsequent, wenn zur Züchtung neuer Sorten die Für die FDP stelle ich klar: Es gibt kein demokrati- Methoden der Gentechnik angewandt werden. sches Recht auf Zerstörung von Versuchsfeldern mit transgenen Pflanzen. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Bisher wurden 1,14 Millionen Euro aufgewandt – viel der CDU/CSU) Geld, das nur dann sinnvoll aufgewendet wurde, wenn die notwendigen Freisetzungsversuche in Pillnitz und Die fehlende Distanzierung der Ministerin Künast ge- Quedlinburg durchgeführt werden. winnt vor dem Hintergrund der Novellierung des Gen- technikgesetzes an zusätzlicher Bedeutung. In dem Ge- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: setz wird gefordert, dass die Freisetzung und der Anbau transgener Sorten in einem Standortregister erfasst wer- Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss. den, das allgemein zugänglich sein soll. Frau Ministerin, Sie müssen sich entscheiden: Ist das Standortregister ein Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): Instrument der behördlichen Überwachung von Feldern Ja. – Vor dem Hintergrund der vorliegenden Novellie- mit transgenen Pflanzen, wie es in der Gesetzesbegrün- rung des Gentechnikgesetzes, der Kanzlerinitiative zur dung heißt, oder ist es ein Hilfsmittel für Gentechnik- Innovation und der Klarstellung durch Ministerin gegner, Zerstörungen von Feldern zu organisieren? Künast, dass es keinerlei Hinweise für eine Gesundheits- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Sehr gefährdung durch transgene Pflanzen gebe, stellt ein richtig!) weiteres Aufschieben dieser gut vorbereiteten Versuche die Glaubwürdigkeit der Bundesregierung infrage. Wel- Zum zweiten Antrag. Der Apfel war im Altertumchen Wert haben Kanzlerinitiativen, wenn keine Taten Symbol für Liebe und Fruchtbarkeit. Alma Ata heißtfolgen, wenn die Innovationsleistungen der gesamten „Stadt des Apfels“. Von dort gelangten die ersten Äpfel Biotechnologiebranche in Aktenschränken verstauben in den Mittelmeerraum und von dort nach Mitteleuropa. und nicht zur Anwendung kommen, wenn die Wert- 867 000 Tonnen Äpfel wurden in Deutschland im ver- schöpfung aus den Ergebnissen der wissenschaftlichen gangenen Jahr geerntet. Damit steht Deutschland inForschung freiwillig an das Ausland abgegeben wird? Europa beim Apfelanbau an dritter Stelle. Dieselbe Wie soll der dringend notwendige Abbau der Arbeitslo- Menge importieren wir noch einmal. sigkeit gestaltet werden, wenn die Abwanderung gut 7936 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 89. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2004

Dr. Christel Happach-Kasan (A) ausgebildeter Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen der Nahrungs- und Futtermittelproduktion skeptisch (C) nicht wenigstens begrenzt wird? gegenüber, weil der Nutzen für den Verbraucher nicht zu erkennen ist. Das ist der Vorwurf, der letztlich auch der Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Industrie, also den Anbietern, zu machen ist. Frau Happach-Kasan, Sie müssen zum Schluss kom- Wir können die Ängste und den Widerstand nicht ein- men. fach wegbeschließen und wir können die Risiken dieser Technik nicht einfach sozialisieren und vielleicht sogar Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): noch die Werbung mit öffentlichen Mitteln finanzieren, Ich komme zum letzten Satz. – Ich fordere die Bun- während die Gewinne privatisiert werden. desregierung auf, nicht nur von Innovation zu reden, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sondern auch die vielen novationen In im Bereich der DIE GRÜNEN) Biotechnologie aktiv zu unterstützen. Wir haben überhaupt keine Alternative dazu, dieSorgen Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. der Bevölkerung ernst zu nehmen und im Gesetzent- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten wurf zu berücksichtigen. Das ist auch im Interesse derer, der CDU/CSU) die die Gentechnik anwenden wollen. Der Gesetzent- wurf muss ferner die Rückverfolgbarkeit, die Kenn- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: zeichnung – sie sind wichtige Teile des ganzen Projek- Das Wort für die Bundesregierung hat der Parlamen- tes, um die sich viele rgen so – und die Koexistenz tarische Staatssekretär Gerald Thalheim. sicherstellen. Das heißt, wer auch in Zukunft gentech- nikfrei produzieren will, kann dies auch tun. (Jürgen Koppelin [FDP]: Der Staatssekretär ist ganz blass geworden!) Eine der Schimären, die Sie in die Öffentlichkeit zu bringen versuchen, ist, dass die Skepsis allein aus dem rot-grünen Regierungslager komme. Sie wissen ganz ge- Dr. Gerald Thalheim, Parl. Staatssekretär bei der nau, dass sie viel eher aus dem konservativen Lager Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und kommt. Frau Reichard, unterhalten Sie sich einmal mit Landwirtschaft: Graf von Bassewitz vom Deutschen Bauernverband, Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In weni- gen Wochen werden wir anlässlich der Beratung über (Helmut Heiderich [CDU/CSU]: den Entwurf eines Gesetzes zur Neuordnung des Gen- Öfter als Sie!) technikrechts Gelegenheit haben – Frau Happach-Kasan, der die Initiative für eine gentechnikfreie Zone in Meck- (B) vielleicht vor größerem Publikum und aus besserem An- (D) lenburg-Vorpommern ergriffen hat. lass –, über diese ganze Problematik etwas ausführlicher und sachlicher zu diskutieren, als Sie das soeben getan Sie werden noch staunen, was sich in Sachsen-Anhalt haben. abspielen wird. Ich könnte hnen I dazu Leserbriefe aus der „Magdeburger Volksstimme“ vorlesen. Wir müssen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ und werden die Sorgen der Bürgerinnen und Bürger DIE GRÜNEN) ernst nehmen und am Ende eine Regelung finden, die Die entscheidende Tat der Bundesregierung bzw. desbeides berücksichtigt, die Sorgen und die Interessen der Bundeskanzlers, die Sie eingefordert haben, ist, im Hin- Industrie. blick auf die Neuordnung des Gentechnikrechts in Es kann nicht hingenommen werden – dazu mache Umsetzung der europäischen Richtlinie 2001 einen ich eine klare Aussage in Richtung der Antragsteller –, Rechtsrahmen zu schaffen, um auch in Deutschland gen- dass die Ängste diskreditiert werden, indem sie zum technisch veränderte Pflanzen – die entsprechende Ge- Vorwand für Zerstörungen von Freisetzungsversuchen nehmigung vorausgesetzt – anbauen zu können. mit gentechnisch veränderten Pflanzen dienen. Das sollte uns gemeinsam zu denken geben: Allein die Ankündigung des Gesetzentwurfs und der Inhalt die- Ich kann Ihnen die schriftliche Antwort der Bundesre- ses Entwurfs haben eine – ich möchte fast sagen – ex- gierung auf die Große Anfrage auf Drucksache 14/2942 trem kontroverse Diskussion in Deutschland ausgelöst. vorlesen, wonach die Bundesregierung mutwillige Zer- Sehr viel Kritik ist geäußert worden. störungen von Versuchsfeldern von gentechnisch verän- derten Organismen verurteilt. Ihre Interpretation der (Helmut Heiderich [CDU/CSU]: Aussagen der Bundesministerin Frau Künast entspricht Weil er nichts taugt!) einfach nicht den Tatsachen. Im Übrigen teilen wir auch Ihre Bewertung in Ihrem Antrag, dass das Vorgehen be- Es gab Widerstand gegen diese Regelung, die wohlge- stimmter Organisationen rechtlich nicht zulässig und merkt eine Umsetzung des europäischen Rechts dar- folglich ganz klar zu verurteilen ist. stellt. Allerdings ist nicht die Bundesregierung in der Ver- (Helmut Heiderich [CDU/CSU]: antwortung, dagegen vorzugehen, sondern die Landes- Weil Sie draufgesattelt haben!) behörden. Ich staune daher schon, dass kaum bekannt Es bleibt festzuhalten: Eine Mehrheit der Bürger in ist, dass die entsprechenden Landesbehörden in dieser unserem Land steht der Anwendung der Gentechnik bei Richtung aktiv geworden sind. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 89. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2004 7937

Parl. Staatssekretär Dr. Gerald Thalheim (A) Ihr Antrag ist gegenstandslos und zielt ins Leere. Dr. Gerald Thalheim, Parl. Staatssekretär bei der (C) Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Landwirtschaft: des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Frau Happach-Kasan, es gibt wohl keinen geeignete- ren Ort als das Rednerpult des Deutschen Bundestages, Das gilt auch für den zweiten Antrag, der sich mit der um hier klar Stellung zu beziehen und zu sagen, dass wir Freisetzung von Apfelbäumen in Pillnitz und Quedlin- das nicht akzeptieren können. Dies können Sie im Proto- burg befasst. Die Bundesministerin lehnte den Antrag koll dann nachlesen. Die Gründe dafür habe ich bereits aufgrund politischer und sachlicher Erwägungen ab. Zu- dargelegt. Diese unterscheiden sich im Übrigen nicht nächst zu den politischen Gründen: Wir sind mit der von der Begründung Ihres Antrags: Rechtsbruch ist ein- Neuordnung des Gentechnikrechts dabei – ich habe es fach nicht hinzunehmen. bereits erwähnt –, den Weg für die praktische Anwen- dung in Deutschland freizumachen. (Beifall bei der SPD) Ich war dabei, einige Bemerkungen zu denFreiset- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: zungsversuchen zu machen. Ich habe ausgeführt, dass Herr Staatssekretär, erlauben Sie eine Zwischenfrage es für die Ablehnung politische Gründe gab. Insbeson- der Kollegin Dr. Happach-Kasan? dere nenne ich die Frage der Glaubwürdigkeit. Es ist ein- fach nicht möglich, einerseits zu sagen: „Wir können Gentechnik nur anwenden, wenn die Koexistenz ge- Dr. Gerald Thalheim, Parl. Staatssekretär bei der währleistet ist, wenn Ängste entsprechend ernst genom- Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und men werden“ und andererseits gleichzeitig eine Freiset- Landwirtschaft: zung zu genehmigen. Aber gerne. Es gab auch sachliche Einwände. Wie Sie wissen, hatte das Umweltbundesamt noch keine Genehmigung erteilt, Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: weil es in einer Region wie Pillnitz, dem Elbtal, wo es sehr Bitte schön, Frau Happach-Kasan. viele Obstzüchter gibt, dieGefahr von Auskreuzungen gesehen hat. Auch aus dem Bereich gab es erheblichen Widerstand. Ich denke, Frau Bundesministerin Künast Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): war gut beraten, in dieser Phase so zu entscheiden, wie Herr Staatssekretär, der Antrag der FDP-Bundestags- entschieden worden ist. fraktion bezieht sich auf einen Vorfall im Sommer des (B) Wenn das Gesetz verabschiedet ist, wenn der Rechts- (D) vergangenen Jahres, zu dem die Ministerin in der Sen- rahmen im Wege der Umsetzung der entsprechenden dung „Frontal 21“ gefragt wurde – ich zitiere –: Richtlinie auch für die Anwendung von Gentechnik in Deutschland geregelt ist, kann dieses Projekt möglicher- Ihre Behörde genehmigt einen Weizenversuch in weise für einen anderen Standort, an dem es dafür mehr Gotha und anschließend schlägt Greenpeace diesen Akzeptanz gibt, noch einmal diskutiert werden. Gegen- Versuch entzwei und ruiniert diesen Versuch. Sie wärtig ist dafür aus den Gründen, die ich ausführlich treten gemeinsam auf. Ist das Absicht oder billigen dargelegt habe, nicht der geeignete Zeitpunkt. Sie das nicht, dass Felder zerstört werden? Recht vielen Dank. Auf diese Frage hat die Ministerin ausweichend ge- antwortet. Sie hat gesagt, ich gehe davon aus: Das ist (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ eine brillante Frage von „Frontal 21“, um einen Ihrer be- DIE GRÜNEN) rühmten Berichte zu machen. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich meine, dass dies keine Distanzierung von der Zer- Das Wort hat jetzt der Kollege Helmut Heiderich von störung von Freisetzungsversuchen ist. der CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – (Beifall bei der CDU/CSU) Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Das war doch eine gute Antwort! – Peter Dreßen [SPD]: Da Helmut Heiderich (CDU/CSU): hat sie doch wohl Recht!) Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Sie haben etwas zitiert, was auch ich nachgelesenDie Vorgänge zur Grünen Gentechnik in Deutschland habe, nämlich eine Antwort der Bundesregierung aus der sind schon ziemlich einmalig. „Staatlich veräppelte For- vergangenen Legislaturperiode. Ich beziehe mich jedoch schung“ hat das die Presse kürzlich landauf, landab titu- auf Vorgänge im vergangenen Sommer und hätte esliert. schon gerne gehabt, dass sich die Ministerin von diesen (Peter Hettlich [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Vorgängen genauso distanziert, wie sie es in der letzten NEN]: Welche Presse?) Legislaturperiode bei anderen Vorgängen gemacht hat. Da gibt ein Ministerium Steuergelder aus, um neue Er- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten kenntnisse in der Wissenschaft zu gewinnen, und eine an- der CDU/CSU) dere Ministerin ordnet persönlich ein Forschungsverbot 7938 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 89. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2004

Helmut Heiderich (A) für genau dasselbe Vorhaben an. Herr Dr. Thalheim, Zweitens hat die Ministerin hier im Parlament – darü- (C) wenn das kein Tollhaus ist, wo finden wir es dann sonst? ber haben wir auch gestern wieder diskutiert – gegen- über der Öffentlichkeit schlicht Unwahrheiten über den (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Goldenen Reis und seine Nutzungsmöglichkeiten ver- Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Bei Ihnen!) breitet. Der Erfinder desGoldenen Reis, Professor Potrykus, hat sich ja auch schriftlich an uns Abgeordnete Es kommt aber noch besser: Genau das, was Ministe- und auch an sie gewandt und um Klarstellung gebeten. rin Künast ihrer eigenen politischen Weltanschauung ge- Dazu ist weder gestern von der Ministerin noch heute opfert hat, fand sich vor wenigen Tagen im Internet wie- von Ihnen ein einziges Wort der Klarstellung gesagt der: Keine geringere Organisation als die National worden. Academy of Science der USA vermeldet dort einen wis- senschaftlichen Durchbruch. Mithilfe der Gentechnik Drittens hat die Ministerin vor einiger Zeit persönlich – so wird dort dargestellt – sei es gelungen, marktfähige an einer Greenpeace-Aktion, die zusammen mit EDEKA Apfelbäume virusresistent zu machen. Genau das, was Nord durchgeführt wurde, teilgenommen, die letztend- Frau Künast in Deutschland abgewürgt hat, wird dort als lich auf Verbrauchertäuschung hinauslief. wissenschaftlicher Durchbruch gefeiert. (Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Sie ist Es wird auch darauf hingewiesen, dass durch diese aber auch beim Bauernverband! Sie geht über- neue Möglichkeit bis zu 15 Pflanzenschutzspritzungen all hin!) in den Obstplantagen eingespart werden könnten. – Es waren ja mehrere Personen anwesend. Aber ich (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Aha!) möchte Ihnen einmal Folgendes sagen: Mit großem Tamtam hat sie damals erklärt, dass es dort angeblich Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, wenn gentechnikfreies Schweinefleisch gebe. Dann haben wir das für den Verbraucher und die Wissenschaft kein Vorteil nachgeforscht, wie dieser Sachverhalt im Ministerium ist, dann frage ich mich, was dann ein Vorteil sein soll. beurteilt wird. Uns wurde gesagt, Dass die Ministerin so etwas in Deutschland verbietet, (Peter Dreßen [SPD]: Von wem denn im Mi- spricht nun wirklich Bände. Herr Dr. Thalheim, an diesem nisterium? Nennen Sie doch einmal Ross und Punkt mussten Sie ja eben auch etwas herumeiern. Denn Reiter!) die Verantwortlichen im Ministerium hatten ja zuerst be- hauptet – Sie haben das eben teilweise wiederholt –, dass dass man beim aus Brasilien importierten Soja überhaupt der Versuch wegen der Auskreuzungsgefahr kritisch zu nicht klären könne, ob es mit oder ohne Gentechnik pro- beurteilen gewesen sei. Dann mussten Sie aufgrund un- duziert worden sei. Bei der Einfuhr werde es von den (B) serer Nachfragen aber einräumen, dass in Quedlinburg in Zollbehörden daraufhin überprüft, ob die gelieferten Gü- (D) Sachsen-Anhalt bei den Versuchsbäumen überhauptter in äußerlich erkennbarer Weise den Angaben in den keine Blütenbildung vorgesehen war. Wo nichts blüht, Dokumenten entsprächen. kann aber auch nichts auskreuzen. Insofern war dies eine (Peter Dreßen [SPD]: Auf Hörensagen geben reine Scheinbehauptung, die aber nicht der Wahrheit ent- wir nichts! Vor Gericht gilt Hörensagen sprochen hat. nichts!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) – Auch durch Lautstärke können Sie den Fakten, die Verantwortliche Ihres Hauses zusammengestellt haben, Danach haben Sie diesen einzigartigen Eingriff in die nicht entgegenwirken. Freiheit der Wissenschaft – auch das ist eben gesagt wor- den – damit begründet, dass dieAkzeptanz der Bevölke- (Peter Dreßen [SPD]: Aber Hörensagen ist rung in den betroffenen Regionen gefehlt hätte. An die- doch nicht in Ordnung! Hörensagen gilt ein- ser Stelle hat meine Kollegin Frau Heller in der Frage- fach nichts! – Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE stunde nachgeforscht. Daraufhin haben Sie zugeben GRÜNEN: Unterstellungen, Unwahrheiten, müssen, dass bei dem Versuch in Quedlinburg vor Ihrer keine Kompetenz!) Entscheidung ganze drei – ich wiederhole: ganze drei – Des Weiteren hat ein Kollege von Dr. Thalheim auf eine Einwendungen vorgelegen haben. Nachfrage bestätigt, dass dort in der Produktion gentech- Wenn Sie also aufgrund von drei Einwendungen die nisch hergestellte Zusatzstoffe heute üblich seien, näm- Meinung vertreten, die gesamte Bevölkerung habe sich lich Enzyme, Aminosäuren und Vitamine – sie werden gegen diese Versuche gewehrt, dann kann ich nur sagen: heute allesamt gentechnisch hergestellt –, und dass es Damit kann man solche Entscheidungen wirklich nicht nicht zulässig sei, so das Ministerium, solche Produkte begründen. Ich glaube, noch deutlicher kann die Schein- dann als gentechnikfrei zu kennzeichnen. heiligkeit dieser Argumentation nicht aufgedeckt wer- (Manfred Helmut Zöllmer [SPD]: Kommen den. In diesem Bereich der Forschung kommt man sich Sie doch endlich mal zur Sache! – Peter allmählich vor, als sei manin Zeiten zurückversetzt, in Dreßen [SPD]: Von wem? Von wem im Minis- denen das, was die Untertanen tun durften, von des Fürs- terium?) ten Gnaden abhängig war. Warum nenne ich diese Punkte? Das tue ich deswe- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- gen, weil die Ministerin mit ihrem Verhalten ein öffentli- neten der FDP) ches Bild der modernen Biotechnik in der Landwirt- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 89. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2004 7939

