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SINN HANS-WERNER UND 25 JAHRE DEUTSCHE WIRTSCHAFTSPOLITIK HERAUSGEGEBEN VON GABRIEL FELBERMAYR | MEINHARD KNOCHE | LUDGER WÖßMANN HANS-WERNER SINN UND 25 JAHRE DEUTSCHE WIRTSCHAFTSPOLITIK

HANS-WERNER SINN UND 25 JAHRE DEUTSCHE WIRTSCHAFTSPOLITIK

Herausgegeben von Gabriel Felbermayr | Meinhard Knoche | Ludger Wößmann INHALT

VORWORT 10

1 VOM LINKEN ZUM LIBERALEN : Hans-Werner Sinn und die deutsche Wirtschaftspolitik 15

LUDGER WÖSSMANN : Einleitung 16 : Soziale Marktwirtschaft – ein Erfolgsmodell für Bayern und Deutschland 18 : Ein Mahner aus Prinzip 20 REINHARD KARDINAL MARX : Leitbild Chancengerechtigkeit 22 ULRICH GRILLO : Der Ökonomie-Erklärer – von A wie Arbeitsmarkt bis Z wie Zuwanderung 24 ROLAND BERGER : Hans-Werner Sinn: Volkswirt, Kommunikator, Manager 26 : Die Eiger-Nordwand und der Kombilohn: eine Reminiszenz 28 EDMUND PHELPS : Hans-Werner Sinn und Deutschlands natürliche Arbeitslosenrate 30 JAMES POTERBA : Rentenreform: Hans-Werners Forschung und politischer Einfluss 32 ASSAF RAZIN : Über den Jungen, den Politökonomen, den Unternehmer und den Freund 34 CARL CHRISTIAN VON WEIZSÄCKER : Hans-Werner Sinns Habilitationsschrift 36 ROLAND TICHY : Zwischen Sinn-Gap und Target-Falle gebofingert 38 KAI DIEKMANN : 25 Gründe, warum Hans-Werner Sinn als ifo-Präsident fehlen wird 41

2  KALTSTART : Hans-Werner Sinn und die Wiedervereinigung 47

MARCEL THUM : Einleitung 48 GEORG MILBRADT : Vereinigung ohne wirtschaftlichen Kompass 50

INHALT MARC BEISE : Der Trabi-Mann 52

4 MICHAEL C. BURDA : Die deutsche Wiedervereinigung als ökonomische Herausforderung 54 HOLGER STELTZNER : Der Kaltstart von Professor Sinn 56 CHARLES B. BLANKART : Wahlkampfkosten 1990 58 KARL-HEINZ PAQUÉ : Deutsche Einheit im Modell 60 REINHOLD FESTGE : Ein absehbarer Niedergang – die ostdeutsche Industrie nach der Wiedervereinigung 62 : Ein scharfsinniger Kopf und ein Marktradikaler außerirdischer Dimension 64 HAROLD JAMES : Hans-Werner Sinn, Kassandra und die Lesbos-Regel des Aristoteles 66

3  GERONTOKRATIE : Hans-Werner Sinn und die Rentenreformen 71

NIKLAS POTRAFKE : Einleitung 72 AXEL BÖRSCH-SUPAN : Eltern und Kinder: Was uns im Innersten bewegt 74 FRIEDRICH BREYER : Wem dient Nachhaltigkeit in der Rentenfinanzierung? 76 PETER DIAMOND : Die Riester-Rente 78 DAVID E. WILDASIN : Hans-Werner Sinn: Ein Tribut an seine Beiträge zur Forschung in Volks­wirtschaftslehre und Politik 80 URSULA ENGELEN-KEFER : Diskurs zu Demographie und Generationengerechtigkeit 82 RITA SÜSSMUTH : »Kinder kriegen die Leute immer« – oder? 84 BERND RAFFELHÜSCHEN : Was war, was ist, was kommt? 86 THIESS BÜTTNER : Positive externe Effekte der Erziehung und Ausbildung von Kindern 88

4 IST DEUTSCHLAND NOCH ZU RETTEN? Hans-Werner Sinn und die arbeits- und sozialpolitischen Reformen 93

HELMUT RAINER : Einleitung 94 : HWS: »falscher Prophet« oder Ideengeber für die ? 96 DIETER HUNDT : Auf dem Erreichten nicht ausruhen, sondern Herausforderungen annehmen 98 PETER HARTZ : Die Langzeit- und Jugendarbeitslosigkeit ist in der sozialen Marktwirtschaft lösbar 100 PETER BIRCH SØRENSEN : Hans-Werner Sinns Blaupause für eine Arbeitsmarktreform und die skandinavische Alternative 102 INHALT

5 ALFRED GAFFAL : Mit »Sinn« und Verstand: Leidenschaftlicher Verteidiger der Sozialen Marktwirtschaft 104 JOACHIM MÖLLER : Reibeflächen: Hans-Werner Sinn und die Unvollkommenheit des Arbeitsmarktes 106 : Wettbewerbsfähigkeit – der Schlüssel zum Erfolg 108 RONNIE SCHÖB : Für einen aktivierenden Sozialstaat 110

5  BASARÖKONOMIE : Hans-Werner Sinn und die Globalisierung 115

GABRIEL FELBERMAYR : Einleitung 116 PETER EGGER : Von Verlagerungs- und Export­weltmeistern 118 WILHELM KOHLER : Hans-Werner Sinns These des pathologischen Exportbooms 120 THOMAS FRICKE : Exportwunder in der Basarökonomie 122 MICHAEL HEISE : Die These der Basarökonomie: ein politischer Weckruf 124 RUPERT STADLER : Erfolg auf dem Basar 126 MANFRED WITTENSTEIN : Hans-Werner Sinn: Partykiller mit gutem Grund 128 : Die Globalisierung als Erfolgsfaktor für Bayern 130 JOHN WHALLEY : Hans-Werner Sinn und die Globalisierung 132 JOHN PEET : Vom Freihandel 134 KARLHANS SAUERNHEIMER : Hans-Werner Sinn im Außenwirtschaftsausschuss 136

6 DAS GRÜNE PARADOXON : Hans-Werner Sinn und die Klima- und Energiepolitik 141

KAREN PITTEL : Einleitung 142 RICK VAN DER PLOEG : Die potenzielle Kontraproduktivität von Second-best-Maßnahmen in der Klimapolitik 144 NICHOLAS STERN : Hans-Werner Sinn, der Klimawandel und das grüne Paradoxon 146 CHRISTOPH M. SCHMIDT : Missionar der Rationalität: Hans-Werner Sinn und das »grüne Para­doxon« in der Energie- und Klimapolitik 148 MARTIN FAULSTICH : HWS und die 150 OTTMAR EDENHOFER : Klimapolitik im Zeitalter der fossilen Energieträger 152 : Hans-Werner Sinn: Ein Ökonom und Treiber des politischen INHAL 154 T Diskurses 

6 JÜRGEN TRITTIN : Der grüne Sinn – ein Paradox? Zum Abschied eines aufrechten Neoliberalen 156 PETER-ALEXANDER WACKER : Paradox: der Zickzack-Kurs ins nachfossile Zeitalter 158

7  KASINO-KAPITALISMUS : Hans-Werner Sinn und die Finanzarchitektur 163

OLIVER FALCK : Einleitung 164 CLEMENS FUEST : Kasino-Kapitalismus und Risiko als Produktionsfaktor – ein Abend in einem Restaurant in Paris 166 HORST KÖHLER : Wissen, um zu wirken 168 CLAUDIA M. BUCH : Hausordnung für das Kasino 170 AXEL A. WEBER : Nachhaltigkeit statt Kasino 172 THEODOR WEIMER : HWS’ BLOOS-Ansatz: Wie bekommen wir nützliche Finanzintermediäre? 174 KAI A. KONRAD : Wirtschaftspolitik in der Finanzkrise 176 JAN-EGBERT STURM : Die Finanzkrise 2008: Folge und Spiegel­bild von Fehlanreizen im Bankensektor 178 FRANK WESTERMANN : Wie aus Forschung Politikberatung wird: Die Vorgeschichte zum Kasino-Kapitalismus 180 MARTIN WOLF : Hans-Werner Sinn zur globalen Finanzkrise 182

8  TARGET-FALLE : Hans-Werner Sinn und die Zukunft Europas 187

TIMO WOLLMERSHÄUSER : Einleitung 188 HELMUT SCHLESINGER : Vom Posten in der Bundesbankbilanz zur Target-Falle 190 MALTE FISCHER : Spektakuläre Aufklärungsarbeit 192 : Die Target-Falle – viel Lärm um nichts? 194 KAI CARSTENSEN : Worte statt Akronyme – Hans-Werner Sinn und die Eurorettung 196 MARCEL FRATZSCHER : Target-Falle oder Fluchthilfe? 198 MARK SCHIERITZ : Zwischen allen Schubladen 200 PHILIP PLICKERT : Ein spätberufener Kritiker der Eurorettung 202 JÜRGEN STARK : Über Target und andere Fallen 204 JENS WEIDMANN : Die Währungsunion braucht ein stabiles Fundament 206

MARTIN FELDSTEIN : Hans-Werner Sinn und die Haushaltsdefizite 208 INHALT

7 GILLES SAINT-PAUL : Die Gefahr des Konsenses 210 DIETRICH MURSWIEK : Die EZB vor dem Bundesverfassungs­gericht – Staatsanleihenkäufe, Target-Kredite und Hans-Werner Sinn 212 MARKUS SÖDER : Hans-Werner Sinn und die Zukunft der Wirtschafts- und Währungsunion 214 WOLFGANG SCHÄUBLE : Ökonom, Kommunikator, Europäer – eine Bitte an Hans-Werner Sinn 216

9  DIE MIGRATIONSWELLE : Hans-Werner Sinn und die Zuwanderungsdebatte 221

PANU POUTVAARA : Einleitung 222 KLAUS F. ZIMMERMANN : Migration: Empirische Evidenz und ökonomische Rationalität 224 GIUSEPPE BERTOLA : Hans-Werner Sinns Herkunftsprinzip für Migration und Sozialstaat 226 JOACHIM HERRMANN : Asylmissbrauch stoppen – Zuwanderung steuern ! 228 : »Wir sind am Beginn einer neuen Migrationswelle.« – Hans-Werner Sinn im Dezember 2013 230 SILKE ÜBELMESSER : Die Richtigen? ! 232 MARTIN WERDING : Spiel ohne Grenzen: Die Freizügigkeitsdebatte 234 HOLGER BONIN : »So wie die Zuwanderung läuft, läuft sie falsch.« 236 REINER KLINGHOLZ : Deutschland ist nicht Kanada 238 HERBERT BRÜCKER : Ist Migration ein Verlustgeschäft für den Staat? Eine kritische Würdigung 240 ECKHARD CORDES : Mit Karte und Kompass gegen den demographischen Wandel 242

10 IM DIENSTE DER PROFESSION : Hans-Werner Sinn als Motor des Wandels 247

MEINHARD KNOCHE : Einleitung 248 ROBERT SOLOW : Ein Musterbeispiel institutionellen Unternehmertums 250 HANS ZEHETMAIR : Ein Glücksgriff nicht nur für Bayern 252 BERND HUBER : Hans-Werner Sinn: Heiteres und Ernstes 254 INHAL 256 T AGNAR SANDMO : Führung durch Vorbild 

8 ALFONS WEICHENRIEDER : Das CES als Baustein der Internationalisierung und Nachwuchsförderung 258 OTTO WIESHEU : Vom Elfenbeinturm in die Politikberatung 260 ROBERT HAVEMAN : Institutioneller Wandel und die unwiderstehliche Kraft 262 WILHELM SIMSON : Ein Turnaround ohnegleichen 264 GÜNTER VERHEUGEN : Die Eiche im Wald der Ökonomie 266 : Hans-Werner Sinn und sein Beitrag zur Internationalisierung des Forschungsstandorts Deutschland 268 ROBIN BOADWAY : Hans-Werner Sinns Vermächtnis für rationale Wirtschaftspolitik: Der Aufbau von Forschungsinstitutionen 270 BERT LOSSE : Abteilung Attacke: Hans-Werner Sinn und seine Gastbeiträge in der ­WirtschaftsWoche – eine persönliche Rückschau 272 : Das hat er sich verdient – über die Medienmarke Hans-Werner Sinn 274

ANHANG 279

BILDNACHWEISE 280 INHALT

9 VORWORT

Eine Ära neigt sich dem Ende zu : Die Amtszei­ ten von Hans-Werner Sinn als Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU) und Präsident des ifo Instituts en­ den am 31. März 2016. Über ein Vierteljahrhundert hinweg – davon 17 Jahre als ifo-Prä­sident – war er die meistgehörte und nach ­ein­helliger Ökonomen-Meinung auch die einflussreichste Stimme der Wissenschaft in der wirtschaftspolitischen Debatte in Deutschland. Seine Emeritierung ist nicht nur eine persönliche Zäsur, sondern verändert auch das Gefüge der politikorientierten Wirt- schaftsforschung in Deutschland; ein idealer Zeitpunkt, auf den wohl bedeutendsten Abschnitt des beruflichen Schaffens Hans-Werner Sinns zurückzublicken, der zugleich eine der spannends- ten Phasen der wirtschaftspolitischen Entwicklung Deutschlands war. In diesem Buch kommen namhafte Zeitzeugen zu Wort, die in ihren beruflichen und gesell- schaftlichen Funktionen insbesondere in Wirtschaft, Politik, Wissenschaft und Medien unmittel- bar mit den wirtschaftspolitischen Aktivitäten Hans-Werner Sinns konfrontiert waren. In ihren Beiträgen setzen sie sich aus ihrer ganz persönlichen Sicht mit einzelnen Aspekten seines Schaf- fens auseinander. Das Ergebnis sind 111 Mosaiksteine, die sich in diesem Buch zu einem faszinie- renden Gesamtbild einer persönlichen Karriere und zugleich einer wirtschaftsgeschichtlichen Epoche zusammenfügen; eine Tour d’Horizon der großen Streit­themen der jüngeren wirtschafts- politischen Debatte und ein fulminanter Abriss über 25 Jahre deutsche Wirtschaftspolitik. Hans-Werner Sinn ist ein herausragender Wissenschaftler und begnadeter Kommunikator. Er nutzt diese Verbindung, um den Brückenschlag von der Wissenschaft in die öffentliche Debatte zu schaffen. »Ich möchte die volkswirtschaftliche Theorie für die Bevölkerung so in Worte kleiden, dass sie verstanden wird«, schrieb er Anfang 2015 auf seinem Twitter-Account. Als einer der auch international angesehensten in Deutschland wirkenden Ökonomen seiner Generation ist er nicht im Elfenbeinturm des Theoretikers geblieben. Er geht hinaus in die öffentlichen Debatten und Talkshows, schreibt Bestseller und Zeitungs­kolumnen zuhauf. Die thematischen Highlights sei- nes öffentlichen Wirkens sind imW ­ esentlichen deckungsgleich mit den Höhepunkten der wirt- schaftspolitischen Debatte in den letzten 25 Jahren. Er hat alle wichtigen Themen der deutschen Wirtschaftspolitik umgehend aufgenommen, wenn er sie nicht selbst in die öffentliche Diskussion eingeführt hat – oft als »Weltverbesserer«, dem die Zukunft Deutschlands und Europas sehr am Herzen liegt. Neben seinem wissenschaftlichen und öffentlichen Wirken hat sich Hans-Werner Sinn als »In- stitution Builder« einen Namen gemacht. Er hat in München mit ifo, CESifo und CES eine Platt-

VORWORT form für angewandte und politikorientierte wirtschaftswissenschaftliche Forschung und Diskus-

1010 sion aufgebaut, die in Europa ihres­gleichen sucht. Dieses Forum spiegelt seine persönliche Ausrichtung an höchsten wissenschaftlichen Ansprüchen und seine Welt­of­fen­heit wider. Die ­Öffnung hin zum internationalen wissenschaftlichen Wettbewerb hat er auch in seiner Zeit als Vorsitzender des traditionsreichen Vereins für Socialpolitik, der Vereinigung der Ökonomen im deutschsprachigen Raum, für die deutsche Volkswirtschaftslehre insgesamt vorangetrieben. Unsere Zeitreise beginnt mit Hans-Werner Sinns Beitrag zur Debatte zur wirtschaftlichen Wie- dervereinigung. Das 1991 erschienene Buch Kaltstart war der Startschuss für Hans-Werner Sinns öffentlich breit sichtbaren Auftritt. Ab der Übernahme der ifo-Präsidentschaft 1999 kamen prä- gende Beiträge zur arbeits- und sozialpolitischen Debatte, zur Renten- und zur Migrationsde­ batte, zur Globalisierungsdebatte, zur Energiepolitik und nicht zuletzt zur Finanz-, Banken- und Eurokrise und zur Zukunft Europas hinzu. Viele dieser Beiträge sind Gegenstand seiner Bestseller Ist Deutschland noch zu retten?, Basarökonomie, Das grüne Paradoxon, Kasino-Kapitalismus und Target-Falle, die unsere Zeitreise strukturieren. Das Buch ist ein Gemeinschaftswerk, in das sich viele Personen in außerordentlich engagierter Weise eingebracht haben. Das sind zuallererst die Autoren : Sie sind die Hauptakteure, die mit ­ihren Beiträgen die Grundlage für dieses Buch gelegt haben. Ihnen sind wir zu besonderem Dank verpflichtet. Das gilt vor allem auch für die Leiter der Forschungsbereiche des ifo Instituts und der ifo-Niederlassung Dresden, die die einzelnen Kapitel dieses Buchs betreut und die Einleitungen geschrieben haben. Ein besonderer Dank gilt auch der Gesellschaft zur Förderung der wirt­schafts­ wissenschaft­lichen Forschung (Freunde des ifo Instituts) und ihrem Vorsitzenden Roland Berger, die die Kosten der Produktion dieses Buchs mit einer großzügigen Spende vollständig finan- ziert und es uns damit ermöglicht haben, das Buch herauszugeben. Auch ohne die tatkräftige und fachkundige Unterstützung durch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des ifo Instituts und des ­Verlags hätte das Buch nicht erscheinen können. Die organisatorische Hauptlast lag bei Thomas Steinwachs, der das Projektmanagement bestens im Griff hatte. Ihm danken wir ebenso herzlich wie Marga Jennewein, die alle Beiträge professionell redigiert hat. Dank gebührt auch Romy ­Bonitz, die uns bei der Auswahl der Fotos unterstützt hat, den ifo-Wissenschaftlern, die die Texte der englischsprachigen Autoren übersetzt haben, sowie Petra Hoffmann und Denise Jäkel vom Hanser Verlag, die bei der Gestaltung des Buchs stets ein offenes Ohr für unsere Anliegen hatten. Dieses Buch richtet sich an alle, die sich mit dem öffentlichen Wirken Hans-Werner Sinns und der Wirtschaftspolitik der letzten 25 Jahre auseinandersetzen möchten. Es ist zugleich unser Dank an Hans-Werner Sinn für sein so fruchtbringendes Wirken am ifo Institut und die Anerkennung seines unermüdlichen Einsatzes für die ökonomische und politische Zukunft Deutschlands und Europas. Wir verbinden diese Anerkennung mit der Hoffnung, dass sein Wirken Ansporn für die jüngere Ö­ konomengeneration ist, sich ebenfalls für das ­Gemeinwohl einzusetzen und beherzt ­wissenschaftliche Vernunft in die öffentlichen Politikdebatten einzubringen.

München, im September 2015

Gabriel Felbermayr Meinhard Knoche Ludger Wößmann VORWORT

11 HWS beim ifo Branchen-Dialog 2008 in für ihn nicht untypischer Pose und mit ernster Miene: Es ging um die Finanzkrise.

ifo-Vorstandsmitglied Meinhard Knoche, ifo-Verwaltungsratsvor­ sitzender Peter-Alexander Wacker und HWS in der Jahresversamm- lung des ifo Instituts 2015.

Der damalige tschechische Staats- präsident Václav Klaus und der ehemalige Bundesfinanzminister bei der ifo Jahres­ versammlung 2004 in München.

12 HWS mit dem damaligen ­Präsidenten der Europäischen Zentralbank, Jean-Claude Trichet, anlässlich der ifo Jahresver­ sammlung 2006.

HWS verteidigt die »Schwarze Null« bei Maybrit Illner im ZDF (mit , Ulrich Grillo, Maybrit Illner, und ­Susanne Schmidt) am 17. ­Oktober 2014.

Ein in Deutschland bekanntes Gesicht: HWS vor dem Eingang des ifo Instituts.

13 WirtschaftsWoche, 23.12.2011 VOM LINKEN ZUM LIBERALEN: Hans-Werner Sinn und die deutsche 1 Wirtschaftspolitik Ludger Wößmann EINLEITUNG Vom Linken zum Liberalen: Hans-Werner Sinn und die deutsche Wirtschaftspolitik

Ludger Wößmann leitet das ifo Zentrum für Bildungsökonomik und ist Professor für Volkswirt- schaftslehre an der Ludwig-Maxi- milians-Universität München. Seit über zwölf Jahren arbeitet er mit HWS am ifo Institut. Er erforscht die Ursachen von langfristigem Wohlstand und von Bildungs­ leistungen.

HWS hat immer damit kokettiert, dass er ei- ter for Economic Studies gegründet wurde. Die gentlich ein Linker ist. Er war in einer sozialis- Präsidentschaft des kriselnden ifo Instituts tischen Jugendgruppe und wie sein Vater in der übernahm er 1999. Was folgte, waren die Öff- SPD. Das war zwar dann schon während des nung für internationalen Austausch auf höchs- Studiums unter den 68ern vorbei. Aber den ei- tem wissenschaftlichem Niveau mit Hilfe von gentlich als Schimpfnamen gedachten Begriff CESifo, die unzweifelhafte Ausrichtung des ifo des »Kathedersozialisten« – so wurden die Na- an internationalen wissenschaftlichen Stan- tionalökonomen bezeichnet, die die Bismarck’­ dards – und die Einmischung in jegliche nur schen Sozialreformen gedanklich vorbereite- denkbare wichtige wirtschaftspolitische De­­ ten – hat er sich auch später gerne angehängt. batte. Im Jahr 2003 entdeckte HWS mit Ist Ohne Zweifel ist er ein »missionarischer« Wis- Deutschland noch zu retten? dann endgültig senschaftler, der die Lebensverhältnisse für alle das populärwissenschaftliche Buch als das Me- verbessern möchte. Aber in der wissenschaft­ dium, mit dem er gleichzeitig dröge wissen- lichen Auseinandersetzung mit diesem Ziel ist schaftliche Erkenntnis in die öffentliche ­­De in ihm offenbar bald die Erkenntnis gereift, batte transportieren und in der Öffentlichkeit

iberalen dass die Freiheit wettbewerblicher Märkte da- omnipräsent sein kann. Seitdem hat er Best­ L für oft ein nicht zu ersetzendes Mittel ist. Und seller an Bestseller gereiht, wie es kein anderer zum so wird er zumeist als Liberaler wahrgenom- Ökonom vermocht hätte. men. Spätestens mit der Evaluierung 2005 bestand

inken Dieses Buch beginnt mit dem Kaltstart, sei- kein Zweifel mehr, dass das ifo mit seiner Radi- L nem öffentlichen »Coming out« im Jahr 1991 – kalkur die Kehrtwende geschafft hatte. Weder om

V dem gleichen Jahr, in dem sein Münchner Cen- im wissenschaftlichen Wettbewerb noch in der

161616 wirtschaftspolitischen Debatte konnte es je- Einer Rückkehr zur Trennung von Theorie und mand mit ihm aufnehmen. Und wenn man der Politik kann er nichts abgewinnen : »Theorie­ Einschätzung zweier ehemaliger Vorsitzender lose Politik ist genauso nutzlos wie Theorie der »Wirtschaftsweisen«, Wolfgang Wiegard ohne Politikimplikationen.« Aber auch ein und Wolfgang Franz, folgen darf, »war und ist Zweiklang aus Theorie und ökonometrischer [HWS] sicherlich der innovativste und ein- Empirie ist ihm nicht genug, da der modernen flussreichste Ökonom der letzten zwei oder Volkswirtschaftslehre allzu oft die Institutio- drei Jahrzehnte in Deutschland«. nenkenntnis abgeht. Für HWS besteht »seriöse Aber wofür stand – und steht – HWS in der Volkswirtschaftslehre in einem gleichgewich­ wirtschaftspolitischen Debatte ? Sosehr Öffent- tigen Dreiklang von Theorie, Institutionen­ lichkeit und Gegner es auch meinen wollen : lehre und Ökonometrie, um der Wirtschafts- Ein blinder Marktfanatiker ist HWS keines- politik mit fundierten Empfehlungen dienen wegs. Eigentlich ganz im Gegenteil : Immer zu können«. ging es ihm darum aufzustöbern, wo Märkte Wer ihn kennt, weiß, dass HWS nur umso versagen, um dann zu analysieren, wie staatli- besser wird, je mehr Gegenwind er bekommt. che Eingriffe das Ergebnis verbessern können. Wurde er für die Target-Salden zunächst ver- Wenn überhaupt ist HWS also ein Staatsfanati- schrien, so machte ihn das nur noch fester – bis ker. In seinem Innersten ist er immer der klas- am Ende selbst die Bundesbank bereit war, das sische Finanzwissenschaftler geblieben, der die Thema zu problematisieren. WennHWS ein- irtschaftspolitik W Rolle des Staates in der Wirtschaft analysiert. mal eine Sache durchdrungen hat und sich ih- Wenn ihm Kollegen Gläubigkeit an einen rer sicher ist, lässt er sich von seinem Weg nicht wohlmeinenden Staat vorwarfen, konnte ihn mehr abbringen. Ihm ist dafür Sturheit vor­

das nicht anfechten : Gerade weil Staat wie geworfen worden – wider bessere Argumente deutsche

Markt versagen können, ist er überzeugt, dass auf dem eigenen Standpunkt zu beharren. Ich die es Aufgabe der Wissenschaft ist, die Stimme glaube nicht, dass man HWS diese Eigenschaft und der Vernunft in die öffentliche Debatte zu brin- nachsagen kann. Aber einen Dickkopf – ja, den gen – trotz aller Beratungsresistenz der Politik. haben wir Westfalen schon. Um in der poli­ inn

Auch als er sich ab Mitte der 1990er Jahre mit tischen Diskussion Bestand haben zu können, S dem Präsidenten des Kieler Instituts für Welt- benötigt man Durchhaltevermögen – eben ei- wirtschaft (full disclosure : mein nen Dickkopf. erner Doktorvater) über die Chancen der Globali­ Trotz Dickkopfs ist HWS die akademische -W sierung freundschaftlich stritt, betonteHWS Freiheit immer heilig – auch die der anderen. ans H die Gefahren des Systemwettbewerbs : Eben In meinen nun schon über zwölf Jahren am ifo : weil der Staat dazu da ist zu korrigieren, wo hat er mir nicht einmal gesagt, was ich tun oder Märkte versagen, könne Marktversagen im lassen, sagen oder nicht sagen soll. Als Wissen-

Wettbewerb der Staaten durch die Hintertür schaftler hat er sich selbst auch nie einer Par­ iberalen L wieder Einzug halten. teilinie oder Ideologie unterordnen können. zum Der wirtschaftspolitische Pragmatismus des Darum lässt er sich in der schlichten Eindimen­ HWS spiegelt sich auch in einem methodischen sionalität von links und rechts auch gar nicht

Pragmatismus wider. Im Methodenstreit der einordnen. Nur wenn es um Bevormundung inken L deutschen Ökonomenzunft Ende der 2000er oder Freiheit geht, lässt er keinen Zweifel offen : om

Jahre konnte er sich keiner Seite anschließen. Da ist er eben doch ein Liberaler. V

17 Horst Seehofer SOZIALE MARKTWIRTSCHAFT – EIN ERFOLGSMODELL FÜR BAYERN UND DEUTSCHLAND

Horst Seehofer wurde 1980 in den gewählt und ­wurde dann Staatssekretär, Bundesminist­ er für Gesundheit und Bundesminister für Ernäh- rung, Landwirtschaft und Ver­ braucherschutz. Seit 2008 ist er Parteivorsitzender der CSU und Bayerischer Ministerpräsident.

Infolge der größten Wirtschafts- und Finanzkri­ det, ist gerechte Teilhabe möglich. Deshalb se nach dem Zweiten Weltkrieg war allen klar : habe ich 2009 die Kommission »Zukunft So­ Der Laissez-faire-Kapitalismus ist gescheitert. ziale Marktwirtschaft« berufen. Als Präsident Der Markt ist kein moralfreier Raum. Statt dem des ifo Instituts München und einer der an­ schnellen Geld durch Spekulation hinterher­ gesehensten Wirtschaftsprofessoren Deutsch- zulaufen, müssen wir uns wieder viel mehr auf lands durfte Hans-Werner Sinn nicht fehlen. unser Erfolgsmodell »Soziale Marktwirtschaft« Leidenschaftlich in der Sache, messerscharf in besinnen. Uns in Bayern kam dabei eine beson- der Analyse, wenn nötig auch unbequem – so dere Verantwortung zu. Die Idee der Sozia­len habe ich den Ludwig-Erhard-Preisträger für Marktwirtschaft wurde im Freistaat geboren. Wirtschafts­publizistik kennen und schätzen Ihr Vater, der Fürther , hat als gelernt. Bayerischer Wirtschaftsminister 1945/46 die Heute sind sich die Experten im In- und Aus- Grundlagen für den einzigartigen Aufstieg un- land einig : Unser wirtschaftlicher Aufschwung seres Landes in den letzten Jahrzehnten gelegt. der letzten Jahre ist »made in «. Unse- Damals wie heute gilt : Freiheit, Eigentum re Unternehmerinnen und Unternehmer, deut-

iberalen und Wettbewerb sind das Fundament für wirt- scher Erfindergeist, die soziale Mobilität in un- L schaftlichen Erfolg und soziale Sicherheit. Ver- serem Land, die berufliche Bildung – all das ist zum antwortung und Haftung sind untrennbar. Nur inzwischen Vorbild. Mit der Sozialen Markt- ein starker Staat hat die Kraft und die Mittel wirtschaft haben wir Deutschen einen erfolg-

inken für den Schutz der Schwachen und die Garan­ reichen Gegenentwurf zur Planwirtschaft, zum L tien für einen fairen Wettbewerb. Nur dort, wo chinesischen Staatskapitalismus und zum an- om

V Wohlstand auf Eigentum und Leistung grün- gelsächsischen Marktkapitalismus.

18 Ludwig Erhard hat es auf den Punkt ge- füllen. Wir brauchen einen starken Staat, der bracht : Die Arbeit ist und bleibt die Grundlage denen hilft, die sich selbst nicht helfen können. des Wohlstands. Daran hat sich bis heute nichts Genauso aber gilt : Es gibt keinen Wohlstand geändert. Uns in Bayern geht es gut, weil die ohne Anstrengung. Ohne Leistungsträger feh- ­allermeisten Menschen in Lohn und Brot ste- len unserem Sozialstaat die Muskeln. Auch das hen. Uns geht es gut, weil das gesellschaftliche hat Hans-Werner Sinn immer deutlich ge- Klima stimmt, weil bayerische Unternehmen macht. Motor für ganz Deutschland sind. Wir müssen vor allem einen Weg finden, wie Mit Blick auf Europa sage ich : Wir fordern wir in einer älter werdenden Gesellschaft un­ von den anderen Ländern nur das, was wir seren sozialen Wohlstand erwirtschaften kön- selbst geleistet haben und immer noch leisten. nen. Hinzu kommt, dass wir in der globalisier- Das Grundprinzip christlicher Sozialpolitik im ten Welt des 21. Jahrhunderts mit den jungen, 21. Jahrhundert lautet : Aktivieren statt alimen- ehrgeizigen Gesellschaften aus Asien, Latein- tieren. Der Versorgungsstaat schwächt die ak­ amerika und Osteuropa konkurrieren. Wir tive Bürgergesellschaft. Selbstorganisation und brauchen den Biss, die innere Einstellung, den Eigenverantwortung bleiben auf der Strecke. Hunger auf Erfolg. Nur unser Innovationsvor- Wir müssen die Ordnungsprinzipien Solidari- sprung garantiert uns auch in Zukunft Wohl- tät und Subsidiarität wieder in ein vernünftiges stand für alle durch nachhaltiges Wachstum.

Verhältnis bringen. Wir stehen in einem Wettbewerb der Menta- irtschaftspolitik W Das gilt besonders für die hochverschulde- litäten. Entscheidend ist die Lebenseinstellung ten Länder in der Europäischen Union. Ludwig jedes Einzelnen. Wir brauchen eine neue Grün- Erhard steht für feste Prinzipien, die Einhal- derzeit. Derzeit kann sich nur jeder vierte

tung der Gesetze und eine straffe Ordnungs­ Deutsche die Selbständigkeit vorstellen. Hier deutsche politik. Für uns in Bayern war daher immer müssen wir gegensteuern, denn wirklich Neues die klar : Finanzielle Hilfe kann es nur gegen klare schaffen nur mutige Menschen. Lust auf Ent­ und

Reformzusagen geben. Hans-Werner Sinn hat decken, Spaß am Wettbewerb, die Sehnsucht stets mit großem Nachdruck vor der Entkop- nach einem erfüllten Leben, das auf eigener inn pelung von politischer Entscheidungsfreiheit Leistung gründet – wer die Zukunft mitgestal- S und finanzieller Verantwortung gewarnt, wie ten will, der braucht diese positive Einstellung. sie durch die Vergemeinschaftung der Staats- Das ist eine Frage der geistigen, ethischen und erner schulden entsteht. Sein großes Verdienst ist psychologischen Grundausrüstung. Und das -W das unermüdliche Engagement, mit dem er ist am Ende auch eine Kulturfrage des gesell- ans H den Bürgern komplexe Sachverhalte in klarer schaftlichen Klimas. : Sprache deutlich macht. In zahlreichen Bü- Ganz im Sinne Ludwig Erhards und der So- chern, Beiträgen und Interviews hat Hans- zialen Marktwirtschaft ist in Bayern der Un­

Werner Sinn wie kein Zweiter das Verständnis ternehmer Vorbild, nicht Feindbild. Eigen­ iberalen L der Menschen für Wirtschafts- und Finanzfra- verantwortung, Leistungswille und Pioniergeist zum gen gefördert. haben unser Land stark und sozial gemacht. Ein kraftvoller und handlungsfähiger Staat Das soll weiterhin so bleiben. Mit einer Persön- lebt von einer aktiven Bürgergesellschaft. Der lichkeit wie Hans-Werner Sinn haben wir auch inken L Staat kann und soll nicht alles leisten. Aber der in Zukunft einen leidenschaftlichen Verfechter om

Staat muss seine Kernaufgaben verlässlich er- der Sozialen Marktwirtschaft an unserer Seite. V

19 Wolfgang Clement EIN MAHNER AUS PRINZIP

Wolfgang Clement war von 1998 bis 2002 Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen und von 2002 bis 2005 Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit. Er ist Vorsitzender im Kuratorium der Initiative Neue Soziale Marktwirt­ schaft.

Unter den wenigen bekannten deutschen Öko- Sozialpolitik in. Im Jahr 2003 waren auch wir nomen ist er der Bekannteste. In der Rangliste endlich so weit. Gerhard Schröder verkünde- der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom Jahr te die »Agenda 2010«, die man später – als die 2014 ist er auch der Einflussreichste. Aber seine ­Erfolge am Arbeitsmarkt unübersehbar wur­ Prominenz macht ihn, zumal unter Zunftge- den – als bedeutendstes Reformpaket seit Jahr- nossen, fast zwangsläufig auch zum Angefein- zehnten bezeichnen sollte. Doch damals war detsten. Das Handelsblatt beispielsweise atta- Hans-Werner Sinn noch nicht zufrieden. Seine ckierte ihn breitseitig als »falschen Propheten« Kritik war punktgenau und nie unbegründet. und widmete ihm einen von fünf Ökonomen Sie verlangte mehr – und sie war in meiner befeuerten Streitreport. Seine prononcierten Wahrnehmung eine starke Hilfe gegen politi- Meinungsäußerungen haben fürwahr schon sche Ermattung und Mutlosigkeit. viele in Wissenschaft und Politik in Wallung Hans-Werner Sinn ist ein Ordnungspoliti- gebracht. Ja, er kann auch Populismus. Aber ker. Ein Neoliberaler, wie »man« heute idioti- ich mag seine Klarsicht und seine Klarsprache, scherweise sagt, um solchermaßen Etikettierte auch wenn ich ihm nicht auf jedem Schritt und politisch ins Abseits stellen zu können. Er ist,

iberalen Tritt zu folgen vermag. Ich habe an etlichen so sagt er selbst, ein Ordoliberaler im Sinne L ­seiner Publikationen Maß genommen. Es hat ­Erhards und Euckens. Und Leute dieser Den- zum meinem Wahrnehmungs- und Urteilsvermö- kungsart brauchen wir – jedenfalls wenn wir gen fürwahr nicht geschadet. uns weiterhin auf dem Boden der Sozialen

inken Schon früh, als hierzulande noch viele von Marktwirtschaft bewegen wollen : in Deutsch- L der »New Economy« träumten, trat er bereits land, wo man manchmal zweifeln mag, dass om

V für ein Umsteuern in der Arbeitsmarkt- und dies noch der Fall sei. Und in Europa, wo wir –

20 wenn wir es denn je verwirklichen – noch lan- gen früherer Jahre. Doch seit dieses Instrumen- ge nicht so weit sind. Hans-Werner Sinn for- tarium mit der Währungsunion entfiel und muliert fachliche Maßstäbe, die nur Stupide sich das Kapital von den Krisenstaaten ab- gleichgültig lassen. Sie geben Orientierungen, wandte, hat die Europäische Zentralbank Tür die eine Gesellschaft braucht, um ihren Weg ei- und Tor bis hin zum totalen Quantitative Eas­ nigermaßen sicheren Fußes gehen zu können. ing immer weiter geöffnet, aber zunächst den Man nehme nur die europäische Schulden- Zentralbanken der betreffenden Länder die krise. Nur wenige Ökonomen haben sich so wie Möglichkeit gegeben, den Defizitausgleich er in fast jede der bis heute tobenden Schlach- durch Drucken und Verteilen neuen Geldes ten geworfen. Und das ist auch gut so ! zu finanzieren. Wenn Hans-Werner Sinn diese Oder stimmte es etwa nicht, dass der europä­ »Target-Kredite« offenlegte und als »Rettungs- ische Stabilitätsmechanismus zu einer Schwä- schirm vor dem offiziellen Rettungsschirm« chung des Euro und zur Gefährdung des euro- kennzeichnete, hatte er Recht. Es war eine Fi- päischen Einigungswerkes führt ? Es ist doch nanzierung an den Parlamenten vorbei. Letzt- fast schon Allgemeingut, dass der Verzicht lich auch eine »Gemeinschaftshaftung durch auf die »Politische Union« vor Ingangs­etzung die Hintertür«, vor der Sinn nicht müde wird der Währungsunion am Anfang aller heutigen zu warnen. Probleme steht und dass der bis in diese Tage Den stärksten Unmut hatte der ifo-Chef aber immer weicher gespülte Stabilitätspakt tat­ schon 2012 auf sich gezogen, als er gemeinsam irtschaftspolitik W sächlich alles anderen als stabilisierend wirkt. mit einigen Gefährten gegen eine Vergemein- Denn er entlastet die Regierungen der Krisen- schaftung der Bankenschulden in der Euro­ staaten vom Handlungsdruck zu Konsolidie- region zu Felde zog. Doch hätte es Warner

rung und strukturellen Reformen und lädt so wie ihn nicht gegeben – wäre es überhaupt zu deutsche zu weiteren Sünden wider die ökonomische einer Bankenunion mit Restrukturierungs- die

Vernunft ein. Die entsprechenden Auseinan - fonds und einer vielleicht irgendwann einmal und dersetzungen zwischen dem Norden und dem hinreichenden Einlagensicherung gekommen ? Süden Europas haben längst eine politisch de- Es darf gezweifelt werden. Wir dürfen uns an inn stabilisierende Wirkung auf die Europäische prinzipienfesten Ökonomen wie Hans-Werner S Union. Wir befinden uns mitten in der Zer- Sinn freuen, die die europäische Wirtschafts-, reißprobe, in der Lebenswirklichkeit europäi- Finanz- und Geldpolitik auf deren selten gera- erner scher Politik ziemlich genau zwischen »Grexit« den Pfaden kritisch begleiten. Das lässt trotz -W und »Brexit«. und alledem immer noch hoffen. Doch es wird ans H Es ist doch ebenso zutreffend, dass die Leis- bestimmt noch etliche Jahre kosten, ehe wir : tungsbilanzdefizite der Krisenländer am An- ­sicher wissen, ob das Projekt Europa mitsamt fang unserer Schuldenkrise stehen. Dass sie gemeinsamer Währung überhaupt – und wenn, zeitweise über ihre Verhältnisse leben konnten, mit allen Teilnehmern – ins Ziel kommt. iberalen L verdankten diese Länder diversen Abwertun- zum

inken L om V

21 Reinhard Kardinal Marx LEITBILD CHANCENGERECHTIGKEIT

Reinhard Kardinal Marx ist Erz­ bischof von München und Freising, Mitglied der Kardinalsgruppe zur Beratung von Papst Franziskus in der Leitung der Weltkirche, Koordi- nator des Päpstlichen Rates für die wirtschaftlichen Angelegenheiten, Präsident der ComECE und Vor­ sitzender der Deutschen Bischofs­ konferenz.

Blickt man auf die politischen Debatten seit der Antworten – ist doch beispielsweise mit dem Wiedervereinigung zurück, nimmt vor allem internationalen Wettbewerbsdruck oder der die Reformbedürftigkeit des deutschen Sozial- fortschreitenden Digitalisierung ein tiefgreifen- staats breiten Raum ein. Einer der maßgebli- der Strukturwandel verbunden. Darüber hin- chen Impulsgeber dieser öffentlichen Dis­kus­ aus werden auch die finanziellen Spielräume sion war Hans-Werner Sinn. Ich erinnere nur aufgrund von Staatsdefiziten, demographi- an seinen Bestseller Ist Deutschland noch zu schem Wandel und erforderlichen Maßnahmen retten? aus dem Jahr 2003 mit seinem kämp­ zum Klima- und Umweltschutz immer enger. ferischen Appell zur Notwendigkeit einer um- Das Gefühl der Beschleunigung des Lebens fassenden Wirtschafts- und Sozialreform. und die Verunsicherung der Menschen ange- Die Frage der gerechten Gestaltung der Ge- sichts steigender Komplexität werden daher sellschaft bleibt auch in Zukunft von großer eher zu- als abnehmen. Dies macht eine ver- ­Aktualität. Denn die prägenden Prozesse der lässliche soziale Absicherung notwendiger denn Pluralisierung und Individualisierung, der Ra- je, vor allem weil es gilt, eine Schwächung des tionalisierung und Globalisierung schreiten gesellschaftlichen Zusammenhalts zu verhin-

iberalen weiter voran. In einer Zeit zunehmender Viel- dern. Denn die Reformen des Sozialstaats und L falt der Lebensläufe sowie wachsender Flexibili- die oft stark zugespitzte öffentliche Diskussion­ zum tät und Mobilität erwarten die Menschen, dass über Sozialleistungen und Zumutbarkeitsrege- der Sozialstaat ihnen Sicherheit und Rücken­ lungen rufen vielfach Ängste und Abwehr­

inken deckung bietet. Gleichzeitig verlangen die Glo- verhalten hervor : Während die Betroffenen L balisierung ebenso wie der technologische Fort- den Abbau sozialer Leistungen sowie zuneh- om

V schritt dringend nach Anpassungen und neuen mende Ausgrenzung und Ohnmacht fürchten,

22 schwindet die Solidarität der Bessergestellten Qualifizierung entstanden sind. Eine gute Aus- mit denjenigen, die Hilfe und Unterstützung bildung und die Fähigkeit, das eigene Leben in brauchen. die Hand zu nehmen, sind aber nicht nur für Daher muss die Politik neben der Debatte die Beschäftigungschancen auf dem Arbeits- über die klassische soziale Sicherung auch eine markt entscheidend, sondern auch wesentliche Diskussion über Inklusion und Exklusion füh- Voraussetzungen einer stabilen Erwerbs- und ren. Es geht um den Menschen und seine Teil- Lebensbiographie. Alle Menschen müssen die habe am gesellschaftlichen Leben. Der akti­ Chance erhalten, ihre Begabungen und Fähig- vierende Sozialstaat setzt bei der Befähigung keiten zu entwickeln. Nur so sind sie in der zu einem möglichst selbstbestimmten und ei- Lage, sich selbst zu entfalten und ihren indivi- genverantwortlichen Leben und bei der Bereit- duellen Beitrag für die Gesellschaft zu leisten. schaft zu aktiver gesellschaftlicher Teilnahme Das Bemühen um die Verbesserung der an. Er greift damit das Freiheitsverständnis der Chancengerechtigkeit darf nicht darüber hin- Menschen in der modernen, pluralen und in­ wegtäuschen, dass ein gewisses Maß an Un- dividualistischen Gesellschaft auf. Er versucht gleichheit zu einer freien Gesellschaft gehört. Handlungsspielräume zu stärken und trägt so Ungleichheit ist nicht automatisch ungerecht, dazu bei, die sozialen Sicherungssysteme kri- sondern sie ist Ausdruck unterschiedlicher senfester und damit zukunftsfähiger zu ma- ­Potenziale und Befähigungen der Menschen. chen. Umso wichtiger ist deshalb die Verpflichtung, irtschaftspolitik W Die Kommission für gesellschaftliche und jedem Einzelnen wirkliche Chancen zur per- soziale Fragen der Deutschen Bischofskon­ sönlichen Freiheitsentfaltung zu eröffnen. Wird ferenz hat in einem 2011 veröffentlichten Im­ dies glaubhaft vermittelt, dann gefährdet die

pulstext das Leitbild einer »chancengerechten zunehmende Differenzierung der Gesellschaft deutsche

­Gesellschaft« in den Mittelpunkt ihrer Über ­ auch deren Zusammenhalt nicht. die legungen zur Erneuerung unseres Sozial- und Wenn die Zusage »Chancen für alle« den und

Wirtschaftsmodells gestellt. Die Chancenge- Menschen Wege zur Teilhabe, zum sozialen rechtigkeit zielt darauf, dem Risiko sozialer Aufstieg und zum Wohlstand ermöglicht, wird inn

Ausgrenzung entschiedener und nachhaltiger nicht nur das Selbstvertrauen des Einzelnen S zu begegnen. Jedem Menschen in unserer Ge- gestärkt, sondern auch das Vertrauen in die sellschaft muss die tatsächliche Chance eröffnet Gesellschaft und in das System sozialer Sicher- erner werden, aktiv am gesellschaftlichen Leben teil- heit. So trägt eine am Leitbild der Chancen­ -W zuhaben. Deshalb müssen die Ausgeschlosse- gerechtigkeit ausgestaltete Gesellschaft auch ans H nen und an den Rand Gedrängten ins Zentrum zur Zukunftsfähigkeit unseres Landes bei. : der Aufmerksamkeit gerückt werden. Denn Ich denke, dass Hans-Werner Sinn vieles niemand darf abgeschrieben werden. Dies gilt teilt, was wir als Bischöfe in diesem Programm auch für Menschen mit besonderen Armuts­ für eine erneuerte Soziale Marktwirtschaft iberalen L risiken wie Langzeitarbeitslose, Alleinerziehen- ­formuliert haben. Gerne denke ich an alle Be­ zum de oder Menschen mit Migrationshintergrund. gegnungen mit ihm und die offenen, auch Zur Eröffnung sozialer Chancen bedarf es ­kontroversen Diskussionen über Schulden, zunächst einer guten Bildung und Erziehung. ­Kasino-Kapitalismus oder Ordoliberalismus : inken L Kein Sozialsystem kann die Nachteile ausglei- Es ist eine Freude und Herausforderung zu- om chen, die durch unzureichende Bildung und gleich. V

23 Ulrich Grillo DER ÖKONOMIE-ERKLÄRER – VON A WIE ARBEITSMARKT BIS Z WIE ZUWANDERUNG

Ulrich Grillo ist seit 2013 Präsi­dent des Bundesverbands der Deut- schen Industrie (BDI). Seit 2004 ist er Vorsitzender des Vorstands der Grillo-Werke AG; bis 2012 war er Präsident der Wirtschaftsver­ einigung Metalle.

Hans-Werner Sinn beherrscht das ABC der wachstum über weite Strecken eher schwach, Wirtschaftspolitik seit Jahrzehnten wie kaum der Reformstau in Deutschland hoch war. Die ein anderer deutscher Ökonom : von A wie Zeit des »kranken Mannes in Europa«, wie es ­Arbeitsmarkt oder »Aktivierende Sozialhilfe« der Economist Anfang der 2000er Jahre formu- über B wie Basarökonomie bis Z wie Zuwan­ liert hat, liegt noch nicht so weit zurück – auch derung. Er hat kein wichtiges wirtschaftspoli­ wenn die positive wirtschaftliche Entwicklung tisches Thema ausgelassen. Und wenn es noch im Nachgang zur Finanz- und Wirtschaftskrise kein Thema war, dann hat er es zu einem ge- 2008/2009 dies fast vergessen macht. macht, Stichwort Target-Salden. Das ist sein Bei vielen Themen war der Bundesverband Verdienst. der Deutschen Industrie mit Hans-Werner Hans-Werner Sinn ist ein unermüdlicher Sinn einig, etwa bei der Unterstützung der Re- »Ökonomie-Erklärer«. Einer, der keine Angst formen der Agenda 2010 : Er hielt sie für rich- davor hat anzuecken. Er war sich nie zu schade, tig, aber nicht für ausreichend. seine provokanten Positionen in Talkshows zu Es gab aber auch Unterschiede. So haben wir vertreten; ohne Rücksicht darauf, dass er in der für die Zukunft der deutschen Industrie nicht

iberalen Öffentlichkeit zum Teil heftige Kritik erntete. ganz so schwarzgesehen wie er in seinem Bild L Er hat über eine Zeitspanne gewirkt, in die von der Basarökonomie : Er ging davon aus, zum nicht nur die deutsche Wiedervereinigung fiel, dass die exportgetriebene Produktion der deut- sondern in der sich auch der strukturelle Wan- schen Industrie vorrangig im Ausland statt­

inken del weltweit beschleunigt und die internatio­ finden und sich industrielle Produktion am L nale Arbeitsteilung im Zuge der Globalisierung Standort Deutschland aufgrund hoher Kosten om

V intensiviert haben. Und in der das Wirtschafts- kaum mehr lohnen würde. Übrig wäre dann

24 nur noch die »Basarökonomie«, also vor allem nen. In diesen Kontext gehört auch seine For- der Vertrieb. derung, eine »Aktivierende Sozialhilfe« einzu- Es stimmt zwar, dass die deutsche Industrie führen und den Niedriglohnsektor auszubauen. ihre Wertschöpfungsketten weltweit aufgestellt Letztlich haben ihm die Reformen der Agenda hat und für ihre Exportprodukte auch viele 2010 und ihre unbestritten positiven Wirkun- Vorleistungen importiert. Damit hat sie aber gen auf den deutschen Arbeitsmarkt Recht ge- ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit kon- geben. tinuierlich verbessert. Deutschland verfügt Im Rahmen der jüngsten Finanz-, Wirt- auch heute noch über eine starke industrielle schafts- und Staatsschuldenkrise in Europa Basis. bleibt Hans-Werner Sinn ein Mahner, der uns So ist der Anteil der Industrie an der Wert- auffordert, auch unbequemen Wahrheiten ins schöpfung über die Jahre weitgehend stabil ge- Auge zu sehen. So hat er oft betont, wie schwie- blieben – er liegt immer noch bei über 20 %, rig die wirtschaftspolitische Anpassung in ei- während er andernorts deutlich gesunken ist. ner Währungsunion ist. Zudem hat er die kom- Nach wie vor beschäftigt die deutsche Industrie plizierten Mechanismen der Finanzierung von etwa 7,5 Millionen Menschen in Deutschland. Leistungsbilanzdefiziten in Ländern des Euro­ Bezieht man die unternehmensnahen Dienst- raums aufgezeigt. leister mit ein, liegen die Zahlen noch höher. Die Stabilisierung der Währungsunion ist

Allerdings haben wir angesichts ungelöster von überragendem Interesse für die deutsche irtschaftspolitik W Probleme wie der Energiewende oder ange- Industrie : Wir wollen den Euro und die Euro- sichts der Herausforderungen aus Digitalisie- päische Union. Auch wenn die aufstrebenden rung und Vernetzung, kurz Industrie 4.0, kei- Schwellenländer als Handelspartner der deut-

ne Garantie dafür, dass dies auch in Zukunft schen Industrie in den Jahrzehnten enorm an deutsche so bleibt. Bedeutung gewonnen haben, so bleibt Europa die

Hans-Werner Sinn hat sich in einem Vortrag doch der Heimatmarkt des Industrielandes und bei der Stiftung Schloss Neuhardenberg 2003 Deutschland. Industrie mit Zukunft – das geht einmal selbst als »Kathedersozialisten« be- nur in einem zukunftsfähigen und starken Eu- inn zeichnet. Mit diesem Begriff wurden deutsche ropa. Klar ist aber auch : Um dieses Ziel zu er- S Professoren der Nationalökonomie im 19. Jahr- reichen, sind Reformen unumgänglich. hundert kritisiert, die sich angesichts der Man könnte das ganze Alphabet durchdekli- erner schwierigen sozialen Lage der Arbeiter in der nieren. Und würde zu jedem Buchstaben ein -W

Sozialpolitik engagierten und die Reformen Thema finden, das der Ökonomie-Erklärer ge- ans H Bismarcks vorbereiteten. Sie gründeten 1873 prägt hat. Das würde aber den Rahmen des : den Verein für Socialpolitik, dessen Vorsitzen- Beitrags sprengen. Bleibt also nur noch, Hans- der Hans-Werner Sinn von 1997 bis 2000 war. Werner Sinn für die Zukunft alles Gute zu

Doch bei aller Kritik, die er über die Jahre wünschen – und zu hoffen, dass sich der scharf- iberalen L am aus seiner Sicht ausufernden Sozialstaat sinnige und scharfzüngige Denker auch weiter zum übte, hatte er stets auch eines im Blick : das Ge- in die öffentliche Diskussion einmischen und meinwohl. Aus seiner Sicht waren Einschnitte sich nicht auf sein Altenteil zurückziehen wird. notwendig, um das Ganze erhalten zu kön- inken L om V

25 Roland Berger HANS-WERNER SINN: VOLKSWIRT, KOMMUNIKATOR, MANAGER

Roland Berger ist Gründer und Honorary Chairman von Roland Berger Strategy Consultants. ­Darüber hinaus ist er Mitglied verschiedener Aufsichts- und Bei- räte von nationalen und interna­ tionalen Unternehmen, Stiftungen und Organisationen sowie Vor­ sitzender der ifo-Freundesgesell- schaft.

Hans-Werner Sinn ist ohne Zweifel der ein- kann. Und, last but not least, ein erfolgreicher flussreichste deutsche Ökonom unserer Zeit. Manager, der das ifo Institut in einer Krisen­ Das ist nicht nur mein subjektiver Eindruck situation übernahm und zum führenden deut- aus vielen Gesprächen mit Politikern, Wirt- schen Wirtschaftsforschungsinstitut entwickelt schaftsführern und Unternehmern, sondern hat, was unter anderem das Handelsblatt-Ran- wird auch von zahlreichen Rankings bestätigt : king bestätigt. Das F. A. Z.-Ranking der einflussreichsten Wirt­ Aber der Reihe nach : Zunächst fußt Hans- schaftsforscher setzte ihn 2014 auf Platz 1, Werner Sinns Erfolg natürlich auf herausra- ­ebenso eine Umfrage unter Bundestagsabge- genden wissenschaftlichen Leistungen. Schon ordneten und ihren Mitarbeitern im Jahr zu- seine Promotion und Habilitation waren preis- vor. 2012 nannte Bloomberg ihn als einzigen gekrönt. Es folgten Veröffentlichungen in allen Deutschen in einer Liste der 50 weltweit wich- wesentlichen Journals sowie vielbeachtete Bü- tigsten Persönlichkeiten der Wirtschaft. Diese cher, prall gefüllt mit originärem Denken und Liste ließe sich beliebig fortsetzen, was ich dem stringenter, oft modelltheoretischer Argumen- Leser ersparen möchte. Hans-Werner Sinn ist tation. Dabei – und das macht die wissen-

iberalen offensichtlich dreierlei : ein exzellenter Volks- schaftliche Leistung Hans-Werner Sinns noch L wirt, der akademisch weit über die Grenzen beeindruckender – arbeitete er nicht etwa in zum Deutschlands hinaus bekannt ist und respek- einem eng abgesteckten Feld, sondern deckte tiert wird. Ein brillanter und meinungsstarker von Besteuerung über die Konsequenzen der

inken Kommunikator, der keine Auseinandersetzung deutschen Wiedervereinigung bis hin zur Ban- L scheut, wenn er mit den Ergebnissen seiner kenregulierung und Klimapolitik so ziemlich om

V Forschung zum öffentlichen Diskurs beitragen alle wesentlichen ökonomischen, gesellschaft-

26 lichen und politischen Themen ab, meist bevor gen Medienkampagnen, die im Laufe der Jahre diese »populär« wurden. Die Vielfalt der Bei- gegen ihn gerichtet waren, ist ihm hoch anzu- träge in diesem Buch ist Zeugnis der enormen rechnen und sicherlich auch durch seine tiefe Breite und Tiefe des Schaffens Sinns. Jedoch Überzeugung geprägt, dass die Ergebnisse sau- war für ihn die Wissenschaft nie Selbstzweck, berer wissenschaftlicher Arbeit dem öffentlich denn er versteht die Ökonomie als Gesell- Diskurs nur nützen können. schaftswissenschaft im Wortsinn : als eine Wis- Mit seiner akademischen Exzellenz und senschaft, die verschiedene Aspekte der Ge­ ­seiner Öffentlichkeitswirksamkeit war Hans- sellschaft untersucht, die aber auch in der Werner Sinn im Übrigen ein Glücksfall für Verantwortung steht, ihr ihre Ergebnisse zu­ das ifo Institut, dessen Name für »Information gutekommen zu lassen. und Forschung« steht, was Sinns Wirken in Daher hat Hans-Werner Sinn immer sicher- den letzten Jahrzehnten im Grunde perfekt gestellt, dass seine wissenschaftlichen Arbeiten ­beschreibt. Sinn übernahm das Institut im Feb- nicht nur in den Regalen von Experten landen, ruar 1999 in einer Krisensituation – mit Bud- sondern in den Medien, in Landes- und Bun- getlöchern und sinkenden wissenschaftlichen desregierungen, in den Zentralbanken und na- Leistungen. Durch wegweisende Entscheidun- türlich auch in der europäischen Politik disku- gen – etwa indem er ermöglichte, dass ifo-Be- tiert werden. So erscheint es undenkbar, dass reichsleiter Professuren an der LMU erhielten, die Problematik der Target-2-Salden in der oder indem er über die Zusammenarbeit mit irtschaftspolitik W Euro­krise ohne Sinn jemals so ins Rampenlicht dem Center for Economic Studies das ifo gerückt wäre. In diesem Kontext fand auch ­Ins­titut erheblich internationalisierte – zog er die Bogenberger Erklärung im Jahr 2011, die ­hervorragendes wissenschaftliches Personal an

im Wesentlichen auf der Strategiesitzung der und entwickelte es weiter. Nicht zuletzt da- deutsche

Kuratoren der ifo-Freundesgesellschaft in Bo- durch machten Sinn und sein Vorstandskollege die genberg, Obertaufkirchen, erarbeitet wurde, Meinhard Knoche das einstige »Sorgenkind« und ein breites Medienecho. Die großen, wertvol- zu Deutschlands führendem Wirtschaftsfor- len Debatten über die Wettbewerbsfähigkeit schungsinstitut, das mittlerweile auch interna- inn

Deutschlands in den frühen 2000ern, über tional großes Renommee genießt. S nachhaltige Rentenpolitik angesichts des de- Zum Abschied in den Ruhestand müsste mographischen Wandels, aber auch über das man Hans-Werner Sinn eigentlich wünschen, erner »grüne Paradoxon« verdanken wir ebenso dass er nunmehr die Gelegenheit findet, mehr -W

Hans-Werner Sinn. Solcher Erfolg in der Öf- Zeit mit seiner Familie und mit den schönen ans H fentlichkeit hat zwei Voraussetzungen : einer- Dingen des Lebens zu verbringen. Angesichts : seits Intuition für die »richtigen« Themen, die seiner wissenschaftlichen Leistungen und sei- den Zeitgeist umtreiben, und andererseits die nes Wirkens für die res publica muss man aller- intellektuelle Kapazität, um zu diesen Themen dings einen Wunsch hinzufügen : nämlich dass iberalen L etwas Neues und Konstruktives beizutragen. er, bei aller verdienten Erholung, auch in Zu- zum Beide hat Hans-Werner Sinn ohne Zweifel. kunft seine Stimme der ökonomischen Ver- Jemand, der die Aufgabe des Ökonomen so nunft in den doch oft sehr irrationalen wirt- versteht, wie Sinn es tut, exponiert sich natür- schaftspolitischen Debatten erheben möge und inken L lich und stößt dabei nicht nur auf Begeisterung dass wir noch viel von ihm hören werden. om und Zustimmung. Seine Widerstandskraft ge- V

27 Wolfgang Franz DIE EIGER-NORDWAND UND DER KOMBILOHN: EINE REMINISZENZ

Wolfgang Franz war bis zum Jahr 2013 Präsident des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) und Vorsitzender des Sach- verständigenrates zur Begutach- tung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. 2013 erhielt er das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse.

Es ist erst rund 15 Jahre her, da galt Deutsch- ­jener zwanzig Punkte in die Agenda 2010 auf- land ökonomisch als der »kranke Mann Euro- genommen habe. pas«. Die Ursachen der seinerzeitigen Misere Im Hinblick auf die Ursachenanalyse und waren Gegenstand zahlreicher Studien, Gut- die darauf basierenden Reformvorschläge wie- achten und Stellungnahmen unterschiedlicher sen beide Bücher beträchtliche Gemeinsam- Wissenschaftler und Institutionen. Eine beson- keiten auf. Als eine der Hauptursachen iden­ dere Aufmerksamkeit erlangte völlig zu Recht tifizierten sie die beschäftigungsfeindlichen das im Jahr 2003 erschienene Buch von Hans- Schieflagen in den Systemen der sozialen Si- Werner Sinn mit der Titelfrage : Ist Deutschland cherung und im institutionellen Regelwerk des noch zu retten? In mehreren Auflagen be- Arbeitsmarkts. Diese Sichtweise gab zu teilwei- schrieb das Buch in schonungsloser Offenheit se erbitterten Kontroversen Anlass. Zum einen die ­Reformnotwendigkeiten. Ein zweites Bei- wurde die Bedeutung dieser Defizite rundher- spiel für eine fundierte, auf wissenschaftlicher aus bestritten. Etwas subtiler war dann zum an- Grund­lage beruhende Analyse der Schwächen deren der Vorwurf, diese Fehlsteuerungen, so Deutschlands stellt das Jahresgutachten 2002 es sie denn überhaupt gebe, hätten sich, wenn

iberalen des Sachverständigenrates zur Begutachtung überhaupt, nicht in dem Umfang verschärft, als L der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung dar, dass sie die schubweise, treppenförmige Ent- zum welches mit Zwanzig Punkte für Beschäftigung wicklung der Arbeitslosigkeit in Westdeutsch- und Wachstum betitelt war und ebenfalls häu- land der vorangegangenen beiden Dekaden

inken fig zitiert wurde. Der Titel gab sogar zu dem hätten erklären können. Vielmehr mangele es L Kalauer Anlass, der Name »Agenda 2010« rüh- stets an ausreichender gesamtwirtschaftlicher om

V re daher, dass Bundeskanzler Schröder zehn Nachfrage. Übersehen wurde bei dieser Argu-

28 mentation der Sperrklinkeneffekt der ange- dererseits. Grob vereinfacht sahen beide Mo- sprochenen Bremsklötze. Im Aufschwung delle eine Absenkung des Regelsatzes der ­mögen die Beschäftigungshemmnisse weniger Sozialhilfe und später des Arbeitslosengelds II lähmend wirken, aber im Abschwung verhin- und gleichzeitig großzügigere Hinzuverdienst- dern sie die notwendige Flexibilität, um wieder möglichkeiten vor. Anders formuliert, jeder auf einen stabilen Beschäftigungspfad zu ge- konnte trotz der Absenkung des Regelsatzes langen. das vorher bestehende Niveau der Unter­stüt­ Im Mittelpunkt der Analysen von Hans- zungszahlungen wieder erreichen, aber musste Werner Sinn und des Sachverständigenrates dafür Arbeitsleistungen auf dem ersten Ar- standen der Sozialstaat und hier insbesondere beitsmarkt erbringen oder, wenn es nicht an- das System der Lohnersatzleistungen, also das ders möglich ist, auf dem zweiten Arbeits- Arbeitslosengeld und die seinerzeitige Arbeits- markt. losenhilfe und Sozialhilfe, später das Arbeits­ Die Reaktionen auf beide Vorschläge in der losengeld II. Das Hauptproblem bestand darin, Öffentlichkeit und in der Politik waren, freund- dass eigenes Arbeitseinkommen, von gering­ lich ausgedrückt, enttäuschend, teilweise ver- fügigen Hinzuverdienstmöglichkeiten abgese- heerend. Einschlägig bekannte Medien thema- hen, in weiten Bereichen eins zu eins auf die tisierten nahezu ausschließlich die Absenkung Hilfen angerechnet (»Transferentzugsrate«), des Regelsatzes. Mitglieder des Sachverstän­ also mit einem Steuersatz von 100 % belegt digenrates wie der Autor dieses Beitrags wur- irtschaftspolitik W wurde. Niemand arbeitet bei einem Steuersatz den in Interviews und Talkrunden regelmäßig von 100 %, also waren die Arbeitsanreize prak- als kaltschnäuzige »Neoliberale« geschmäht, tisch null. Hans-Werner Sinn hat dieses Prob- die den beklagenswerten Hilfeempfängern, die

lem mit dem »Michel vor der Eiger-Nord- dann auch noch publikumswirksam in der deutsche wand« veranschaulicht. Damit sich eigene Fernsehsendung auftauchten, selbst noch die die

Arbeitsleistungen der Empfänger solcher Un- letzte Würde nähmen. Vor diesem Hinter- und terstützungszahlungen trotz der Transferent- grund ist es wenig verwunderlich, dass die Po- zugsraten in höheren Nettoeinkommen nie- litik das Kombilohnmodell wie eine heiße Kar- inn derschlagen, bedürfe es Arbeitsleistungen in toffel fallen ließ, obwohl die Bundesregierung S einem Ausmaß, welches für viele Personen so den Sachverständigenrat offiziell um die -er unüberwindlich sei wie das Erklimmen der wähnte Expertise gebeten hatte. erner ­Eiger-Nordwand bis zur Oberkante, ab der sich Hans-Werner Sinn erging es mit der »Akti- -W

Arbeit wieder lohne. »Lohnersatzleistungen als vierenden Sozialhilfe« ähnlich. So beklagt er in ans H Jobkiller«, prangerte Hans-Werner Sinn dies der achten Auflage seines zitierten Buches, die : scharf an. Zu ähnlichen Schlussfolgerungen ge- Reform des Arbeitslosengelds II sei nur »eine langte der Sachverständigenrat. Beide entwi- geringfügige Verbesserung des Anreizsystems ckelten unabhängig voneinander Lösungsvor- mit erheblichen Inkonsistenzen, aber keine iberalen L schläge, die indes sehr starke Gemeinsamkeiten durchschlagende Reform«. Es spricht für ihn, zum aufwiesen, nämlich der Sachverständigenrat dass er trotz solcher und anderer Rückschläge das »zielgerichtete Kombilohnmodell« in einer in seinen Anstrengungen, eine fundierte wirt-

Expertise im Jahr 2006 einerseits und Hans- schaftspolitische Beratung zu erbringen, nicht inken L Werner Sinn die »Aktivierende Sozialhilfe« an- nachgelassen hat. om V

29 Edmund Phelps HANS-WERNER SINN UND DEUTSCHLANDS NATÜRLICHE ARBEITSLOSENRATE

Edmund Phelps ist Wirtschafts­ nobelpreisträger 2006, Direktor des Center on Capitalism and ­Society an der Columbia University, Dekan der New Huadu Business School und Autor von Mass Flour­ ishing: How Grassroots Innovation Created Jobs, Challenge and Change (Princeton Univ. Press 2013).