Helmut Heiderich (A) schaft erzeugt, das völlig verzerrt ist. Frau Dr. Happach- hätten Sie Ihre Aussage, die Sie hier eben gemacht ha-(C) Kasan hat eben darauf hingewiesen, dass die Ministerin ben, so nicht aufrecht erhalten können. bei allen Aktionen wegschaut, bei denen in gesetzwidri- ger Weise Forschung, insbesondere solche der öffentli- Als ich den Antrag der Kollegen der FDP zum ersten chen Hand, zerstört wird. Gerade haben auch Sie, Herr Mal gelesen habe, dachte ich, es handele sich um einen Dr. Thalheim, wieder von diesem Verhalten abgelenkt Beitrag zum diesjährigen Karneval. Aber nach der ges- und versucht abzuwiegeln. trigen Goldmann’schen Kravalldebatte hier im Bundes- tag war uns klar, dass es sich nicht um einen Rosenmon- Welche Welten zwischen dem Verhalten in Deutsch- tagsscherz handelt, sondern dass wir aufgefordert sind, land und dem in unserem NachbarlandFrankreich lie- uns ernsthaft mit diesem Unsinn zu beschäftigen. gen, will ich Ihnen an einem kleinen Beispiel deutlich machen. Auch in Frankreich gibt es einen Kämpfer ge- Sehr geehrte Kollegin Happach-Kasan, sehr geehrter gen Globalisierung und – wie er es nennt – „la mal-Kollege Goldmann, wir von den Grünen fragen uns bouffe“. Er ist, seit er im Jahre 1999 einmal eine McDo- langsam, ob das Ihre Auffassung von ernsthafter Politik nald’s-Filiale demontiert hat, eine Art nationale Größe ist, die Sie im Agrarausschuss und besonders im Plenum geworden. José Bové wurde von der Presse sogar einmal in letzter Zeit zur Aufführung bringen. Wir sagen dazu als Präsidentschaftskandidat ins Spiel gebracht. DochNein. Wenn Ihnen nicht mehr einfällt, dann ersparen Sie auch diese Berühmtheit und Bekanntheit haben die fran- uns bitte diese Debatten. Wir sind bemüht, ernsthaft um zösische Regierung nicht daran gehindert, ihn wegen der agrarpolitische Fragen zu ringen. Zerstörung von gentechnisch verändertem Saatgut im (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vergangenen Jahr zu einer Freiheitsstrafe von zehn Mo- und bei der SPD – Hans-Michael Goldmann naten zu verurteilen. Die Strafe wurde von Jacques [FDP]: Herr Ostendorff, Sie sind die lebende Chirac persönlich zwar deutlich verkürzt, aber der Vor- Weisheit!) gang an sich macht, wie ich finde, sehr deutlich, welche Unterschiede im Umgang mit diesem Thema zwischen Was verstehen Sie eigentlich unter den geheimnisvol- unseren beiden Ländern bestehen. In Frankreich schaut len „regierungsnahen Organisationen“, die laut Ihrem man nicht weg und scheut sich nicht, auch national be- Antrag Felder zerstören sollen? kannte Größen zur Verantwortung zu ziehen, wenn sie in (Dr. Christel Happach-Kasan [FDP]: Das wis- dieser Weise gesetzwidrig gegen Forschungsvorhaben sen Sie doch selber!) der Biotechnik vorgehen. Ich habe das Gefühl, dass Sie zu viel Harry Potter gele- Im Gegensatz zu dem, was Sie, Herr Dr. Thalheim, sen oder zu viele Verschwörungsfilme im Kino gesehen eben geäußert haben, finde ich, dass es dringend notwen- (B) haben, anstatt sich ernsthaft mit diesen Themen zu be-(D) dig ist, dass sich die Bundesregierung von den gesetz- schäftigen. widrigen Aktionen deutlich distanziert, damit mit diesen Aktionen in Deutschland endlich Schluss ist. Ich be- Man muss sich einmal vorstellen: Ministerin Renate grüße, was Sie eben von dieser Stelle aus gesagt haben. Künast soll sich von etwas distanzieren, was sie weder unterstützt noch gar begangen hat, zu dem sie sich ledig- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) lich nicht geäußert hat. Die Initiative der FDP ist vollkommen richtig und fin- (Christa Reichard [Dresden] [CDU/CSU]: det unsere volle Unterstützung. Keine Antwort ist auch eine Antwort!) Herzlichen Dank. Es gibt vieles in dieser Republik, wozu sich Minister (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) nicht äußern. Es ist meiner Meinung nach auch nicht die Aufgabe von Ministern, sich zu allen Vorgängen in die- sem Land zu äußern. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt der Kollege Friedrich Ostendorff (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Es ist peinlich, vom Bündnis 90/Die Grünen, der für die Kollegin Ulrike was Sie hier abliefern! Einfach peinlich!) Höfken einspringt, die erkältet ist. Die Regierung wird von Ihnen ohne den geringsten An- satz eines Hinweises oder gar eines Beweises in Verbin- Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- dung zu Feldzerstörungen gebracht, mit denen sie über- NEN): haupt nichts zu tun hat. Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- ren! Bevor ich auf den Antrag der FDP zu sprechen (Peter Hettlich [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- komme, will ich etwas zu den Ausführungen von Herrn NEN]: Ungeheuerlich!) Heiderich sagen. Herr Heiderich, gerade beim Pro-McCarthy lässt grüßen, meine lieben Kollegen von der gramm der EDEKA Nord, das Sie angesprochen haben, FDP. gibt es, wie übrigens bei vielen anderen Programmen auch, außerordentlich genaue Definitionen zum Einsatz (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Meine Im- von Sojaschrot und hinsichtlich der Fütterung. Wenn Sie munität wurde noch nicht aufgehoben!) sich ernsthafter damit beschäftigt hätten, Und das von einer Partei, die das Wort „liberal“ im Na- (Helmut Heiderich [CDU/CSU]: Haben wir!) men führt! 7940 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 89. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2004

Friedrich Ostendorff (A) Stellen Sie sich einmal vor, wohin das führen könnte. Diese sind über einen Zeitraum von drei Jahren unter-(C) In einer Aktuellen Stunde soll sich sucht worden. Dabei stellte sich heraus, dass sich durch von Forderungen nach komplettem Sozialabbau distan- den Anbau herbizidresistenter Pflanzen massive Auswir- zieren. Das hätte noch eine gewisse Logik qua inhaltli- kungen auf die Vielfalt von Ackerkräutern und Insekten cher Nähe. ergeben, die unter anderem auf den Einsatz der mit den GV-Pflanzen verknüpften Totalherbizide zurückzufüh- (Helmut Heiderich [CDU/CSU]: Machen Sie ren sind. jetzt Karneval, oder was?) (Christa Reichard [Dresden] [CDU/CSU]: Auf Oder die FDP soll sich für das, was Haider verbreitet, welchem Beet ist das gewonnen worden?) entschuldigen. Niemand verlangt das von Ihnen, sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen von der FDP. SieZudem konnten die britischen Wissenschaftler nachwei- aber scheinen aus profilneurotischen Gründen den Bun- sen, dass das Auskreuzungspotenzial von gentechnisch destag zu einer Satireveranstaltung machen zu wollen. veränderten Pflanzen – vor allem Raps – höher als bisher vermutet ist. Die Bienen trugen die Pollen bis zu (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 26 Kilometer weit. und bei der SPD) Es ist unsere politische Überzeugung, dass es notwen- Ihr Antrag passt gut in Ihre Politik zur Agrogentech- dig ist, Fragen zur Sicherung der gentechnikfreien Pro- nik. Sie haben sich noch nie ernsthaft mit dieser Proble- duktion und zur Haftung gesetzlich zu beantworten, be- matik befasst, sondern vertreten schon immer einäugig vor es zu einem kommerziellen Anbau von gentechnisch die Interessen von Lobbyisten der Gentech-Multis, und veränderten Pflanzen in Deutschland kommt. das ohne jeden Zweifel, ohne jede Skrupel und gegen die (Christa Reichard [Dresden] [CDU/CSU]: Interessen der Verbraucherinnen und Verbraucher und Dazu dient doch die Forschung!) der deutschen Landwirtschaft. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das ist Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: wirklich eine Unverschämtheit!) Herr Kollege Ostendorff, erlauben Sie eine Zwischen- frage der Kollegin Happach-Kasan? Ihren blinden Fortschrittsglauben, liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, braucht das Land ebenso we- nig wie Feldzerstörungen. Was wir brauchen ist eine Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Gentechnikpolitik mit Augenmaß, die Vorsorge und Si- NEN): cherheit für Gesundheit und Umwelt in den Vordergrund Gerne. (B) stellt. Deshalb werden wir in Kürze ein Gentechnikge- (D) setz vorlegen, das die Vorsorge und die Haftung in den Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Vordergrund stellt. Bitte schön, Frau Kollegin Happach-Kasan. Darüber hinaus werden wir dafür sorgen, dass bei An- wendung der Gentechnik beim Anbau und in der Le- Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): bensmittelproduktion größtmögliche Sicherheit besteht. Herr Kollege Ostendorff, sind Ihnen auch die Unter- suchungen bekannt, in denen transgene herbizidresis- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das machen tente Rapssorten mit nicht transgenen herbizidresisten- wir auch!) ten Rapssorten verglichen worden sind, wobei festgestellt wurde, dass die Herbizidresistenz bei beiden Oft wird behauptet, Gentechnik würde schon jahrelang Sorten die gleichen Auswirkungen hat, es also in dieser angewendet und es hätten sich noch keine Risiken erge- Hinsicht keinerlei Unterschiede gibt? ben. Die Auswirkungen gentechnisch veränderter Orga- nismen sind bisher aber nur bei etwa einem Prozent der weltweiten experimentellen Freisetzungen untersucht Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- worden. Sie handeln nach dem Motto: Wer gar nicht erst NEN): nach Risiken sucht, der wird auch keine Risiken finden. Mir sind nationale Versuche, die universitär ausge- wertet wurden und die ein solches Ergebnis erbracht ha- In den wenigen Studien, die es gibt, wird gezeigt, wie ben, nicht bekannt. Sie können sie uns gerne zur Verfü- wichtig das Vorsorgeprinzip ist, für das sich Bündnis 90/ gung stellen. Die Grünen einsetzen. (Helmut Heiderich [CDU/CSU]: Wieso reden (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Ganz be- Sie dann von England? – Wolfgang Zöller stimmt!) [CDU/CSU]: Er redet von England, kennt aber die Ergebnisse nicht!) Die kürzlich in Großbritannien veröffentlichte Studie ist deswegen so bemerkenswert, weil es in Großbritannien Ich fahre fort. In Kanada zum Beispiel, wo die Siche- über 200 großflächige Standorte gibt, auf denen gentech- rung der gentechnikfreien Produktion nicht geregelt ist, nisch veränderte Organismen stehen. können Biobauern und konventionelle Bauern seit der Einführung des kommerziellen Anbaus von gentech- (Dr. Christel Happach-Kasan [FDP]: Bei uns nisch veränderten Pflanzen nicht mehr gentechnikfrei geht das nicht, weil sie zerstört werden!) produzieren. Diese Entwicklung werden wir in Deutsch- Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 89. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2004 7941

Friedrich Ostendorff (A) land mit dem neuen Gentechnikgesetz verhindern. Das Freilandversuche in Pillnitz und Quedlinburg zu ermit- (C) geht nicht dadurch, dass wir die Hände in den Schoß le- teln. Innerhalb von drei Wochen konnte das Ministerium gen und abwarten, bis die EU-Kommission weitere Gen- keine Antwort darauf geben und bat um Fristverlänge- produkte zulässt. Das geht nur, indem wir uns der He- rung. Wenn Sie tatsächlich irgendetwas zur Information rausforderung stellen. und Aufklärung unternommen hätten, dann wäre es kein Problem, zu antworten. Was sagen Sie denn dazu, dass Für die Sicherheitsforschung ist es wichtig, dass auch sich der Sächsische Landesverband der Obstbauern und mögliche unspezifische Auswirkungen gentechnisch die Fachgruppe Obstbau im Bundesausschuss Obst und veränderter Pflanzen auf die Nahrungsketten, die Arten- Gemüse im Dezember für die Durchführung der Versu- vielfalt und die Lebensgemeinschaft von Pflanzen unter- che in Dresden-Pillnitz ausgesprochen haben? Ist das die sucht werden. fehlende Akzeptanz der Obstbauern? (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Sie sollten sich nicht alles aufschreiben!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Die Auswirkungen der Gentechnologie auf den konven- tionellen und den ökologischen Landbau und auch mög- Meinen Sie wirklich, dass 250 Einsprüche aus ganz liche langfristige Wirkungen müssen untersucht werden. Deutschland ohne Prüfung auf deren Relevanz im Ge- nehmigungsverfahren wichtiger als die Interessen der Dafür werden wir sorgen. Agrarwirtschaft und der Erwerbsbauern sind, die auf die (Helmut Heiderich [CDU/CSU]: Das ist welt- Ergebnisse aus Pillnitz warten? Besonders rätselhaft ist weit schon hundertfach geschehen!) für mich, warum der Versuch auch in Quedlinburg ge- stoppt wurde, obwohl es dort keine Akzeptanzprobleme Wer hier im Parlament ist eigentlich dagegen, dass esgibt und die Bundesregierung selbst einräumt, dass dort weiterhin einen gentechnikfreien Anbau gibt? keine Auskreuzung möglich ist. Nötiger denn je ist eine (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN umfassende Aufklärung der Bevölkerung; denn fast alle, und bei der SPD – Helmut Heiderich [CDU/ die sich mit der Grünen Gentechnik wirklich beschäftigt CSU]: Sie verbieten doch die Untersuchun- haben, sind von einer anfangs skeptischen Haltung abge- gen!) rückt, selbst der Vatikan. So weit zum fachlichen Teil der Debatte. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Wegen der zu erwartenden Genehmigung – Aussagen Die Rede des Kollegen Matthias Weisheit von derzuständiger Sachverständiger legen dies nahe – hat Frau SPD-Fraktion nehmen wir mit Ihrer Billigung zu Proto- Künast persönlich das Verfahren gestoppt, also im letz- (B) 1) (D) koll. ten Moment die Reißleine gezogen. Hat es Vergleichba- (Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: res schon einmal gegeben? Warum hat sie Angst vor ei- Herr Ostendorff hätte seine Rede auch zu Pro- ner Genehmigung? Die fadenscheinige Begründung der tokoll geben sollen! – Helmut Heiderich Ministerentscheidung zeigt mir, dass es dafür noch an- [CDU/CSU]: Er hat ja nur eine fremde Rede dere Gründe geben muss; denn der Auftrag für diese vorgelesen!) Forschung kam schließlich aus ihrem Ministerium. Alle Antworten auf unsere Fragen haben für den plötzlichen Deswegen hat jetzt die Kollegin Christa Reichard von Sinneswandel keine plausible Begründung ergeben. der CDU/CSU-Fraktion als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt das Wort. Denken Sie, es ist Zufall, dass Ende September vori- (Beifall bei der CDU/CSU) gen Jahres eine Versammlung unter grüner Regie in Dresden stattfand und eine Kampagne gegen die Freiset- zung gestartet wurde? Denken Sie, es ist Zufall, dass die Christa Reichard (Dresden) (CDU/CSU): grüne Dresdner Bundestagskollegin Hermenau kurz da- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich be-nach sächsische Spitzenkandidatin der Grünen für die grüße den Antrag der Liberalen zu den Freilandver-Landtagswahl wurde? Zurzeit weisen die Grünen in suchen in Pillnitz und Quedlinburg. Glauben Sie mir: Ich Sachsen stolze 2 Prozent Zustimmung auf. werde nicht tatenlos zusehen, wie in meiner Heimatstadt Dresden ein international führendes Forschungsinstitut (Peter Hettlich [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- durch grüne Willkür gefährdet wird. NEN]: Danke, Christa, super!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Denken Sie, es ist Zufall, dass am 24. Oktober nur eine Peter Hettlich [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: triumphierende Pressemitteilung der sächsischen grünen Oh!) Abgeordneten über eine interne Entscheidung des Minis- Fehlende Akzeptanz bei den Obstbauern und bei der teriums zur Verhinderung der Freilandversuche infor- Bevölkerung soll der Grund sein, Herr Dr. Thalheim. Ich mierte, bevor das Institutin Pillnitz davon überhaupt habe Frau Künast schriftlich gefragt, was sie unternom- Kenntnis erhielt? men hat, um die Akzeptanz der Bevölkerung für die Könnte es vielleicht sein, dass der eigentliche Grund für den Verfahrensstopp vor allem Rückenwind für die 1) Anlage 3 sächsischen Grünen sein soll und dieses Vorgehen von 7942 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 89. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2004

Christa Reichard (Dresden) (A) Anfang an parteiintern abgestimmt war? Frau Ministe- Heute erklärt die Bundesregierung in Gestalt ihrer Parla- (C) rin, das wäre Willkür nach Gutsherrenart. mentarischen Staatssekretärin beim Pflegekongress, dass die Bundesregierung Beitragserhöhungen in der Pflege- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- versicherung nicht ausschließe. neten der FDP – Friedrich Ostendorff [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Sind wir im Sächsi- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Hört! Hört!) schen Landtag, oder was?) Der geplante Zeitzuschlag für Demenzkranke und die Eine von Ideologie und Parteipolitik geprägte Entschei- Dynamisierung der Pflegeleistungen ließen sich nur fi- dung schadet der bundeseigenen Forschung in Dresden nanzieren, wenn es tendenziell höhere Beiträge gebe, so und Quedlinburg, setzt 1,14 Millionen Euro der Steuer- die Parlamentarische Staatssekretärin im Bundessozial- zahler in den Sand und wird die Grünen in Sachsen nicht ministerium, Marion Caspers-Merk. Diese Bundesregie- wieder in den Landtag bringen. rung ist mittlerweile der absolute Inbegriff der Unfähig- Ich danke Ihnen. keit. Anders kann man es nicht sagen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) neten der FDP – Peter Hettlich [BÜNDNIS 90/ Es gibt zwei Gründe, warum wir eine Reform der DIE GRÜNEN]: Warten wir ab!) Pflegeversicherung brauchen. Seit 1999 schreibt die Pflegeversicherung rote Zahlen, bis 1998 verzeichnete Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: sie Überschüsse. Ich schließe die Aussprache. (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Warum?) den Drucksachen 15/1825 und 15/2352 an die in der Ta- gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.Die roten Zahlen haben einen politischen Grund. Das Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann Erste nämlich, was die neue Bundesregierung nach 1998 sind die Überweisungen so beschlossen. tat, ging zulasten der Pflegeversicherung: Im Wege eines Verschiebebahnhofs hat sie die Beiträge, die Bezieher Ich rufe den Zusatzpunkt 6 auf: von Arbeitslosenhilfe an die Pflegeversicherung leiste- Aktuelle Stunde ten, reduziert. Das war der eigentliche Grund, warum auch diese Sozialversicherung in die Krise kam. Es liegt auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU nicht an der Struktur der Pflegeversicherung, dass wir Zukunft der Pflegeversicherung heute über eine Schieflage diskutieren, sondern an der (B) falschen Politik, die in der Pflegeversicherung seit 1999 (D) Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die antrag- betrieben wird. stellende Fraktion hat der Kollege Horst Seehofer. (Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) NEN]: Das ist ein starkes Stück!)

Horst Seehofer (CDU/CSU): Seit April 2001 haben wir zudem ein Urteil des Bun- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen unddesverfassungsgerichts, wonach Familien mit Kindern Herren! Es vergeht mittlerweile keine Woche, in der die- beim Beitrag zur Pflegeversicherung besser gestellt wer- ser Bundesregierung nicht ein gravierender Fehler unter- den müssen. Drei Jahre hatte die Bundesregierung mitt- läuft. Das Stichwort dieser Woche ist die Pflegeversiche- lerweile Zeit. Es gab Gründe, warum sie nicht gehandelt rung. Damit hat die Bundesregierung das zweifelhafte hat und warum sie jetzt das beabsichtigte Handeln wie- Kunststück fertig gebracht, dass nach der Rentenver- der rückgängig macht. sicherung, der Krankenversicherung und der Arbeits- Der erste Grund war und bleibt, dass angesichts von losenversicherung nun auch die Pflegeversicherung in 14 Wahlen in diesem Jahr auch jetzt wieder versucht einer ernsten Krise steckt. Ich bin schon lange in diesem wird, die Wähler zu täuschen. Parlament, aber noch keine Bundesregierung hat es ge- schafft, alle Versicherungszweige gleichzeitig in die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Krise zu führen. Jetzt sage ich Ihnen einmal, was Ihr Fraktionsvorsitzen- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – der Müntefering vor der Bundestagswahl zum selben Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Thema gesagt hat: NEN]: Zu viel der Ehre!) (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Daran erinnert Dienstag erklärte der Bundeskanzler, eine Reform der er sich gar nicht mehr!) Pflegeversicherung komme nicht infrage. Das ist ein ganz fatales Signal: Unser Land kann im Moment alles Wir müssen den Leuten vor der Wahl sagen, wie wir uns vertragen, aber keinen politischen Stillstand. Nach der die Lösung bei der Pflegeversicherung vorstellen. – So Politik der ruhigen Hand kommt nun wohl die Politikäußerte sich Ihr Fraktionsvorsitzender Müntefering vor des Stillstandes. der Bundestagswahl 2002. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ich kann nicht neten der FDP) glauben, dass er das gesagt hat!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 89. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2004 7943

Horst Seehofer (A) Sie haben es nicht gesagt. Sie haben die Wahl abgewar- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (C) tet und anschließend das Konzept erarbeitet, um das es Herr Kollege Seehofer, kommen Sie zum Schluss! in diesen letzten Wochen ging. Jetzt zieht der Bundeskanzler die Entscheidung zur Horst Seehofer (CDU/CSU): Pflegeversicherung zurück, und zwar aus den gleichen Erlauben Sie mir noch eine letzte Bemerkung an die Gründen, die er in all den letzten Jahren vor jeder Wahl Adresse der Koalition. hatte. Vor der Wahl wird schön geredet und nach der Wahl wird das Gegenteil getan. Jetzt geht es wieder da- rum, die dringend notwendige Reform der Pflegeversi- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: cherung wegen der anstehenden Wahl in Hamburg, der Nein, Herr Kollege Seehofer, wir sind in einer Aktu- Wahl zum Europäischen Parlament und vieler anderer ellen Stunde. Das geht nicht. Wahlen in diesem Jahr hinauszuschieben. Erst im Herbst, in der Endphase dieses Jahres, wird man im Horst Seehofer (CDU/CSU): Hopplahopp-Verfahren das Parlament mit diesem Thema Meine Redezeit von fünf Minuten ist um. befassen. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU) Der alleinige Grund dafür ist, der Bevölkerung die Wahrheit vorzuenthalten. Das ist der Grund für Ihr Han- deln. Ihnen ist es völlig gleich, ob Sie die dringend not- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: wendigen Verbesserungen für Demenzkranke und für Das Wort hat die Bundesministerin Ulla Schmidt. Pflegebedürftige ebenfalls auf die lange Bank schieben. Das Erste, was diese Pflegeversicherung braucht, ist Ulla Schmidt, Bundesministerin für Gesundheit und die Umsetzung des Urteils des Bundesverfassungsge- Soziale Sicherung: richts, wonach Kinder erziehende Familien besserzustel- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich len sind. Seit drei Jahren gibt es diesen Auftrag des Bun- bin sehr froh, Herr Kollege Seehofer, dass die Entschei- desverfassungsgerichts. dung des Bundeskanzlers zumindest dazu führt, dass das Thema Pflegeversicherung auch von Ihrer Seite disku- (Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- tiert wird. NEN]: Wie hätten Sie es denn gerne?) (B) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (D) Das Zweite ist, dass wir die Lücken, die die Pflege- DIE GRÜNEN – Lachen und Widerspruch bei versicherung heute noch aufweist, schließen: Wir brau- der CDU/CSU – Wolfgang Zöller [CDU/ chen leistungsrechtliche Verbesserungen für Demenz- CSU]: Ihr habt drei Anträge von uns abge- kranke und müssen die seit 1996 nicht mehr angepassten lehnt! – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist ja Pflegesätze für die ambulanten Stationen – das ist ein Karneval!) Skandal – erhöhen. Beides ist wegen dieser Entscheidung des Bundeskanzlers auf absehbare Zeit nicht möglich. Wir können über vieles reden. Sie haben im Laufe der Zeit so manchen Antrag in den Deutschen Bundestag (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ein Skandal!) eingebracht. Es gibt noch etwas, das wir sehr kritisieren. Es gibt Vieles, über das wir heute diskutieren und das auch auch einen inhaltlichen Fehler. Es gibt bei der Ausgestal- notwendig ist, hat nichts damit zu tun, dass die Pflege- tung des Kinderbonus bzw. der Besserstellung von Kin- versicherung plötzlich in eine Krise gerät. Die finanzi- der erziehenden Familien in der Sozialversicherung viele elle Deckung der Pflegeversicherung ist immer noch ge- denkbare Modelle. Aber, Frau Schmidt, eines kann man geben, aber es besteht Handlungsbedarf. Das ist übrigens nicht machen, nämlich Familien, die in der Vergangen- ein Grund, warum wir die Rürup-Kommission und Sie heit Kinder großgezogen haben und deren Kinder aus die Herzog-Kommission eingesetzt haben: um die Fra- dem Haus sind, jetzt einen höheren Pflegeversicherungs- gen der Finanzierung und der langfristigen Entwicklung beitrag zumuten, wie Sie es beabsichtigt haben. Denn der Pflegeversicherung zu klären. diese Familien hatten niemals den Vorteil eines Kinder- bonus in der Vergangenheit. Die haben die gleichen Bei- (Andreas Storm [CDU/CSU]: Warum machen träge gezahlt wie alle anderen Familien auch. Daher geht Sie das dann nicht?) es nicht, wie Sie beabsichtigt hatten, dass diese Fami- lien, nachdem die Kinder aus dem Haus sind, einen hö- Man sollte in seinen Redebeiträgen immer anständig heren Pflegeversicherungsbeitrag bezahlen. sein und beim Thema bleiben. Als ich in den vergange- nen beiden Tagen die Berichterstattung in den Medien Was immer Sie nach dieser zurückgestellten Entschei- verfolgt habe, hatte ich wiederholt den Eindruck, dass dung überlegen – für eine solche Bestrafung von Fami- ganz Deutschland und auch viele Politiker nach Refor- lien, die in der Vergangenheit Kinder großgezogen ha- men rufen. ben, werden Sie unsere Stimmen nicht bekommen. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Nach wichtigen (Beifall bei der CDU/CSU) Reformen, Frau Ministerin!) 7944 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 89. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2004

Bundesministerin Ulla Schmidt (A) Aber wenn es darum geht, die Reformen umzusetzen, Insofern ist schon damals die Weiterentwicklung be-(C) dann möchte man mit ihren Auswirkungen am liebsten wusst ausser Acht gelassen worden. nichts zu tun haben. Deshalb wäre es redlich gewesen, wenn Sie, Kollege (Beifall bei der SPD – Hartwig Fischer [Göt- Seehofer, die Sie zu den Gründungsvätern dieser Säule tingen] [CDU/CSU]: Basta!) der Sozialversicherung gehören, in diesem Zusammen- Ich denke dabei nicht nur an die aktuelle Gesundheitsre- hang darauf hingewiesen hätten, dass seinerzeit eine De- form. ckelung des Beitragssatzes bei 1,7 Prozent erfolgt ist und dass spätestens jetzt die Zeit gekommen ist, eine Dyna- Es geht auch darum, dass wir, wenn wir Verbesserun- misierung vorzunehmen. Damit hätten Sie uns die Hand gen im Bereich der Pflege vor allem der älteren Genera- gereicht, um die Pflegeversicherung gemeinsam weiter- tion – es gibt durchaus auch jüngere Menschen, die da- zuentwickeln. rauf angewiesen sind, aber hier geht es in erster Linie um die ältere Generation – erreichen wollen, in Deutschland (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Wir haben eine Debatte darüber führen müssen, was uns die Pflege doch Anträge eingebracht! Die haben Sie ab- wert ist und wie wir sie organisieren wollen. gelehnt!) Wenn hier die Wahrhaftigkeit eine Rolle spielen soll, Sie haben in Ihrer Regierungszeit trotz aller Diskus- dann muss der Redlichkeit halber auch anerkannt wer- sionen über den notwendigen Änderungsbedarf bis 1998 den, dass die Pflegeversicherung schon bei ihrer Einfüh- nichts mehr getan. rung mit Mängeln behaftet war. Das ist auch jedem be- Wir haben seit 1998 notwendige Reformen in der kannt. Pflegeversicherung vorgenommen. Ich nenne nur das (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Vierte Gesetz zur Änderung des Elften Buches Sozialge- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) setzbuch, wodurch die häusliche Pflege gestärkt worden ist. Eine Verbesserung ist, dass sich Menschen, die An- Die Mängel zu akzeptieren war unumgänglich, damitgehörige zu Hause pflegen, sich für vier Wochen eine dieser wichtige Zweig der Sozialversicherung eingerich- Ersatzkraft leisten können, um sich zu erholen. Ich tet werden konnte. nenne das Pflegeleistungs-Ergänzungsgesetz, das erst- (Andreas Storm [CDU/CSU]: Ihr habt doch mals – wenn auch nur in begrenztem Rahmen – eine Lö- mitgestimmt!) sung für die Probleme derjenigen bietet, die zu Hause Demenzkranke pflegen. Es gibt nun eine Betreuungs- Ich will das auch nicht kritisieren. Aber so zu tun, als hilfe. Und ich nenne das Pflege-Qualitätssicherungsge- seien die Mängel erst 1998 aufgetreten und als liege es (B) setz. (D) an der rot-grünen Bundesregierung, dass ein fester Bei- tragssatz gesetzlich verankert wurde, wohl wissend, dass Ich möchte auf die Vorschläge des CDU-Parteitags dies jeder tun muss, der ein neues Sozialversicherungs- und der Herzog-Kommission nicht näher eingehen. system einführt, ist unredlich. Auch der Kollege Seehofer hat das nicht getan, weil er eine andere Meinung hat. Nur so viel: Danach wollen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Sie die Pflegeversicherung abschaffen und eine feste DIE GRÜNEN) Kopfpauschale in Höhe von 69 Euro im Monat einfüh- Denn wer Leistungen und Beiträge deckelt, Herr Kol- ren, und zwar für jeden. lege Seehofer, der kalkuliert von Anfang an ein, dass weder die Nachhaltigkeit der Finanzierung gewährleistet (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ werden kann, noch dass die Leistungen in dem ange- DIE GRÜNEN) sichts eines zunehmenden Pflegebedarfs und der demo- Der Kollege Storm, der sich bisher nicht zur Verbesse- graphischen Entwicklung notwendigen Umfang erbracht rung der Leistungen geäußert hat, hat in dieser Woche werden können. Der Redlichkeit halber sollten auchgesagt, man solle für die Entlastung derjenigen, die Kin- diese Tatsachen angesprochen werden. der erziehen, einfach 1,6 Milliarden Euro zur Verfügung (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ stellen. Herr Kollege Storm, ich habe gerade auf der DIE GRÜNEN) Rednerliste gesehen, dass Sie nicht reden werden; das bedauere ich. Ich rede jetzt oft, weil Sie das so erfreut. Bei der Einführung der Pflegeversicherung wurdeIch hätte mir gewünscht, dass Sie heute sagen, welche lange über den Umgang mit Menschen, die demenziell Steuern Sie erhöhen wollen. erkrankt sind, psychisch Kranken und Behinderten so- wie mit Menschen, die eineeingeschränkte Alterskom- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ petenz aufweisen, debattiert. Seinerzeit ist die Entschei- DIE GRÜNEN) dung getroffen worden, zunächst den Einstieg in diese Wollen Sie die Steuerfreibeträge für Feiertags-, Nacht- Versicherung anzugehen, weil bereits die Frage ihrer und Schichtarbeit abschaffen? Wollen Sie die Entfer- Einführung so umfangreiche Debatten mit sich gebracht nungspauschale und die Eigenheimzulage weiter redu- hat wie die heute anstehende Weiterentwicklung der zieren oder wollen Sie e di Mehrwertsteuer anheben? Pflegeversicherung. Herr Kollege Storm, einfach 1,6 Milliarden Euro zu for- (Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Wir reden dern und mir vorzuwerfen, ich würde mich erst in vier von 2004!) Wochen, nach der Wahl zur Hamburger Bürgerschaft, zu Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 89. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2004 7945

Bundesministerin Ulla Schmidt (A) diesem Problem äußern, hat mit Redlichkeit nichts zu rouette gedreht, für die ich Ihnen nur die Bestnote geben (C) tun. kann. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Sie ist ins DIE GRÜNEN) Eis eingebrochen!) Schade, dass Sie in der Aktuellen Stunde keine Zwi-Sie haben viel gesagt, aber nicht, was wirklich passieren schenfrage stellen können. Ich hätte gerne gehört, was wird. Sie haben nichts s al bloße Ankündigungen ge- Sie machen wollen. Auf die Vorschläge der FDP möchte macht; das sind noch lange keine Reformen. ich erst gar nicht eingehen. (Beifall bei der FDP – Dr. Heinrich L. Kolb Wir werden in diesem Jahr das Urteil des Bundesver- [FDP]: Wohl wahr! – Birgitt Bender [BÜND- fassungsgerichts umsetzen, und zwar schnell und fristge- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Was will die FDP in recht. Vieles muss verändert werden. Darüber sollten Sie der Pflegeversicherung? – Dr. Uwe Küster sich aber keine Gedanken machen. Herr Kollege[SPD]: Die FDP wird zum Pflegefall!) Seehofer, ich möchte nur auf eines hinweisen: Man kann Wir wissen nicht, wann in diesem Jahr etwas gemacht darüber diskutieren, ob man den Weg, den die Rürup- wird und was es sein wird. Kommission vorgeschlagen hat – danach ist das Urteil des Bundesverfassungsgerichts so zu verstehen, dass El- Das Defizit der Pflegeversicherung steigt jedenfalls tern in der aktiven Phase der Erziehung zu entlastenseit 1999 unaufhörlich. Betrug das Defizit im Jahre 2002 sind, damit nicht Erziehungsleistungen und finanzielle noch 400 Millionen Euro, so waren es laut Berechnun- Leistungen sowie gleichzeitig hohe Beiträge zur Pflege- gen des VdAK im vergangenen Jahr 500 Millionen versicherung zu erbringen sind –, oder den einfachenEuro. Die Zahlen belegen eindeutig, dass es ohne eine Weg der Entlastung über Steuern oder Beiträge oder den grundlegende Reform der Pflegeversicherung nicht mehr Weg, den ich vorgeschlagen habe – alle zahlen mehr, mit weitergehen kann. Ausnahme der Eltern –, einschlägt. Wer aber meint, dass (Beifall bei der FDP) diejenigen, die nie Kinder erzogen haben, die Entlastung der Eltern in der aktiven Phase der Erziehung zahlenEs gibt zwar noch Rücklagen in Höhe von circa müssten, der vereinfacht die gesellschaftliche Debatte in 5 Milliarden Euro, doch diese werden relativ schnell unzulässiger Weise; denn es gibt viele Menschen, die un- aufgebraucht sein, wenn die Pflegeversicherung jedes gewollt kinderlos sind. Wir werden darüber diskutieren Jahr ein neues Rekorddefizit einfährt. und einen Weg finden. Vergessen Sie nicht die demographische Entwick- (B) Wir werden in dieser Legislaturperiode außerdem die lung: Im Jahre 2020 werden laut Berechnungen(D) notwendigen Schritte unternehmen, um die Versorgung 3 Millionen Menschen in Deutschland pflegebedürftig von Demenzkranken und Menschen mit eingeschränkter sein; bisher sind es fast 2 Millionen. Wir brauchen wirk- Alltagskompetenz zu verbessern. Mit der Reform derlich eine grundlegende Pflegereform, die dem Rechnung Pflegeversicherung soll die ambulante Pflege vor derträgt. Das reine Verschieben einer Reform bedeutet noch stationären gefördert und sollten die Leistungen dynami- lange nicht, dass die Probleme verschoben werden. siert werden, damit auch die ambulanten Pflegedienste (Beifall bei der FDP) ihre Aufgaben wahrnehmen können. Das werden wir an- gehen. Wir werden aber auch diejenigen, die Verantwor- Noch am 22. Oktober, vor gerade einmal drei Mona- tung im Pflegebereich tragen, in die bevorstehendeten, ließ Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt ein breite Diskussion einbeziehen. Eckpunktepapier zur Reform der Pflegeversicherung verbreiten und erklärte – ich zitiere –: Ich wäre sehr froh, wenn auch Sie sich daran beteili- gen würden; denn wenn ich Sie richtig verstanden habe, Mit diesem Konzept beweist die Bundesregierung dann wollen auch Sie Veränderungen. Wenn der Kollege auch in diesem Bereich, dass Reformen rasch … Storm uns dann noch sagt, woher die 1,6 Milliarden auf den Weg gebracht werden. Die Weiterentwick- Euro kommen sollen, sind wir schon einen Schritt wei- lung der Pflegeversicherung ist Teil der Rundum- ter. Erneuerung der sozialen Sicherungssysteme und damit auch Teil der Agenda 2010. Vielen Dank. Der Bundeskanzler sagte am 25. Oktober – nur drei Tage (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ danach – in einem Interview der SPD-Postille „Vor- DIE GRÜNEN) wärts“: Es gibt ganz einfach objektive Probleme, die gelöst Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: werden müssen. Und diese Probleme lassen uns Das Wort hat jetzt der Kollege Daniel Bahr von der keine Ausrede: Wir müssen handeln. FDP-Fraktion. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: In der Tat!)