Durch mehrere Aufenthalte in Deutschland Mal, ich glaube 1983, in Mannheim, wo er eine ­begann ich, mich mit dem Land verbunden Vorlesung hielt und ich ein Lehrbuch fertig- zu fühlen. Trotz des beeindruckenden Wieder­ stellte. Er fiel mir als der klügste und treff­ aufbaus in der Nachkriegszeit verspürte ich sicherste der deutschen Ökonomen auf. Das bei manchen Ökonomen Besorgnis darüber, nächste Mal begegneten wir uns im Dezember welche Richtung die politische Ökonomie des 2002 auf einer Konferenz am ifo Institut, wo er Landes einschlug. In einer Unterhaltung um Präsident und ich der Keynote Speaker war. Ich 1975 sprach , damals Präsident erinnere mich gut an den Abend mit ihm und des Kieler Instituts für Weltwirtschaft, über die seiner bezaubernden Frau Gerlinde, an dem Kosten des in Deutschland entstehenden Kor- wir den Münchner Christkindlmarkt besuch- poratismus, und in einer Unterhaltung um 1990 ten und uns beim Abendessen darüber aus- drückte Heinz König, der ehemalige Direktor tauschten, was Deutschland fehlt. Als ich dann des ZEW in Mannheim, seine Sorgen über die einen Partner suchte, der mit mir und meinem Entwicklungen der Corporate Governance aus. Center on Capitalism and Society 2006 eine Jetzt ist die nächste Generation – in der unser Konferenz zur Frage, woran Europa leidet, or-

iberalen Geehrter mittendrin ist (und ich am älteren ganisiert, war klar, dass Professor Sinn und sein L Ende) – für die Warnungen verantwortlich. ifo Institut die Richtigen sind. zum

Hans-Werner Sinn – das kann man sicher Die Veranstaltung im Sommer in Venedig sagen – hat mehr als jeder Ökonom seiner Ge- war wohl die erste große Tagung, die sich mit

inken neration getan, um die Frage nach der Zukunft dem in zahlreichen Daten angedeuteten Rück- L Europas aufzuwerfen. Ich persönlich fand das gang der Wirtschaftsleistung in Kontinental­ om

V nicht überraschend. Ich traf ihn zum ersten europa auseinandersetzte. Soweit ich weiß,

3030 wur­de hier zum ersten Mal diskutiert, dass das 2000 – 2004 gesunken ist, stieg sie 2005 – 2009 Problem ein »Mangel an Dynamik« war, der zu wieder auf 81,20 % und 2010 – 2012 sogar auf einer Innovationsgeschwindigkeit führte, die 83,60 %. Die Wahrheit könnte sein, dass die, neben der schnellen Innovation der glänzen- die ihren Job verloren, eine Zeitlang durch den den Jahrzehnte des Kontinents verblasste. Die Schock erschüttert waren, doch die meisten Teilnehmer suchten ausgiebig die Gründe für weiter nach einem Job suchten und so im Ar- den Verlust an Dynamik – nicht nur bei Markt- beitskräftepotenzial blieben. Neue Arbeitgeber kräften wie Alterung, Institutionen wie Cor­ fanden allmählich die richtigen Lösungen, so porate Governance und Wirtschaftspolitiken dass sich die Beschäftigung erholte. Die »na­ wie der Besteuerung und Wohlfahrtsprogram- türliche Rate« lebt ! Und Schröders Reformen men. Auch die ökonomische Kultur wurde in von 2004 könnten die natürliche verbesserte Betracht gezogen : Wurden die Werte, die die Beschäftigung auf ein Niveau über das von lange Epoche der Innovation in Deutschland 1990 – 1994 gehoben haben. und Frankreich im 19. Jahrhundert entfachten, Doch die Welt entwickelt sich ständig weiter. durch andere, für Innovationen schädliche Niemand hätte vorhersehen können, dass der Werte verdrängt ? Natürlich gab es nur weni- Verlust der Wettbewerbsfähigkeit in Südeuro- ge eindeutige Schlussfolgerungen, geschweige pa zum Ende des letzten Jahrzehnts der deut- denn Einigkeit unter den Teilnehmern. Den- schen Beschäftigung noch einmal Auftrieb -ge noch stellten diese Konferenz und das daraus ben würde – kurzfristig zumindest. Niemand irtschaftspolitik W entstandene Buch, Perspectives on the Perform­ kann sich sicher sein, dass Deutschlands neuer ance of the Continental Economies, einen Wen- realer Wechselkurs langfristig nicht mit hö­ depunkte für viele Teilnehmer dar – Professor heren Preisaufschlägen, daraus resultierend Sinn und mich eingeschlossen. weniger Inlandsverkäufen und somit letztlich deutsche In seinem Beitrag konzentriert sich Sinn auf niedrigerer Beschäftigung endet. Und niemand die das Zusammenspiel zweier Kräfte : die Globa­ kann sich sicher sein, dass Schröders Refor-

lisierung und der Wohlfahrtsstaat. Seine These men diese neue Phase überleben werden. Sinn und ist, dass die Beschäftigung in Vollzeitäquiva- könnte der sein, der zuletzt lacht. inn

lenten im Verarbeitenden Gewerbe in Deutsch- Ich habe von Sinns These gelernt. Wir müs- S land von 1995 bis 2005 um 1,21 Millionen ge- sen uns fragen, ob sich der auffällige Auszug

sunken ist. Wo sind sie geblieben ? Sie »gingen der Amerikaner aus der Erwerbsbeteiligung als erner in den Wohlfahrtsstaat, in staatlich finanzierte dauerhaft erweist – unterstützt durch Regie- -W

Arbeitslosigkeit« (S. 419). Deutsche Leser wis- rungsprogramme –, oder ob die übrig geblie- ans H sen, dass dies ein Thema in seinem Bestseller bene Dynamik der amerikanischen Wirtschaft : Ist Deutschland noch zu retten? ist. Auf der stark genug ist, alle Menschen, die ihren Job Konferenz scheute er sich noch, auf dieses während der Finanzkrise verloren haben, auf-

Buch zu verweisen. (Ich erfuhr erst von dem zunehmen. Fraglich ist auch, ob die griechische iberalen L Buch, als er es mir in der englischen Version Wirtschaft die Dynamik – schwach wie sie ist – zum von 2007 zuschickte.) haben wird, die vielen Leute, die ihren Job in Hatte er Recht ? Die Wahrheit ist schwer zu der Krise verloren haben, in Beschäftigung zu

ermitteln. Während die Beschäftigungsquote bringen. inken der männlichen Bevölkerung von 15 – 64 Jah- Die Wissenschaft schreitet durch das Zu- L om ren von 79,26 % in 1990 – 1994 auf 76,24 % in sammenspiel der Ideen vieler Köpfe voran. V

31 James Poterba RENTENREFORM: HANS-WERNERS FORSCHUNG UND POLITISCHER EINFLUSS

James Poterba ist Mitsui Profes- sor für Volkswirtschaftslehre am Massachusetts Institute of Tech- nology sowie Präsident und CEO des National Bureau of Economic Research. Er hielt die ­Lectures in Economics im Jahr 2003 zum Thema »Government Policy and Private Retirement Saving«.

Zwei der Kennzeichen von Hans-Werners lan- auf zukünftige Erwerbstätige zukommen wür- ger und herausragender Forschungskarriere den, schienen unzumutbar. Was sollte getan sind sein verblüffendes Geschick, die wichtigs- werden ? Mit charakteristischer Klarheit und ten ungelösten Probleme der Wirtschaftspo­ Einsicht stellte Hans-Werner fest, dass die zen- litik zu identifizieren, und seine bemerkens­ trale Herausforderung das Ergebnis des demo- werte Fähigkeit, neue und aufschlussreiche graphischen Wandels war. Ein Rückgang des Analysen dieser Themen vorzulegen. Selbst bei Bevölkerungswachstums in Deutschland, der Fragen, die schon viele vor ihm untersucht sich in Prognosen einer im Verhältnis zur Zahl ­haben, ist es Hans-Werner gelungen, neue Per- der aktiven Erwerbstätigen wachsenden Zahl spektiven aufzuzeigen und kreative Lösungen der Älteren und der Personen im Ruhestand anzubieten, womit er sowohl den akademi- ausdrückte, war die wesentliche Quelle des schen Diskurs als auch die öffentliche Politik- langfristigen Drucks auf das Rentensystem. debatte bereichert hat. Diese Talente werden Hans-Werner kommunizierte diese Erkenntnis durch seine Analyse der staatlichen Renten­ an politische Entscheidungsträger. reform gut veranschaulicht – ein Thema, das in Gleichzeitig gelang es ihm auf innovative

iberalen den späten 1990er Jahren seine Aufmerksam- Weise, die Ana­lyse des staatlichen Rentensys- L keit auf sich zog. tems für die Forschungsgemeinschaft zu for - zum

Hans-Werner fing zu einer Zeit an, das Ren- mulieren. Sein viel zitierter Aufsatz »Why a tensystem zu untersuchen, in der es immer Funded Pension System is Useful and Why it is

inken ­klarer wurde, dass die gesetzliche Rente in not Useful«, der 2000 in International Tax and L Deutschland eine untragbare Entwicklung Public Finance veröffentlicht wurde, entwickel- om

V nahm. Die prognostizierten Steuersätze, die te das Konzept der expliziten und impliziten

3232 Steuerlast in einem staatlichen Rentenpro- und in vielen anderen Ländern anzuregen. Ihr gramm. Er zeigte, dass ein Übergang von ein­ em Einfluss war jedoch nicht auf die Forschungs- umlagefinan­zierten zu einem kapitalgedeckten gemeinschaft beschränkt. Sie trug auch ent- Rentensystem ohne jegliche Änderung der scheidend zu den 2001 verabschiedeten bedeu- Leis­tungen, die den vorhandenen Beitragszah- tenden Reformen des deutschen Rentensystems lern zugesagt wurden, die Summe der Belas- bei, den sogenannten »Riester-Reformen«. Die tungen nicht ändern würde – ein zentraler Änderungen, die weg vom umlagefinanzierten Punkt, der bei Analysen von Politikreformen System führten und ein kapitalgedecktes Ren- berücksichtigt werden musste. tenkonto als Bestandteil der Altersversorgung Hans-Werner beschränkte sich nicht auf einführten, waren im Geiste der Reformvor- konzeptionelle Diskussionen des Rentensys- schläge, die Hans-Werner analysiert hatte. tems. Zusammen mit anderen Forschern am ­Diese Reformen waren wegbereitend. Zusam- CES entwickelte er ein Modell des deutschen mengenommen stärkten die deutschen Ren- Rentensystems, das Analysen ermöglichte, wie tenreformen von 2001 und 2004 wesentlich die sich verschiedene Reformen, einschließlich ei­­ langfristige Tragfähigkeit des Rentensystems. nes vollständigen oder teilweisen Übergangs Hans-Werner ist einer der vielseitigsten Öko­ zu einem kapitalgedeckten System, auf die nomen seiner Generation. Immer wieder hat er Tragfähigkeit des Systems und die Abgaben- Leichtigkeit darin gezeigt, neue Konzep­ te und last für verschiedene Generationen auswirken Instrumente für die Analyse von besonders irtschaftspolitik W würden. drängenden Politikfragen zu meistern. Als das Hans-Werner machte auch auf mög­liche Re- Problem der Finanzierung des Rentensystems formen aufmerksam, die sich nicht direkt auf ein zentrales Thema in der politischen Debatte die gesetzliche Rente konzentrierten, die je- wurde, richtete er die Aufmerksamkeit seiner deutsche doch wichtige Auswirkungen auf das Renten- Forschung darauf, die Ursache des Problems zu die system hätten. Er schlug zum Beispiel vor, die verstehen, obwohl das kein Thema seiner vor-

Abgaben- und Sozialleistungspolitik so zu än- herigen Forschung war. Er schlug auch mögli- und dern, dass höhere Fertilität begünstigt wird, che Lösungen vor. Sobald die Renten­reformen inn

etwa dadurch, dass die Beitragssätze zum Ren- beschlossen waren, wandte sich Hans-Werners S tensystem von der Anzahl der Kinder abhän- Forschung anderen dringlicheren Themen zu.

gen. Er verwies auch auf die potenziell wichtige Nur wenige Ökonomen haben zu so vielen erner

Rolle der Zuwanderungspolitik zur Bewälti- verschiedenen Themen Einsichten und kons­ -W

gung der langfristigen Herausforderungen der truktive Politikberatung geliefert, von der Be- ans H Rentenfinanzierung. Dadurch, dass er die Her- steuerung über Klima- und Energie­politik, Ren­ : ausforderung im Rentensystem in einen grö­ße­ ten, Migration, Geld- und Kreditpolitik bis zur ren ökonomischen Kontext einordnete, konnte Arbeitsmarktreform. Noch weniger Ökonomen

Hans-Werner neue politische Optionen in den schafften es, bahnbrechende Forschung durch­ iberalen L öffentlichen politischen Dialog einbringen. zu­führen und gleichzeitig Politikanalysen zu zum

Die Forschung, die Hans-Werner in den spä- bet­reiben, die den politischen Prozess kons­ ten 1990er Jahren durchführte, spielte eine truktiv vorangebracht haben. Hans-Werner ist

Schlüsselrolle dabei, weiterführende Analysen ein Mitglied dieser außergewöhnlichen G­ ruppe. inken der staatlichen Rentenreform in Deutschland L om V

33 Assaf Razin ÜBER DEN JUNGEN, DEN POLITÖKONOMEN, DEN UNTERNEHMER UND DEN FREUND

Assaf Razin ist seit 2008 Emeritus der Tel Aviv University und war bis 2015 Friedman Professor of Inter- national Economics an der Cornell University, New York. Er war von 2005 bis 2009 Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats am ifo Institut, dem er bis heute als For- schungsprofessor verbunden ist.

Für viele von uns ist »das Leben – zumindest im bei begrenzter Haftung zu. Das geschah paral­lel Tagesgeschäft – eher eine Abfolge von Aufgaben zu den wegweisenden Ansätzen von Stiglitz und als eine Kaskade von Inspirationen, eine Erfah- Weiss; unabhängig von ihnen entwickelte er rung, die mehr in Wiederholung statt in Offen- ähnliche Ideen. Anschließend wandte er die Er- barung besteht. Es geht darum, die Arbeit gut zu gebnisse seiner Arbeiten über die beschränkte machen und Anerkennung selbst im Profanen Haftung auf die Theorie der Bankenregulierung zu finden« (Roger Cohen). Nicht so bei Hans- an. In seinen späteren Arbeiten setzte er sich mit Werner Sinn ! Er findet Anerkennung beileibe der stimulierenden Wirkung der beschleunig- nicht in den profanen und sich wiederholenden ten Abschreibung und der Besteuerung des Aufgaben. Für mich war HWS über die letzten Kapital­einkommens auf die intertemporale, 30 Jahre hinweg eine Quelle der Inspiration. internatio­nale und intersektorale Allokation Am meisten beeindruckte mich, wie er fast auseinander. Diese Forschung ist der Goldstan- im Alleingang bürokratische Erstarrungen der dard auf dem Gebiet der öffentlichen Finanzen Wissenschaft in Deutschland aufgebrochen hat. und hob ihn direkt in die Champions League der politikorientierten Ökonomen.

iberalen Der junge Hans-Werner Sinn HWS trug auch zur wissenschaftlichen Aus- L In seiner Dissertation an der Universität Mann- einandersetzung mit dem deutschen Renten- zum heim befasste sich HWS mit ökonomischen system bei und zeigte, dass die niedrigen Ren- Entscheidungen unter Unsicherheit. Als Neben- diten aus der gesetzlichen Rentenversicherung

inken produkt der axiomatischen Analyse der Ent- keine wirklichen Effizienznachteile im Ver- L scheidungstheorie wandte er sich der mehr po- gleich zu einer kapitalmarktfinanzierten Pen­ om

V litikorientierten Analyse von Entscheidungen sionsversicherung haben.

34 Hans-Werner Sinns Positionen handels ignorieren. In seinem Buch Das grüne in der Wirtschaftspolitik Paradoxon begründet er die Notwendigkeit der Im Jahr 2003 sah HWS die Attraktivität Einbeziehung aller Länder der Welt in ein Post- Deutschlands als Investitionsstandort durch Kyoto-Emissionshandelssystem. zu hohe Arbeitskosten gefährdet und forderte Strukturreformen auf dem Arbeitsmarkt. Dazu Hans-Werner Sinns Einstieg zählten Öffnungsklauseln in den Tarifverträ- in das akademische Unternehmertum gen, die Abschaffung des gesetzlichen Kündi- Ich lernte HWS in Kiel auf einer Konferenz zur gungsschutzes und längere Arbeitszeiten ohne Kapitaleinkommensbesteuerung kennen und Lohnausgleich. Er kritisierte auch die negativen erkannte in ihm sofort einen aufsteigenden Auswirkungen des deutschen Lohnersatzsys- Stern am akademischen Himmel : leidenschaft- tems auf die Beschäftigung. Dazu entwickelte lich in ökonomischen Fragen streitend und cle- er 2002 das alternative Modell der Aktivieren- ver. Er lud mich an das CES ein, damals noch den Sozialhilfe. Seine Politikempfehlungen be- ein Startup-Unternehmen. einflussten die Agenda 2010. Die deutschen Hochschulen waren damals Sinn hat die deutsche Wirtschaft eine »Basar­ vom Rest der Welt isoliert. HWS erkannte, dass ökonomie« genannt, weil der ausländische An- eine solche Isolation wissenschaftliche Stagna­ teil an der deutschen Industrieproduktion auf tion züchtet. Ihm gefiel nicht, was er vorfand, und dem Vormarsch ist. Sein Argument ist, dass er war entschlossen, die deutsche Wissenschaft irtschaftspolitik W Deutschland zu stark auf den Export und die zu modernisieren. Zweieinhalb Jahrzehnte spä- Endphase der Produktion gesetzt hat. Das füh- ter ist die deutsche akademische ­Szene dank der re zu einem pathologischen Exportboom. Pionierarbeit Hans-Werners und einiger ande-

Laut HWS wurzelt die globale Krise von 2008 rer nicht mehr wiederzuerkennen : Graduierten- deutsche im Missbrauch der Haftungsbeschränkungen programme im US-Stil, Forschungsseminare, die durch die US-Investmentbanken. Der zu geringe junge Fakultätsmitglieder, die in Top-Journals und

Eigenkapitalbedarf verführte die Finanztreuhän- publizieren, und anderes mehr. der zum Glücksspiel. Ähnlich führte das Fehlen HWS übernahm die Präsidentschaft des ifo, inn der persönlichen Haftung der Hauseigentümer krempelte es um und ergriff so manche Initia­ S zu deren überzogener Risikobereitschaft und tive : Er rekrutierte erstklassige politikorien- verursachte so die Immobilienblase in den USA. tierte Ökonomen, schrieb europaweit relevante erner Was die Reformen in Deutschland betrifft, Politikbeiträge und gründete CESifo, das sich -W verlangte HWS deutlich höhere Anforderun- zu einem europa­weiten Forschungszentrum ans H gen an die Eigenkapitalausstattung, mehr Aus- entwickelte. : gewogenheit in den Offshore-Aktivitäten und eine Rückkehr zu den Rechnungslegungsvor- Hans-Werner Sinn, ein Freund schriften des Niederstwertprinzips des deut- Hans-Werner und Gerlinde sind ein gewichti- iberalen L schen Handelsgesetzbuches (HGB). ger Grund, warum ich immer gerne nach Mün- zum Auf Basis seiner wissenschaftlichen Arbeiten chen komme. Sie laden mich in ihr reizendes zum grünen Paradoxon kritisierte HWS, dass Haus ein und wir sprechen – oft mit anderen die Grünen ihre Umweltschutzpolitik mit un- Gästen – über vertrauliche Themen der Politik­ inken L geeigneten Mitteln verfolgen und die ökono- debatte. Die Sinns sind wunderbare Gastgeber ! om mischen Gesetze des europäischen Emissions- Ich schätze ihre Freundschaft sehr. V

35 Carl Christian von Weizsäcker HANS-WERNER SINNS HABILITATIONSSCHRIFT

Carl Christian von Weizsäcker ist Senior Research Fellow am Max-Planck-Institut zur Erfor- schung von Gemeinschaftsgütern mit den Forschungsgebieten ­Welfare Economics, Globale Makropolitik­ , Kapitaltheorie und Industrieökonomik. Von 1965 bis 2003 war er Professor für VWL, zuletzt an der Universität zu Köln.

Meine erste intensivere Befassung mit Hans- Der Rahmen war ein makroökonomisches Werner Sinns wirtschaftstheoretischem und Einsektorenmodell mit den Produktionsfak­ wirtschaftspolitischem Wirken war die Lektüre toren Arbeit und Kapital in der Tradition des und Besprechung seiner Habilitationsschrift, Solow-Ansatzes. Das repräsentative Unterneh- die als Buch unter dem Titel Kapitaleinkom- men und der repräsentative Haushalt wurden mensbesteuerung 1985 bei Mohr-Siebeck er- als intertemporaler Maximierer einer Bestands- schien. Sinn baut in dieser Arbeit auf der neo- größe »Gegenwartswert aller künftigen Gewin- klassischen Theorie des optimalen Wachstums ne« und einer Bestandsgröße »Nutzenintegral« auf, in der man sich insbesondere auch mit dargestellt. Verwendet wurden die Methoden den fiskalischen Instrumenten einer Einfluss- der intertemporalen Maximierung, wie zum nahme auf den Wachstumsprozess auseinan- Beispiel die dynamische Programmierung. In- dergesetzt hatte. Was aber bis dahin fehlte, dem dieser Rahmen möglichst einfach model- war eine genaue Analyse der unterschiedlichen liert wurde, konnte Sinn dann mit umso mehr Steuern auf unterschiedliche Formen der Kapi- Detail die Wirkungen der Handvoll von Be- taleinkommen wie Zinsen für Darlehen, ein­ steuerungsinstrumenten untersuchen. Die Er-

iberalen behaltene und ausgeschüttete Gewinne auf gebnisse dieser wohl mehrere Jahre beanspru- L ­Eigenkapital, auf Kursgewinne etc. sowie der chenden Arbeit waren zum Teil überraschend. zum verschiedenen Abschreibungsregeln bei der Sie konnten aber gewisse in den Jahrzehnten Gewinnermittlung. Das große Verdienst von zuvor beobachtete Trends in der Unterneh-

inken Sinns Arbeit war es, dass sie hier eine detaillier- mensfinanzierung gut erklären, so insbeson­ L te Wirkungstheorie dieser verschiedenen Be- dere den starken Trend in Richtung steigender om

V steuerungsinstrumente enthielt. Fremdfinanzierung.

36 Ich war von der Lektüre dieses Werks beein- dem Sinn’schen Modell des repräsentativen druckt, da es mit höchster analytischer Kom­ Haushalts, weil er aus ihm ableitete, dass es gar petenz geschrieben war; es war klar, dass der keine »dynamische Ineffizienz« geben kann, Autor damit im deutschsprachigen Raum ei- bei der »zu viel« investiert wird. Denn damit nen Platz in der ersten Reihe der Wirtschafts- wäre die auch von mir entdeckte Phelps’sche theorie erringen werde. So war der Autor denn »Goldene Regel der Akkumulation« unerheb- auch zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des lich geworden. Der Gleichgewichtszins liegt im Buches schon zum Ordinarius an der Univer­ Sinn’schen Modell immer oberhalb der Wachs- sität München berufen worden. Ich war damals tumsrate. Ich habe dies jedoch in der Bespre- sehr darauf aus, Hans-Werner Sinn als Kolle- chung des Buches nicht moniert, da dies wie gen an die Universität Bern zu holen. Aber ein »pro domo«-Argument hätte erscheinen München war schneller als Bern. können. Die Ungleichung Zins > Wachstums- Andererseits irritierten mich manche Er­ rate ist dann nicht mehr durchgängig gültig, gebnisse von Sinns Analyse. So widersprach es wenn man im intertemporalen Optimierungs- meiner Intuition, wenn Sinn zum Beispiel mo- modell des repräsentativen Haushalts die Vor- dellmäßig zeigen konnte, dass eine Senkung sorge für den Ruhestand mitberücksichtigt. der Zinsbesteuerung, kompensiert durch eine Heute, 30 Jahre später, wird niemand mehr erhöhte Besteuerung von Eigenkapital, das ernsthaft leugnen können, dass die Einbezie-

Wachstum stimulieren würde. Ich war damals hung des Ruhestands in den intertemporalen irtschaftspolitik W als Gründungsmitglied des Kronberger Kreises Kalkül des repräsentativen Haushalts unver- gerade damit beschäftigt, für eine steuerliche zichtbar ist. Und die späteren eindrucksvollen Besserstellung von Eigenkapital zu kämpfen. Beiträge Hans-Werner Sinns zu den Problemen

Aus dieser Irritation heraus entstand meine der gesetzlichen Rentenversicherung zeigen, deutsche kritische Besprechung des Sinn’schen Werks in dass auch er von dem diesbezüglichen Manko die der Zeitschrift für die gesamte Staatswissen- seines Modells Abstand genommen hat. und schaft. Die Kritik lief darauf hinaus, dass das In der Zwischenzeit hat sich die Welt stark Rahmenmodell nur die Faktoren Arbeit und verändert. Seit Jahren beobachtet man einen inn

Kapital enthielt. Es fehlt in diesem Modell der steigenden Grad der Selbstfinanzierung der S Unternehmer, der bereit ist, Risiken einzu­ Unternehmen. Und ich denke, auch Hans- gehen. Was bei der Antwort auf die Frage nach Werner Sinn wird aus seiner damaligen Ana­ erner der optimalen Besteuerung von Eigenkapital lyse andere Schlüsse für die Wirtschaftspolitik -W erforderlich ist, ist eine Modellierung des ziehen als damals. ans H ­unternehmerischen Risikos und seines Ver- Sein beeindruckendes Œuvre seither hat ihn : hältnisses zum gesamtwirtschaftlichen Wachs­ zum heute führenden akademischen Begleiter tumsprozess. und Kommentator der Wirtschaftspolitik ge-

Ferner war ich auch nicht einverstanden mit macht. iberalen L zum

inken L om V

37 Roland Tichy ZWISCHEN SINN-GAP UND TARGET-FALLE GEBOFINGERT

Roland Tichy war von 1983 bis 1985 Mitarbeiter im Planungsstab des Bundeskanzleramtes. Später leitete er renommierte Wirt- schaftsmagazine, zuletzt die ­WirtschaftsWoche. Er ist Vorsitzen­ der der Ludwig-Erhard-Stiftung. Tichy ist Gründer und Heraus­ geber des Online-Magazins www.TichysEinblick.de.

Warum eigentlich trägt Professor Dr. Hans- schlagskraft auch nicht vermehrbar und damit Werner Sinn einen so exzentrischen Bart ? eine limitationale Ressource. Sollte dies so sein, Wenn Sie jetzt schmunzeln oder verärgert die ist es um die Volkswirtschaftslehre in Deutsch- Stirn in Falten legen, haben Sie schon die Ant- land in den nächsten Jahren eher schlecht be- wort parat. Form follows function, und die stellt. Sie hätte dann nichts mehr zu sagen. Funktion ist Steigerung der Durchschlagskraft Denn Professor Sinn hat dieses Land ordent- der wissenschaftlichen Darbietung. Die Kraft lich in Schwung gehalten. des Arguments ist das eine; die Durchschlags- Es hat ja mit einer Art »Kaltstart« angefan- kraft ergibt sich mit Hilfe der Inszenierung. gen; der doch schon alle Merkmale des Sinn’­ Die Umsetzung der Kraft des Arguments zur schen Wirkens in aller Kraft und Herrlichkeit Durchschlagskraft in der öffentlichen Debatte vorführt : Inhaltlich gesehen ist es die schiere ergibt sich nach einem Algorithmus, dessen ökonomische Vernunft. Diese stemmt sich ge- Darstellung ich lieber Einstein oder gen politische Entscheidungen, hinterfragt sie überlasse. Das Phänomen Sinn jedenfalls er- und zweifelt sie an. Sinns Thesen sind eingän- schließt sich sonst einem durchschnittlichen gig, weil argumentativ brillant vorgetragen, gut

iberalen VWLer nicht. Aber vielleicht gibt es auch gar begründet und belegt, das Säulendiagramm L keinen eineindeutigen Zusammenhang, und es ist seine schärfste Waffe. Sinns Vortragsgranate zum ist eine Kunst. bewegt die Herzen und Köpfe der Menschen, Jedenfalls ist dies eine Kunst, die in der deut- durchbricht die bleierne Unaufmerksamkeits-

inken schen Volkswirtschaftslehre kaum verbreitet ist wand mit einem rhetorischen Überschallknall, L und in ihrer Häufung nur bei Sinn zu beobach- saust durch die Eingangskörbchen der Politik, om

V ten ist. Vielleicht ist das Vorkommen an Durch- die papierenen Ablagen der Bürokratie und ra-

38 o ßen verborgenen Wirken Ehefrau. seiner Denn ­P stätigt sich eindrucksvoll inderGroKo und kommtfrüh straft, derzu Th keinen ergäberung diesalles dieses Sinn. Doch BIP V verteilung und desUntergangs derSonne der sozialdemokratischen Abendhimmel der Um s dame gebofingert und Dasweggefratzschert. kurz hinter demSchreibtisch derVorzimmer w en betonen ökonomische und für Rationalität noch einige, diemarktwirtschaftliche Prinzipi –und dasineiner Festschrift abwürdigung v tems abzuprallen und mit einem Röcheln zu nen Außenhaut des deutschen politischen Sys- Tagesschau, um schließlich an der gusseiser schelnden Zeitungsspalten; irrlichtert durch die sich damit tröstet, Wände dass diese noch ja gegen demographische Wände zurennen, und ­i es d len Westdeutschlands wird fortsetzen. Besser Verhaltensmusterdie kritisierten inweiten Tei nic sind bittere dern ja Realität und nur deshalb tionsgepflegte StagnationBeitrittslän inden Kaltstarts, subven 20-jährige, diemittlerweile tät. macht Das unverzichtbar Sinn so zwischen ökonomischer und politischer Reali ökonomischen Realität. Die Schere öffnet sich wirkt. Deutschland hat sich abgewandt von der ehernen Rahmenbedingungen, indenen Sinn N lung und nicht nach einem Nebensatz. hrer Rentenpolitik, ist, die dabei mit dem Kopf trahlende Feuerwerk derhellen Vernunfttrahlende am erenden eine wie feuchte Silvesterrakete. hne sieund ihre Klugheit, Weisheit und Füh apiergranatwerfern, Sinn und dem nach au ernunft am fernen Horizont des Tales von erben. Abererben. deren Argumente werden schon ein, so istein, so esnicht gedacht. dassind die Denn Nun mögen Sie denken O ema verlangt nach einer eigenen Behand ht besonders verhaltensauffällig, sichweil – diese Erleuchtung –diese verdanken den wir adurch nicht. aber DieGerontokratie be der ist es ganz anders – wird nur derbe der ist esganz anders –

? DieP

: W as für eineas Her für rognosen des

: E s gibt ja ------

! sche Unvernunft. damit gewinntbar; zunächst immer diepoliti der dort versenkten öffentlichen Mittel gestalt und Breite dessen Tiefe wie sind durch dieZahl haben und Recht liegtderSinn-Gap, kriegen Zylinder verschwinden lässt, aus demsie sie umgekehrtem im einer Art wieder Zaubertrick Ökonomie, Nachhaltigkeit) Klima, einfach mit ihre ursprünglich genannten (Ökologie, Ziele aufja dieeigene Unvernunftdamit, dass sie und reagiert Energiepolitik.der Klima- Diese ­ein schon weiter, und Käpt’n Ahab hängt schon RechtGesagten gibt. Aber ist da derAnsager die T ne Frage mehr offenlässt. Nun also kennenwir punkt sogar einumfangreiches Buch, daskei ven auf dieEurorettungspolitik ab; am Höhe- innerhalb kürzester feuerte Zeit erganze Sal sprang kopfüber in die Verständnislücke, und wenn auch eine unerklärliche. Professor Sinn sich offenkundig umeine Ungeheuerlichkeit, schlüsselt blieb. Nur viel war so klar in l lang unbeantwortet und mündeten schließlich und Europäische blieben wochen Zentralbank niemand verstanden. Anfragen an Bundesbank der Z heurer Milliardenbeträge imBuchungssystem ten dasrätselhafte über Verschwinden unge A ders gut beobachten. lag uns Da nun eine also Target-Falle. konnte Diese der Verfasser beson ­g R spieß kitzelt – und arbeits- und sozialpolitische wenn bei, Käpt’n doch ihn ja tik Ahabs Wurf gar nicht gibt. Spüren nimmt, Wände Beweis als dass es diese drei Schritt voraus sind, und dasNoch-nichts- erade hervorimaginiert hat.erade hervorimaginiert Zwischen Recht eformen entfalten eine Wirksamkeit, diedem ussage Bundesbankpräsiden eines früheren B Und manchmal dreht derträge Wal derPoli em anderen weißen Wal an der Finne angen Texten, Sinn ver deren kryptischer esonders gut beobachtbar war diesan der arget-Falle, auch wenn ka siebewusst entralbanken vor. Ehrlich gesagt

: E s handelt

: E

: s hat etwa etwa ------39 Vom Linken zum Liberalen: Hans-Werner Sinn und die deutsche Wirtschaftspolitik schiert wird, wie es eben bei großen Fallen so Und nun ? Wer wagt es, sich seinen Bart um- üblich ist. zuschnallen, Rittersmann oder Knapp ? Wer So einer wie Sinn ist lästig. So einer hat Fein- wagt es, die Rolle des Kritikers anzunehmen de. Nicht zu wenige; und das ehrt ihn : Viel und gegen den Sog des Mainstreams anzupad- Feind, viel Ehr. Es war ja amüsant zu beobach- deln ? ten, wie das Handelsblatt in seiner EZB-Will- Eine Lücke öffnet sich. Aber vielleicht ist die fährigkeit ein ganzes Erschießungspeloton un- Zukunft nicht hoffnungslos. Eine Lücke ist ter dem Kommando seines Miet-Professors dazu da, aus ihr heraus zu schreiben, zu argu- antreten ließ, um Sinns Thesen zu zerfetzen. Es mentieren und weiter zu wirken. Altersgrenzen blieb nicht viel übrig. Vom Peloton, seinem sind was für Bismarck, nichts für moderne Professor und einem versuchten wissenschaft- Männer. lichen Rufmord, was ja allein schon die Größe Sinns zeigt. iberalen L zum

inken L om V

40 Kai Diekmann 25 GRÜNDE, WARUM HANS-WERNER SINN ALS IFO-PRÄSIDENT FEHLEN WIRD

Kai Diekmann ist seit 2011 Chef­ redakteur bei der BILD-Zeitung sowie Herausgeber von BILD und BILD am SONNTAG. Seit 2008 ist er Gesamtherausgeber der BILD- Gruppe und seit November 2013 Herausgeber der B. Z. irtschaftspolitik W

1. Wäre BILD eine Uni – Hans-Werner Sinn bewerb halten zu können. Würden die Deut- wäre ihr Rektor. schen 42 statt 38 Stunden arbeiten, wäre es

Er ist der etwas andere Professor. Der Volkspro- ­weniger Zeit im Job als bei den Briten – aber deutsche fessor, der so spricht, dass die Menschen auf mehr Lohn in der Tasche. Eine Überlegung die der Straße ihn verstehen. Nicht, weil seine Ge- wert, oder ? und danken so einfach wären. Im Gegenteil. Er be- herrscht die hohe Kunst, komplizierteste Sach- 4. Er lässt nicht locker, wenn sich andere inn verhalte nachvollziehbar zu erklären. Er spricht vertrösten lassen. S nicht in Rätseln. Er spricht in Bildern. Ausdauer ist die Tochter der Kraft, heißt es. Mit

unerschütterlicher Geduld weist Hans-Werner erner 2. Er sah das Griechen-Drama kommen, Sinn immer wieder auf Fehlentwicklungen hin. -W

als andere die Augen schlossen. Kostprobe : »Die EZB betreibt in Griechenland ans H Früh warnte Hans-Werner Sinn vor einer eine Konkursverschleppung zulasten der Steu- : Staatspleite Griechenlands. Er erklärte, warum erzahler in Europa.« immer neue Rettungsmilliarden dem Land nicht helfen werden. Mahnte, dass Deutsch- 5. Sein Ansporn ist das Entzaubern iberalen L land einen Großteil der Kredite nicht wieder­ angeblicher Polit-Wahrheiten. zum sehen wird. »Alternativlos« ? Diesen Begriff gibt es für Hans-Werner Sinn nicht. Sinn erklärte früh :

3. Tabus sind für ihn nicht tabu. »Der Austritt aus dem Euro wäre das kleinere inken L Arbeitszeiten wie vor 30 Jahren ? Für Sinn ein Übel.« om

Weg, um Deutschland international im Wett- V

41 6. Er ist Kompass für ein ganzes Land. mer wieder frühzeitig – und lange vor ande- Ist es Reform oder nur Reförmchen ? Giganten- ren – auf Probleme und Fehlentwicklungen hin. Gesetz oder nur Gicksi-Gacksi ? Wer Einord- nung sucht, wird Hans-Werner Sinn fragen. 13. Er denkt nicht im Klein-Klein des Berliner Polit-Betriebs. 7. Er kann austeilen . . . Mindestlohn von 8 Euro ? Oder 8,50 Euro ? ­Solche Debatten, mit großem Engagement von 8. . . . aber auch einstecken. Politikern geführt, nimmt Sinn bestenfalls zur Er lächelt über Worte wie »Prof. Un-Sinn«. Es Kenntnis. Für ihn geht es um Grundsatzfra- ist okay für ihn, wenn nicht jeder seiner Mei- gen : Schafft ein flächendeckender Mindestlohn nung ist. Wichtiger für ihn ist, dass seine Ar­ neue Jobs ? Oder vernichtet er Arbeitsplätze ? gumente diskutiert werden – im Land. Nicht Seine Antwort ist eindeutig. im Elfenbeinturm der Wissenschaft. 14. Er ist seine eigene Marke. 9. Es geht ihm um die Sache, nicht um sich. Wie Mercedes-Benz. Hans-Werner Sinn : »Zorn erfüllt mich, wenn Wie viele Ökonomen (er)kennen die Deut- ich sehe, wie die Zeit nutzlos verstreicht und schen auf der Straße ? Sehen Sie . . . wir nicht vorankommen, wie Deutschland wei- ter absackt und dem Zustand näher kommt, 15. Er geht den harten Weg, wo es als ein Land der kinderlosen Greise seine nicht den leichten. Kraft verliert und sich schicksalsergeben aus Mit seiner Warnung vor der Milliarden-Bombe der Geschichte verabschiedet.« (Target-Saldo) in der Bundesbank-Bilanz löste Sinn eine Welle der Empörung in der Euro-­ 10. Er sagt, was richtig ist. Debatte aus. Für ihn : keine leichte Zeit. Für Nicht, was jeder richtig findet. ihn : egal. Große Männer stehen zu ihrer Haltung auch bei großer Kritik. Längere Arbeitszeiten, locke- 16. Er denkt pragmatisch. rer Kündigungsschutz, Kürzen von Sozialleis- Nicht dogmatisch. tungen – in TV-Shows absolute Applaus-Killer. Was schafft neue Jobs ? Was hilft Arbeitslosen Für Sinn dennoch absolut notwendig. bei der Rückkehr ins Berufsleben ? Hans-Wer- ner Sinn entwickelte das Modell, Langzeitar- 11. Er hat den Spaß nicht verloren, beitslose bei der Aufnahme niedrig bezahlter immer neue Debatten anzustoßen. Jobs mit Lohnzuschüssen zu unterstützen. Sein Ein Vierteljahrhundert mit Sinn und Verstand : Credo : »Es muss weniger staatliches Geld fürs Kein deutscher Ökonom hat es besser verstan- Nichtstun geben und mehr fürs Mitmachen.«

iberalen den, politische und ökonomische Debatten an- L zustoßen. Seine Bücher sind Standardwerke, 17. Er lässt sich von Fakten leiten. zum seine Theorien Meilensteine. Nicht von Vorurteilen verleiten. Der Atomausstieg war ein Fehler, die Energie-

inken 12. Er hat den Blick nach vorne. wende führe »ins Nichts« ! Klartext von Hans- L Klima-Wahn, Zuwanderung, europäischer Werner Sinn gegen Öko-Romantik und AKW- om

V Schulden-Sumpf : Hans-Werner Sinn wies im- Phobie.

42 18. Die Number One für ihn ist der Steuer­ 22. Er ist Überzeugungstäter. zahler. Nicht der Staat. Das Neue fasziniert ihn, das Unbekannte reizt »Es ist richtig und wichtig, dass der Staat we­ ihn ! So wie bei den Recherchen zu den Target- niger Schulden macht. Es ist aber falsch, dafür Milliarden. »Am Anfang hatte ich ja auch nur den Bürger durch neue und höhere Steuern zur diese Zahl und wusste nicht so recht, was sie Kasse zu bitten.« bedeutet. Die Bundesbank sagte mir, das seien irrelevante Salden. Aber das hat mich nicht be- 19. Für ihn ist sozial, was Arbeit schafft – ruhigt.« Deshalb fragte er andere Finanzexper- nicht, was sich sozial nennt. ten : »Jeder wusste ein bisschen was. Ich musste »Die Gewerkschaften haben ihre Verhand- mir das Bild zusammenpuzzeln. Das war rich- lungsvollmacht benutzt, um Lohnkartelle ge- tige Detektiv-Arbeit.« Und machte Sinn welt- genüber den Arbeitgebern durchzusetzen. berühmt. Durch das Erzwingen nicht marktgerechter Löhne haben sie Arbeitslosigkeit erzeugt. Ein 23. Er traut den Menschen mehr zu Unternehmen muss die Preise und Löhne von als der Staat. Konkurrenten unterbieten dürfen, wenn die Für Hans-Werner Sinn wissen die Menschen Belegschaft dies will«, sagte Sinn 2004. selbst am besten, was gut für sie ist – und nicht der Staat. Jeder solle selbst entscheiden, ob er

20. Er baut Brücken, keine Mauern. bis 70 arbeiten möchte und kann. Nicht der irtschaftspolitik W Sinn ist für Einwanderung, für Integration. Staat. »Ohne Zuwanderer kollabiert das Rentensys- tem in 20 Jahren.« Sinn prognostiziert, dass 24. Er ist radikal, nicht ratlos.

Deutschland in den nächsten 20 Jahren bis Das alte Rentensystem muss weg, freie Kitas deutsche zu 32 Millionen Zuwanderer braucht, um die müssen her. Er will einen Kinder-Bonus bei die

­Rente zu stabilisieren. Steuer und Rente. Es muss krachen im Geld- und

beutel, nicht nur zischen. 21. Er ist fair zu den Schwachen, inn

aber verachtet die Faulen. 25. Er ist so weise, dass er seinen Bart S »So sollten arbeitsfähige Personen, die nicht ar- völlig zu Recht trägt. beiten, ein Drittel weniger Sozialhilfe bekom- erner men und Geringverdiener, die einen Job an- -W nehmen, mehr Geld bekommen.« ans H : iberalen L zum

inken L om V

43 HWS mit den Nobelpreisträgern James Mirrlees (links) und James J. Heckmann (rechts) am 25. April 2008 bei einer Konferenz in München anlässlich seines 60. Geburtstages.

HWS überreicht den früheren Vor­ sitzenden des Wissenschaftlichen Bei- rates des ifo Instituts (von links nach rechts ) Robert Ha­ veman und Assaf Razin die Urkunden über deren Ehren­ mitgliedschaft im ifo Institut (2013).

HWS beim Start der von Minister- präsident Horst Seehofer im Jahr 2009 ins Leben gerufenen Kom- mission »Zukunft Soziale Markt- wirtschaft«: ( von links nach rechts ) Reinhard Kardinal Marx, Harald Strötgen, Frieder C. Löhrer, HWS, Stephan Götzl, Horst Seehofer, Ann-Kristin A­ chleitner, Manfred Schoch und Hagen Pfundner.

44 HWS mit Roland Tichy (links) und René Obermann (rechts) anlässlich der ifo-Konferenz »Gestärkt aus der Krise – Wachstumspotenziale von Bildung, Innovation und IKT- Infrastruktur« (22. April 2009).

Der damalige Bundeswirtschafts- minister Wolfgang Clement schaut am 18. Februar 2004 auf den EEAG- Bericht zur wirtschaftlichen Lage Europas, den HWS in der Bundes- pressekonferenz in zeigt.

Der damalige Bundespräsident Horst Köhler bei seinem Besuch des ifo Instituts am 5. August 2008 mit den ifo-Bereichsleitern ( von links nach rechts ) Kai C­ arstensen, Thiess Büttner, Peter Egger und Ludger Wößmann.

45 WirtschaftsWoche, 02.08.2010 KALTSTART: Hans-Werner Sinn und die 2 Wiedervereinigung Marcel Thum EINLEITUNG Kaltstart: Hans-Werner Sinn und die Wiedervereinigung

Marcel Thum ist Professor für Finanzwissenschaft an der TU Dresden und leitet die Nieder­ lassung Dresden des ifo Instituts. Er hat bei HWS an der Ludwig- Maximilians-Universität München promoviert und habilitiert. Kurz nach der deutschen Wiederver­ einigung wurde er Mitarbeiter am Lehrstuhl von HWS.

»Mein lieber Mann, die deutsche Einheit ist viel passieren. Statt sich in den Verzweigungen zu wichtig, um sie den Politikern und Lobby­ von längst ausgetretenen Modellpfaden zu isten in zu überlassen. Jetzt kannst du ­verlieren, ging es jetzt darum, grundlegende dich nicht hinter Formeln und Tabellen für Erkenntnisse aus der volkswirtschaftlichen eine Fachzeitschrift verstecken.« So oder so Theorie auf ein reales und drängendes wirt- ähnlich hätte die Geschichte des Kaltstarts be- schaftspolitisches Problem vor der eigenen ginnen können. Denn die Überschrift dieses Haustür anzuwenden. Genau das haben Ger- Kapitels ist irreführend. Richtigerweise müsste linde und Hans-Werner Sinn dann mit großem sie heißen : »Gerlinde, Hans-Werner und die Enthusiasmus getan, der auch uns als Dokto- Wiedervereinigung«. Gerlinde Sinn war nicht randen ansteckte und inspirierte. nur Ko-Autorin des »Coming out«, wie das Die Debatten über den besten Weg zur öko- mein Kollege Ludger Wößmann in der Ein­ nomischen Einheit begannen im Studenten­ leitung genannt hat. Sie war auch eine treiben- seminar und waren beim Abendessen noch de Kraft, wenn es darum ging, die Erkenntnisse lange nicht beendet. Neben dem üblichen aka- der Volkswirtschaftslehre zum Thema Wieder- demischen Seminar zu Allokationsproblemen vereinigung in die öffentliche Diskussion zu im Versicherungsmarkt oder zur Ressourcen- tragen. ökonomik gab es jetzt eben auch ein Seminar Gerade wegen dieser akademischen Auf- zu den ökonomischen Fragen der deutschen bruchsstimmung in wirtschaftspolitisches Neu- Einheit. Hans-Werner Sinn brachte den Stu- land denke ich gern an die Entstehungszeit des denten nahe, wie man ökonomische Theorie Kaltstarts zurück. Etwas Besseres konnte einem nutzen kann, um Klarheit in die für uns alle da- al

K TSTART angehenden Doktoranden eigentlich gar nicht mals verwirrende Diskussion zu bringen, und

4848 wie man Lobby-PR von soliden ökonomischen nomischen Mechanik vereinbar war. Der »So- Argumenten unterscheidet. Und die Debatte zialpakt für den Aufschwung« sah vor, dass die ging weiter, wenn – wie nach Gründung des Löhne auf niedrigem Niveau eingefroren wur- Center for Economic Studies (CES) sehr häu- den, dass die Treuhand über Joint Ventures mit fig – die internationalen Gastforscher bei Sinns privaten Investoren die Firmen mit neuem Ka- zum Abendessen eingeladen waren. An einem pital und Know-how versorgte und dass die besonders denkwürdigen Abend wurde die Ostdeutschen zum Ausgleich für die Lohnzu- Nachspeise von der Nachricht unterbrochen, rückhaltung Anteilsrechte an den neugeschaf- dass sich der Bundestag für Berlin als Haupt- fenen Betrieben bekämen. Ich verkürze hier stadt entschieden hatte, und die Diskussion ein wenig, schließlich sollen Sie das Buch noch flammte von neuem auf. selbst lesen – die Lektüre lohnt noch immer. Die erste Auflage des Kaltstarts kam Ende Der wesentliche Punkt ist, dass mit diesem 1991 heraus und ging mit dem von der Kohl- Vorschlag der Lohn seine Funktion als Knapp- Regierung eingeschlagenen wirtschaftspoliti- heitspreis im Arbeitsmarkt behalten und die schen Weg hart ins Gericht. Erstens würde Ostdeutschen eine Anfangsausstattung an Ver- der Vorrang der Restitution, also der Rückgabe mögen bekommen hätten. Wie die Geschichte an Alteigentümer, den Transformationsprozess ausging, wissen Sie : Die Politik wollte lieber auf Jahre unnötig blockieren. Zweitens musste den Lohn als Verteilungsinstrument benutzen. der Versuch, den Kapitalstock einer ganzen Das führte zu Massenarbeitslosigkeit, machte Volkswirtschaft auf einmal zu verkaufen, schon die Ostbetriebe wertlos und vernichtete so das deshalb scheitern, weil der Erwerb nur aus dem Vermögen, das sonst den Ostdeutschen zuge- sehr kleinen Strom von Ersparnissen erfolgen standen hätte. konnte. Und drittens – und das ist wahrschein- Das Buch wurde damals sowohl in der Fach- lich der wichtigste Punkt – würde der Versuch, welt als auch in den Zeitungen überaus positiv die Löhne als Produktivitätspeitsche zu nutzen, besprochen. Wolfram Engels bezeichnete es in Arbeitslosigkeit erzeugen und zu einer Stagna- der WirtschaftsWoche als »die einzig gründ­ tion in der ostdeutschen Entwicklung führen. liche Analyse«. Und der Economist lobte : »This

Jeder einzelne dieser Kritikpunkte hat sich als is much the best book on the subject so far – iedervereinigung W absolut berechtigt herausgestellt. and no subject in applied economics is more die

Die ökonomisch fundierte Analyse war mes- interesting or important.« Selbstverständlich serscharf. Gerlinde und Hans-Werner Sinn versuchten auch einige, die Politikvorschläge und führten im Kaltstart dem Leser die Konsequen- als »praktisch wertlos« (Spiegel) und die Prog-

zen klar vor Augen, die sich aus einer Fortfüh- nosen als zu pessimistisch beiseite zu schieben. inn rung der eingeschlagenen Politik ergeben wür- Diese Kritik ist verpufft. Die Entwicklung in S den. Die Hoffnung war natürlich, dass sich die den neuen Ländern hinkt sogar noch hinter Politik der Regierung bewegen würde. Und es dem her, was damals als pessimistisch galt. erner -W gab Alternativen. Gerlinde und Hans-Werner Wenn man Gerlinde und Hans-Werner Sinn Sinn selbst hatten in ihrem Buch eine gang­ überhaupt etwas vorwerfen kann, dann dass sie ans H bare Transformationsstrategie ausgearbeitet, unverbesserliche, aber wunderbar enthusiasti- : die eine »organische Systemtransformation« sche Optimisten sind, was die Kraft klarer öko- ermöglichte und – anders als die Politik der nomischer Argumente betrifft. al

­Regierung – mit den Grundgesetzen der öko- K TSTART

49 Georg Milbradt VEREINIGUNG OHNE WIRTSCHAFTLICHEN KOMPASS

Georg Milbradt war von 1990 bis 2001 Finanzminister und von 2002 bis 2008 Ministerpräsident des Freistaats Sachsen. Er lehrt an der TU Dresden und ist stellvertreten- der Vorsitzender des Unabhängi- gen Beirats des Stabilitätsrats sowie Chairman of the Board des Forum of Federations, Ottawa.

Die Wiedervereinigung hatte mich im Novem- machten deutlich, dass viele Akteure den ber 1990 nach Sachsen gebracht, wo ich als Transformationsprozess als ein kurzfristiges ­Finanzminister eine neue Steuerverwaltung Intermezzo ansahen. Man glaubte, mit der aufbauen und die Staatsfinanzen auf eine nach- Übernahme des bewährten westdeutschen po­ haltige Basis stellen sollte. Für beide Aufgaben- li­tischen, rechtlichen, wirtschaftlichen und bereiche war es unabdingbar, sich Gedanken zu ­finanzpolitischen Systems sowie der D-Mark machen, mit welcher wirtschaftlichen Entwick- im Osten eine Dynamik (wie nach der Wäh- lung zu rechnen war und welche wirtschafts­ rungsreform 1948 im Westen) auszulösen, die politische Strategie Sachsen anstreben sollte. den Osten schnell an das Westniveau heran- Zwar lag die wirtschaftspolitische Verantwor- führen würde. Der Osten sei nicht arm, aber tung überwiegend beim Bund, der die Gesetz- kurzfristig noch nicht liquide. Der Westen gebungskompetenz über die Steuerpolitik und müsste dem Osten nur einen Schubs geben, die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen be- vielleicht auch zwei. Das würde ausreichen. Die saß und mit den Mitteln des Aufbaus Ost und fiskalischen Belastungen für den Westen seien der Treuhand über wirksame Instrumente zur gering, da durch die hohen Vermögenswerte Gestaltung des wirtschaftlichen Transforma­ der alten DDR, die sich der Bund durch den tionsprozesses verfügte. Allerdings hatten die ­Einigungsvertrag gesichert hatte, mittelfristig wirtschafts- und finanzpolitischen Vorstellun- die anfängliche Belastung deutlich abnehmen gen, die dem Einigungsvertrag zugrunde lagen, würde. Die Finanzierung der ostdeutschen mit der Realität nur wenig zu tun. Länder und Gemeinden wurde durch eine Art Die damals oft gebrauchten Vokabeln »Li- Finanzausgleich sichergestellt, der allerdings al

K TSTART quiditätshilfe« und »Anschubfinanzierungen« auf der Geberseite (Bund und Länder) über

50 Kredit finanziert wurde, um eine Belastung der Sinns Buch an wichtige Entscheidungsträger öffentlichen Haushalte West zu vermeiden. oder diskutierte mit ihnen darüber. Der Erfolg Schnell platzten die Illusionen. Nach der war niederschmetternd. In Sachsen beschränk- Einführung der D-Mark befand sich die ost- ten wir uns dann darauf, soweit wir Einfluss auf deutsche Industrie im freien Fall. Der Wert die Lohnpolitik hatten, die Anpassung zu brem- des DDR-Vermögens rutschte ins Negative, die sen, um negative Effekte zu verringern. Größere Forderungen des Bankensystems an die Unter- Erfolge waren aber nicht zu erzielen. Die hohe nehmen und die Wohnungswirtschaft erwie- Lohndynamik war nicht mehr zu stoppen. In sen sich als wertlos. Man hatte die DDR viel zu den westdeutschen Wirtschafts- und Gewerk- reich gerechnet ! schaftskreisen fürchtete man nämlich, nicht zu In dieser Situation veröffentlichte Hans-Wer- Unrecht, eine Lohnkonkurrenz des Ostens und ner Sinn mit seiner Frau Gerlinde Anfang 1991 einen Lohndruck auf die westdeutsche Wirt- das Buch Kaltstart, in dem sie eine schonungs- schaft, den man auf jeden Fall verhindern woll- lose Analyse der DDR-Wirtschaft vornahmen te. Die schnelle Lohnanpassung wurde deshalb und die volkswirtschaftlichen Kon­sequenzen begrüßt, da sie die Kaufkraft im Osten für west- der schnellen Lohnanpassung offenlegten : Ent- deutsche Produkte erhöhte, aber die Lasten der wertung des vorhandenen Kapitalstocks, sehr Arbeitslosigkeit auf den Staat verlagern konnte. teurer Anpassungspfad durch weitgehenden Übersehen wurde allerdings, dass sich der Staat Ka­­pitalneuaufbau, chronische Massenarbeits- das Geld durch Steuer- und Beitragserhöhun- losigkeit. Ihr Alternativkonzept war kurz zu- gen zurückholen und die Kosten wie ein Bume- sammengefasst : Subventionierung der Arbeits- rang zurückkommen würden. einkommen, um eine produktivitätsorientierte Viele, die es besser hätten wissen können, Lohnpolitik zu ermöglichen und gleichzeitig konnten sich mit Sinns Thesen nicht anfreun- eine schnellere Anpassung an das westliche den. Sie hätten den politischen Mainstream ver- Wohlstandsniveau zu erreichen; dadurch Sta- lassen, einen Irrtum eingestehen und der Be- bilisierung der Beschäftigung; Privatisierung völkerung die wahren Dimensionen vor Augen des vorhandenen Wirtschaftsvermögens an die führen müssen. Davor schreckten sie zurück.

Bevölkerung. Die Konsequenzen einer hohen Arbeitslosig- iedervereinigung W Hans-Werner schenkte mir ein Buchexem­ keit und einer geringeren gesamtdeutschen die

plar. Die Lektüre überzeugte mich, dass wir in Wachstumsrate nahm man hin, sie wurden nur der Politik auf dem falschen Weg waren. Ich nach und nach deutlich und nicht der Lohn­ und hatte zwar schon in den ersten Regierungs­ politik zugerechnet. Erst mit der von Sinn an-

wochen eine schockartige Konfrontation mit gestoßenen Diskussion über die Aktivierende inn der ökonomischen Wirklichkeit hinter mir, die Sozialhilfe und durch die Agenda 2010 wurden S ein ungutes Bauchgefühl hinterließ, aber noch einige Fehlentwicklungen korrigiert – für den keinen Gesamtüberblick. Osten aber 15 Jahre zu spät. erner -W Leider wurde das Buch in den politischen So wurde Kaltstart zwar mit erfreulich h­ ohen Kreisen kaum zur Kenntnis genommen. Ein Teil Stückzahlen verkauft, hatte aber kaum Auswir- ans H der politischen Klasse hat keine großen wirt- kungen auf die deutsche Politik. Die Übersetzun- : schaftswissenschaftlichen Kenntnisse und ver- gen in mehrere Sprachen, darunter Chin­ esisch traute auf die »bewährten« Instrumente west- und Koreanisch, zeigen aber, dass sich Sinns al deutscher Krisenpolitik. Ich verschenkte damals Analyse im Ausland großer Beachtung erfreut. K TSTART

51 Marc Beise DER TRABI-MANN

Marc Beise leitet seit 2007 die Wirtschaftsredaktion der Süddeut­ schen Zeitung. Gemeinsam mit Hans-Werner Sinn verantwortet und moderiert er die »Münchner Seminare«, eine traditionsreiche Vortragsveranstaltung von ifo und Süddeutscher Zeitung.

Die Öffentlichkeit kennt Hans-Werner Sinn das das Ökonomenehepaar Gerlinde und Hans- dozierend im schwarzen Dreiteiler am Pult Werner Sinn gemeinsam geschrieben hat. In oder im Talkshow-Sessel. Sie kennt ihn als einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung Theo­retiker mit klarer Meinung, die er gern im Herbst 2015, 25 Jahre nach der Wiederver­ apodiktisch vorträgt, was ihm bei manchen einigung, haben sie sich daran in rührender Gegnern den Ruf eingetragen hat, ein kalter Art und Weise erinnert. und gefühlloser Ökonom zu sein. Wer ihm Ein Gemeinschaftswerk war das damals. So ­näher kommt, erlebt, dass der private Sinn gemeinsam, dass das Ehepaar sich heute nicht charmant sein kann, witzig und überraschend. mehr darauf einigen kann, wer denn damals Wer weiß zum Beispiel, dass der langjährige die Idee hatte, die Transformation der DDR- Präsident des ifo Instituts, dem zahlreiche In­ Wirtschaft in die westliche Marktwirtschaft signien der Macht einschließlich eines Audi-­ zu analysieren. Sicher ist : Der junge Münch- A8-Dienstwagens zur Verfügung stehen, ein- ner Ordinarius Sinn war auf USA-Gastreise, in mal ein stolzer Trabi-Besitzer war ? Stan­ford und später auch in Princeton, und Man hätte es vielleicht ahnen können beim fand sich dort permanent der Frage ausgesetzt : Blick auf das Cover der dtv-Taschenbuchaus- Was passiert da in Deutschland ? Da sammelte gabe des ersten Sinn’schen Bestsellers, Kalt- seine Frau zu Hause Informationen, alles, was start : Dort sieht man einen hellblauen Trabi im sie finden konnte, und sandte sie ihrem Mann Schnee, der Starthilfe von einem weißen Mer- per Fax nach Kalifornien, stapelweise, wochen- cedes bekommt, und man sieht ein junges Paar, lang. Sinn gab sein Wissen weiter, er durfte das sich an den Autos abmüht; es sind die ­sogar beim Sachverständigenrat des US-Präsi- al

K TSTART ­Autoren selbst. Kaltstart ist das einzige Buch, denten vortragen, befragt unter anderem von

52 Paul Samuelson, dem ersten amerikanischen nicht funktionierten. Die Arbeiter konnten Wirtschaftsnobelpreisträger – und alle wollten mitbestimmen, das sah gut aus, aber sie verhin- ganz genau wissen : Wie machen die Deutschen derten, dass neue Arbeiter eingestellt wurden. das mit der Vereinigung ? Was wird aus den Auch die Fragilität des ostdeutschen Wirt- Löhnen in Ostdeutschland, die nicht durch schaftssystems wurde Sinn zunehmend be- Produktivität gedeckt sind ? Dann gab es noch wusst. Man konnte ja bei jedem Besuch in der ein anderes Thema, das den selbstbewussten DDR mit Händen greifen, dass die Statistiken Ökonomen auf dem falschen Fuß erwischte : der angeblich bedeutenden Wirtschaftsnation die Privatisierung der volkseigenen Betriebe. dreist gefälscht waren. Als dann alles zusam- Albert O. Hirschman, der berühmte Soziologe, menbrach, als eine neue Ordnung für ein völlig der in der Weimarer Republik Mitglied der heruntergewirtschaftetes System gesucht wur- ­Sozialistischen Arbeiterjugend gewesen war, de, fand der Ökonom Sinn seine Berufung. Bis bevor er vor den Nazis floh, fragte : Was ist jetzt dahin hatte er theoretisch gearbeitet, wie die mit den deutschen Junkern ? Kriegen die ihr meisten Forscher, jetzt war der Sozialwissen- Land zurück ? Sinn war blank, das Thema war schaftler gefragt, der Praktiker. Sinn gab Rat, ihm noch nicht untergekommen : »Ich hatte aber er wurde nicht gehört. Die Währungsum- nichts Sinnvolles zu sagen.« Diese beiden Fra- stellung 1 : 1 trug er mit, aber die Angleichung gen – Löhne und Privatisierung – haben später der Löhne hielt und hält er für einen schweren das Buch Kaltstart maßgeblich beeinflusst. Fehler. Die DDR-Löhne waren auf 30 % des Ein Buch, ein Thema, das für Hans-Werner Westniveaus, mehr war die Arbeit nicht wert. Sinn eine ganz besondere, eine biographische Wäre es so geblieben bis zum Abschluss der Bedeutung hat. Den Mauerbau erlebte er »live« Privatisierung, dann wäre das ein starkes Ar­ mit. Der West-Jugendliche war mit seinen El- gument gewesen für Ausländer, vorzugsweise tern auf Verwandtenbesuch in Ost-Berlin. Am aus Fernost, in Ostdeutschland zu investieren. 12. August 1961 fuhren sie durchs Brandenbur- Dass es so nicht kam, dafür macht Sinn die ger Tor, nachmittags wollten sie zurück, da war ­Tarifparteien verantwortlich : Die Gewerkschaf­ das Tor schon zu, überall lag der gerollte Sta- ten wollten keine Konkurrenz für ihre west-

cheldraht. Deshalb, weiß Hans-Werner Sinn, deutschen Mitglieder und die Arbeitgeber iedervereinigung W »ist der 12. August der Tag des Mauerbaus, ­keine Konkurrenz in ihrem Hinterhof. All das die

nicht der 13., wie es heute immer heißt.« Das ist wird akribisch und wissenschaftlich aufgear- wieder Sinn, der Akkurate. Der, der alles besser beitet in Kaltstart. und weiß. Und auch noch Recht hat; das mag man Den Trabi vom Titelbild, um darauf zurück-

ja nicht so gern. zukommen, hatten sich die Autoren in Mün- inn Als Studenten, das kann sich auch nicht je- chen ausgeborgt. Als Hans-Werner Sinn ihn S der vorstellen, haben die Sinns den dritten Weg persönlich zurückbrachte, fragte er den Eigen- gesucht zwischen Kapitalismus und Sozialis- tümer, wie viel dieser denn gezahlt habe. Der erner -W mus. Als junger Wissenschaftler in Mannheim, konterte : »Wollen Sie ihn denn kaufen ?« War- in den 1970er Jahren war das, ist Sinn mit dem um nicht, dachte Sinn. Und kam so zu einem ans H Seminar nach Sarajevo gereist, 36 Stunden mit Trabi, der viele Jahre in der Familie seinen : dem Zug, um von Arbeitern selbstverwaltete Dienst tat, blaue Wolken aus dem Auspuff in- Betriebe zu besuchen. Aber er begriff bald, dass klusive. al die Ideale aus der Studentenzeit in der Praxis K TSTART

53 Michael C. Burda DIE DEUTSCHE WIEDERVEREINIGUNG ALS ÖKONOMISCHE HERAUSFORDERUNG

Michael C. Burda, US-amerikani- scher Staatsbürger, hat seit 1993 den Lehrstuhl für Wirtschafts­ theorie an der Humboldt-Univer­ sität zu Berlin inne. Seit 1990 liegt sein Forschungsschwerpunkt, neben der Makroökonomie und der Arbeitsmarktökonomik, bei der volkswirtschaftlichen Integ­ ration Europas.