Daniel Bahr (Münster) (FDP): Der Kanzler hat Recht. Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle- Die demographische Entwicklung und der steigende gen! Frau Ministerin Schmidt, Sie haben gerade eine Pi- Pflegebedarf lassen der Regierung keine Zeit zu warten. 7946 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 89. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2004

Daniel Bahr (Münster) (A) Sie können vielleicht die Pflegereform verschieben; die (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist immer (C) Probleme können Sie nicht verschieben. Das, was Sie noch richtig und wird von Tag zu Tag richti- betreiben, ist keine verlässliche Politik zum Wohle der ger!) Bürger. Sie verfolgen einen Zickzackkurs. Die Regie- Sehenden Auges haben Sie trotzdem mit der CDU/CSU rung hat anscheinend kein Konzept für die Pflege. Der zusammen diese Reform – gegen den Willen der FDP – Regierung fehlen offenbar der Mut und die Kraft für eine leider durchgesetzt. Es war damals für eine kleine Partei wirkliche Pflegereform. wie die FDP schwierig, sich gegen die beiden Blöcke (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten von Unverständnis und Uneinsichtigkeit durchzusetzen. der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP) Ich habe heute im Ticker gelesen, dass Regierungs- Das jetzige Umlageverfahren in der Pflegeversiche- sprecher Anda gesagt hat, Einzelheiten der geplantenrung ist zum Scheitern verurteilt. Wir brauchen eine ka- Reform sollten nun mit Experten geklärt werden. Was pitalgedeckte Säule für die private Eigenvorsorge. Das, haben Sie denn bisher gemacht? Sind die Eckpunktewas wir alle gemeinsam für die Alterssicherung erkannt etwa nicht mit Experten abgestimmt worden? War die haben, dass wir sie nämlich nicht allein auf dem Umla- Rürup-Kommission etwa keine Expertenkommission? geverfahren aufbauen können, muss doch Anlass für uns (Beifall des Abg. Jürgen Koppelin [FDP] – sein, jetzt bei der Pflegeversicherung umzusteuern und Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Die Frage ist be- auf Kapitaldeckung zu setzen. rechtigt!) Ich will auch noch etwas zur Ungleichbehandlung Was Sie dort machen, ist Hickhack. Was Sie vorlegen, ist von Familien und Kinderlosen sagen: Durch die jetzt kein Konzept. Ich sage Ihnen voraus: Das reine Ver-diskutierte Freibetragsregelung für Erziehende wird dem schieben – das machen Sie jetzt –, das reine Warten auf System erneut Geld entzogen, sodass nunmehr die Re- Lösungen wird dazu führen, dass es weiter Rationierun- serven der Pflegeversicherung noch schneller abschmel- gen der Pflege geben wird, dass die Rücklage weiter auf- zen werden als vorher. Dadurch wird es unmöglich, die gebraucht wird und dass am Ende gestiegene Beiträge Beiträge über 2006 hinaus konstant zu halten. Auch der stehen werden. Das ist unverantwortlich! ursprünglich geplante Strafzuschlag von 2,50 Euro für Kinderlose, der jetzt vom Tisch sein soll, war doch auch (Beifall bei der FDP) nichts anderes als eine verkappte Beitragserhöhung für Die Resonanz auf die Äußerungen des Bundeskanz- alle, mit Ausnahme der Kindererziehenden. Von Entlas- lers war eindeutig: Unverständnis und Ablehnung auf al- tung der Familien kann nun wirklich nicht die Rede sein. (B) len Seiten. Rürup, der Leiter der von der Bundesregie- (Beifall bei der FDP) (D) rung eingesetzten gleichnamigen Kommission, bedauert den Aufschub der geplanten Reform der Pflegeversiche- Frau Ministerin Schmidt, sagen Sie doch, dass Sie rung mit den Worten: nicht umhinkommen, die Beiträge zu erhöhen, statt die- ses Hickhack zu veranstalten! Haben Sie den Mut zu ei- Die Regierung hat sich ein bisschen Zeit gekauft, ner wirklichen Reform! Die Unterstützung der FDP für aber der Reformbedarf wird jetzt größer. eine wirklich grundlegende Änderung der Pflegeversi- Die Kirchen sprechen von der „Pflege als Pflegefall“. cherung mit dem Ziel der Einführung des Kapitalde- Auch aufseiten der Regierungskoalition wurden die Of- ckungsverfahrens hätten Sie. fenbarungen des SPD-Vorsitzenden mit Erstaunen zur Herzlichen Dank. Kenntnis genommen. (Beifall bei der FDP – Dr. Heinrich L. Kolb Meine Damen und Herren von den Grünen, ich bin [FDP]: Aber nur dafür!) einmal gespannt, ob auf die vollmundigen Versprechen, die heute in der Zeitung zu lesen waren, auch Taten fol- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: gen werden, ob Sie die SPD bei diesem Thema zur Rede Das Wort hat jetzt die Kollegin Petra Selg vom Bünd- stellen werden. nis 90/Die Grünen. Die Position der FDP zur Reform der Pflegeversiche- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Jetzt kommt die rung ist klar und deutlich: Das jetzige System ist so nicht Wahrheit, nichts als die Wahrheit!) mehr haltbar. Wir müssen eine tief greifende Reform der Pflege angehen. Kernpunkt einer Reform muss der Auf- bau eines Kapitaldeckungsverfahrens wie bei der Alters- Petra Selg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): sicherung sein. Sehr geehrter Präsident! Meine Damen und Herren! Ich sage nichts als die Wahrheit. Aber, lieber Herr Bahr, ( [CDU/CSU]: Jetzt ich kann Ihnen versichern: Ihre Vorschläge zur Umstel- kommt die Katze aus dem Sack! Die alte lung auf ein Kapitaldeckungsverfahren werden wir nicht Leier!) brauchen. – Herr Schmidbauer, die Probleme, vor denen wir ste- Herr Seehofer, ich denke, Sie hatten Recht, als Sie hen, sind nicht neu. Die FDP hat schon Mitte der 90er- vorhin sagten, dass es in jeder Sitzungswoche eine Aktu- Jahre genau gesagt, dass das Umlageverfahren vor die- elle Stunde zu den notwendigen Reformen gibt. Letztes sen Problemen stehen wird. Mal drehte die FDP Pirouetten zur Gesundheitsreform, Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 89. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2004 7947

Petra Selg (A) heute drehen Sie Pirouetten zur Pflegeversicherungsre- Für alles andere, was Sie vorschlagen, um die beste- (C) form. henden Probleme in der Pflegeversicherung zu lösen – die Versorgung Demenzkranker, die Dynamisierung, (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Moment ein- der Aufbau einer Kapitaldeckungsreserve usw. –, brin- mal! Verwechseln Sie da nicht etwas?) gen Sie keinen einzigen Finanzierungsvorschlag oder – Nein, ich verwechsle nichts, Herr Zöller, leider nicht. aber Sie sagen einfach: über Kapitaldeckung. (Andreas Storm [CDU/CSU]: Da haben Sie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mitgedreht!) und bei der SPD) Das bisher Vorliegende zur Reform der Pflegeversi- Die Finanzierung Ihrer Vorschläge ist völlig offen. Ich cherung – das kann ich sagen – waren wertvolle Bau- schlage Ihnen vor, erst einmal in Ihren beiden Parteien steine, die, wie Sie zu Recht gesagt haben, zu erhebli- ein Synopse zu erstellen und dann zu schauen, was zu- chen Verbesserungen in diesem wichtigen Zweig führen sammenpasst. Dann werden Sie feststellen, dass nichts werden. So wird endlich der ambulante Sektor gegen- zusammenpasst. über dem stationären Sektor gestärkt. Wir alle wissen aber, dass der stationäre Sektor wieder erheblich zu- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nimmt. Deshalb bedarf es dringend einer Änderung. Es und bei der SPD) werden auch wesentliche Verbesserungen für die Pflege- Wie schon in der Pflegeversicherung geht es inner- bedürftigen, insbesondere für die Demenzkranken, und halb der CDU/CSU auch bei anderen Dingen nicht zu- die Angehörigen erzielt; dies bezieht sich auch auf die sammen: Weder bei der Rente noch bei der Gesundheit, Dynamisierung. Nur weil es bei einem einzigen Baustein geschweige denn bei der Steuer gibt es gemeinsame in diesem System unterschiedliche Auffassungen gibt, Konzepte. Es ist immer so, dass der eine dies vorlegt, der nämlich wie die Finanzierung dieses Reformprozesses andere jenes. Ich rate Ihnen, den Artikel „In Zwietracht erfolgen soll, speziell die Ausgestaltung der Regelungen vereint“ in der heutigen Ausgabe der „Süddeutschen für Kindererziehende – natürlich muss man sich dasZeitung“ zu lesen: noch einmal genau ansehen und darüber diskutieren –, rufen Sie und mit Ihnen auch gleich die Medien wieder Die Bayern-Truppe ist fest überzeugt, dass die „Reformstopp!“, „Ruhige Hand!“ oder auch „Zitternde „Brachialreformer“ der CDU die Menschen ab- Hand!“. schrecken und so die Wahl 2006 schon jetzt in den Sand setzen. (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Wer hat das denn gesagt?) In der CDU wiederum wollen sich maßgebliche (B) (D) – Das sind alles Zitate. Kräfte nicht mehr von der CSU bremsen lassen, die sie als eine „Nostalgo-Wessi-Partei“ empfinden, … Das, was Sie hier betreiben, auch das, was Herr Seehofer gesagt hat, trägt nicht dazu bei, die Probleme Ich schlage Ihnen vor: Einigen Sie sich erst einmal auf tatsächlich zu lösen. Sie führen weiter eine Bürgerverun- realisierbare und finanzierbare Konzepte! Wir werden sicherungsdebatte erster Klasse. Dabei haben Sie nicht das innerhalb dieser Legislaturperiode tun und eine Lö- nur einen Vorschlag für die Lösung der Probleme in der sung innerhalb der Pflegeversicherung vorschlagen. Pflegeversicherung. Nein, Sie haben gleich zwei. Ich (Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: finde es ganz spannend, dass es innerhalb einer Partei Wenn Sie so weitermachen, sind Sie bald beim gleich zwei Lösungsvorschläge gibt. halben Mehrwertsteuersatz! – Wolfgang Zöller ( [CDU/CSU]: Wir sind zwei Par- [CDU/CSU]: Wie wollen Sie das finanzieren?) teien!) Angesichts all der Probleme – Dynamisierung, Demenz- Das Problem ist nur: Sie passen nicht zusammen. erkrankte, ambulante und stationäre Pflege – ist das drin- gend notwendig. Wir werden uns auch über eine nach- (Dr. Uwe Küster [SPD]: Vielfalt – oder Ein- haltige Finanzierung der Pflegeversicherung und ebenso falt?) darüber Gedanken machen, wie Kindererziehende ent- Heute Morgen habe ich Herrn Seehofer im Fernsehen lastet werden können. gesehen. Er hat wie immer, auch hier, die Schwierigkei- (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Gedanken sol- ten und die Defizite in der Pflegeversicherung par excel- len Sie sich machen, aber nicht nur! Sie den- lence beschrieben und gesagt, dass Eltern immer Eltern ken schon seit sechs Jahren!) bleiben und sie deswegen nach der Erziehungsphase nicht mehr belastet werden dürften. Gleichzeitig sagt er, – Nein, das tun wir nicht seit sechs Jahren, Herr Zöller. dass das Ganze nicht über Steuern zu finanzieren sei. Man müsse vielmehr nach einem Lösungsweg innerhalb (Jens Spahn [CDU/CSU]: Eben! Das ist auch des Systems suchen. – Dann habe ich gelesen, dass Herr das Problem!) Storm 10 Euro pro Kind vorgeschlagen hat. Dies soll Wenn Sie Vorschläge einbringen, dann gestalten wir aber nicht innerhalb des Systems finanziert werden, son- diese gern mit. dern über Steuern. Ich frage mich: Wie wollen Sie diese 1,6 Milliarden Euro finanzieren? Ihre beiden Konzepte (Zuruf von der CDU/CSU: Wer regiert denn passen überhaupt nicht zusammen. hier?) 7948 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 89. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2004

Petra Selg (A) Solange Sie sich aber nicht darüber einigen können, über In unserem Land fehlen – so hat der Bund der Pflege- (C) was Sie eigentlich reden und wie Sie in diesem Lande versicherten ausgerechnet – 135 500 Pflegerinnen und was reformieren wollen, Pfleger. Jedem ist wohl klar, dass dieser Mangel an Pfle- gepersonal nicht durch weitere Arbeitsverdichtung be- (Andreas Storm [CDU/CSU]: Sie können das seitigt werden kann. Wir brauchen also mehr Geld für an uns abgeben!) die Pflege der Pflegebedürftigen. muss ich Ihnen sagen: Machen Sie erst einmal Ihre Allerdings geht das nicht so, wie sich die Regierung Hausaufgaben! das vorgestellt hat. Es kann doch nicht sein, dass Frauen, die Kinder großgezogen haben, dann, wenn die Kinder (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN aus dem Haus sind, extra zur Kasse gebeten werden und und bei der SPD – Wolfgang Zöller [CDU/ höhere Beiträge in die Versicherung einzahlen müssen. CSU]: Wer regiert denn? Habt ihr das schon Was die SPD jetzt will, nämlich die Reform der Pflege- mitbekommen?) versicherung verschieben, nur weil ihre Umfragewerte im Keller sind, Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Petra Selg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch. Kappes! – Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Das verbessert die Umfragewerte nicht!) Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos): das kann ja wohl auch keine Lösung sein. Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- ren! Sehr geehrte Gäste! Ich bin Abgeordnete der PDS. Wir von der PDS fordern eine dauerhafte Entlastung der Menschen, die einen großen Teil ihrer Lebenszeit in (Dr. Uwe Küster [SPD]: Das ist aber nicht kor- die Erziehung ihrer Kinder gesteckt haben. Wir schlagen rekt! Das wissen Sie! – Zuruf von der CDU/ auch für die Pflegeversicherung den Weg einer solidari- CSU: Das hätten wir so gar nicht gemerkt!) schen Bürgerversicherung vor – das hat heute ja bei schon einem anderen Tagesordnungspunkt eine Rolle Nach meinem Dafürhalten wird in dieser Debatte zu gespielt – und dazu die Einführung einer Wertschöp- viel über Zahlen gesprochen und zu wenig über die Men- fungsabgabe. schen, die gepflegt werden, und die Menschen, die pfle- gen. Ich habe mehrere Pflegeheime besucht und mit (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) Pflegerinnen gesprochen. Sie klagten über die unerträg- Wenn diese Vorschläge umgesetzt würden, wäre auch liche und täglich zunehmende Bürokratie. Jeder Hand- die Pflegeversicherung gut zu finanzieren. (B) griff muss aufgeschrieben werden. Alles muss dokumen- (D) tiert werden. Die Pflegerinnen verbringen zu viel Zeit (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) mit Formularen und zu wenig Zeit mit den pflegebedürf- tigen Menschen. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt die Kollegin Verena Butalikakis (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) von der CDU/CSU-Fraktion. Meine Damen und Herren, Sie haben mit Ihren Geset- zen und Verordnungen den Fordismus aus dem letzten Verena Butalikakis (CDU/CSU): Jahrhundert in die Pflege eingeführt. Doch hier werden Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! keine Autos im Minutentakt zusammengeschraubt, son- „Die Berücksichtigung der Demenzkranken ist auf Eis dern hier geht es um Menschen. gelegt“ – so lautet das Fazit eines Bundesverbandes für soziale Dienste, nachdem der Kanzler die Reform zur Nun hat Frau Bundesministerin Schmidt einen runden Pflegeversicherung gestoppt hat. Tisch zur Pflege mit 80 Personen installiert, der bis 2005 Vorschläge zum Bürokratieabbau erarbeiten soll. Hier (Zuruf von der SPD: Sie hätten den Anfang umschreiben müssen!) soll also die Bürokratie über den Abbau der Bürokratie beraten. Das ist ein wirklich aussichtsloses Unterfangen. Dagegen verkündet der Kollege Schmidt, immerhin Par- lamentarischer Geschäftsführer der SPD-Fraktion, in der Wir von der PDS fordern einen Abbau der Bürokratie Presse, dass noch in diesem Jahr eine Neuregelung für und eine Stärkung der Selbstverantwortung der Pflege- die Betreuung Demenzkranker angestrebt wird. einrichtungen. Wir wollen weg vom unpersönlichen Sachleistungsprinzip und hin zu personenbezogenen (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Was denn nun?) Budgets. Wir wollen den Pflegebedürftigen und dem Die Aussagen von heute waren auch nicht erhellend. Pflegepersonal die Möglichkeit geben, die Pflegedienst- Wenn ich das richtig verstanden habe, hat die Bundesmi- leistung nach ihren persönlichen Bedürfnissen abzustim- nisterin gesagt: Ja, wir werden etwas für die Demenz- men. Wenn nur dieser eine Vorschlag umgesetzt würde, kranken tun. – Frau Selg, von der ich eine Aussage dazu würde man bei der Verwaltung sehr viel Geld sparen und erwartet habe, erging sich eher darin, Zitate aus der auch dazu beitragen, dass die direkt Betroffenen mit der Presse über die CDU und die CSU zu bringen, was ja für Pflege und mit ihrer Arbeit persönlich wesentlich zufrie- uns ganz gut ist, aber in der Sache natürlich nicht weiter- dener sind. führt. (Beifall der Abg. Petra Pau [fraktionslos]) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 89. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2004 7949

Verena Butalikakis (A) Von den 1,2 Millionen Menschen mit einer demen- Zeitzuschlages von 30 Minuten bei deren Betreuung(C) ziellen Erkrankung, wie zum Beispiel der Alzheimer-wollen. Krankheit, werden derzeit 600 000 durch die Leistungen (Erika Lotz [SPD]: Freut euch doch!) der Pflegeversicherung nicht ausreichend unterstützt. Ich glaube, dass wir uns alle darin einig sind, dass wir hier Nur die Erklärung, woher denn nun plötzlich diese etwas tun müssen. Diese Menschen und die mitbetroffe- 2 Milliarden DM, heute rund 1 Milliarde Euro, kommen nen Angehörigen haben ein Recht auf klare Aussagen; sollen, fehlt. diese wurden bisher aber nicht getroffen. Nun könnte man sagen, man greift auf die Rücklage (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) zurück. Aber bei einer Finanzierung aus der Rücklage können die Verbesserungen für demenziell erkrankte Deshalb wollen wir einmal etwas Licht in die rot-grü- Menschen nur über zwei Jahre finanziert werden. Aber nen Aussagen bringen und auf die jüngere Geschichte vielleicht wollen Sie uns auch wieder eine Minilösung eingehen. Bisher wurde immer auf frühere Zeiten ver- anbieten, wie wir sie seit 2002 haben, nämlich 1,26 Euro wiesen. Im Oktober 2000 erklärten die Fraktionen von pro Tag: Das war eine unheimliche Unterstützung; das SPD und Bündnis 90/Die Grünen in ihrem Antrag „Wei- hat sehr geholfen, die Betreuung von demenziell er- terentwicklung der sozialen Pflegeversicherung“ – ich krankten Menschen zu verbessern. – Natürlich verhält es zitiere –: sich nicht so. Für Leistungsverbesserungen stehen in der Pflege- Nein, meine Damen und Herren von den Koalitions- versicherung maximal jährlich 500 Millionen DM fraktionen, Sie geben hier leere Versprechungen ab. Das zur Verfügung. … Dieser Finanzspielraum lässtist absolut unredlich. eine Lösung nicht zu, nach der bei Dementen bei der Feststellung der Pflegebedürftigkeit der Hilfe- Genauso wird es auch von den Betroffenen gesehen, bedarf der allgemeinen Beaufsichtigung und Be- denn auch diese können rechnen. Die Deutsche Alzhei- treuung mit 30 oder 40 Minuten täglich im Rahmen mer-Gesellschaft beklagt in ihrer heutigen Presseerklä- der Grundpflege zu berücksichtigen wäre. Die da- rung, dass mit dem Stopp der Strukturreformen der Pfle- mit verbundenen Mehrausgaben, die bei den ge-geversicherung auch die Demenzkranken „wieder außen nannten Zuschlägen nach Schätzungen des zustän- vor“ sind. Sie haben erkannt: Wo kein Geld ist, von da digen Bundesministeriums für Gesundheit sogar bei kann auch keine Hilfe kommen. mindestens 2,5 Milliarden DM jährlich liegen, sind Deshalb fordere ich Sie im Namen der CDU/CSU- mit dem gesetzlich festgelegten Beitragssatz von Fraktion auf: Belügen Sie nicht die Menschen, die am 1,7 vom Hundert nicht zu finanzieren. nötigsten und vor allen Dingen schnell Hilfe benötigen. (B) (D) Als die CDU/CSU-Fraktion im März 2001 – viel- (Petra Selg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: leicht sollten Sie jetzt einmal zuhören, Frau Bundes- Nein, das werden wir nicht tun!) ministerin; Sie sagen ja immer, wir hätten nichts getan – Wir brauchen dringend und schnell eine grundlegende (Ulla Schmidt, Bundesministerin: Ich höre Reform der Pflegeversicherung, um gerade auch an De- zu!) menz erkrankten Menschen in diesem Land helfen zu können. die Versorgung der Demenzkranken durch Bezahlung von zusätzlichen 30 Minuten beim allgemeinen Hilfe- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) und Betreuungsaufwand verbessern wollte, hat die rot- grüne Regierungskoalition mit genau der eben zitierten Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Begründung dieses abgelehnt, obwohl das Konzept eine Das Wort hat jetzt die Kollegin Erika Lotz von der tatsächliche, damals auch noch mögliche Gegenfinanzie- SPD-Fraktion. rung vorsah. Das heißt, wir haben Vorschläge gemacht, wie man 2,5 Milliarden DM tatsächlich aufbringen kann, Erika Lotz (SPD): um die Bedingungen für Demenzkranke zu erleichtern. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Wir alle wissen, dass eine sachliche Debatte über die Zu- neten der FDP) kunft der Sozialsysteme in unserer Gesellschaft notwen- dig ist. Ob diese Aktuelle Stunde zu einer Klärung bei- Laut Plenarprotokoll wurde der Vorschlag damals als tragen wird, liegt letztendlich an uns allen; aber „absolut unredlich“ vonseiten der SPD beschimpft.angesichts der bisherigen Debatte sind da Zweifel ange- Heute, noch nicht einmal drei Jahre später, steht die Pfle- bracht. geversicherung finanziell schlechter da – die Ausfüh- rungen dazu haben wir ja teilweise schon gehört und das (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Bundesverfassungsgerichtsurteil zur Entlastung von El- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) tern muss umgesetzt werden und das kostet 1,6 Milliar- Ich hatte heute Morgen – das sage ich, weil es mich den zusätzlich. Aber der Kanzler verbietet eine Reform. schon seit Stunden drückt – das zweifelhafte Vergnügen, Sie, Herr Seehofer, im „Morgenmagazin“ zu sehen. Genau heute, in dieser Situation, hören wir aus den Reihen der Koalitionsfraktionen Ankündigungen, dass (Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sie Verbesserungen für Demenzkranke in Form eines NEN]: Das ist gesundheitsschädlich beim 7950 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 89. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2004

Erika Lotz (A) Frühstück! – Dr. Uwe Küster [SPD]: Gesund- Einzelne Vorschläge werden auch öffentlich diskutiert (C) heitsschädliches Fernsehen!) und kommentiert, auch um die gesellschaftliche Akzep- tanz auszuloten. Die Pflegeversicherung war ein Thema bei diesem Inter- view. Aber, Herr Seehofer, wie Sie sich bei der Frage zu (Andreas Storm [CDU/CSU]: Zwei Tage nach den Praxisgebühren und der Unruhe in der Bevölkerung der abgesagten Sondersitzung!) einen weißen Fuß gemacht haben und die Schuld auf das Ministerium geschoben haben, war für mich sehr enttäu- Sie brauchen nicht so zu tun, als ob Sie dieses Geschäft schend; denn Ihre Haltung ist sonst eine andere. nicht verstehen würden. Ich brauche mir nur Ihre Vor- schläge beispielsweise zur Steuerpolitik anzusehen: ein- (Horst Seehofer [CDU/CSU]: Ist das Problem mal so, ein anderes Mal so. Auch das war doch wahr- gelöst?) scheinlich ein Ausloten. Sonst müsste man das Ich finde es ungeheuerlich; es ist einfach nicht seriös, vermutlich mit etwas viel Schlimmerem bezeichnen. was Sie dort gemacht haben. (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Reden Sie (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ doch zur Pflege!) DIE GRÜNEN – Dr. Uwe Küster [SPD]: Herr Die politische Entscheidung wird getroffen und auf Seehofer, zeig her die Füßchen!) den Weg gebracht. Warum also jetzt die Aufregung? Wir Zur Seriosität will ich noch etwas sagen: Sie beklagen ziehen doch keinen Gesetzentwurf zurück. Sie tun so, als hier das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, nach dem ob es ein Gesetz gegeben hätte, das wir jetzt zurückzie- Familien, die Kinder erziehen, bei der Beitragsaufbrin- hen würden. gung anders gestellt, entlastet werden sollen. Aber dieses Urteil gibt es seit drei Jahren und es bezieht sich auf ei- Nichts drängt uns, die Novellierung der Pflegeversi- nes Ihrer Gesetze. cherung im Hauruckverfahren durchzuziehen. Wir wer- den uns das in Ruhe anschauen. Panikmache ist nicht an- (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das haben wir gebracht. Ältere Bürger werden durch eine solche gemeinsam beschlossen!) Panikmache unnötig verunsichert. Die Pflegeversiche- rung hat noch Rücklagen in Milliardenhöhe. – Wir haben es gemeinsam beschlossen, aber letztend- lich ist es Ihr Gesetz. (Jens Spahn [CDU/CSU]: Die müssen wir wahrscheinlich erst einmal aufbrauchen, bevor (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Lachen Sie etwas tun!) (B) bei der CDU/CSU – Andreas Storm [CDU/ (D) CSU]: Frau Lotz, da waren Sie aber auch Wir haben auch genügend Zeit, uns über die Notwendig- schon besser!) keiten, die zweifellos bestehen, im Bereich der Demenz- erkrankungen und über die Dynamisierung der Pflege- Sie sagen, die Kasse sei gut gefüllt gewesen. Ver- leistungen zu verständigen. Ebenso müssen wir uns schweigen Sie dabei aber bitte nicht, dass bei der Ein- anschauen, ob die Gewichtung von ambulant und statio- führung sowohl der ambulanten wie auch der stationären när richtig ist. Pflege jeweils drei Monatsbeiträge ohne Gegenleistung erhoben worden sind. Daher rührt das. Wenn wir darüber (Jens Spahn [CDU/CSU]: Wann denn?) diskutieren, was notwendig ist und wie die Kassenlage in der Pflegeversicherung aussieht, dann müssen wir Das werden wir alles in Ruhe mit den Fachleuten dis- auch das betonen. kutieren. Sie sind herzlich dazu eingeladen, Ihren Sach- verstand einzubringen. Lassen Sie uns die Menschen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nicht weiter verunsichern! Wir wissen alle, dass wir im DIE GRÜNEN) Bereich der Sozialversicherung schwierige Probleme zu Es ist richtig: Wir müssen das Urteil umsetzen. Dazu lösen haben. ist Zeit bis zum Jahresende. Richtig ist auch: Wir werden (Jens Spahn [CDU/CSU]: Sagen Sie das ein- es umsetzen. mal der Regierung!) (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Was denn?) Zu dem, was wir miteinander beschlossen haben, sollte Da das kein ganz einfacher Vorgang ist, werden wir uns man – dieser Appell geht an Sie, Herr Seehofer – auch darüber noch einmal mit Fachleuten beraten; wir werden stehen. über die Vorschläge mit den Kolleginnen und Kollegen Fachpolitikern diskutieren und dann zu einer Lösung Danke schön. kommen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ich denke, es gehört zum üblichen Ablauf politischer DIE GRÜNEN) Willensbildung, dass Bundesregierung und Fraktionen dies miteinander beraten. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Dass der Kanzler Das Wort hat die Kollegin Hildegard Müller von der persönlich so etwas stoppt, ist nicht üblich!) CDU/CSU-Fraktion. Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 89. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2004 7951

(A) Hildegard Müller (CDU/CSU): uns kritisiert, nur weil wir die Notwendigkeit für Verän- (C) Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undderungen – im Übrigen vorund nach Wahlen – immer Herren! Die Bundesregierung führt in letzter Zeit zwei wieder betont haben! Jetzt sprechen Sie davon, weitere Begriffe sehr gerne im Mund. Der eine ist InnovationBelastungen seien den Menschen nicht zumutbar. Nicht und der andere ist Nachhaltigkeit. In Bezug auf die Pfle- zu handeln und feige vor den Herausforderungen zu- geversicherung handelt die Bundesregierung im Moment rückzuweichen, das ist die größte Belastung für die jedoch weder innovativ noch nachhaltig. Menschen. (Beifall des Abg. Andreas Storm [CDU/CSU]) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Denn weder die bisherigen Pläne aus dem HauseVon Innovation keine Spur. Die Zeit drängt; das sagen Schmidt noch das Veto des Bundeskanzlers erfüllen die alle Experten. Die Rürup-Kommission scheint nur vor von Ihnen selbst gestellten Ansprüche. der Veröffentlichung der Ergebnisse mit Experten be- setzt gewesen zu sein. Nach dem Vorliegen der Ergeb- So zeugt das Veto des Bundeskanzlers und die von nisse war das anscheinend nicht mehr der Fall. Die Vor- der Sozialministerin gerade einmal in Aussicht gestellte schläge der Rürup-Kommission zum Beitragsbonus sind Minimalentlastung der Erziehenden innerhalb des bishe- im Übrigen identisch mit unseren Vorschlägen. Ich weiß rigen Systems der Pflegeversicherung – wir wissen aber also nicht, was Sie uns hier erzählen wollen. immer noch nicht, wann und wie – nicht gerade von in- novativem Schaffen. Jetzt auf eine wirkliche Reform der Pflegeversiche- rung zu verzichten ist der falsche Weg und wäre fatal. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Wenn wir nur bei den Erziehenden entlasten und alle Dies ist nicht nachhaltig; denn es wurdenübrigen und Beitragszahler nicht zusätzlich belasten möch- werden – so eine Definition von Nachhaltigkeit – weder ten, dann geht das nur, wenn Sie entweder auf das Fi- die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt noch wirdnanzpolster der Versicherung zurückgreifen oder wenn durch das, was Sie hier vortragen, das Risiko umgangen, die Mittel aus dem ebenfalls klammen Bundeshaushalt die Ansprüche künftiger Generationen nicht mehr befrie- kommen. Das ist Flickschusterei. Sagen Sie das den digen zu können. Menschen! Es sieht so aus, als würde die Pflegeversicherung, wie Die künftige Finanzierung der Pflegeversicherung ist andere Sozialsysteme leider auch, weiter in die Pleitegefährdet; denn der Anteil der Leistungsbezieher wird steuern. Dies ist jetzt keine höhnische Kritik der Oppo- weiter steigen. Die ambulante Pflege in den Familien sition. Denn Kronzeugin hierfür ist die Kollegin Bender wird allein aus demographischen Gründen kaum noch (B) vom Bündnis 90/Die Grünen. möglich sein. Sie müssen heute handeln. Diese Entwick- (D) lung wird zu massiven Beitragssatzsteigerungen führen, (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Aha!) selbst wenn man davon ausgeht, dass wegen der höheren Sie hat, wenn die „Frankfurter Rundschau“ sie richtig zi- Lebenserwartung die Pflegebedürftigkeit künftig in ei- tiert hat – dazu dürften Sie, Frau Kollegin Bender, gleich nem höheren Alter eintritt. Stellung nehmen –, zu den Kanzlerplänen so treffend, Es ist deshalb meines Erachtens ein Fehler, wenn wir wie ich finde, bemerkt: Wenn man nur die Entlastung die Pflegeversicherung weiter so eng an die immer dün- der Kindererziehung umsetzt und keine weiteren Refor- ner werdende Basis der abhängigen Beschäftigung kop- men, dann drohen die Reserven auf null zu fahren. Dem peln. In meinen Augen ist bei der Finanzierung eine Ab- ist nichts hinzuzufügen. kehr von diesem Vorgehen erforderlich. Wir müssen (Beifall bei der CDU/CSU und ergänzend der zur Umlage – nicht als Ersatz – kapitalge- FDP – Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Recht deckte Elemente stärken – das wissen wir alle, die wir hat sie!) hier im Deutschen Bundestag sind –, etwa durch die Bil- dung von Rückstellungen. Es ist höchste Zeit, diese Experten rechnen schon jetzt damit, dass die Reser- Rückstellungen aufzubauen; denn ohne den Aufbau ei- ven angesichts der steigenden Zahl von Leistungsemp- nes Kapitalstocks werden die Kosten der Pflege bald zur fängern 2007 aufgebraucht sein werden. Einer dieser Ex- untragbaren Last. Dies würden die Menschen in diesem perten ist übrigens der Vorsitzende der SPD-Fraktion. Er Land noch weniger verstehen als 2,50 Euro mehr Bei- hat das nicht nur vor den Wahlen gesagt, sondern auch trag. vor 14 Tagen auf einer rot-grünen Klausurtagung in Leipzig. Vielleicht hätten Sie zuhören sollen, was er dort Vor dieser Frage drückt sich aber nicht nur der Kanz- zu sagen hatte, nämlich dass die Reserven spätestens in ler mit seinem Veto, sondern auch die Koalition mit allen drei Jahren aufgebraucht sein werden. ihren bisherigen Vorschlägen. Es ist immer das beliebte Spiel: Sie warten auf unsere Vorschläge. Alle drei Oppo- Es besteht also erhöhter Handlungsbedarf. Frau Mi- sitionsparteien haben wenigstens Vorschläge zu diesem nisterin, bis vor zwei Wochen sahen Sie das noch ge-Thema. Man kann zwar anderer Meinung sein, aber Sie nauso. Jetzt scheint es aber so zu sein, als habe der Herr haben noch nicht einmal eigene Vorschläge. Bundeskanzler angesichts der bevorstehenden Wahl- kämpfe seine alte Politik der ruhigen Hand, die immer (Beifall bei der CDU/CSU und der schon sehr „erfolgreich“ war, wiederentdeckt. Jetzt rächt FDP – Widerspruch der Abg. Gudrun Schaich- sich sein Populismus vor den Wahlen. Was haben Sie Walch [SPD]) 7952 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 89. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2004

Hildegard Müller (A) Sie müssen die Menschen bei den Reformen mitneh- (Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Das ist (C) men und nicht in Basta-Manier notwendige Reformen morgen schon wieder vorbei!) verschieben. Der Ärger der Bevölkerung über Sie, Ihr Die Ausgestaltung im Einzelnen ist diskussionsbedürftig. persönlicher Frust als Mitglied der einst so stolzen SPD über den Zustand der Partei, miserable Umfragewerte, (Zuruf von der CDU/CSU: vor allem aber Ihre immer wiederkehrenden handwerk- Beitragserhöhungen!) lichen Fehler, die Sie ohne Unterlass begehen, lähmen Darum muss man nicht herumreden; das ist auch kein Sie. Beinbruch. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Sie können es Aber ich sage Ihnen, meine Damen und Herren von nicht!) CDU und CSU: Der Diskussionsbedarf in der Koalition Persönlich mag man diesen Frust vielleicht verstehen. ist weit geringer als der unter Ihnen. Wenn Sie keine Kraft mehr für notwendige Veränderun- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – gen haben, bleibt Ihnen nur eine Alternative. Die Wähler Zurufe von der CDU/CSU: Oh! – Den Ein- haben Sie nicht gewählt, damit Sie zweieinhalb Jahre vor druck haben wir nicht! – Wolfgang Zöller der nächsten Bundestagswahl das Regieren einstellen. [CDU/CSU]: Wollen wir es einmal testen?) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Erika Sehen Sie sich doch einmal an, was Sie wollen. – Ich Lotz [SPD]: Keine Angst, Frau Müller!) spreche jetzt nicht von der FDP. Bei der ist es ja üblich, dass sie sagt: Hau weg den Sozialklimbim! – Wie ist Machen Sie sich Gedanken über die Zukunft der Pfle- denn die Merkel-CDU in Sachen Pflegeversicherung geversicherung! Hier gibt es nach wie vor ein Lamento. aufgestellt? Der Kanzler ermahnt uns alle ja immer, die Deutschen sollten nicht so viel jammern. Hören Sie mit dem Jam- (Jens Spahn [CDU/CSU]: Brillant! – Annette mern auf! Legen Sie gute Vorschläge auf den Tisch oder Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Sehr gut! – Ge- treten Sie als Regierung und Koalition ab! genruf des Abg. Dr. Uwe Küster [SPD]: Ein Pflegefall!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Erika Lotz [SPD]: Wir machen das aber nicht!) Da heißt es: Erst einmal werden die Beiträge auf 3,2 Pro- zent erhöht. Ich gratuliere! Was sagt Herr Stoiber zu die- ser Erhöhung der Lohnnebenkosten? Dann heißt es: Es Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: wird privatisiert. Alle zahlen Pauschalen zur Absiche- Das Wort hat die Kollegin Birgitt Bender vom Bünd- rung des Pflegerisikos, aber differenziert nach dem Alter. (B) nis 90/Die Grünen. (D) (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Stimmt (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: So, jetzt nichts doch gar nicht! Frau Bender, Sie sollten die Be- als die Wahrheit!) schlüsse lesen!) Dazu sage ich: Gratulation! Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich ver- (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Quatsch! Sie stehe ja angesichts der Berichte der letzten Tage den sind ja schon ein halbes Jahr zurück!) Reiz für die Opposition, eine Aktuelle Stunde zu bean- Je älter, desto teurer wird die Absicherung des Pflegeri- tragen. sikos? Herr Seehofer, was sagen Sie denn dazu? Ich sage (Andreas Storm [CDU/CSU]: Sie hätten sie Ihnen: Das ist kein Weg zu einem Altern in Würde. am liebsten selbst beantragt!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Sie haben nur den Fehler gemacht, alle Ihre Reden ges- und bei der SPD – Zuruf von der CDU/CSU: tern schreiben zu lassen. Deswegen sind Sie auch auf Sie sind aber weit zurück!) dem Stand von gestern, Meine Damen und Herren von der Opposition, zu den konkreten Problemen der Pflege bzw. der Pflegeversi- (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Aha! Heute cherung haben wir heute von Ihnen nichts gehört. schon wieder etwas Neues?) (Andreas Storm [CDU/CSU]: Wir laden Sie als es vielleicht noch mehr Fragezeichen gab. das nächste Mal zu unserem Parteitag ein! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und Dann wissen Sie es besser!) bei der SPD – Lachen bei der CDU/CSU) Herr Storm hat sich dieser Tage zitieren lassen, die Um- Heute, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Op- setzung des Bundesverfassungsgerichtsurteils sei ganz position, einfach: Eine Entlastung um 10 Euro – Sie haben sogar ein bisschen gerechnet – (Andreas Storm [CDU/CSU]: Wird die Rentenreform abgesetzt?) (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Der kann rech- nen, was es kostet!) steht fest, Herr Seehofer: Einen Stillstand wird es nicht koste 1,6 Milliarden Euro. geben. Es wird in dieser Legislaturperiode eine umfas- sende Reform der Pflegeversicherung geben. (Andreas Storm [CDU/CSU]: Richtig!) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 89. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2004 7953