Trotz der allgemeinen Stimmung des Über- für die fehlende Wettbewerbsfähigkeit der ost- schwangs und Übermuts nach der Wende hat deutschen Wirtschaft lieferte George Akerlof Hans-Werner Sinn eine eher nüchterne Frage bereits 1990 : Die vom DDR-Handelsministe­ bemüht : »Wie können 17 Millionen Bürger der rium errechneten »Richtkoeffizienten«, die den ehemaligen DDR den Lebensstandard der alten Wert der Exporte in Ost-Mark abbildeten, um Bundesrepublik erreichen, ohne das Erfolgs- eine zu erwerben, lagen im modell Deutschland zu gefährden ?« Aber nicht Schnitt bei 4,0. Folglich war kaum ein ostdeut- einmal Hans-Werner hätte die massive Her­ sches Kombinat wettbewerbsfähig. Für den ausforderung vorhersehen können, die die Aufbau marktfähiger Unternehmen mit pro- deutsche Wiedervereinigung für die moderne duktiven Mitarbeitern brauchte die ostdeut- Wirtschaftstheorie und den deutschen Wohl- sche Wirtschaft massive Transfers an Sachkapi- fahrtsstaat darstellen würde. tal und technischem Wissen. Das mit seiner Frau Gerlinde verfasste Buch Sinns zeigten mehrere Nebenbedingungen Kaltstart schilderte bereits 1991 diese Probleme auf, an denen die Transformation krankte. Die mit Sorgfalt und Sachlichkeit. Sinns gingen zu rasche Privatisierung der ostdeutschen Wirt- Recht davon aus, dass die realwirtschaftlichen schaft war unabdingbar; ein »dritter Weg« hätte Fundamente für eine sofortige Konvergenz der zur Aufschiebung der nötigen Umstrukturie- Ost-West-Lebensstandards nicht gegeben wa- rungen geführt und dadurch Dauertransfers ren. Ein politisch bestimmter 1 : 1-Umtausch- verursacht. Die Überführung des ostdeutschen kurs für die Ost-Mark ließ die Industriepro- Kapitalstocks in Privatbesitz scheiterte gleich- duktion innerhalb von zwei Jahren um zwei wohl am maroden Kapitalstock, an den starken al

K TSTART Drittel schrumpfen. Den stichhaltigen Beweis Lohnerhöhungen und an der schwachen Ren-

54 tabilität der zu privatisierenden Betriebe. Letz- Umtauschkurses heruntergespielt. Ein günsti- tere war deutlich an den geringen Privatisie- gerer Wechselkurs hätte die ostdeutsche Indus- rungserlösen abzulesen. Dennoch wurde die trie zwar kurzfristig vor dem Aus gerettet, die Transformation maßgeblich durch die Ansprü- Migration aber verstärkt und überdies die un- che der ostdeutschen Bevölkerung bestimmt. verzichtbare Umstrukturierung der Wirtschaft Die neuen Bundesbürger hatten die Freiheit, hinausgeschoben. Einen Aspekt der Wieder- ihren Wohn- und Wirkungsort selbst zu wäh- vereinigung hat Hans-Werner Sinn allerdings len, und machten von dieser Option stark Ge- verkannt : Nicht die von ihm angeprangerten brauch. Junge, gut ausgebildete und ambitio- Gewerkschaften oder staatlichen Arbeitgeber, nierte Mitarbeiter verließen ihre Firmen, die sondern die hohe Arbeitskräftemobilität stellte wiederum gezwungen wurden, die Löhne zu die wesentliche Begleitmusik dar. Die Ostdeut- erhöhen und die Rentabilität neuer Investitio- schen waren vom Schicksal der niedrigen Löh- nen zu schmälern. Die Gewerkschaften haben ne und des »organischen Wachstums« befreit diese Forderungen vorangetrieben. Ohne Wi- und hatten hohe Opportunitätskosten des derstand der Arbeitgeberseite stieg der Durch- ­Bleibens : die Einkommensmöglichkeiten im schnittslohn in den Jahren nach der Wieder- Westen. Im Vergleich war die Mobilität des vereinigung auf 75 – 85 % des Westniveaus. Sachkapitals eher bescheiden. Die ungezügelte Das Ehepaar Sinn hat mit finanzwissen- Abwanderung hätte zweifelsohne zur Um- schaftlicher Stringenz mehrere wirtschaftspo­ wandlung Ostdeutschlands in einen riesigen litische Vorschläge unterbreitet, die leider zu Nationalpark geführt und zwang die Politik häufig von westdeutschen Partikularinteressen zum Handeln. Die hohen Löhne waren eine un- abgelehnt wurden. Um die Effekte der realen ausweichliche Folge der liberalen Wirtschafts- Abwertung abzufedern, brachten Sinns einen ordnung, die sich die Ostdeutschen unter den befristeten Mehrwertsteuererlass ins Spiel. Um Nebenbedingungen der Wiedervereinigung die auf unvollständige Märkte zurückzufüh­ selbst gewünscht hatten. Wie bei der Euroein- renden Liquiditätsengpässe aufzuheben, befür- führung setzte sich das politische Primat gegen worteten sie verschiedene Privatisierungsmo- die ökonomische Räson durch.

delle, die die Eigentümerrechte direkt in die Wie kaum ein anderer hat Hans-Werner iedervereinigung W Hände der Ostdeutschen gegeben hätten. Ver- Sinn die deutsche Wiedervereinigung und die die

steigerungen mit internationalen Bietern hätten Integration der beiden Teile Deutschlands als zu marktgerechteren Preisen geführt; die Streu- ökonomisches und wirtschaftspolitisches The- und ung von Staatsbesitz unter die Bevölkerung – ma erkannt. Auch wenn die vollständige In­

vor ­allem Wohneigentum – hätte den Augen- tegration Ostdeutschlands ein Vierteljahrhun- inn schein der Ausplünderung vermieden. Während dert nach der Wende noch ausbleibt, prägen S sich Sinns stark für Subventionen für beschäf­ Hans-Werner Sinns Botschaften die Diskus­ tigungsfreundliche Anlageninvestitionen aus- sion um den Übergang von der Plan- zur erner -W sprachen, entschied sich die Bundesregierung Marktwirtschaft. Mögliche Zukunftsprojekte stattdessen für einen massiven Ausbau der Steu- wie die Wiedervereinigung Koreas oder der ans H ersubventionen für Bauinvestitionen, was den Umbau von planwirtschaftlich aufgestellten : Bausektor aufblähte und die Verteilungsproble- Ländern in Asien und Lateinamerika würden matik zwischen Ost und West verschärfte. sehr von s­einer Analyse der deutschen Erfah- al

Folgerichtig haben Sinns die Rolle des 1 : 1- rungen profitieren. K TSTART

55 Holger Steltzner DER KALTSTART VON PROFESSOR SINN

Holger Steltzner ist seit 2002 ­einer der Herausgeber der Frank­ furter Allgemeinen Zeitung. Nach Banklehre, Wirtschafts- und Jura- studium, Mitarbeit im Familien­ unternehmen und im Investment- banking der UBS wechselte er 1993 in die Finanz­redaktion der F. A. Z. und wurde sechs Jahre ­später Ressortleiter.

Es gibt wenig, was Hans-Werner Sinn zum den das Buch heute genauso wieder schreiben. Heulen bringen kann. »Der Fall der Mauer«, Denn vieles hat sich bewahrheitet : die prog- sagt er, war das einzige politische Ereignis in nostizierte Deindustrialisierung, die Abwan­ seinem Leben, zu dem ihm tatsächlich die Trä- derung, die drastische Entwertung des Volks- nen kamen. Ausgerechnet ihm, der mit seiner vermögens. »Vor allem die Entwertung des Frau 1991 das Buch Kaltstart schrieb, eine scho- Potenzials der Menschen durch die hohen Löh- nungslose Abrechnung mit den wirtschafts­ ne«, fügt Gerlinde Sinn an, die immer auch den politischen Fehlern der Wiedervereinigung Menschen im Blick hat. Deutschlands. Wie alle anderen haben die bei- Von allen Büchern, die sich mit den ökono- den Ökonomen damals auch gefeiert. Dann mischen Folgen der deutschen Einheit befas- aber schnell dieses Buch geschrieben, mit gro- sen, hat Kaltstart in der Fachwelt die beste Auf- ßer Begeisterung, wie Gerlinde Sinn sagt. nahme gefunden. Das Werk über die verfehlte Ihr Buch wurde eine Bestandsaufnahme und Wirtschaftspolitik dieser Zeit, die Hans-Wer- ein Kompendium ökonomischer Empfehlun- ner Sinn als »Konkursabwicklung mit Sozial- gen, in der Hoffnung, die Politiker würden sie plan« bezeichnete, begründet seinen Ruf in der hören. »Natürlich wollten wir Einfluss neh- Öffentlichkeit als scharfzüngiger Ökonom und men«, sagt Hans-Werner Sinn, der sich selbst wichtiger Ratgeber der Politik. So gesehen war schon mal als Sozialingenieur bezeichnet, der das Buch auch ein »Kaltstart von Professor Spielregeln erdenkt, damit sich Menschen zum Sinn«. Wenn die Autoren ein Vierteljahrhun- eigenen Nutzen und zum Wohle aller verhal- dert später Bilanz ziehen, ist die politische Ver- ten. Als Volkswirt habe man schließlich ein einigung Deutschlands gelungen, die wirt- al

K TSTART ­gewisses Sendungsbewusstsein. Die Sinns wür- schaftliche nicht. Eine Konvergenz gibt es nur

56 bei den Reallöhnen und Haushaltseinkommen, ren werden, und die Treuhandbetriebe sollten die zwischen 85 und 90 % des Westniveaus lie- mit interessierten Investoren aus dem In- und gen. Die realen gesetzlichen Renten liegen im Ausland Joint Ventures gründen, um so die Be- Osten bei weit mehr als 100 %. Ein Ergebnis der legschaften möglichst rasch in eine moderne Transferunion ist auch, dass das privat erzeugte Arbeitswelt zu überführen und mit neuen Pro- Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner in den dukten und Maschinen auszustatten. »Viele neuen Bundesländern bei gerade einmal zwei Treuhandbetriebe wären dann werthaltig ge- Drittel des westdeutschen Niveaus liegt. Rund wesen, und man hätte der ostdeutschen Bevöl- 1,6 Billionen Euro sind in den Osten geflossen, kerung verbriefte Anteilsrechte zum Ausgleich schätzt das ifo Institut. Noch heute liegen die für einen etwas langsameren Lohnanstieg zu- Nettotransfers in die neuen Länder bei rund teilen können. Doch als die Politik unsere Vor- 60 Milliarden Euro im Jahr. Das Geld floss in schläge zur Kenntnis nahm, hat sie nur noch Sozialtransfers, einen aufgeblähten Staatssek- mehr Gas gegeben«, bilanzieren die Sinns trau- tor und in konsumtive Infrastruktur. Viele ost- rig. Die Joint Ventures entstanden stattdessen deutsche Städte wurden wieder Schmuckstü- in Tschechien, Ungarn und der Slowakei. Die cke. Doch ein sich selbst tragender Aufschwung Treuhandanstalt scheiterte, drei Viertel der kam bis heute nicht in Gang. Die neuen Bun- ihr anvertrauten Arbeitsplätze gingen verloren. desländer wuchsen nicht schneller als die alten, Später gestand , der Kanzler der von Konvergenz keine Spur. Einheit, wenigstens ein, die Wettbewerbsfähig- Der Kardinalfehler war, dass die Politik keit der DDR-Wirtschaft überschätzt zu haben, in der Wiedervereinigung eine ökonomische um dann zu ergänzen, dass es aus politischen Grundregel auf den Kopf gestellt hat. Will man Gründen keine Alternative gegeben habe. eine Marktwirtschaft aufbauen, darf man in »Das Primat der Politik gegenüber den öko- das freie Spiel der Preise und Löhne nicht ein- nomischen Gesetzen führte bei der Vereini- greifen, weil es zentrale Lenkungsfunktionen gungspolitik zu den absehbaren Problemen. erfüllt. Die Politik hatte jedoch zugelassen, Jetzt wollen viele die Dinge schönreden. Aber dass westdeutsche Konkurrenten (Arbeitgeber wo endet ein Land, das nicht einmal in der

und Gewerkschaften) in den Treuhandfirmen Lage ist, die Realität zu erkennen ?« Diese Frage iedervereinigung W marktferne Lohnsteigerungen durchgesetzt stellt Hans-Werner Sinn heute auch für Euro- die

haben. Indem die ostdeutschen Löhne schnell pa. Wieder bezweifelt er, dass Politiker die auf westdeutsches Tarifniveau gehievt wurden, wirtschaftliche Tragweite ihrer Entscheidun- und schützte der Westen die eigenen Arbeitsplätze gen voll verstehen. »Sie sind dabei, die Fehler

und verschreckte Investoren. Die Treuhand­ zu wiederholen, die Deutschland nach der inn anstalt schaute zu, und es gab keinen ostdeut- Wiedervereinigung gemacht hat. Die Haltung, S schen Unternehmer, der sich gegen diese Ent- das werde sich schon einpendeln, nannte man wertung des Kapitals wehren konnte. Primat der Politik. Aber nichts pendelte sich erner -W Das Ökonomenehepaar Sinn hatte 1991 eine ein – im Gegenteil.« Dasselbe hört man heute Alternative beschrieben. Danach sollten die in der Eurokrise – Griechenland lässt grüßen. ans H Löhne nach der 1 : 1-Umstellung der Währung Doch Hans-Werner Sinn und die verfehlte : bis zum Abschluss der Privatisierung eingefro- Euro­rettungspolitik ist eine andere Geschichte. al K TSTART

57 Charles B. Blankart WAHLKAMPFKOSTEN 1990

Charles B. Blankart ist ifo-For- schungsprofessor, Seniorprofessor an der Humboldt-Universität zu Berlin, Ständiger Gastprofessor an der Universität Luzern und lehrt an der Bucerius School in . Er ist Autor zahlreicher Aufsätze sowie des Buches Öffent­ liche Finanzen in der Demokratie.

Die Freundschaft mit Hans-Werner Sinn be- nur im Westen.« Dann verabschiedete sich die gann mit einer Trennung. Hans-Werner kam Sonne. Sie musste noch zum Bahnhof Zoo, um 1984 nach München, und ich erhielt zum Win- dort für morgen ihre West-Mark im Verhält- tersemester 1985/86 einen Ruf von München nis 1 : 5 in Ost-Mark umzutauschen. »Nicht zur an die Technische Universität in Berlin, damals Ausfuhr bestimmt«, stand auf dem Zettel. noch Berlin-West. Als die Mauer fiel und sich 1990 die Einheit Der Oktober 1985 bescherte den Berlinern Deutschlands abzeichnete, waren die Tage der sonnige Herbsttage. Frühmorgens ging die Wechselstube am Bahnhof Zoo gezählt. Es soll­­­­ Sonne im Osten auf. Sie grüßte : »Guten Mor- te ja nur noch die D-Mark geben. Doch zu wel- gen, Genosse Staatsratsvorsitzender. Ich wün- chem Kurs ? Bislang durfte die DDR-Export­ sche Ihnen einen guten Tag.« Um die Mittags- industrie 5 OM (Ost-Mark) ausgeben, um dafür zeit stand die Sonne weit oben am Himmel. Sie 1 DM zu erwirtschaften. Nicht zufällig galt dieser sagte : »Mahlzeit, Herr Staatsratsvorsitzender. Kurs auch am Bahnhof Zoo. Damit anerkannte Ich wünsche Ihnen einen guten Appetit. Heute die DDR Jevons’ Gesetz des einen Preises. gibt es Kaliningrader Klopse mit Rotkraut, wie Die ökonomische Logik hinderte die Bundes- gestern.« Am Abend stand die Sonne schon regierung nicht daran, Jevons’ Gesetz zu miss- tief am Himmel. Sie sagte : »Guten Abend, Herr achten, als sie sich Anfang 1990 dazu anschick- Staatsratsvorsitzender : Ich hau jetzt ab in den te, die Währungsunion vorzubereiten. Hierfür Westen !« Das war die deutsche Teilung vor sollte der »Primat der Politik« gelten ! Da tauch- 1989. Jeder Ostdeutsche hatte einen stummen te in der Diskussion plötzlich die Formel 1 OM = Begleiter, den Wessi, neben sich, der ihm zu- 1 DM auf. Sie verbreitete sich in Windeseile und al

K TSTART flüsterte : »Die gute Seife, die du suchst, gibt’s übte eine magische Kraft aus. Mahnungen der

58 Ökonomen verhallten wirkungslos. Ihnen blieb nen Betrag von 100 000 Euro, also insgesamt nur noch die Möglichkeit, ihre Ansicht durch 1,7 Billionen Euro, ausschütten können und hät- die Presse zu dokumentieren, damit es nicht te dabei die tatsächlichen Wiedervereinigungs- dereinst heißt : Die Politik entschied sich so, weil kosten von 2 Billionen Euro inkl. 80 Mrd. Euro die Ökonomen schwiegen. für die Infrastruktur im Osten nicht erreicht. Daher veröffentlichte ich am 12. März 1990 Doch Kohl zog es vor, die Löhne und Gehäl- einen kurzen Aufsatz in der Frankfurter Allge- ter im Osten hoch anzusetzen, was die Kosten meinen Zeitung mit dem Titel : »Aufwertung vervielfachte. Mit dieser Politik übertraf er die der Ost-Mark um 400 % ?« In der Tat steckt historisch einmaligen Wahlkampfkosten von zwischen den beiden Kursen von 1 : 5 und 1 : 1 852 589 Gulden, die Kaiser Karl V. im Jahr 1520 eine Spanne von 400 %. Bundeskanzler Helmut für seine Kaiserwahl aufwendete, umgerechnet Kohl antwortete mir in einem Brief, man müs- um das 105-Fache. se den Menschen im Osten eine Chance geben, Die Überlegung von Einmalzahlungen führt ob­wohl er diese mit dem Kurs von 1 : 1 verun- zu Gerlindes und Hans-Werners Buch Kaltstart möglichte. (1991). Auch sie empfehlen, die Währungs­ Doch Kohls Argumentation hatte einen poli- umstellung mit den Bestandsgrößen statt mit tisch-ökonomisch richtigen Punkt. Zwar hätte Stromgrößen vorzunehmen. Ihr Plan sieht vor, jeder Kurs niedriger als 1 : 1 in Ostdeutschland den ostdeutschen Arbeitern bei der Währungs- Arbeitsplätze gerettet. Ein solcher aber gefähr- umstellung Realkapitalanteile aus der ostdeut- dete Kohls Mehrheit in der Bundestagswahl schen Industrie zu geben, wenn diese dafür auf vom 2. Dezember 1990. Kohl erkannte, dass er Lohnforderungen verzichten. Sie schreiben : für einen Wahlsieg am 2. Dezember den Ost- »Der Kern des Paktes besteht in der Verlage- deutschen zum 1. Juli 1990 (dem Tag der Wäh- rung des Verteilungsproblems von den Faktor- rungsumstellung) einen unmittelbaren Kauf- preisen auf die Erstausstattungen« (S. VIII). kraftzuwachs gewähren musste. Hätte Kohl Leider fand der Sinn-Plan nicht die Gnade diese Kaufrauschpolitik nicht verfolgt, so hätte der Tarifpartner. Ein Blick auf Westdeutsch- die Opposition die Enttäuschung in der Be­ land erklärt auch warum : Franz Steinkühler IG völkerung aufgegriffen und damit vielleicht die und seine westdeutsche Metall fürchteten iedervereinigung W Wahl gewonnen. die Konkurrenz der Metaller aus dem Osten. die

Hätte Kohl einen Ökonomen gefragt : »Wie Die Wettbewerbsfähigkeit des Ostens sollte erzeuge ich zu geringstmöglichen Kosten einen durch hohe Kostenbarrieren (raising rival’s und Kaufrausch ?«, so hätte dieser empfohlen : Ge- costs) auf Sparflamme gehalten werden. So

währen Sie Einmalzahlungen. Die kosten we- setzte Steinkühler in den Tarifverhandlungen inn niger als laufende Zahlungen. Kohl hätte sich von 1990 50 % mehr Lohn für jeden Ost-Metal- S das vielleicht gemerkt. Er wäre bei Geldver­ ler durch. Damit kumulierte sich die durch mögen großzügig und bei Löhnen und Gehäl- die Währungsunion verursachte und durch die erner -W tern zurückhaltend gewesen. Tatsächlich ging Gewerkschaft erzwungene Lohnsteigerung auf Kohl gerade umgekehrt vor. Löhne und Gehäl- zusammen 650 % (nämlich 400 % durch die Pa- ans H ter wurden 1 : 1 umgestellt, Geldvermögen (jen- rität von 1 : 1 und 50 % durch die IG-Metall). Die : seits einer Mindestsumme) im Verhältnis 1 : 2. Rechnung ging auf : Die Bundestagswahl wurde Da hätte Kohl viel großzügiger sein können. Er gewonnen, und die Konkurrenz aus den neuen al hätte jedem der 17 Millionen Ostdeutschen ei- Bundesländern wurde verhindert. K TSTART

59 Karl-Heinz Paqué DEUTSCHE EINHEIT IM MODELL

Karl-Heinz Paqué ist Volkswirt und Dekan der Fakultät für Wirt- schafswissenschaft der Otto-von- Guericke-Universität Magdeburg. Er war von 2002 bis 2006 Finanz- minister des Landes Sachsen-­ Anhalt. Er ist Autor des Buches Die Bilanz. Eine wirtschaftliche ­Analyse der Deutschen Einheit, München 2009.

Kaltstart – so der geniale Titel des Buches, das spröden Materie auch für den interessierten Hans-Werner Sinn mit seiner Frau Gerlinde Laien durchaus zugänglich. im August 1991 veröffentlichte. Thema : volks- Der zweite Grund für den Erfolg des Buches wirtschaftliche Aspekte der deutschen Vereini- lag in seiner politischen Brisanz. Kaltstart lie- gung, wie es im Untertitel hieß. ferte eine überaus scharfe Kritik an der Wirt- Das Buch machte Hans-Werner Sinn schlag- schaftspolitik der deutschen Wiedervereini- artig berühmt, weit über die Fachgrenzen hin- gung, und zwar nicht in irgendwelchen wenig aus. Dies hatte zwei Gründe, einen sachlichen aufregenden technischen Details der Gestal- und einen politischen. Der sachliche Grund tung, sondern im Kern. Im Vorwort der zwei- lag in der Qualität der professionellen Analyse. ten Auflage des Buches, datiert 1. Juli 1992, Erstmalig legte ein Ökonom eine Studie vor, sprechen die Autoren von »einer utopischen die den wirtschaftlichen Teil der Deutschen Grundkonzeption der Wirtschaftspolitik, die Einheit, den sogenannten Aufbau Ost, um­ elementare Regeln der Volkswirtschaftslehre fassend untersuchte, und zwar in all seinen missachtet hat«, und sie bezeichnen ihr Buch ­wichtigsten Dimensionen : von der Erblast der als einen »Appell an die wirtschaftspolitischen ­Planwirtschaft über die Währungsunion, die Entscheidungsträger, das Steuer noch einmal Tarifpolitik und die Privatisierung des Kapital- herumzureißen«. Kurzum : ein gnadenloser bestandes durch die Treuhandanstalt bis hin Verriss der Politik. Kein Wunder also, dass die zum Entwurf alternativer Strategien. Ein gran- Öffentlichkeit in hohem Maße aufmerksam dioses Buch : gespickt mit Fakten und Deutun- wurde. gen in einem neoklassischen Modellrahmen, Was war die Kritik, die Hans-Werner Sinn al

K TSTART packend geschrieben und trotz der zum Teil bis heute unverändert aufrechterhalten hat ? Sie

60 betrifft im Wesentlichen zwei Punkte : die Pri- auch kein frühes deutliches Signal, wer künftig vatisierung und die Tarifpolitik. Die Privatisie- beschäftigt bliebe und wer arbeitslos würde. rung, so Sinn, lief viel zu schnell und über­ Stattdessen auf breiter Front zunehmender po- hastet. Sie sprengte die Aufnahmefähigkeit des litischer Druck in Richtung Dauersubventio- Kapitalmarkts und zerstörte somit wertvolles nen für den Betrieb total veralteter Maschinen- Vermögen – auf Kosten der ehemaligen DDR- parks sowie die Herstellung unverkäuflicher Bürger, denen eigentlich die Verkaufserlöse aus Produkte. Und im Falle der Verteilung von »ihren« ehemaligen volkseigenen Betrieben ­Anteilsscheinen, wie sie Sinn forderte, auch zustanden, eine krasse Verschwendung und noch verbunden mit deren Wertverfall und Ungerechtigkeit. Was die Tarifpolitik betrifft, ­damit weit verbreiteter Frustration in der Be- verschlechterte die früh avisierte Ost-West- völkerung – statt Jubel über realisiertes Volks- Lohnangleichung der staatlich alimentierten eigentum ! Wahrlich ein marktwirtschaftliches Treuhandanstalt die ohnehin schwierige wirt- Horrorbild, abschreckend genug für die Politik schaftliche Ertragslage der Unternehmen; sie und die Treuhandanstalt, um auf die schnelle ruinierte deren Chancen auf Wettbewerbs­ und pragmatische Veräußerung zu setzen, und fähigkeit und rentable Veräußerung. Sinns zwar an branchenkundige Investoren und nicht ­Lösungsvorschläge : zeitliches Strecken der Ver- an global tätige anonyme Beteiligungsfonds, äußerung und Rücknahme der Pläne zur Lohn- wie es im Kaltstart empfohlen wurde. angleichung. Ähnlich realitätsfern war Sinns Vorschlag, Waren Sinns Kritik berechtigt und seine Lö- im Osten die Löhne der unmittelbaren Nach- sungsvorschläge zielführend ? Dies ist bis heute wendezeit (etwa ein Drittel des Westens) ein- umstritten geblieben – kaum verwunderlich in fach beizubehalten. Würden Fachkräfte mit einer Welt, in der ein kontrafaktisches histori- gleicher Sprache und Kultur sowie fast gleich- sches Experiment nicht möglich ist. Ein faires wertiger Ausbildung wirklich motiviert im Urteil darüber lässt sich am ehesten bilden, ­Osten weiterarbeiten, wenn sie wenige Kilo­ wenn man auf die uralte Dichotomie zwischen meter westlich das Dreifache an Einkommen Theorie und Praxis zurückgreift : Theorie als erzielen konnten ? Tatsächlich pendelte sich

durch einfache Annahmen gestütztes Gedan- das industrielle Lohnniveau im Zuge der Priva- iedervereinigung W kengebäude, die Politik dagegen als die Kunst tisierung – und zumeist außertariflich – sehr die

des Möglichen in einer komplexen Realität. In schnell bei zwei Drittel des Westniveaus ein : dieser Dichotomie stand und steht Sinn auf der höher als Sinns präferierte Lösung, aber auch und Seite der Theorie, die Politik auf der Seite der weit von der ursprünglich deklarierten Ost-

Wirklichkeit. West-Lohnangleichung entfernt. Wahrschein- inn Besonders deutlich wird dies bei Sinns har- lich war genau dies der vernünftige Mittelweg S scher Kritik an der Privatisierung. Viele Beob- zwischen betrieblicher Notwendigkeit und Be- achter und Entscheidungsträger sahen damals reitschaft zur Mobilität. erner -W die Hauptgefahr in einer Verschleppung des Fazit : Das Buch Kaltstart lieferte eine Bench- Prozesses, die zur Perspektivlosigkeit der Be- mark der Theorie, intellektuell anregend und ans H legschaften geführt hätte : keine frühzeitig kla- gesellschaftlich provokant. Auf die Richtung : ren Geschäftsmodelle und Investitionspläne, der Politik und den Gang der Wirtschaftsge- keine früh erkennbaren neuen Produktpalet- schichte hatte es dagegen keinerlei Einfluss – al ten mit langfristigen Chancen im Weltmarkt, aus guten Gründen. K TSTART

61 Reinhold Festge EIN ABSEHBARER NIEDERGANG – DIE OSTDEUTSCHE INDUSTRIE NACH DER WIEDERVEREINIGUNG

Reinhold Festge ist persönlich ­haftender Gesellschafter der ­Haver & Boecker OHG. Er ist seit 2013 ­Präsident des Verbands Deutscher Maschinen- und Anlagenbau (VDMA) und seit 2014 Vizepräsi­ dent des Bundesverbands der ­Deutschen Industrie (BDI).

Hans-Werner Sinn hat das, was mit dem Mau- als in den neuen Bundesländern. Diese alten erfall 1989 in und mit der ostdeutschen Wirt- Märkte kannte man, und jetzt wollte man etwas schaft geschah, als »Kaltstart« bezeichnet. Aus Neues. heutiger Sicht und insbesondere mit Blick Der Niedergang der industriellen Wert- auf den Maschinen- und Anlagenbau hat er schöpfung im Osten Deutschlands war daher Recht. Und das, obwohl wir alle heiß waren auf nicht aufzuhalten. Es gab bestimmt viele Fak­ das ­gemeinsame Deutschland und die damit toren für diesen Niedergang. Wesentlich waren verbundenen Chancen, insbesondere zur Ost- dabei sicherlich die Überkapazitäten in den erweiterung. ­alten Bundesländern und auch weltweit. Wir Aber unsere Wünsche, die am 10. November konnten die Wünsche im europäischen Osten 1989 mit Tausenden bunten Luftballons voll auch ohne neue Kapazitäten in den neuen Bun- Freude in den Himmel stiegen, platzten. Und desländern erfüllen. das, obwohl die Ausgangslage in den neuen Die Voraussetzungen waren also schwierig, Bundesländern nicht schlecht war : qualifizierte und sie wurden nicht besser durch einige Arbeiter und Angestellte, gerade in den tech­ ­wirtschaftspolitische Fehlentscheidungen und nischen Berufen, hoher Investitionsbedarf und Fehlentwicklungen, die dann rasch folgten. nicht zuletzt die enge Bindung an die sich öff- Gerlinde und Hans-Werner Sinn beschrieben nenden Märkte im Osten Europas. Märkte, die sie schon sehr früh in ihrer vielbeachteten Ver- für uns im Westen zuvor nur mit Schwierig­ öffentlichungK altstart. keiten erreichbar waren. Eine vielversprechen- Erschreckend kam hinzu, dass die Struktu- de Basis, dachten wir. Aber der Osten, allen ren der Betriebe – in der ehemaligen DDR war al

K TSTART ­voran Russland, kaufte lieber direkt im Westen der Maschinenbau überwiegend in Kombina-

62 ten mit mehreren Tausend Mitarbeitern und Andere Wirtschaftszweige – insbesondere über verschiedene Sektoren organisiert – dem die Konsumgüterindustrie – profitierten in den deutschen Mittelstand fremd und nicht fassbar späteren Nachwendejahren auch von einem erschienen. Die komplizierte Arbeit der Treu- Revival ihrer Produkte. Die Präferenz für die hand tat das ihre dazu, um insbesondere die traditionsreichen ostdeutschen Produkte stieg mittelständischen Maschinenbauer zögern zu wieder. Dieser Effekt blieb im Maschinenbau lassen. Und wenn sie dann doch – oft aus senti- jedoch leider aus. mentalen Gründen – einen Teil eines Altbetrie- Erschwerend kam auch hinzu, dass sich die bes übernahmen, stellten sie sehr schnell fest, Rezession im westdeutschen Maschinenbau dass sie im wahrsten Sinne des Wortes einen negativ auf die Risikobereitschaft der Banken Altbetrieb gekauft hatten : in alten Mauern, und damit auf den Zugang zu Finanzierungs- mit alten Maschinen, mit alten Produkten. Es möglichkeiten auch im Osten auswirkte. Kre- mangelte an Wettbewerbsfähigkeit und Effi­ dite waren nur sehr restriktiv und dann auch zienz. Diese Produktivitätslücke wurde dann nur mit hohen Risikozuschlägen zu erhalten. durch die Tarifpolitik nicht schnell genug Die Wiedervereinigung war ein Experiment überwunden. ohne Vorbereitung; ein Kaltstart eben. Für Im Jahr 1992 wurde im ostdeutschen Ma- Ökonomen bieten die Wende- und Nachwen- schinenbau bereits knapp die Hälfte des west- dejahre einiges Anschauungsmaterial. Dass deutschen Stundenlohns gezahlt, der Umsatz man es hätte besser machen können, wissen pro Stunde erreichte aber erst ein Drittel des wir heute. Wir hätten es früher wissen kön- vergleichbaren westdeutschen Wertes. Zwei nen, wenn wir Hans-Werner Sinns Thesen Jahre später lag der Stundenlohn bei 63 %, der nicht nur als wissenschaftliche Beiträge, son- Umsatz pro Stunde bei 49 % des Westniveaus. dern vielmehr als »Gebrauchsanweisung« ver- Die Lücke wurde zwar kleiner; sie blieb aber standen hätten. ­alles in allem viel größer, als es die wirtschaft­ Was folgte, ist bekannt : Die Wirtschafts­ liche Vernunft erlaubt hätte. Und so sind in­ leistung je Einwohner der neuen Länder er- zwischen viele der damaligen Unternehmen reichte zwar schon Mitte der 1990er Jahre etwa

wieder vom Markt verschwunden. 65 % des Westniveaus; sie stagniert aber seit der iedervereinigung W Hans-Werner Sinn hat diese Problematik Jahrtausendwende bei gut 70 %. Damit ist zu- die

und ihre langfristigen Folgen früh erkannt. mindest eine Prognose Hans-Werner Sinns ­Offensichtlich wurde der Niedergang schon nicht eingetreten : Er gehörte Anfang der und wenige Jahre nach der Wiedervereinigung. 1990er Jahre zu den weniger optimistischen

Während die ostdeutsche Wirtschaft im Jahr Ökonomen und sagte eine Angleichung der inn 1990 noch etwa ein Fünftel zum Umsatz im ge- Wirtschaftsleistung je Einwohner »erst« für S samten Verarbeitenden Gewerbe Deutschlands 20 Jahre später voraus. Hätte er doch auch hier beitrug, sank dieser Anteil bis 1994 auf ledig- Recht behalten ! erner -W lich ein Zehntel. Im ostdeutschen Maschinen- bau betrug die Produktion im Jahr 1994 noch ans H ein Viertel derjenigen im Jahr 1989. : al K TSTART

63 Gregor Gysi EIN SCHARFSINNIGER KOPF UND EIN MARKTRADIKALER AUSSERIRDISCHER DIMENSION

Gregor Gysi ist seit 2005 direkt gewählter Abgeordneter und Vor- sitzender der Fraktion Die Linke im Deutschen Bundestag. Von 1990 bis 1993 war er Vorsitzender der Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS) und der Abge- ordnetengruppe im Deutschen Bundestag.

Vor langer Zeit gehörte es zum gepflegten libe- weniger Bürokratie, Vorfahrt für den Markt – ralen Standpunkt, für Erbschaften eine 100%ige das waren und sind die billigen Überbleibsel Steuer zu fordern. Denn der unverdiente Reich- auf der Resterampe einer dahindämmernden tum gefährde das Leistungsprinzip und unter- politischen Strömung. Anders als die Politik, grabe die Freiheit einer Gesellschaft, meinte die immer von Rücksichten vielfältiger Art ge- beispielsweise John Stuart Mill im 19. Jahr­ prägt ist und selten klare Gedanken äußert, hundert. Anfang der 1970er Jahre, als erneut darf die Wissenschaft kein Blatt vor den Mund Grundfragen des Liberalismus gestellt wurden, nehmen : sagen, was ist, und empfehlen, was schrieb Karl-Hermann Flach, der damalige sein soll. Dabei könnte den Ökonomen, die ­Generalsekretär der FDP : »Der Kapitalismus sich mehrheitlich einem individualistischen als vermeintlich logische Folge des Liberalis- Menschenbild verpflichtet fühlen, die Aufgabe mus lastet auf ihm wie eine Hypothek. Die Be- zufallen, den liberalen Standpunkt zeitgemäß freiung des Liberalismus aus seiner Klassen­ und im Sinne des allgemeinen und dauerhaf- gebundenheit und damit vom Kapitalismus ist ten, folglich nachhaltigen Wohls mit sachver- daher die Voraussetzung seiner Zukunft.« ständiger Substanz zu füllen. Sind Liberale heute noch willens und fähig, Wer, wenn nicht Hans-Werner Sinn, hätte solche radikalen Freiheitsgedanken auszuspre- diese Denkleistung vollbringen können ? Er ist chen ? In der Sphäre der Politik wohl nicht. scharfsinnig, eloquent und unabhängig. Wenn ­Jedenfalls war in den vergangenen 25 Jahren es ihm geboten erschien, hat er seine Stimme nicht einmal ansatzweise zu hören, worin denn erhoben. Anfang der 1990er Jahre, als die ost- die Perspektiven eines zu Ende gedachten Indi- deutsche Wirtschaft rasant und flächendeckend

Kaltstart vidualismus bestehen müssten. Steuern runter, kollabierte, verlangte Hans-Werner Sinn, haar-

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Sinn_01_festschrift.indd 64 17.02.2016 12:42:16 sträubende Fehler der Wirtschaftspolitik rasch für die Finanzmärkte gerade nicht gelten. Sie zu beseitigen. Der Grundsatz »Rückgabe vor brauchen die hart regulierende und sichtbar Entschädigung«, der für die Alteigentümer eine gestaltende Hand des Staates. Das aber bedeu- Bereicherungsparty und für Ostdeutschland tet : Man muss mächtigen Interessen auf die ein lähmendes Investitionshemmnis war, müs- Füße treten und unbeirrt von den Einflüste- se umgedreht werden, meinte Sinn und war da- rungen der Fonds- und Bankenwelt Gesetze er- mit ganz nah an der PDS-Position in jener Zeit. lassen, die nicht mehr erlauben, was als unpro- Ebenso treffend war seine Kritik am Doppel- duktiv und unmoralisch erkannt worden ist. motto der Treuhandanstalt. Wer nur die Alter- Gemessen an den geistigen Herausforderun- native »schnell privatisieren oder schnell liqui- gen, die spätestens seit der Weltfinanzkrise auf dieren« kennt, der zerstört auch die Betriebe, der Tagesordnung stehen, fällt die Bilanz der die mit etwas längerem Atem gute Überlebens- deutschen Wirtschaftswissenschaft nach mei- chancen gehabt hätten. Nicht zuletzt war die nem Eindruck bescheiden aus. Während im ­finanzielle Bilanz der Treuhandanstalt wegen angelsächsischen Orbit intensiv über grund­ ihres absurd hohen Veräußerungstempos so legende Fehler des eigenen Tuns diskutiert schlecht. Unter diesem Druck könne man nur wird, gefällt sich ein beträchtlicher Teil der schlechte Preise erzielen, meinte damals Hans- deutschen Ökonomenszene in der selbst zu Werner Sinn völlig zu Recht. verantwortenden Isolation langweiliger Recht- In krassem Gegensatz zu den Anfangsjahren haberei. Während aus Frankreich ein dickes der deutschen Einheit, als die Neuartigkeit der und weltweit diskutiertes Werk über die zu- auftretenden Probleme zumindest bei einigen nehmende Ungleichheit kommt, verharren all- kreativen Ökonomen unkonventionelles Den- zu viele deutsche Wirtschaftswissenschaftler ken förderte, erschien mir später Professor im starren Gerüst ihrer schematischen Mo­ Sinn wie ein Marktradikaler außerirdischer delle. Während Nobelpreisträger Joseph Stiglitz ­Dimension. Präzise zu errechnen, um wie viel kollegial und im Sinne gemeinsamen Erkennt- das Lohnniveau fallen müsse, um Vollbeschäf- nisfortschritts mit Yanis Varoufakis diskutiert, tigung zu erreichen – dieser Versuch, den Ar- ertönt aus so mancher deutscher Fakultät Be-

beitsmarkt wie einen Kartoffelmarkt zu be- gleitmusik für das Griechenland-Bashing. iedervereinigung W trachten –, war aus meiner Sicht von Anfang Angesichts dieser offenkundigen Mängel die

an zum Scheitern verurteilt. Die Zeit nach dem wünsche ich mir von Hans-Werner Sinn ein großen Crash von 2008 hat in Südeuropa und Werk, das nochmals die Grundlagen rein und anderswo gezeigt, wie katastrophal die Folgen marktwirtschaftlichen Denkens kritisch über-

sind, wenn man über drastische Lohnsenkun- prüft und das eigene bisherige Schaffen nicht inn gen aus Krisen herauskommen will. schont. Möge er die ruhigere Zeit dafür nutzen, S Als falsch erwiesen hat sich der Glaube an im Geiste des ehrwürdigen Liberalismus neu die segensreichen Wirkungen des freien Spiels zu formulieren, wie Wirtschaft nicht zum Vor- erner -W von Angebot und Nachfrage auch auf einem teil unverdienter Privilegien, sondern zum anderen zentralen Feld. Liberalisieren, deregu- Wohle der großen Mehrheit der Menschen und ans H lieren und die Marktkräfte wirken lassen – das im Angesicht ökologischer Grenzen funktio- : sollte, wie heute eigentlich jeder wissen müsste, nieren sollte. al K TSTART

65 Harold James HANS-WERNER SINN, KASSANDRA UND DIE LESBOS-REGEL DES ARISTOTELES

Harold James ist Claude and Lore Kelly Professor für Europäische Studien an der Princeton Univer­ sity. Er ist Autor des Buches ­Making the European Monetary Union (2012). 2004 erhielt er den Helmut-Schmidt-Preis für Wirt- schaftsgeschichte, 2005 den ­Ludwig-Erhard-Preis für Wirt- schaftspublizistik.

Hans-Werner Sinn ist der mit Abstand ein- glaubhaften vereinfachten Analyserahmen zu flussreichste deutsche Ökonom der vergange- schaffen, der die Identifikation eines zentralen nen 25 Jahre, und es ist eine Freude, seinen Problems ermöglicht. Im Fall Hans-Werner substanziellen positiven Einfluss auf den wirt- Sinns besteht dieser Analyserahmen in der Be- schaftswissenschaftlichen Diskurs und die -Po rechnung von impliziten Zahlungsverpflich- litik in Deutschland zu würdigen. Er hat in tungen und oftmals auch in der Analyse der ­vielen Bereichen herausragende Beiträge ge- Logik kumulativer Transferzahlungen, häufig leistet – insbesondere zu den Kosten der deut- mit dem Ergebnis der Aufdeckung einer »Fal- schen Wiedervereinigung in den 1990er Jahren, le«. Deutschland wurde in der Vergangenheit zu der deutschen Wirtschafts- und Industrie- durch verschiedene Entscheidungen in die

struktur, zum Versuch der Reduktion von CO2- ­Falle gelockt; in Bezug auf Lohnsetzungspro- Emissionen und erst kürzlich zu den Kosten zesse, in Bezug auf die ehemalige DDR oder

der Europäischen Währungsunion. Seine Her- durch die Ankündigung von CO2-Zielen. Oder angehensweise beruht auf soliden ökonomi- durch das Target-2-System zum Ausgleich von schen Gedankengängen und folglich auf der Zahlungsbilanzen innerhalb der , wo­ rigorosen Anwendung logischer Prinzipien. durch deren Kernländer in eine Falle geraten Oft allerdings erscheint er als leibhaftige Kas- sind, in der sie kontinuierlich fiskalische Trans- sandra, die Prophetin, deren Warnungen nicht fers leisten müssen, um den Wert ihrer Forde- ernst genommen werden. rungen zu erhalten. Zum Teil ist dies der Tatsache geschuldet, Fallen zu identifizieren ist von Natur aus un- dass die Logik der Kassandra naturgemäß den beliebt – aus politischer wie aus intellektueller al

K TSTART Ökonomen zufällt : Deren Aufgabe ist es, einen Sicht –, denn aus ihnen auszubrechen scheint

66 radikale Maßnahmen zu erfordern. Politiker eines drohenden Kollapses des Finanzsystems bevorzugen, sich durchzuwinden, und tendie- das Vertrauen in eine Lage zurückgewonnen ren dazu, harte Entscheidungen zu vermeiden, werden könnte, die jederzeit in ein schlechtes die zwangsläufig zum Verlust eines Teils ihrer Gleichgewicht umkippen konnte. Wählerschaft führen. In der akademischen Die Fixierung auf ein einzelnes großes Prob- Sphäre begegnen Politologen Auftritten von lem – zusammengefasst in einem umfang­ Kassandra tendenziell mit Ablehnung. Wenn reichen Statement – übt oftmals weniger Ein- überhaupt, tendieren sie zur Rolle des Dr. Pan- fluss auf die Politik aus als die Diskussion und gloss und glauben, dass alles nur zu unserem Präsentation einer Reihe von Optionen. Debat- Besten ist, in der besten aller möglichen Welten. te und Diskussion leben von der sorgfältigen Oder, um es mit Hegel zu sagen, dass die Äuße- Betrachtung der Unterschiede vielfältiger Lö- rung des Wirklichen das Wirkliche selbst ist. sungsansätze. Auch aus historischer Sicht ist die Erfolgs­ Hans-Werner Sinn denkt richtigerweise über bilanz von Ökonomen, denen es gelungen ist, sichere Regelwerke zur Eindämmung von mo- zahlreiche Mitstreiter zu einer öffentlichen Stel- ralischem Fehlverhalten und zur Durchset- lungnahme über etablierte Ansichten der Dis- zung des Verantwortungsprinzips nach. In die- ziplin zu bewegen, eher bescheiden. Der wohl ser Hinsicht übernimmt er die Kernaussage der bekannteste Fall ist der Aufruf von 1028 US- deutschen ordoliberalen Tradition, obwohl er Ökonomen gegen den Smoot-Hawley-Zoll im grundsätzlich ein pragmatischer Denker ist. Jahr 1930. Dieser schaffte es zwar auf die Agen- Hier liegt jedoch ein altes Problem, das bereits da des Kongresses, hatte aber keinen sichtbaren Aristoteles benannte. In der Nikomachischen Einfluss auf die Politik. Kein ernstzunehmen- Ethik legt er die Logik der dehnbaren Regel der Ökonom würde die Glaubhaftigkeit der dar. Er betrachtet sie analog zur Blei-(anstatt grundlegenden Argumente für freien Handel zur Eisen-)Regel, die die Bildhauer von Lesbos in Zweifel ziehen. Aber im Rückblick herrscht nutzten : »Wenn also das Gesetz eine allgemei- unter Wirtschaftshistorikern Konsens, dass der ne Bestimmung trifft, ein einzelner Fall aber Zoll nicht für die Ausbreitung der Großen De- vorkommt, auf den die allgemeine Bestim-

pression verantwortlich gemacht werden sollte. mung nicht passt, dann ist es ganz angemessen, iedervereinigung W Weitere berühmte Erklärungen kollektiven da wo der Gesetzgeber versagt und mit der all- die

ökonomischen Wissens, wie der Brief 364 bri- gemeinen Bestimmung dieser Art den beson- tischer Ökonomen an die London Times, in deren Fall nicht getroffen hat, das von ihm und dem sie Margaret Thatchers Deflations- und Übersehene zu ergänzen durch einen Spruch,

Austeritätspolitik verdammen, wirken retro­ wie ihn der Gesetzgeber selbst fällen würde, inn spektiv fragwürdig. In der Tat haben einige der wenn er zugegen wäre, und wie er die Bestim- S Unterzeichner eingestanden, dass der Wechsel mung getroffen haben würde, wenn er den Fall zu einem deflationären Regime genau das war, vorausgesehen hätte.« Es kann gut sein, dass erner -W was das Vereinigte Königreich damals brauch- achtsame Verhandlung nachhaltiger Flexibi­ te. Die Appelle von 160 bzw. 172 deutschen lität – Aristoteles’ Lesbos-Regel – nicht in eine ans H Ökonomen gegen die europäischen Rettungs- Falle führt, sondern einen Ausweg aus Situatio- : maßnamen im Jahr 2012 geben ein ähnliches nen bietet, die entstehen, wenn einst geschaffe- Bild ab : Logisch korrekt dargestellt, aber ir­ ne Regeln zu rigide geworden sind. al relevant in Bezug auf die Frage, wie angesichts K TSTART

67 Berlin 1999: Konferenz 10 Jahre deut- sche Wiedervereinigung. HWS mit ( von links nach rechts ) Karel Dyba, Kurt ­Vogler-Ludwig, Georg Milbradt und Rüdiger Dornbusch.

Der ehemalige sächsische ­Ministerpräsident Georg Milbradt im Februar 2014 bei einer Tagung des ifo Instituts in München.

Michael Burda und der Gossen- Preisträger Georg Nöldeke beim Empfang im Festsaal des Alten ­Rathauses in München, Jahres­ tagung des Vereins für Socialpolitik, Oktober 2007.

68 Die ifo-Bereichsleiter ( von links nach rechts ) ­Niklas Potrafke, Hel- mut Rainer, ­Oliver Falck, Ludger Wößmann, Gabriel Felbermayr, Karen Pittel, Panu Poutvaara und Timo Wollmershäuser.­

HWS mit dem ehemaligen polni- schen Finanzminister, Vizepremier und Zentralbankchef Leszek ­Balcerowicz bei einem Münchner Seminar der CESifo-Gruppe und der Süddeutschen Zeitung im Juli 2015.

HWS mit Horst Teltschik ( links ) und dem damaligen tschechi- schen Staatspräsidenten Václav Klaus ( Mitte ) beim Munich ­Economic Summit 2003 im Foyer des Hotels ­Bayerischer Hof.

69 WirtschaftsWoche, 29.04.2004 GERONTOKRATIE: Hans-Werner Sinn und die 3 Rentenreformen Niklas Potrafke EINLEITUNG Gerontokratie: Hans-Werner Sinn und die Rentenreformen

Niklas Potrafke ist Professor für Volkswirtschaftslehre, insb. Finanz- wissenschaft an der Ludwig-Maxi- milians-Universität München und leitet das ifo Zentrum für öffent­ liche Finanzen und politische Öko- nomie.

In den Medien wird oft behauptet, dass in ­deutschen Rentenversicherungssystems einge- Deutschland nun die Alten herrschen. Auf ei- setzt. Wesentliches Element dieser Debatte war, nen Rentner kommen gegenwärtig weniger als ­inwieweit von dem ULV zu einem Kapital­ drei Menschen im erwerbsfähigen Alter. Rent- deckungsverfahren (KDV) übergegangen wer- ner beteiligen sich besonders rege an Wahlen, den sollte bzw. ob dies überhaupt möglich und ihre Wünsche haben im politischen Pro- wäre. Beim KDV legt jeder Bürger während zess großes Gewicht. Ökonomen verwenden der Erwerbsphase Erspartes beiseite und legt es für diese Altenherrschaft gern den Fachbegriff am Kapitalmarkt an. Das KDV ist dem ULV Gerontokratie. Eine Abkehr von der Geronto- vorzuziehen, wenn die Rendite des KDV, der kratie ist nicht abzusehen. Im Gegenteil : Durch Kapitalmarktzins, größer als die Rendite des den demographischen Wandel werden in Zu- ULV, die Wachstumsrate der Lohnsumme (die kunft immer weniger junge Menschen immer Summe aus der Wachstumsrate der Bevölke- mehr alte Menschen finanzieren müssen. Für rung und der Löhne), ist. Weil Kapitalmarkt- das Rentenversicherungssystem ist das ein renditen über viele Jahre größer als die Wachs- ­Problem. Die gesetzliche Rentenversicherung tumsrate der Lohnsumme waren, hatte das funktioniert nach dem Umlagesystem (ULV), KDV viele Befürworter. Ein Übergang vom d. h., die heute ausgezahlten Renten werden – ULV zum KDV hätte jedoch verlangt, dass die von den steuerfinanzierten Bundeszuschüssen heute junge Generation nicht nur ihre eigene abgesehen – aus den heute eingezahlten Bei­ Rente selbst anspart, sondern darüber hinaus trägen der Erwerbstätigen bezahlt. die Renten der alten Generation bezahlt. In den 1990er Jahren hat in Deutschland Schließlic­ h hat die alte Generation in der Er- erontokratie

G ­deshalb eine Debatte zu einer Reform des werbsphase Beiträge ins ULV eingezahlt, aber

727272 eben noch nicht selbst für die eigene Rente ge- die ebenfalls beschlossene Möglichkeit des vor- zahlt, wie es das KDV vorsieht. zeitigen Renteneintritts ohne Abschläge im Hans-Werner Sinn hat sich Ende der 1990er ­Alter von 63 Jahren bei Vorliegen von 45 Ver­ Jahre in diese Debatte eingeschaltet. Einen sicherungsjahren als verfehlt betrachtet, weil vollständigen Übergang vom ULV zum KDV sie ausschließlich den Betroffenen und nicht hat er abgelehnt und vielmehr Reformszena­ dem System zugutekommt. rien befürwortet, die Mängel des ULV ausbes- Als Student im Hauptstudium an der Hum- sern und Elemente des KDV integrieren. 1998 boldt-Universität zu Berlin bin ich auf den po- hat der Wissenschaftliche Beirat beim Bun­ litisch-ökonomischen Aufsatz »Pensions and desministerium für Wirtschaft ein Gutachten the path to gerontocracy in Germany« von vorgelegt, das eine grundlegende Reform der ­Silke Übelmesser und HWS aufmerksam ge- Rentenversicherung aufzeigt. Bei diesem Gut- worden. Zwar macht der demographische achten war HWS federführend. Die Vorschläge Wandel Reformen, die die Nachhaltigkeit des beinhalteten z. B. eine Sparförderung für eine Rentenversicherungssystems sichern, notwen- kapitalgedeckte Zusatzrente, wie sie dann auch dig. Doch ist davon auszugehen, dass der im- bei der nächsten Rentenreform der rot-grünen mer älter werdende wahlentscheidende Wähler Bundesregierung umgesetzt worden ist (Ries- (Medianwähler) Rentenreformen ablehnt, die ter-Rente). Als ebenso unabdingbar wurde eine zu weniger Transfers von den Jungen zu den Verlängerung der Lebensarbeitszeit gefordert. Alten führen. Der Aufsatz von Übelmesser und Die Simulationen im Gutachten beruhten auf HWS, publiziert 2002 im European Journal of den ersten Versionen des CESifo Pension Mo- Political Economy, hat bei mir Spuren hinter­ dels, das seinerzeit Marcel Thum einführte und lassen. Meine Diplomarbeit schrieb ich über Martin Werding in den Folgejahren weiterent- intergenerationelle Umverteilung in der deut- wickelte. schen Rentenversicherung. Mein Interesse für HWS hat früh angeregt, das Großziehen von politisch-ökonomische Fragen war geweckt. Kindern im gesetzlichen Rentenversicherungs- Das Modell von Übelmesser und HWS sagt entenreformen

system zu berücksichtigen. Die Idee : Wer Kin- die Gerontokratie für nach dem Jahr 2016 vor- R

der hat, trägt zum Selbsterhalt des umlage­ aus. Viele Leser werden sich damals gefragt ha- die finan­zierten Rentenversicherungssystems bei. ben, warum ausgerechnet nach 2016 die Alten und HWS und Martin Werding haben vorgeschla- in Deutschland herrschen sollten. Schließlich

gen, dass Rentner mit weniger als drei Kindern war HWS beim Publizieren des Aufsatzes 2002 inn

Abschläge bei der Rente in Kauf nehmen müs- noch nicht der Superstar, der er im Laufe seiner S sen. Diese Kinderkomponente hat HWS seit ifo-Präsidentschaft wurde, und seine Treffge­

Jahr und Tag befürwortet. Dem ist er auch treu nauigkeit mag nicht für jedermann offensicht- erner geblieben, als die große Koalition Ende 2013 lich gewesen sein. Deutschland fragt sich, was -W beschlossen hat, eine »Mütterrente« einzufüh- HWS als Pensionär wohl machen wird. Still­ ans H ren. HWS’ Sicht der Dinge war klar : Die Müt- halten ? Wohl weniger. Der Grund für die Ge- : terrente ist sinnvoll, weil sie das Großziehen rontokratie in Deutschland nach 2016 ist folg- von Kindern belohnt, wodurch im Umlagesys- lich ganz offensichtlich : HWS geht in Pension. tem die Rente der zukünftigen Generationen Nun herrschen wirklich die Alten. gesichert wird. Im Gegensatz dazu hat HWS erontokratie G

73 Axel Börsch-Supan ELTERN UND KINDER: WAS UNS IM INNERSTEN BEWEGT

Axel Börsch-Supan ist Direktor des Munich Center for the Economics­ of Aging im Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik und Professor for the Economics of Aging an der TU München. Er ist Mitglied der Nationalen, ­Berlin-Brandenburgischen und Öster­reichischen Akademie der Wissenschaften.

Was sind die großen Themen dieser Welt ? Was 2005, S. 41) für die Einführung der Kinder­ verbindet Thomas Mann, Hans-Werner Sinn rente, d. h. eine nach der Kinderzahl gestaf­ und, in aller Bescheidenheit, diesen Autor ? felte Rentenleistung, plädiert. Zur Motivation Sex, Kinder und das liebe Geld, da besteht kein schreibt er : »Die drei klassischen Motive für Zweifel, stehen ganz oben auf der Liste. Wofür Kinder sind Sex, Kinderliebe und Alterssiche- Thomas Mann seitenlange Sätze in vielen Bü- rung. Die Medizin hat den Sex abgekoppelt, chern gebraucht hat, lässt sich kaum in den Bismarck die Alterssicherung. Nur noch die 5500 Zeichen kondensieren, die ich zur Ver­ Kinderliebe blieb übrig, aber offenkundig fügung habe. Halten wir also fokussierend fest : reicht sie nicht aus, die für den Erhalt der Be- Sex, Kinder und das liebe Geld dominieren völkerung und die Sicherung der Renten hin- auch die Themen Gerontokratie und Renten- reichende Kinderzahl zu gewährleisten.« politik, die Hans-Werner und mich das Leben Hans-Werner Sinn und ich sind uns einig : lang begleitet und im Innersten bewegt haben. Aus ökonomischer Sicht gibt es viele und gute Zutiefst teilen wir die zugrunde liegende Wert- Gründe, eine »hinreichende Kinderzahl« zu vorstellung : Eine Gesellschaft ohne Kinder ist fördern. Erstens stehen die Jüngeren für Ver­ zukunftslos, so wie eine Gesellschaft ohne die änderung und Innovation. Zweitens fangen die Weisheit des Alters richtungslos wird. Auf die Jüngeren mit ihrem Leben neu an und helfen Kombination kommt es an : Eltern und Kinder damit ganz banal dem Strukturwandel, weil sie bilden gemeinsam das Fundament unserer Ge- nicht erst in einen aufstrebenden Wirtschafts- sellschaft. sektor wechseln müssen. Drittens sind wir dar- Hans-Werner Sinn hat in einem die Gemü- auf angewiesen, dass Kinder die Lasten tragen, erontokratie

G ter bewegenden Zeitungsartikel (F. A. Z., 8. Juni die ihnen ihre Eltern aufgebürdet haben, weil

74 sie nicht nachhaltig genug gewirtschaftet ha- S. 153 – 158). In der Kurzfassung des ifo Schnell- ben. Kinder müssen den Großteil der expliziten dienstes (28/2000, S. 20) heißt es : »Die Ver- und impliziten Schulden abtragen, die durch schiebung der Altersverteilung macht es immer die vielen Umlageverfahren unserer Gesell- schwieriger, die Rentenansprüche zu befriedi- schaft entstanden sind : Staatsschuld, Renten- gen, und sie verringert das Stimmgewicht der versprechen, Versprechen der Kranken- und Jungen im demokratischen Entscheidungs­ Pflegeversicherung, die Umlagen im Steuer­ prozess.« system und die vielen als natürlich aufgefassten Zum Glück scheint die Sorge vor einem Umlagen, die sich in unserer Gesellschaft ein- »Krieg der Generationen« (L. C. Thurow, 1996 : gebürgert haben wie die noch vielerorts erhält- »The birth of a revolutionary class«. New York lichen Seniorenermäßigungen. Times Magazine, 19. Mai, S. 46 – 47) oder einem Eltern mit Kindern müssen daher auf Kosten »Aufstand der Alten« (ZDF 2007) zumindest der Personen, die keine Kinder haben, unter- derzeit unbegründet zu sein. Börsch-Supan, stützt werden, weil Kinder der Gesamtgesell- Heller und Reil-Held (2011 : »Is Intergeneratio- schaft zu mehr Wohlstand verhelfen, was auch nal Cohesion Falling Apart in Old Europe ?«. den Kinderlosen zugutekommt, die keine Kin- Public Policy and Aging Report, 21, 4, S. 17– 21) dererziehungskosten tragen müssen. Ob aber setzen die Altersstruktur europäischer Regio- eine nach der Kinderzahl gestaffelte Rente das nen (d. h. Bundesländer, Provinzen oder Bezir- richtige Instrument ist ? Hier sind sich Sinn ke) in Relation zu einer großen Zahl von Indi- und ich uneinig. Weil das komplexe Gewebe katoren intergenerativen Zusammenhalts wie der Gesamtgesellschaft Umlagen beinhaltet, die beispielsweise Stärke von familiären Beziehun- auf Kinder bauen, ist der Ausgleich m. E. eine gen, außerfamiliäre Bindungen, Werte und po- gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die im allge- litische Vorlieben, die im European Social Sur- meinen Steuersystem anzusiedeln ist, nicht in vey (ESS) und im Survey of Health, Ageing and der Rentenversicherung. Auch überzeugt die Retirement in Europe (SHARE) erfasst wurden. unterstellte Kausalität nicht. Auslöser des Ge- Von den 22 untersuchten Dimensionen waren entenreformen

burtenrückgangs ist der wirtschaftliche Wohl- nur acht konform mit der Gerontokratie-Hy- R

stand und nicht die Rentenversicherung. Ge- pothese, während 16 das Gegenteil aufzeigten. die genbeispiele sind Länder wie Korea, Singapur Der generationsübergreifende Zusammenhalt und oder Taiwan, die reich geworden sind, ohne hängt also nicht systematisch von der Alters-

dass sie eine Rentenversicherung eingeführt struktur ab. Viele Aspekte des Zusammenhalts inn haben, und deren Geburtenrate dennoch dra- fallen in älteren Gesellschaften sogar stärker S matisch sank. Umgekehrt weisen viele Län- aus, und die Grundprämisse der rein egoisti- der mit umlagefinanzierter Rentenversiche- schen politischen Präferenzen wird ausdrück- erner rung hohe Geburtenraten auf, etwa Frankreich, lich falsifiziert, wie mehrere Indikatoren zeigen. -W

Schweden oder die USA. Noch ist das Denken im Familienzusam- ans H Rentenpolitik ist eng verbunden mit der menhang also groß. Das sind gute Nachrichten : Furcht vor Gerontokratie. Auch hier hat für alle, die Hans-Werner Sinns Wertvorstel- Hans-Werner Sinn wichtige Beiträge geliefert lungen teilen, dass eine Gesellschaft durch den (H. W. Sinn und S. Übelmesser, 2002 : »Pen­ Zusammenhalt der Generationen gestärkt wird sions and the path to gerontocracy in Germa- und dass Eltern und Kinder gemeinsam das erontokratie ny«. ­European Journal of Political Economy, 19, Fundament unserer Gesellschaft bilden. G

75 Friedrich Breyer WEM DIENT NACHHALTIGKEIT IN DER RENTENFINANZIERUNG?

Friedrich Breyer lehrt Wirt- schaftspolitik an der Universität Konstanz, ist seit 2000 Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium für ­Wirtschaft und Energie (BMWi) und war 2012 Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Gesundheitsökonomie.­

Das deutsche Rentensystem ist nicht nachhal- se 1). Wenn wir die Reformen für mehr Nach- tig finanziert : Nach 2030 wird der Beitragssatz haltigkeit dagegen bereits heute beschließen, zur gesetzlichen Rentenversicherung deutlich solange es noch möglich ist, schützen wir die über die im Gesetz erlaubten 22 % steigen, wäh- zukünftigen jungen Generationen vor Überfor- rend das Rentenniveau unter die Grenze von derung durch untragbare Beiträge (These 2). 43 % absinken wird. Wer sind dann die Dum- So plausibel diese Überlegung zu sein men : die junge Generation, deren Beiträge scheint, leidet sie doch unter zwei Denkfeh- schneller steigen werden, oder die alte Genera- lern. Den Fehler in These 2 haben die Autoren tion, die ihre Ansprüche auf ein auskömmliches selbst in ihrer Schlussbemerkung erkannt : Rentenniveau nicht mehr durchsetzen kann ? Selbst wenn die notwendigen Reformen vor Wem also dient es, wenn wir heute Reformen Ende 2016 durchgeführt würden, was hinderte vornehmen, die die Nachhaltigkeit stärken ? spätere, von Rentnern dominierte Parlamente Hans-Werner Sinn und Silke Übelmesser ha- daran, diese wieder rückgängig zu machen ? ben darauf in ihrem viel zitierten Aufsatz »Pen- ­Insofern ist das Fazit aus dem Artikel sehr sions and the path to gerontocracy« (European ­pessimistisch : Solange unsere Geburtenraten Journal of Political Economy, 19, 2002) eine so niedrig sind, mutiert unser politisches Sys- ebenso klare wie einleuchtende Antwort ge­ tem irgendwann bis auf weiteres zu einer Ge- geben : Da schon nach 2016 die Rentner ge- rontokratie, und die bedeutet, dass die Alten meinsam mit den rentennahen Jahrgängen die die Jungen ungehemmt ausbeuten werden. Mehrheit der wahlberechtigten Bürger bilden Dass auch These 1 auf einem Denkfehler be- werden, sind Kürzungen des Rentenniveaus im ruht, legte ich mit Klaus Stolte in dem Auf­ erontokratie

G Parlament dann nicht mehr durchsetzbar (The- satz »Demographic Change, Endogenous Labor

76 Sup ­ply and the Political Feasibility of Pension ƒƒ Ein Jahr vor der Bundestagswahl 2009 wurde Reform« (Journal of Population Economics, 14, eine Stufe der »Riester-Treppe«, d. h. eine ge- 2001) dar : Selbst in einer perfekten Geronto­ setzlich vorgeschriebene Kürzung der jähr­ kratie, in der nur Rentner wählen, besitzt die Er- lichen Rentenanpassung um 1 Prozentpunkt, werbsgeneration andere Mittel als das Stimm- ausgesetzt und auf das Jahr 2012 verschoben. recht an der Wahlurne, um ihre Interessen Damit wurde eine Rentenreform von 2001 durchzusetzen. Sie reichen von einem Rückzug schon sieben Jahre später teilweise rückgän- in die Selbständigkeit (solange Sozialabgaben gig gemacht, um die 20 Millionen Rentner lohnbezogen erhoben werden) über politisch in der Wählerschaft der damals regierenden motivierte Streiks bis hin zur Auswanderung. Großen Koalition gewogen zu machen. Sogar eine Rentnergeneration, die mit der ge- ƒƒ Ebenso wurde 2014 durch die Einführung der samten politischen Macht ausgestattet ist, wird »abschlagsfreien Rente mit 63« die sieben Jah- diese so einsetzen, dass sie die maximalen Sozial- re zuvor verabschiedete schrittweise Anpas- leistungen für sich erzielt. Dies bedeutet jedoch, sung der Regelaltersgrenze auf 67 Jahre abge- dass nicht der maximale Beitragssatz gewählt schwächt – wieder von einer Großen Koalition. wird, sondern der, der das Beitragsaufkommen ƒƒ Schließlich wurde 2014 auch noch die Zahl maximiert, und dabei müssen Anreizwirkun- der Mütterjahre für vor 1992 geborene Kin- gen und Abgabenwiderstände beachtet werden. der von eins auf zwei erhöht und damit die Sinkt in einer solchen Situation die Fertilität Renten vieler Frauen erhöht. (und steigt damit der Rentnerquotient) perma- Sind diese Beobachtungen als Bestätigung oder nent, so steigt zwar der optimale Beitragssatz, als Widerlegung der Thesen von Sinn und Übel- aber nicht genug, um das Rentenniveau konstant messer zu werten ? Ich meine, sie zeigen zweierlei : zu halten (ebenda, S. 419). Sinkt die Fertilität nur 1. Einmal beschlossene Rentenreformen kön- vorübergehend, so bleibt der Beitragssatz stabil nen auch wieder zurückgenommen werden, und nur das Rentenniveau sinkt ! was These 2 widerspricht. Aus dieser Überlegung folgt, dass nicht (nur)

2. Mit zunehmendem Gewicht der Rentner in entenreformen

die jungen, sondern zumindest auch die alten R der Wählerschaft wird eine rentnerfreund­

Generationen den Schaden haben, wenn die Fi- die lichere Politik gemacht – im Einklang mit nanzierung des Sozialsystems nicht nachhaltig These 1. und ist. Deren gesetzlich verankerte Leistungsan-

sprüche würden dann wegen mangelnder Fi- In beiden Fällen lagen aber günstige konjunk- inn nanzierbarkeit zurückgeschraubt, so wie bereits turelle Situationen vor, so dass der Beitragssatz S in den Rentenreformen zwischen 2001 und nicht erhöht werden musste. Die Wahlgeschen-

2007 zuvor bestehende Leistungsversprechen ke an die Rentner waren also scheinbar »kos- erner zurückgenommen wurden. Folglich sind es ge- tenlos«. Ein echter Test von These 1 wird erst -W rade die heutigen Beitragszahler und morgigen um 2040 herum möglich sein, wenn die Bud- ans H Rentner, die von Reformen zur Stärkung der getrestriktion der Rentenversicherung entwe- : Nachhaltigkeit der Finanzierung profitieren. der deutliche Beitragssteigerungen oder drasti- Wie bei allen Streitfragen kann auch hier nur sche Rentenkürzungen erfordert. Ich wünsche die Empirie entscheiden, welche Hypothese die Hans-Werner (und mir) ein langes Leben ! richtige ist. Dazu liegen schon jetzt einige Be- Dann werden wir noch erfahren, wer letztlich erontokratie obachtungen vor : Recht behalten hat. G

77 Peter Diamond DIE RIESTER-RENTE

Peter Diamond ist Institute Pro- fessor Emeritus am MIT und Träger des Wirtschaftsnobelpreises des Jahres 2010. In seinen Publikatio- nen bespricht er die Rentensyste- me in Deutschland und vielen anderen Ländern. Sein aktuelles Buch (mit Nicholas Barr) hat den Titel Pension Reform: A Short Guide.