Birgitt Bender (A) Die würden aus Steuermitteln gezahlt. Dazu sage ich: Da darf hier schon einmal nachgefragt werden: Wie(C) Gratulation! In diesem Fall frage ich nicht, was Herrviel ist in der rot-grünen Koalition das Wort der Gesund- Seehofer darüber denkt. Denn das weiß ich. Er hat näm- heitsministerin noch wert? Wie viel ist der Koalition die lich gesagt: Keine Entlastung der Erziehenden aus Steu- Gesundheitsministerin selbst noch wert? Im Oktober ermitteln! hatte die Gesundheitsministerin vollmundig ihr Konzept für die Reform der Pflegeversicherung vorgestellt und Ich frage aber: Was sagt eigentlich Herr Merz dazu? dabei ihre Absicht verkündet, die Pflegeversicherung im (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Wir haben erst Frühjahr 2004 für die betroffenen Menschen zu verbes- Januar!) sern. Gab es nicht einmal ein Steuerkonzept mit einem Defizit Wie viel ist in der rot-grünen Koalition noch das Wort von 24 Milliarden Euro? Langsam nähern Sie sich wie- eines SPD-Fraktionsvorsitzenden wert? Noch am Diens- der den Realitäten. Der letzte Stand ist, glaube ich, dass tagmorgen hat er laut Presseberichten gegenüber der Sie 10 Milliarden Euro weniger einnehmen wollen. Jetzt Spitze der Grünen erklärt, dass die Reform der Pflege- frage ich: Wo kommen die 1,6 Milliarden Euro her? Sie versicherung notwendig sei. Wenige Stunden später war sollten sich einmal zusammensetzen und sich darüber das Kanzleramt offenbar gescheiter als die Fraktionsfüh- unterhalten, wie Sie das machen wollen. rungen von Rot und Grün zusammen: Die Pflegeversi- cherung war – wohl angesichts der neuesten Forsa-Um- (Jens Spahn [CDU/CSU]: Wir wollen etwas frage, die die Sozialdemokraten bei 24 Prozent sieht – über Ihre Vorschläge hören!) bis auf Weiteres abgesagt. Wenn Sie glauben, liebe Kolleginnen und Kollegen (Zuruf von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Sie von der CDU, Sie könnten mit dem Füllhorn über das sind nicht auf dem neuesten Stand!) Land gehen Damit wird Gesundheitsministerin Ulla Schmidt nach (Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Frau Bender, Bundesverkehrsminister zum zweiten Sie sind eine brillante Opposition!) Ankündigungsminister in der Bundesregierung. und das auch bei der Pflegeversicherung so handhaben, (Beifall bei der CDU/CSU) dann frage ich Sie: Wo ist Ihre Erbtante aus Amerika, die das alles finanzieren wird? Die brauchen Sie dann näm- Was hatte die Gesundheitsministerin nicht alles in ihrem lich. Eckpunktepapier – man wird doch noch daran erinnern dürfen, Frau Ministerin – im Oktober angekündigt! Es (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN handele sich um ein Pflegekonzept, welches die Pflege- (B) und bei der SPD – Wolfgang Zöller [CDU/ versicherung zukunftssicher mache. (D) CSU]: Hättet ihr die nicht so verärgert!) (Erika Lotz [SPD]: Das ist die Rede Solange bei Ihnen das Chaos regiert, sind Belehrun- von gestern!) gen an die Adresse der Regierung ganz und gar fehl am Platze. Das Konzept sichere die Nachhaltigkeit in der Finanzie- rung und im Übrigen würden die aus der demographi- Danke schön. schen Entwicklung resultierenden Beitragsbelastungen möglichst gerecht auf die Generationen verteilt. Die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Rede war von der Besserstellung der Demenzkranken im und bei der SPD) Bereich der Grundpflege, von höheren Beträgen in allen Stufen der häuslichen Pflege und von der Dynamisie- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: rung der Pflegeleistungen ab dem Jahr 2007. Das waren Das Wort hat jetzt der Kollege Matthias Sehling von die Ankündigungen, fast nichts ist davon übrig geblie- der CDU/CSU-Fraktion. ben. (Erika Lotz [SPD]: Der erzählt uns jetzt, wo Frau Ministerin, setzt die Bundesregierung so die die Erbtante herkommt!) Empfehlungen der Rürup-Kommission um? (Erika Lotz [SPD]: Jetzt widersprechen Sie Matthias Sehling (CDU/CSU): sich selbst!) Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Diese Woche hat eine böse Überraschung für alle Pflege- Wozu haben Sie so viel Steuergelder für die Beratung bedürftigen gebracht. Der Bundeskanzler stoppt die Re- durch die Rürup-Kommission ausgegeben? Jetzt folgen form der Pflegeversicherung. Sie dem Beratungsergebnis nicht einmal ansatzweise und sagen die Reform komplett ab. (Erika Lotz [SPD]: Das ist auch von gestern!) Eine Reform der Pflegeversicherung bleibt aber drin- Die „Welt“ titelt: Schröder legt die Reform aufs Eis. Die gend notwendig, und dies nicht nur, weil das Bundes- „Süddeutsche Zeitung“ schreibt: Kanzler stoppt Ullaverfassungsgericht – das haben wir heute schon mehr- Schmidts Pflegereform. Heute heißt es, wie wir aus einer fach gehört – der Politik aufgegeben hat, die Agenturmeldung gehört haben: Jetzt können Beitragser- Elternleistung bei der Finanzierung der Pflegeversiche- höhungen in der Pflegeversicherung doch nicht ausge- rung stärker herauszustellen. Die finanziellen Rücklagen schlossen werden. der Pflegeversicherung schmelzen wie das Eis in der 7954 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 89. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2004

Matthias Sehling (A) Sonne, wie die „Frankfurter Rundschau“ am Donnerstag (Hildegard Müller [CDU/CSU]: Nein! Lesen (C) schrieb. Sie es nach! – Dr. Uwe Küster [SPD]: Öko- steuer!) Dabei hat sich die Pflegeversicherung – ich glaube, das ist allgemeine Auffassung – als Absicherung desSie sagen auch, dass das die einzige Alternative zu dem letzten großen Lebensrisikos „Pflege“ im Grundsatz be- ist, was wir und auch die Ministerin bisher vorgestellt währt. Die soziale Pflegeversicherung sollte auch künf- haben. tig ein eigenständiger Zweig der sozialen Sicherungssys- (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Wo ist teme bleiben. Die finanzielle Ankoppelung an den denn was? – Jens Spahn [CDU/CSU]: Was ist Arbeitslohn muss aber künftig begrenzt werden, damit denn hier vorgelegt? Habe ich was verpasst?) die Kalkulierbarkeit der Arbeitskosten und die Wettbe- werbsfähigkeit des Standorts Deutschland erhalten wer- Dazu muss ich Ihnen sagen: Sie vergessen, dass die Pfle- den können. Wir sollten dazu den Pflegeversicherungs- geversicherung bislang als Teilkaskoversicherung konzi- beitrag auf dem jetzigen Niveau festschreiben, denpiert ist Arbeitgeberanteil also auf 0,85 Prozent. (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Das Der wichtigste Punkt einer notwendigen Reform – sie vergessen wir bestimmt nie!) bleibt weiterhin notwendig – ist die Besserstellung der und dass die Menschen bislang sehr wohl mit einem ei- Familien in der Erziehungsphase. Sie, Frau Ministerin, genen Beitrag eintreten. hatten mit Ihrem Beitragszuschlag für alle Kinderlosen allerdings den falschen Weg, nämlich den der Bestrafung (Andreas Storm [CDU/CSU]: Das hat doch da- einer ganzen gesellschaftlichen Gruppe, beschreiten mit gar nichts zu tun! – Annette Widmann- wollen. Es wäre weit sinnvoller – ich glaube, so sieht es Mauz [CDU/CSU]: Sagen Sie das Ihrem SPD- auch der Bundeskanzler –, die Eltern pro Kind während Oberbürgermeister! Der freut sich!) der Erziehungsphase mit einer Beitragsentlastung zu be- lohnen. – Mein Oberbürgermeister freut sich oft über mich. Nach der neuesten Emnid-Umfrage stehen Sie, werte (Beifall bei der SPD) Kolleginnen und Kollegen von der rot-grünen Koalition, Mein Vorredner hat die Zukunft der Ministerin ange- mit solch einer Ankündigungs- und Rückzugspolitiksprochen. Sie jedoch haben eine Aktuelle Stunde zur Zu- nicht sehr überzeugend da: 85 Prozent der Bevölkerung kunft der Pflegeversicherung beantragt und um die geht beurteilen die Arbeit der Bundesregierung als plan- und es eigentlich. Lassen Sie mich am Anfang einen kleinen visionslos. Rückblick wagen: (B) (D) Ihre jetzige Pflegepleite so kurz nach der LKW-Maut- (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Ein Ausblick Pleite vertieft diese vorhandene Einschätzung der Arbeit wäre uns lieber! – Annette Widmann-Mauz von Rot-Grün. Die Bundesregierung handelt weiterhin [CDU/CSU]: Zukunft!) einfach plan- und visionslos. Als die Pflegeversicherung 1995 als fünfte Säule des so- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) zialen Sicherungssystems etabliert wurde, (Wolfgan Zöller [CDU/CSU]: Haben Sie Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: zugestimmt!) Das Wort hat jetzt die Kollegin Hilde Mattheis von der SPD-Fraktion. waren dem 20 Jahre heftige Diskussionen vorausgegan- gen. Bis dahin waren zehn Gesetzentwürfe gescheitert. (Beifall bei der SPD) (Jens Spahn [CDU/CSU]: Das probieren wir jetzt noch einmal! Noch einmal zehn Ent- Hilde Mattheis (SPD): würfe!) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin sehr froh, dass sich heute zeigt, dass nicht jede lautstark – Das habe ich nicht gesagt. vorgebrachte Behauptung nachhaltiger wirkt als sachli- (Hildegard Müller [CDU/CSU]: Ja, sagen che Argumentation. Sie es mal!) (Beifall bei der SPD) Warten Sie ab. Ihre Behauptungen, die Sie seit Dienstag aufgebaut ha- Dass wir eine Reform brauchen, ist in unseren Beiträ- ben, sind seit einigen Stunden völlig haltlos. gen sehr wohl zum Ausdruck gekommen. Es wird sich (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Glauben Sie!) auch niemand zu der Aussage hinreißen lassen, dass al- les so bleiben soll, wie es ist. Sie, Frau Müller, schlagen hier vor, den Kapitalstock aufzubauen, (Jens Spahn [CDU/CSU]: Nur der Kanzler!) (Hildegard Müller [CDU/CSU]: Ergänzend!) Nach neun Jahren Erfahrung mit der Pflegeversicherung wissen wir, dass dort selbstverständlich Anreize zu ent- verweigern aber natürlich die Aussage dazu, wer daswickeln sind und dass das Prinzip „ambulant vor statio- denn bezahlen soll. när“ stärker durchgesetzt werden muss. Wir wissen Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 89. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2004 7955

Hilde Mattheis (A) natürlich, dass die Definition des Begriffes der Pflegebe- Die Pflegeversicherung ist eng mit dem Namen Blüm (C) dürftigkeit dringend überarbeitet werden muss. Wir wis- verbunden. sen, dass bedarfsgerechte Leistungsbemessung ein wich- (Beifall des Abg. Matthias Sehling tiger Punkt ist, den wir angehen müssen. [CDU/CSU]) (Jens Spahn [CDU/CSU]: Warum tun Sie es Auch wenn dieser Name bei Ihnen nicht mehr so hoch dann nicht?) im Kurs steht, stellen wir fest: Die Grundlage, die er und Wir wissen, dass die Unterstützung pflegender Angehö- andere geschaffen haben, ist in Ordnung. Wir stellen riger und die Förderung bürgerschaftlichen Engage-auch fest: Korrekturen und Reformen sind nötig. Anstatt ments in diesem Bereich wichtig sind. Das alles wissen die Regierung jetzt, nachdem die Eckpunkte vorliegen wir. und nachdem auch die Schritte vorgestellt worden sind, die in der nächsten Zeit, vor der nächsten Bundestags- Wenn jetzt so getan wird, als sei alles das, was ich wahl, angegangen werden, zu unterstützen – – jetzt gerade aufgezählt habe, in den nächsten Wochen zu erledigen, sonst würden alle Hilfestrukturen zusammen- (Lachen bei der CDU/CSU – Jens Spahn brechen, [CDU/CSU]: Die ist 2006!)) (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Bei – Wir lassen uns da nichtunter Zeitdruck setzen. Zwi- den Zivis fangen Sie ja schon damit an!) schen dem Jahr 2004 und dem Jahr 2006 liegt das Jahr 2005. werden hier – das meine ich auch mit Blick auf das In- terview heute Morgen im „Morgenmagazin“ – in unver- (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Wir sind für antwortlicher Weise Unsicherheit und Angst geschürt. die Hinweise auf Neuwahlen dankbar!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Das ist eine logische Konsequenz. DIE GRÜNEN – Annette Widmann-Mauz (Zuruf von der CDU/CSU: Die Ministerin hat [CDU/CSU]: Sie machen es tatsächlich, indem gerade gesagt: 2004!) Sie die Zivis abschaffen! – Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Um die Zeit habe ich schon gear- Die nächsten Schritte sind klar. Wir werden uns ge- beitet! Und Sie schauen Fernsehen!) meinsam mit diesem Thema beschäftigen und uns auf den Weg machen. Sie tun so, als wenn sich die Regierung und wir uns als Fraktionen sämtlichen Reformen verweigern würden. (Zuruf von der CDU/CSU: Wohin denn? – Ich weiß nicht, woher Sie diese Information haben. Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Nach nir- (B) gendwo!) (D) (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Der Kanzler! Kanzleramt! – Weitere Zurufe von Ich lade Sie ein. Bisher haben Sie leider nicht bewiesen, der CDU/CSU und der FDP) dass Sie Einladungen auch folgen. – Waren Sie bei der Fraktionssitzung? Ich habe Sie nicht (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Doch, zur gesehen. SPD-Fraktion!) (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Laden Sie uns Wir hatten zwar vereinbart, einen interfraktionellen ein! Ich würde kommen!) Antrag zum Thema Demenz zu formulieren. Aber Sie haben sich kurzfristig verweigert. Sie sollten Ihre Informationen so auswerten, dass Sie hier in der Aktuellen Stunde auch aktuell diskutieren (Zuruf von der SPD: Hört! Hört!) können. Noch kurzfristiger haben Sie daraufhin – zur gleichen (Jens Spahn [CDU/CSU]: Man müsste hier ei- Zeit wie wir – einen eigenen Antrag eingebracht. nen Ticker stehen haben, um da mitzukom- (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Sie haben un- men!) seren Antrag abgelehnt! Das darf ja wohl nicht Wir lassen uns in dieser Sache nicht verunsichern. wahr sein!) Die Ministerin hat die nächsten Reformschritte darge- Womöglich wollten Sie dokumentieren, dass Sie schnel- stellt. Es geht uns um mehr als nur um die Schlagzeile ler sind. Das stimmt aber nicht. von heute. (Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Nehmen (Lachen bei der CDU/CSU – Beifall bei Abge- Sie das sofort zurück!) ordneten der FDP) Wenn Sie sich den Ablauf ansehen, werden Sie feststel- – Ja. Es geht darum, Menschen im Alter die Teilnahme len, dass eher das Gegenteil der Fall ist. am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen, In der nächsten Sitzungswoche werden wir ausführ- (Hildegard Müller [CDU/CSU]: Niemand be- lich über dieses Thema diskutieren. Ich freue mich schon streitet das!) darauf und lade Sie dazu ein. Denn auch in Ihrer politi- sie nicht an den Rand zu drängen. Es geht darum, dieschen Verantwortung geht es darum, den Menschen eine Belastungen zwischen den Generationen, die für die Fi- Hilfestellung zu geben, und nicht darum, dieses Thema nanzierung sorgen, gerecht zu verteilen. kurzfristig für eine Schlagzeile auszuschlachten. 7956 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 89. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2004