Ich möchte mich einem wichtigen Artikel aus Generationen über dem Wert ihrer Einzahlun- Hans-Werner Sinns umfangreicher Analyse gen liegen, erhalten spätere Generationen eine zur Altersvorsorge widmen : »Why a funded Rente unterhalb ihres Einzahlungswertes. Sinn pension system is needed and why it is not schlussfolgert, dass die Höhe der Kapitalrendi- need­ed« (International Tax and Public Finance, te aus einer Verteilungsentscheidung folgt statt 7, 2000, S. 389 – 410). Die Zusammenfassung aus einer Ineffizienz des Umlageverfahrens. besagt : »Der Artikel kritisiert die Auffassung, Sinn hält die Einführung einer zusätzlichen dass das Umlageverfahren wirtschaftliche Res- kapitalgedeckten Altersvorsorge für geeignet, sourcen verschwendet. Ein Wechsel zu einem um der Untragbarkeit des umlagefinanzierten kapitalgedeckten System ist nicht zweckmäßig, Rentensystems zu begegnen. Auch hält er es für obwohl es eine dauerhaft höhere Rendite ver- verteilungstechnisch richtig, der heutigen Ge- spricht. . . . Dennoch bietet die Einführung neration, die weniger Kinder als ihre Eltern be- ­einer zusätzlichen kapitalgedeckten Rentenver­ kommt, höhere Rentenzahlungen abzufordern. sicherung die Möglichkeit, die gegenwärtige In Sinns Worten : »In der gegenwärtigen demo- demographische Krise zu überwinden . . .« graphischen Krise kann nur eine zusätzliche Sinn zeigt, dass ein Rentensystem dann kapitalgedeckte Absicherung zur Entlastung nachhaltig ist, wenn der Gegenwartswert der des Rentensystems führen : Wo es an Human­ Einzahlungen dem der Rentenauszahlungen kapital fehlt, sind Kapitalgüter essentiell, um entspricht. Das System wird dadurch finan- die Lücke zu schließen.« ziert, dass das Gros der Einzahlungen zu einem Sinn diskutiert das Risiko, dass Aktien Teil früheren anstatt zu einem späteren Zeitpunkt einer kapitalgedeckten Altersvorsorge sind : erontokratie

G geschieht. Da die Rentenzahlungen an frühere »Die bloße Tatsache, dass Aktien unter an­

78 gemessener Berücksichtigung des volkswirt- Die Chilenen setzen auf stark beschränkten schaftlichen Risikos eine [voraussichtlich] hö- und regulierten Wettbewerb, was die Kosten here Rendite als Anleihen erzielen, heißt noch verringert hat. Allerdings offenbaren die ex­ nicht, dass eine höhere Investition [in Aktien] orbitant höheren Kosten in anderen Ländern, zur Verbesserung der allgemeinen Wohlfahrt die dem chilenischen Vorbild gefolgt sind, wie führt.« Ausschlaggebend sind die administra­ wichtig eine professionelle Umsetzung ist. tiven Kosten der Depotverwaltung und das Ri- Historisch haben staatliche Fonds oftmals siko für die individuellen Portfolios. zu schlechten Ergebnissen in Entwicklungs­ Ich betrachte nun drei Modelle der kapitalge- ländern geführt. Bolivien war dem chileni- deckten Altersvorsorge. Im ersten Modell wird schen Vorbild gefolgt, allerdings ohne Wahl- die Rentenversicherung von privaten Versiche- möglichkeiten für die Bürger. Dies führte zwar rungsanbietern übernommen, die allgemeine zu niedrigen Kosten, aber auch zu einem un­ und einige spezielle Regeln zur Depotverwal- befriedigenden Depotangebot. Im Gegensatz tung einhalten müssen. Die deutsche Riester- dazu ist das schwedische Rentensystem mit sei- Rente und die amerikanischen IRA-Renten­ ner zentralisierten Verwaltung kosteneffizient, absicherungen entsprechen diesem Prinzip. Die gegen Pleiten abgesichert und bietet eine große zweite Möglichkeit besteht aus wenigen lizen- Auswahl an unterschiedlichen Fonds. Insbe- sierten Privatunternehmen unter strikter Regu- sondere gibt es ein staatliches Grundmodell zu lierung des Staates, wie in Chile und anderen niedrigen Kosten und mit einem guten Lebens- südamerikanischen Ländern. Drittens könnte zeit-Portfolio, das über 98 % der Neueinsteiger der Staat die Depotverwaltung übernehmen. anzieht. Eine Marktlösung mit mehreren privaten Das Rentensystem für Angestellte der US- Anbietern ist teuer, und vielen Menschen fehlt Regierung, TSP, lässt zwar wenig Wahlmög- das Fachwissen, um informierte Portfolio-Ent- lichkeit, hat aber niedrige Gebühren und stellt scheidungen zu fällen. So wird oft die Bedeu- nur geringe finanztechnische Anforderungen tung von Gebühren übersehen. Jedoch würde an seine über drei Millionen Kunden. Während entenreformen

unter plausiblen Annahmen eine Verwaltungs- solch ein System für ein ganzes Land sicher- R

gebühr von nur 1 % die Rente nach 40 Bei­ lich höhere Kosten verursachen würde, wäre es die tragsjahren bereits um 20 % reduzieren. Be- wohl dennoch eine viel günstigere Lösung als und rechnungen zeigen, dass die Riester-Rente im eine privatwirtschaftliche Alternative.

Durchschnitt 12 % der Lebenseinzahlungen Die Verwaltungskosten und die Qualität der inn kostet, aber mit hohen Schwankungen und Depots sind zentrale Fragen bei der Gestaltung S ohne Transparenz. Die hohen Kosten für die einer kapitalgedeckten Altersvorsorge. Die amerikanischen IRA-Versicherungen sind be- Um ­setzung ist hierbei entscheidend; das Bei- erner kannt, ohne dass bislang ein Lösungsansatz spiel Chile lehrt, dass es wichtig ist, Regeln zu -W vorgeschlagen wurde. modifizieren, die zu schlechten Resultaten ge- ans H Das zweite Problem betrifft das fehlende führt haben. Der Wettbewerb zwischen staatli- : Fachwissen der Bevölkerung in langfristigen chen und privaten Anbietern, wie er in Schwe- Finanzfragen. Diese Situation wird oftmals von den und Chile praktiziert wird, erscheint Finanzberatern verschärft, die aufgrund von ebenfalls nützlich. Es wäre ein Leichtes, die Interessenskonflikten kaum Anreize haben, Riester-Rente für Arbeitnehmer zu verbessern. erontokratie den Mangel an Informationen zu beheben. G

79 David. E Wildasin HANS-WERNER SINN: EIN TRIBUT AN SEINE BEITRÄGE ZUR FORSCHUNG IN VOLKSWIR­ TSCHAFTSLEHRE UND POLITIK

David E. Wildasin, langjähriger CESifo Affiliate, ist Professor für Volkswirtschaftslehre und hält eine Stiftungsprofessur für öffentliche Finanzen an der University of Ken- tucky. Sein Hauptforschungsgebiet ist die öffentliche Öko­nomie mit dem Fokus auf ­ökonomische ­Integration und Föderalismus.

Von seinen vielen Interessensgebieten und wirtschaft gestärkt. Allerdings beobachtet Sinn ­Beiträgen ist Hans-Werner Sinns Arbeit auf auch, dass die erfolgreiche Umsetzung einer dem Gebiet der öffentlichen Finanzen vielleicht solchen Politik unterminiert werden kann, am bemerkenswertesten. Besonders seine For- wenn die finanziell erfolgreichen Hauptbei- schung zum Sozialstaat ist breitgefächert, tief- tragszahler dem System durch Migration ent- greifend und politisch höchst relevant. fliehen. So zum Beispiel seine Aufsätze »A Theory of Dies bringt mich zum nächsten Thema, denn the Welfare State« und »Social Insurance, In- Hans-Werner Sinn hat sich auch intensiv mit centives, and Risk Taking«; diese Abhandlun- dem demographischen Wandel und dessen fi- gen erläutern die Verteilungswirkungen der – nanziellen Konsequenzen auseinandergesetzt. oftmals lediglich als Umverteilungsinstrumente Die kritische Bedeutung von Migration, Fer­ betrachteten – Sozialversicherung und des tilität und Sterblichkeit für die öffentlichen Fi- Steuersystems. Sie reduzieren zwar Anreize zu nanzen sollte mittlerweile offensichtlich sein. Lohnarbeit und Investitionen, fördern dafür Aufgrund der anhaltend stark sinkenden Ge- aber Risikobereitschaft – insbesondere Unter- burtenrate wohlhabender Länder altern deren nehmertum, Investitionen in Humankapital Bevölkerungen rapide. Beständige Einkom- und Innovation. Da es für den privaten Sektor mensunterschiede, verbunden mit geringeren schwierig bis unmöglich ist, Menschen gegen Barrieren zur ökonomischen Integration, füh- solche Risiken zu versichern, könnte der Sozial­ ren zudem zu erhöhten Migrationsflüssen, be- staat hier auf wichtige Weise sozial effiziente sonders hin zu reicheren Ländern. Wenn nichts Risikoübernahme fördern. So wird eine dyna- geschieht, werden sich diese Trends noch jahr- erontokratie

G mische, im Grundsatz marktgetriebene Volks- zehntelang fortsetzen, zwangsläufig mit tief-

80 greifenden Auswirkungen auf die stark umver- der schrumpfenden arbeitenden Bevölkerung teilungsbasierten, extrem alters- sowie einkom­ ­stetig erhöhen. Künftige Finanzierungskrisen mensabhängigen Steuersysteme reicher Länder. könnten zumindest abgemildert werden, wenn Sinn gehört hier zu einem kleinen Kreis von Politiker notwendige und längst überfällige Ökonomen, die diese Entwicklung bereits seit ­Reformen verabschieden könnten. Vielleicht über zwei Jahrzehnten aufmerksam verfolgen. ist das zu viel verlangt von den heutigen (zu- Er war ein Vorreiter in der Diskussion der weit- nehmend gerontokratischen) Demokratien – reichenden Folgen von Bevölkerungsalterung ein beängstigender Gedanke. und ökonomischer Integration. Seit den 1990er Auf der ganzen Welt profitieren Forscher Jahren verdeutlichen uns seine Abhandlungen ­immens von Hans-Werner Sinns akademi- nicht nur, wie scharfsinnig Sinn sich andeu­ schen Beiträgen zu fundamentalen Problemen tende politische Herausforderungen vorher­ der Wirtschaftspolitik. Dabei dürfen auch seine gesehen hat, sondern auch, wie konstruktiv er außerordentlichen Leistungen zugunsten der unser Verständnis möglicher Optionen geför- gesamten Disziplin nicht vernachlässigt wer- dert hat. Seine vor mehr als 15 Jahren verfassten den, insbesondere seine Förderung des ­CESifo, Aufsätze zum deutschen Rentensystem zeigen, einer Einrichtung, die weltweit Impulse für wie Reformen die Kosten des Erhalts eines eine ergiebige Wirtschaftsforschung gesetzt ­solchen Systems so fair wie möglich verteilen und ihre Früchte der Politik sowie der breiten können. Eine Möglichkeit ist die sofortige, ver- Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt hat. gleichsweise geringe Erhöhung der Beiträge. Ich erinnere mich noch sehr gut an meinen Alternativ dazu könnte mit einer verbindli- ersten von vielen Besuchen des neu gegründe- chen, durch die Behörden überwachten priva- ten CES im Jahr 1991, der in dem CES Working ten Vorsorge eine finanzielle Reserve aufgebaut Paper Nr. 2 resultierte – in der erhabenen Ge- werden, mit der künftige Rentenverbindlich- sellschaft von keiner Geringeren als Richard keiten bedient werden können. Letzteres ist da- Musgraves Nr. 1 (mittlerweile gibt es über 5000 bei vorzuziehen, da man, so Sinn, die »Begier- Working Papers) ! Der Besuch führte außer- entenreformen

de«, mit der Politiker auf eine solche Reserve dem zu einer Forschungszusammenarbeit mit R

blicken würden, nicht übersehen dürfe : »Öf- Dietmar Wellisch, damals aus Tübingen, zum die fentliche Gelder sind eine große Versuchung.« Thema Umverteilung und Immigration, publi- und Eine weise Bemerkung eines Politökonomen, ziert zuerst auf Englisch und später auf Deutsch

der erkennt, wie imperfekte politische Prozesse in den ifo Studien – ein Beispiel des vielfältigen inn die Wirtschaftspolitik unweigerlich prägen. fruchtbaren Gedankenaustauschs, der von der S Wir können nur hoffen, dass Politiker – und CESifo-Gruppe gepflegt wurde. Ein Ökonom, wichtiger, die Öffentlichkeit – sich diese -Er der erfolgreich durch die umfassenden und erner kenntnisse zu Herzen nehmen, besser früher manchmal turbulenten Strömungen der insti- -W als später. tutionellen Entwicklungen sowie der akademi- ans H Leider bleibt das Zeitfenster für Politikände- schen und politischen Forschung navigieren : rungen nicht ewig geöffnet. Wie in seiner neu- kann, hat Seltenheitswert. Mit großer Freude eren Forschung diskutiert, könnten alternde drücke ich daher meine Bewunderung und Gesellschaften zu Gerontokratien werden, in Dankbarkeit an Hans-Werner Sinn aus, in An- denen die Forderungen einer immer älter erkennung einer bemerkenswerten Laufbahn erontokratie

­werdenden Empfängergesellschaft die Lasten und fachlichen Leistung ! G

81 Ursula Engelen-Kefer DISKURS ZU DEMOGRAPHIE UND GENERATIONENGERECHTIGKEIT

Ursula Engelen-Kefer war von 1984 bis 1990 Vizepräsidentin der Bundesanstalt für Arbeit und von 1990 bis 2006 Stellvertretende Vorsitzende des DGB. Sie lehrt Beschäftigungspolitik an mehre- ren renommierten Hochschulen und leitet den Arbeitskreis Sozial- versicherung im Sozialverband Deutschland (SoVD).

Mit großem Respekt habe ich während vieler »Grexit«. In jüngster Zeit bin ich dabei aller- Jahre als Stellvertretende Vorsitzende des DGB dings auch zunehmend unsicher geworden. die Wirtschafts- und Finanzanalysen des ifo Mit besonderem Interesse konnte ich verfol- Instituts verfolgt – ebenso wie die eloquente öf- gen, dass es ifo gelingt, interessante und fähige fentliche Darstellung seines Präsidenten Prof. Wissenschaftler aus aller Welt zu gewinnen Hans-Werner Sinn. Dabei bestanden die gra- und bei der eigenen Arbeit weit über den natio- vierenden Unterschiede der politischen Bewer- nalen Tellerrand hinauszublicken. Dabei hat tung auf beiden Seiten – aber immer getragen sich HWS auch immer als Person mit großem von der Bereitschaft für den wissenschaftlichen Erfolg eingebracht. und politischen Diskurs. In seiner Rede auf der letzten ifo Jahresver- Es war mir daher eine besondere Freude und sammlung am 12. Juni 2015, der letzten in sei- Ehre, als HWS 2007 fragte, ob er mich als Mit- ner Amtszeit als Präsident, hat HWS keinen glied des Verwaltungsrates des ifo Instituts vor- Zweifel an der Ablehnung der von den Ge- schlagen könne. Seither habe ich einen noch werkschaften durchgesetzten Lohnsteigerun- umfassenderen Zugang vor allem auch zu den gen in den neuen Bundesländern wie auch der analytischen Arbeiten des ifo erhalten. Alternativlosigkeit der Renten- und Arbeits- Besonders schätze ich Sinns Darstellungen marktreformen von Gerhard Schröder und sei- der eskalierenden Finanzkrisen, ihrer Hinter- ner Agenda 2010 gelassen. Im Vorfeld der lang- gründe und ihrer dramatischen Folgen, auch wierigen Auseinandersetzungen um den von für die Bundesbürger. Allerdings hatte ich lan- »Schwarz-Rot« 2015 eingeführten gesetzlichen ge Zeit Zweifel an der politischen Verantwort- Mindestlohn von 8,50 Euro wurde HWS nicht erontokratie

G barkeit seines schon frühzeitig propagierten müde, die seiner Meinung nach drohende Ver-

82 nichtung von Arbeitsplätzen in die Öffentlich- derte, dass er die gesetzliche Altersrente ein- keit zu bringen. All dies hat er eindringlich in schränkte – eine Entwicklung, die HWS ebenso seinen umfassenden Publikationen belegt. Es wie der vormalige »Rentenpapst« Prof. Bert wird nicht verwundern, dass uns gerade bei Rürup als alternativlos ansah. diesen Themen, die ich auch als jahrzehnte­ Wie ich glaube, aus seinen jüngsten Äuße- lange alternative Vorsitzende von Vorstand rungen bei der ifo Jahresversammlung 2015 und später Verwaltungsrat der Bundesagentur entnehmen zu können, ist allerdings auch bei für Arbeit verantwortlich vertreten habe, poli- HWS die Erkenntnis gereift, dass infolge der tische Welten trennen. eskalierenden Finanzkrisen die Erwartungen In den letzten Jahren hat sich HWS einem an die kapitalgedeckte Alterssicherung nicht weiteren Themenbereich zugewandt, den dra- erfüllt werden können. Allerdings würde ich matischen Veränderungen in der Demogra- keinesfalls zu hoffen wagen, dass sichHWS phie und ihren wirtschaftlichen, sozialen und meiner Auffassung anschließt, dass die gesetz- gesellschaftlichen Auswirkungen. Dabei gibt es liche umlagefinanzierte Altersrente trotz der unmittelbare Berührungspunkte mit meiner dramatischen demographisch bedingten Zu- eigenen Neuorientierung nach Beendigung satzbelastungen der jüngeren Generationen meines Mandats als Stellvertretende Vorsitzen- immer noch die bessere Alternative darstellt. de des DGB 2006. Als Honorarprofessorin an Eine zukünftige Lösung könnte daher sein, der Hochschule der Bundesagentur für Arbeit dass zusätzliche eigene Rentenleistungen nicht (HdBA) mit verschiedenen Lehraufträgen, ins- in die private Kapitalanlage abgefordert wer- besondere an der Freien Universität Berlin, bin den, sondern deren Einzahlung in die gesetz­ ich wieder dahin zurückgekehrt, wo ich meine liche Rentenversicherung erweitert und ge­ Berufslaufbahn in der wissenschaftlichen Bera- fördert werden sollte. Auch dies würde die tung der Politik vor jetzt viereinhalb Jahrzehn- jüngeren Generationen entlasten, ohne die ten einmal begonnen habe. Mehrheit der Arbeitnehmer den intransparen- Dabei befasse ich mich vor allem mit den ten und häufig überteuerten Alterssicherungs- entenreformen

drängender werdenden Problemen des Rück- produkten der privaten Finanzbranche aus­ R

gangs und der Alterung von Bevölkerung und zusetzen. Allerdings habe ich nach meinen die

Erwerbstätigen. Auch hier gab es zwischen jahrzehntelangen Erfahrungen und Erkennt- und HWS und mir lange Zeit erhebliche Differen- nissen in der Sozialpolitik keine Illusionen,

zen bei der Bewertung der Zukunft der sozia- dass sich ein so »eingefleischter« Ökonom mit inn len Sicherungssysteme – vor allem der Renten- einer solch gewaltigen Innen- und Außenwir- S versicherung. Ich war und bin immer eine kung wie HWS in derartige »Niederungen« der

überzeugte Verfechterin der gesetzlichen um- Verteilungs- und Sozialpolitik begeben könnte. erner lagefinanzierten Altersrente, die immerhin die Es fehlte dann ja auch das Salz in der Suppe -W

Schrecken von zwei Weltkriegen überdauert für den wissenschaftlichen wie politischen Dis- ans H hat. Damit war ich auch als zeitweilige alter­ kurs. : native Vorsitzende des Vorstandes der gesetz­ Ich bin sicher, dass HWS auch in Zukunft in lichen Rentenversicherung eine entschiedene Deutschland, Europa und weltweit ein bekann- Gegnerin der Rentenreformen des damaligen ter und anerkannter Ökonom bleiben wird, Bundesarbeitsministers , der die der sich in die Wissenschaft und Politik ein- erontokratie private kapitalgedeckte Zusatzrente damit för- mischt. G

83 Rita Süssmuth »KINDER KRIEGEN DIE LEUTE IMMER« – ODER?

Rita Süssmuth ist Politikerin und Wissenschaftlerin. Sie war von 1985 bis 1988 Bundesministerin für Familie, Frauen, Jugend und Gesundheit und von 1988 bis 1998 Präsidentin des Deutschen Bun- destags. Sie ist heute Präsidentin des Konsortiums der Türkisch- Deutschen Universität (TDU) in Istanbul.

Was wäre die Welt nur ohne Altersversiche- Dieses sah vor, die Abhängigkeiten im Lebens- rung ? Bis Ende des 19. Jahrhunderts war man zyklus in beide Richtungen zu lösen : Zum darauf angewiesen, von seinen eigenen Kin- ­einen sollten Ältere nicht länger allein auf die dern im Alter versorgt zu werden. Somit hieß eigenen Nachkommen angewiesen sein, zum es für die aktive Phase des Lebens : arbeiten, die anderen sollten aber auch Kinder von der Ge- eigenen Eltern versorgen und vor allem Kinder sellschaft getragen werden. Die familiäre Soli- bekommen. Denn ohne Kinder keine Alters- darität sollte – ganz im Sinne einer Versiche- versorgung. rung – in Form eines Generationenvertrages Die Rentenversicherung überwand diesen auf die ganze Breite der Gesellschaft übertra- über Jahrhunderte unumstößlichen Zusam- gen werden. Die »Kindheits- und Jugendrente« menhang. Doch genau hierin besteht das Di- wurde jedoch nicht verwirklicht. Adenauer lemma. schloss einen Zweigenerationenvertrag. Die Mit der ersten deutschen Sozialgesetzge- Belastung der Kindererziehung blieb weiterhin bung legte Bismarck den Grundstein für die bei den Eltern, obwohl das so geschaffene Sys- ­gesetzliche Rentenversicherung. Das Risiko, im tem auf Nachwuchs angewiesen war und ist. Falle des langen Lebens nicht versorgt zu sein, Unter dem Motto »Kinder kriegen die Leute wurde abgefedert, die direkte Abhängigkeit immer« sah Adenauer keine Notwendigkeit, von den eigenen Nachkommen zwar gelockert, sich um Kinderwünsche zu sorgen. jedoch nicht aufgegeben. Dies geschah erst mit War damit ein gesundes System geschaffen der Rentenreform 1957 unter Adenauer. Des- worden ? Anfangs schien es zumindest so. Die sen Rentenreform geht auf ein Papier des Köl- erwerbstätige Generation war stark vertreten erontokratie

G ner Privatdozenten Wilfrid Schreiber zurück. im Vergleich zu den finanzierungsbedürftigen

84 Alten. Bis Mitte der 1960er Jahre dauerte der beziehen. Dazu sollen kinderlose Familien ge- Babyboom an. Heute zeigt sich jedoch, dass das ringere Ansprüche an die umlagefinanzierte umfangreiche Rentensystem eine Zeit geringer Rente haben, dies jedoch durch privates Sparen Geburten einläutete. Schließlich war man nicht kompensieren. So soll jeder, der in das Er- auf eigene Kinder angewiesen, sondern konnte werbsleben eintritt, privat vorsorgen müssen. einen Rentenanspruch gegenüber der nachfol- Wird ein Kind geboren, wird ein Teil der Er- genden Generation geltend machen, der umso sparnis ausgeschüttet sowie ein Teil der weite- höher war, je mehr man verdient hatte. Beka- ren Sparpflicht erlassen. Bei drei Kindern muss men Frauen in den 1950er Jahren durchschnitt- nicht mehr gespart werden. Die weggefallene lich noch über zwei Kinder, sank diese Zahl ab private Vorsorge wird durch höhere umlage­ 1970 rapide ab und verharrt seither bei etwa 1,4. finanzierte Rentenansprüche kompensiert. Auf In Kombination mit gestiegener Lebenserwar- diese Weise würden die Lasten aus Kinder­ tung hatten die Älteren somit ein immer höhe- erziehung und Altersversorgung in der Gesell- res Gewicht in der Gesellschaft. Im Jahr 1970 schaft wieder gerechter verteilt und die durch mussten 100 Personen im Alter von 20 bis 64 das Rentensystem verlorenen Anreize in der lediglich 25 Personen im Rentenalter finanzie- Familienplanung wiederhergestellt. ren. 2013 lag diese Zahl bereits bei 34, und für Die Dringlichkeit von Rentenreformen ist 2035 ist laut Angaben des Statistischen Bun­ jedoch nicht allein auf die drohenden Finan- desamtes (Bevölkerung Deutschlands bis 2060: zierungsprobleme des Rentensystems zurück- 13. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung, zuführen. Die alternde Gesellschaft selbst gibt 2015) aufgrund der Babyboomer mit etwa aus politökonomischer Perspektive eine stren- 55 Rent­nern pro 100 Personen der mittleren ge Frist vor. Bereits im Jahr 2002 berechnete Generation zu rechnen. Das niedrigere Ren­ Hans-Werner Sinn zusammen mit Silke Übel- ten­niveau lässt sich zwar behandeln, jedoch messer, dass die politischen Mehrheiten in nur zu Lasten eines höheren Beitragssatzes. Deutschland etwa Mitte dieses Jahrzehnts Um die demographische Krise durch den ­zugunsten der älteren Generation »kippen«. entenreformen

Renteneintritt der Generation der Babyboo- Dann nämlich stellen die Über-50-Jährigen die R

mer abzufedern, gab Hans-Werner Sinn Ende Mehrheit der Wähler. Diese Bevölkerungs- die der 1990er Jahre mit dem Wissenschaftlichen gruppe wird – bezogen auf ihr Lebensein­ und Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft kommen – stärker von höheren Rentenaus­

die Empfehlung, auf ein teilkapitalgedecktes zahlungen profitieren, als sie durch höhere inn

System umzustellen. Wenig später ergänzte Einzahlungen belastet wird. Reformen zuun- S Sinn diesen Vorschlag um einen konkreten gunsten dieser Gruppe werden dann politisch

Mechanismus, Fertilitätsanreize wiederherzu- nicht mehr durchsetzbar sein. Das Zeitfenster erner stellen. Ähnlich wie in Schreibers Vorschlag für Reformen beträgt – wenn überhaupt – nur -W will Sinn alle Generationen in das System ein- noch einige wenige Jahre. ans H : erontokratie G

85 Bernd Raffelhüschen WAS WAR, WAS IST, WAS KOMMT?

Bernd Raffelhüschen ist seit 1995 Professor für Finanzwissenschaft an der Universität Freiburg und seit 1994 Prof. II an der Universität Bergen, Norwegen. Er studierte in Kiel, Berlin und Aarhus Volkswirt- schaftslehre und promovierte und habilitierte sich in diesem Fach an der Universität Kiel.

Als deutsche Politiker seriöse Wissenschaftler kunft liegt. Und die Vergangenheit hat eine als demographische Katastrophentheoretiker ganz dumme Eigenschaft : Man kann sie nicht und Bevölkerungsauguren abtaten und den ändern ! Auch wenn es verwirrend klingt : Der Pillenknick für eine vorübergehende Sache zukünftige Alterungsprozess unserer Gesell- hielten, war eigentlich schon längst bekannt : schaft ist nicht etwas, was kommt, sondern et- Der doppelte Alterungsprozess würde in – da- was, was schon war, was also eigentlich schon mals noch ferner – Zukunft dazu führen, dass gewesen ist, obwohl es noch kommt ! Und immer mehr zukünftige Rentner immer länger ­ändern kann man daran nichts mehr, weder von immer weniger zukünftigen Beitragszah- »durch Kinder noch durch Inder«. Überspitzt lern versorgt werden müssen. Inzwischen wer- ausgedrückt : Auch wenn der geneigte Leser den Erkenntnisse wie diese fast gebetsmühlen- nach Lektüre dieser Festschrift noch versuchen artig in allen Medien rauf und runter geleiert. wollte, an seinen Reproduktionsziffern zu ar- Tatsächlich ist die Aussage falsch ! Oder besser beiten, allein, es ist verlorene Liebesmüh’, die zu gesagt, eigentlich ist das Adjektiv falsch. »Zu- spät kommt. künftig« sind nämlich weder die Rentner noch Und wer hat das alles nun verursacht ? Die die Erwerbstätigen des nächsten Vierteljahr- Antwort ist relativ einfach zu geben : Es sind die hunderts – sie sind alle schon da. Und genau Babyboomer und deren Nachkommen, also deshalb ist der pilzförmige Aufbau der Bevöl- jene, die sich gegenwärtig im Alter 65 – befin- kerungsstruktur im Zeitraum 2030 – 2045 auch den. In diesen Jahrgängen gibt es grob verein- nicht etwas Zukünftiges, das unsicher ist und facht drei Gruppen : Ein Fünftel dieser Men- sein muss, sondern es handelt sich um eine schen verlässt die Welt kinderlos, ein weiteres erontokratie

G »Reflexion der Vergangenheit«, die in der Zu- Viertel hält eine Familie dann für komplett,

86 wenn zum Einzelkind der Hund hinzukommt, fall der gut betuchte männliche Facharbeiter und nur gut die Hälfte funktioniert im Sinne mit ununterbrochener Erwerbsbiographie. der Generationenverträge und schafft ausrei - Aber zurück zur Mütterrente, die im Prinzip chend zukünftige Steuer- und Beitragszahler. nicht falsch ist, auch wenn der Begriff zu revi- Was diese dann später einzahlen, gehört allen dieren wäre. Kinderrente im echten HWS-Sinn und wird sozialisiert – die Kosten tragen die wäre das bessere Wort ! Sinnvoll ist nämlich Familien, zwar nicht allein, aber doch zu weit- nur ein umlagefinanziertes Steuer/Transfer- aus grö­ßeren Teilen als die anderen. Trittbrett- System, in das jeder einzahlt und auch jeder fahrer nennt man das ! Und genau hierin lag dafür Rentenansprüche erhält, also auch Be- immer schon der Ansatzpunkt für Rentenre- amte und Selbständige. Die entsprechenden formen à la HWS, der immer wieder betonte, Ein- und Auszahlungsströme wären dann für dass zumindest das Ausmaß dieser Sozialisie- die gesetzliche Rentenversicherung quasi ein rung unserer Kinder wieder auf ein vernünf­ durchlaufender Posten. Über die relativen Grö- tiges Maß zurückgefahren werden sollte. Das ßenordnungen sowie über das institutionelle Vehikel dazu sind die von der Kinderzahl ab- Ineinandergreifen von familienpolitischem hängigen Rentenansprüche. Für den renten­ Steuer/Transfer-Mechanismus und beitragsfi- politischen Puritaner ist dies ein rotes Tuch, nanziertem Rentensystem muss natürlich noch denn in den Haushalt der Rentenversicherung trefflich gestritten werden. Allerdings dürften gehören seiner Meinung nach keine familien- die individuellen Positionen in höchstem Maße politischen Leistungen – sonst würde man ja mit der Kinderzahl korreliert sein. Damit wür- Beamte und Selbständige bei der Finanzierung de dann die gesetzliche Rente für Kinderlose nicht be­teiligen. Schließlich sind sie in aller Re- maximal bei etwa jenem Basisversorgungsni- gel keine Mitglieder der gesetzlichen Renten- veau landen, das bereits durch die vergangenen versicherung. Darüber hinaus könnten Beamte Reformen beschlossen wurde. Nachhaltigkeits- wie auch Selbständige Kinder haben, die selbst faktor und »Rente mit 67« würden ihnen ganz ­rentenversicherungspflichtig werden, ohne klar vermitteln : Sie müssen länger arbeiten für entenreformen

dass die entsprechenden Transfers den Eltern weniger Rente, und die Lebensstandardsiche- R

zugutekämen. Paradebeispiel für eine solche, rung ist Sache ihrer privaten oder betrieblichen die schlicht falsche familienpolitische Umvertei- Alterssicherung. Dagegen werden die Renten und lung ist die Erhöhung der Mütterrente für Kin- jener, die den Generationenvertrag in all sei-

der, die vor 1992 geboren wurden, durch das nen Facetten erfüllt haben, durch die steuer­ inn aktuelle Rentenreformpaket von Arbeitsmi­ finanzierten Transfers aufgestockt – natürlich S nisterin Nahles. Überspitzt ausgedrückt ver- für jedes Kind gleich, versteht sich. Dem Ver- beitragt sie das Taschengeld unserer Kinder ursacherprinzip wäre damit ein großer Gefal- erner ­zugunsten der Mütter ! Und auch die abschlags- len getan, allerdings nur, wenn das alles finan- -W freie Rente mit 63 dürfte familienpolitisch eher ziert wird, ohne sich neu zu verschulden. Die ans H in die falsche Richtung gehen. Davon profitier- neuen Schulden müssten sonst nämlich unsere : ten nämlich nur die Jahrgänge 1952 – 1963 und wenigen Kinder bedienen – Kinderlose und darunter auch nicht die Frauen mit mehreren deren nicht geborene Kinder zahlen wenig bis Kindern, die bekommen nämlich oft keine nichts. 45 Jahre zusammen. Nutznießer ist im Regel- erontokratie G

87 Thiess Büttner POSITIVE EXTERNE EFFEKTE DER ERZIEHUNG UND AUSBILDUNG VON KINDERN

Thiess Büttner ging nach der Promotion an der Uni Konstanz 1997 an das ZEW in Mannheim. 2004 wurde er an die LMU Mün- chen berufen und leitete den ­Bereich »Öffentlicher Sektor« am ifo Institut. 2010 wechselte er an die FAU -Nürnberg. Er ist Vorsitzender des Wissenschaft­ lichen Beirats beim BMF.

Im Vergleich zu anderen für die Wirtschafts­ te er sich an der Debatte um den Wechsel von politik bedeutsamen Entwicklungen ist die de- einem umlagefinanzierten zu einem kapital­ mographische Entwicklung zumindest abseits gedeckten System. In einer dieser Arbeiten von Wanderungen gut zu prognostizieren. So ­betont er, wie auch andere deutschsprachige ist seit langem bekannt, dass der Trend zu spä- ­Autoren, dass der Renditevergleich zwischen teren Geburten, die längere Lebenserwartung kapitalgedeckten und umlagefinanzierten Ren- und die geringe Zahl der Kinder Anpassungen tenversicherungssystemen kein aussagefähiges im Rentensystem erfordern. Einer konsequen- Kriterium zur Beurteilung der Systeme ist (sie- ten Anpassung der Rentenversicherung an die he Hans-Werner Sinn, »Why a funded pension voraussehbare Entwicklung hat sich die Politik system is useful and why it is not«, Internation­ immer wieder verweigert, und selbst mühsam al Tax and Public Finance, 7, 2000, S. 389 – 410). erzielte Fortschritte werden mitunter konter­ Auch wenn die Rentenbeiträge wegen der ge- kariert (für einen Überblick der Rentenrefor- ringen Rendite zum Teil den Charakter einer men siehe Axel Börsch-Supan, »Lehren aus den Steuer haben, die sich auf die Leistungsbereit- Rentenreformen seit 1972«, Wirtschaftsdienst, schaft der Arbeitnehmer negativ auswirkt, ist, 95, 2015, S. 16 – 21). Zugleich wird das umlage­ wie Sinn zeigt, von einem Übergang auf ein finanzierte Rentensystem auch mit Hinweis auf ­kapitalgedecktes System keine Verbesserung zu die geringe Rendite der Beiträge in diesem Sys- erwarten. Die Finanzierungslast für die bereits tem kritisiert. erworbenen Rentenansprüche müsste schließ- Hans-Werner Sinn hat sich in einer Reihe lich anderweitig durch höhere Steuern gesi- von grundlegenden Beiträgen mit der Thema- chert werden. erontokratie

G tik der Rentenversicherung befasst. So beteilig- Die Problematik der umlagefinanzierten Ren­

88 ­te ist demgegenüber bei Hans-Werner Sinn liegt aber vor allem in dem Nachweis, dass die mit dem demographischen Wandel verbunden. Entscheidung für Kinder und die Anstrengun- Diese Thematik greift er insbesondere in einer gen einer Familie im Rahmen der Kindererzie- 2004 erschienenen Arbeit auf (siehe Hans- hung in einem umlagefinanzierten Renten­ Werner Sinn, »The pay-as-you-go pension sys- versicherungssystem positive externe Effekte tem as fertility insurance and an enforcement auf die anderen Versicherten ausüben. Die Fa- device«, Journal of Public Economics, 88, 2004, milien leisten mit anderen Worten mehr für S. 1335 – 1357). Sie geht historisch zutreffend das System als das, was in den Beitragszahlun- von der Überlegung aus, dass die gesetzliche gen angerechnet wird. Die von Sinn propagier- Rentenversicherung vor allem eine Versiche- te kinderbezogene Rente ist vor diesem Hin­ rung der Älteren ist, die keine Kinder haben tergrund konsequent, auch wenn dies mögli­ bzw. von den Kindern nicht ausreichend unter- cherweise keine wesentlichen Effekte auf die stützt werden. Wie auch bei anderen Versiche- Demographie hätte. rungen könnte es allerdings durch die Absi­che­ Die im Rentensystem angelegte intergene­ rung zu Verhaltensänderungen kommen. In rationale Umverteilung jedoch erschwert das der stringenten ökonomischen Logik der Ana- Zustandekommen von geeigneten Reformen. lyse schwinden die Anreize, Kinder in die Welt In einer weiteren Arbeit zeigt Sinn, dass es im zu setzen und familiäre Anstrengungen zu- Zuge des demographischen Wandels immer gunsten der Erziehung und Ausbildung der schwerer werden dürfte, solche Reformen poli- Kinder zu leisten. tisch durchzusetzen (siehe Hans-Werner Sinn Zwar spielen keineswegs nur ökonomische und Silke Übelmesser, »Pensions and the path Motive eine Rolle bei der Entscheidung, eine to gerontocracy in Germany«, European Jour- Familie zu gründen und sich um die Erziehung nal of Political Economy, 19, 2002, S. 153 – 158). und Ausbildung der Kinder zu bemühen, und Auf der Basis der Vorausberechnungen des Sta- es lassen sich viele andere überzeugende Moti- tistischen Bundesamts zeigt diese Arbeit, dass ve gerade auch für den Rückgang der Geburten der Medianwert des Lebensalters in der Wäh- entenreformen

anführen. Auch ist der empirische Nachweis lerschaft immer weiter ansteigt und dass nach R

wohlfahrtsstaatlicher Effekte auf familiäre Ent- dem Jahr 2016 nur noch geringe Möglichkeiten die scheidungen schwierig und die empirische Li- bestehen, eine politische Mehrheit zugunsten und teratur zu diesen Effekten entsprechend schmal einer fundamentalen Reform zu gewinnen.

(siehe z. B. Vinzento Galasso, Roberta Gatti Es ist kurios, dass der Wechsel von Hans- inn und Paola Profeta, »Investing for the old age, Werner Sinn in den Ruhestand nun ausge­ S pensions, children, and savings«, International rechnet in das Jahr fällt, für das er selbst den

Tax and Public Finance, 16, 2009, S. 538 – 559). Wechsel Deutschlands zur Gerontokratie prog- erner Die historische Forschung belegt indessen die nostiziert hat. So obliegt es nun anderen, auf -W

Bedeutung des Vorsorgemotivs für die Fertili- Anpassungen im Rentensystem hinzuwirken. ans H tät (siehe z. B. Kristina Lilja und Dan Bäcklund, Hans-Werner Sinn hat die Problematik jeden- : »To depend on one’s children or to depend on falls frühzeitig erkannt und so grundlegend oneself : savings for old-age and children’s im- analysiert, dass der nachfolgenden Generation pact on wealth«, The History of the Family, 18, die Vor- und Nachteile der Entscheidungsalter- 2013, S. 510 – 532). nativen deutlicher geworden sind. erontokratie

Die Bedeutung des Sinn’schen Ergebnisses G

89 HWS mit der langjährigen Stellver- tretenden Vorsitzenden des DGB Ursula Engelen-Kefer und dem SPD-Politiker Joachim Poß bei der ifo Jahresversammlung 2010.

Gruppenfoto: 90. Geburtstag von Richard Musgrave und zehn­ jähriges Jubiläum des von HWS ins Leben gerufenen Center for Eco- nomic Studies im November 2001.

Krönender Abschluss des ifo-­Betriebsausflugs 2014 im ­Garten der Familie Sinn.

90 HWS und der damalige Bayerische Ministerpräsident in tiefer Diskussion beim Munich Economic Summit 2003.

Nobelpreisträger Robert Solow spricht anlässlich der Amtsein­ führung von HWS als ifo-Präsident am 21. Juni 1999.

HWS mit dem damaligen Minister- präsidenten Baden-Württem­ bergs Günther Oettinger beim ­Munich Economic Summit 2006 zur globalen­ Arbeitsteilung.

91 WirtschaftsWoche, 21.12.2009 IST DEUTSCHLAND NOCH ZU RETTEN? Hans-Werner Sinn und die arbeits- 4 und sozialpolitischen Reformen Helmut Rainer EINLEITUNG Ist Deutschland noch zu retten ? Hans-Werner Sinn und die arbeits- und sozialpolitischen Reformen

Helmut Rainer leitet das ifo Zent- Dieser Beitrag ist unter maßgeb­ rum für Arbeitsmarktforschung licher Mitarbeit von Christian und Familienökonomik und ist ­Holzner entstanden, der seit über Professor für Volkwirtschaftslehre 14 Jahren am ifo Institut ar­ beitet an der Ludwig-Maximilians-­ und den Lehrstuhl für Finanz­ Universität München. Seine For- wissenschaft an der Ludwig-­ schungsschwerpunkte liegen in Maximilians-Universität München den Bereichen Familienökonomik vertritt. und Bevölkerungsökonomik.

HWS stand am Fuße einer Felswand. Er war Felswand und musste erkennen, dass er diese spät dran gewesen, hatte sich von seinem Fah- nicht bezwingen konnte. rer an einem Parkplatz absetzen lassen und Die Arbeitslosigkeit in Deutschland war seit wollte seine Mitarbeiter einholen, die sich auf dem ersten Ölpreisschock in den 1970er Jahren dem jährlichen ifo-Betriebsausflug Richtung in Rezessionen stetig angestiegen, in Booms Gipfel aufgemacht hatten. Da er den Weg nicht ging sie lediglich leicht zurück, nie hatte ein kannte, hatte er zum Mobiltelefon gegriffen, ei- Aufschwung zu einem signifikanten Abbau der nen engen Mitarbeiter angerufen und sich den Arbeitslosigkeit geführt. Ende der 1990er Jahre Weg erklären lassen. Der genannte Weg war stieg die Zahl der Arbeitslosen in Deutschland ­jedoch zu lang, deshalb hatte er sich entschie- auf über 4 Millionen. Grund genug für HWS, ? den, direttissimo zum Gipfel zu gehen. Noch nach Antritt seiner ifo-Präsidentschaft im Jahr vor zwei Stunden hatte er einem Journalisten 1999 die ifo-Arbeitsmarktgruppe auszubauen. retten die »Aktivierende Sozialhilfe«, das neue ifo- Nachdem Gerhard Schröder in seiner ersten zu Reformkonzept, erklärt, ihm klargemacht, dass Amtsperiode lange untätig gewesen war, wuchs bei den derzeitigen Hinzuverdienstmöglich- Anfang 2002 die Bereitschaft in der Politik, noch

keiten kein Anreiz für Langzeitarbeitslose be- grundlegende Reformen in Angriff zu nehmen, stand, eine Beschäftigung aufzunehmen. Die und eine Expertenkommission unter der Lei- hohen Grenzsteuersätze von bis zu 100 % wür- tung von Peter Hartz wurde beauftragt, Vor- den dies unmöglich machen. Verdeutlicht ­hatte schläge zu erarbeiten. Mit seinem Gespür für er dies am Beispiel eines Bergsteigers, der ver- den richtigen Zeitpunkt versammelte HWS eutschland

D geblich versucht, die Eiger-Nordwand zu er- noch im Februar 2002 eine Gruppe von ifo- st I klimmen. Nun stand er selbst am Fuße einer Forschern, um ein eigenes Reformkonzept zu

9494 erarbeiten. Das Ziel lautete, das ifo-Konzept kommunalen Jobs bzw. Leiharbeitsfirmen zur rechtzeitig zu veröffentlichen, damit die Anre- Einkommenssicherung von arbeitswilligen gungen noch in die Hartz-Kommission einflie- Hilfebedürftigen nicht notwendig und nicht ßen konnten. vorgesehen. HWS kritisierte die Hartz-IV-Re- Angesichts der extrem hohen Arbeitslosen- form als unzureichend und forderte weiterhin rate unter Geringqualifizierten von über 20 % bessere Hinzuverdienstmöglichkeiten. Seine lautete die Diagnose, dass der Lohnabstand, Kritik schien voll berechtigt zu sein, als die insbesondere von Niedrigqualifizierten, zur Zahl der Arbeitslosen im Jahr 2005 auf mehr

Arbeitslosen- bzw. Sozialhilfe zu gering und die als 5 Millionen kletterte. Im Laufe des Jahres eformen R Transferentzugsraten bei Hinzuverdienst viel 2006 begannen die Reformen jedoch zu grei- zu hoch waren, um den Empfängern von Ar- fen, und die Arbeitslosigkeit begann zu sinken. beitslosen- bzw. Sozialhilfe einen Anreiz zu ge- Im Jahr 2007 wurde dieser Trend deutlicher, ben, nach Arbeit zu suchen bzw. eine solche an- die Kritik an den Hartz-IV-Gesetzen trat in zunehmen. Mitte Mai 2002 präsentierte HWS den Hintergrund und wurde abgelöst von der das Konzept der »Aktivierenden Sozialhilfe« Genugtuung über das Erreichte. Dies ging sozialpolitischen der Öffentlichkeit. Es sah vor, die Arbeitslosen- ­sogar so weit, dass HWS einmal sagte, dass hilfe und Sozialhilfe zusammenzu­legen und »Hartz IV nicht nach Peter Hartz benannt sein und

Jobzentren auf kommunaler Ebene zu schaffen. sollte, sondern eigentlich ifo IV genannt wer- - Um Transferempfänger zur aktiven Arbeits­ den müsste«. Als Deutschland die Finanzkrise suche zu animieren, wurden bes­sere Hinzu­ 2008 und die anschließende große Rezession arbeits verdienstmöglichkeiten bei einer gleichzeiti- ohne Arbeitsmarktkrise überstand und die die gen Absenkung des Basissatzes vorgeschlagen. Zahl der Arbeitslosen unter 3 Millionen sank, Um das Einkommensniveau der arbeitswilli- da war allen klar, dass der »kranke Mann Euro- und gen Hilfebedürftigen zu sichern, sollten Kom- pas« gerettet war. munen oder Leiharbeitsfirmen diejenigen be- Als HWS im Jahr 2002 am Fuße der Fels- inn S schäftigen, die in der kurzen Frist keine Arbeit wand stand, wusste er natürlich noch nicht, finden würden. Bei Umsetzung der »Aktivie- welche Reformen dem deutschen Arbeitsmarkt erner

renden Sozialhilfe« sollte die Zahl der Arbeits- bevorstehen würden und wie sich die deutsche -W losen um 2 Millionen sinken. Als die Hartz- Wirtschaft daraufhin entwickeln würde.HWS ans

Kommission im August 2002 ihren Bericht entschied sich damals, seinen Fahrer anzu­ H ? vorstellte, fanden sich darin fast alle diese Ele- rufen und sich zu dem Gasthof bringen zu las- mente wieder. 2003 veröffentlichteHWS das sen, an dem der ifo-Betriebsausflug mit einem retten Buch Ist Deutschland noch zu retten?, in dem er Abendessen ausklingen sollte. Einige Mitarbei- zu die Notwenigkeit der vorgeschlagenen Refor- ter, die den Gipfel erreicht hatten, meinten, men einer breiten Öffentlichkeit erklärte. HWS hätte die Lage zu pessimistisch einge- noch

Auch die Schröder-Regierung setzte viele schätzt. Er entgegnete jedoch : »Es sei wichtig, der in der »Aktivierenden Sozialhilfe« vorge- sich die Gefahren vor Augen zu führen und schlagenen Elemente im Hartz-IV-Gesetz, das sich ihrer bewusst zu werden; lieber schätze er Anfang 2005 in Kraft trat, um. Die Hinzuver- die Situation zu pessimistisch ein und drehe dienstmöglichkeiten wurden jedoch weniger um, als blindlings darauflos zu klettern und ab- eutschland

großzügig ausgestaltet, da man den Basissatz zustürzen.« D st nicht absenken wollte. Deshalb waren auch die I

95 Wolfgang Wiegard HWS: »FALSCHER PROPHET« ODER IDEENGEBER FÜR DIE AGENDA 2010?

Wolfgang Wiegard war bis 2011 Professor für Volkswirtschaft in und Tübingen. Seit 1990 gehört er dem Wissenschaft- lichen Beirat beim BMF und seit 2003 der Bayerischen Akademie der Wissenschaften an. Von 2001 bis 2011 war er Mitglied und von 2002 bis 2005 Vorsitzender des Sachverständigenrates.

1. Prolog Jahren zur Wachstums- und Konjunkturloko- »Die Wirtschaft stagniert, die Hiobsbotschaf- motive Europas geworden, die (harmonisierte) ten häufen sich. Monat für Monat gibt es neue Arbeitslosenquote ist die niedrigste in der EU, Pleiterekorde, viele Unternehmen stecken in ei- die deutschen Unternehmen behaupten sich ner schweren Krise, die Arbeitslosigkeit nimmt im internationalen Wettbewerb, die öffentli- immer bedrohlichere Ausmaße an … Deutsch- chen Haushalte weisen Finanzierungsüber- land ist der kranke Mann Europas, ist nur noch schüsse aus. das Schlusslicht beim Wachstum …« War oder ist HWS ein Schwarzmaler, ein Mit dieser Zustandsbeschreibung der deut- »­falscher Prophet« (Handelsblatt, 16. – 18. Ja­nuar schen Wirtschaft beginnt der Prolog (S. 13) 2015), ein »Prof. Propaganda« (SPIEGEL 29/ ? in Hans-Werner Sinns legendärem, erstmals 2012) ? Im Gegenteil : Seine damaligen Analysen im Oktober 2003 veröffentlichtem Buch Ist und Reformvorschläge haben mit dazu beigetra- retten Deutschland noch zu retten?. Als Medizin ver- gen, dass die Wirtschaftspolitik auf die desolate zu abreicht HWS der kränkelnden deutschen Lage reagiert und mutige Reformen implemen- Volkswirtschaft ein »6 + 1-Programm«, beste- tiert hat. Dies gilt vor allem im Hinblick auf den noch

hend aus drei arbeitsmarktpolitischen, zwei Arbeitsmarkt und die Sozialpo­litik. ­sozialpolitischen Komponenten sowie einem Steuerreformvorschlag und einer Reformagen- 2. Arbeitsmarkt- und sozialpolitische da für die neuen Bundesländer. Reformen Nach wenig mehr als einer Dekade fällt eine Arbeitsmärkte und Sozialpolitik stehen im Mit- eutschland

D Bestandsaufnahme der deutschen Wirtschaft telpunkt der Sinn’schen Reformagenda für die st I völlig anders aus : Deutschland ist seit einigen Anfang bis Mitte des letzten Jahrzehnts dahin-

9696 siechende deutsche Wirtschaft. Zu hohe Lohn- mit soll rein umverteilungsbedingten Wande- kosten, ein rigider Kündigungsschutz, vor allem rungsanreizen begegnet werden, indem der aber Fehlanreize im Lohnersatzsystem des deut- Bezug bestimmter steuerfinanzierter Sozial- schen Sozialstaats werden als Hauptgründe für leistungen während einer Übergangsfrist be- die zu Beginn des Jahrtausends dramatisch hohe grenzt wird. Der Wissenschaftliche Beirat beim und zunehmende Arbeitslosigkeit in Deutsch- Bundesministerium der Finanzen hat in ­seinem land identifiziert. Als Heilmittel werden zum Gutachten »Freizügigkeit und soziale Siche- ­einen die Forderung nach einer Senkung der rung« (2000) ganz ähnliche Überlegungen und

Stundenlöhne über eine Verlängerung der Ar- Reformoptionen vorgestellt. Die Aktualität die- eformen R beitszeiten (ohne Lohnausgleich) sowie über fle- ser Überlegungen zeigt sich im Übrigen in der xible Öffnungsklauseln in den Tarifverträgen im Zusammenhang mit dem angekün­digten empfohlen. Derartige Öffnungs­klauseln sind Ref­erendum zur britischen EU-Mitgliedschaft mittlerweile fester Bestandteil nahezu aller Ta- aufgestellten Forderung von Premier­ minister rifverträge. Zum anderen hat das ifo Institut als David Cameron, Zuwanderer aus anderen Reaktion auf die hohe Arbeitslosigkeit speziell EU-Ländern vorübergehend vom Bezug steuer­ sozialpolitischen unter Niedrigqualifizierten mit der »Aktivie­ finanzierter Sozialleistungen auszuschließen. renden Sozialhilfe« schon 2002 ein innovatives Vorschläge zur Reform der Rentenversiche- und

­Reformkonzept vorgelegt. Sowohl der Wissen- rung (Kapitel 3) und für eine radikale Steuer­ - schaftliche Beirat beim Bundesministerium für reform rundeten das Programm für einen Neu- Wirtschaft als auch der Sachverständigenrat – anfang der deutschen Wirtschaft ab. Mit dem arbeits und damit zwei der wichtigsten Gremien des in- Konzept der »Dualen Einkommensteuer« sind die stitutionalisierten wirtschaftswissenschaftlichen dabei die Vorstellungen von HWS, ifo Institut Sachverstands in Deutschland – haben diesen und Sachverständigenrat über ein investitions- und Vorschlag mit einigen Modifikationen über- und wachstumsfreundliches Steuersystem ein- nommen und ergänzt. Die grundlegende Idee ist mal mehr nahezu deckungsgleich. inn S dabei ebenso einfach wie bestechend : Produk­ tivitätsbedingt niedrige Löhne werden durch 3. Epilog erner

staatliche Lohnzuschüsse aufgestockt, so dass Mit einer Auflage von insgesamt über 110 000 -W gleichzeitig mehr Arbeitsplätze im Niedrigqua- Exemplaren, mit einer eigenen Fernsehreihe ans

lifikationssegment angeboten und Anreize zur in BR Alpha und einer Hörbuch-Version mit H ? Annahme einer entsprechenden Beschäftigung ­einer Laufzeit von 15 : 30 Stunden gehört Ist ausgeübt werden. Im Kern wurden diese Ideen Deutschland noch zu retten? zu den erfolg- retten mit der Agenda 2010 und der Hartz-IV-Gesetz- reichsten deutschsprachigen Wirtschaftsbü- zu gebung auch von der Politik aufgegriffen, aller- chern überhaupt. Der Einfluss auf wissen- dings nicht vollständig umgesetzt. schaftliche Mitstreiter, etwa in den Beiräten noch

Ebenfalls in der Schnittmenge von Arbeits- oder im Sachverständigenrat, war enorm. Auch markt- und Sozialpolitik liegt der im Vorfeld in der Wirtschaftspolitik hat die damalige Re- der EU-Osterweiterung von HWS und Mit­ formagenda tiefe Spuren hinterlassen, indem arbeitern des ifo Instituts ausgearbeitete Vor- die Hartz-Reformen und die Agenda 2010 zen- schlag einer »selektiv verzögerten Integration« trale Ideen von HWS aufgenommen haben. eutschland

von Zuwandernden aus EU-Ländern in die so- Von derartigen Erfolgen kann man als Öko- D st zialen Sicherungssysteme der Gastländer. Da- nom nur träumen. I

97 Dieter Hundt AUF DEM ERREICHTEN NICHT AUSRUHEN, SONDERN HERAUSFORDERUNGEN ANNEHMEN

Dieter Hundt war von 1996 bis 2013 Präsident der Bundesvereini- gung der Deutschen Arbeitgeber- verbände. Seit Januar 2008 amtiert er als Präsident der Deutschen Handelskammer in Österreich. 2010 wurde ihm von der Landes­ regierung Baden-Württemberg der Ehrentitel Professor verliehen.

Es ist über zehn Jahre her : »Kranker Mann sind aber längst deutlich messbar und vorzeig- ­Europas« – so urteilte das Ausland damals über bar : Noch nie konnten so viele Menschen in Deutschland. Verkrustete Strukturen am Ar- Deutschland einer Erwerbstätigkeit nachgehen beitsmarkt, starres Besitzstandsdenken sowie wie heute. In kaum einem anderen Land Euro- zu hohe Steuern und Sozialabgaben produ­ pas sind anteilig so viele exzellent qualifizierte zierten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Frauen beschäftigt wie in Deutschland. Die Stillstand und steigende Arbeitslosigkeit. Die ­Beschäftigung Älterer ist seit 2000 von 37 % wirtschaftliche Misere war auch eine soziale auf 66 % gestiegen. Heute sind fast 4 Millionen Misere. Über 5 Millionen Menschen hatten Menschen mehr sozialversicherungspflichtig keine Arbeit – Tendenz steigend. tätig als 2005. Die Zahl der Arbeitslosen ist in ? An grundlegenden arbeits- und sozialpoliti- diesem Zeitraum um über ein Drittel gesunken, schen Reformen führte daher kein Weg vorbei. die der Langzeitarbeitslosen hat sich halbiert. retten Diese verlangten allerdings Mut und Ent- Früher ging die Entwicklung in die entge- zu schlossenheit. Dafür stand vor allem die Agen- gengesetzte Richtung. Die gesamte Nachkriegs- da 2010. Sie brachte die Wende zum Besseren. geschichte unseres Landes war geprägt durch noch

Besonders bedeutsam ist aus heutiger Sicht eine ständig steigende Sockelarbeitslosigkeit. die damit geschaffene Flexibilität am Arbeits- Zu den Schwächsten einer Gesellschaft zäh- markt – gepaart mit funktionierender Sozial- len die dauerhaft von Erwerbsarbeit Ausge- partnerschaft und verantwortungsvoller Tarif- schlossenen. Diese Gruppe wurde mit jedem politik. Das ist gelungen und hat Wirtschaft Konjunkturzyklus größer. Erst die Agenda 2010 eutschland

D und Gesellschaft in Deutschland neu belebt. brach diesen unter sozialen Gesichtspunkten st I Die Erfolge kamen mit Zeitverzögerung, sie skandalösen Trend und kehrte ihn um : Lang-

9898 zeitarbeitslose sowie nicht oder nur Gering­ Professor Sinn hat für die Agenda 2010 intensiv qualifizierte haben seitdem deutlich bessere geworben und sie mit seiner exzellenten öko- Chancen auf einen Einstieg in Arbeit und not- nomischen Kompetenz immer eng begleitet. wendige Qualifizierungsförderung. Das rechne ich ihm hoch an. Unternehmen müssen sich heute blitzschnell Unser Land darf sich jedoch nicht auf dem auf plötzlich veränderte Marktgegebenheiten Erreichten ausruhen, sondern muss sich wei- einstellen, wenn sie sich im harten Wettbewerb terhin ständig veränderten Herausforderungen erfolgreich behaupten wollen. Für diese Anpas- stellen. Es bleibt viel zu tun – sei es bei der wei- sungsfähigkeit brauchen sie flexible Beschäfti- teren Verbesserung der Arbeitsmarktchancen eformen R gungsformen – nicht massenhaft, aber in ange- von Geringqualifizierten und Langzeitarbeits- messenem Umfang. Auch das erkannten die losen, einer zeitgemäßen Gestaltung der Ar- Reformer der Agenda 2010. Zeitarbeit, Teilzeit, beitswelt, einer weiterhin dringend notwendi- Befristungen, Minijobs wurden zu Recht büro- gen Entbürokratisierung oder der Senkung der kratisch entrümpelt. Nachweislich falsch ist es, Arbeitskosten. Nicht minder bedeutsam ist die wenn behauptet wird, sie verdrängten in gro- Bekämpfung des Fachkräftemangels, der uns sozialpolitischen

ßem Stil Normalarbeitsverhältnisse. Im Ge­ vor wachsende Aufgaben stellt. Ihn nicht zu genteil : Gerade die flexiblen Erwerbsformen meistern hieße, hinter die Zeit vor der Agenda und schaffen gesamtwirtschaftlich zusätzliche -Be 2010 zurückzufallen. - schäftigung. Deutschlands Kapital sind seine Fachkräfte. Wer den Eindruck erweckt, das Aufbrechen Umso mehr sehe ich mit Sorge, dass die Politik arbeits verkrusteter Strukturen produziere vor allem in der jüngsten Vergangenheit Entscheidungen die Verlierer, sendet fatalerweise das falsche Signal getroffen hat, welche die Erfolge der Vergan- gerade in die Länder Europas, die heute gegen genheit und die Lage auf dem Arbeitsmarkt ge- und hohe Arbeitslosigkeit ankämpfen. Dies ist ver- fährden. Dazu zählt vor allem die Einführung antwortungslos gegenüber all den Ländern, die des gesetzlichen Mindestlohns oder die ab- inn S zu Reformen bereit sind und diese auch drin- schlagsfreie Rente mit 63. Professor Hans-Wer- gend benötigen. Die Erfahrung des letzten ner Sinn hat auch dies zu Recht moniert und erner

Jahrzehnts in Deutschland beweist : Der Turn­ immer wieder vor Risiken für den Arbeits- -W around ist zu schaffen, auch wenn Reformen markt gewarnt. Wir dürfen die derzeit erfreu­ ans

zweifelsohne teilweise schmerzhaft sind. Dafür liche wirtschaftliche Lage in Deutschland nicht H ? steht die Agenda 2010, die nicht kopierbar ist, als gottgegeben betrachten, sondern müssen aber anderen Ländern Mut machen kann, den auf der Hut sein. retten eigenen Weg zu notwendigen Strukturrefor- Wir haben die Pflicht, über den Tellerrand zu men beherzt zu gehen. zu schauen, an kommende Generationen zu Natürlich meldeten sich bei der Einführung denken und Sorge zu tragen, dass wir unseren noch der Agenda 2010 neben Befürwortern auch vie- mühsam erarbeiteten Status nicht nur be­ le Kritiker zu Wort. Professor Hans-Werner wahren, sondern unsere Wettbewerbsfähigkeit Sinn gehört zu denjenigen, die frühzeitig die weiter und stetig steigern. Notwendigkeit für Veränderungen erkannten Die Politik ist gut beraten, verstärkt in die- und nicht müde wurden, diese einzufordern. sem »Sinn« zu handeln. eutschland D st I

99 Peter Hartz DIE LANGZEIT- UND JUGENDARBEITSLOSIGKEIT IST IN DER SOZIALEN MARKTWIRTSCHAFT LÖSBAR

Peter Hartz, Diplom-Betriebswirt, war Vorstand und Arbeitsdirektor im Volkswagenkonzern und in der saarländischen Stahlindustrie. Er war Vorsitzender der Regierungs- kommission »Moderne Dienstleis- tungen am Arbeitsmarkt« und ist Stifter und Gründer der SHS Foun- dation für regionale Entwicklun- gen.