Hilde Mattheis (A) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Selbstverständlichkeit geworden. Das bewundernswerte (C) DIE GRÜNEN – Zuruf von der CDU/CSU: Engagement der Mitarbeiter kann man nicht oft genug Wer regiert denn dieses Land?) loben, weil die Begeisterung für den Pflegeberuf am schweren und manchmal auch tristen Alltag sehr schnell Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: zerschellen kann. Es hat sich ein breiter ambulanter Pfle- Das Wort hat jetzt die Kollegin Maria Michalk von gedienst entwickelt. der CDU/CSU-Fraktion. All dies ist nur durch eine kräftige Anschubfinanzie- (Beifall bei der CDU/CSU) rung, die die Regierung Kohl geleistet hat, möglich ge- worden. Maria Michalk (CDU/CSU): (Zuruf von der SPD: Das ist doch Ihre Rede Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- von 1994!) ren! In Deutschland leben etwa zwei Millionen Men-Die Trägerlandschaft ist ausgesprochen plural und sichert schen, die zwar in unterschiedlichem Ausmaß, aber dauer- den Betroffenen eine ihre Lebenseinstellung und ihre Be- haft auf Pflege angewiesen sind. 70 Prozent dürfnisse der berücksichtigende Wahlmöglichkeit. So sind Pflegebedürftigen werden von ihren Angehörigen be- zum Beispiel in Sachsen 60Prozent der stationären Ein- treut. Allein das beweist, dass die Familie auch in die- richtungen in freigemeinnütziger Trägerschaft, 27 Prozent sem Bereich eine total unverzichtbare Rolle spielt und in privater und nur 13 Prozent in öffentlicher Träger- für unsere Zukunft nicht wegzudenken ist. schaft. Kein Staat dieser Welt könnte all die Leistungen fi- (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!) nanzieren, die wegfallen würden, wenn es nicht die Fa- milienarbeit und gegenseitige Hilfe gäbe. Genau deshalb Auffallend ist, dass in den Pflegediensten in den hat auch das Bundesverfassungsgericht entschieden, neuen Ländern besonders viele Vollzeitbeschäftigungen entstanden sind, nämlich über 40 Prozent. Der Bundes- (Zuruf von der SPD: Die Familie abzuschaf- durchschnitt liegt bei 29 Prozent. Die immer länger wer- fen?) dende Lebenszeit der Menschen, die ja ein Glück ist, und dass wir die Familien anders behandeln müssen, der permanente Wegzug vor allem junger Menschen be- wirkt, dass der Bedarf an professioneller Pflege wächst. (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Entlasten!) Die ambulanten Pflegedienste haben alle Hände voll zu – ja, sie entlasten müssen. Frau Ministerin, es ist Ihretun und kämpfen hart mit den gegebenen Normativen, Aufgabe, hierzu endlich Vorschläge vorzulegen, diedie auch mit den Kosten zu tun haben. Denn neben der (B) nicht zu solchem Hickhack führen, den wir heute hören Pflege wird – egal, ob bezahlt oder nicht bezahlt – natür- (D) müssen, lich auch menschliche Zuwendung erwartet. (Zuruf von der SPD: Den machen Sie doch!) Während der Anteil der Pflegebedüftigen im Alter zwischen 75 und 85 Jahren in Baden-Württemberg bei sondern die es vielmehr ermöglichen, über die Sache zu 11,2 Prozent liegt, beträgt er zum Beispiel in Mecklen- diskutieren. burg-Vorpommern 17,7 Prozent, also 6,5 Prozent mehr. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dieser Trend wird sich noch verstärken. Deshalb ist es Erika Lotz [SPD]: Hickhack – CDU!) unverantwortlich, heute nicht Vorsorge für morgen zu treffen und eine für die Zukunft tragende Reform der Mit der Einführung der Pflegeversicherung wurde die Pflegeversicherung nicht sofort in Angriff zu nehmen. Pflegearbeit aus ihrem Schattendasein an die Öffentlich- Mit dem Motto „Stopp und basta“ nach Kanzlermanier keit gebracht. bringt man die Pflegeversicherung insgesamt in die Krise. Wir kennen doch die demographische Entwick- (Zuruf von der SPD: Sie stehen ganz schön im lung und die Tatsache, dass seit 1999 die Ausgaben der Schatten!) Pflegeversicherung die Einnahmen übersteigen. Sie geht alle an und wird von allen finanziert. Deshalb Die Verschiebung der Reform und das Wegducken haben auch alle einen Anspruch darauf, zu erfahren, wie vor den Problemen der Pflegekassen ist ein weiteres Bei- es um die finanzielle Situation dieser Versicherung steht. spiel für die Sprunghaftigkeit dieser Regierung und erin- Um Ihnen in Erinnerung zu rufen, welches wunderbare nert mich bitter an die Zeit, als wir quasi ohnmächtig zu- Werk wir damals mit der Pflegeversicherung gemeinsam sehen mussten, wie die DDR-Regierung die Menschen geschaffen haben, möchte ich Ihnen ein paar Punkte zur in der DDR um die Früchte ihrer Arbeit gebracht hat, bis Pflegesituation in den neuen Bundesländern sagen. das Land bankrott war. Die trostlosen Zustände in den Alten- und Pflegehei- (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: men der DDR sind Gott sei Dank Geschichte. Das ist ein schlechter Vergleich!) (Zuruf von der SPD: Das ist doch unsere Das darf bei der Pflegeversicherung nicht passieren. Rede!) Deswegen fordere ich Sie auf: Handeln Sie! Es wurde an der richtigen Stelle investiert. Es sind Ich danke Ihnen. zweckmäßige und ansehnliche Pflegeheime entstanden. Der Einsatz von modernen Mitteln bei der Pflege ist eine (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 89. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2004 7957

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: nicht auf die Klärung der Frage der Finanzierung, son-(C) Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Marlies Volkmer dern stellt insgesamt große Anforderungen an uns. von der SPD-Fraktion. (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Das (Beifall bei der SPD) merkt man! Sie sind zu groß!) Wir müssen dafür sorgen, dass eine Pflegebedürftigkeit Dr. Marlies Volkmer (SPD): vermieden wird, indem wir die Prävention stärken und Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- die Therapie chronisch Kranker und die Rehabilitation ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSUalter Menschen verbessern. Wir müssen dafür sorgen, und FDP, Ihr Auftreten heute in dieser Debatte war sehr dass der Grundsatz „ambulant vor stationär“ wirklich unglaubwürdig. umgesetzt wird. Dazu müssen die Strukturen in der am- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Na, na, na!) bulanten Betreuung verbessert werden. Sie haben im Grunde genommen nichts Inhaltliches dazu (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Dann beigetragen, wie die Pflege ausgestaltet werden soll, machen Sie das doch!) sondern haben nur etwas zur Finanzierung gesagt. Wir brauchen Alternativen zur Unterbringung und Ver- (Andreas Storm [CDU/CSU]: Was haben Sie sorgung der Patienten in Heimen und müssen deswegen denn gesagt? Gar nichts! – Weiterer Zuruf von auch alternative Wohnkonzepte entwickeln. Um diese der CDU/CSU: Das war schon mehr, als Sie Ziele zu erreichen, bedarf es einer breit angelegten Dis- gesagt haben!) kussion. Ihr Vergleich zwischen der Situation, die wir zurzeit ha- Die Verbesserung der Betreuung Demenzkranker ist ben, Frau Michalk, mit der Situation in der DDR kurz besonders wichtig. DieseAufgabe werden wir als vor der Wende war hier völlig unpassend; das wissen Sie nächste angehen. selbst. Dass wir bis zum 31. Dezember das Urteil des Bun- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten desverfassungsgerichtes umsetzen müssen, ist unbestrit- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – ten und stellt uns natürlich vor eine große Aufgabe. Wir Dr. Uwe Küster [SPD]: Die sind in den 80er- müssen eine Lösung finden, die gerecht ist, müssen aber Jahren stecken geblieben!) gleichzeitig zusehen, dass das nicht zu Einschnitten in den Leistungen der Pflegeversicherung führt. Was hätten Sie gemacht, wenn wir noch in diesem Jahr die komplette Reform der Pflegeversicherung um- Ich denke, Innovation bezieht sich nicht nur auf die (B) gesetzt hätten? – Sie wären die Ersten gewesen, die ge- Entwicklung und Umsetzung neuer Technologien, Inno- (D) gen uns ins Feld gezogen wären; Herr Seehofer, Sie ni- vation bedeutet auch – und zwar zunehmend –, zu sagen, cken. wie sich die Gesellschaft weiterentwickeln soll. Sie ver- langt auch in der Gesellschaft ein neues Denken und (Horst Seehofer [CDU/CSU]: Das galt aber Handeln. Wir müssen dafür sorgen, eine Gesellschaft zu nicht Ihrer Behauptung!) entwickeln, in der auch die zukünftige Generation gut le- ben kann. – Doch, Sie haben gerade genickt. – Sie hätten uns davor gewarnt, gleichzeitig zur Gesundheitsreform auch noch Dazu müssen wir alle gemeinsam beitragen. Ich for- das ganze Konzept zur Pflegeversicherung umzusetzen. dere Sie hier noch einmal auf, gemeinsam an einer Pfle- geversicherung mitzuarbeiten. Sie sind sich untereinander nicht einig, was Sie wol- len. Herr Sehling hat gesagt, er wolle die Familien ent- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ lasten, die zurzeit Kinder erziehen. Herr Seehofer hat ge- DIE GRÜNEN – Jens Spahn [CDU/CSU]: sagt, er wolle auch die Familien entlasten, die Kinder Wobei denn? Wir wissen ja noch nicht einmal, erzogen haben. Das ist ein großer Unterschied. worum es gehen soll!) (Andreas Storm [CDU/CSU]: Ja!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Storm hat gesagt – darauf ist schon hingewiesen Das Wort hat jetzt die Kollegin Annette Widmann- worden –, er wolle alle Familien mit 10 Euro pro Kind Mauz von der CDU/CSU-Fraktion. entlasten, sagt aber nicht, woher er das Geld nehmen will. (Beifall bei der CDU/CSU) (Andreas Storm [CDU/CSU]: Eine Entlastung (CDU/CSU): um 10 Euro pro Kind!) Annette Widmann-Mauz Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Wir wissen, welcher Reformbedarf im Pflegebereich Noch gestern hat der Bundeskanzler an die Deutschen besteht. appelliert, sie sollten aufhören zu jammern. (Zuruf von der CDU/CSU: Dann tun Sie doch (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- etwas!) NEN]: Sie lesen zu viel „Bild“-Zeitung!) Uns ist klar, dass das mit der demographischen Entwick- Am selben Tag wird der Kanzler von Panik und Angst lung zusammenhängt. Eine Reform beschränkt sichvor weiteren Jammerwellen ergriffen und legt Ulla 7958 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 89. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2004

Annette Widmann-Mauz (A) Schmidts Pläne zur Pflegeversicherung, deren Entwurf Die Anhörung im Finanzausschuss in dieser Woche hat (C) ja schon an die Verbände verschickt worden war, kurz zutage gebracht, dass das Rentenniveau bis zum vor der Verabschiedung in der Fraktion eiskalt auf Eis. Jahre 2030 auf 52 Prozent absinken wird. Insofern sind Das war eine nette Überraschung für die Fachpolitiker weitere Belastungen vorprogrammiert. der SPD-Fraktion und der Grünen. Diese nette Überra- Es sind noch keine vier Wochen vergangen, seit SPD schung für den Koalitionspartner war wohl Ausdruck und Grüne zu ihren Klausurtagungen zusammengekom- des Kommunikationsstils, der in der Koalition herrscht. men sind. Man fragt sich schon, was Sie zu Beginn des Es war eine Ohrfeige für Ulla Schmidt. Jahres dort eigentlich gemacht haben. Der Kanzler weiß aber, dass Ohrfeigen bei Frauen (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE nicht gut ankommen. Deshalb schiebt Schröder ganz GRÜNEN]: So viel wie Sie!) schnell nach: Ulla Schmidt sitze am Tisch des Kanzlers und da werde sie auch bleiben. Jetzt fordern Sie wieder neue Kommissionen mit neuem Sach- und Fachverstand und bilden wieder neue Berater- (Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Am Kat- gremien. zentisch!) (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Beschäfti- Ich frage Sie aber: Was nützt es, wenn Ulla Schmidt gungstherapie!) sitzen bleibt, aber nichts zu sagen hat? Die Pläne des So- zialministeriums sind seit Herbst 2003 bekannt und hät- Ich glaube, Sie müssten mehr Chaosforscher in diese Be- ten auch dem Bundeskanzler bekannt gewesen sein müs- ratergremien berufen. Dann kämen wir nämlich wahr- sen. scheinlich schneller zum Zug. (Hildegard Müller [CDU/CSU]: Er braucht (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) halt länger!) Die Sprunghaftigkeit und Kurzlebigkeit dieser Politik Angesichts von 14 Wahlen in diesem Jahr, einem Umfra- geht voll zulasten der Pflegebedürftigen, ihrer Angehöri- gewert von 25 Prozent für die SPD bei der Sonntags-gen, der Pflegekräfte und der Beitragszahler in Deutsch- frage land. Sie warten dringend darauf, dass die Leistungen in der Pflegeversicherung den Kosten der Lebenshaltung (Zuruf von der CDU/CSU: 24 Prozent!) angepasst werden. Seit die Pflegeversicherung in Kraft und der Perspektive auf Wahlniederlagen in Nordrhein- ist, steht die Dynamisierung der Leistungen aus – mit der Westfalen bekommt der SPD-Vorsitzende aber einfach Folge, dass Pflegebedürftigkeit wieder zur Sozialhilfe- kalte Füße. abhängigkeit führt. (B) (D) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Die Demenzkranken und ihre Angehörigen haben darauf gehofft, endlich Leistungen aus der Pflegever- Erinnern wir uns: Am 14. März letzten Jahres hat der sicherung zu erhalten. Kanzler von diesem Platz aus seine Agenda 2010 mit pa- thetischen Worten vorgestellt. Jetzt erschrickt der Kanz- (Petra Selg [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: ler vor seinen eigenen Worten und Taten. Der Fraktions- Das kommt noch!) vize der Grünen Reinhard Loske warnt Schröder jetzt Seit dem Jahr 1999 hat die Union insgesamt neun Initia- schon wieder davor, die Politik der ruhigen Hand wieder tiven in Bund und Ländern eingebracht. Sie aber haben aufleben zu lassen. Frau Selg, ich denke, Sie müssten in mit Ihrer Mehrheit in Bundestag und Bundesrat diese Ihrer Fraktion einmal ein wenig reden. Vorschläge immer und immer wieder abgelehnt. Jetzt Schröder meint in seiner Erklärungsnot, die Änderun- drücken Sie sich mit der Basta-Entscheidung Ihres gen am Pflegekonzept seien Einzelmaßnahmen und in Kanzlers um eine Lösung für all die wesentlichen Fragen Bezug auf die Reform nichts Generelles. dieser Menschen. (Verena Butalikakis [CDU/CSU]: So ein Wenn der Kanzler für seine Entscheidung schon die Schröder!) Gerechtigkeit strapaziert, dann müssen Sie diese Sach- verhalte zur Kenntnis nehmen; Gleichzeitig erklärt Ihre Fraktionsvorsitzende Frau Göring-Eckardt im Deutschlandfunk: Zusätzliche Belas- (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE tungen der Bürger an anderer Stelle wird es nicht geben. GRÜNEN]: Sie haben nur unfinanzierbare Frau Caspers-Merk sagt heute, dass sie Beitragserhöhun- Vorschläge!) gen in der Pflegeversicherung nicht ausschließt. denn diese Entscheidung bedeutet, dass Familien und Alleinstehende mit ihren Problemen zur Pflege weiter al- (Andreas Storm [CDU/CSU]: Was gilt denn leingelassen werden. nun? – Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Das ist der Chor der Vielstimmigen!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE 17 Millionen Rentnerinnen und Rentner erhalten ab GRÜNEN]: Sie machen Vorschläge und sagen 1. April 2004 Rentenkürzungen. Ich frage Sie: Weiß nicht, wer sie bezahlen soll!) diese Bundesregierung eigentlich überhaupt noch, dass sie mit dem Alterseinkünftegesetz noch weitausWenn Rot-Grün die Umsetzung des Bundesverfas- schmerzlichere Belastungen für die Bürger bereithält? sungsgerichtsurteils nicht durch einen Strafzuschlag von Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 89. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2004 7959

Annette Widmann-Mauz (A) 2,50 Euro für Kinderlose finanzieren will, dann stelltnicht versehentlich loben. In diesem Fall würde sich(C) sich die Frage, wie Erziehende denn nun entlastet wer- nämlich herausstellen, was auch die Menschen sehen. den sollen. Offenbar denken Sie nun an Freibeträge bei Sie erkennen, dass der Bundeskanzler den Mut hat, Un- der Beitragsbemessung. Das bedeutet in der Konsequenz bequemes zu tun, für Familien eine Entlastung in Centhöhe und weitere Beitragszuschläge und -steigerungen für die Beitrags- (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das ist der zahler. Witz des Jahres!) Was für ein irrsinnig bürokratischer Aufwand, an des- er aber gleichzeitig auch über die Umsicht verfügt, dabei sen Ende nichts bzw. nichts Positives steht! Der Kanzler nicht über das Ziel hinauszuschießen. treibt mit dieser Entscheidung Fraktion und Ministerium (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Den Satz muss endgültig nach Absurdistan. Den Menschen bleibt nichts man noch einmal nachlesen! – Jens Spahn erspart. Nein, Ihre Ratlosigkeit kommt die Beitragszah- [CDU/CSU]: Glauben Sie eigentlich, was Sie ler, insbesondere die Pflegebedürftigen teuer zu stehen. sagen?) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Seit wir beginnen, bei den Sozialversicherungssyste- Die Situation in der Pflegeversicherung ist angesichts men den Reformstau aufzulösen, hechelt die Union mit unserer jetzigen Lage schlimm genug. Diese Regierung hängender Zunge hinterher. Ich habe gedacht, Sie wür- löst keine Probleme, sondern sie schafft – nicht erst seit den es heute begrüßen, dass wir Ihnen eine kleine Ver- heute – immer wieder neue. Sie selbst ist das Problem. schnaufpause verschaffen, weil das sicherlich auch Ihrer Gesundheit gut tun würde. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Sie ist Teil des (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Problems!) DIE GRÜNEN – Lachen bei der CDU/CSU – Jens Spahn [CDU/CSU]: Bravo!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Wir sollten froh darüber sein, dass wir bei der wichti- Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt gen Frage der Reform der Pflegeversicherung Zeit ge- erteile ich das Wort dem Kollegen Horst Schmidbauer wonnen haben und es keine Hauruck-Gesetzgebung gibt. von der SPD-Fraktion. (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Das (Beifall bei der SPD) kostet die Beitragszahler aber Geld, Herr Schmidbauer!) (Nürnberg) (SPD): (B) Horst Schmidbauer Wir haben nun die Chance – diese sollten wir auch er-(D) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn man greifen –, alle Vorschläge für eine solidarische und so- sich die letzte Stunde vor Augen und Ohren führt, zial tragfähige Pflegeversicherung, die in der Gesell- (Gudrun Schaich-Walch [SPD]: Dann weiß schaft diskutiert und von Fachleuten eingebracht man nicht, was das soll!) werden, zu prüfen. dann hat man den Eindruck, dass die Opposition unter (Beifall bei der SPD) einem geradezu strukturtypischen Zwang steht. Ich frage mich, wo zu diesem Thema Ihre Vorschläge (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Was? – sind. Außer Verwirrung haben Sie nichts vorzuweisen. Gudrun Schaich-Walch [SPD]: Die könnten (Beifall bei der SPD – Lachen bei der CDU/ alle schon im Wahlkreis arbeiten!) CSU) Dieser strukturtypische Zwang ist der Versuch, aus einer Ich frage auch Sie, wo in der Zeit Ihres Regierungshan- Situation Kapital zu schlagen, wohl wissend, dass man- delns diese Probleme konkret angegangen worden sind. gels Argumente und Grundlage ein Misserfolg vorpro- Strukturelle Veränderungen auf der Einnahmenseite oder grammiert ist. der Ausgabenseite? – Fehlanzeige! Schauen wir uns die Sache einmal genau an. Der Ver- (Jens Spahn [CDU/CSU]: Wer regiert denn such, aus der Situation Kapital zu schlagen, ist weder de- dieses Land?) nen gelungen, die heute Krokodilstränen über ein Re- formkonzept vergossen haben, das nicht auf ihremTrotzdem meinen Sie, Sie müssten uns mit erhobenem eigenen Mist gewachsen ist Zeigefinger ermahnen. (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Wo ist denn (Hildegard Müller [CDU/CSU]: Herr das Konzept?) Schmidbauer, Sie müssten rot werden vor Scham!) – Sie wollten es im Bundesrat sowieso zu Fall bringen –; Sie scheuen noch nicht einmal davor zurück – das haben (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Über welches wir vorhin erlebt –, Zitate falsch vorzutragen. Wenn man Konzept reden Sie denn?) sich das Zitat der Staatssekretärin ansieht, dann stellt noch ist es denen geglückt, die das Veto des Bundes-man fest, dass sie davon gesprochen hat, dass man Geld kanzlers zu neuen Reformen insgeheim begrüßen. Na- benötigt, wenn man die Leistungen für Demenzkranke türlich müssen sie dabei aufpassen, dass sie den Kanzler verbessern und die Dynamisierung im System erreichen 7960 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 89. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2004

Horst Schmidbauer (Nürnberg) (A) will. Das ist doch logisch. Dass man dazu die Einnah- (Hildegard Müller [CDU/CSU]: Welches Kon- (C) men erhöhen muss, ist auch logisch. Sie hat nicht über zept schlagen Sie vor?) den Weg der Finanzierung gesprochen, Aber Sie wollen vor der Öffentlichkeit lieber in die Rolle (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Ich des wohltätigen Samariters schlüpfen, der die Wunden, habe Ihnen neun Initiativen genannt, die Sie die von den bösen Räubern der Regierungskoalition ver- alle abgelehnt haben!) ursacht worden sind, verbindet. Diese Methode funktio- niert nicht. Es ist geradejetzt sichtbar geworden, wie sondern sie hat von der Notwendigkeit gesprochen, dass diese Methode ausschaut. man mehr Geld für die Aufgaben ausgeben muss. Des- halb darf man nicht die Fehlinformation in die Welt set- (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Hoffentlich zen, wie Sie es getan haben, dass der Beitragssatz erhöht sind die fünf Minuten bald zu Ende!) werden müsse. Diese Frage möchte ich in aller Gelas- Wie immer unser Konzept letztendlich aussehen wird: senheit im Parlament und in der Koalition diskutieren. (Lachen bei der CDU/CSU – Beifall bei der Ich frage mich immer, was diese Aufgeregtheit in der FDP – Jens Spahn [CDU/CSU]: „Wie Union soll. Das frage ich mich seit zwei Tagen. immer“ – das ist es ja!) (Lachen bei der CDU/CSU – Zuruf von der Sie von der Union werden Nein sagen und aus Prinzip SPD: Ablenken vom eigenen Streit!) Ihr Spiel weiterspielen. Das ist ein Spiel mit viel rhetori- schem Wind und aufgeblähten Politikmuskeln. Das Spiel Wieso interessiert sich die Opposition plötzlich für das wird aber denen schaden, denen wir eigentlich helfen Kommen oder Scheitern von Modellen für eine solidari- wollten und denen wir Sozialdemokraten auch helfen sche, umlagefinanzierte Pflegeversicherung, wo dochwerden. Das sind die pflegebedürftigen, alten und kran- namhafte Vertreter der CDU/CSU längst deren Abschaf- ken Menschen in unserem Lande. Dabei bleibt es. fung gefordert haben? Vielen Dank. (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Kopf in den Sand!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Ich glaube, Diskussionsbedarf mit den Bürgerinnen und Bürgern im Land besteht darüber, was es bedeuten wird, Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: wenn die Union von dem einst so lautstark gefeierten Die Aktuelle Stunde ist beendet. „Modell Blüm“ Abschied nehmen will und, so wie es (B) aus der Herzog-Kommission klingt, den Bürgern eine Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-(D) obligatorische private – verdammt teure – Absicherung ordnung. des Pflegerisikos zumuten will. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) destages auf Mittwoch, den 11. Februar 2004, 13 Uhr, ein. Hinzu kommt die Abschaffung eines weiteren Feier- Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende. Die Sit- tages. Das sollten Sie den Bürgerinnen und Bürgern sa- zung ist geschlossen. gen, damit klar wird, was Sie ihnen zumuten und wie die Lösungsvorschläge der Union aussehen. (Schluss: 15.37 Uhr) Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 89. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2004 7961

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C) Anlage 1

Liste der entschuldigten Abgeordneten

entschuldigt bis entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich Abgeordnete(r) einschließlich

Andreae, Kerstin BÜNDNIS 90/ 30.01.2004 Letzgus, Peter CDU/CSU 30.01.2004* DIE GRÜNEN Leutheusser- FDP 30.01.2004* Dr. Bauer, Wolf CDU/CSU 30.01.2004 Schnarrenberger, Sabine Bindig, Rudolf SPD 30.01.2004* Lips, Patricia CDU/CSU 30.01.2004 Braun, Helge CDU/CSU 30.01.2004 Mantel, Dorothee CDU/CSU 30.01.2004 Büttner (Ingolstadt), SPD 30.01.2004 Hans Mayer, Conny CDU/CSU 30.01.2004 (Baiersbronn) Caesar, Cajus CDU/CSU 30.01.2004 Michelbach, Hans CDU/CSU 30.01.2004 Deittert, Hubert CDU/CSU 30.01.2004* Müller (Köln), Kerstin BÜNDNIS 90/ 30.01.2004 Eichstädt-Bohlig, BÜNDNIS 90/ 30.01.2004 DIE GRÜNEN Franziska DIE GRÜNEN Raidel, Hans CDU/CSU 30.01.2004** Gloser, Günter SPD 30.01.2004 Rauber, Helmut CDU/CSU 30.01.2004* Göllner, Uwe SPD 30.01.2004 (B) Rehbock-Zureich, Karin SPD 30.01.2004 (D) Göppel, Josef CDU/CSU 30.01.2004 Riester, Walter SPD 30.01.2004* Götz, Peter CDU/CSU 30.01.2004 Röspel, René SPD 30.01.2004 Grill, Kurt-Dieter CDU/CSU 30.01.2004 Roth (Augsburg), BÜNDNIS 90/ 30.01.2004 Freiherr von und zu CDU/CSU 30.01.2004 Claudia DIE GRÜNEN Guttenberg, Karl- Theodor Rübenkönig, Gerhard SPD 30.01.2004

Hartnagel, Anke SPD 30.01.2004 Sauer, Thomas SPD 30.01.2004

Hermenau, Antje BÜNDNIS 90/ 30.01.2004 Schaaf, Anton SPD 30.01.2004 DIE GRÜNEN Scharping, Rudolf SPD 30.01.2004 Höfer, Gerd SPD 30.01.2004* Dr. Scheer, Hermann SPD 30.01.2004* Jäger, Renate SPD 30.01.2004* Schmidbauer, Bernd CDU/CSU 30.01.2004 Jonas, Klaus Werner SPD 30.01.2004* Schultz (Everswinkel), SPD 30.01.2004 Dr. Jüttner, Egon CDU/CSU 30.01.2004 Reinhard

Karwatzki, Irmgard CDU/CSU 30.01.2004 Dr. Schwanholz, Martin SPD 30.01.2004

Kramme, Anette SPD 30.01.2004 * für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver- sammlung des Europarates Lehder, Christine SPD 30.01.2004 ** für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver- sammlung de NATO 7962 Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 89. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2004

(A) Anlage 2 zungsversuchen mit gentechnisch veränder- (C) ten Pflanzen Zu Protokoll gegebene Rede – Freilandversuche mit gentechnisch verän- zur Beratung der Anträge: derten Apfelsorten in Pillnitz und Quedlin- burg durchführen – Leitlinien für die Vollendung der Bahnre- form (Tagesordnungspunkt 23 a und b)

– Gutachtenvergabe zu Fahrgastrechten revi- Matthias Weisheit (SPD):Zwei Anträge der FDP dieren – Neutralen Gutachter beauftragen stehen heute zur Debatte, zum einen zur Durchführung der Freilandversuche mit gentechnisch veränderten Ap- (Tagesordnungspunkt 19 a und b) felsorten in Pillnitz und Quedlinburg, zum anderen wird die Distanzierung der Bundesregierung von den gesetz- Dr. Gesine Lötzsch (fraktionslos): Ziel der Bahnre- widrigen Zerstörungen von Freilandversuchen gefordert. form, nachzulesen auf den Internetseiten des BMVBW, Zu Letzterem möchte ich nur wenige Worte verlieren, ist es, das ständig steigende Bedürfnis nach Mobilität in denn wie die Damen und Herren von der FDP in ihrem umweltgerechter Weise abzusichern, die vorhersehbaren Antrag ja anhand mehrerer Zitate belegen, besteht über- Verkehrszuwächse sowohl im nationalen als auch im in- haupt kein Zweifel daran, dass die Zerstörung von Frei- ternationalen Personen- und Güterverkehr zu einem gro- landversuchen einen Gesetzesverstoß darstellt und dass ßen Teil auf die Schiene zu bringen, …“. Bundesminister die Bundesregierung solch mutwillige Zerstörungen von Stolpe selbst sagte anlässlich der Feiern zu zehn Jahren Versuchsfeldern verurteilt. Bahnreform, dass dieses ganz große Ziel nicht erreicht Die an die Ministerin gestellte Frage in der zitierten worden sei. Sendung „Frontal 21“ legte einen Zusammenhang nahe Besonders kontraproduktiv wirken die aktuellen Preis- zwischen einem gemeinsamen Auftritt der Ministerin erhöhungen der DB im Fernverkehr. Das Hauptziel der mit Greenpeace und der Einstellung der Ministerin zur Bahnreform, „mehr Verkehr auf die Schiene“ zu bringen, Zerstörung von Versuchsfeldern. Das ist Freiheit der Be- wurde nicht erreicht. Im Gegenteil, Kürzungen stehen richterstattung. Wenn sich die Ministerin einem solch auf der Tagesordnung: Kürzung der Regionalisierungs- konstruierten Zusammenhang mit einer frechen Antwort mittel, Kürzungen des Ausgleichsbetrages durch Ände- verweigert, dann wiederum ist das ihre Freiheit. Daraus rung des Allgemeinen Eisenbahngesetzes und fehlende zu schließen, die Bundesregierung toleriere solche Ge- setzesverstöße, ist an den Haaren herbeigezogen. Es (B) Mittel bzw. drohende Kürzungen für Investitionen im (D) kann nicht angehen, dass man sich durch gemeinsame Schienenverkehr durch die Mautausfälle. Völlig unbe- Auftritte mit Greenpeace schon der klammheimlichen achtet bleibt im Antrag die Daseinsvorsorge, die auch Sympathie für solche Rechtsbrüche verdächtig macht, Funktion der Bahn sein muss und von der sich Herr zumal ja auch die Kolleginnen und Kollegen von der Mehdorn schon öffentlich losgesagt hat. FDP unter Punkt 6 in ihrem Forderungskatalog die Bun- Die PDS formuliert folgende Anforderungen an die desregierung zum Dialog mit Greenpeace und anderen Bahnreform: Wettbewerb ja, aber keine Privatisierung Organisationen auffordern. Den Antrag lehnen wir ab, auf Teufel komm heraus; Effizienzsteigerung ja, aberdenn er ist überflüssig. nicht auf dem Rücken der Mitarbeiter; Ausbau des Stre- Zum FDP-Antrag zur Durchführung der Freilandver- ckennetzes und nicht Stilllegung von Strecken! suche in Pillnitz und Quedlinburg: Feuerbrand, Apfel- schorf und Apfelmehltau sind ernst zu nehmende Pro- Und abschließend: Die Bahn muss preiswerter wer- bleme für den Obstbau. Wie Sie wissen, liegt mir der den. Im Koalitionsvertrag ist festgeschrieben, dass im Kampf gegen Feuerbrand besonders am Herzen, denn Jahr 2005 die Mehrwertsteuer auf Fernverkehrstickets gerade in Baden-Württemberg ist diese bakterielle Er- halbiert werden soll, um durch niedrigere Fahrpreise krankung eine Bedrohung für die Obsterzeuger, der in mehr Fahrgäste zu gewinnen. Wir sind auf die Umset- der Vergangenheit schon viele Apfelanlagen zum Opfer zung gespannt. gefallen sind. Jeder, der schon einmal solche nach Feuer- Die Wirklichkeit sieht im Augenblick anders aus:brandbefall gerodeten Anlagen gesehen hat, weiß, wo- Fernfahrten werden teurer! Das geht nach hinten los und von ich rede. Das wirksamste Mittel zur Bekämpfung schreckt die Fahrgäste ab. des Feuerbrands war bisher Streptomyzin und bisher gibt es keine vergleichbar wirksame Alternative. Genau dort setzen die Versuche an: Kann auf gentechnischem Weg eine Resistenz gegen Schaderreger insbesondere pilzli- Anlage 3 cher und bakterieller Herkunft entwickelt werden? Ich Zu Protokoll gegebene Rede bin der Meinung, auch wenn ich kein großer Freund der Grünen Gentechnik bin: Bei der Suche nach wirksamen zur Beratung der Anträge: Mitteln gegen einen so aggressiven und Existenzen ver- nichtenden Erreger müssen alle Möglichkeiten erforscht – Distanzierung der Bundesregierung von ge- werden, das heißt, die Gentechnik sollte dabei zwar setzwidrigen Zerstörungen von Freiset- keine Priorität haben, denn eventuell gibt es weniger Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 89. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. Januar 2004 7963

(A) umstrittene Lösungen, aber sie sollte auch nicht außen Anlage 4 (C) vor bleiben. Amtliche Mitteilungen Die Frage ist also: Wie finden wir ein wirksames Mit- Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben tel? Ist aber Gentechnik die Antwort? Ich selbst bin da mitgeteilt, dass der Ausschuss gemäß § 80 Abs. 3 Satz 2 noch zu keiner abschließenden Meinung gekommen. Ich der Geschäftsordnung von einer Berichterstattung zu den sehe nur Folgendes: Aus Gründen des vorsorgenden Ver- nachstehenden Vorlagen absieht: braucherschutzes, aber auch weil es keine gesellschaftli- che Akzeptanz mehr für die Anwendung solcher antibio- Auswärtiger Ausschuss tikahaltigen Pflanzenschutzmittel gibt, müssen wir – Unterrichtung durch die deutsche Delegation in der Ver- geordnet aus der Anwendung von Streptomyzin ausstei- sammlung der Westeuropäischen Union/interparlamentari- gen. Das aber genau ist der Punkt: Auch für die Anwen- sche Europäische Versammlung für Sicherheit und Vertei- dung der Gentechnik gab es keine gesellschaftliche Ak- digung (WEU/iEVSV) zeptanz. In Quedlinburg war die Lage nicht so über die Tagung der Versammlung vom 2. bis 4. Juni problematisch. Dort sollten auf 0,2 ha die Bäume nach 2003 in Straßburg 3 bis 4 Jahrern vor dem adulten Stadium mit verstärkter – Drucksachen 15/1622, 15/1947 Nr. 1 – Blütenbildung und Fruchten abgeholzt werden bzw. – Unterrichtung durch die deutsche Delegation in der Parla- sollte bei eventueller Blütenbildung diese sofort manuell mentarischen Versammlung der OSZE entfernt werden. Dort gab es auch nur wenig Einwände. über die Zwölfte Jahrestagung der Parlamentarischen Ich persönlich hätte keine Probleme damit, wenn dort Versammlung der OSZE vom 5. bis 9. Juli 2003 in Rot- der Versuch durchgeführt würde, denn ohne Blüten kann terdam/Niederlande es nicht zu Auskreuzungen kommen. Aber das Verfahren – Drucksachen 15/1641, 15/1947 Nr. 2 – ruht ja auch zunächst. Haushaltsausschuss In Pillnitz dagegen sieht die Sache anders aus. Dort gab es großen Widerstand gegen diese Freisetzungs- – Unterrichtung durch die Bundesregierung Großversuche (immerhin l ha). Zwar sollten dort zu- Haushalts- und Wirtschaftsführung 2003 nächst die Blütenstände bis zur Abblüte mit Kreuzungs- Überplanmäßige Ausgaben bei Kapitel 30 04 Titel tüten aus Polyester isoliert und dann ab adultem Stadium 632 11 (BAföG – Schülerinnen und Schüler), Titel 632 12 (BAföG – Zuschüssean Studierende) und bei ganze Baumreihen in Folientunneln geschützt werden. Titel 661 11 (BAföG – Zinszuschüsse und Erstattung Einen hundertprozentigen Schutz vor Pollenverbreitung von Darlehensausfällen an die Kreditanstalt für Wie- (B) sah aber auch die Projektleiterin der Bundesanstalt für deraufbau) (D) Züchtungsforschung – BAZ – dadurch nicht garantiert. – Drucksachen 15/2055, 15/2105 Nr. 4 – Ob solche Folientunnel allen Witterungsbedingungen – Unterrichtung durch die Bundesregierung widerstehen können, ist auchnicht sicher zu sagen. In dem Gebiet wird auch Ökolandbau betrieben. Pillnitz ist Haushalts- und Wirtschaftsführung 2003 ein Obstanbaustandort mit langer Tradition. Befürchtun- Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 08 03 Titel 636 02 – Verwaltungskostenerstattung für die Zentrale Stelle gen wegen des guten Rufes des Pillnitzer Obstes sind in der BfA zur Durchführung des Altersvermögensgeset- Anbetracht der großen Mehrheit der Verbraucher, die die zes (AvmG) – Grüne Gentechnik ablehnen, nicht von der Hand zu wei- – Drucksachen 15/2063, 15/2105 Nr. 6 – sen. – Unterrichtung durch die Bundesregierung Das Verfahren auszusetzen ist in Anbetracht man- Haushalts- und Wirtschaftsführung 2003 gelnder Akzeptanz bei der Bevölkerung die richtige Ent- Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 14 03 Titel 525 41 scheidung gewesen, denn auf diese Akzeptanz sind wir – Aus- und Fortbildung – alle angewiesen. Das wissen auch Sie, meine Damen und – Drucksachen 15/2115, 15/2207 Nr. 2 – Herren von der Opposition. Außerdem werte ich die Tat- sache, dass die Einwände gegen den Versuch in Quedlin- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und burg vergleichsweise gering waren, als Zeichen, dass die Reaktorsicherheit Bevölkerung durchaus in der Lage ist, zu differenzieren, – Unterrichtung durch die Bundesregierung Deshalb sollten wir die Befürchtungen der Menschen Umweltradioaktivität und Strahlenbelastung im Jahr auch ernst nehmen und deshalb lehnen wir den Antrag 2002 der FDP ab. – Drucksachen 15/1660, 15/2021 Nr. 1 – Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co., Buch- und Offsetdruckerei, Bessemerstraße 83–91, 12103 Berlin Vertrieb: Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft mbH, Amsterdamer Str. 192, 50735 Köln, Telefon (02 21) 97 66 340, Telefax (02 21) 97 66 344 ISSN 0722-7980