Hans-Werner Sinn schrieb in einem Beitrag neu definiert und verschärft. Dies ist eine der Wie Deutschland zu retten wäre im Oktober Kernideen der Reform : Was ist für einen Ar- 2005 : beitslosen zumutbar ? Die Reformkommission »Jeder muss nach seinen Fähigkeiten arbeiten, hat dies nach geographischen, materiellen, wenn er ein auskömmliches Einkommen erhal- funktionalen und sozialen Kriterien neu for- ten will, und wer dabei nicht genug verdient, der muliert. Zum Beispiel : Kann einem jungen bekommt vom Staat noch etwas hinzu. Das ist ­alleinstehenden Arbeitslosen hinsichtlich der die neue Devise !« Mobilität mehr zugemutet werden als einem So kann man eine der Leitideen der Arbeits- Familienvater mit Kindern und einer kranken marktreform unter Bundeskanzler Gerhard Frau ? ? Schröder erklären : Leistung auslösen – Sicher- In der neuen Zumutbarkeit ist ein Paradig- heit einlösen. Arbeit bedeutet für jeden Men- menwechsel enthalten. Bisher musste die Ar- retten schen, gebraucht zu werden, seine Würde und beitsagentur beweisen, dass die Arbeit für den zu seine Selbstachtung nicht zu verlieren. Jeder Arbeitslosen zumutbar war. Nun gilt, dass der Mensch braucht eine Perspektive für sich, seine Arbeitslose beweisen muss, warum die abge- noch

Arbeit, sein Einkommen. Besteht diese Per­ lehnte Beschäftigung für ihn unzumutbar ist. spektive oder lässt sie sich entwickeln und ge- Minijobs sind zumutbar und ein effizientes stalten, so wird man auch mit der temporären Flexibilisierungsinstrument der Wirtschaft. Zumutbarkeit neuer Entwicklungen ganz an- Ihre Einkommensmöglichkeiten sollten atmen ders umgehen. mit der Absicherung einer menschenwürdi- eutschland

D Die Zumutbarkeit für die Aufnahme einer gen Grundsicherung durch das Arbeitslosen- st I neuen Arbeit wurde in der Arbeitsmarktreform geld II.

100100 Übrigens hatte die Kommission der Arbeits- style-Entwicklung für jedes (Sinus-)Milieu marktreform in diesem Zusammenhang schon der Bevölkerung in Beschäftigung münden 2002 einen durchschnittlichen Regelsatz in können. Rund 150 neue und entwickelbare Höhe von 511,00 Euro vorgeschlagen, was dem Dienstleistungen wurden in die sieben folgen- damaligen Durchschnitt der Arbeitslosenhilfe den Jobfamilien : Familien-Dienste, Nachhilfe, entsprach. Zu Hause betreut, Gesundheit + Wohlgefühl, Seit der Arbeitsmarktreform sind nun mehr ­Natur + Garten, Kleinunternehmer-Dienste, als zehn Jahre vergangen. Wissenschaft und Handgemacht, aggregiert. Sie bilden die Basis

Forschung haben sich gottlob stürmisch wei- für eine Markterhebung im Umkreis des Le- eformen R terentwickelt. Zwei neue Tools entstanden bei bensmittelpunktes der jobsuchenden Talente. den Neuentwicklungen, die besonders viel­ Neue zusätzliche Arbeitsplätze entstehen – versprechend sind : die Talentdiagnostik und marktwirtschaftlich organisiert. Wenn ein Ar- der Beschäftigungsradar. beitsloser sich selbst zum Projekt macht und Heute ist es mit Hilfe von Big Data und einer die Selbständigkeit wagt – ein Minipreneur entwickelten Software möglich, die Talente je- wird –, sollte er in der Startphase befristet in sozialpolitischen des Menschen – und jeder Mensch hat Talen- einer Staffelung unterstützt werden. Mit dem te – aufzuspüren und in der Gesamtheit seiner Minijob und als Aufstocker beginnt er und und

Erfahrungen zu erfassen, was er damit noch baut ihn aus zum Vollzeitjob mit Sozialver­ - machen kann, auch bei gebrochenen Lebens- sicherung. Die volkswirtschaftlich vertretbare läufen. Dies ist besonders hilfreich für Lang- Grenze der Förderung könnte bis zur Höhe des arbeits zeitarbeitslose und jugendliche Arbeitslose. Die »Aktiv-Passiv-Tausches« der Kosten seiner Ar- die Talentdiagnostik ermöglicht für diese Grup- beitslosigkeit und des ALG II gehen. pen, in einem Matching-System zu erfahren, in Dank und Anerkennung gebühren Professor und welchem Ranking sie für einzelne Tätigkeiten Hans-Werner Sinn. Ein neuer Horizont tut sich geeignet sind – eine wirksame Unterstützung für ihn auf. Die Aufhebung der Altersgrenze inn S bei der Neuorientierung für eine Beschäfti- und ein neu entwickeltes Arbeitszeitmodell für gung, insbesondere wenn bei der Dauer der Longinos/Longinas. Die Hochaltrigen begin- erner

Arbeitslosigkeit eine »erlernte Unsicherheit« nen als Longino-Junior von 70 bis 75 Jahren, -W durch Verhaltensänderung eingetreten ist. als Longino-Klassik von 76 bis 85 Jahren, als ans

Wenn Sie die Talente kennen, wo ist nun der Longino-Senior von 86 bis 95 Jahren open end, H ? neue Job ? Wo entsteht er ? Mit Hilfe des neu das hinzugewonnene Lebensalter wertschöp- entwickelten Beschäftigungsradars können wir fend oder altruistisch mit ihren Talenten neu retten nun bis auf Straßenebene eines Ortsteils her- zu ­leben. Schöne Perspektiven für ihn heute als zu ausfinden und messen, welche neuen Bedürf- Anwärter. nisse und Dienstleistungen aufgrund der Life- noch

eutschland D st I

101 Peter Birch Sørensen HANS-WERNER SINNS BLAUPAUSE FÜR EINE ARBEITSMARKTREFORM UND DIE SKANDINAVISCHE ALTERNATIVE

Peter Birch Sørensen ist Profes- sor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Kopenhagen. Er war Vorsitzender des dänischen Sachverständigenrates, Chefvolks- wirt der dänischen Zentralbank und diente in Regierungsaus- schüssen in Skandinavien. Zurzeit sitzt er dem dänischen Rat für Klimapolitik vor.

In seinem Bestseller Ist Deutschland noch zu sche Modell bis dahin insofern erfolgreich war, retten? beschreibt Hans-Werner Sinn vier als es Geringqualifizierten ein gewisses Lohn- Wege, die ein Land gehen kann, um dem inter- niveau erhielt, jedoch zu hoher Arbeitslosigkeit nationalen Niedriglohnwettbewerb zu entgeg- führte. (Er schrieb sein Buch, bevor die Hartz- nen. Erstens, den deutsch-französischen Weg Reformen ihre Wirkung entfalteten.) Das briti- mit starken Gewerkschaften und hohen Sozial- sche und das amerikanische Modell waren zwar leistungen, die die Lohnverteilung stauchen erfolgreicher bei der Schaffung neuer Arbeits- und Arbeitsplätze vernichten, die sonst vor- plätze. Sie produzierten aber auch eine große handen wären. Zweitens, den britischen von Gruppe von Erwerbsarmen, die trotz Lohnzu- Thatcher mit einer vollständigen Liberalisie- schüssen aufgrund ihrer niedrigen Löhne kein ? rung des Arbeitsmarktes, einer Bekämpfung annehmbares Leben führen können. Das skan- der Gewerkschaften, einer höheren Lohnsprei- dinavische Modell vermeidet Armut und hohe retten zung sowie einem Abbau des Sozialstaats. Drit- Arbeitslosigkeit, aber nach Sinns Ansicht nur, zu tens, den skandinavischen Weg einer Sozial- weil eine große Zahl wenig produktiver Ar- partnerschaft mit den Gewerkschaften, die die beitsplätze im öffentlichen Dienst geschaffen noch

Arbeitsnachfrage hoch hält, indem denjenigen wurde, die immer schwerer zu finanzieren ist. Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst angeboten Vor diesem Hintergrund schlug Sinn eine werden, die keine Beschäftigung in der Privat- Reform des Arbeitsmarktes nach amerikani- wirtschaft finden. Viertens, den amerikani- schem Vorbild vor, aber mit großzügigeren schen Weg, einen freien Arbeitsmarkt durch Lohnzuschüssen, um den kontinentaleuropäi- eutschland

D Lohnzuschüsse zu ergänzen. schen Präferenzen gerecht zu werden. Er emp- st I Sinn bemerkte, dass das deutsch-französi- fahl eine Schwächung der Gewerkschaftsmacht

102102 durch eine dezentralere Lohnfindung und eine dass dies unter der Annahme von Skalenvor­ Lockerung des Kündigungsschutzes. Ein wei­ teilen und positiven Externalitäten Effizienz teres Element seines Reformpakets war das fördern kann. Konzept des ifo Instituts für eine Aktivierende Zugegeben, eine Stauchung der Lohnver­ Sozialhilfe. Sie beinhaltete eine Kürzung von teilung macht es Geringqualifizierten schwerer, Sozialleistungen in Kombination mit einem einen Job zu finden, und verringert die private Lohnzuschuss für Geringverdiener, die einen Rendite auf Weiterbildung. Aber durch die er- Job finden. höhten Qualifikationsanforderungen der Un-

Ich bezweifle nicht, dass eine solche Arbeits- ternehmen und die Gefahr der Arbeitslosigkeit eformen R marktreform in dem Sinne erfolgreich sein steigern relativ hohe Löhne auch den Anreiz, könnte, dass sie neue Arbeitsplätze für Ge- sich die geforderten Fähigkeiten anzueignen, ringqualifizierte schaffen würde. Ich fürchte die nötig sind, um einen Arbeitsplatz zu finden. aber, dass sie mehr Härten mit sich bringen Die skandinavischen Wohlfahrtsstaaten unter- würde für jene, die weiterhin arbeitslos blie- stützen daher die Erwachsenenbildung und die ben. Und obgleich das skandinavische Modell Weiterbildung Geringqualifizierter sehr. Es ist sozialpolitischen seine Schwächen hat, glaube ich, dass Sinns Be- ein Fakt, dass die Arbeitslosigkeit unter ge- urteilung diesbezüglich zu negativ ist. ringqualifizierten Skandinaviern im internatio­ und

Erstens wurde die anhaltend hohe Beschäf­ nalen Vergleich nicht hoch ist. - tigung in Skandinavien in der jüngsten Phase Hans-Werner Sinn behauptet, dass die offi­ der Globalisierung nicht durch eine Ausdeh- ziellen Statistiken für das Bruttoinlandspro- arbeits nung des öffentlichen Sektors erreicht. Seit 1980 dukt pro Kopf die relativ hohe Prosperität der die ist der Anteil der Staatsbediensteten an der Ge- skandinavischen Länder überzeichnen, da in samtbeschäftigung nahezu konstant. anderen Ländern ein größerer Anteil von Akti- und Zweitens ist der öffentliche Sektor kein »Ar- vitäten wie der Kinderbetreuung und Alten- beitgeber der letzten Instanz« für Geringquali- pflege im inoffiziellen Haushaltssektor erbracht inn S fizierte. Der Anteil der Staatsbediensteten mit werden. Jedoch sind die staatlichen Einrich- höherer Bildung ist deutlich größer als irgend- tungen für Kinder und ältere Menschen ein erner

wo sonst in der OECD. Es sind überwiegend wichtiger Faktor für die hohe Frauenerwerbs- -W Fachkräfte wie Krankenschwestern und Lehrer. quote in Skandinavien, die eine breite steuer­ ans

Drittens haben die starken Gewerkschafts- liche Basis sicherstellt und die Finanzierung H ? bündnisse ein hohes Maß an Koordination des Wohlfahrtsstaates ermöglicht. bei den Tarifverträgen ermöglicht, was einer Das skandinavische Sozialmodell ist bei wei- retten Lohnzurückhaltung in Krisenzeiten Vorschub tem nicht perfekt. Jedoch hat es bis heute einen zu geleistet hat. hohen Beschäftigungsstand und eine geringe Viertens kann die Stauchung der Lohnver- Ungleichheit ermöglicht. Beides ist verant­ noch teilung infolge großer Gewerkschaftsmacht wortungsvollem gewerkschaftlichem Verhal- dazu beitragen, dass hochproduktive Unter- ten, verschiedenen staatlichen Mechanismen nehmen zulasten geringproduktiver expandie- der Risikoteilung sowie Arbeitsmarktreformen ren, da innerhalb der ersten Gruppe die Löhne im Sinne von Hans-Werner Sinn zu verdanken. unter der Arbeitsproduktivität liegen und in- Skandinavien ist ein Stück in die von ihm vor- eutschland

nerhalb der zweiten darüber. Der verstorbene geschlagene Richtung gegangen, aber ohne das D st schwedische Ökonom Jonas Agell hat gezeigt, Kind mit dem Bade auszuschütten. I

103 Alfred Gaffal MIT »SINN« UND VERSTAND: LEIDENSCHAFTLICHER VERTEIDIGER DER SOZIALEN MARKTWIRTSCHAFT

Alfred Gaffal ist Präsident der vbw – Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft e. V. sowie der bayeri- schen Metall- und Elektroarbeit­ geberverbände bayme vbm. Er war viele Jahre lang Vorsitzender der Geschäftsführung der Wolf GmbH. Seit 2011 steht er dem Auf- sichtsrat des Unternehmens vor.

Bayern, Deutschland und Europa gehen durch Gerade deshalb ist Hans-Werner Sinn ein bewegte Zeiten. Unser erfolgreiches System der herausragender Wissenschaftler, der mit dem Sozialen Marktwirtschaft wird mehr und mehr ifo Institut einen großen Beitrag leistet, ökono- in Frage gestellt. Diese tiefgreifenden Prozesse mische Debatten zielführend zu versachlichen. haben Auswirkungen auf unsere gesamte Ge- Sein jahrzehntelanges akademisches Wirken in sellschaft – spürbar in jeder Kommune genauso den Wirtschaftswissenschaften, seine exzellen- wie in der gesamten Europäischen Union, spür- te Arbeit an der Spitze des ifo Instituts und sei- bar in jedem mittelständischen Unternehmen ne persönliche Integrität haben ihn zu einer genauso wie bei einem »Global Player«. Positive anerkannten Persönlichkeit über politische wirtschaftliche Entwicklungen hängen in ho- und gesellschaftliche Grenzen hinweg werden ? hem Maße von Planungssicherheit und Ver- lassen. trauen in die Handlungsfähigkeit der Politik ab. Das Hauptaugenmerk der vbw – Vereinigung retten Reformen des Gemeinwesens und der Arbeits- der Bayerischen Wirtschaft e. V. liegt auf der zu welt sind angesichts des digitalen und gesell- Wahrung der Wettbewerbsfähigkeit der Unter­ schaftlichen Wandels in den Industrienationen nehmen in Bayern. Gerade vor dem Hintergrund noch

unausweichlich und müssen kraftvoll umge- der jüngsten politischen Entscheidungen, die setzt werden. Die zunehmende Emotionalisie- diese Konkurrenzfähigkeit beeinträchtigen, war rung der dazu notwendigen öffentlichen De­ und ist es wohltuend, in Hans-Werner Sinn batten behindert oder verhindert oft wich­tige ­einen der einflussreichsten Wirtschafts­exper­ Entscheidungen und zukunftsweisende Wei- ten des Landes zu wesentlichen Fragen der eutschland

D chenstellungen. Sachliche Inhalte und fundierte Ausrichtung und Gestaltung der Wirtschafts- st I Argumente treten davor oft in den Hintergrund. politik an unserer Seite zu wissen.

104104 Die große Koalition hat seit Beginn ihrer haltig. Seine Forderung, die Löhne an der rea- ­Legislaturperiode vor rund zwei Jahren Refor- len Nachfrage nach einer bestimmten Arbeit men angestoßen, die das Wirtschaftswachstum zu orientieren, entspricht dabei einmal mehr und damit den Wohlstand aller im Lande be- der Ansicht der vbw. drohen. Nicht nur Sinns Beiträge zu aktuellen poli­ Die Rente mit 63 entzieht den Unternehmen tischen Entwicklungen treffen nach Überzeu- Fachkräfte, ohne an anderer Stelle für Aus- gung der vbw ins Schwarze, sondern auch seine gleich zu sorgen. Das niedrigere Rentenein- begründeten Warnungen vor den Folgen des trittsalter erhöht den Mangel an gut ausgebilde- demographischen Wandels. Politik reagiere eformen R ten Arbeitnehmern drastisch und vollkommen meist erst, wenn das Kind schon in den Brun- ohne Not. Hans-Werner Sinn schaltete sich nen gefallen ist, so Sinn. Recht hat er : Die Be- hier mit zukunftsgerichteten Vorschlägen ein, völkerungsentwicklung in der Bundesrepublik denen wir uns als Vertreter der bayerischen stellt die Unternehmen zunehmend vor Prob- Wirtschaft vorbehaltslos anschließen können : leme. Nicht zuletzt dank seiner Warnung hat Eine Flexibilisierung des Rentenalters würde die Politik das Thema in der letzten Dekade auf sozialpolitischen dem einzelnen Arbeitnehmer die Selbstverant- die politische Agenda gesetzt. Langfristig wird wortung zugestehen, die andere Bereiche des es elementarer arbeits-, bildungs- und sozial- und

Lebens ohnehin einfordern. Zudem ließe sich politischer Veränderungen bedürfen, um den - eine übermäßige Belastung der Staatskasse ver- Anforderungen der Arbeitswelt im 21. Jahr- hindern, und es würde ein Beitrag zur Fach- hundert gerecht zu werden und den Wohlstand arbeits kräftesicherung geleistet. der Nation zu sichern. Dabei werden auch die die Die gleiche treffsichere Analyse hat Sinn in Digitalisierung unserer Lebens- und Arbeits- der emotional geführten Diskussion um die welt sowie die Frage, wie wir unser Zusammen- und Einführung eines flächendeckenden gesetzli- leben innerhalb der Europäischen Union wei- chen Mindestlohns geliefert : Auch hier wurde ter gestalten, eine zentrale Rolle spielen. inn S ohne Rücksicht auf realwirtschaftliche Um- Hans-Werner Sinn versteht es wie kein Zwei- stände ein Wahlversprechen eingelöst. Verlierer ter, den Finger in die Wunde zu legen. Seine erner

dieser Neuregelung sind insbesondere Lang- pointierte Meinung polarisiert und hat bisher -W zeitarbeitslose und Geringqualifizierte. Für sie stets Anstoß zur Diskussion in Wirtschaft, Po- ans

erhöht der Mindestlohn die Hürden für den litik und Gesellschaft gegeben – Mission -er H ? Eintritt in den Arbeitsmarkt, statt sie abzusen- füllt ! Die vbw hat in ihm stets einen Streiter ken. Professor Sinn verweist zudem treffend für das gemeinsame Anliegen gefunden : die er- retten auf die gesamtgesellschaftlichen Probleme, die folgreiche Gestaltung unseres Gemeinwesens zu sich durch den Mindestlohn ergeben : Das auf Basis der Sozialen Marktwirtschaft. künstliche Anheben des Lohnniveaus führt In diesem Sinne wünschen wir Hans-Wer- noch dazu, dass die mühsam aufgebaute internatio- ner Sinn für die Zukunft nur das Beste, in der nale Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands wie- Überzeugung, dass er weiter Sachwalter der der sinkt. Es ist gerade das politisch initiierte Sozialen Marktwirtschaft bleibt. Seinem Nach- Anschieben von wirtschaftlichen Prozessen, folger, Clemens Fuest, und dem ifo Institut was Sinns zutiefst marktwirtschaftlicher Über- wünschen wir, ihren großen ökonomischen eutschland

zeugung entgegensteht. Zu Recht vertritt er Sachverstand gewinnbringend für unsere glo- D st diese Position auch gegenüber Kritikern nach- bale Wirtschaft einzubringen. I

105 Joachim Möller REIBEFLÄCHEN: HANS-WERNER SINN UND DIE UNVOLLKOMMENHEIT DES ARBEITSMARKTES

Joachim Möller ist Direktor des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), der For- schungseinrichtung der Bundes- agentur für Arbeit in Nürnberg, außerdem hat er den Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre an der Universität Regensburg inne.

Die Ökonomie als Wissenschaft kennt nicht trägt – wie wir in der Finanzkrise 2008/2009 die eine Wahrheit. Ökonomen sind Anwälte erlebt haben – eine Krisentendenz in sich. Die von Ideen. Und Hans-Werner Sinn ist zweifel- Hochglanz-Modellwelt steht oft allzu sehr im los ein Staranwalt. Seine Plädoyers zwingen zur Kontrast zur rauen Wirklichkeit, und die Logik Präzisierung des eigenen Arguments, insbeson­ der ungeregelten Marktmechanik ist vielfach dere wenn es im Widerspruch zu seinen steht. alles andere als eine gesellschaftlich optimale Das ökonomische Prinzip und die Selbst­ Lösung. regulation des Marktsystems über Wettbewerb, Ein Markt mit besonders ausgeprägten Un- Preis- und Lohnmechanismen sind faszinie- vollkommenheiten ist der Arbeitsmarkt. Hier rende Ideen, die seit 200 Jahren Ökonomen in bestehen hohe Transaktionskosten und Infor- ? ihren Bann ziehen. Dieses Prinzip bildet die mationsdefizite. Kann man dennoch davon Grundlage unseres Wirtschaftssystems und ausgehen, dass er grundsätzlich wie ein Wettbe­ retten steht letztlich für seinen Erfolg. Bei den apo- ­werbsmarkt funktioniert ? Hans-Werner Sinns zu theotischen Ansätzen wird den wirtschaftlich Sicht des Arbeitsmarktes unterstellt dies, und Handelnden jedoch ein sehr weitgehendes Op- hier bieten sich meine größten Reibe­flächen noch

timierungsverhalten unterstellt. Nutzen und mit ihm. Die Beschäftigung wird nach seiner Gewinne werden nicht nur momentan maxi- Denkweise so angepasst, dass der Lohn dem miert, sondern intertemporal. Dies bringt in der Wertgrenzprodukt entspricht. Wenn zum Bei- Theorie die beste aller Wirtschaftswelten hervor. spiel durch Gewerkschaftsmacht oder durch Die real existierende Marktwirtschaft führt ­einen Mindestlohn zu hohe Löhne festgelegt eutschland

D jedoch keineswegs immer und überall zu Ef­ werden, verlieren die am wenigsten Produk­ st I fizienz und Leistungsgerechtigkeit, und sie tiven ihren Arbeitsplatz. Konsequenterweise

106106 lautet Hans-Werner Sinns arbeitsmarktpoliti- deutlichen Beschäftigungseffekt gegeben. Herz­ sches Mantra, dass zu hohe Löhne und zu ge- stück der ursprünglichen Hartz-Reformen war ringe Lohnspreizung die Wurzel jeder Unter- es, alle Arbeitslosen billig an die Privatwirt- beschäftigungsmisere sind. Das beste Rezept schaft zu verleihen.« Dies wirkt aus heutiger gegen Arbeitslosigkeit sind Lohnsenkungen. Sicht eher wie eine bizarre Idee : Ein durch öf- Ein Mindestlohn ist kontraproduktiv, weil er es fentliche Institutionen betriebenes Leiharbeits- unmöglich macht, Personen mit niedriger Pro- geschäft mit der Privatwirtschaft zu Niedrig- duktivität rentabel zu beschäftigen, und des- löhnen (»30 % unter Tarif«) als Motor des halb hohe Jobverluste nach sich zieht. Arbeitsmarktentwicklung. Tatsache ist, dass es eformen R In Deutschland setzte allerdings bereits Mit- ganz ohne dieses »Herzstück« der Reformen te der 1990er Jahre eine Lohnmoderation ein, im Zeitraum 2005 bis 2008 zu einem Abbau der und die Lohnspreizung nahm so stark wie in Arbeitslosigkeit um 40 % kam. keinem anderen OECD-Land zu. Dennoch Vieles, was Hans-Werner Sinn und sein ifo wollten sich Beschäftigungserfolge nicht ein- Institut entwickelt haben, ist bedenkenswert. stellen. Waren die zum Teil einschneidenden So das Konzept einer Aktivierenden Sozialhilfe, sozialpolitischen

Reallohneinbußen für viele Arbeitnehmer das Elemente einer negativen Einkommen- nicht genug ? Auch Jahre nach der Trendwende steuer aufnimmt. In Kombination mit einem und in der deutschen Lohnpolitik forderte Hans- kompromisslosen Workfare-Ansatz ist der - Werner Sinn weitere Lohnsenkungen und plä- Vorschlag allerdings aus meiner Sicht sozial­ dierte für eine noch stärkere Ausweitung des politisch indiskutabel. arbeits Niedriglohnsektors, dessen soziale Akzeptanz Ein Mindestlohn ist Sinn zufolge »des Teu- die durch einen staatlichen Lohnzuschuss erhöht fels« – durchaus konsequent, wenn der Arbeits- werden sollte. Die Möglichkeit, dass auch markt als Wettbewerbsmarkt gesehen wird. und Marktmacht auf der Unternehmensseite und Tatsächlich führt diese Sicht aber zu einer andere Unvollkommenheiten eine Rolle spie- ­eklatanten Fehleinschätzung seiner Beschäfti- inn S len könnten, wird in dieser Sichtweise völlig gungswirkung. Die Einführung des flächen­ ausgeblendet. Wenn aber der Arbeitsmarkt tat- deckenden Mindestlohns in Deutschland hat erner

sächlich wie ein Wettbewerbsmarkt funktio- sich bekanntlich weitgehend geräuschlos voll- -W nierte, hätte es aufgrund der Lohnentwicklung zogen, von einem massiven Beschäftigungs­ ans

schon ab Mitte der 1990er Jahre einen nennens- einbruch kann keine Rede sein. H ? werten Beschäftigungszuwachs geben müssen. Hegel hat über die kantische Philosophie ge- Interessanterweise gab es diesen aber erst nach sagt, sie habe zu große Zärtlichkeit für die Welt retten den Arbeitsmarktreformen zehn Jahre später. der Dinge und so den Widerspruch von ihr ent- zu Obwohl Hans-Werner Sinn für sich geistige fernt. Vielleicht hat Hans-Werner Sinn zu gro- Urheberschaft bei zentralen Elementen der ße Zärtlichkeit für die Welt des Marktes und so noch

Hartz-Reformen reklamiert, zweifelt er in ei- die Unvollkommenheiten von ihr entfernt. nem Interview von 2005 an deren Beschäfti- Er ist ein herausragender Ökonom und glän- gungserfolg. Ihm zufolge liegt dies am Fehlen zender Rhetoriker, der bisweilen auch provo- einer zunächst vorgesehenen Komponente des ziert und polarisiert. Seine arbeitsmarktpoli­ Reformpakets : »Wenn das gemacht worden tischen Positionen sind für mich jedoch wenig eutschland

wäre, was Hartz wollte, dann hätte es einen überzeugend. D st I

107 Matthias Wissmann WETTBEWERBSFÄHIGKEIT – DER SCHLÜSSEL ZUM ERFOLG

Matthias Wissmann ist Präsident des Verbands der Automobil­ industrie und BDI-Vizepräsident. Er studierte Jura, VWL und Politik. 1976 – 2007 war er Mitglied des Deutschen Bundestages. In den 1990er Jahren war er zunächst Bundesminister für Forschung und Technologie und dann Bundesminister­ für Verkehr.

Arbeitsplätze fallen nicht vom Himmel. Eben- nicht, dass der internationale Wettbewerb den so wenig können Beschäftigung und Wachs- Druck auf die industrielle Wertschöpfungs­ tum einfach von staatlicher Ebene verordnet kette stetig erhöht, sondern er will Wege auf- werden. Solche planwirtschaftlichen Konzepte zeigen, wie sich die zahlreichen Vorteile und haben sich stets als illusorisch erwiesen. Viel- Chancen des globalen Handels nutzen lassen. mehr gilt : Einzig und allein Unternehmen, die Dabei lehrt er nicht aus den realitätsfernen Hö- sich erfolgreich im internationalen Wettbewerb hen des Elfenbeinturms, sondern er geht den behaupten können, sind in der Lage, dauerhaft ökonomischen Problemen der Praxis auf den ein hohes Beschäftigungsniveau zu gewähr­ Grund. leisten. Diese Betriebe, gerade auch solche des Entsprechend intensiv widmet sich Hans- ? Mittelstands, erwirtschaften erst die finanziel- Werner Sinn während der Regierungszeit len Mittel, die die öffentliche Hand benötigt, Schröders den Ursachen für die hohe deutsche retten um ein tragfähiges soziales Sicherungsnetz auf- Arbeitslosigkeit : Wie kann der arbeitsmarkt- zu spannen zu können. politische Rahmen gestaltet werden, um neues Während diese Kausalität in verteilungspoli- Beschäftigungswachstum zu ermöglichen ? Wel­ noch

tischen Diskussionen allzu gern vernachlässigt chen Beitrag kann die Politik zur Wettbewerbs- wird, ist sie für Hans-Werner Sinn der Aus- fähigkeit des Wirtschaftsstandorts leisten ? Wie gangspunkt seiner arbeits- und sozialpoliti- kann der Kuchen insgesamt vergrößert wer- schen Forschung. Für ihn ist klar : Gegen die den, bevor die Stücke verteilt werden ? Kräfte der Globalisierung lässt sich keine er- Seine Forschungsergebnisse sind wahrlich eutschland

D folgreiche Politik bestreiten. Nostalgie und nicht bequem, zumal er sie stets pointiert zu st I Schlaraffenländer sind ihm suspekt. Er beklagt präsentieren weiß : Ist Deutschland überhaupt

108108 noch zu retten ? Als entscheidende Variable Heute wissen wir : Hans-Werner Sinn hat identifiziert er die Lohnkosten, die aus dem eine klare und zutreffende Analyse für das Ruder gelaufen sind. Die Tarifstrukturen sind deutsche Beschäftigungsproblem geliefert. Die starr, die staatliche Abgabenlast ist erdrückend. strukturellen Reformen zugunsten von Flexibi- Um Produktionsverlagerungen ins Ausland zu lität und Wettbewerbsfähigkeit waren zweifel- verhindern, fordert er tiefgreifende Reformen. los schmerzhaft, aber ebenso unausweichlich. Er empfiehlt, den Kräften von Angebot und Das belegt ein aktueller Blick in unsere euro­ Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt mehr Spiel- päischen Nachbarländer. Hier haben sich die raum zu geben und negativen Anreizwirkun- Arbeitskosten zuletzt ungebremst von der Pro- eformen R gen des Sozialstaats gezielt entgegenzuwirken. duktivität entkoppelt – mit fatalen Auswir­ Das Konzept der »Aktivierenden Sozialhilfe« kungen auf die Wertschöpfung, wie die Pro- ist zweifellos ein wichtiger Diskussionsbeitrag duktionsstruktur der Automobilindustrie zeigt. in der Zeit, in der sich die deutsche Arbeits­ Hierzulande konnte die inländische Produk­ losigkeit ihrem Rekordstand nähert. Natürlich tion von Pkw seit 2000 nicht nur stabil gehal- erzeugen seine Rezepte politisch keine Beifalls- ten, sondern sogar leicht ausgebaut werden. sozialpolitischen stürme. Dennoch finden sie Gehör. So werden Völlig anders dagegen das Bild in Italien : Hier in der Agenda 2010 richtigerweise einige der brach die Inlandsproduktion von 1,4 Millionen und reformpolitischen Überzeugungen Hans-Wer- Einheiten im Jahr 2000 auf 400 000 Fahrzeuge - ner Sinns aufgegriffen. Der Arbeitsmarkt wird im Jahr 2014 ein. Ähnlich in Frankreich : Nach flexibilisiert und das Prinzip des »Förderns 2,9 Millionen Pkw 2000 nur noch 1,5 Millionen arbeits und Forderns« eingeführt. produzierte Einheiten 2014. Zum Vergleich : In die Das Resultat der Reformen kann sich sehen der Slowakei wurden 2014 über 840 000 Autos lassen : Deutschland hat mit einem gemeinsa- gebaut – das sind mehr als doppelt so viele wie und men Kraftakt einen beschäftigungspolitischen in Italien. Im Jahr 2000 lag das Produktions­ Aufschwung erreicht, dem international eine niveau in der Slowakei noch bei 180 000 Ein­ inn S große Aufmerksamkeit zuteilgeworden ist. Die heiten. lohnpolitische Zurückhaltung der Sozialpart- Die Beispiele der südeuropäischen Partner- erner

ner hat den Unternehmen die Luft zum Atmen länder und unsere eigene Erfahrung sollten -W verschafft, die ihnen auszugehen drohte. In der uns Warnung genug sein. Klar ist : Europa kann ans

globalen Finanz- und Wirtschaftskrise haben wirtschaftlich nur eine Zukunft haben, wenn H ? die Entscheidungsträger erneut Seite an Seite es seine Wettbewerbsfähigkeit stärkt. Auch gestanden. In den einzelnen Betrieben wurden Deutschland muss achtgeben. Denn die aktu­ retten innovative und vielfältige Flexibilitätsoptionen ellen Wettbewerbsvorteile sind schneller ver- zu geschaffen, um die Beschäftigung zu stabilisie- spielt als erarbeitet. Um in schlechten Zeiten ren. Die Kurzarbeiterregelung hat sich für die auf eine Ernte zurückgreifen zu können, müs- noch

Stammbelegschaften in der Industrie als eine sen wir in guten Zeiten die Saat in die Erde unverzichtbare Brücke erwiesen. Klug handel- bringen. In diesem Sinne wird Hans-Werner ten die Unternehmen, die Kosten einsparten, Sinn hoffentlich weiterhin seine mahnende zugleich aber nicht ihre Investitionen kürzten. Stimme erheben – sein Sachverstand ist für un- So konnte Deutschland mit seinem starken in- seren Industriestandort Gold wert. eutschland

dustriellen Fundament gestärkt aus dem tiefen D st Konjunkturtal herausfahren. I

109 Ronnie Schöb FÜR EINEN AKTIVIERENDEN SOZIALSTAAT

Ronnie Schöb war von 1989 bis 2000 Mitarbeiter von Hans-Werner Sinn und hat bei ihm promoviert und habilitiert. In arbeitsmarkt­ politischen Fragen war er sich mit Hans-Werner Sinn in der Ursachen­ analyse der Langzeitarbeitslosig- keit weitgehend einig, nicht jedoch bezüglich des besten Lösungs­ weges.

Wer scharf kritisiert, muss zeigen, wie es besser losen ausfällt desto größer die Arbeitslosigkeit. geht ! Deshalb beließen es Hans-Werner Sinn Für Sinn tritt der Sozialstaat damit als Konkur- und seine Koautoren im Mai 2002 nicht dabei, rent der privaten Wirtschaft auf, weil er »an- zu analysieren, was die Arbeitslosenraten von sprechende Löhne fürs Nichtstun auszahlt«. Rezession zu Rezession immer weiter in die Da es in den privaten Unternehmen zu wenige Höhe trieb und einen immer größeren Anteil ­Arbeitsplätze gab, die rentabel genug waren, gering produktiver Arbeitnehmer dauerhaft um einem Vollzeitbeschäftigten einen exis- vom Arbeitsmarkt ausschloss. Vielmehr stell- tenzsichernden Lohn zu zahlen, waren die Un- ten sie gleichzeitig mit der Analyse der Ursa- ternehmen schlicht nicht mehr gegenüber dem chen einen sehr konkreten und detailliert aus- Sozialstaat konkurrenzfähig. ? gearbeiteten Vorschlag einer Aktivierenden Einen Ausweg aus dieser Situation bietet Sozialhilfe der breiten Öffentlichkeit vor. ein Kombilohn, ein staatlicher Lohnkostenzu- retten Für Sinn war der Sozialstaat, so wie er sich schuss, mit dem sich der Keil zwischen den Ar- zu vor den Hartz-Reformen präsentierte, Teil des beitskosten für die Unternehmen und dem Problems, denn die staatlich garantierte, be- Nettoeinkommen für die Arbeitnehmer ver- noch

darfsorientierte Grundsicherung sah vor, dass ringern lässt. Damit werden Unternehmen man nur Anspruch auf staatliche Hilfe hatte, wieder konkurrenzfähiger gegenüber dem So- wenn man nicht arbeitete. Ein solches System zialstaat und stellen wieder mehr Arbeitskräfte vernichtet damit alle Jobs, bei denen man ein, ohne dass deshalb die Nettolöhne fallen ­weniger verdient, als man als Arbeitsloser an müssen. Dieser Grundidee folgend wollte die eutschland

D ­Arbeitslosenunterstützung erhalten konnte. Je Aktivierende Sozialhilfe den Sozialstaat in die st I großzügiger die Unterstützung für die Arbeits- Pflicht nehmen, die Lohnersatzleistungen durch

110110 Lohnergänzungsleistungen zu ersetzen. Nied­ Wissenschaftler desIAB von den Gegnern der rige Lohneinkommen sollten durch Lohnsub- Aktivierenden Sozialhilfe ungleich wohlwol- ventionen aufgestockt werden. Im Gegenzug lender aufgenommen wurde. Dieser Vorschlag sollten die Regelleistungen abgesenkt werden. sah ein »abgabenfreies Grundeinkommen« bis Die Verbindung von abgesenkter Regelleistung zu einer Obergrenze von 750 Euro für Allein- und Lohnsubvention stellt sicher, dass, wer stehende und 1300 Euro für Paare vor. Die Ar- ­Arbeit findet, bei der Aktivierenden Sozialhilfe beitnehmer sollten damit »mehr Netto vom in der Regel mehr Geld mit nach Hause neh- Brutto« bekommen, eine Formel, die sich in men dürfte, als es beispielsweise die heute gel- der Tat sehr gut vermarkten lässt. Dabei wurde eformen R tenden Hartz-IV-Regelungen vorsehen. Wer in der Öffentlichkeit geflissentlich übersehen, keine Arbeit auf dem freien Markt findet, kann dass ein Alleinstehender bei einem Arbeitsein- jedoch weiterhin ein existenzsicherndes Ein- kommen von nur 750 Euro weniger verdient, kommen durch die Aufnahme einer Arbeit in als ihm nach den Alg-II-Regelungen zusteht. einer kommunalen Beschäftigungsgesellschaft Nimmt er jedoch das höhere ergänzende Alg II sicherstellen. Damit stellt er sich finanziell in Anspruch, dann dürfte er von den 750 Euro sozialpolitischen nicht schlechter als zuvor, muss jedoch eine brutto gerade einmal 15 % behalten. Unter dem Gegenleistung erbringen. Strich kommt er dabei auf ein Nettoeinkom- und

Damit die Lohnergänzungsleistungen hel- men, das geringer ist als bei der Aktivierenden - fen, neue Arbeitsplätze zu schaffen, müssen je- Sozialhilfe. Tatsächlich zeigt ein Vergleich, dass doch die Bruttolöhne im Niedriglohnbereich die Niedriglohnbezieher bei diesem Vorschlag arbeits deutlich fallen, denn nur dann sind Unterneh- im gesamten sozialversicherungspflichtigen die men bereit, mehr Arbeitskräfte einzustellen. Niedriglohnbereich mit weniger Einkommen Damit machte sich Sinn keine Freunde, selbst nach Hause gehen würden als bei der Aktivie- und wenn er immer wieder betonte, dass dies kei- renden Sozialhilfe. Die Vehemenz, mit der sich nesfalls zu einem Sozialabbau führen würde, vor allem gewerkschaftsnahe Politiker für die- inn S da die Aktivierende Sozialhilfe sicherstellen sen Vorschlag ausgesprochen haben und sich würde, dass die Beschäftigten einen höheren gleichzeitig gegen den ifo-Vorschlag wehrten, erner

Anteil ihres Bruttogehalts behalten dürften. kann vor diesem Hintergrund nur verwun- -W Um die notwendigen Lohnsenkungen auf dem dern. Aber so läuft es manchmal in der Politik. ans

Arbeitsmarkt durchzusetzen, müsste, so Sinn, Nachtrag : Mit der Einführung des Mindest- H ? der Staat tariffreie Zonen erzwingen, sofern die lohns hat die Aktivierende Sozialhilfe ausge- Tarifparteien nicht mitziehen würden. Das war dient, denn durch Lohnergänzungsleistungen retten für die Gewerkschaften und viele Sozialdemo- lassen sich die Bruttolöhne nicht mehr absen- zu kraten unannehmbar – der Vorschlag wurde ken und damit auch keine neuen Arbeitsplätze als Kampfansage an die Arbeitnehmer ver­ schaffen. So wie ich Hans-Werner Sinn kenne, noch standen und entsprechend heftig politisch be- ist dies Ansporn für ihn, sich mit neuen Vor- kämpft. schlägen dafür einzusetzen, den Sozialstaat Interessant dabei ist, dass der 2006 vorge­ auch in Zukunft dadurch zu stärken, dass knap- legte Alternativvorschlag »Existenz sichernde pe Ressourcen möglichst sinnvoll eingesetzt Beschäftigung im Niedriglohnbereich« des werden. Ökonomen sprechen in diesem Zu- eutschland

Sachverständigen und mehrerer sammenhang von Effizienz. D st I

111 HWS bei der Verleihung des Corine-Buchpreises im Jahr 2004 in München.

Aufzeichnung einer ­Sendung der BR-alpha-­ Sendereihe »Ist Deutschland noch zu retten?« im Münch- ner Gasteig (­Januar 2006).

Zwei Finanzminister und Deutsch- lands führender Finanzwissen- schaftler auf der ifo Jahres­ versammlung im Jahr 2007.

112 ( von links nach rechts ) Wolfgang Wiegard, Paul Kirchhof, N­ ikolaus Piper, und HWS auf der ifo Jahres­versammlung 2004.

ifo Branchen-Dialog 2010: Alle Kurven zeigen nach unten, doch ifo-Chef HWS bleibt guten Mutes.

( von links nach rechts ) Der Wirt- schaftshistoriker Harold James aus Princeton, der ­langjährige Wirtschaftsweise­ Wolfgang ­Wiegard und der ehemalige Sächsische­ Ministerpräsident­ ­Georg Milbradt auf der ifo ­Jahresversammlung 2015.

113 WirtschaftsWoche, 15.10.2012 BASARÖKONOMIE: Hans-Werner Sinn und die 5 Globalisierung Gabriel Felbermayr EINLEITUNG Basarökonomie: Hans-Werner Sinn und die Globalisierung

Gabriel Felbermayr leitet das ifo Zentrum für Außenwirtschaft und ist Professor für Volkswirt- schaftslehre an der Ludwig-Maxi- milians-Universität München. Er wurde vor fünf Jahren nach München berufen und forscht zu Fragen der Handelspolitik und zu den Arbeitsmarkt­effekten der ­Globalisierung.

Deutschland am 25. Oktober 2004 : Das Titel- dass dabei maßgeblich Wertschöpfung in Form blatt des Spiegel zieren ein rostiger Container von Löhnen, Kapitalrenditen oder Steuern im und die Aufschrift Deutschland: Exportwelt - Inland anfällt. Eine solche Entwicklung führt meister (von Arbeitsplätzen). Die Titelstory zu boomenden Exporten und einem stagnie- greift ein scheinbares Paradox auf : Wie kann renden Bruttoinlandsprodukt. Das scheinbare es sein, dass Deutschland mehr exportiert als Paradox ist keines. jedes andere Land der Welt und andererseits Zweitens, auch Exportweltmeistertum und unter einer Rekordarbeitslosigkeit von 5 Mil­ Rekordarbeitslosigkeit stehen in keinem Wi- lionen Personen leidet sowie die rote Laterne derspruch. Hans-Werner Sinn zeigt, dass beide beim Wirtschaftswachstum trägt ? auf das deutsche Kernproblem zurückzuführen Für Hans-Werner Sinn kein Widerspruch – sind : zu hohe Löhne. Für viele Bundesbürger ganz im Gegenteil. In seinem Buch Die Basar­ im Jahr 2004 ist diese These eine Pro­vokation : ökonomie. Deutschland: Exportweltmeister oder Wenn die Löhne zu hoch seien, wie kann dann Schlusslicht? organisiert er seinen Angriff auf die deutsche Wirtschaft so wettbewerbsfähig den selbstgefälligen Exportfetischismus vieler sein, dass kein Land höhere Exporte aufweist ? Zeitgenossen in zwei Wellen. Die Antwort folgt aus dem Standardmodell der Erstens, hohe und wachsende Exporte sind Außenhandelstheorie. Das relativ kapitalreiche nicht zwangsläufig mit hoher heimischer Wohl- Deutschland exportiert kapitalin­ tensive Gü- fahrt und starkem Wirtschaftswachstum ver- ter – Autos, Maschinen, Chemie – und impor- bunden. So exportiert eine als »Basar« organi- tiert arbeitsintensive Güter. Löhne über dem sierte Volkswirtschaft Güter, deren wesentliche markträumenden Niveau schaffen Arbeitslosig- asarökonomie

B Bestandteile sie vorher importiert hat, ohne keit, reduzieren die Beschäftigung und lassen

116116116 das Land noch kapitalreicher erscheinen, als es Seit dem Erscheinen des Buches im Jahr ohnehin ist. Es spe­zialisiert sich notgedrungen 2005 hat sich Deutschland stark verändert : Das noch mehr auf kapitalintensive Exportgüter. Kernproblem des vormals »kranken Mannes Diese pathologische Überspezia­lisierung geht Europas« (Economist), starre und überhöhte einher mit mehr Exporten von Autos, Maschi- Löhne, wurde mit den Hartz-Reformen über- nen, Chemie. Und das alles wegen – und nicht wunden. Dass es zu dieser Wende kam, hat trotz – überzogener Löhne. auch mit Hans-Werner Sinns Gabe zur Provo- Die beiden Punkte stehen in einem engen kation zu tun. Nur so wurden technische volks- Zusammenhang : Die zunehmende Kapital­ wirtschaftliche Argumente zum Gegenstand intensität der heimischen Produktion ist ja nur einer breiten wirtschaftspolitischen Debatte. dadurch möglich, weil die Produktion arbeits- Mit der Entzauberung Deutschlands als Ex- intensiver Zwischenprodukte ins Ausland ver- portwunderland nahm er der Politik und den lagert wird und Deutschland mehr und mehr Wählern die letzten Illusionen und ebnete den zu einer Basarökonomie wird. Für beide Phä- Weg für schmerzhafte Reformen, die die dro- nomene sind zu hohe Löhne ursächlich. hende Deindustrialisierung aufgehalten haben. Vor allem der Begriff des Basars hat die Ge- Heute hat Deutschland nicht mehr die Pole- müter in Deutschland jahrelang erregt. Viele Position in den Exportstatistiken inne. In exportstarke Unternehmen fühlten sich ange- den Wachstumsstatistiken hat sich das Land griffen, weil sie ihre Hightech-Produkte se- aber vorgeschoben : Seit den Weltmeisterjahren mantisch in die Nähe von Ramsch und Trödel 2003 – 2008 hat sich das jährliche Wachstum gerückt sahen. Hans-Werner Sinn in der Finan- von weniger als 1,5 % auf mehr als 2 % pro Jahr cial Times Deutschland (6. Mai 2005) : »In die- (seit 2010) beschleunigt. Die rote Laterne in sem Punkte bekenne ich freilich tiefe Reue und dieser Statistik tragen nun andere. versichere, dass auch mir die deutschen Pro- Das heißt aber noch lange nicht, dass alles dukte sehr leid tun. Ich bitte für meine blas­ gut ist am GeschäftsmodellBRD . Seit einigen

phemische Begriffswahl um Vergebung.« Jahren ist Deutschland wieder Weltmeister : lobalisierung

Was aber die Fakten angeht, so hat Hans- Kein Land der Welt hat einen höheren Leis- G die Werner Sinn ein wichtiges empirisches Phäno- tungsbilanzüberschuss. Doch auch dies ist kein men erstmals belegt. Von 1995 bis heute ist der Anlass für Freudenfeiern. Im Gegenteil : Die und Anteil heimischer Wertschöpfung an den deut- Überschüsse sind kein Anzeichen von Stärke, schen Exporten von circa 74 % auf 63 % abge- sondern resultieren, wie auch der pathologi- inn S sunken. Klar ist : Je höher der Anteil importier- sche Exportboom, aus einer fehlgelei­teten Poli- ter Vorleistungen an den deutschen Exporten, tik. Die Verzerrung der Zinsniveaus durch erner umso weniger eignet sich die amtliche Export- ­verschiedene Maßnahmen der Eurorettungs- -W statistik als Gradmesser wirtschaftlicher Stärke. politik leitet deutsche Ersparnis ins Ausland, ans

OECD und WTO haben dies erkannt und tra- wo sie für den Kauf deutscher Güter auf Pump H : gen dem Phänomen seit zwei Jahren mit einer verwendet wird. An der Werthaltigkeit vieler eigens konstruierten Datenbank Rechnung. dieser Anlagen muss gezweifelt werden. Was es Und die aktuelle wissenschaftliche Forschung heute braucht, ist wieder eine entschlossene bemüht sich um ein besseres Verständnis des Reform. Diesmal hat aber Deutschland sein Wertschöpfungsgehaltes der internationalen Schicksal nicht allein in der Hand. Denn es asarökonomie

Handelsströme. geht um die Reform der Eurozone. B

117 Peter Egger VON VERLAGERUNGS- UND EXPORT­ WELTMEISTERN

Peter Egger ist Inhaber des Chair of Applied Economics: Innovation and Internationalization an der ETH Zürich. Er war zuvor CESifo- Professor für Ökonomie an der LMU München und Bereichsleiter am ifo Institut. Er promovierte an der Universität Linz und habili­ tierte an der Universität Innsbruck.

Das zunehmende Auseinanderklaffen von Brut­ Jahrzehnten lag. Dieser Trend findet darin toproduktionswerten und Wertschöpfung zieht Ausdruck, dass zwar heimisch und insbeson- das Interesse sowohl von Ökonomen als auch dere grenzüberschreitend gehandelte Brutto- von Wirtschaftspolitikern seit etwa zwei De­ produktionswerte über das letzte Vierteljahr- kaden auf sich. Es reflektiert die zunehmende hundert stark stiegen, der dahinterstehende Spaltung der Wertschöpfungskette und die Zuwachs an Wertschöpfung aber wesentlich steigende Arbeitsteilung. Seit der multilate­ geringer war. ralen Handelsliberalisierung im Rahmen der Die OECD und die WTO gemeinsam wid- Uruguay-Runde sowie aufgrund vielzähliger men sich diesem Thema mit einer Initiative, die bilateraler Handelsliberalisierungen im Rah- das Phänomen mit Daten untermauert (Trade men von präferentiellen Handelsabkommen in Value Added). Laut der entsprechenden Sta- findet die Suche nach größerer Effizienz der tistik wuchs die Wertschöpfung zwischen 1995 Produktion zunehmend Rückhalt im interna­ und 2005 bzw. 2010 im Export w­ eltweit um tional arbeitsteiligen Prozess. Die gestiegene 6,4 % bzw. 6,7 % pro Jahr. Für Deutschland Mobilität, nicht nur von Kapital, sondern auch ­lagen diese Zuwachsraten bei 5,0 % bzw. 4,9 % von Arbeitskräften, erhöht den unternehme­ relativ niedriger. Deutschlands Zuwächse lagen rischen Mehrwert, dieser konzentriert sich auch unter denen der EU 15 mit 4,8 % bzw. ­allerdings weniger denn je am Ort multinatio- 4,5 % knapp über und mit 5,2 % und 4,9 % naler Unternehmenszentralen oder dort, wo knapp unter denen der EU 28 im Vergleichs- das Kerngeschäft von sogenannten Industrie- zeitraum. Große Gewinner des Wertschöp- ländern – die nunmehr eigentlich Dienstleis- fungswettlaufs waren über die genannten Pe­ asarökonomie

B tungsländer heißen sollten – noch vor wenigen rioden Ostasien und Südamerika. Dort wurden

118 Wertschöpfungszuwächse im Export von 6,1 % lich stärker an Wertschöpfung gewann, als dies bzw. 8,1 % (Ostasien) und von 13,9 % bzw. 14,7 % für die gesamte Wertschöpfung des Landes – (Südamerika) erzielt. gemessen am Bruttoinlandsprodukt – der Fall Zuwachsraten bei den Wertschöpfungsex- war. Die Reduktion des Wertschöpfungsanteils porten spiegeln einerseits einen Konvergenz- bei den Güterexporten wurde also durch den prozess im Pro-Kopf-Einkommen als auch Zuwachs an Bruttoexporten mehr als kom­ ­Änderungen in der relativen Wertschöpfungs- pensiert. Der Zuwachs von 5,0 % bzw. 4,9 % intensität wider. Daher gewährt ein Blick auf an Wertschöpfungsexporten pro Jahr zwischen die Veränderungen der Wertschöpfungsanteile 1995 und 2005 bzw. 2010 wurde nicht durch bei den Exporten im Vergleichszeitraum zu- ­einen gegenläufigen arbeitssparenden tech­ sätzliche Einsichten. Für Deutschland sanken nischen Fortschritt vollständig kompensiert. diese zwischen 1995 und 2005 bzw. 2010 um 6,5 Noch immer darf also gesagt werden, dass die bzw. 8,5 Prozentpunkte, während diese Anteile Exportwirtschaft – und damit das Ausland – in in der gesamten Welt um 4,7 bzw. 5,4 Prozent- Deutschland netto Arbeitsplätze schafft. punkte abnahmen. Deutschland verlor also Hans-Werner Sinns Diagnose basierte auf stärker an Wertschöpfung am Export als der dem gleichzeitigen Auftreten von Exportboom Rest der Welt. und hoher Arbeitslosigkeit. Die vorhin ge- Die »Exportweltmeister« von ehedem – dar- nannten Zahlen legen nahe, dass Sinns Diag- unter insbesondere Deutschland – werden nose des Auseinanderklaffens von Bruttopro- durch diesen Prozess zunehmend auch zu »Im- duktion und Wertschöpfung im Kern richtig portweltmeistern«, und was vormals von hei- ist, aber den Umstand des gleichzeitigen Zu- mischen Arbeitskräften verdient wurde, landet wachses an Wertschöpfungsexporten und Ar- nun zunehmend in den Taschen der Mitbewer- beitslosigkeit nicht erklären kann. ber in sogenannten Transitionsländern. Hans- Für ein Verständnis der jüngeren Prozesse in Werner Sinn belegte dieses Phänomen mit den Deutschland ist eine geographische Verortung

Begriffen »Basarökonomie« und »pathologi- des Exportbooms und der Arbeitslosigkeit hilf- lobalisierung scher Exportboom«. Trotz rekordverdächtiger reich. Ersterer entstammte wie nach der Wende G die Zuwächse bei den Bruttoexporten kann mit vor allem den alten Ländern, während Letztere dem Wachstum ein Prozess der Aushöhlung überdurchschnittlich in den neuen Ländern und der heimischen deutschen Wirtschaft durch entstand. Damit gründen simultaner Erfolg

Verlust an Wertschöpfung, Beschäftigung und und Misserfolg des Landes zum Teil in der Ko- inn S Lohneinkommen einhergehen. Damit ist der existenz von (noch immer) relativ unproduk­ Zusammenhang »mehr Export, mehr Beschäf- tiverem Arbeitsangebot in den neuen Ländern erner tigung« (bzw. »mehr Einkommen«) möglicher- mit geringer Exportbeteiligung und relativ -W weise gebrochen. produktivem Arbeitsangebot in den alten Län- ans

Freilich ist an dieser Stelle festzuhalten, dass dern mit hoher Exportbeteiligung, bei relativ H : Deutschlands Export an Wertschöpfung zwar ähnlichen Löhnen. Das deutsche Phänomen als Anteil am Bruttoexport abgenommen, aber findet damit wohl mit der Zusammenführung im Gesamtvolumen doch auch stark zugenom- zweier Sinn’scher Thesen eine bessere Erklä- men hat, so dass weiterhin gilt, dass Deutsch- rung als mit nur einer. land durch den Güterexport jährlich wesent- asarökonomie B

119 Wilhelm Kohler HANS-WERNER SINNS THESE DES PATHOLOGISCHEN EXPORTBOOMS

Wilhelm Kohler ist Professor für Internationale Wirtschaftsbezie- hungen an der Eberhard Karls Universität Tübingen. Davor war er Professor an den Universitäten Linz und Essen. Seine Forschungs- schwerpunkte sind die Theorie des internationalen Handels und der Migration sowie Europäische Integration.

Am 2. Juni 1999 titelte der Economist mit Blick In dieser Situation meldete sich Hans-Wer- auf Deutschland »The sick man of the euro«. ner Sinn mit einer provozierenden Hypothese Seit 1993 war Deutschland im Schnitt jährlich zu Wort : Der Exportboom war, so Sinn, kein real um 0,8 Prozentpunkte weniger gewachsen Zeichen deutscher Wettbewerbsstärke, sondern als die anderen EU-15-Länder. Die Arbeits­ erklärbar als Teil der Pathologie des »kranken losenrate lag um 1,1 Prozentpunkte über den Mannes«. Der Boom selbst war gewissermaßen anderen EU-15-Ländern. Bis 2005 stieg der »pathologisch«; nicht ein Zeichen wirtschaft­ ­Abstand von 1,1 auf 4,43 Prozentpunkte; der licher Stärke, sondern ein Symptom der Krank- Wachstumsrückstand stieg auf mehr als einen heit. Prozentpunkt. Sinn trug die These des »pathologischen Ex- Einzig die traditionelle Exportstärke schien portbooms« als theoretischen Exkurs im Zu- Deutschland geblieben zu sein : Von 2000 bis sammenhang mit der Präsentation eines empi- 2005 waren die deutschen Exporte von Waren rischen Befundes vor : Er hatte nachgewiesen, und Dienstleistungen im Durchschnitt jährlich dass von dem 18%igen Zuwachs (1995 – 2003) um 7,4 % gewachsen, im Vergleich zu 5,1 % der des realen Produktionswertes der deutschen anderen EU-15-Länder. Diese ungebrochene Industrie nur ein kleiner Teil (2 Prozent­punkte) Exportstärke schien dagegenzusprechen, dass Zuwachs heimischer Wertschöpfung darstellte, die enorme Zunahme der Arbeitslosigkeit in den größeren Teil machten gestiegene heimi- Deutschland etwas mit überhöhten Löhnen zu sche bzw. ausländische Vorleistungen aus (7 tun haben konnte. Man stand vor einem Rätsel : bzw. 9 Prozentpunkte). Deutsche Firmen kon- Der »kranke Mann« Deutschland, strotzend zentrierten sich auf einen ständig kleiner wer- asarökonomie

B vor Wettbewerbsstärke im Export ? denden Anteil der mit Industrieprodukten ver-

120 bundenen Wertschöpfung. Ähnliches galt für Falle Deutschlands, kapitalintensive Güter ex- die Exporte. Man mag darüber streiten, ob die- portiert, führt das dort zu einem Exportboom. ser Trend mit dem von Sinn geprägten Bild Und dieser ist »pathologisch«, weil er ursäch- Deutschlands als »Basarökonomie« zutreffend lich mit einem überhöhten Reallohn verbun- bezeichnet war. An der Notwendigkeit der da- den ist. mit initiierten Umorientierung hin zur Betrach- Der zweite Punkt beinhaltet eine brisante tung der Wertschöpfungsanteile im internatio- wirtschaftspolitische Botschaft. In dem eben nalen Handel besteht hingegen kein Zweifel. geschilderten Fall kommt es nämlich zu einem Mit diesem Bild der »Basarökonomie« woll- höchst merkwürdigen internationalen Aus- te Hans-Werner Sinn der etwas selbstgefälligen tausch zwischen Ländern mit unterschiedli- Verwendung der Statistik des Exportbooms chen Arbeitsmarktinstitutionen. Das Land mit zur Relativierung der Metapher des »kranken Lohnrigidität »exportiert« die damit implizier- Mannes« auch von empirischer Seite entgegen- ten Veränderungen der relativen Güterpreise, wirken, sozusagen parallel zu seinem theoreti- ja sogar den höheren Reallohn selbst, in Län- schen Argument, dass dieser Boom pathologi- der, die an sich gar keine Lohnstarrheit aufwei- scher Natur sei. sen. Und es »importiert« von diesen Ländern Sein theoretischer Argumentationsstrang be­ das damit verbundene weltweite Überangebot inhaltete zwei Punkte. Der erste war, dass das an Arbeit in Form von Arbeitslosigkeit. Die Argument der boomenden Exporte als Evidenz Preiswirkungen der Lohnstarrheit werden also gegen die klassische Erklärung der enorm internationalisiert, während der damit verbun- ­hohen Arbeitslosigkeit in Deutschland theo­ dene Mengeneffekt – das weltweite Überange- retisch nicht haltbar war. Etwas vereinfacht bot an Arbeit – nationalisiert wird. Das Land ­formuliert, lautet das Argument wie folgt : Ein mit der Reallohnstarrheit zieht die gesamte Ar- über dem Gleichgewichtsniveau liegender Re- beitslosigkeit der Welt auf sich. allohn verursacht zum einen höhere Preise ar- Sinns These des »pathologischen« Export-

beitsintensiver Güter und führt damit zu einer booms ist eine elegante Anwendung etablierter lobalisierung verstärkten Nachfrage nach kapitalintensiven Theorie zur potenziellen Auflösung eines em- G die Gütern. Zum anderen kommt es bei allen Gü- pirischen Rätsels. Offen ist indes der empiri- tern zu einer kapitalintensiveren Produktions- sche Erklärungsgehalt dieses Arguments für und weise. Beide Effekte betreffen in Zeiten der die damalige Situation Deutschlands. Die Situa-

Globalisierung aber nicht nur das Inland, son- tion Deutschlands hat sich ja inzwischen zum inn S dern auch die Handelspartner. Und wenn in Besseren gewendet, aber Sinns Punkt ist grund- den Partnerländern keine Reallohnstarrheit legenderer Natur. Zu wünschen wäre, dass sich erner herrscht, dann ist dort die kapitalintensivere die empirisch orientierten Handelsökonomen -W Produktionsweise mit einer Reallokation in der empirischen Bedeutung jener Mechanis- ans

Richtung arbeitsintensiverer Güter verbunden; men zuwenden, die der Idee des pathologischen H : dadurch bleibt in diesen Ländern Vollbeschäf- Exportbooms zugrunde liegen. Zu zeigen wäre, tigung erhalten. Damit entsteht aber weltweit dass exogene Reallohnerhöhungen in großen eine Überschussnachfrage nach kapitalinten­ Ländern auch in Handelspartnerländern ohne siven Gütern, und diese wird – gewissermaßen Reallohnstarrheit zu Reallohnerhöhungen füh- residual – durch das Land mit Reallohnstarr- ren, gepaart mit einer Reallokation hin zu kapi- asarökonomie heit befriedigt. Und wenn dieses Land, wie im talintensiven Sektoren. B

121 Thomas Fricke EXPORTWUNDER IN DER BASARÖKONOMIE

Thomas Fricke ist Chief Economist der European Climate Founda­ tion, Kolumnist der Süddeutschen ­Zeitung und Leiter des Internet­ portals WirtschaftsWunder. Er war Chefökonom der Deutschland, in der er von 2000 bis 2012 mehr als 500 Folgen seiner Freitagskolumne geschrieben hat.

Als im Spätsommer 2003 Hans-Werner Sinns Die deutsche Wirtschaft stagnierte. Einen Ha- Buch über die deutsche Krise erschien, herrsch- ken hatte die Sache nur : Just als das Buch auf te im Land Untergangsstimmung. Ein paar Mo- den Markt kam, meldete eine Zeitung, dass nate zuvor hatte Kanzler Gerd Schröder seine Deutschland laut amtlicher Statistik im Som- Agenda 2010 vorgestellt. Wenn es um Deutsch- mer 2003 erstmals seit vielen Jahren wieder land ging, war vom letzten Platz die Rede, von mehr exportierte als die USA, nicht weniger. Exportkrise und von immer neuen Rekorden Na so was. Die Nachricht hatten wir bei der bei der Arbeitslosigkeit. Und es verging kein ­Financial Times Deutschland durch Nachre- Sonntag, an dem die Republik nicht bei Sabine cherchieren in den aktuellen Daten zum Welt- Christiansen das eigene Leid beklagte. handel gefunden. Und wir haben damit auf In diese Stimmungslage passte jene rhetorisch ­Seite 1 dann auch aufgemacht : »Deutsche sind wirkende Titelfrage von Hans-Werner Sinns (wieder) Exportweltmeister« – eine Zeile, die Buch : Ist Deutschland noch zu retten ? Da hatte ganz ungewollt am selben Tag erschien, als der Münchner Professor den richtigen Riecher, da Hans-Werner Sinn sein Buch präsentierte. Ich setzte er dem konfusen Gefühl vom Abstieg noch glaube, kurzzeitig war der Professor da nicht so ein ökonomisch elaboriertes obendrauf – und gut auf uns zu sprechen. ward seitdem gefragter Talkshow-Gast. Haupt- Die Frankfurter Allgemeine Zeitung versuch- these : Die Deutschen verlieren ihre Wettbewerbs- te tags darauf die Krisenlaune noch zu retten, fähigkeit. Da können nur noch viel radikalere Re- indem sie andere Zahlen zum Export präsen- formen samt drastisch sinkenden Löhnen helfen. tierte – Deutschland sei doch nicht Weltmeis- Was zum Zeitgeist zu passen schien, war of- ter. Das Problem : Die Kollegen hatten saison- asarökonomie

B fenbar auch durch die Wirklichkeit gedeckt. bereinigte US-amerikanische und unbereinigte

122 deutsche Daten für den August verglichen. Teile ihrer Produktion nach Osteuropa und an- Und im August passiert saisonbedingt – Ferien­ derswohin verlagerten – oder dort zumindest pause – eben relativ wenig. Sinns Reaktion war neue Anlagen schufen. Was Experten weniger da deutlich anspruchsvoller. überzeugte, waren die vermeintlichen Größen- Nun wäre Hans-Werner Sinn ja in der Tat ordnungen – und die Interpretation als tiefes nicht Hans-Werner Sinn, wenn er seine These Krisenphänomen. Wie die amtlichen Statistiker vom abstürzenden Export wegen so einer Sta- damals ermittelten, war der Anteil der impor- tistik einfach zurückgenommen hätte. Zumal tierten Exportgüterteile zwar gestiegen, nur bei die These vom Absturz in den Talkshows über weitem nicht so stark, dass »Made in Germany« Jahre hinweg schier unkaputtbar schien; im dadurch zum reinen Etikettenschwindel ge­ Jammern sind wir ja nun auch Weltmeister worden ist. Seitdem hat sich auch gezeigt, dass (ebenso wie im Hochjubeln, wenn es wie heute deutsche Exporteure sogar deutlich gewonnen plötzlich läuft). Sinns Antwort auf das Export- haben, indem sie ihre Produktions­ketten auf weltmeister-Dilemma folgte schon im Dezem- Niedriglohnländer erweiterten. Zum Vorteil des ber 2003 – ein Aufsatz mit dem Titel : »Basar­ deutschen Arbeitsmarkts – nicht zum Nachteil. ökonomie«. Ein Begriff, mit dem Sinn erneut Es gehört schon, sagen wir, etwas Phantasie Gespür für den damaligen emotionalen Bedarf dazu, die These vom abstürzenden deutschen seiner Landsleute bewies. Nur dass die Sache Export nachträglich als treffend einzustufen. deutlich komplizierter wurde – und für Exper- Mit Abstand betrachtet, drängt sich die Vermu­ ten nicht unbedingt überzeugender. tung eher auf, dass Deutschlands Export 2003 Auch Sinn räumte jetzt ein, dass wir mit un- bereits in einem historischen Boom steckte, der serem Export gar nicht so schlecht dastanden. Mitte der 1990er Jahre eingesetzt hatte (und Nur zähle das nichts mehr. Denn : Deutschland dass die Krise Anfang der 2000er Jahre andere baue da nur seine Position als »Basar der Welt« Gründe gehabt haben muss). Ein Boom, der aus. Was wir da so exportieren, werde »zu vor allem damit zu tun hatte, dass – allen Kos-

wachsenden Wertanteilen in Niedriglohn­ tennachteilen zum Trotz – kein Land eine so lobalisierung ländern vorfabriziert«. Das »Made in Germa- perfekt auf diese Zeit zugeschnittene Export­ G die ny« sei »mehr und mehr Etikettenschwindel«. industrie hatte wie die Deutschen. Die traditio- Grundthese gerettet. nelle Spezialisierung auf hochwertige Maschi- und Das Phänomen hatte zwar weniger mit ei- nen und Fahrzeuge passte einfach zum Bedarf nem orientalischen Basar zu tun, dafür zog der jener rasant aufsteigenden Schwellenländer inn S wenig freundlich daherkommende Begriff pri- wie China, die ihre Wirtschaft erst einmal mit ma. Und Sinn gelang es, das Ding mit lebens- solchen Investitionsgütern ausstatten mussten. erner nahen Beispielen auch einem Nicht-Fachpubli- Alles in allem haben sich die deutschen Ver- -W kum nahezubringen. Da gab es das Auto, dessen käufe rund um den Globus in dieser Zeit glatt ans

Einzelteile im Osten gebaut und in Deutsch- verdoppelt. Was auch die inländische Wert- H : land nur noch montiert würden. Schon schien schöpfung befördert – und eine Menge Arbeits- die Basarvermutung belegt. Im Oktober 2005 plätze geschaffen hat. erschien Hans-Werner Sinns Buch zur These : Aber Hans-Werner Sinn wäre nicht Hans- Basarökonomie. Werner Sinn, wenn er nicht wüsste, dieser Dia- Nun ließ sich auch nicht leugnen, dass deut- gnose mit anspruchsvoller Argumentation zu asarökonomie sche Unternehmen nach dem Fall der Mauer widersprechen. B

123 Michael Heise DIE THESE DER BASARÖKONOMIE: EIN POLITISCHER WECKRUF

Michael Heise ist Chefvolkswirt der Allianz SE. Er berät den Vor- stand der Allianz SE in volkswirt- schaftlichen und strategischen Fragen und ist verantwortlich für die Erstellung von Analysen und Prognosen zur deutschen und internationalen Wirtschafts- und Finanzmarktentwicklung.

Hans-Werner Sinn hat im Jahr 2003 bezogen Globalisierung nicht in Selbstzufriedenheit zu auf Deutschland den Begriff der Basarökono- verharren und sich gegen unumgängliche Re- mie geprägt und damit eine ökonomische De- formen zu wehren. So wurde der selbsterkorene batte ausgelöst, wie wir sie hierzulande bisher Titel des Exportweltmeisters damals vielfach selten erlebt haben. Sie besagt in der Sprache als Beleg der Leistungskraft und Wettbewerbs- des Ökonomen, dass der inländische Wert- fähigkeit Deutschlands gewertet. Hans-Werner schöpfungsanteil an der Industrieproduktion Sinn ist es gelungen, dieses Exportmärchen zu zugunsten des Auslands fällt und in Deutsch- entzaubern und den Blick auf die strukturellen land überwiegend die kundennahen Endstufen Schwächen Deutschlands und sein unzuläng­ der Produktion verbleiben. In der Öffentlich- liches Wirtschaftswachstum zu lenken. Der in keit wurde die Bezeichnung Deutschlands als der ersten Hälfte des vergangenen Jahrzehnts in Basarökonomie natürlich als eine Grundsatz- Gang gekommene Reformprozess in Deutsch- kritik am Wirtschaftsmodell Deutschland ver- land hat durch ihn Unterstützung erhalten. standen, einem Wirtschaftsmodell, das mit An der fachlichen Diskussion um die Basar­ ­Inflexibilität auf die Herausforderungen der ökonomiethese nahmen neben vielen Einzel- Globalisierung reagiere. Deutschland sei zwar stimmen auch das Statistische Bundesamt und im Export stark, schaffe das aber nur, weil es der Sachverständigenrat teil. Immerhin ging gleichzeitig Arbeitsplätze in billigere Standorte der Sachverständigenrat auf das Thema Basar­ exportiere. ökonomie in einen Abschnitt von über zehn Aus meiner Sicht war Sinns These in erster Seiten in seinem Jahresgutachten 2004/05 ein. Linie ein Weckruf an alle wirtschaftlich und Selten hat sich der Rat mit der These eines Öko- asarökonomie

B politisch Verantwortlichen, in einer Zeit der nomen wohl in einer so ausführlichen Analyse

124 auseinandergesetzt. Allein dies ist eine Aner- tem nicht mehr so schnell wie in den 1990er kennung. Jahren. In den letzten Jahren konnte sich der In der Diskussion zeigte sich, dass der Be- An­teil sogar stabilisieren. Bei alledem hat griff Basarökonomie – wenig überraschend – Deutschland einen sehr hohen Leistungsbi­ unterschiedlich interpretiert und somit der lanzüberschuss und einen hohen Kapitalexport These dementsprechend zugestimmt oder wi- ins Ausland. dersprochen werden konnte. Zudem brachte Können wir also das Thema Basarökonomie die Debatte eine Reihe von wenig beachteten zu den Akten legen ? Trotz aller Erfolge am Ar- Indikatoren wie beispielsweise den Import­ beitsmarkt in den letzten Jahren ist ein unüber- anteil der Exporte und die exportinduzierte sehbares Manko in unserer Wirtschaft ge ­ Wertschöpfung in den Mittelpunkt des Interes- blieben : Die Investitionstätigkeit im Inland ses, die sonst wohl nicht so intensiv analysiert lässt nach wie vor zu wünschen übrig, so be- worden wären. Über ein Fazit der Debatte wegt sich die Investitionsquote bei Ausrüs- dürfte aus meiner Sicht weitgehend Konsens tungsgütern nahe langjährigen Tiefständen. bestehen : Die Tendenz als solche, in einer glo- Gleichzeitig erhöhten inländische Unterneh- balisierten Ökonomie Teile der Wertschöp- men ihre Direktinvestitionen im Ausland 2014 fungsketten in ausländische Unternehmenstei- um 88,7 Mrd. Euro, während ausländische Un- le zu verlagern (Offshoring) und bei Zulieferern ternehmen die Direktinvestitionen in Deutsch- im Ausland zu kaufen (Outsourcing), ist in ei- land ­lediglich um 5,5 Mrd. Euro steigerten. ner immer stärker globalisierten Ökonomie Der Netto­kapitalabfluss bei Direktinvestitio- eine Selbstverständlichkeit. Sie ist für sich ge- nen ist also nach wie vor gewaltig und wirft nommen nicht problematisch, es sei denn, sie kein ­po­sitives Licht auf den Wirtschaftsstand- geht (wie 2003 in Deutschland) mit einer ho- ort Deutschland. Ein Land, das in hohem Maße hen Arbeitslosigkeit und einer ausgeprägten (per saldo) Kapital exportiert, muss auch in der Investitionsschwäche im Inland einher. Leistungsbilanz erhebliche Überschüsse auf-

Rund zehn Jahre nach der Debatte um die weisen. Solche Überschüsse im Güterhandel lobalisierung

Basarökonomie hat sich viel in der Weltwirt- sollten also nicht als Ausdruck der Stärke fehl- G die schaft und in Deutschland verändert. Deutsch- interpretiert werden. land scheint – anders als der Begriff der Basar­ Leider dominieren in der öffentlichen und und ökonomie andeutet – wirtschaftlich voller Kraft der wirtschaftspolitischen Diskussion in zu sein. Wir haben die rote Laterne abgegeben, Deutschland Fragen der Einkommensvertei- inn S das Wirtschaftswachstum beschleunigen kön- lung. Überlegungen, wie wir unseren Standort nen und liegen nun unter den Industrieländern attraktiver machen und die Einkommen der erner im guten Mittelfeld. Die Arbeitslosigkeit ist im Zukunft sichern können, spielen dagegen eine -W internationalen Vergleich heute klar unter- nur untergeordnete Rolle. Es wäre gut, wenn es ans

durchschnittlich, in der Europäischen Union nicht einer erneuten Krise bedürfte, um diese H : ist Deutschland sogar das Land mit der nied- Diskussion und wirtschaftspolitische Refor- rigsten Arbeitslosenquote. Der inländische men zu initiieren. Provokant kritische Stim- Wertschöpfungsanteil an der Industrieproduk- men wie die von Hans-Werner Sinn sind daher tion ist angesichts der zunehmenden interna­ unverzichtbar. Er hat es immer wieder ver- tionalen Arbeitsteilung seit Anfang des letzten mocht, Weckrufe an die Politik zu senden. asarökonomie

Jahrzehnts weiter gesunken, allerdings bei wei- B

125 Rupert Stadler ERFOLG AUF DEM BASAR

Rupert Stadler ist seit 2007 Vor- standsvorsitzender der Audi AG. Er lehrt strategische Unterneh- mensführung an der Universität St. Gallen und an der TU München. 2015 hat ihn der Verband der ­Hochschullehrer für Betriebs­ wirtschaftslehre (VHB) zum Wissen­ schaftsorientierten Unternehmer des Jahres gewählt.

Manager und Wirtschaftswissenschaftler – oft heute nicht an Aktualität eingebüßt und bleibt eine Beziehung mit Hürden. Uns Entscheidern messerscharf : Die Fertigungstiefe – der Anteil der Praxis erscheint graue Theorie oft abstrakt. inländischer Wertschöpfung an der Industrie- In unserem Geschäft spielt praktische Erfah - produktion – geht Jahr um Jahr zurück. Die rung, gepaart mit gesundem Bauchgefühl, eine Exportwertschöpfung deutscher Unternehmen dominante Rolle. Dennoch ist Theorie eine in anderen Regionen nimmt deutlich zu. Zu- wichtige Grundlage unserer hochentwickelten dem wachsen die Exporte schneller als die Ökonomie. Damit die Wirtschaftswissenschaft ­Binnenwirtschaft. Dies veranlasste Sinn bereits nicht im Elfenbeinturm eingesperrt bleibt, da- zu Beginn des Jahrtausends, von einem »patho­ mit Theorie und Praxis miteinander reden, logischen Exportboom« zu sprechen : Deutsch- dazu bedarf es Persönlichkeiten wie Hans- land nannte sich damals noch stolz »Export- Werner Sinn. Er schlägt Brücken und zwingt weltmeister« und war zugleich auf bestem mit provokanten Thesen Praxis und Politik zur Wege, der kranke Mann Europas zu werden. Stellungnahme. Dabei fühlt er unserer Ökono- Wie auf einem orientalischen Basar drohten mie den Puls, stellt exakte Diagnosen, formu- wir, zu erfolgreichen Händlern von Waren zu liert klare Empfehlungen zur Behandlung des werden, die außerhalb Deutschlands herge- Patienten. Für mich sind seine Analysen ein stellt sind und dort Arbeitsplätze schaffen. Gewinn. Hans-Werner Sinn seziert die Wirk- Das Bild der Basarökonomie ist provokant, lichkeit. Und er verändert sie. denn die aufgeworfenen Fragen bergen sozia- Ein herausragendes Beispiel ist für mich sei- len Sprengstoff. Hängen wir etwa bestimmte ne volkswirtschaftliche Hypothese der »Basar­ Gesellschaftsschichten vom Wohlstand ab, weil asarökonomie

B ökonomie«. Seine Analyse von 2003 hat bis wir Deutschland zu einer Art Basar für Güter

126 aus ausländischer Wertschöpfung degenerie- Der Beste setzt sich durch. Dieses Prinzip ist ren ? Wer in unserem Land Verantwortung trägt, uns von den Automeilen am Rand der Groß- dem muss so ein Szenario Sorgen bereiten. städte vertraut. In einem internationalen Fer­ Hans-Werner Sinns Analyse hat damals heftige tigungsverbund geht es neben zollrechtlichen Diskussionen angestoßen, vielen die Augen ge- Vorgaben wie einer Mindestwertschöpfung vor öffnet und am Ende die Handelnden bewegt. Ort auch um Kosteneffizienz und Flexibilität. Am Arbeitsmarkt ist seither viel geschehen. Das ist ein wichtiger Grund, warum Audi von Gezielte Lohnzuschüsse, Aktivierende Sozial- China bis Brasilien, von Mexiko bis Belgien, hilfe und eine längere Lebensarbeitszeit sind von Deutschland bis Indonesien weltweit fer- nur drei Beispiele für den Bewusstseinswandel tigt. Die Zahlen müssen stimmen. Doch sie in der Sozialpolitik, den der Chef des ifo Insti- sind nicht das entscheidende Erfolgskriterium. tuts angestoßen hat. Auf Arbeitnehmerseite ist Der A8 von Hans-Werner Sinn ist in Neckar­ eine neue Flexibilität entstanden, die den In- sulm vom Band gefahren. Deutsche Ingeni- dustriestandort Deutschland wieder attraktiver eurs- und Handwerkskunst sowie deutsche machte. Beides zusammen hat die Jobmaschine Maßstäbe stützen unser Markenversprechen auch in der Autobranche im vergangenen Jahr- weltweit. Vorsprung durch Technik erlebbar zehnt in Schwung gebracht. Bei Audi haben wir zu machen ist unser Geschäftsmodell. Daraus seit 2004 allein in Deutschland 11 500 neue ziehen wir unseren Return on Investment. ­Arbeitsplätze geschaffen. Dies hat unser globa- Und zwar international, mit einer Exportwert- les Wachstum ermöglicht – und nicht etwa ver- schöpfung, um die uns die Welt beneidet. hindert. Um die Aufgaben zu Hause muss sich die Niemand wünscht sich einen Basar, von dem deutsche Wirtschaft auch kümmern, damit un- Teile der einheimischen Bevölkerung ausge- sere Binnenwirtschaft an Kraft gewinnt, damit schlossen sind. Wir sind stolz darauf, dass sich viele Jobs entstehen und damit die Wohlstands- 2015 im ersten Quartal 73 208 Menschen allein basis erhalten bleibt. Dass unser Land heute

in Deutschland für einen neuen Audi entschie- besser dasteht, ist auch das Verdienst eines zu- lobalisierung den haben – das ist ein Sechstel aller Audi- weilen unbequemen Denkers wie Hans-Wer- G die Kunden weltweit. Wir sind glücklich, dass sich ner Sinn. auch Hans-Werner Sinn persönlich für einen Gerade in der Politik neigen manche Akteu- und Audi A8 begeistert – er hat eben Gespür für re dazu, die Sinn’sche Medizin wieder zu ver-

Qualität. Gerade unser Flaggschiff unter den wässern. Ich hoffe auf eine neue »Deutsche inn S Limousinen ist im Spiegel der Diskussion um Rede«, wie Professor Sinn sie 2003 in Neuhar- die »Basarökonomie« ein interessantes Beispiel denberg gehalten hat, in der er erstmals den erner für Globalisierung bei uns. Denn seine Neu­ Begriff der Basarökonomie prägte. -W auflage als Langversion haben wir von Peking Übrigens : Es gibt noch einen guten Grund, ans

aus der Welt vorgestellt, auf die Bedürfnisse warum Hans-Werner Sinns Analysen so be- H : des chinesischen Kunden zugeschnitten. deutend für Deutschland sind : Er formuliert Handeln wie im Orient, das ist Marktwirt- und verteidigt sie mit Leidenschaft. Wenn alles schaft pur : viele Anbieter mit vergleichbarer andere stimmt, dann entscheidet genau diese Ware, in einer engen Gasse direkt nebeneinan- Passion letztlich über den Erfolg. Das gilt für der. Angebot, Nachfrage, Qualität und Über- die ökonomische These genauso wie für einen asarökonomie zeugungskraft bestimmen allein über den Preis. Audi A8 – auf dem Basar der besten Angebote. B

127 Manfred Wittenstein HANS-WERNER SINN: PARTYKILLER MIT GUTEM GRUND

Manfred Wittenstein ist Aufsichts- ratsvorsitzender der WITTENSTEIN AG, Weltmarktführer auf dem ­Gebiet der mechatronischen ­Antriebstechnik. Der ehemalige Präsident des VDMA und BDI-Vize- präsident ist »Entrepreneur des Jahres« und Mitglied in der Hall of Fame der weltbesten Unternehmer.

Das Typische am »Geschäftsmodell Deutsch- sourcen zu bleiben und innovative Spitzen­ land« ist der starke industrielle Kern der Wert- leistung in Wohlstand und Beschäftigung um- schöpfung insgesamt sowie die auffallend zumünzen. Auch für die kommenden Genera- hohe Weltmarktorientierung der einschlägigen tionen soll dies eine realistische Perspektive, Branchen. Der Erfolg beruht dabei oft auf wis- eine mögliche Zukunft sein. sensintensiven und individualisierten Lösun- Gerade deshalb ist es mehr als fahrlässig, gen, die in einer eng vernetzten Landschaft aus wenn wir uns selbst feiern und bei der Party Wirtschaft und Wissenschaft günstige, schwer den Blick für Risiken und Gefahren verlieren. kopierbare Voraussetzungen finden. Selbstver- So wird in der Tat nach wie vor und allzu oft die ständlich ist dieser Erfolg jedoch nicht, er muss internationale Wettbewerbsfähigkeit Deutsch- täglich neu errungen werden. Die Globalisie- lands mit ein paar oberflächlichen Zahlen der rung sowie technologische Entwicklungen stel- Außenhandelsstatistik und zum Bruttoinlands­ len bestehende Netzwerke auf den Prüfstand – produkt bewiesen. Die Logik dabei ist ebenso zunehmend mobile Produktionsfaktoren wie einfach wie einleuchtend : Beeindruckende Ex- Kapital und Wissen, rasant sinkende Trans­ porterfolge und ein im internationalen Ver- aktionskosten und die Grenzenlosigkeit von gleich relativ hoher Wertschöpfungsanteil der Produzenten- und Konsumentenentscheidun- Industrie am Bruttoinlandsprodukt zeigen gen strafen Defizite über kurz oder lang ab. doch eindeutig, dass wir der große Profiteur Nur durch ein intelligentes und verantwor- der Globalisierung und offenkundig auf den tungsvolles Miteinander von Wirtschaft, Wis- Weltmärkten auch nicht zu teuer sind ! Einfach senschaft, Politik und Gesellschaft wird es einleuchtend und einleuchtend einfach – aber asarökonomie

B ­gelingen, als Standort attraktiv für knappe Res- leider einfach falsch. Zum Teil erfolgen die In-

128 terpretationen vorsätzlich unwahr, größtenteils stufen der Fertigung beschränkt, der Rest suk- jedoch fehlt es wohl schlicht an einem hin­ zessive über Outsourcing und Offshoring ab- reichenden Verständnis, an substanzieller Be- gewickelt wird. Dann haben wir zwar womög- schäftigung mit der Materie. Die schönen Zah- lich – zumindest für einige Zeit – erfolgreiche len sind das Morphium, das den Blick auf die Unternehmen und hübsche Exportstatistiken, Wahrheit und den dringenden Handlungs­ aber immer weniger Wertschöpfung, die zu bedarf vernebelt. Wohlstand und Beschäftigung bei uns im Land Und ich gebe es zu : Sowohl für mein eigenes führt, zumindest in der Breite. Denn vielfälti- Unternehmen als auch meine Branche, den ge strukturelle Verkrustungen sorgen für man- Maschinen- und Anlagenbau, hatte ich lange gelnde Flexibilität, gerade auch auf dem Ar- ebenso eine leicht vernebelte Sicht. Als Hans- beitsmarkt – und ebendort liegt die wahre Werner Sinn mittlerweile schon vor vielen Jah- ­Antwort auf die Frage, ob Deutschland Globa- ren dann sehr exponiert auf den Nebel hinwies lisierungsgewinner ist. Man muss erkennen : und ihn vertreiben wollte, da war das auch Nicht alle Arbeitnehmer geraten gleicherma- für mich zunächst etwas irritierend. Aber es ßen unter die Räder, sondern vor allem solche, ­gelang – mit starken Begrifflichkeiten wie »Ba­ die einfachere Tätigkeiten ausüben. Das öko- sar­ökonomie« und »pathologischer Export- nomische Gesetz des Faktorpreisausgleichs boom« –, mein weiterführendes Interesse zu lässt sich politisch nicht aushebeln, allenfalls wecken und eine inhaltliche Auseinanderset- teuer und zu Lasten einzelner Arbeitnehmer- zung und damit Erkenntnis zu provozieren. Ich gruppen temporär vertuschen – oft sogar noch kann mich noch gut an meine ersten Gesprä- mit dem Argument, gerade diejenigen schüt- che und Schriftwechsel mit Hans-Werner Sinn zen zu wollen, die es dann nachher mit voller zu diesen Themen erinnern, und ich weiß aus Wucht trifft. Ein klein wenig Morphium macht eigener Erfahrung : Hans-Werner Sinn ist un- das Ganze noch leichter. bequem, er möchte überwunden werden, mit Die Unternehmen sind gefordert, durch in-

Argumenten, er bietet es an, und er macht es novative Produkte und Dienstleistungen – auch lobalisierung sich selbst dabei niemals leicht. Genau so ent- fundamentale Geschäftsmodellinnovatio­nen – G die stehen Mehrwert, Erkenntnis und die Bereit- dem globalen Wettbewerbsdruck die Stirn zu schaft, etwas zu unternehmen – wenn man sich bieten. Die Politik ist gefordert, den rechtlich- und darauf einlässt. institutionellen Rahmen so zu setzen, dass die

Und unsere Gesellschaft muss sich auf diese notwendigen und ökonomisch sinnvollen Spe- inn S (und weitere) Diskussionen dringend einlas- zialisierungsvorteile dabei nicht zwangsläufig sen, um zukunftsfähig zu bleiben. Denn wir mit einer Entkopplung der Wettbewerbsfähig- erner haben längerfristig nichts davon, wenn unsere keit von Branchen, Unternehmen und Arbei- -W Industrie in dem oben skizzierten Sinne erfolg- tern einhergehen. Wir dürfen es nicht zulassen, ans

reich ist, allerdings dies mehr und mehr da- dass die Globalisierung ganze Bevölkerungs- H : durch, dass flächendeckend die Kapitalintensi- gruppen vom Rest der Gesellschaft abkoppelt. tät der Produktion nach oben geschraubt wird, Globalisierung erfolgreich meistern heißt auch, nur noch sach- und humankapitalintensive möglichst alle daran zu beteiligen. Das hat uns Sektoren überlebensfähig sind und sich zudem Hans-Werner Sinn dorthin geschrieben, wo es die Wertschöpfung zunehmend auf die End- hingehört : hinter die Ohren ! asarökonomie B

129 Ilse Aigner DIE GLOBALISIERUNG ALS ERFOLGSFAKTOR FÜR BAYERN

Ilse Aigner ist seit Oktober 2013 Bayerische Staatsministerin für Wirtschaft und Medien, Energie und Technologie sowie Stellver­ tretende Ministerpräsidentin. Sie ist Mitglied des Bayerischen Landtags. Von 2008 bis 2013 war sie zudem Bundesministerin für ­Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz.

»Die zunehmende weltweite wirtschaftliche Jährlich neue Exportrekorde, florierender ­Integration kann für Deutschland auch im Handel mit den neuen EU-Beitrittsländern in 21. Jahrhundert eine Erfolgsstory werden, wenn Osteuropa sowie mit vielen aufkommenden wir uns wieder mehr auf unsere Stärken be­ Märkten weltweit – und das alles ohne die be- sinnen und anpacken. Wir haben im globalen fürchteten Arbeitsplatzverluste. Das zeigen die Wettbewerb nach wie vor gewaltige Potenziale, Zahlen sehr deutlich : 3,8 % Arbeitslosenquote gerade hier in Bayern : eine breite Schicht enga- im Jahr 2014 und immer neue Rekordwerte gierter, leistungsfähiger Unternehmen; qualifi- bei den sozialversicherungspflichtig Beschäf- zierte Arbeitnehmer; auf breiter Front gute bis tigten in Bayern sprechen klar dagegen, dass sehr gute Forschungskapazitäten; eine Präsenz die g­lobale Wettbewerbsfähigkeit der bayeri- auf den Weltmärkten wie wenige andere Län- schen Wirtschaft auf Kosten der Arbeitsplätze der.« Diese Einschätzung stammt vom damali- hierzulande ausgetragen wurde. gen bayerischen Wirtschaftsminister Otto Wies­ Hinzu kommt, dass sich die Deindustriali- heu, als er im Herbst 2004 an den Münchner sierungsbefürchtungen für Bayern bisher nicht Seminaren von CESifo und der Süddeutschen bewahrheitet haben. Die Bruttowertschöpfung Zeitung teilgenommen hat. im Verarbeitenden Gewerbe lag in Bayern im Gut zehn Jahre später kann ich diesen Blick Jahr 2013 mit 25,8 % sogar über dem Wert von eines meiner Amtsvorgänger auf Deutschlands 1995. Auch Deutschland insgesamt konnte sich und Bayerns Chancen durch die Globalisie- gegen den Trend wehren, der viele andere tra- rung nur bestätigen. Gerade das letzte Jahr- ditionelle Industrieländer getroffen hat. Mit zehnt hat gezeigt, welche Erfolgsgeschichte die Thailand, Korea und China weisen derzeit nur asarökonomie

B Globalisierung für Bayern schon ist. drei Wettbewerbsländer Bayerns einen noch

130 höheren Industrieanteil an der Wertschöpfung derungen und Trends rechtzeitig zu erkennen auf. und anzugehen. Dies wird uns auch bei der Hans-Werner Sinn hat beim Thema Globa­ Digitalisierung ge­lingen. lisierung insbesondere mit seiner Theorie zur ƒƒ Die wirtschaftlichen Vorteile der Globalisie- Basarökonomie vor gut zehn Jahren für Auf­ rung beruhen auf den Wohlfahrtsgewinnen sehen gesorgt. Etliche Studien zeigen durchaus durch den freien internationalen Handel. Es auch aktuell : Die Internationalisierung der wäre deshalb geradezu fahrlässig, wenn wir Wertschöpfungsketten hat deutlich zugenom- die Potenziale von TTIP nicht nutzen wür- men. Gerade im exportstarken Verarbeitenden den, die nicht zuletzt auch die Studien des ifo Gewerbe sehen wir, dass der aus dem Ausland Instituts aufzeigen. Die USA sind nach wie importierte Anteil an Vorleistungsgütern nach vor Bayerns wichtigster Exportmarkt. Der wie vor sehr hoch ist. Nicht zuletzt durch Lohn- Abbau tarifärer und nichttarifärer Handels- zurückhaltung in Folge der Agenda 2010 ist es hemmnisse ist – bei entsprechender Berück- uns jedoch gelungen, den Verlust an Arbeits- sichtigung unserer europäischen, deutschen plätzen zu begrenzen. Daneben haben die hohe und bayerischen Schutzstandards – eine gro- Innovationskraft und Forschungsintensität der ße Chance, insbesondere auch für viele bay- bayerischen Industrie dabei entscheidend ge- erische Mittelständler. holfen. Dass wir um so viel besser sein müssen, ƒƒ Wir müssen uns in Deutschland wieder wie wir teurer sind, hat insbesondere die baye- für mehr wirtschaftspolitische Impulse und rische Wirtschaft schon lange verinnerlicht. an­ reizkompatible­­ Standortvoraussetzungen Wie können wir sicherstellen, dass die bis­ für unsere Unternehmen einsetzen. Auf viele herigen Erfolge durch die Globalisierung auch Rahmenbedingungen der Globalisierung in Zukunft erhalten bleiben ? Wie können wir haben wir nur wenig Einfluss. Aber die Mög- die deutsche und bayerische Wettbewerbs­ lichkeiten zur Stärkung der Wettbewerbs­ fähigkeit unter fortschreitender Internationa­ fähigkeit, die wir in Deutschland haben,

lisierung der Wertschöpfungsketten auch in sollten wir stärker nutzen. Ordnungspoliti- lobalisierung

Zukunft sichern ? sche Prinzipien wie »Verantwortung und G die Ich will hier auf einige Aspekte eingehen : Haftung«, »Erwirtschaften kommt vor dem ƒƒ Den aktuellen Megatrend Digitalisierung Verteilen« sowie »Eigeninitiative und Risiko­ und müs ­sen wir in allen Wirtschaftsbereichen und bereitschaft« müssen sich wieder stärker in

in der Arbeitswelt so fördern, dass die hohen den politischen Maßnahmen in Deutsch- inn S Wertschöpfungspotenziale in diesem Bereich land widerspiegeln. tatsächlich umgesetzt werden. Wir werden erner deshalb Forschung und Entwicklung in wich- Ich bin mir sehr sicher, dass ich bei diesen An- -W tigen Schlüsselfeldern der Digitali­sierung wie liegen in Hans-Werner Sinn einen Mitstreiter ans

Industrie 4.0, vernetzte Mobilität, digitale Ge- habe. Und auch nach der ifo-Präsidentschaft H : sundheit, Energie und Bildung voranbringen. wird er sich zu all diesen Themen weiterhin Gleichzeitig wollen wir unsere mittelständi- kompetent, ohne Konfliktscheue und sehr au- schen Betriebe bei der Suche nach neuen Pro- thentisch zu Wort melden – so wie wir ihn duktionsprozessen und Geschäftsmodellen eben kennen und schätzen. Und so wie wir unterstützen. Bayern hat sich schon immer ihn auch in Zukunft als wirtschaftspolitischen asarökonomie

dadurch ausgezeichnet, die neuen Herausfor- Mahner und Berater gerne erleben wollen. B

131 John Whalley HANS-WERNER SINN UND DIE GLOBALISIERUNG

John Whalley ist Direktor des Centre for the Study of Inter­ national­ Economic Relations (CSIER) an der Western University in Kanada. Er ist Distinguished Fellow des Centre for International Govern­ance Innovation (CIGI) und Direktor der CESifo Area on Global Economy.

Während seiner langen und illustren wissen- die zunehmende grenzübergreifende ökono- schaftlichen Karriere hat Hans-Werner Sinn mische Integration von freierem Handel von auf vielerlei Art und Weise zur Globalisie- Gütern, Dienstleistungen, Kapital und Arbeits- rungsdebatte beigetragen. Natürlich hat der kräften bis hin zu integrierten Kommunika­ Begriff Globalisierung in unterschiedlichen tionssystemen. Freihandel, so Hans-Werner Disziplinen unterschiedliche Bedeutung, doch Sinn, wird als Synonym für Globalisierung die allumfassenden Auswirkungen sind bereits wahrgenommen. seit langem Thema in Sinns Arbeiten. Für Allerdings handelt es sich bei der Globalisie- Po­ ­litikwissenschaftler bedeutet Globalisierung rung laut Sinn auch um einen langfristigen eine Schwächung inländischer Institutionen Prozess, für dessen Erfolg noch viel getan wer- und eine progressive Übertragung von Autori- den muss. In den Nachkriegsjahren erlebten tät auf transnationale oder globale Instanzen. wir zwar eine progressive Verringerung der Sie ist das moderne Äquivalent des marxisti- Handelshemmnisse für Industriegüter, in den schen Absterbens des Nationalstaates oder, an- Bereichen Landwirtschaft und Dienstleistun- ders ausgedrückt, der nächste Schritt nach dem gen bestehen hingegen weiterhin große Barrie- Westfälischen Frieden und 200 Jahren Natio- ren. Wie die jüngste Literatur zu Handelskos- nenbildung. Für Soziologen bedeutet Globali- ten außerdem betont, ist eine Verminderung sierung die Vermischung und Verschmelzung der tarifären Handelshemmnisse allein nicht diverser Kulturen, Sprachen und Gesellschafts- ausreichend, um alle Vorteile der Globalisie- systeme. Globalisierung weist also in Richtung rung zu realisieren. Andere Handelsbarrieren der Entstehung einer einzigen allumfassenden wie Sprache, Transportkosten und Produkt- asarökonomie

B Monokultur. Für Ökonomen schließlich ist es bzw. Prozessstandards (und Regulierung im

132 Allgemeinen) bleiben bestehen und segmen- geprägten »Beggar thy neighbour«-Politik der tieren die Märkte nach wie vor. Zwar mögen 1930er Jahre. Die Kräfte des nationalen Interes- die Kapitalmärkte der OECD-Länder eng inte- ses, die der Literatur zufolge solchen Vergel- griert sein, doch der chinesische Renminbi und tungsmaßnahmen zugrunde liegen, wurden die indische Rupie sind nach wie vor nicht durch die Globalisierung geschwächt. Dies ­vollständig konvertibel. Im Hinblick auf die Ar- zeigt sich vor allem im grenzübergreifenden beitsmärkte führen Beschränkungen bei Visa- Kapitalbesitz, der eine Vergeltungspolitik un- und Arbeitsgenehmigungen zu starken Markt- rentabel macht. Des Weiteren erlaubt das segmentierungen. Als Integrationsprozess, wie ­Heranwachsen neuer Volkswirtschaften im Sinn betont, ist Globalisierung ein andauern- Vergleich zu den 1930ern eine ökonomische der Vorgang und wird dies vermutlich auch Diversifizierung, die die Wirkung und damit noch viele Jahrzehnte bleiben. die Vorteile bilateraler Abschottungsmaßnah- Globalisierung ist außerdem ein Prozess, der men reduziert. sowohl Umkehr als auch Fortschritt bedeutet. Auch zur Diskussion um die verschiedenen So können rigide Regeln auf den Arbeits­ Teilaspekte der Globalisierung hat Hans-Wer- märkten als Antwort auf grenzüberschreitende ner Sinn wesentliche Beiträge geleistet. Einer ­Arbeitnehmerströme den Vorteil der Globali­ davon ist die »Glokalisierung«. Dieser Begriff sierung ins Gegenteil verkehren. Gleichzeitig beschreibt eine Welt, die gleichzeitig globaler wird der Nutzen sinkender Zölle durch die und lokaler wird. Auf ökonomischer Ebene be- ­zunehmende Verwendung spezieller Antidum- obachtet man eine stetig tiefer greifende In­ pingzölle unterminiert. tegration in immer größeren Einheiten – bei- Natürlich hat Globalisierung auch ihre spielsweise die EU und NAFTA. Auf politischer schlechten Seiten, die von Sinn – zusammen Ebene gibt es hingegen einen Drang hin zur mit möglichen Abhilfen – offen diskutiert wer- Fragmentierung politischer Strukturen in klei- den. Ein klarer Nachteil ist die Ausbreitung von nere Einheiten. So gibt es die Schotten und ihre

Schocks über Landesgrenzen hinaus in Form Unabhängigkeitsbewegung, das britische Refe- lobalisierung des Ansteckungseffekts. Die Finanzkrise 2008 rendum zur EU-Mitgliedschaft, Quebecs mög- G die machte diese Gefahr deutlich und zeigte außer- liche Abspaltung von Kanada sowie den Ver- dem die Notwendigkeit einer globalen Finanz- such Kataloniens und des Baskenlandes, mehr und aufsicht. Sinn war stets in der vordersten Reihe Autonomie gegenüber Spanien zu erlangen. bei der Forderung nach entsprechenden Refor- Hans-Werner Sinn hat stets betont, wie wichtig inn S men. Ein weiterer negativer Aspekt, der oft mit es ist, bei der Globalisierung die Rolle Bayerns Globalisierung verbunden wird, ist, dass stär- in Deutschland und das Verhältnis Deutsch- erner kere Integration nicht nur zu mehr Ungleich- lands zur EU zu berücksichtigen und sich nicht -W heit führt, sondern gleichzeitig die Effektivität nur in Richtung einer einzigen Einheit und der ans

von Politikinstrumenten zur Bekämpfung der- Entstehung globaler Institutionen zu bewegen. H : selben einschränkt. Sinn nennt hier als Beispiel Sinn ist also nicht nur ein Globalisierer, son- den Steuerwettbewerb. dern auch ein »Glokalisierer«. Positiv ist hingegen, dass die Globalisierung Im Ruhestand kann der globalisierte Hans- die weltweite Finanzkrise 2008 größtenteils Werner Sinn nun auf eine mehr und mehr glo- überstanden hat, trotz der Bedenken einer balisierte Welt blicken, eine Welt, die er mit sei- asarökonomie möglichen Rückkehr zur vom Protektionismus nen Ideen mitgeprägt hat. B

133 John Peet VOM FREIHANDEL

John Peet war von 2003 bis 2015 Redakteur der Rubrik Europa des Economist und ist nun politischer Redakteur. Seine Expertise be­ inhaltet u. a. Spanien, die EU, EWU, Irland, Italien, die Türkei und Frankreich. Im Mai 2014 veröffent- lichte er Unhappy Union: how the euro crisis – and Europe – can be fixed.

Während der vielen vergnüglichen Jahre als net. Bemerkenswert ist außerdem, dass trotz Teilnehmer und Diskussionsleiter beim Mu- dieser Erkenntnis des 19. Jahrhunderts nach- nich Economic Summit (MES) hatte ich einige folgende Generationen von Politikern und Differenzen mit Hans-Werner Sinn, so z. B. zu ­Geschäftsleuten weiterhin den Sinn des Frei­ Aspekten der Eurokrise, zur exzessiven Spar- handels hinterfragen, für Protektionismus und politik und zum Klimawandel. Stets korrekt gegen Freihandelsabkommen eintreten. waren seine Analysen meiner Meinung nach Deutschland ist dabei einer der Hauptkampf- im Hinblick auf den Freihandel. Dieses Thema schauplätze. Seit Bismarcks Argumentation von ist gerade für den Economist von besonderer der »jungen Industrie« gibt es in Deutschland Bedeutung, da unsere Zeitschrift 1843 gegrün- laute Stimmen gegen den immer freieren Han- det wurde, um für Freihandel und gegen die del. Nichtsdestotrotz setzt sich Deutschland seit protektionistischen Korngesetze Großbritan- 1945 vorbildlich für immer weitere GATT- und niens zu kämpfen. WTO-Handelsrunden und für mehr Libera­ Die gedankliche Auseinandersetzung mit lisierung im Europäischen Binnenmarkt ein. und die Argumentation für Freihandel bleiben Bis jetzt. Denn eine der Schlussfolgerungen des weiterhin essentiell, gerade weil sie für den MES 2014 in Bezug auf den Handel im Allge- ­Laien nicht intuitiv verständlich sind. So wird meinen und das Transatlantische Freihandels- David Ricardos auf den Ideen von Adam Smith abkommen (TTIP) zwischen Europa und den aufbauende Abhandlung zur Theorie des kom- Vereinigten Staaten im Besonderen war, dass parativen Vorteils oftmals als der wichtigste – die öffentliche Meinung in Deutschland zu ei- von Zynikern als der einzige – intellektuelle nem erheblichen Teil in Richtung Antiglobali- asarökonomie

B Fortschritt der Volkswirtschaftslehre bezeich- sierung und Antifreihandel tendiert.

134 Seit 1999, als Demonstranten die Handels­ mungen, die so vielen unserer ­Lebensmittel-, gespräche in Seattle störten, sind die Gegner Gesundheits- und Sicherheitsstandards zugrun- des freien Handels wie Pilze aus dem Boden ge- de liegen, zu verwässern, um mehr Handel und schossen. Mit TTIP hingegen gibt es ein grund- Wettbewerb zu schaffen. Gerüchte über die legenderes Problem. Es handelt sich nicht mehr möglichen Gefahren von TTIP sind weit ver- um ein klassisches Handelsabkommen zur breitet – in Amerika wie in Eur­opa. So wird ­Reduzierung von Zöllen und anderen Formen in Großbritannien behauptet, TTIP würde das des Protektionismus gegen den freien Güter- ­nationale Gesundheitssystem unterminieren. verkehr, sondern es geht um die Eliminierung Überall in Europa gibt es Sorgen, TTIP könne zu nichttarifärer Handelshemmnisse, die durch Importen von genmani­pulierten Organismen, unterschiedliche Standards in Bereichen wie Hormonfleisch sowie Chlorhühnchen führen. Gesundheit, Tier- und Pflanzenschutzrecht Trotzdem gehen die TTIP-Verhandlungen verursacht werden. Außerdem soll eine Dis­ weiter. Wenn überhaupt, haben sie sogar an kriminierung ausländischer Investoren verhin- Bedeutung gewonnen. Bei begrenztem Inter­ dert werden, indem diesen gestattet wird, Re- esse an breiten multilateralen Verhandlungen gierungen unter bestimmten Umständen zu sind TTIP und sein pazifisches Gegenstück, verklagen. Wie einige andere Handelsabkom- das transpazifische Partnerschaftsabkommen, men betrifft TTIP sowohl den Handel mit Gü- die einzigen veritablen Optionen. TTIP könnte tern als auch den mit Dienstleistungen. für die beiden größten Handelsblöcke Europa Dies scheint die deutschen Empfindlichkei- und Amerika außerdem die letzte Möglichkeit ten am meisten zu treffen. Das Land hat eine sein, sich über Standards zu einigen, bevor der ältesten Umweltbewegungen in Europa. So China seinen rechtmäßigen Platz als weltgröß- waren die Grünen lange Zeit Europas erfolg- te Handelsnation einnimmt. Außerdem beein- reichste grüne Partei, mit Regierungsbeteili- flusstTTIP die britische Entscheidung zur EU- gung auf Bundesebene von 1998 bis 2005. Die Mitgliedschaft : Ist TTIP erfolgreich, so ist dies

Ablehnung von Chlorhühnchen und -salaten ein wesentlicher Grund für Großbritannien, lobalisierung oder genmanipulierten Nahrungsmitteln ist in in der EU zu bleiben. Sollte TTIP scheitern, G die vielen europäischen Ländern tief verwurzelt, so werden Euroskeptiker verlangen, das Land aber wahrscheinlich am tiefsten in Deutsch- ­solle die EU verlassen und ein eigenes Abkom- und land. Folglich ist die Vermittlung eines Frei- men mit Amerika schließen. handelsabkommens, von dem – fälschlicher- Hier sind die Argumentationskraft und Lei- inn S weise – angenommen wird, dass es einige denschaft von Ökonomen wie Hans-Werner dieser Dinge zuließe, für politische Entschei- Sinn von großer Bedeutung. Die öffentliche erner dungsträger besonders schwierig. Meinung in Deutschland mag zunächst gegen -W Der frühere Generaldirekter der WTO, Pascal TTIP sein, doch hat die Vergangenheit gezeigt, ans

Lamy, hat diese Situation mit der Bemerkung, dass sie offen für überzeugende Argumente ist. H : Handelsverhandlungen befassten sich mittler- Kanzlerin Merkel wie auch der britische Pre- weile weniger mit Protektionismus als mit Vor- mier Cameron sind fest von TTIP überzeugt. sichtsmaßnahmen, gut zusammengefasst. Es ist Politiker brauchen jede Unterstützung, die sie wesentlich leichter, Wähler (und Konsumenten) bekommen können – von Wissenschaftlern, davon zu überzeugen, Protektio­nismus abzu- Journalisten und anderen Meinungsbildnern –, asarökonomie schaffen, als davon, Verbraucherschutzbestim- wenn sie das Abkommen realisieren wollen. B

135 Karlhans Sauernheimer HANS-WERNER SINN IM AUSSENWIRTSCHAFTSAUSSCHUSS

Karlhans Sauernheimer ist Emeri- tus der VWL. Er lehrte und forschte in Essen, München und Mainz zur Außenwirtschaftstheorie, war ­Mitherausgeber des Jahrbuchs für Wirtschaftswissenschaften, Vorsit- zender des Außenwirtschaftsaus- schusses im VfS und Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats im ifo Institut.

Hans-Werner Sinn wäre nicht Hans-Werner München nicht gerade als Außenhandelsöko- Sinn, wenn er sich, von Hause aus eigentlich nom hervorgetreten war. ­Finanzwissenschaftler, bei den Außenhandels­ Seine zunächst wenig kontrovers erschei- ökonomen im Verein für Socialpolitik, des- nenden allokativen Überlegungen gewannen sen Vorsitzender er später werden sollte, nicht rasch an Dramatik, als er klarmachte, welche mit einem Paukenschlag eingeführt hätte. Bei Dimension der zu erwartende Kapitalabfluss der Jahrestagung ihres Ausschusses 1984 in aus Deutschland haben würde und welch un- Regensburg präsentierte er seinen später in angenehme Handlungsoptionen Deutschland Kyklos publizierten Beitrag »Die Bedeutung verbleiben würden, um die drohende Kapital- des Accelerated Cost Recovery Systems für flucht abzuwenden. HWS rechnete vor, dass den inter­nationalen Kapitalverkehr«. Das 7 % des Weltkapitalstocks und damit 14 % – 21 % ­System war in den USA 1981 von Präsident des Welt-BIP in die USA umgelenkt würden, ­Reagan eingeführt worden. Allerdings schien was Leistungsbilanzdefizite in Höhe von 4 % der auf technische Details wie Abschrei- p. a. des US-BIP über eine Dauer von zehn Jah- bungsmodalitäten hinweisende Titel des Bei- ren nach sich ziehen werde. Er schloss seinen trags nur wenig Zündstoff zu bieten. Dies Vortrag mit den Worten : »Wenn Deutschland galt umso mehr, als der Referent mit seinen die Wahl hat, den Rechtsgrundsatz einer nut- bisherigen­ Publikationen Ökonomische Ent- zungsdaueradäquaten Abschreibung aufzuge- scheidungen bei Ungewißheit und Kapital­ ben oder seine kapitalintensiven Industrien zu einkommensbesteuerung sowie seiner gerade verlieren, sollte die Entscheidung nicht schwer- erfolgten Berufung auf einen versicherungs- fallen.« Nun, ganz so schlimm kam es dann asarökonomie

B wissenschaftlichen Lehrstuhl an dieLMU doch nicht. Die Leistungsbilanz der USA ver-

136 schlechterte sich ab 1982 zwar in der Tat erheb- deduzierten, dauerhaften, internationalen Re- lich. Das Defizit blieb aber in den 1980er Jahren allokationseffekten des Kapitalbestandes die im Durchschnitt bei 2 %. zu ihrer Realisation erforderlich werdenden Der Beitrag enthielt erstens bereits all jene temporären, aber u. U. langjährigen Leistungs- allgemeinen Ingredienzen, die Sinns Beiträge bilanzeffekte ab : Die Kapitalbilanz führt, die bis heute ausmachen : ein modelltheoretisches Leistungsbilanz folgt. So prognostizierte er im Gerüst, Kenntnis der für die aufgeworfenen genannten Beitrag für die 1980er Jahre die an- Fragen relevanten faktischen und institutionel- haltenden Leistungsbilanzdefizite der USA. Im len Sachverhalte sowie eine unmissverständ­ Zusammenhang mit der Öffnung Osteuropas liche, nicht selten verblüffende wirtschaftspoli- sowie der Schaffung der Eurozone verwies er tische Botschaft, all das verpackt in eine klare, auf die zu erwartende Kapitalreallokation zu- kraftvolle Diktion. Unter deutschen Ökono- gunsten Ost- und Südeuropas, die in Deutsch- men haben in den letzten 50 Jahren nur Karl land hohe Leistungsbilanzüberschüsse zur Schiller und Herbert Giersch über eine ver- ­Folge haben müsse. Infolge der hohen Real- gleichbar bildhafte und wirkmächtige Sprache lohnstarrheit in den 1990er Jahren hierzulande verfügt wie Hans-Werner Sinn. und dem zinssenkungsbedingten Konsum- Der Beitrag beinhaltete zweitens einen spe- boom im Süden der Eurozone seien, so sein ziellen Anwendungsfall jenes Kapitalalloka­ Argument, die deutschen Exporte ineffizient tionsmodells, anhand dessen Sinn in seiner hoch. Die Wohlfahrtseinbußen zeigten sich im Habilitationsschrift die intersektoralen, inter - ersten Fall in wachsender Arbeitslosigkeit, im nationalen und intertemporalen Wirkungen zweiten Fall im Erwerb von wertlosen Netto- der Besteuerung studiert hatte. Die Logik des auslandsforderungen. Der erste Problemkreis Modells, die Sinn dort im Detail entfaltete, bot ist in seinen Arbeiten zur Basarökonomie an- eine Fülle höchst überraschender, zu konven­ gesprochen, der zweite in seinen Arbeiten zu tionellem Denken querstehender Einsichten. den Verwerfungen in der Eurozone im Allge-

Krause-Junk kommentierte das Buch in seiner meinen und zu den Target-Salden im Beson­ lobalisierung

Besprechung in der Zeitschrift für Wirtschafts- deren. G die und Sozialwissenschaften 1987 dann auch wie Last but not least enthält viertens der ausge- folgt : »Wo das Übliche trivial erscheint, fas­ wählte Beitrag – für eine ausführlichere Würdi- und ziniert das Unvermutete. So herrscht in der gung der an der Volkswirtschaftlichen Fakultät

ökonomischen Theorie mehr Freude an einem und dem ifo Institut verbrachten gemeinsamen inn S ­Paradox als an hundert Orthodoxien. Das Zeit fehlt hier der Raum – eine hübsche perso- Sinn­’sche Buch ist voller Freuden.« Den Para- nelle Pointe. Sinn zitiert als erste seiner Quel- erner doxien in den Wirtschaftswissenschaften hatte len im Beitrag einen Aufsatz von W. Fuest und -W Sinn schon 1981 einen auch heute noch höchst R. Kroker, Steuerliche Förderung von Investition ans

lesenswerten Artikel im Jahrbuch für Sozial­ und Innovation im internationalen Vergleich, H : wissenschaft gewidmet. Köln 1981. Der erstgenannte Autor ist der Der Beitrag leitet drittens, ebenfalls nicht ­Onkel jenes Clemens Fuest, der 35 Jahre später untypisch für das Sinn’sche Denken, aus den Sinns Nachfolge im ifo Institut antritt. asarökonomie B

137 Der Chef der BMW Stiftung ­Herbert Quandt, Michael Schaefer, bei der letzten gemeinsam mit HWS organisierten Veranstaltung des Munich Economic Summit im Mai 2015.

Zwei nachdenkliche Gesichter bei einem gemeinsam von der CESifo- Gruppe und der Süddeutschen Zeitung veranstalteten Münchner Seminar im Frühjahr 2013: die bayerische­ Wirtschaftsministerin Ilse Aigner und der ifo-Präsident.

ifo-Bereichsleiter Gabriel Felber- mayr und HWS beim sechsten Brussels International Economic Forum (BrIEF) des ifo Instituts mit dem Ausschuss der Regionen in Brüssel, Oktober 2012.

138 Sie haben den Munich Economic Summit von 2006 bis 2013 gemein- sam geleitet: Jürgen Chrobog, ehemaliger Staatssekretär im ­Auswärtigen Amt, und HWS. Hier beim MES im Mai 2015.

Der erste Wissenschaftliche Beirat des CES (1992/93): ( von links nach rechts ) Hans Möller, Franz Gehrels, Karlhans Sauern­heimer, Martin Beckmann, HWS (nicht im Drei­ teiler !), Edwin von Böventer, ­Richard Musgrave, Otto Ganden- berger, Agnar Sandmo, Klaus ­Zimmermann.

April 2008: Der damalige ­Bayerische Ministerpräsident ­Günther Beckstein zeichnet HWS mit dem Maximiliansorden für Wissenschaft und Kunst aus.

139 Süddeutsche Zeitung, 2012 DAS GRÜNE PARADOXON: Hans-Werner Sinn und die Klima- 6 und Energiepolitik Karen Pittel EINLEITUNG Das grüne Paradoxon: Hans-Werner Sinn und die Klima- und Energiepolitik

Karen Pittel leitet seit 2010 das ifo Zentrum für Energie, Klima und erschöpfbare Ressourcen und ist Professorin für Volkswirtschafts­ lehre an der Ludwig-Maximilians- Universität München. Ihre Forschung umfasst Fragen der langfristigen Wirtschaftsentwick- lung, Ressourcennutzung und Energiepolitik.

In meinen nunmehr fünf Jahren am ifo Institut sich mit Ressourcen- und Energiethemen aus- habe ich es häufig erlebt, dass Hans-Werner einanderzusetzen. Bereits Anfang der 1980er Sinn für einen »Klimawandelskeptiker« gehal- Jahre, als die Diskussion um den Klimawandel ten wird. Wer dies behauptet, hat ihm aller- noch in den Kinderschuhen steckte, wies er da- dings nie wirklich zugehört. Seine Kritik an der rauf hin, dass wohlmeinende Politiken, die den heutigen Klima- und Energiepolitik wird gern Abbau von Öl, Kohle oder Gas verlangsamen mit einer generellen Skepsis gegenüber ihrer sollen, genau das Gegenteil erreichen können. Notwendigkeit verwechselt. Eine solche Argu- Das Hauptargument ist, dass eine drohende mentation erspart es seinen Kritikern dabei Entwertung der Ressourcen durch nachfrage- häufig, sich mit seinen Argumenten genauer reduzierende Politiken Anreize schafft, diese auseinanderzusetzen. Sie zeigt aber auch, wie eher heute als morgen aus dem Boden zu ho- emotional und losgelöst von ökonomischer len. Hans-Werner Sinn bezeichnet diesen Ef- Rationalität die Debatte um Klimaschutz und fekt als das »grüne Paradoxon« der Klimapoli- Energiepolitik häufig geführt wird. Was aber tik. Er erkannte damit früher als viele andere,

on sagt Hans-Werner Sinn tatsächlich ? Er wagt es, dass die Vernachlässigung des Angebotsver­ x in einer Zeit, in der mehr häufig mit besser ver- haltens von Ölscheichs, Gaszaren und Kohle­

ado wechselt wird, darauf hinzuweisen, dass auch baronen zu fundamentalen Fehleinschätzun-

ar in der Klima- und Energiepolitik mehr durch- gen von Politiken führen kann. P

ne aus nicht immer besser sein muss. Dass seine Es überrascht kaum, dass seine theoreti- ü Argumente stringenter ökonomischer Logik schen Ergebnisse lange Zeit wenig Resonanz in gr folgen, wird dabei gerne ignoriert. der ›realen Welt‹ fanden. Dies änderte sich ra- as

D Hans-Werner Sinn hat schon früh begonnen, dikal mit Erscheinen seines Buches Das grüne

142142 Paradoxon – Plädoyer für eine illusionsfreie Kli- ­Jahre bezeichnet. Die Überfrachtung mit sich mapolitik im Jahr 2008. Für seine kritische teilweise widersprechenden Zielen und Instru- ­Abrechnung mit der heutigen Energie- und menten kritisiert er dabei ebenso wie den über- Klimapolitik erntete er – auch wenig überra- hasteten Atomausstieg. Seine stringente ge- schend – nicht nur Beifall. So wurde er bereits samtwirtschaftliche Argumentation steht dabei ein Jahr später vom Naturschutzbund Deutsch- in krassem Gegensatz zu der oft einzelwirt- land als »Dinosaurier des Jahres« ausgezeich- schaftlich und an technischer Effizienz ausge- net. Wer Hans-Werner Sinn kennt, der weiß, richteten politischen Debatte. Die Forderung dass ihn diese Einschätzung eher anspornen einer Orientierung an Grundprinzipien öko- dürfte, sich umso mehr für eine rationale und nomisch effizienter Regulierung wird zwar von theoriefundierte Klimapolitik einzusetzen. Seit der überwältigenden Mehrheit der Ökonomen Erscheinen des Buches ist die wissenschaftliche geteilt, trifft aber im politischen Raum unwei- Literatur zu diesem Thema förmlich explo- gerlich auf Skepsis. Ungeliebte und daher gern diert. Von der Politik dagegen wird das grüne vernachlässigte Probleme, wie die Frage nach Paradoxon immer noch gern als theoretisches der Sinnhaftigkeit von Elektromobilität bei Kunstprodukt abgetan, da es empirisch nur ­einem kohlelastigen Strommix oder auch die schwer nachzuweisen ist. In die Analysten­ schwankende Einspeisung von Wind- und So- etagen der Banken hat es allerdings längst Ein- larenergie in Abwesenheit geeigneter Speicher, zug gehalten. Die Erwartung eines Rückgangs bringt er mit Begriffen wie »Kohleautos« und

der zukünftigen Ressourcennachfrage wird »Zappelstrom« ins öffentliche Bewusstsein. nergiepolitik dort als eine der Ursachen für die zurzeit nied- Das originäre Ziel der Energiewende, die E rigen Ölpreise diskutiert. Reduktion von Treibhausgasen, stellt Hans- und - - Für Das grüne Paradoxon gilt grundsätzlich Werner Sinn dabei nicht in Frage. Seine Kritik

das Gleiche wie für andere Bücher von Hans- richtet sich gegen die Mittel. Ist die globale Re- lima Werner Sinn : Wissenschaftler, Politiker und duktion der Emissionen das übergeordnete Ziel K die Bürger reiben sich an seinen Aussagen, wider- der Energiewende, sollte die Wahl der Vermei- sprechen ihm und werfen ihm eine übermäßi- dungstechnologien – bei Setzung geeig­neter und ge Vereinfachung komplexer Sachverhalte vor. Rahmenbedingungen – dem Markt überlassen inn

Aber auch mit diesem Buch ist ihm gelungen, werden. Darüber hinausgehende Eingriffe und S was keinem anderen deutschsprachigen Öko- Steuerungsversuche setzen lediglich die Koor-

nomen in gleicher Weise gelingt : Erkenntnisse dinationskräfte des Marktes außer Kraft und erner

der ökonomischen Forschung in die gesell- verteuern so die Transformation unnötig. -W schaftliche Debatte einzubringen. Dabei seziert Hans-Werner Sinns Positionierung in der ans H er die Sachlage mit chirurgischer Präzision und Energie- und Klimadebatte kann kaum überra- :

identifiziert Schwachstellen wie auch Heraus- schen. Sie reflektiert grundsätzliche Prinzipien on forderungen von Politiken punktgenau. des Ordoliberalismus, die sein gesamtes Werk x

Die deutsche Energiewende verfolgt Hans- durchziehen. Um es mit den Worten von Karl ado

Werner Sinn mit unverhohlener Skepsis, wenn Schiller zu sagen : »So viel Markt wie möglich ar P

nicht sogar mit Grauen. Als »Energiewende ins und so viel Staat wie nötig.« ne Nichts« hat er die Entwicklung der letzten ü gr

as D

143 Rick van der Ploeg DIE POTENZIELLE KONTRAPRODUKTIVITÄT VON SECOND-BEST-MASSNAHMEN IN DER KLIMAPOLITIK

Rick van der Ploeg ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Oxford und Wissen- schaftlicher Leiter des Oxford ­Centre for the Analysis of Resource Rich Economies. Zudem lehrt er an der Freien Universität Amsterdam und leitet das Fachgebiet Public Sector Economics im CESifo-Netz- werk.

Das grüne Paradoxon und die mögliche Kont- mawandels zurück, wie etwa einem CO2-Preis. raproduktivität von nicht durchdachter Klima- Eher warten sie ab, verschieben eine Beprei-

politik wurden von Hans-Werner Sinn 2008 in sung von CO2 und versuchen stattdessen, ihre seinem Buch und in einem wissenschaftlichen Nachfolger zu verpflichten. Zudem arbeiten Artikel vorgestellt. Tatsächlich gehen die Ideen Politiker lieber mit Zuckerbrot als mit Peitsche : auf frühere theoretische Arbeiten aus den Lieber subventionieren sie erneuerbare Ener­ 1980er Jahren zurück, in denen er zeigt, dass gien – weit über das notwendige Maß hinaus, eine über die Zeit steigende Wertsteuer auf fos- das die positiven Externalitäten von learning- sile Brennstoffe zu einer Beschleunigung des by-doing internalisieren würde –, als dass sie Brennstoffabbaus führt. Wie es für ihn typisch ehrlich handeln und einen ökonomisch rich­

ist, hat er auch in der deutschen politischen tigen CO2-Preis durchsetzen. Debatte in klaren Worten vor dem grünen Pa- Zweitbeste Politiken wie das Verschieben

radoxon gewarnt. Zumindest teilweise müssen von CO2-Bepreisung und die Subventionie- ihn dazu die hohen Subventionen für Solar- rung von erneuerbaren Energien haben die

on energie in Deutschland angeregt haben. In ­ungewollte Folge, fossile Brennstoffpreise zu x ­Anbetracht seiner herausragenden Leistungen senken, sowohl in der Zukunft als auch, über

ado auf dem Gebiet der Finanzwissenschaft und intertemporale Arbitrage, in der Gegenwart.

ar der Ressourcenökonomie ist es keine Über­ Im Ergebnis steigen die Nachfrage nach fossi- P

ne raschung, dass das ökonomische Prinzip des len Brennstoffen und die CO2-Emissionen, und ü Zweitbesten die Grundlage des grünen Parado- der Klimawandel wird beschleunigt. Dies hät- gr xons bildet. Politiker schrecken vor erstbesten te kurzfristig negative Auswirkungen auf die as

D Politikmaßnahmen zur Bekämpfung des Kli- Wohlfahrt. In der längeren Frist allerdings

144 würden selbst solche zweitbesten Politiken dern, Emissionsgrenzwerte für Autos festzu­ mehr fossile Brennstoffe unter der Erde belas- legen oder strenge Energieeffizienzstandards sen und somit die kumulierten Emissionen be- für Gebäude durchzusetzen, nichts am unab- grenzen, so dass der letztliche Anstieg der glo- lässigen Anstieg der CO2-Emissionen geändert balen Erwärmung eingeschränkt würde. Diese haben. Durchaus zu Recht betont Sinn, dass positiven Wohlfahrtseffekte sind stärker als eine Politik, die vormals landwirtschaftlich die negativen kurzfristigen Wohlfahrtseffekte, ­genutzte Flächen zur Biokraftstoffproduktion wenn die Preiselastizität der fossilen Brenn- umwidmet, die Ärmsten auf unserem Planeten stoffnachfrage klein, die des fossilen Brennstoff­ hungriger macht und schlechter stellt. Sein Plä- angebots groß und die ökologische Diskontrate doyer ist daher, nicht zu versuchen, die Nach- klein ist. frage nach fossilen Brennstoffen zu regulieren, Wenn das aber nicht der Fall ist, dann sind sondern direkt das fossile Brennstoffangebot zu zweitbeste Maßnahmen tatsächlich kontrapro- begrenzen, indem mehr davon im Boden be- duktiv; unter diesen Umständen schlägt Sinn lassen wird – und somit die kumulativen Emis- vor, die von Produzenten fossiler Brennstoffe sionen zu senken. Das kommt einem Coase- gehaltenen finanziellen Vermögenswerte zu be­ Ansatz nahe, bei dem die Anbieter fossiler steuern. Solch eine Steuer bremst das Bestre- Brennstoffe Geld erhalten, um sie nicht abzu- ben der Brennstoffproduzenten, Finanzvermö- bauen. gen aufzubauen, und hat den gegenteiligen Sein ehrgeiziger Vorschlag ist, alle Netto­

Effekt einer verschobenen CO2-Steuer. Man importeure von fossilen Brennstoffen in einem nergiepolitik kann das grüne Paradoxon als intertemporale globalen Kartell mit einem glaubwürdigen und E

Ver­sion von carbon leakage betrachten, dem koordinierten Cap-and-trade-System zu orga- und - - Gedanken, dass ein in einer Anzahl Länder gel- nisieren und dies zu ergänzen durch eine Quel- tender CO2-Preis die Preise für fossile Brenn- lensteuer auf Kapitaleinkommen der Öl- und lima stoffe drückt und somit die Nachfrage nach Gasscheichs. Sein leidenschaftliches Plädoyer, K die fossilen Brennstoffen in allen anderen Ländern den Klimawandel an der Wurzel des Problems und den Klimawandel beschleunigt. Der »pa- anzugehen, sollte in politischen Kreisen besser und radoxe« Effekt einer verschobenenCO 2-Be- Fuß fassen und ist beispielhaft für seine einzig- inn

preisung führt zu carbon leakage, sowohl in der artigen Fähigkeiten als politikgetriebener In- S Gegenwart als auch in der Zukunft. tellektueller und Wissenschaftler. Obwohl laut-

Das grüne Paradoxon hat eine umfangreiche, starke grüne Aktivisten in Deutschland und erner

eher technische akademische Literatur hervor- anderswo oft Anstoß genommen haben an -W gebracht, mit wenig fundierten angewandten Sinns unwillkommener Kritik an schlecht ge- ans H

Studien, die einen überzeugenden Nachweis stalteter Energie- und Klimapolitik, würden sie :

für signifikante und substanzielle negative Ef- gut daran tun, sich seine Analyse anzueignen, on fekte von zweitbesten Klimapolitiken auf die um effiziente und effektive Wege zu finden, den x reale Welt erbringen würden. Dennoch : Das Klimawandel zu bekämpfen. Unsere Enkel­ ado

Gewicht von Sinns Worten zeigt sich in dem kinder und ihre Nachkommen würden uns ar P

viel weiteren Blickwinkel, den er in seinem nicht vergeben, wenn wir nicht umgehend ne Buch einnimmt. Darin erörtert er teilweise Maßnahmen ergreifen würden für die vielleicht ü gr recht provokativ, dass die Bemühungen vieler wichtigste Herausforderung unserer Zeit. as

Regierungen, etwa alternative Energien zu för- D

145 Nicholas Stern HANS-WERNER SINN, DER KLIMAWANDEL UND DAS GRÜNE PARADOXON

Nicholas Stern ist IG Patel Profes- sor an der LSE. Er war Chefökonom bei EBRD und Weltbank, Leiter des Government Economic Service und leitete den Stern-Report zur Ökonomik des Klimawandels. 2004 wurde er zum Ritter geschla- gen, 2007 zum Life Peer ernannt. Sein jüngstes Buch ist Why Are We Waiting?.

Hans-Werner Sinn ist seit rund vier Jahrzehn- tionieren könnte. Wie immer setzte er einen ten führend in der Analyse der Grundlagen ­erfrischend anderen Schwerpunkt als der Rest von Finanzwissenschaft und Public Policy. der Literatur, in diesem Fall durch seine Kon- Ebenso führt er die öffentliche Diskussion an. zentration auf die Angebotsseite. Dadurch Er ist wahrhaftig ein öffentlicher Intellektueller, zeigte und betonte er, wie scheinbar wohlmei- im besten Sinn des Wortes : in hohem Maße be- nende Politikmaßnahmen ihr Ziel verfehlen wundert von seinen wissenschaftlichen Kolle- können. Ein Beispiel, das er hervorhob, war die gen und ein mächtiger und konstruktiver Ein- fehlgeleitete Nutzung einiger (nicht aller) Bio- flussfaktor auf der öffentlichen Bühne. Ich hatte kraftstoffe, wie etwa der auf Mais basierenden, das Privileg, mich zu vielen Gelegenheiten und die sehr ineffizient sein und Ressourcen von Themen mit ihm auszutauschen und mit ihm der Nahrungsmittelproduktion abziehen kön- zusammenzuarbeiten – unter anderem bei der nen. Herausgabe des Journal of Public Economics, Sehr einsichtig argumentierte er, dass es zwei bei den Munich Lectures, die ich 2002 gehalten Mechanismen gibt, um den Anstieg des Koh-

on habe, und, in den letzten Jahren, rund um die lendioxidgehalts in der Atmosphäre zu brem- x Ökonomik des Klimawandels. sen oder zu mindern. Erstens können wir we-

ado Seine Arbeit zur Ökonomik des Klimawan- niger fossile Brennstoffe abbauen und nutzen, ar dels, insbesondere Das grüne Paradoxon, mein und zweitens können wir das CO2 abscheiden P

ne Thema hier, zeigt sein großes Können in der und speichern (carbon capture and storage, ü Anwendung theoretischer Modelle ebenso CCS). Sein Fokus lag auf Ersterem : auf der gr wie seine Weisheit und sein Urteilsvermögen ­Frage, ob unsere Preis- und Politikanreize da­ as

D darüber, wie die Welt funktioniert oder funk­ zu führen, dass Anbieter weniger abbauen – er

146 fragte also direkt nach der Angebotsseite, was neuesten Untersuchungen der Carbon Tracker zuvor viel zu wenige getan hatten. Initiative (gemeinsam mit dem Grantham In­ Sein grünes Paradoxon lag in dem poten­ stitute der LSE und anderen, wie etwa der ziellen Problem, dass sich die Eigentümer von internationalen­ HSBC-Bank) würden die be- Kohlenstoffvorräten veranlasst sehen, ihre Res- kannten Kohlenstoffressourcen bei einer Ver- sourcen in der nahen Zukunft schneller ab­ brennung ohne carbon capture and storage etwa zubauen, da sie eine Verschärfung der Klima- dreimal so viel CO2 ausstoßen, wie mit dem politik in der Zukunft antizipieren. Im Grunde ­internationalen 2 °C-Ziel, das eine Obergrenze bedeutet ein Preis für CO2 – z. B. durch eine für den Anstieg der mittleren globalen Ober-

CO2-Steuer –, dass sich eine Schere öffnet zwi- flächentemperatur seit dem 19. Jahrhundert schen den Preisen, die die Produzenten erhal- vorsieht, vereinbar wäre – dessen Überschrei- ten, und denen, die die Verbraucher zahlen. tung nach wissenschaftlicher Erkenntnis einen Allgemein müssen die Produzentenpreise fal- »gefährlichen Klimawandel« bedeuten würde, len und die Konsumentenpreise steigen, wenn so die Ausdrucksweise in den Sachstandsbe- ein Anreiz geschaffen werden soll, weniger zu richten des Intergovernmental Panel on Cli­ fördern und weniger zu verbrauchen. Somit er- mate Change (IPCC). Die Welt ist bereits bei gibt sich das Problem, dass Rohstoffförderer/ ­ der höchsten Temperatur des Holozäns ange- -produzenten einen Rückgang ihrer Preise in langt, der Periode, in der sich seit der letzten der Zukunft vorausahnen und versuchen, in Eiszeit unsere Zivilisationen herausgebildet

der Gegenwart mehr zu fördern. ­haben. Wir steuern auf einen Anstieg von deut- nergiepolitik In solch einem Fall sollten mengenbasierte lich mehr als 3 °C zu, das bedeutet zu einer E

Politikmaßnahmen eine große Rolle spielen. Tem­peratur, die die Welt seit drei Millionen und - - Also läge die Priorität bei Cap-and-trade-Sys- Jahren nicht gesehen hat – der Homo sapiens

temen, bei denen die Politik ein Mengenziel existiert erst seit einer Viertelmillion Jahren. lima K setzt und Preise für CO2 endogen bestimmt Hans-Werner Sinn erkannte die drohenden die werden. Damit solch ein System effektiv ist, ar- Gefahren. Er zeigte uns, dass wir uns mit der gumentierte er, müssten sich die Nachfrager Angebotsseite ebenso wie mit der Nachfrage­ und zusammentun und die Politikmaßnahmen ge- seite beschäftigen müssen, und betonte die Ge- inn

meinsam durchsetzen. Dadurch könnten sie fahren einer Politik, die sich nur auf Letztere S auch Rohstoffrenten und den Preis, den sie konzentriert. Auch wies er darauf hin, wie

zahlen, beeinflussen; gleichzeitig würden die wichtig der Fokus auf Ressourcensteuern und erner

Kosten der Klimapolitik gesenkt. Natürlich Ressourcenrenten ist, was die Anlagen-, Port­ -W würde man von Seiten derer Widerstand er- folio- und Investitionsseite einschließt. Heute ans H warten, deren Einkommen dadurch reduziert sehen wir vielerlei Diskussionen um die De­ :

würden. karbonisierung von Portfolios oder Desinves­ on In vielerlei Hinsicht hat Hans-Werner Sinn titionen. Im Laufe der Zeit ist die Welt, wie bei x den »Divestment«-Diskussionen rund um die so vielen anderen Themen, auf dem von Hans- ado sogenannte »Keep it in the ground«-Kampagne Werner Sinn vorgeschlagenen Weg angekom- ar P

(dt. »Lass es im Boden«) vorgegriffen. Laut den men. ne ü gr

as D

147 Christoph M. Schmidt MISSIONAR DER RATIONALITÄT: HANS-WERNER SINN UND DAS »GRÜNE PARA­ DOXON« IN DER ENERGIE- UND KLIMAPOLITIK

Christoph M. Schmidt wurde Der Autor dankt Nils aus dem 1991 in Volkswirtschaftslehre an Moore und Lina Zwick für Unter- der Princeton University promo- stützung beim Erstellen des viert und habilitierte sich 1995 ­Manuskripts mit konstruktiven an der Universität München. Seit Kommentaren. 2002 leitet er das RWI in Essen und ist seit 2009 Mitglied des Sachver- ständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Ent- wicklung.

Gut gemeint ist nicht automatisch auch gut ge- hohe Anerkennung in der Fachwelt zu bewah- macht ! Das ist die häufig auf wenig Gegenliebe ren, wie sie nur wenigen Ökonomen zuteil stoßende Botschaft, die Hans-Werner Sinn in wird. Drei Eigenschaften haben ihm diese ge- der Debatte um Energie- und Klimapolitik wie- waltige Lebensleistung ermöglicht : der und wieder ins Feld geführt hat, prägnant ƒƒ Originalität: Es ist ihm ein ums andere Mal kondensiert im Begriff des »grünen Parado- gelungen, ganz neue Themen zu identifizie- xons«. Es hat die Auseinandersetzung unge- ren oder bestehende Diskurse aus einer ganz mein bereichert, dass er derart vehement eine neuen Perspektive zu beleuchten und damit rationale Analyse der Probleme und ihrer Ur- den Trend der wissenschaftlichen und der sachen eingefordert und so pointiert unzurei- wirtschaftspolitischen Debatte zu setzen. chende Lösungsvorschläge kritisiert hat. Denn Dabei hat er immer wieder prägende Begrif- auch gute Argumente können sich in der ge- fe geschaffen – etwa »Kaltstart«, »Basaröko- sellschaftlichen Debatte nur dann durchsetzen, nomie« oder »grünes Paradoxon«. wenn sie mit hohem Einsatz vertreten werden. ƒƒ Konsequenz: Er hat dabei die aus ökonomi-

on Diese Mission erforderte von Hans-Werner schem Denken erwachsenden Botschaften x Sinn aber auch ein hohes Maß an Leidensfä­ konsequent durchdekliniert, aufbauend auf

ado higkeit, denn das Streiten mit beseelten Über- seiner Meisterschaft der ökonomischen The-

ar zeugungstätern oder mit knallharten Interes- orie. Dies führte häufig zu unbequemen P

ne senvertretern ist oft kein Vergnügen. Er hat es Schlussfolgerungen – etwa der Einsicht, dass ü dadurch geschafft, die öffentliche Debatte über bei einer Analyse des weltweiten Energie- gr wirtschaftspolitische Themen zu beflügeln, markts gleichermaßen Angebot und Nach- as

D häufig sogar zu prägen und zugleich eine so frage zu berücksichtigen sind.

148 ƒƒ Streitbarkeit: Er hat vehement dafür gestrit- Positionen als ewig gestrig, als Leugnen des ten, wirtschaftspolitische Fragen rational zu Problems völlig falsch. Ganz im Gegenteil hat diskutieren, auf der Basis von wirtschafts- er die Dimension der Herausforderung erst so wissenschaftlichen Überlegungen und nicht richtig bewusst gemacht. Erfolgreicher Klima- als Gegenstand von Wille und Vorstellung. schutz kann eben nicht im deutschen oder Dabei hat er sich nicht davor gescheut, gegen ­europäischen Alleingang erreicht werden, son- den Zeitgeist und gegen massive Partikular­ dern ist nicht zuletzt aufgrund des »grünen Pa- interessen anzutreten, etwa bei der Kritik an radoxons« nur möglich in einer breiten inter- der Subventionierung der Solarenergie. nationalen Kooperation. Folgerichtig wirbt Hans-Werner Sinn seit Jahren für ein weltwei-

Einer seiner wichtigsten Beiträge, der diese tes CO2-Handelssystem. Umso bedauerlicher drei Eigenschaften zusammengeführt hat, be- ist es, dass bei der deutschen Energiewende trifft verschiedene Facetten des großen Pro- nach dem Motto »Viel hilft viel« der Emissions- jekts »Energiewende«. Als diese für die Politik handel durch die parallele Förderung der Er- noch nicht im Entferntesten ein Thema war, neuerbaren konterkariert wird. hat sich Hans-Werner Sinn bereits mit der Das »grüne Paradoxon« illustriert pars pro Ökonomik nicht-erneuerbarer Ressourcen be- toto die von Hans-Werner Sinn bei zahlreichen schäftigt. Frühe Beiträge stammen aus den Themen auf unnachahmliche Weise geleistete 1980er Jahren, motiviert durch Sorgen um die Verknüpfung von wissenschaftlicher Erkennt-

baldige Erschöpfung wichtiger Rohstoffe, wie nis und wirtschaftspolitischer Kommunika­ nergiepolitik sie etwa der Club of Rome im Jahr 1972 ge­ tion. Wie kein anderer deutscher Ökonom hat E

äußert hatte. Bereits damals zog er den Schluss, er auch dank der sprachlichen Kraft seiner öf- und - - dass eine Analyse des globalen Energiemarktes fentlichen Beiträge intensive Emotionen, posi-

ohne Berücksichtigung der Anpassungsreaktio­ tive wie negative, ausgelöst und sich so zu einer lima nen auf der Angebotsseite unvollständig und eigenständigen »Marke« entwickelt. K die letztlich völlig fehlgeleitet ist. Dieses Erfolgsrezept ist jedoch nur bedingt Dieses Grundmotiv war die Basis der Arbeiten übertragbar. Denn die Zukunft der Ökonomik und zum späteren »grünen Paradoxon« : Eine Ein- dürfte nicht zuletzt darin liegen, das gewachsene inn

schränkung der Nachfrage nach fossiler Energie Bewusstsein über die Grenzen der eigenen Er- S in Europa kann – wenngleich gut gemeint – im kenntnis noch stärker in die Kommunika­tion

schlimmsten Falle sogar zu einer Verschärfung ihrer Schlussfolgerungen und Empfehlungen erner

des Klimaproblems führen. Denn falls die Res- einfließen zu lassen. Wenn der Eindruck ent- -W sourcenbesitzer die Ankündigung einer grünen steht, dass Ökonomen nach der Überzeugung ans H

Politik für glaubhaft halten und von einer künftig »Was ökonomisch keinen Sinn ergibt, kann nie- :

sinkenden Nachfrage und ein­ em Preisverfall mals sinnvoll sein« argumentieren und zu kei- on ausgehen, dann werden sie ihre Öl-, Gas- und nerlei Kompromiss bereit sind, führt dies eher x

Kohlequellen entsprechend schneller ausbeuten. zum Ausschluss der ökonomischen Rationalität ado

Zugleich lässt Hans-Werner Sinn in seinen aus der Debatte. Doch bleibt es immer eine Grat- ar P

Analysen keinerlei Zweifel daran, dass er das wanderung : Im Zweifelsfall sind leidenschaft­ ne Klimaproblem für eine der großen Heraus­ liche Konfrontation und »klare Kante« nach wie ü gr forderungen der Menschheit hält. Viele seiner vor besser als die weit verbreitete »Anschmieg- as

Kritiker liegen daher in ihrer Ablehnung seiner samkeit« an die Mächtigen oder den Zeitgeist. D

149 Martin Faulstich HWS UND DIE ENERGIEWENDE

Martin Faulstich ist Ordinarius für Umwelt- und Energietechnik an der TU Clausthal und war zuvor Ordinarius für Rohstoff- und Ener- gietechnologie an der TU München. Er ist Vorsitzender des Sachver­ ständigenrats für Umweltfragen der Bundesregierung und Mitglied im Kuratorium des ifo Instituts.

Die große Schaffenskraft und hohe Produktivi- gasemissionen zeitweise wieder gestiegen. Die tät von Hans-Werner Sinn sind hinlänglich be- Aufnahmefähigkeit der Atmosphäre für Treib- kannt; unzählige Bücher, Artikel, Essays und hausgasemissionen ist die neue Limitation der Kommentare ergeben ein beeindruckendes Ge­ Industriegesellschaft, und nicht mehr die Ver- samtwerk. Beim Verfassen seines klimapoliti- fügbarkeit der fossilen Rohstoffe Kohle, Öl und schen Buches Das grüne Paradoxon durfte ich Gas. Nahezu sämtliche fossilen Reserven und die Genese eines seiner Bücher einmal hautnah Ressourcen müssen schlichtweg im Boden blei- miterleben. Ich hatte die Ehre, das Manuskript ben, wenn wir das international verbindliche vorab vollständig zu lesen, Kapitel für Kapitel, Zwei-Grad-Ziel noch einhalten wollen. Die jeweils schreibfrisch aus dem Rechner. HWS Knappheit Atmosphäre findet mittlerweile hat dabei bisweilen schneller geschrieben, als auch Eingang in die ökonomische Theorie. ich lesen konnte. Über die Notwendigkeit zum Klimaschutz HWS lässt keinen Zweifel aufkommen, dass sind wir uns einig, über die Wege dahin die Erde immer wärmer wird, der Klimawandel schon weniger und bei der Energiewende noch

on dramatische Folgen haben wird und »dass die gar nicht. Wir haben diese oft diskutiert und x Menschheit auch aus ökonomischer Perspek­ in Streitgesprächen dokumentiert, zuletzt am

ado tive handeln muss, um den Klimawandel zu 13. Mai 2015 auf der viel beachteten gemeinsa-

ar stoppen«. 25 Jahre Klimaschutzbemühungen men Veranstaltung Energiewende: Konsequen- P

ne und zahlreiche Klimaschutzkonferenzen haben zen für den Industriestandort Deutschland? ü es jedoch nicht vermocht, den Ausstoß an Koh- vom ifo Institut und dem Sachverständigenrat gr lendioxidemissionen zu mindern. Selbst im für Umweltfragen (SRU) in Berlin. as

D Vorreiterland Deutschland sind die Treibhaus- Die Energiewende bezieht sich derzeit noch

150 weitgehend auf die Stromerzeugung. Welche energie haben beeindruckende Lernkurven; Klimaschutzoptionen sind hier möglich ? Fossil steigende Stückzahlen, Serienfertigung und in- betriebene Kraftwerke scheiden langfristig tensive Forschung lassen diese immer preiswer- zwangsläufig aus. Auch die Nachrüstung mit ter werden. Das ist der entscheidende Grund CCS, also die Abscheidung von Kohlendioxid für das EEG, das Erneuerbare-Energien-Gesetz. und Verpressung in unterirdische Gesteinsfor- Dieses hat die technologischen und ökonomi- mationen, ist keine dauerhafte Lösung, da diese schen Lernkurven erst möglich gemacht und Lagerstätten gerade einmal für 30 Jahre reichen. ergänzt sinnvoll den Emissionshandel. Bleiben als Optionen also die Atomenergie und Neben der Stromerzeugung muss langfristig die erneuerbaren Energien. HWS ist bekann- auch der Wärme- und Kraftstoffsektor auf fos- termaßen ein überzeugter Verfechter der Atom­ sile Energieträger verzichten. Das wird teils energie und ich der erneuerbaren Energien. durch Elektrifizierung gelingen und darüber Trotz vieler Diskussionen konnte bislang kei- hinaus mit den technischen Optionen Power- ner den anderen überzeugen, das Lager zu to-Gas und Power-to-Liquid. So lassen sich re- wechseln. So reizt es mich nun doch, es hier generative Gase, Kraftstoffe und Chemikalien noch einmal zu versuchen. Denn ich hege die für Haushalte, Verkehr und Industrie aus re­ Hoffnung, dass HWS nach seiner Emeritierung generativem Strom erzeugen. Damit wachsen sämtliche Beiträge dieses Buches lesen wird. elektrische und stoffliche Welt zusammen und HWS hat nicht nur die Revidierung des schaffen vielfältige Flexibilisierungsoptionen.

Atomausstiegs gefordert, sondern sogar den Die nachhaltige Industriegesellschaft wird also nergiepolitik Ausbau zu einer Stromversorgung, die weit­ mehr denn je eine Stromgesellschaft sein. Die E gehend auf Atomenergie setzt. Dazu wäre der Energiewende lässt sich zudem durch die ein- und - - Bau von über 60 neuen Atomkraftwerken in gesparten Kosten für fossile Brennstoffe finan-

Deutschland erforderlich. Das wird wohl nicht zieren und wird langfristig die niedrigsten Sys- lima einmal der kühnste Atomvisionär für mög- temkosten haben. K die lich halten. Nun lässt sich über Sicherheit und Jeder Wissenschaftler wünscht sich natür- Endlager trefflich streiten. Es gibt keine alle lich, dass seine Prognosen zutreffen. Hier muss und möglichen Schäden abdeckende Haftpflicht- ich HWS wohl enttäuschen. Die von ihm pro- inn

versicherung, denn nüchtern kalkulierende phezeite »Energiewende in Nichts« wird es S Mathematiker halten sie nicht für versicherbar. nicht geben, denn die Energiewende schreitet

Zudem haben 50 Jahre kommerzielle Kern- erfolgreich voran. Auch die von ihm befürch­ erner

kraftnutzung nicht zu einem dauerhaften End- tete »Verspargelung« wird es nicht geben. Le- -W lager geführt. Das entscheidende Argument diglich rund 2 % der Landesfläche werden bei ans H

­gegen die Atomenergie ist jedoch ein ökonomi- einer regenerativen Vollversorgung für Wind- :

sches, sie rechnet sich nicht. Neue Atomkraft- kraftanlagen benötigt. Im wohlverdienten Un- on werke sind schlicht die teuerste Klimaschutzop- ruhestand wird Hans-Werner Sinn trotz der x tion. Etliche in Bau befindliche Kernkraftwerke Energiewende die von ihm geschätzten Land- ado haben Verzögerungen von mehreren Jahren schaftsbilder eines Caspar David Friedrich wei- ar P

und eine Vervielfachung der Kosten. terhin in der Wirklichkeit bestaunen dürfen. ne Anders sieht es hingegen bei den erneuer­ Denn im Epilog des Grünen Paradoxons be- ü gr baren Energien aus. Regenerativer Strom wird kennt er : »Wie viele meiner Landsleute denke as

Jahr für Jahr kostengünstiger. Solar- und Wind­ und fühle ich grün.« D

151 Ottmar Edenhofer KLIMAPOLITIK IM ZEITALTER DER FOSSILEN ENERGIETRÄGER

Ottmar Edenhofer ist Stellvertre- tender Direktor und Chefökonom am Potsdam-Institut für Klima­ folgenforschung, Direktor des Mercator Research Institute on Global Commons and Climate Change und Professor für die Öko- nomie des Klimawandels an der TU Berlin und Kovorsitzender der AG III des Weltklimarats.

Shell sucht nach Öl in der Arktis und hat seine Reserven voraussichtlich nicht vollständig aus Investitionen in die Exploration massiv erhöht; dem Boden holen, da die Extraktionskosten nicht nur China und Indien setzen nach wie mit der bereits geförderten Menge stetig stei- vor auf die Nutzung von Kohle, auch Afrika gen. Doch die Diskrepanz ist offensichtlich. ­erlebt eine Renaissance dieses fossilen Energie- Die Knappheit fossiler Brennstoffe ist auf lange trägers. Die Shale-Gas-Revolution in den Ver- Sicht kein begrenzender Faktor. einigten Staaten wird zwar heimische Emis­ Wenn das 2 °C-Ziel erreicht werden soll, sionen vermindern, aber binnen einer Dekade müssten 70 % der Kohle, ungefähr 35 % des werden die USA zum größten Kohleexporteur ­Gases und 32 % des Öls im Boden belassen der Welt avancieren. werden. Die Nutzung in diesem Umfang wird Ein Blick auf die Zahlen, die der Weltklima- jedoch nur möglich sein, wenn die Menschheit rat vorlegt, zeigt deutlich die Dramatik, die sich nicht nur die Atmosphäre, sondern auch unter-

aus dem steigenden Angebot fossiler Energie- irdische Lagerstätten als Deponieraum für CO2 träger ergibt. Zwar hat sich die Staatengemein- nutzen kann. Grundsätzlich kann bei der Ver-

on schaft auf das 2°C-Ziel geeinigt, was bedeutet, brennung von Kohle, Öl, Gas und Biomasse x dass sie nur noch maximal 1000 Gigatonnen freigesetztes CO2 eingefangen und dann unter-

ado CO2 in der Atmosphäre ablagern darf. Diesem irdisch eingelagert werden. Steht diese Option

ar begrenzten Deponieraum steht jedoch ein An- nicht zur Verfügung, können entsprechend we- P

ne gebot fossiler Energieträger gegenüber, deren niger fossile Energieträger genutzt werden. ü Verbrennung ca. 16 000 Gigatonnen CO2 frei- Aber sind die erneuerbaren Energien nicht gr setzen würde. Die Besitzer von Kohle, Öl und längst so billig, dass sich die Extraktion von as

D Gas werden die vorhandenen Ressourcen und Kohle bald nicht mehr lohnen wird ? Unter op-

152 timalen Bedingungen sind die Stromgeste- das Argument, die erneuerbaren Energien so hungskosten von Wind schon fast so niedrig billig werden, dass die Extraktion fossiler Ener- wie die von Kohle. Rechnet man jedoch die gieträger unwirtschaftlich wird, dann könne Kosten der Fluktuation des Windes mit ein, ist man sich die internationalen Verhandlungen der Windstrom immer noch teurer als der ersparen. Nicht Diplomaten lösten dann das Kohlestrom, zumindest bei größeren Anteilen Problem, sondern Ingenieure. Durch die direk- Windstrom im Netz. Für Solarenergie gilt Ähn- te Subventionierung von Technologien sollen liches. In China, Indien, den USA, aber auch in die Kosten sauberer Energie gesenkt werden. Europa wird die Kohle wieder verstärkt im Unter bestimmten Bedingungen kann die Sub- Stromsektor genutzt. Dieser Trend kann nur ventionierung von Technologien sinnvoll sein. gebrochen werden, wenn die Emissionen einen Das Problem ist nur : Eine erfolgreiche Tech­ Preis bekommen oder die Besitzer von Kohle, nologiepolitik und sinkende Kosten der erneu- Öl und Gas dafür entschädigt werden, dass sie erbaren Energien lassen die Nachfrage nach die enormen Vorräte im Boden belassen. Diese fossilen Energieträgern und damit ihren Preis Option wäre ökonomisch zwar effizient, aber sinken. Daraus erwächst der Anreiz für den die meisten Steuerzahler würden finanzielle Stromsektor, verstärkt Kohle zu nutzen. Tech- Kompensationsleistungen für Saudi-Arabien, nologiepolitik ist dazu verdammt, gegen das Russland, China oder gar die USA als unfair gewaltige Angebot der fossilen Energieträger empfinden. »anzusubventionieren«, bis die CO2-freien

Bleibt also nur die Option, dass CO2-Emis­ Technologien billiger sind als Kohle & Co. nergiepolitik sionen einen Preis bekommen, der die Knapp- ­Sollte dies in der Zukunft überhaupt realisier­ E heit des Deponieraumes der Atmosphäre zum bar sein, verteuerte es die Verminderung von und - - Ausdruck bringt. Hans-Werner Sinn, der mit Emissionen drastisch. Sich auf die großen tech-

seinem »grünen Paradoxon« die Angebotsseite nischen Durchbrüche zu verlassen, birgt das lima in das politische und wissenschaftliche Be- ­Risiko weiter steigender Emissionen. Techno- K die wusstsein gerückt hat, misstraut einer CO2- logiepolitik kann die CO2-Bepreisung nicht er- Steuer. Denn um keinen Anreiz zur beschleu- setzen, allenfalls ergänzen. und nigten Extraktion zu geben, müsste die Steuer In der Tat zeigt das »grüne Paradoxon«, dass inn

langsamer wachsen als der Zinssatz. Er traut Klimaschutz internationaler Kooperation be- S der Politik nicht zu, dass sie sich langfristig auf darf. Hans-Werner Sinn hat immer betont,

einen solchen Steuersatz festlegen kann. Aus dass er im Klimaproblem eine der großen Her- erner

diesem Grund sieht er in einem weltweiten ausforderungen der Menschheit sieht, das -W Emissionshandel die überlegene Option. Dar­ dringend einer Lösung bedarf. In Anbetracht ans H

über kann und muss man streiten. Aber die der jüngsten Berichte des Weltklimarates über :

meisten Ökonomen werden wohl darin über- das ungleiche Verhältnis zwischen dem Ange- on x einstimmen, dass es ohne einen CO2-Preis kei- bot fossiler Energieträger und dem begrenzten ne sinnvolle Klimapolitik geben kann. Deponieraum der Atmosphäre steht die inter- ado

Die Mehrheit der Beobachter bezweifelt, nationale Klimapolitik vor dramatischen Her- ar P

dass in Paris im Dezember 2015 eine Einigung ausforderungen. Es bleibt dabei : Das »grüne ne ü über eine globale CO2-Bepreisung möglich Paradoxon« ist ein Leitfaden für effektive Kli- gr sein wird. Es werden alternative Optionen dis- mapolitik im Zeitalter der fossilen Energie­ as kutiert, wie die Technologiepolitik. Wenn, so träger. D

153 Sigmar Gabriel HANS-WERNER SINN: EIN ÖKONOM UND TREIBER DES POLITISCHEN DISKURSES

Sigmar Gabriel ist seit Dezember 2013 Vizekanzler der Bundesrepub- lik Deutschland sowie Bundes­ minister für Wirtschaft und Energie. Von 2005 bis 2009 war er Bundes- umweltminister. Seit 2009 führt er den Parteivorsitz der SPD.

Aufgabe der Politik ist es, in demokratischen Sinn : Er war und ist immer bereit, einen sol- Verfahren ermittelte Antworten auf die großen chen Input zu leisten. Er hat regelmäßig das Fragen unserer Zeit zu geben. Ganz oben auf Wort ergriffen und sich in die großen wirt- der Liste existenzieller Fragen steht der Klima- schaftspolitisch relevanten Debatten unserer wandel. Längst ist klar, dass der globale Tem­ Zeit eingebracht und diese mitgeprägt. Auch in peraturanstieg gebremst werden muss. Seine der Klima- und Energiepolitik hat er wichtige negativen Auswirkungen erkennen wir aller­ Denkanstöße gegeben und diese meinungs- orten; sie müssen dringend begrenzt werden. stark vorgetragen. Dabei hat ihm vor allem sein Ein Schlüssel dafür ist eine erfolgreiche Ener- breites und fundiertes Wissen geholfen, aus giewende. Wenn Energie sauber und nachhal- dem großen und gut gefüllten Werkzeugkasten tig bereitgestellt werden kann, wenn sie ver- der Ökonomie jeweils passende Instrumente lässlich verfügbar ist und bezahlbar bleibt, wird auszuwählen, an einen veränderten Kontext sie gelingen. Wirtschafts-, Energie- und Um- anzupassen und teilweise auch ganz neu und weltpolitik müssen dabei zusammenwirken, unkonventionell anzuwenden.

on um das energiepolitische Dreieck aus Versor- Hans-Werner Sinn hat sich intensiv mit der x gungssicherheit, Wirtschaftlichkeit und Um- Funktionsweise und der Effizienz von Märkten

ado weltverträglichkeit auszubalancieren. auseinandergesetzt und diese Erkenntnisse auf

ar Um in diesem Spannungsfeld analytisch marktbasierte Instrumente wie den EU-Emis- P

ne fundierte, gesellschaftlich akzeptierte und poli- sionshandel übertragen. Er hat auf Fehlent- ü tisch konsensfähige Wege zu finden, bedarf es wicklungen hingewiesen, die dem Ausgleich gr kluger Köpfe mit guten Ideen, Analysen und von Angebot und Nachfrage entgegenstehen as

D Anregungen. Einer von ihnen ist Hans-Werner oder auf andere Weise den Wettbewerb behin-

154 dern und die im Ergebnis zu einem schlech­ schätzung und Anerkennung gefunden, auch teren Marktergebnis führen. Ebenso hat er die in der Politik. Chancen der Energiewende und von grünem Die Realität hält sich jedoch nicht immer an Wachstum analysiert. die Annahmen und Grenzen der theoretischen Hans-Werner Sinn hat Vorschläge gemacht, Wissenschaft. Komplexe Fragestellungen, so- wie sich das Verhalten von Unternehmen und zusagen das tägliche Brot der Politik, können Konsumenten beeinflussen lässt. Er hat auf deshalb gerade nicht durch ein einfaches öko- Fehlanreize, die Innovationen und Wachstum nomisches Modell sauber abgebildet werden. verhindern, ebenso hingewiesen wie auf die Zu vielen drängenden Fragen unserer Zeit gibt Rolle die Politik dabei. Klar zeigt er, wo die es keine wissenschaftlich eindeutigen Antwor- Grenzen nationalen Handelns liegen. Viele ten. Viel mehr noch als die Wissenschaft muss Vorschläge für die Klimaschutzpolitik zielen die Politik deshalb nach Kompromissen su- auf die Minderung der Nachfrage nach fossilen chen, die aus der Perspektive der Wissenschaft Ressourcen ab. Hans-Werner Sinn hat darauf womöglich nur als zweit- oder drittbeste Lö- verwiesen, dass für den Erfolg von Klima- sung erscheinen. schutzpolitik ebenso das Kalkül der Anbieter Hans-Werner Sinn ist es auch als Berater der solcher Ressourcen in Betracht gezogen wer- Politik gelungen, eine eigene Sichtweise auf den sollte. Denn auch wenn der Marktpreis in- drängende Herausforderungen zu entwickeln. folge einer verringerten Nachfrage sinkt, kann Immer wieder hat er durch unkonventionelle

es für einen Anbieter sinnvoll sein, sein Ange- Lösungsvorschläge eine laufende Debatte neu nergiepolitik bot heute noch auszuweiten, weil morgen viel- belebt. Auch wenn wir nicht immer einer Mei- E leicht gar keine Nachfrage mehr vorhanden nung waren, bin ich Hans-Werner Sinn dafür und - - sein wird. sehr dankbar. Denn eine Demokratie lebt vom

Für die wirtschaftspolitische Debatte sind offenen Diskurs, von der Kraft der Argumente, lima ökonomische Modelle unverzichtbar. Sie hel- vom Ringen um die richtige Lösungsstrategie K die fen uns, grundlegende Prinzipien zu erkennen und vom Ausbalancieren des Pro und Kontra. und komplizierte Sachverhalte auf einen we- Dieser Diskurs ist wichtig, damit politische und sentlichen Kern zu komprimieren. Das macht Entscheidungen regelmäßig hinterfragt und inn

sie methodisch gut handhabbar und führt zu überprüft werden. Nicht alles, was uns gestern S analytisch sauberen Ergebnissen. Hans-Wer- gut und richtig erschien, muss auch heute noch

ner Sinn hat es als einer der vielseitigsten und seine Berechtigung haben. erner

profiliertesten Ökonomen in Deutschland im- In diesem Sinne wünsche ich mir, dass uns -W mer wieder geschafft, mitunter komplexe The- Hans-Werner Sinn als aufmerksamer Beob­ ans H sen in einer für die Allgemeinheit verständ­ achter und als kritischer Geist mit spitzer Feder :

lichen Weise zu erklären und sie durchaus lange erhalten bleibt und uns auch in Zukunft on pointiert wiederzugeben. Dafür hat er über die noch viele wertvolle Denkanstöße geben wird. x

Grenzen der Wissenschaft hinweg viel Wert- ado ar P ne ü gr

as D

155 Jürgen Trittin DER GRÜNE SINN – EIN PARADOX? ZUM ABSCHIED EINES AUFRECHTEN NEOLIBERALEN

Jürgen Trittin ist Bundestags­ abgeordneter für Bündnis 90/ Die Grünen und Mitglied im Aus- wärtigen Ausschuss. Er war von 1998 bis 2005 Bundesumwelt­ minister. In seine Amtszeit fallen u. a. das Erneuerbare-Energien- Gesetz und der Atomkonsens, der den deutschen Ausstieg aus der Atomkraft auf den Weg brachte.

Wo Reibung ist, entsteht Wärme. Folgt man Gesellschaften wachsen ließ – und Anfang des dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik, Jahrtausends auch Regierungen der linken Mitte wird die wirtschaftspolitische Debatte in von New Labour bis Rot-Grün erfasst hatte. Deutschland in den nächsten Jahren abkühlen. Trotzdem gibt es einige Berührungspunkte zwi- Zumindest wenn Hans-Werner Sinn sich die schen Sinn und grüner Politik. »Es sträuben sich Freiheit nimmt, seinen Ruhestand zu genießen. die Nackenhaare des Öko­nomen, wenn in der Aber ob er Ruhe gibt ? Öffentlichkeit ein Widerspruch zwischen Öko- Als Vordenker einer neoliberalen Wirt- logie und Ökonomie beschworen wird. Wie schaftsschule ist Sinn immer so etwas wie der kann man unser Fach nur so grundlegend miss- natürliche Gegner einer keynesianisch gepräg- verstehen !«, so Sinn. Wie wahr. ten Denkschule gewesen – mit den Ökokey­ Und doch bleibt seine Analyse oft auf einem nesianern von den Grünen konnte er noch Auge blind : Die globale Umweltkrise ist das Er- ­weniger anfangen. Dabei hat er eine bemerkens- gebnis eines fundamentalen Marktversagens – werte Standhaftigkeit, manche behaupten Starr- und einer neoliberalen Verirrung.

on sinnigkeit bewiesen. Doch die Parole vom »Pri- Den Klimawandel kann man in der Sprache x vat vor Staat« fand eine grausame Wider­legung, der Ökonomie knapp erklären : Die Preise auf

ado als zur Rettung der Realwirtschaft ­Milliarden den Märkten für Energie, Verkehr und Wärme

ar Bankschulden in Staatsschulden verwandelt kalkulieren ohne die Kosten, die der Handel auf P

ne wurden. Es war das Ergebnis einer Politik, die diesen Märkten verursacht : drastische Umwelt- ü mit der von Ronald Reagan und Margaret That- schäden. gr cher vorangetriebenen Radikalisierung des Ka- Bei der Energiewende tobt dabei ein ideo­ as

D pitalismus begann und die Ungleichheit in den logischer Kampf. Sinn gehört zu denen, die ve-

156 hement gegen eine Vorreiterrolle Deutschlands neuerbare liefern heute mehr als die Atomkraft- bei der Energiewende gestritten haben. Sein Ar- werke zu Beginn der Energiewende. Wir sparen gument ist mathematisch : Deutschlands Beitrag so in Deutschland fast 150 Mio. Tonnen Treib­ zu den notwendigen CO2-Einsparungen sei zu hausgase ein, beschäftigen gut 371 000 Menschen gering, die Kosten zu hoch und Atomkraft das und ­haben für einen beispiellosen Technologie- Mittel der Wahl. schub gesorgt. Die deutsche Volks­wirtschaft Dem muss man mit einem ökonomischen spart aktuell 15 Mrd. Euro für nicht benötigte Argument antworten : Atomenergie ist in Eu­ro­ Energieimporte aus Russland, Saudi-Arabien pa und den USA aus ökonomischen Gründen in oder Katar. 2050 werden es 50 Mrd. sein. der Krise. Preise pro Kilowattstunde von mehr An der Erklärung des letzten G-7-Gipfels war als 15 Cent haben verbunden mit extrem langen wenig spektakulär, doch ein Satz inter­essant : Kapitalbindungszeiten keine Chance, wenn in das Ziel einer Dekarbonisierung der Weltwirt- Deutschland für 9 Cent mit Photovoltaik und schaft in diesem Jahrhundert. Dahinter steckt für 6 Cent mit Wind Strom generiert wird. Des- die Erkenntnis, dass fossile Brennstoffe zwar halb gingen 2014 global mehr erneuerbare Ka- endlich, aber im Überfluss vor­handen sind. Wir pazitäten ans Netz als fossile. könnten zwar weiter fossile Energien verbren- Wenn es einem der erfolgreichsten Indus­trie­ nen, aber wir können es uns nicht leisten ! länder gelingt, in relativ kurzer Zeit seine Strom- Rechnet man das 2°-Ziel in die Menge an CO2 versorgung von Kohle und Atom auf erneuerba- um, die wir überhaupt noch ausstoßen dürfen,

re Energien umzustellen, dann hat das nicht nur erhält man ein »Budget« von rund 800 Gigaton- nergiepolitik Vorbildwirkung weltweit, es eröffnet auch neue nen. Das heißt, wir dürfen nicht mal mehr die E

Märkte, auf denen es gilt, den first mover advan- Hälfte der heute förderbaren Reserven an Öl, und - - tage clever zu nutzen. Gas und Kohle verfeuern.

Stärker noch ist der Effekt, der sich aus der Die noch in der Erde befindlichen Energie- lima ausgelösten Kostendegression ergab. Wind- träger werden somit zu »totem« Kapital. Eine K die strom kostet heute ein Fünftel, Solarstrom nur Carbon Bubble, die zu platzen droht. Sinn ein Zehntel als vor zehn Jahren. Die deutsche spricht von einer drohenden Kapitalvernich- und

Energiewende hat diese Technologien global tung. Ich würde von einer Fehlallokation spre- inn

wettbewerbsfähig gemacht und damit einen chen, die dringend behoben werden muss. Wir S Grundstein gelegt, dass die Welt überhaupt die können nicht auf den globalen Emissions­handel

Chance hat, das 2°-Ziel einzuhalten. warten. Das Motto muss Deinvestieren heißen. erner

Diese beispiellose Erfolgsgeschichte begann Raus aus den fossilen Energien. -W zehn Jahre vor Fukushima mit dem Ausstieg aus Das wissen auch die Ölförderer. Getreu dem ans

H der Atomenergie und dem Erneuerbare-Ener­ Sinn’schen Paradox hat Saudi-Arabien in Kennt- :

gien-Gesetz. nis, dass bei ihnen so oder so 2035 Schluss ist, on Der Ausbau der Erneuerbaren ging erheblich begonnen, seine Ölförderung bei niedrigen x schneller, als wir alle glaubten. Ich hatte im Jahr Preisen nicht mehr zu drosseln. ado

2000 ins EEG aufnehmen lassen, dass im Jahr Ein Ende der fossilen Ökonomie wird nicht ar P

2020 20 % unseres Stroms erneuerbar erzeugt automatisch über die Knappheit und den Preis ne werden sollen. 1999 waren es 5,2 %. Deshalb galt herbeigeführt. Wir brauchen dafür andere po­ ü gr das als ein utopisches Ziel. litische Rahmenbedingungen. Mehr Staat wäre as

Das Ziel wurde spielend übertroffen, und Er- hier nötig – und mehr globale Governance. D

157 Peter-Alexander Wacker PARADOX: DER ZICKZACK-KURS INS NACHFOSSILE ZEITALTER

Peter-Alexander Wacker begann seine berufliche Karriere 1978 bei der BMW AG. 1996 trat er in die Geschäftsführung der Wacker Chemie ein, wurde 2001 zu deren Sprecher berufen und übernahm 2005 den Vorsitz des Vorstands. Seit 2008 ist er Vorsitzender des Aufsichtsrats der Wacker Chemie­ AG.

Ein Paradoxon ist bekanntlich ein Wider- genutzt werden. Rentabilitätsberechnungen, bei spruch, der sich ergibt, wenn gewohnte Denk- denen die Stromkosten im Mittelpunkt stan- weisen nicht gründlich genug hinterfragt den, gaben den Ausschlag für diese Entschei- ­werden. Hans-Werner Sinn liebt es seit jeher, dung. solche Widersprüche aufzudecken, aufkläre- Einem streng wirtschaftlich denkenden Öko­ risch zu wirken und mit Lust an der Pointe, zu- nomen wie Hans-Werner Sinn widerstrebt es, gespitzt – mitunter auch überspitzt – zu for­ dass die Politik stark regulatorisch und system- mulieren. Es ist deshalb nur konsequent, dass widrig in den Energiemarkt eingreift und so er seinem Buch zur Energie- und Klimapolitik der zentrale Grundsatz der Marktwirtschaft den Titel Das grüne Paradoxon gegeben hat. von Angebot und Nachfrage ausgehebelt wird. Wir als energieintensives Unternehmen sind Die Ökosteuer und das Erneuerbare-Energien- mit diesem Paradoxon tagtäglich konfrontiert. Gesetz sind für ihn nur zwei Beispiele dafür. Energie ist für den Chemiekonzern Wacker Sie sollen dazu dienen, den Klimawandel zu

heute genauso ein Schlüsselfaktor für die Wett- verlangsamen und den CO2-Ausstoß zu verrin-

on bewerbsfähigkeit wie schon bei der Gründung gern. Sie sind für ihn der Beleg, dass Deutsch- x des Unternehmens vor 101 Jahren. Bei der Su- land in der Klimafalle steckt. Aus Sicht der

ado che nach einem Standort für das erste Wacker- ­Industrie kann ich seiner Argumentation nur

ar Werk war die wichtigste Frage : Wo lässt sich zu zustimmen. P

ne möglichst geringen Stromkosten Carbid pro- Die hohen Energiekosten gefährden den ü duzieren ? Die Wahl fiel auf Burghausen. Das Wirtschaftsstandort Deutschland. Mit Abga- gr Wasser der Alz konnte dort mit Hilfe eines ben wie der EEG-Umlage schultern wir zusätz- as

D Kraftwerks für die energieintensive Produktion liche Lasten. Seit 2007 hat allein Wacker rund

158 215 Millionen Euro dafür gezahlt. Für Indus­ ches Handeln aufbaut : Verlässlichkeit und Ver- trieunternehmen sind die Preise für Strom trauen. Die Energiewende ist der beste Beweis seit 2002 um 125 % gestiegen. Die Kilowatt- dafür. Populistische Entscheidungen gefährden stunde Industriestrom kostet in Deutschland Investitionen, Wachstum und Beschäftigung. 11,57 Cent, in den USA 5,21 Cent. Wacker ver- An einem Punkt muss ich Hans-Werner braucht hierzulande im Jahr rund 3,9 Tera­ Sinn allerdings widersprechen. Ich meine, es wattstunden Strom. Das ist mehr als 0,5 % des war richtig, Anreize für die Nutzung erneuer- deutschen Stromverbrauchs. Hohe Energie- barer Energiequellen zu schaffen. Es lässt sich preise treffen uns besonders. Steigt der Strom- darüber streiten, ob die Solarsubventionen bes- preis um nur einen Cent pro Kilowattstunde, ser in die Technologieentwicklung geflossen bedeutet das für uns eine zusätzliche Belastung wären als in garantierte Einspeisevergütungen. von 25 Mil­lionen Euro bei den Herstellungs- Wir vergessen dabei schnell : Auch Atomkraft- kosten. werke und Kohlebergbau haben wir jahrzehn- Unsere unternehmerische Antwort auf die telang kräftig subventioniert. Aber innerhalb deutsche Energie- und Klimapolitik lautet : den von wenigen Jahren ist es gelungen, eine in den Produktionsfaktor Energie ständig zu opti­ Kinderschuhen steckende Technik so zu ent­ mieren. Eigene Kraftwerke zu betreiben ist ein wickeln, dass sie wettbewerbsfähig geworden Weg. Wir tun das bereits mit Wasser- und Gas- ist und einen weltweiten Siegeszug angetreten kraftwerken. Ein zweiter Weg ist die Energie­ hat. Das Paradoxon ist nur : Jetzt, wo die Preise

effizienz. Die Chemieindustrie ist darin heute stark gesunken sind und die Stromgestehungs- nergiepolitik schon Weltmeister. Mit chemischen Produkten kosten bei 5 Eurocent pro Kilowattstunde lie- E lässt sich die doppelte Menge an Energie ein- gen – was Solarstrom auch ohne Förderung und - - sparen, die für die Produktion aufgewendet wettbewerbsfähig macht –, ist der Markt für

wird. Der dritte Weg ist die Suche nach Stand- Photovoltaikanlagen in Deutschland um 75 % lima orten mit niedrigen und langfristig stabilen eingebrochen. K die Energiepreisen. Deshalb haben wir unseren In einem anderen Punkt hat Hans-Werner neuen Produktionsstandort für Polysilicium Sinn bis heute Recht behalten : mit seiner Skep- und im US-Bundesstaat Tennessee aufgebaut, der sis, dass sich das Klima retten lässt, indem wir inn

Ende 2015 in Betrieb gehen wird. Wir haben durch den Einsatz der erneuerbaren Energien S dort die Garantie bekommen, dass der Strom- und eine höhere Energieeffizienz den CO2-Aus-

preis bis 2028 unverändert bleibt. stoß verringern. Der Rückgang der Nachfrage erner

In Deutschland fällt es der Politik immer nach Öl, Gas und Kohle in Europa hat nicht zu -W schwerer, für die Interessen der Wirtschaft ein- einer Verknappung des Angebots fossiler Ener- ans H zutreten, weil »zu viel grüne Ideologie« die gieträger geführt. Ganz im Gegenteil. Die Prei- :

Oberhand gewonnen hat, wie es Hans-Werner se für fossile Energieträger sind gefallen und so on x Sinn formuliert hat. Unternehmen, die stra­ attraktiv, dass sogar mehr CO2 in anderen Re­ tegisch langfristig denken und handeln, brau- gionen der Welt ausgestoßen wird. Auch das ist ado chen Verlässlichkeit und Planbarkeit. Wenn ein Paradoxon der Energie- und Klimapolitik, ar P

verbindliche Zusagen oder Genehmigungen das sich am Ende vielleicht nur mit seinem ne plötzlich zur Disposition gestellt werden, zer- Vorschlag eines globalen Emissionshandels­ ü gr stören wir die Werte, auf denen wirtschaftli- systems lösen lässt. as D

159 HWS mit dem Stellvertretenden Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung, Ottmar Edenhofer (rechts), und Stephen ­Fidler (links) vom Wallstreet ­Journal beim Munich Economic Summit 2009.

( von links nach rechts ) HWS, Lord ­Nicholas Stern (London School of Economics), Angus ­Deaton (Princeton, Nobelpreis­ träger 2015), Klaus Schmidt (LMU München) bei den ­Munich Lectures in ­Eco­nomics in der ­Großen Aula der ­Universität ­München, 2002.

HWS mit dem Vorsitzenden des Sachverständigenrats für Umwelt- fragen Martin Faulstich beim ifo/ SRU-Symposium »Energiewende: Konsequenzen für den Industrie­ standort Deutschland?« im Mai 2015 in Berlin.

160 Rick van der Ploeg und HWS beim Abendessen nach den Munich Lectures in Economics, November 2014.

HWS diskutiert mit Bundeswirt- schaftsminister Sigmar Gabriel und Marc Beise (Süddeutsche ­Zeitung) über die Rolle der Bera- tung in der Wirtschaftspolitik bei der ifo Jahresversammlung 2015.

HWS, Gewinner des »Dinosaurier des Jahres« 2009.

161 07.07. 2012 KASINO-KAPITALISMUS: Hans-Werner Sinn und die 7 Finanzarchitektur Oliver Falck EINLEITUNG Kasino-Kapitalismus: Hans-Werner Sinn und die Finanzarchitektur

Oliver Falck ist seit neun Jahren am ifo Institut. Als Postdoc ange- fangen, leitet er inzwischen das ifo Zentrum für Industrieökono- mik und neue Technologien und ist Professor für Volkswirtschafts- lehre an der Ludwig-Maximilians- Universität München. Er ist zudem einer der CESifo-Programm­ direktoren.

Eines der ältesten und zentralen Betätigungs- gleichermaßen für die große Arena des gesell- felder von Wissenschaftlern ist das Forschungs- schaftlichen wirtschaftspolitischen Diskurses; seminar. Wie in einer Arena werden hier neue ein Beispiel aus der näheren Vergangenheit sind Ideen und Ansätze einem kritischen Fach­ seine Analysen zur (vorerst) letzten Finanz- publikum präsentiert und erhalten durch des- marktkrise. sen Fragen, Kritik und Vorschläge zusätzlichen Die theoretischen Grundlagen zu seinem Schliff. In meiner Zeit als Wissenschaftler am 2009 erschienenen Buch Kasino-Kapitalismus ifo seit 2007 habe ich HWS als ausgesprochen legte HWS bereits in seiner 1977 fertiggestellten lebhaften Teilnehmer in vielen Seminaren er- Dissertation. Im Rahmen eines theoretischen lebt. Diese Seminare decken eine enorme Brei- Modells zeigt er, dass die Haftungsbeschrän- te von wirtschaftlichen Themen am aktuellen kung von Entscheidungsträgern dazu führt, Rand der Forschung ab. Umso mehr beein- dass Verluste, die sich aus fehlgeschlagenen druckte mich die Fähigkeit von HWS, den Vor- ­Investitionsentscheidungen ergeben, über die tragenden prägnante (und durchaus im Voraus Beteiligung der Gläubiger geteilt werden, wäh- bereits gefürchtete) Fragen zur theoretischen rend die Gewinne allein den Entscheidungsträ- Fundierung und zur wirtschaftspolitischen Re- gern zukommen. Somit erhöht sich der Risiko­ levanz des Themas zu stellen. Noch nachdrück- appetit der Entscheidungsträger. Vergleichbar alismus licher beeindruckend aber ist die Tatsache, dass mit einem Spieler, der im Kasino nicht mit eige-

apit er bei einer Vielzahl dieser Vorträge auf eigene nem Geld spielt und daher den Einsatz immer -K theoretische Vorarbeiten verweisen konnte. weiter erhöht, wählen Entscheidungsträger zu Und was sich im engen Rahmen der wissen- riskante Investitionsstrategien. Aus dem Um- asino

K schaftlichen Seminare beobachten ließ, gilt stand, dass man jemandem im Falle eines Ver-

164164164 lustes nicht mehr nehmen kann, als er auf- genkapitalquoten resultiert und damit ein er- grund der Haftungsbeschränkung verpflichtet hebliches Politikversagen begründet. ist zu geben, prägte HWS den Begriff »BLOOS- Aufbauend auf diesen frühen theoretischen Regel«, der aus dem englischen Sprichwort »It’s Vorarbeiten – gepaart mit dem »Recherche­ like getting blood out of a stone« abgeleitet ist. apparat« der CESifo-Gruppe –, legte HWS im Die herausragende Bedeutung der von HWS April 2009 als einer der ersten Ökonomen mit entwickelten BLOOS-Regel wurde von Martin Kasino-Kapitalismus eine minutiöse Analyse Hellwig, Koautor des vielbeachteten Buchs Des der internationalen Finanzmarktkrise ab 2007 Bankers neue Kleider, hervorgehoben (meine vor. Seine Diagnose lautete, dass eine fehler­ Übersetzung) : »Diese Erkenntnis ist für die hafte und insbesondere unzureichende Regu- moderne Theorie der Kreditrationierung und lierung von Finanzinstitutionen einer der Bankenregulierung fundamental. Sie wird von wichtigsten Gründe für den Ausbruch und die Ökonomen typischerweise mit dem berühm- Ausweitung der Finanzkrise war. Die Haftungs- ten Artikel von Stiglitz und Weiss aus dem Jahr beschränkung der Banken manifestierte sich 1981 im American Economic Review in Verbin- insbesondere durch die Festlegung von zu ge- dung gebracht. Tatsächlich kam ihm HWS’ ringen Eigenkapitalquoten der Banken durch Dissertation, die 1977 an der Universität Mann- die Regulierungsbehörden. Aus diesen Er- heim angenommen wurde, zuvor.« Ähnliche kenntnissen schlussfolgerte er, dass ein stabiles Mechanismen wurden also später in der Lite­ Bankensystem nur durch die Verstärkung des ratur, unter zum Teil anderen Bezeichnungen, Haftungsprinzips erreicht werden könne, des- übernommen und sind heute zentraler Bestand- sen Grundvoraussetzung eine wesentlich straf- teil moderner banktheoretischer Modelle. fere Eigenkapitalregulierung sei. Dabei bedür- Die Arbeiten zum Zusammenhang zwischen fen die langfristigen Regulierungsregeln des Haftungsbeschränkung und asymmetrischen Bankensystems einer internationalen Harmo-

Informationen zwischen den Entscheidungs- nisierung, um dem schleichenden Laschheits- inanzarchitektur F trägern einer Bank und ihren Gläubigern griff wettbewerb einen Riegel vorzuschieben. die HWS zehn Jahre später in seinen Beiträgen Modelle versetzen Ökonomen in die Lage,

zum Systemwettbewerb zwischen nationalen komplexe Zusammenhänge auf die entschei- und

Regulierungsbehörden erneut auf. Diese kön- denden Fragen und Probleme herunterzubre- inn nen durch strengere Eigenkapitalanforderun- chen. Sie sind das notwendige Fundament für S gen an Banken deren tatsächliche Haftung jeden fundierten Beitrag zum wirtschaftspoliti-

­erhöhen. Gleichzeitig wollen Staaten aber als schen Diskurs. Wie kaum ein anderer Ökonom erner

Standort für Banken attraktiv sein, was eine in Deutschland kann HWS hierfür auf ein eige- -W

Tendenz zum Lockern der Auflagen begrün- nes breit gefächertes theoretisches Œuvre zu- ans H det. Dieses Konkurrieren zwischen Staaten um rückgreifen. Und vor dem Hintergrund aktuel- : die Attraktivität des eigenen Bankenstandorts ler wirtschaftspolitischer Probleme erscheinen führt zu einem Laschheitswettbewerb, der seine frühen theoretischen Beiträge als (fast schließlich in zu geringen regulatorischen Ei- schon erschreckend) vorausblickend. alismus apit -K asino K

165165 Clemens Fuest KASINO-KAPITALISMUS UND RISIKO ALS PRODUKTIONSFAKTOR – EIN ABEND IN EINEM RESTAURANT IN PARIS

Clemens Fuest, Präsident des ZEW, Mannheim, wechselt zum 1. April 2016 als Präsident zum ifo Institut und als Professor für Volkswirtschaftslehre an die Ludwig-Maximilians-Universität.­ Seine Forschungsgebiete sind die F­ inanzwissenschaft und wirt- schaftspolitische Aspekte der Europäischen­ Integration.

Es war der Abend des 24. Oktober 2008 im schäftigen sollte. Auf dem Podium waren drei Hinterzimmer eines Restaurants in Paris. Dort Ökonomen, darunter Hans-Werner Sinn. Sei- fand anlässlich eines Economic Policy Panel ne beiden Diskussionspartner konzentrierten Meetings ein Abendessen statt, auf Einladung sich auf die Beschreibung mehr oder weniger der Banque de France. Rund 50 Ökonomen komplizierter Finanzprodukte, die mit Abkür- ­saßen eng gedrängt beisammen. Während des zungen wie CDS, CDOs und so weiter bezeich- Tages hatten wir akademische Aufsätze dis­ net werden. Die Botschaft lautete, die Krise sei kutiert. Hauptthema der Unterhaltung in den durch die exzessive Verwendung von kom­ Pausen war aber die dramatische aktuelle Ent- plexen Finanzprodukten entstanden, die kaum wicklung im Finanzsektor : der Zusammen- kalkulierbare Risiken heraufbeschwören. Die bruch der Lehman-Bank einen Monat zuvor Bankenaufsicht habe diese Produkte oft nicht und die Rettung des Kreditversicherers AIG verstanden, aber im Wettbewerb der Finanz- mit Milliarden von Steuergeldern nur wenige plätze habe man Nachteile befürchtet, wenn Tage später. Obwohl spätestens seit dem Kol- man einzelne Instrumente verbietet. Man habe laps der britischen Bank Northern Rock im Fe- auch übersehen, dass komplexe Finanzpro­ bruar 2008 unübersehbar war, dass im Finanz- dukte vielfältige Verbindungen unter Banken sektor eine Krise drohte, war die Dimension entstehen lassen, mit der Folge, dass Probleme alismus der Katastrophe, die im Herbst 2008 offenbar ­einer einzelnen Bank leicht einen Flächen-

apit wurde, eine böse Überraschung. brand auslösen können. -K Für den Abend hatten die Veranstalter spon- Diese Erklärung lässt die Krise als eine Art tan eine kleine Podiumsdiskussion arrangiert, Unfall erscheinen, der durch Dummheit, asino

K die sich mit dem Ausbruch der Finanzkrise be- Leichtsinn oder Irrationalität entstanden ist.

166166 Seit der Finanzkrise werden die internationa- mit zu erklären, die Menschen seien irrational len Finanzmärkte in der Tat oft als ein chaoti- oder könnten Komplexität nicht bewältigen. sches System beschrieben, in dem irrationale Ebenso charakteristisch ist, dass Hans-­ und von Gier geblendete Akteure astrono­ Werner Sinn trotz aller Kritik an riskanten In­ mische Summen rund um den Globus jagen, ves­titionen und beschränkter Haftung davor ohne Rücksicht auf die Folgen. Warren Buffett ­gewarnt hat, das Kind mit dem Bade auszu- hat bestimmte Finanzderivate (CDOs) gar als schütten. Dass Investoren Risiken eingehen, ist »Massenvernichtungswaffen« bezeichnet. nicht zu beanstanden, solange diese Investoren Hans-Werner Sinn hat anders argumentiert. die Kosten in vollem Umfang tragen. Ganz im Er hat die Krise als eine Folge der Kombination Gegenteil : In seiner Antrittsvorlesung an der aus beschränkter Haftung und hoher Fremd­ Universität München mit dem Titel »Risiko kapitalfinanzierung erklärt. Wenn ein Investor als Produktionsfaktor« hat er erklärt, dass das beschränkter Haftung unterliegt und Verluste ­Eingehen von Risiken geradezu Grundlage un- auf andere abwälzen kann, beispielsweise Kre- serer modernen Zivilisation ist – ohne Risiko­ ditgeber, wird er exzessive Risiken eingehen. bereitschaft würden viele Errungenschaften Das geht eine Zeitlang gut, und der Investor der modernen Industriegesellschaft nicht exis- streicht hohe Renditen ein. Aber es liegt in der tieren. Das Eingehen von Risiken wird erst Natur riskanter Investitionen, dass es irgend- dann zum Problem, wenn Verluste auf Dritte wann zu Verlusten kommt. Ein Investor, der wie etwa Steuerzahler abgewälzt werden. kaum eigenes Kapital einsetzt, wird von diesen Kaum weniger wichtig für die wirtschaftli- Verlusten jedoch nicht getroffen – andere zah- che Entwicklung ist die Möglichkeit, Unter- len die Rechnung, beispielsweise Fremdkapi- nehmen zu errichten, in denen die Haftung der talgeber oder, wenn der Staat Banken rettet, die Kapitalgeber auf das eingebrachte Kapital be- Steuerzahler. Fremdkapitalgeber sollten diese schränkt ist. Beschränkte Haftung erlaubt es inanzarchitektur

Gefahr kennen und entsprechende Risikoprä- modernen Unternehmen, große Mengen an F

mien verlangen. Steuerzahler können sich aber Kapital von vielen Investoren zu mobilisieren. die kaum wehren. Dieses Phänomen, in der Litera- In seinem Buch Kasino-Kapitalismus beschreibt und tur als »gambling for resurrection« bezeichnet, Hans-Werner Sinn die Geschichte der Insti­

spiele eine zentrale Rolle. In seinem Buch Kasi- tution beschränkter Haftung und zitiert eine inn no-Kapitalismus hat Hans-Werner Sinn diesen Rede des Präsidenten der amerikanischen Co- S Punkt später ausführlich erläutert. lumbia-Universität, Nicholas Murray Butler,

Heute, nach Jahren der Debatte über die aus dem Jahr 1911, der das Unternehmen mit erner ­Krise, ist diese Analyse weithin als grundle- beschränkter Haftung für die wichtigste Ent­ -W gend für die Fehlentwicklungen anerkannt. deckung der Moderne hält, wichtiger als die ans H Dass Hans-Werner Sinn sie aber schon im Dampfmaschine oder die Nutzung der Elek­ : ­Oktober 2008 vortrug, ist auf zweifache Weise trizität. charakteristisch für ihn. Erstens zeigt dieser Das eingangs erwähnte Restaurant in Paris Umstand die Schnelligkeit, mit der er komple- habe ich damals mit dem Eindruck verlassen, alismus xe wirtschaftliche Ereignisse durchdenkt und dass uns schwierige Zeiten erwarten, aber auch apit auf ihren Kern reduziert. Zweitens hält er es für mit dem guten Gefühl, besser zu verstehen, was -K unbefriedigend, wirtschaftliche Probleme da- sich im Finanzsektor abspielt. asino K

167 Horst Köhler WISSEN, UM ZU WIRKEN

Horst Köhler war von 2004 bis 2010 Bundespräsident. Zuvor war er Staatssekretär im Bundesfinanz- ministerium, Präsident des Spar- kassen- und Giroverbands und der EBRD sowie Geschäftsfüh­ render Direktor des IWF. Heute beschäftigt er sich weiterhin in- tensiv mit Fragen internationaler Zusammenarbeit.

»Wer kein Eigenkapital hat, haftet nicht, und stiftet die Erkenntnis, dass sich gegen Crashs wer nicht haftet, zockt.« So einfach ist das. So und Krisen starke ordnungspolitische Vorkeh- einfach ist das wirklich. Aber ehe Hans-Werner rungen treffen lassen und dass, wo sie noch Sinn die Wahrheit in einem Satz bündelt, fehlen, wenigstens die Krise für solche Vorkeh- nimmt er seine Leser auf den Denkweg mit, rungen genutzt werden muss, weil sonst nach der zu diesem Satz führt. Präzis und verständ- der unmittelbaren Gefahrenabwehr alle schnell lich analysiert er die Fehlanreize im internatio- wieder zum Business as usual zurückkehren, nalen Finanzsystem, die die Welt in die Krise ­finanzstarke und einflussreiche Lobbys den stürzten, weil die Staaten keine Finanzarchitek- ­Kasino-Kapitalismus verteidigen – und alles tur geschaffen hatten, die das hätte verhindern wieder von vorne beginnt. können. Er zeigt Schritt für Schritt, wie wichtig Wer schnell gibt, gibt doppelt : Hans-Werner es ist, allen Märkten – sei es der für Immobi­ Sinn will nicht nur wissen, sondern auch wir- lien­darlehen, sei es der für Aktienverkäufe – ken, darum hat er sehr bald nach dem Aus- ­einen starken Ordnungsrahmen zu geben, und bruch der Weltfinanzkrise deren Ursachen für wie wenig damit getan ist, stattdessen vor allem die Politik und für die breite Öffentlichkeit zu- auf die Moral der Marktteilnehmer zu setzen treffend diagnostiziert und überzeugende The- und dann auf das Versagen ungeordneter Märk- rapievorschläge gemacht. Um wenigstens eini- alismus te mit moralischer Entrüstung über Einzelne ge der wichtigsten davon zu nennen : kräftige

apit zu reagieren. Er verhilft dem Leser zu dem Erhöhung der vorgeschriebenen Eigenkapital- -K Aha-Erlebnis, dass keineswegs nur einige Wall- und Kernkapitalquoten; faire Bewertung der Street-Manager gezockt haben, sondern auch risikogewichteten Aktiva statt der bisherigen asino

K Millionen Anwohner der Main Street. Und er opaken Risikomodelle; glaubhafte staatliche

168168 Botschaft an die Aktionäre, dass ihre Institute sen, das herauszufinden und zu berücksichti- künftig vielleicht immer noch too big to fail, gen bleibt auf absehbare Zeit eine der wichtigs- aber niemals mehr too big to bleed sein werden; ten Aufgaben für alle führenden Nationen und internationale Harmonisierung des Regelwerks für die Global Governance. auf anspruchsvollem Niveau; eine effiziente Darum sind nicht Entwarnung und Ent- ­europäische Bankenaufsicht; Bändigung von spannung angesagt (geschweige denn die be­ Zweckgesellschaften und Hedgefonds; Neuord­ häbige Selbstzufriedenheit, verbunden oft mit nung des Geschäfts der Ratingagenturen nebst aggressiver Lobbyarbeit, die so manche Banker Aufbau von europäischer Konkurrenz auf die- schon wieder zur Schau stellen), sondern kon- sem bisher allein von den USA beherrschten zentrierte Aufmerksamkeit und weitere Re­ Markt. form­arbeit. Das setzt öffentlichen Erwartungs- Seitdem ist einzelstaatlich, in Europa und in- druck und politische Entschlusskraft voraus, ternational sowohl regulatorisch als auch insti- die leider erfahrungsgemäß beide abnehmen, tutionell viel geschehen. Wie viel ist dabei er- je weiter eine Krise zurückliegt. Auch da sind reicht worden ? Wissenschaftler mit Breitenwirkung wie Hans- Das wird die nächste Krise lehren. Denn Werner Sinn eminent wichtig : Sie unterrichten auch wenn niemand die beschlossenen Refor- und beraten ihre Mitbürger in Gesellschaft und men der Finanzarchitektur kleinreden sollte – Politik zu Fragen, die für den Wohlstand der sie haben institutionell und sowohl mikro- als Nationen grundsätzliche Bedeutung haben; sie auch makroprudenziell viel erreicht –, so sind stoßen selber zu solchen Themen gesellschaft­ doch die Komplexität und die Dynamik der liche Debatten an; und sie halten das Interesse Wechselwirkungen zwischen Finanzsystem, an wirtschafts- und finanzpolitischen Proble- Realwirtschaft, Welthandel und Politik so groß men und Lösungsansätzen dadurch nachhaltig geworden, dass wir eher am Ende des Beginns wach, dass sie ihren Mitbürgern die ordnungs- der ordnungspolitischen Arbeit stehen denn politischen Maßstäbe und Prüfsteine an die inanzarchitektur F am Beginn ihres Endes. Die weltweit 30 größ- Hand geben, um den Stand der Dinge selber zu die ten systemrelevanten Finanzinstitute haben je- prüfen und immer wieder nachzufragen : zum

weils ein Bilanzvolumen von der Größe des Beispiel, ob denn nun das Haftungsprinzip und

Bruttosozialprodukts eines G-7-Staates und wirklich auf allen Finanz- und Versicherungs- inn sind entsprechend verflochten in ungezählte märkten verlässlich verankert ist – oder ob S Transaktionen und Standorte; die Verbindun- dort auch künftig bloßes Zocken ein Geschäfts­ gen zwischen Finanzsektor und Realwirtschaft modell sein kann. erner sind noch wenig erforscht; und die Interaktio- Hans-Werner Sinn leistet seit Jahrzehnten -W

nen zwischen Finanzsystem und Welthandel einen unschätzbar wertvollen Beitrag zur eco- ans H haben eine Dichte erreicht wie vielleicht noch nomic literacy in Deutschland und Europa. Da- : niemals zuvor in der Geschichte. Welche Ri­ für sind Bestimmungen über das Ruhestands­ siken all das birgt, welchen Stress es mit sich alter ohne Belang. Wünschen wir darum ihm bringen mag und mit welchen Instrumenten und uns, dass bei Hans-Werner Sinn der Zu- alismus sich die Gefahren messen und beherrschen las- satz »i. R.« einfach nur bedeutet : in Reichweite. apit -K asino K

169 Claudia M. Buch HAUSORDNUNG FÜR DAS KASINO

Claudia M. Buch verantwortet als Die Autorin dankt Markus Fischer Vizepräsidentin der Deutschen für wertvolle Unterstützung bei Bundesbank die Ressorts Finanz- der Erstellung dieses Beitrags. stabilität, Statistik und Revision. Zuvor leitete sie das Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) und war im Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirt- schaftlichen Entwicklung tätig.

Hans-Werner Sinn spürt Paradoxien in der die ­Krise zu spät kommen sehen und arbeiteten Welt der Ökonomie auf und ist selbst in gewis- mit falschen Annahmen über das Verhalten ser Weise ein Paradoxon. Denn seine Überle- von Marktakteuren. HWS hat sich aber bereits gungen passen oft nicht zu dem Bild eines in den 1990er Jahren mit Fehlanreizen auf ­neoklassischen Ökonomen, als der er in der ­Finanzmärkten, dem Eingehen zu hoher Risi- ­öffentlichen Debatte dargestellt wird, eines ken und mit »moralischem Fehlverhalten« Ökonomen, der den ungebremsten Marktkräf- (Moral Hazard) auseinandergesetzt, so in sei- ten das Wort redet und der die ­Nachfrageseite nem 2003 erschienenen Buch The New Systems ignoriert. Schon der Titel seines Buchs zur Competition. ­Finanzkrise Kasino-Kapitalismus wurde von Und nicht zuletzt gehört die Behauptung, Keynes geprägt. HWS sieht die globale Finanz- Ökonomen argumentierten aus dem akademi- krise nicht als ein generelles Ver­sagen des schen Elfenbeinturm heraus und hätten keinen Marktes, sondern als die Konsequenz eines un- Einfluss auf die Wirtschaftspolitik, zum Stan- zureichenden weltweiten Ordnungsrahmens. dardrepertoire der öffentlichen Diskussion. Das Wort »Casino« steht im Italienischen für Aber HWS hat bereits während der Krise die ein Gesellschaftshaus, einen Clubraum. Wie Einführung einer zentralisierten Bankenauf- ­jedes Haus braucht das Kasino eine Hausord- sicht in Europa gefordert, nachzulesen auf der alismus nung. Diese Regeln für Finanzmärkte sind es, Seite 300 seines Buches Kasino-Kapitalismus –

apit für deren Reform sich HWS in seinem Buch Wie es zur Finanzkrise kam, und was jetzt zu -K einsetzt. tun ist aus dem Jahr 2009. Seine – oft kontro- Mit seinen Überlegungen ist HWS oft seiner versen – Botschaften scheinen ihre Adressa- asino

K Zeit voraus. Oft heißt es, die Ökonomen hätten ten zu erreichen. Die gemeinsame europäische

170170 Bankenaufsicht trat 2014 in Kraft und stellt zen führen. Heute greifen neue Regeln für die heute einen wesentlichen Teil der europäischen Aufsicht von Banken (»Basel III«) diese Forde- Antwort auf die Finanzkrise dar. rungen auf. Banken müssen mehr Eigenkapital Finanzkrisen entstehen, wenn Investoren halten, und Auswirkungen auf die ­Stabilität des übermäßige Risiken eingehen und keine aus- Finanzsystems werden bei der ­Berechnung der reichenden Polster an Eigenkapital vorhalten, Eigenkapitalanforderungen berücksichtigt. Für um Verluste, die sich realisieren, aufzufangen. die Restrukturierung bzw. Abwicklung von Als Folge wurden in der Krise Gewinne privati- Banken stehen mit der europäischen Richtlinie siert und Verlustrisiken aufgrund unzureichen- zur Sanierung und Abwicklung von Finanz­ der privater Haftung von der Allgemeinheit ge- instituten (Bank Recovery and Resolution Direc­ tragen. tive) neue rechtliche Grundlagen bereit, deren Krisen haben nicht einen einzelnen Auslö- Kernstück die Beteiligung des privaten Sektors ser, sondern es spielt eine Reihe von Faktoren an Verlusten ist. zusammen, und diese verstärken sich gegen­ Auch bei der Forderung von HWS, Hedge- seitig. Bereits kurz nach Ausbruch der globalen fonds und Verbriefungen strenger zu regulie- Finanzkrise hat HWS eine umfassende Analyse ren, wurden Fortschritte erzielt. Die in Deutsch- der Ursachen und der daraus folgenden not- land geltende europäische AIFM-Richtlinie wendigen Lehren vorgelegt. Sein Buch Kasino- (Alternative Investment Fund Managers Direc­ Kapitalismus schaffte es in Deutschland binnen tive) enthält umfassende Offenlegungspflichten Wochen in die TOP 10 der Sachbuch-Best­ für Hedgefonds. Bei Verbriefungen wurden die sellerliste und wurde zudem auch in englischer Eigenkapitalanforderungen für institutionelle Übersetzung publiziert. Investoren und die Vorschriften für Banken in Als kurzfristige Krisenmaßnahme forderte ihrer Rolle als Originator, z. B. bei der Bilan­ HWS, dass der Staat als neuer Anteilseigner zierung, verschärft.

Banken in Schieflage stützen solle. Auf den ers- Die genannten Aspekte bilden nur einige inanzarchitektur F ten Blick mag diese Forderung paradox klin- Bruchstücke des großen Puzzles der Neuregu- die gen. Doch auch hier bleiben marktwirtschaft­ lierung des Finanzsystems. Das Gesamtmotiv

liche Grundüberlegungen für HWS elementar, lässt sich schon erkennen, doch Teilstücke und denn ein zeitnaher Austritt des Staats nach ­werden in den kommenden Jahren noch an inn

­Beendigung der Krise und die Übernahme von passender Stelle eingefügt werden müssen. S Anteilseignerschaften zum Marktkurs sind ­Beispielsweise werden Staatsanleihen in der

Eck ­punkte seines Vorschlags. Regulierung nach wie vor privilegiert, und die erner

Langfristig ist für ihn eine dauerhafte Er­ neuen Regeln für die Verlustbeteiligung pri­ -W

höhung der Eigenkapitalquoten die Schlüssel­ vater Gläubiger (»Bail In«) wurden in der Pra- ans H strategie zur Beseitigung von Fehlanreizen. Das xis kaum getestet. Mit seiner Forderung nach : Handeln des Staates bei Regelverletzungen von weitergehenden Regeln für das Bankensystem Instituten müsse im Krisenfall klar geregelt wird HWS ein kritischer Begleiter dieser Pro- sein und dürfe nicht schon vorab zu Fehlanrei- zesse bleiben. alismus apit -K asino K

171 Axel A. Weber NACHHALTIGKEIT STATT KASINO

Axel A. Weber ist seit 2012 Präsi- dent des Verwaltungsrates von UBS Group AG. Von 2004 bis 2011 war er Präsident der Deutschen Bundesbank. Seine akademische Karriere umfasst Professuren an den Universitäten von Köln, Frank- furt am Main, Bonn und Chicago.

Kaltstart, Target-Falle, Basarökonomie – Hans- als den Hauptauslöser der Krise sieht, näm- Werner Sinn ist in seiner ebenso langen wie er- lich eine von Amerika ausgehende Verbreitung folgreichen Karriere als Akademiker und Ver- von sogenannten »Kasino-Methoden«, welche mittler zwischen Wissenschaft und Gesellschaft sich in den Jahren zuvor über weite Teile der nie um einen pointierten Buchtitel verlegen. Welt verbreitet hätten. Gemeint ist damit, dass Doch wer hinter den reißerischen Überschrif- immer mehr Finanzmarktteilnehmer immer ten ebenso hemdsärmelige Analysen vermutet, risikoreichere und spekulativere Geschäfte ge- wird immer wieder enttäuscht. Hans-Werner tätigt hätten. Ermöglicht worden sei diese Sinn hat es über viele Jahre wie kaum ein ande- ­Entwicklung durch immer kleiner werdende rer Ökonom in Deutschland verstanden, einem Eigenkapitalquoten, welche dazu geführt hät- breiten Publikum fachlich fundierte Argumen- ten, dass die Eigentümer nur noch für ein Mi- te ebenso verständlich wie pointiert zu vermit- nimum der eingegangenen Risiken hafteten. teln. Für diese Bereicherung der wirtschaftspo- In den guten Jahren hätten Aktionäre so hohe litischen Debatte und für die wissenschaftlichen ­Eigenkapitalrenditen erwirtschaftet, doch seit Ratschläge zuhanden von Entscheidungsträ- Ausbruch der Krise würden dafür Gläubiger gern gebührt ihm ein großer Dank. und Staaten zur Kasse gebeten, sobald die Das oben Gesagte trifft auch auf sein 2009 ­dünnen Eigenkapitaldecken wegzuschmelzen alismus erschienenes Buch Kasino-Kapitalismus zu, wo drohten. Zugelassen und zum Teil gefördert

apit sich Professor Sinn inmitten der Finanzkrise worden seien diese Entwicklungen durch Re- -K mit deren Ursachen und der nötigen Neuord- gulatoren und Politiker, welche die Risiken nung des Finanzsystems befasst. Der plakative nicht verstanden, sich gegenseitig mit zu la- asino

K Titel soll dabei das versinnbildlichen, was Sinn schen Regeln unterboten und insgesamt zu

172172 stark der Selbstregulierung der Märkte vertraut Geschäfte in weniger regulierte Bereiche sehe. hätten. Professor Sinns Liste von weiteren Fehl- ­Bezüglich Ersterem droht ein überzogener entwicklungen beinhaltet eine von der Politik Glaube an die Selbstregulierung der Märkte angestiftete unverantwortliche Kreditvergabe durch einen ebenso fehlgeleiteten Glauben an im amerikanischen Immobiliensektor, pro­ die Macht zentraler Detailsteuerung ersetzt zu zyklisch wirkende Regulierungen, fehlgeleitete werden, wobei zudem die negativen volkswirt- ­Risikogewichtungen, Ausnahmeregelungen für schaftlichen Konsequenzen kaum Erwähnung Zweckgesellschaften und Hedgefonds sowie finden. So besteht die Gefahr, dass im Zuge schwere systematische Mängel im Ratingwe- der immer noch rollenden Regulierungswelle sen. Insgesamt sei die schlimmste Finanzkrise neben den besagten Kasinos auch volks­ der Nachkriegszeit daher durch ein Zusam- wirtschaftlich ungleich sinnvollere Geschäfts- menspiel von Markt- und Politikversagen aus- bereiche geschlossen oder zumindest mar­ gelöst worden. kant zurückgefahren und so Aufschwung und Ich bin der Meinung, dass Hans-Werner Wachstum behindert werden. Hinsichtlich Sinn viele der zentralen Fehlentwicklungen, Letzterem steht zu befürchten, dass gewisse welche in der Finanzkrise mündeten, korrekt Aktivitäten aus dem relativ transparenten und beschreibt. Ebenso kann ich die meisten in regulierten Bankenbereich in den sogenannten ­Kasino-Kapitalismus vorgetragenen Reform- Schattenbankensektor verlagert werden, wo forderungen unterschreiben, von denen ein Regulierungs- und Aufsichtsbehörden weniger Großteil mittlerweile Realität geworden ist : Informationen und Zugriff haben. Die nächste Die Eigenkapitalanforderungen wurden (und Krise kommt bestimmt, sie wird aber sicher werden weiter) massiv quantitativ wie quali­ keine Wiederholung der letzten sein. tativ verschärft, wodurch in Kombination mit Zwei in Kasino-Kapitalismus thematisierte spezifischen »Too-big-to-fail«- und »Recovery- Probleme bleiben jedoch ungelöst und hoch­ and-resolution«-Regulierungen das Haftungs- aktuell. Das erste betrifft die weiterhin beste- inanzarchitektur F prinzip wieder ins Zentrum gestellt wurde. Die henden großen Unterschiede der Rechnungs- die geforderte internationale Koordination und legungssysteme IFRS und US GAAP, welche

Harmonisierung der Regulierung sind zwar Vergleiche von Risikoprofilen und Kapitalaus- und nicht perfekt, aber heute in vielen Bereichen stattung zwischen amerikanischen und europä­ inn

Realität. In Europa wurde die Aufsicht sogar ischen Banken massiv erschweren. Und zwei- S unter dem Dach der Europäischen Zentral- tens blieb bei den diagnostizierten Mängeln bank zentralisiert. Das Instrumentarium der der Risikogewichtungen der wohl größte unan- erner

Notenbank wurde durch antizyklische Kapital- getastet, nämlich die proklamierte Risikolosig- -W

puffer und weitere makroprudenzielle Instru- keit von Staatsanleihen. Dies hängt auch damit ans H mente erweitert. Außerbilanzielle Aktivitäten zusammen, dass die Hauptgefahren für das in- : wurden unterbunden, und der Eigenhandel ternationale Finanzsystem mittlerweile nicht ist größtenteils aus den Geschäftsmodellen der mehr von Geschäftsbanken ausgehen, sondern Banken verschwunden. von unkonventionellen geldpolitischen Maß- alismus

In der Bankenregulierung wurde viel er- nahmen und der immer noch weitgehend apit reicht seit dem Ausbruch der Krise, so dass ich ­ungelösten staatlichen Schuldenproblematik. -K die größten Gefahren mittlerweile in exzessi- Nicht von ungefähr trägt Hans-Werner Sinns asino ver Regulierung und dem Verlagern riskanter neues Buch den Titel The Euro Trap. K

173 Theodor Weimer HWS’ BLOOS-ANSATZ: WIE BEKOMMEN WIR NÜTZLICHE FINANZINTERMEDIÄRE?

Theodor Weimer ist seit 2009 Vorstandssprecher der HypoVer- einsbank. Er promovierte 1987 bei Horst Albach an der Universität Bonn. Es folgten Tätigkeiten bei McKinsey, Bain und als Partner bei Goldman Sachs, bevor er 2007 Mitglied des Executive Manage- ment Committees der Unicredit Gruppe wurde.

Institutionen, die keine Probleme darstellen, wiesen. Tatsächlich hatte er bereits in seiner finden im öffentlichen Diskurs nicht statt. So- Dissertation, vor fast 40 Jahren, die Schwierig­ fern sie funktionieren, sind sie kein Gegenstand keiten erörtert, die mit dem Instrument der be- von Politik oder Medien. Denn in deren Sphäre schränkten Haftung verbunden sind. Auf Ban- wird vor allem das verhandelt, was auffällig ge- ken hat er die Perspektive vor gut zehn ­Jahren worden ist. Natürlich waren Banken nie kom- angewandt. plett unterhalb des öffentlichen Radars. Sie er- Dabei bohrt HWS an einem dicken Brett. füllten, jedenfalls in den Industrieländern, aber Denn die Haftungsbeschränkung gilt als die einigermaßen ordentlich ihren Zweck. Das galt »Basis des kapitalistischen Systems« (HWS). zumal für Deutschland. Damit waren sie weit- Richtig angewandt, erlaubt sie den zweckge- gehend nur für Spezialisten von Interesse. rechten Umgang mit Risiken. Sie eröffnet zu- Das war an sich ein guter Zustand, für die gleich den Zugang zu mehr Chancen. Produkti- ­Finanzindustrie, aber auch für deren Kunden. vitätssteigernde Innovationen werden möglich. Es gab jedenfalls keinen Anlass zu breiter, gar Mehr Wohlstand wird geschaffen. Das ist die zu systemweiter Kritik. Das Geschäftsmodell lief. Recht hervorgehobene Lichtseite des Prinzips. Die große Finanzkrise hat offenbart, dass die Ihre Strahlkraft ist in der Streuung von Risiken Einschätzung fragwürdig war. Die Finanzin- begründet. Diese werden verringert. Oder sie alismus dustrie ist unter Rechtfertigungsdruck. Ihr Ruf werden jenen überlassen, die sie besser zu tra-

apit könnte – milde ausgedrückt – besser sein. gen im Stande sind. -K Für den öffentlichen Intellektuellen Hans- Wo ist nun der Schatten ? HWS weist über- Werner Sinn kam das alles nicht überraschend. zeugend nach, dass die Haftungsbeschränkung asino

K Er hatte seit langem auf Bruchstellen hinge­ dazu anhält, tendenziell exzessive Risiken ein-

174174 zugehen. Denn dies erlaubt eine höhere Renta- Aus all dem folgt für HWS : Die Anreizdefek- bilität. Diese wächst sogar, sofern alles gutgeht, te können nur mit mehr Eigenkapital gemildert je weniger Eigenkapital eingesetzt wird. Vor- werden. Europa bedarf einer einheitlichen sichtiges Geschäftsgebaren wird dagegen vom Aufsichtsstruktur – allerdings ohne zwischen- Markt bestraft. Dabei werden die vermeintlich staatliche Verlustverteilung. Hedgefonds, Pri- seltenen, aber mit hohen Kosten verbundenen vate-Equity-Akteure, Money Market Funds Risiken ausgeblendet. usw. – neudeutsch : Schattenbanken – sollten Hier kommt BLOOS ins Spiel : Je höher die gleichen Regeln wie Banken unterliegen. HWS Verluste, desto unwahrscheinlicher ist es, dass verlangte dies schon 2008. Er ist damit übri- sie von Eigenkapitalgebern aufgefangen wer- gens im Mainstream der Ökonomen. Er ist den. Man kann niemandem mehr nehmen, als eben nicht immer der Außenseiter. Einige ver- er besitzt. Oder : You cannot squeeze blood out langten einiges schon eine Weile vorher. of a stone. Damit ist eben auch das Fremdkapi- Mittlerweile ist dies zu erheblichen Teilen tal dem Risiko ausgesetzt. Dieses wird, so der umgesetzt. Und mehr. Etwa die erhöhten Li- deutsche Ökonom Wolfgang Stützel, vom Fest- quiditätsanforderungen, Basel III usw. Die jetzt zum Restbetragsbeteiligten. Geschieht dies in zu verhandelnden Fragen haben aber einen großem Umfang, wird Vertrauen untergraben. feingliedrigeren Charakter. Wie viel mehr an Es erwächst ein systemisches Risiko. Die Anste- Eigenkapital ist erforderlich ? Wie viel – und ckungsgefahren für im Prinzip gesunde Insti- welche – Liquiditätsvorhaltung ist geboten ? tute werden zu groß. Die Politik ist gezwungen, Wie interagiert das Bündel an neuen Anforde- privat eingegangene Risiken zu sozialisieren. rungen ? Wie ist mit Ausweichverhalten (Schat- Die Anreize sind damit systematisch ver- tenbanken) umzugehen ? zerrt. Die öffentlichen Hände gewähren eine Diese Fragen sind in dem Maße wichtig, in Versicherung, ohne dafür angemessene Prämi- dem die Vermittlungsaufgaben, die Banken en zu verlangen. Die Übernutzung des Siche- wahrnehmen, sozial nützlich sind. Es gibt einen inanzarchitektur F rungssystems ist die unabweisbare Folge. Es Trade-off. Deshalb ist Abwägen geboten. Es die werden zu viele und zu hohe Risiken eingegan- muss mit feinem analytischem Besteck und

gen. Für die muss, um weit Schlimmeres zu ­Urteilskraft gearbeitet werden. Es geht darum, und verhüten, am Ende der Club der Steuerzahler wie die eigentlichen Kunden, Unternehmen inn einstehen. und private Haushalte, betroffen sind. S HWS benutzt übrigens nicht die in der mo- Hier muss Hans-Werner Sinn nachliefern. dernen Finanzwissenschaft, seit Robert Mer- Er kann sich nicht einfach in Rente verabschie- erner ton, typische Argumentation. Der zufolge ge- den. Das fordere ich vor allem aus eigennüt­ -W

hören Firmen letztlich den Gläubigern. Diese zigen Gründen. Für mich als in der Wolle ge- ans H haben den Anteilseignern das Recht verkauft, färbter Ökonom war es immer ein enormer : über die Firmenaktiva zu verfügen, jedenfalls Gewinn, mit diesem kritischen Geist zu disku- sofern sie ihren Verpflichtungen nachkom- tieren. Er hat mich als Aufsichtsrat in und nach men. Die Eigenkapitalgeber haben damit einen der Finanzmarktkrise manches Mal gequält – alismus put erworben : Sie geben ihre Rechte auf, gehen gelegentlich hatte er sogar zugehört. Das wa- apit in Insolvenz, sofern der Firmenwert nicht min- ren Momente großer Genugtuung. Ich freue -K destens dem Wert der Verbindlichkeiten ent- mich auf viele weitere Gelegenheiten zum Aus- asino spricht. tausch. K

175 Kai A. Konrad WIRTSCHAFTSPOLITIK IN DER FINANZKRISE

Kai A. Konrad ist Direktor am Max-Planck-Institut für Steuer- recht und Öffentliche Finanzen. Er lehrte als Professor an der FU Berlin. Er ist Mitglied verschie- dener Akademien, darunter der Nationalen Akademie der Wissen- schaften Leopoldina, und Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats beim BMF.

Die erste große Finanz- und Wirtschaftskrise entfalten können und Fehlstellungen vermie- des 21. Jahrhunderts hat zu vielen Verwerfun- den werden. gen geführt. Zu diesen gehört auch ein Ver- In den vergangenen Jahren sind viele Wirt- lust an Vertrauen in das marktwirtschaftliche schaftswissenschaftler hart mit sich selbst und System und marktwirtschaftliche Institutionen mit der eigenen Disziplin ins Gericht gegangen. und in die selbstregulierenden und selbst­ Andere haben sehr zu Recht darauf verwiesen, heilenden Kräfte des Marktes. Brauchen wir dass das mikroökonomische Instrumentarium ­»weniger Markt« ? Sind die Mechanismen des ganz ausgezeichnet ist. Das Verhalten der Ak- Marktes an der Systemkrise schuld ? Brauchen teure, das zur Krise geführt hat, lässt sich mit wir die Entmachtung des Marktes durch mehr diesem Instrumentarium gut erklären. Viele staatlichen Dirigismus und politische Kom- mikroökonomischen Theorien, die den eigen- missare ? nutzorientierten und strategisch und rational Der Markt kann seine ordnende und wohl- vorausdenkenden Menschen unterstellen, kön- fahrtsmehrende Funktion dann und nur dann nen das Verhalten der Akteure auf den Finanz- ausüben, wenn die Politik die Rahmenbedin- märkten nur zu gut erklären. Diese Theorien gungen für diese Entfaltung richtig setzt. Das deuten auch auf mögliche Fehlsteuerungen, hat sie nicht getan. In der Rückschau war die die man durch geschickte staatliche Rahmen- alismus Finanzkrise insofern vor allem das Ergebnis bedingungen jedenfalls zum Teil korrigieren

apit von Politikversagen. In die Zukunft gerichtet könnte. -K ergibt sich daraus die Frage, wie Rahmenbedin- Denken wir nur an die Anreize von Akteu- gungen geschaffen werden, die dafür sorgen, ren, die mit dem Rücken zur Wand stehen, die asino

K dass sich die positiven Wirkungen des Markes nichts mehr zu verlieren haben, oder von Fi­

176176 nanz ­unternehmen, die aus anderen Gründen Die Rezepte sind vorhanden. Viele Wirt- größere Verluste aus ihrem aktuellen Handeln schaftswissenschaftler haben wie Hans-Werner nicht selbst tragen müssen, z. B. weil sie im Fall Sinn ihr wissenschaftliches Wirken darauf aus- eigener Schieflage die Verluste gar nicht selbst gerichtet, der Politik direkt oder über den Um- übernehmen und zudem auf staatliche Rettung weg einer breiten Öffentlichkeit zu raten, so vertrauen können. Diese Akteure sind leider wie ein Bauingenieur, der es gern sieht, wenn bereit, schlechte Risiken einzugehen : Risiken, sein Wissen zum Einsatz gebracht wird. Sie deren Gewinnchancen hinter den Verlustrisi- wünschen sich natürlich, dass die Politik ihre ken zurückbleiben. Hans-Werner Sinn gehört Expertise richtig interpretiert und bestmöglich zu denen, die dieses Handlungsmotiv bereits verwendet. Das, so weiß man ebenfalls aus der vor Jahrzehnten erkannt und analysiert haben. Wirtschaftstheorie, ist leider nicht so einfach Zentrale Überlegungen hierzu finden sich be- und mitunter sogar ganz unmöglich. Theorien reits in seiner Dissertation. In seiner wirt- erklären uns überzeugend, weshalb bereits schaftspolitischen Analyse der Finanzkrise ­geringfügige Unterschiede in den Zielen von (Kasino-Kapitalismus) lebt diese Theorie auf, Experten und Politikern den Kommunika­ und dieses Handlungsmotiv spielt darin zu tionsprozess gewaltig erschweren können. Wir Recht eine zentrale Rolle. verfügen auch über gute Theorien über den Eine der Handlungskonsequenzen aus die- Einfluss von Interessenverbänden auf die Poli- ser Theorie ist die Forderung nach einer ent- tik und über die Funktionsweise des politi- sprechend hohen Ausstattung von Banken mit schen Prozesses. Eigenkapital, das für die Abdeckung von Ver- So mag man erklären können, warum es lusten aus Geschäften der Bank gegebenenfalls trotz eines im Grunde guten Erkenntnisstands auch zur Verfügung steht. Diese Erkenntnis hat der Wirtschaftswissenschaften zu wirtschafts- sich heute immerhin verbreitet durchgesetzt, politischen Fehlleistungen kommt und warum auch wenn ihre wirtschaftspolitische Umset- trotz des ungeheuren Potenzials, das eine gut inanzarchitektur F zung nur langsam vorankommt. funktionierende Marktwirtschaft für den allge- die Diese Überlegungen sind, so wenig wie The- meinen Wohlstand hat, dieses Potenzial nicht

orien zur Krisenanfälligkeit von Eigenkapital gehoben werden kann. und von Banken und die daraus erwachsenden An- Vielleicht liegt die Lösung dieses wirtschafts- inn reize für Bilanzverkürzungen oder Theorien politischen Dilemmas darin, dass sich die Ex- S zur Entstehung von Bank Runs, keine Erfin- perten stärker an eine breite Öffentlichkeit dungen der Epoche nach der Insolvenz von wenden. Hans-Werner Sinn hat seit vielen Jah- erner

Lehman Brothers. Das mag nicht überraschen, ren einen großen Teil seiner Energie genau -W

denn die Krise selbst ist auch nicht die erste ­darauf verwendet. Seine am Gesamtwohl ori- ans H ­Finanzmarktkrise, in der Ökonomen solche entierten Botschaften haben oft erheblichen : Probleme studieren und analysieren konnten. Gegenwind erzeugt, vor allem bei einzelnen Wie aber verhindert man das fortgesetzte ­Interessengruppen. Sein Einsatz hat ihm aber Politikversagen, das dazu führt, dass diese Leh- auch viel Zustimmung und große Popularität alismus ren nicht umgesetzt werden, gerade im Bereich eingetragen. Ich wünsche ihm für diese Akti­ apit der Ausgestaltung der Finanzmärkte ? Dies vitäten in den kommenden Jahren die nötige -K scheint mir die eigentlich ungelöste Frage zu Kraft und Energie. asino sein. K

177 Jan-Egbert Sturm DIE FINANZKRISE 2008: FOLGE UND SPIEGEL­ BILD VON FEHLANREIZEN IM BANKENSEKTOR

Jan-Egbert Sturm ist Direktor der KOF Konjunkturforschungsstelle und ordentlicher Professor für ­Angewandte Wirtschaftsforschung an der ETH Zürich. Von 2001 bis 2003 leitete er den Bereich Kon- junktur und Finanzmärkte des ifo Instituts. Er ist ifo-Forschungs­ professor und Mitglied der EEAG.

Als langjähriges Mitglied der von Hans-Werner Ich hatte dabei oft den Eindruck, dass es Sinn ins Leben gerufenen European Economic die Diskussionen innerhalb der EEAG Hans-­ Advisory Group at CESifo (EEAG), die jährlich Werner Sinn erlauben, diese kleine, aber feine die wirtschaftliche Entwicklung Europas begut- Gruppe von Experten als Sparringspartner zu achtet, habe ich das Vergnügen, einen sehr regel- nutzen, um erste Ideen anzubringen, Argu- mäßigen wissenschaftlichen, aber auch persön- mentationslinien zu schärfen oder eventuelle lichen Austausch mit Hans-Werner Sinn pflegen Schwachpunkte in seiner Rhetorik aufzude- zu können. Im Rahmen un­serer EEAG-Sitzun- cken und zu beseitigen. gen kommt eines seiner großen Themen immer In diesem Sinne waren diese Diskussionen wieder zur Sprache : die Finanzkrise von 2008 in der Gruppe ertragreich : Sie haben meines und ihre Auswirkungen auf Europa. Unsere Erachtens ein paar Unschärfen aus Hans-Wer- ­Diskussionsrunden in der EEAG Group sind ner Sinns Argumentationslinien verschwinden ein Trainingscamp für den debattierfreudigen lassen. Denn eines ist klar : Seine Botschaften, Hans-Werner Sinn. Denn die in der EEAG ver- die er in der Öffentlichkeit vertritt, blieben im- tretenen Ökonomen haben teilweise unter- mer glasklar und verständlich, so dass sie stets schiedliche Vorstellungen über die Ursachen der eine breite Öffentlichkeit ansprechen und Ein- Krise, ihre Auswirkungen und die notwendigen fluss auf Entscheidungsträger nehmen. alismus Strukturreformen der Finanzarchitektur. Dies Beeindruckend sind stets die Fakten- und

apit führt mitunter zu heftigen polit-ökonomischen Zahlenkenntnisse, mit denen Hans-Werner -K Diskussionen, immer auf höchstem Niveau, nie Sinn seine Thesen belegen kann. Nehmen wir unsachlich und immer vorgetragen mit einer als Beispiel die Diskussion um die Fehlanreize asino

K Leidenschaft für das bessere Argument. im Bankensektor, die teilweise durch die frühe-

178178 re Regulierung entstanden sind und von Hans- lativ) überschaubar, potenzielle Gewinne al­ Werner Sinn thematisiert wurden : Dass z. B. lerdings im Verhältnis zum Eigenkapital sehr nach internationalen Standards die allgemei- hoch. nen Anforderungen an das Eigenkapital der Es war die Systemrelevanz, der viele Banken Banken – die sogenannte Kernkapitalquote – im Zuge der Finanzkrise die Rettung durch den 8 % der Risikoanrechnungsbeträge betragen, Staat zu verdanken haben. Auch wenn diese hört sich auf den ersten Blick vielleicht ver- Rettungsmaßnahmen zumindest aus kurzfris- nünftig an. Aber in der Praxis bedeuten sie, tiger Perspektive unerlässlich waren, lassen sie dass bestimmte Anlageprodukte, wie Staatsan- für die Zukunft Fehlanreize entstehen und tra- leihen, nicht mit Eigenkapital unterlegt werden gen somit zur Erklärung des Geschehenen bei. müssen und die Gewichtung weiterer Anlagen Denn vielen Banken schien es längst klar gewe- quasi über Selbstkontrolle mittels bankinterner sen zu sein, dass, wenn es hart auf hart kommt, Risikomodelle ermittelt wird. Die damals als die öffentliche Hand die Kastanien aus dem sehr sicher eingestuften Verbriefungen ame­ Feuer holen und die Rechnung letztendlich rikanischer Immobilienkredite wurden damit durch den Steuerzahler beglichen wird. Diese nur teilweise, nämlich risikogewichtet, in die Fehlanreize hat Hans-Werner Sinn schon in Kernkapitalquote aufgenommen. Berechnet den Anfängen der Krise erkannt und darauf in man aber die bilanzielle Eigenkapitalquote – den für ihn zur Verfügung stehenden verschie- ein viel gröberes, aber deutlich einfacheres denen Kanälen unermüdlich hingewiesen. Maß, das nichts anderes abbildet als das Ver- Wichtig ist auch, wie Hans-Werner Sinn hältnis von (ungewichtetem) Eigenkapital und ­immer wieder betont hat, dass im Falle einer Bilanzsumme –, dann liegt diese um einiges Rettung die Gläubiger einer Bank an den Ver- niedriger. Sowohl bei der Deutschen Bank als lusten beteiligt werden sollten, bevor es zu ei- auch bei der Schweizer UBS lag die bilanzielle ner Rettung durch den Staat kommt. Seit kur-

Eigenkapitalquote im Jahr 2007, also im Jahr zem ist genau das in der EU-Richtlinie zur inanzarchitektur F vor der Finanzkrise, bei lediglich 1,9 %. Ich Sanierung und Abwicklung von Kreditinstitu- die glaube nicht, dass es viele Banken auf dieser ten (Bank Recovery and Resolution Directive :

Welt gibt, die bereit wären, einem privaten BRRD) geregelt. Mindestens 8 % bestimmter und

­Industrieunternehmen mit einer bilanziellen Bankverbindlichkeiten müssen nun herunter- inn

Eigenkapitalquote von unter 2 % einen Kredit oder abgeschrieben werden, bevor öffentliche S zu gewähren. Denn die Risiken würden ein- Mittel zur Sanierung oder Abwicklung einge- deutig als zu hoch eingestuft werden. Die Ban- setzt werden können. erner ken waren vor der Finanzkrise aber genau in Nicht nur wenn es um die Finanzkrise und -W

dieser Situation. Auch ohne Bail-out – d. h. die zukünftige Finanzarchitektur Europas geht, ans H auch wenn man annehmen würde, dass Ban- auch in vielen anderen wissenschaftlichen, po- : ken und deren Eigner im Falle einer Krise nicht litischen und sozialen Bereichen habe ich viel durch die öffentliche Hand vor einem Verlust von Hans-Werner Sinn gelernt, und er hatte des Eigenkapitals geschützt würden – verstär- ­einen prägenden Einfluss auf meinen beruf­ alismus ken derart tiefe Eigenkapitalquoten die Risiko- lichen und persönlichen Werdegang. Ich bin apit bereitschaft der Banken. Im Falle einer Pleite mir sicher, dass es anderen Ökonomen auch so -K sind die Verluste für die Kapitaleigentümer (re- geht. asino K

179 Frank Westermann WIE AUS FORSCHUNG POLITIKBERATUNG WIRD: DIE VORGESCHICHTE ZUM KASINO- KAPITALISMUS

Frank Westermann ist Professor für Volkswirtschaftslehre und ­Leiter des Instituts für Empirische Wirtschaftsforschung an der Uni- versität Osnabrück. Er ist Autor von Boom-Bust Cycles and ­Finan­cial Liberalization, MIT Press, ­gemeinsam mit Aaron Tornell. 2004 habilitierte er bei Hans-­ Werner Sinn.

Das Buch Kasino-Kapitalismus war das erste, bei seinen anderen Büchern – half es Hans- das die Finanzkrise von 2007/08 systematisch Werner Sinn, dass ein Thema an Bedeutung ge- aufarbeitete und auf wissenschaftlicher Grund- wann, an dem er zuvor bereits geforscht hatte. lage eine Analyse der notwendigen wirtschafts- Drei Artikel und ein Buch waren in diesem Fall politischen Reformen vornahm. Zu diesem dabei besonders relevant : Zeitpunkt war die globale Finanzkrise auf ih- In seiner Dissertation (1980 erschienen) ana- rem Höhepunkt. Die Subprime-Krise 2007 war lysierte Sinn z. B. individuelles Risikoverhal- der Vorbote, und die Lehman-Brothers-Pleite, ten bei einer sog. geknickten Nutzenfunktion. Ende 2008, deckte die Schwächen der inter­ Die »Mehr, als er hat, kann man ihm nicht nationalen Finanzarchitektur endgültig auf. Sie ­nehmen« – oder MAEHKMINN –, eine Regel, traf die Märkte und die Politiker gleicherma- die einen wesentlichen Teil der Wirklichkeit an ßen unvorbereitet. spekulativen Finanzmärkten widerspiegelt, in- Bereits in der ersten Hälfte des Jahres 2009 tegrierte er in ein mikroökonomisches Modell, war der Kasino-Kapitalismus schon in den das zeigt, unter welchen Rahmenbedingungen Buchläden. Im Juni 2009 akzeptierte Hans-Wer- Marktteilnehmer übermäßige Risiken einge- ner Sinn u. a. eine Einladung nach Osnabrück hen : insbesondere dann, wenn die Eigenver- und präsentierte sein Buch in einer überfüllten antwortung für extrem negative Realisationen alismus Aula des Schlosses. Wie war es möglich, schnel- dieses Verhaltens entfällt.

apit ler als alle anderen zu sein, bei einem so kom- Gemeinsam mit dem bekannten Mikroöko- -K plexen Thema wie dem der globalen Finanz- nomen Murray Kemp (2000) zeigte er später märkte ? weitere Gründe auf, die Finanzmärkte zu regu- asino

K Beim Kasino-Kapitalismus – wie auch schon lieren. Dieser Artikel beschäftigte sich mit der

180180 Frage, ob Spekulation auf »Forward Markets« tes, der Banken und der Ratingagenturen. Für nicht nur die Preise stabilisiert, sondern auch keinen dieser Teilnehmer schienen die »Spiel- die Wohlfahrt der Volkswirtschaft insgesamt regeln« der internationalen Finanzmärkte rich- erhöht. In einem theoretischen Beitrag zeigten tig gesetzt zu sein. Keinen dieser Marktteilneh- Sinn und Kemp, unter welchen Konditionen mer macht Hans-Werner Sinn jedoch einzeln spekulative Geschäfte zwar aus privater Sicht verantwortlich für die Misere. Alle zusammen profitabel, aus Wohlfahrtsbetrachtung aber haben das System ihren Präferenzen und Rest- nutzlos sein können. riktionen entsprechend ausgenutzt. Hans-Werner Sinn befasste sich Ende der Die Handlungsempfehlungen für Reformen 1990er Jahre bereits mit der Rolle des Staates im an den Finanzmärkten sind in dem Buch klar Bankwesen. In einem Buch (1997) zeigte er, wie formuliert und folgen den zuvor gewonnenen umfangreich der Staat bereits in das deutsche theoretischen Erkenntnissen. Sie beinhalten Bankensystem involviert war, insbesondere insbesondere eine Erhöhung der Eigenkapital- über die Landesbanken. Er kritisierte die Ge- quote, abgeleitet aus der MAEHKMINN-Regel. währsträgerhaftung, mit deren Hilfe die Lan- Wenn die Eigenkapitalquoten höher sind, desbanken auf den internationalen Kapital- wach­sen das eigenständig getragene Verlust­ märkten einen Wettbewerbsvorteil hatten und risiko und die Vorsicht bei künftigen Anlage­ so zu Global Playern heranwuchsen, die letzt- entscheidungen. Sinn spricht sich auch eindeu- lich viel Geld im Zuge der Finanzkrise verlo- tig gegen Leerverkäufe aus. Diese würden eine ren. Spekulation befeuern, die dem Einzelnen Pro- Schließlich modellierte er in einem theo­ fite bringen, der Volkswirtschaft als Ganzer retischen Beitrag (2003) den »Laschheitswett­ aber schaden. bewerb« unter den Regulierungsbehörden. Als Darüber hinaus sollte der Staat, wenn Ret- Teil seiner Untersuchungen zum Systemwett- tungsaktionen zwingend werden, Anteilseigner bewerb ging er der Frage nach, ob das Markt- der Banken werden. Er sollte eine Kapitalerhö- inanzarchitektur F versagen, in diesem Fall das »Lemons-Prob- hung erzwingen, um sich zu einem späteren die lem« bei Wertpapieren, das die Regulierung in Zeitpunkt schrittweise aus den Beteiligungen

geschlossenen Volkswirtschaften auf den Plan durch den Verkauf von Aktien wieder zurück- und ruft, erneut auftaucht, wenn diese Regulie- ziehen zu können. Staatliche Garantien oder inn rungsbehörden in Konkurrenz zueinander ste- »Bad Banks« lehnt Sinn hingegen ab. Diese S hen. In dem Artikel analysierte er die Zusam- Empfehlung folgt aus der Analyse der Gewährs­ menhänge in einem formalen theoretischen trägerhaftung bei den Landesbanken. erner

Modell und forderte eine globale Initiative zur Die Publikation Kasino-Kapitalismus wurde -W

Erhöhung der Eigenkapitalquoten. der Erfolg, den dieses Buch verdient hatte. Es ans H In dem Buch Kasino-Kapitalismus wandte ist das Werk eines Wissenschaftlers, der auf : Sinn sich dann erstmals mit diesen Themen an ­Basis von jahrelanger Grundlagenforschung eine breite Öffentlichkeit und analysierte die in der Lage ist, Politikberatung mit exzellenter Finanzkrise aus unterschiedlichen Perspekti- Qualität anzubieten. alismus ven. Aus der Sicht der Haushalte, der des Staa- apit -K asino K

181 Martin Wolf HANS-WERNER SINN ZUR GLOBALEN FINANZKRISE

Martin Wolf, Commander of the British Empire, ist Chefreporter für Wirtschaft der Financial Times und Professor an der Universität von Nottingham. Er ist Träger vieler Auszeichnungen und mehrerer Ehrendoktortitel sowie regel­ mäßig unter den 100 wichtigsten Denkern der Zeitschrift Foreign Policy.

Hans-Werner Sinn besitzt vier herausragende sich der Bazillus der Haftungsbeschränkung, Gaben : Mut, Klarheit, Klugheit und Streitlust. Regressfreiheit und Verantwortungslosigkeit Diese Kombination macht ihn zu einem exzel- von Amerika aus über die Welt verbreitet lenten Ökonomen, einem wegweisenden Poli- und die Finanzmärkte infiziert hat, ohne dass tikanalysten und einem mächtigen Polemiker. die Regulierungsbehörden Einhalt geboten ha- Seine Position als Präsident des ifo Instituts ben. Banken, Hedgefonds, Zweckgesellschaften, und Gründer des CESifo-Netzwerks vergrö- ­Investmentfonds und Immobilienfinanzierer ßerte seinen Einfluss noch. Er ist nicht nur ein durften ihr Geschäft fast ohne Eigenkapital be- tatkräftiger Intellektueller, sondern ein echter treiben. Wer kein Eigenkapital hat, haftet nicht, Organisator. und wer nicht haftet, zockt. Er sucht das Risiko, Deutschlands einflussreichster politikorien- wo er es nur findet, weil er die Gewinne priva­ tierter Ökonom hat Einfluss in ganz Europa. tisieren und die Verluste sozialisieren kann. Und es sind nicht nur seine Mitstreiter, die Durch das Wegschneiden eines Teils der Ver- die Relevanz seiner Beiträge anerkennen. Sein lustverteilung ist es ihm möglich, aus dem wahrer Wert zeigt sich darin, dass die Klarheit ­bloßen Risiko private Erträge zu zaubern.« Da- seiner Argumente alle anderen zwingt, sich mit eine Marktwirtschaft funktioniert, müssen selbst ebenso klar zu äußern. Entscheidungsträger die Kosten ihrer Fehlent- alismus Diese Qualitäten zeigen sich auch in seiner scheidungen tragen, jedoch begrenzt durch die

apit Arbeit zur globalen Finanzkrise, insbesondere Existenz von beschränkter Haftung und In­ -K in Kasino-Kapitalismus. Darin begründet er solvenzverfahren. Vor der globalen Finanz­ ­einen einfachen, aber mächtigen Gedanken : krise bestand ein Ungleichgewicht : Es gab zu asino

K »Das Unglück brach über die Welt herein, weil wenig Eigenkapital in Kreditinstituten und zu

182182 wenig Regress gegenüber verantwortungslosen Banken mit einem diversifizierten Portfolio Schuldn­ ern, während die Allgemeinheit zu viel können Krisen eher überstehen als kleine. Und Risiko tragen musste. wenn eine große Bank gerettet werden muss, Wie Hans-Werner Sinn betont, bestätigt die- dann gilt dies ebenso für eine große Anzahl se Krise die grundlegende Annahme des deut- kleiner Banken. schen Ordoliberalismus, »dass Märkte ihre se- Kasino-Kapitalismus spricht sich auch für gensreichen Wirkungen nur in einem starken länderübergreifende regulatorische Mindest- Ordnungsrahmen entfalten können, der vom standards aus, um einen erneuten Wettstreit Staat definiert wird. Es gibt keine Selbstregu­ hin zu lascher Regulierung zu begrenzen. Bi- lierung der Märkte, nur eine Selbststeuerung lanzierungsregeln müssen sorgfältig überprüft innerhalb des staatlich gesetzten Regulierungs- werden, wie zum Beispiel die Risikogewich- rahmens.« tung von Bilanzpositionen. Das Risikogewicht Die Auffassung, dass die institutionellen Rah- anonymer Sicherheiten sollte größer sein als menbedingungen der Finanzmärkte mangelhaft das konventioneller Darlehen an Schuldner, waren, ist korrekt. In dem Irrglauben, dass »die- die einem Insolvenzrisiko ausgesetzt sind. In all ses Mal alles anders sei«, waren sich nicht alle diesen Punkten hat Hans-Werner Sinn Recht. Akteure der Risiken bewusst, die sie eingingen. Doch die Implementierung eines solchen Das Bewusstsein, vor ernsthaften Konsequen- Regimes ist kompliziert. Kapitaleigner werden zen geschützt zu sein, führt zu einer Art »ratio- entweder weiterhin darauf setzen, gerettet zu nalem Leichtsinn«. Infolgedessen werden nicht werden, oder sie sind überzeugt, dass dies etwa bewusst Risiken eingegangen, sondern es nicht passiert. Im erstem Fall werden Banken besteht vielmehr eine Gleichgültigkeit bezüglich zu hohe Risiken eingehen. Im zweiten werden langfristiger Konsequenzen. sie Darlehen kürzen und Anteile verkaufen, so- Ausgehend von dieser Erkenntnis, formu- bald Unternehmen dem regulatorischen Min- liert Hans-Werner Sinn eine Reihe stichhaltiger destmaß an Eigenkapital nahe kommen. Auch inanzarchitektur F Empfehlungen. Die wichtigste ist, dass Finanz­ dadurch könnte eine Krise ausgelöst werden. die investoren und andere Akteure ein größeres Hans-Werner Sinns Analyse der globalen Fi-

Verlustrisiko tragen sollten, vor allem durch nanzkrise und die Lehren, die daraus gezogen und strengere Eigenkapitalvorschriften. werden, demonstrieren seine wichtigsten Ei- inn

Hierbei ist wichtig, dass diesen Akteuren genschaften. Die Arbeit ist klar, leicht zugäng- S kein zusätzliches Eigenkapital geschenkt wer- lich, intelligent und triftig. Sie behandelt eine den darf, weder aus dem öffentlichen Haushalt riesige wirtschaftliche Herausforderung auf erner noch durch niedrige Zinsen. Richtig ist viel- nüchterne, aber überzeugende Art. Nicht zu- -W

mehr eine direkte Eigenkapitalspritze durch letzt basiert sie auf den besten Eigenschaften ans H Regierungen, die zu einer Verringerung der der deutschen Tradition, über die Grundlagen : Anteile privater Eigner führt. Wenn Banken von funktionierenden Märkten nachzudenken. selbst nicht genug Eigenkapital einwerben kön- Von dieser herausragenden Analyse können nen, müssen sie diese Form der Staatshilfe ak- wir alle lernen. alismus zeptieren. Der ein oder andere fragt sich jetzt, warum apit Außerdem weist Hans-Werner Sinn darauf geht Hans-Werner überhaupt in Pension ? Nun, -K hin, dass die Zerschlagung von Banken diese der deutsche Arbeitsmarkt könnte noch etwas asino nicht notwendigerweise sicherer macht. Große Flexibilität vertragen. K

183 Der damalige Bundespräsident Horst Köhler spricht beim Munich Economic Summit 2010.

Der Bundespräsident besucht das ifo Institut: ( von links nach rechts ) Meinhard Knoche, Wilhelm ­Simson, Eva Luise Köhler, Horst Köhler, Beate Merk, ­Gerlinde Sinn, HWS.

VfS-Jahrestagung 2007: »Bildung und Innovation« in München: ( von links nach rechts ) Monika Schnitzer, ­ , Axel Weber, Klaus F. ­Zimmermann, ­Gerlinde Sinn, HWS.

184 Der alte und der künftige ifo-Präsi- dent (Clemens Fuest) bei einem ­Münchner Seminar der CESifo- Gruppe und der Süddeutschen Zeitung im Frühjahr 2014.

HWS mit dem damaligen Präsi- denten der Europäischen Zentral- bank, Jean-Claude Trichet, am Rande des Munich Economic Summit 2010, vor trister Kulisse.

Brunch zu Sinns 60. Geburtstag: ( von links nach rechts ) HWS, Frank Westermann, Kai Konrad und ­Ronnie Schöb (April 2008).

185 Die Zeit, 19.07.2012 TARGET-FALLE: Hans-Werner Sinn und die Zukunft 8 Europas Timo Wollmershäuser EINLEITUNG Target-Falle: Hans-Werner Sinn und die Zukunft Europas

Timo Wollmershäuser ist kom- missarischer Leiter des ifo Zent- rums für Konjunkturforschung und Befragungen und vertritt eine Professur für Finanzwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-­ Universität München. Seit 2003 forscht er am ifo Institut über die Geldpolitik der Europäischen ­Zentralbank.

Ende 2010 wandte sich Helmut Schlesinger mit als Volkswirt zählt. In den darauffolgenden der Bitte an HWS, ob er ihm bei der Interpreta- Monaten begann eine einzigartige Detektivar- tion einiger auffälliger Zahlen in der sogenann- beit. Auf eine Anfrage des ifo Instituts bei der ten »Auslandsposition der Deutschen Bundes- Deutschen Bundesbank hin, warum diese For- bank in der Europäischen Währungsunion« derungen seit Beginn der Finanzkrise so stark behilflich sein könne. Dies war schon ein be- gestiegen seien, kam als lapidare Antwort, dass achtlicher Vorgang, denn immerhin war Schle- diese Forderungen im Zusammenhang mit singer, der seit 1952 als Volkswirt bei der Deut- dem Zahlungsverkehrssystem »Target« stün- schen Bundesbank arbeitete und von 1991 bis den und dass ihr Anstieg Ausdruck einer 1993 ihr Präsident war, ein exzellenter Kenner ­krisenbedingten Verschiebung im Refinanzie- der Zentralbankstatistiken. Bei den Zahlen rungsverhalten der Banken im Euroraum wäre. handelte es sich um die »sonstigen Nettoforde- Viel weniger noch gab sich HWS mit der Aus- rungen der Deutschen Bundesbank innerhalb sage zufrieden, dass diese Forderungen kein des Eurosystems«, die bis Ende 2010 auf 300 unmittelbares finanzielles Risiko für die Bun- Milliarden Euro angestiegen waren, nachdem desbank darstellten, da sie sich nur an die EZB sie bis zum Jahr 2007 praktisch immer bei null richteten. lagen. Anfang 2011 konfrontierte HWS mich mit Mit diesem Ersuchen Schlesingers war der diesem Thema. Als Volkswirt, der sich am ifo

alle Grundstein für eine wirtschaftspolitische De- Institut seit vielen Jahren mit der Geldpolitik -F batte über die Zukunft Europas gelegt, die nach der Europäischen Zentralbank beschäftigte, eigenen Aussagen von HWS zu den wichtigsten hatte auch ich keine Antworten auf die vielen ar

T get Beiträgen in seiner über 40-jährigen Karriere Fragen. Unsere Recherchen begannen mit dem

188188188 Erstellen einer Datenbank, in der Target-For- te zeigt uns eindrücklich, dass Letztere am Ende derungen und -Verbindlichkeiten aller am fast immer scheiterten, da das Interventions- ­Eurosystem beteiligten Notenbanken erfasst potenzial der Notenbank des Schwachwäh- wurden. Wir zeigten, dass hinter dem Aufbau rungslandes durch die Währungsreserven be- der Verbindlichkeiten eine Ausweitung der grenzt war und die Notenbank mit der starken Kreditvergabe der entsprechenden Notenbank Währung, wenn überhaupt, dann nur in ge­ stand und dass die Notenbanken, die Forde- ringem Umfang bereit war, die Währungs­ rungen aufbauten, einen Liquiditätsüberschuss reserven des Schwachwährungslandes durch ihres Bankensystems kompensieren mussten. kurzfristige Kredite aufzustocken. In der Euro- Hinter alldem stand die endende Bereitschaft päischen Währungsunion ist ein solcher grenz- ausländischer privater Kapitalgeber, den Euro- überschreitender Kreditmechanismus – und Krisenländern weiterhin Kredit zu gewähren. damit das Interventionspotenzial – grundsätz- Bis heute hat HWS unzählige Beiträge zum lich unbeschränkt. Spitzt sich eine Krise zu, Thema Target-Salden veröffentlicht. Keiner der ­ermöglicht es das Eurosystem, fliehendes pri- Texte entstand durch einfaches Copy-Paste, vates Kapital durch Notenbankkredite, die es sondern wurde immer wieder neu formuliert. in unbegrenztem Ausmaß neu schaffen kann, Was ihn antrieb, war der fortdauernde Ver- zu ersetzen. Das Ausmaß dieser Intervention such, diese komplizierte Thematik jedes Mal wird durch die Target-Salden gemessen. Ein noch verständlicher darzustellen. Diese Be- Scheitern der Währungsunion ist somit erst gar harrlichkeit hat sich ausgezahlt, denn bei vielen nicht möglich, solange es zumindest eine poli- der ehemals umstrittenen Aspekte herrscht tische Mehrheit für den Fortbestand der Wäh- heute weitgehender Konsens. Einen Etappen- rungsunion gibt. sieg erlangte HWS, als sich die Deutsche Bun- HWS stellt dieses von vielen Ökonomen und

desbank und die Europäische Zentralbank im Politikern vertretene Postulat der Ewigkeit des uropas

Jahr 2011 erstmals offiziell in ihren Monatsbe- Währungsclubs nicht zufrieden, zumal er die E richten zu diesem Thema äußerten und weitge- externe Abwertung als einzig gangbaren Weg hend die von uns identifizierten Mechanismen, einiger Länder aus der Krise sieht. Er macht ukunft die hinter der Entstehung der Target-Salden deutlich, dass mit der Dauer der Rettungs­ Z die standen, bestätigten. Im Hinblick auf die von politik die Target-Salden und damit die Kosten HWS formulierten Risiken, die sich in den Tar- des Austritts eines Krisenlandes aus der Wäh- und get-Salden für die Steuerzahler der Mitglieds- rungsunion zunehmen. Die Länder mit Target- länder des Eurosystems manifestierten, dis­ Forderungen sind in einer Falle, da sie auf inn S tanzierten sie sich freilich weiterhin, da ein ­diesen Forderungen gegenüber der Notenbank Auseinanderbrechen der Währungsunion zum des ausscheidenden Landes sitzenbleiben. Seit erner damaligen Zeitpunkt für einen Euro-Noten- dem Regierungswechsel in Athen Anfang 2015 -W banker ein undenkbarer Gedanke war. hat die Wahrscheinlichkeit, dass das Undenk- Doch gerade dieser Gedanke ist es, der am bare doch Realität wird, deutlich zugenom- ans H : Ende zu einer zentralen Erkenntnis aus dieser men. Als Ökonom zeigt HWS, welche Kosten

Debatte wurde. Im Kern verkörpert das Target- mit dem Verbleib des Landes in der Währungs- alle System jenen Baustein einer Währungsunion, union verbunden sind und welche Alternati- -F der sie von einem herkömmlichen Festkurs­ ven, beispielsweise in Form einer Parallelwäh- ar system unterscheidet. Die Währungsgeschich- rung, es zum derzeitigen System gibt. T get

189 Helmut Schlesinger VOM POSTEN IN DER BUNDESBANKBILANZ ZUR TARGET-FALLE

Helmut Schlesinger begann seine Tätigkeit als Volkswirt 1949 am ­neugegründeten ifo Institut. 1952 wechselte er zur Bank deutscher Länder, der späteren Deutschen Bundesbank, deren Präsident er von 1991 bis 1993 war. Er lehrte ­unter anderem in Princeton und an der Humboldt-Universität zu Berlin.

Kurz nach der Berufung von Hans-Werner höre. Hier lernte ich seine Leidenschaft als po- Sinn auf den Lehrstuhl für Volkswirtschafts- litischer Ökonom, dessen Urteile sich vielfach lehre und Finanzwissenschaft erlebte ich ihn durch seine tiefe Fachkenntnis von manchen anlässlich eines Vortrags in der LMU in Mün- nicht weniger leidenschaftlich argumentieren- chen. Er war nicht nur temperamentvoll – wie den Kollegen abhoben, kennen. Natürlich war mein Lehrer, Professor Fritz Terhalle, damals das ifo Institut eine wichtige Stütze für seine Inhaber des gleichen Lehrstuhls –, der junge Arbeit. Auch dort regte er an, die wissenschaft- Ordinarius war auch inhaltlich gut, ja eigent- liche Gründlichkeit selbst bei den oft gering lich brillant. Und so wird er auch sein, so wün- ­geachteten Details nicht zu vergessen. sche ich es ihm, wenn er Abschied nimmt So ein Detail war auch seine Frage an mich, von seinen Aufgaben an der Universität und wie die Länder der Europäischen Währungs- dem ifo Institut. Dass dieses Institut, in dessen union ihre Defizite in der Zahlungsbilanz, Grün­derzeit ich meine Lehrjahre (1949 – 52) die bei den südlichen Euroländern sehr groß verbrachte, heute groß, wissenschaftlich aner- geworden sind, finanzieren. Ich sagte ihm, in kannt und einflussreich wirken kann, ist sei- der deutschen Zahlungsbilanzstatistik gäbe es nem jetzigen Präsidenten in besonderer Weise ­einen Posten kurzfristiger Kredite der Bundes- zu danken. bank an das Ausland zusätzlich zur Verände- Im Laufe der Jahre hatte ich das Glück, mit rung der Währungsreserven. Ich bemühte mich

alle Herrn Sinn öfter zusammenzutreffen, beson- herauszufinden, um was es sich wirklich han- -F ders seit ich nach meinem Amt in der Bun­ delt, nämlich um die inzwischen mit Hilfe von desbank (1993) dem Wissenschaftlichen Beirat Herrn Sinn bekannt gewordenen Target-2-For- ar

T get beim Bundesministerium für Wirtschaft ange- derungen der Bundesbank, dem kumulierten

190 Saldo im Zahlungsverkehr mit den nationalen in der fachlichen Analyse; sie müssen den Vor- Notenbanken des Euroraums. schlag als solchen in Frage stellen. Ideologisch Nach ein bisschen Getöse gaben die Noten- bestimmte Sichtweisen, wegen sozialpoliti- banken zu, dass es sich hier um unbefristete, scher Vorstellungen oder einer eingefleischten kaum verzinsliche Kredite der Notenbanken Euro-Romantik, sind die stärksten Triebfedern untereinander (verrechnet über die EZB) von dieser Kritiken. Gewiss, das ausgeprägte Talent letztlich unbegrenzter Größenordnung han- von Hans-Werner Sinn, sein Anliegen auf kur- delt. 2012 stieg allein die Target-2-Forderung ze, einprägsame Formeln zu bringen, wie Kasi- der Bundesbank auf fast netto 700 Mrd. Euro, no-Kapitalismus oder Gefangen im Euro, rufen und auch heute (Mai 2015) beträgt sie rd. nicht nur das Interesse der Öffentlichkeit wach, 550 Mrd. Euro. Es ist der weithin größte Posten sondern bergen auch die Gefahr, dass Nicht­ auf der Aktivseite der Bundesbankbilanz, rein leser dieser Werke sie für zu populistisch halten rechnerisch »deckt« er zwei Drittel der Ver- könnten. Aber dem beugt der Verfasser auch bindlichkeiten der Bundesbank. Hans-Werner dadurch vor, dass er sich persönlich in die Öf- Sinn hat in der Target-Falle (2012) die ökono- fentlichkeit begibt und gerade dort – im Fern- misch wichtigen Probleme einsichtig zu ma- sehdiskurs oder in der Presse – mit seiner Sach- chen versucht. Das Eurosystem ist bisher auf lichkeit überzeugt. seine Vorschläge zur Eindämmung dieser Pra- In der Tat ist das Interesse der Öffentlich- xis nicht eingegangen. Offensichtlich hält man keit an den aktuellen wirtschaftspolitischen, es nach den Erfahrungen seit 2007 für ange- geld- und währungspolitischen Ereignissen in bracht, die Zahlungsverkehrsdefizite unter den Deutschland eher lebhafter als in anderen In- Euroländern, sei es aus Importüberschüssen, dustrieländern. An der Aufklärung sind über sei es aus Kapitalabzug und Kapitalflucht, rei- die Jahrzehnte hinweg viele Einrichtungen be-

bungslos zu finanzieren. teiligt, die Bundesbank mit ihren Monatsbe- uropas

Hans-Werner Sinn ist Realist genug, um zu richten seit 1949, der Sachverständigenrat seit E wissen, dass zwischen dem Ergebnis einer kla- 1963, die großen wirtschaftswissenschaftlichen ren Analyse und deren politischer Realisier- Institute. Die Bevölkerung hat Grund genug, ukunft barkeit ein ziemlicher Abstand bestehen kann. sich für das wirtschaftspolitische Schicksal die- Z die

Er hat das des Öfteren selbst formuliert. Tat- ses Landes zu interessieren nach den schlim- sächlich sind seine politischen Vorschläge so men Erfahrungen mit dem Verlust des Geld- und realitätsnah wie möglich. Wenn es um Vor- vermögens (1923/1948) sowie der Finanz- und schläge zur Änderung der Besteuerung, gegen Bankenkrise seit 2007. Die Geldpolitik muss inn S die Ausweitung der Sozialbudgets, der Fehl­ offen betrieben werden, sonst riskiert sie die entwicklung im Landesbanksystem usw. geht, wichtigste Basis ihrer Wirksamkeit : das Ver- erner ist er auch mit den Nuancen des staatlichen trauen. Hier wird deutlich, wie wichtig es sein -W Gestrüpps an Regulierungen, Privilegien, Sub- wird, dass Hans-Werner Sinn nicht verstummt, ventionierungen vertraut. Seine Präzision bei wenn er von den hauptamtlichen Pflichten be- ans H : der Verwendung statistischer Unterlagen ist freit sein wird. Für diese Zeit wünsche ich ihm,

vorbildlich. Wann immer Kritiker sich seinen und ebenso seiner verehrten Gattin, Glück, Ge- alle wirtschaftspolitischen Vorschlägen zuwenden, sundheit und ein langes Leben. -F finden sie höchst selten einen Anhaltspunkt ar T get

191 Malte Fischer SPEKTAKULÄRE AUFKLÄRUNGSARBEIT

Malte Fischer ist Chefvolkswirt der WirtschaftsWoche. Zuvor arbei- tete der an der Ruhr-Universität ausgebildete Ökonom als Wissenschaftler in der Konjunktur- forschung des Instituts für Welt- wirtschaft in Kiel.

Hätte man Ökonomen vor einigen Jahren ge- Begonnen hat alles mit dem Hinweis an die fragt, was das Target-System ist, hätten die meis- WirtschaftsWoche, man möge doch bitte Kon- ten ratlos die Achseln gezuckt. Manche hätten takt mit Helmut Schlesinger, dem ehemaligen wohl auf eine Flugabwehrrakete oder eine neue Präsidenten der Deutschen Bundesbank, auf- Krimiserie getippt. Mittlerweile aber ist das nehmen. Dem rüstigen Ruheständler war bei ­militaristisch anmutende Akronym a­llen Öko­ der Lektüre des Monatsberichts der Deutschen nomen ein Begriff. Dass das »Trans-European Bundesbank aufgefallen, dass der Bilanzposten Automated Real-time Gross Settlement Express »Forderungen innerhalb des Euro-Systems Transfer System« (Target) in das Scheinwerfer- (netto)« binnen weniger Jahre von 18 Mil­ licht der Öffentlichkeit geraten ist, hat es dem liarden auf 326 Milliarden Euro angeschwollen Wirken von Hans-Werner Sinn zu verdanken. war. Schlesinger konnte sich darauf keinen Mit aufklärerischer Verve hat der Chef des Reim machen und schaltete ifo-Chef Sinn ein. Münchner ifo Instituts die Öffentlichkeit in­ Denn Schlesinger wusste : Wenn es einen Öko- formiert, was es mit diesem System, über das nomen gibt, der unerbittlich nachhakt, bis öko- die Euro-Notenbanken grenzüberschreitende nomisches Licht in das Dunkel von Daten und Zahlungen abwickeln, auf sich hat – und wel- Fakten fällt, dann ist es Hans-Werner Sinn. che ökonomische Sprengkraft hinter den buch- Es folgte eine spektakuläre Aufklärungsar- halterisch-bieder anmutenden Bilanzierungs- beit und eine der kontroversesten wirtschafts-

alle praktiken des Systems steckt. Sinn deckte die politischen Debatten der vergangenen Jahre. -F heimliche Eurorettung hinter der offiziellen Den Aufschlag machte Sinn mit einem Beitrag Rettungspolitik auf und zeigte, welche Rolle in der WirtschaftsWoche. Darin stellte er die ar

T get die Europäische Zentralbank (EZB) dabei spielt. These auf, dass das für die Verrechnung von

192 Zahlungen zwischen den Euro-Zentralbanken Notenbankern kam das gar nicht gut an. Sie geschaffene Target-System in der Eurokrise zu konterten, Sinn verstehe nichts von Noten- einem Finanzierungsvehikel für die Krisen­ bankbilanzierung. Auch aus Teilen der Wissen- länder geworden war, das es ihnen erlaubte, schaft und der Medien hagelte es Kritik. Mit weiterhin über ihre Verhältnisse zu leben. Im seinen zugespitzten Thesen und popularisier- Gegenzug bauten sich Forderungen aus dem ten Darstellungen komplexer Sachverhalte be- Target-System bei der Bundesbank auf, aus de- wege sich Sinn auf dem Niveau eines »Boule- nen sich milliardenschwere Ausfallrisiken für vard-Ökonomen«, lautete einer der Vorwürfe. die deutschen Steuerzahler ergeben. Doch wie immer, wenn er Gegenwind ver- Die Bundesbank wiegelte zunächst ab. Der spürt, lief Sinn nun zur Höchstform auf. Wäh- Anstieg der Target-Salden sei eine »krisenbe- rend sich andere, wie die fünf Wirtschafts­ dingte Verschiebung in den Zahlungsströmen weisen, in der Eurokrise wegduckten, ging und im Refinanzierungsverhalten der Banken Sinn mit der Eurorettungspolitik schonungslos im Euroraum«, hieß es verschwurbelt aus der ins Gericht. Er bezichtigte die EZB, monetäre Notenbankzentrale. Doch Sinn ließ nicht lo- Staatsfinanzierung zu betreiben, warnte vor ei- cker. Er analysierte Daten, durchforstete die Bi- ner »schleichenden Enteignung der deutschen lanzen von Notenbanken und verfeinerte seine Sparer« und vor »Unfrieden in Europa«. Sinn These. So wies er nach, dass nach dem Aus- kritisierte jedoch nicht nur, er lieferte auch Re- bruch der Eurokrise die Kapitalmärkte nicht formvorschläge. Er forderte, die Rettungsmit­ mehr bereit waren, den Problemländern Kre­ tel strikt zu begrenzen, die Target-Salden nach dite zur Finanzierung ihrer Importüberschüsse dem Vorbild der USA einzugrenzen und re­ zu gewähren. Deshalb sprang die EZB ein und formunfähige Länder aus der Währungsunion erlaubte den Banken der Krisenländer, sich ge- austreten zu lassen.

gen fragwürdige Sicherheiten unbegrenzt Geld Sinn, der den Euro erhalten will, wurde zur uropas von der Notenbank zu leihen. Galionsfigur der Euro-Kritiker und zum pro- E Mit dem Geld vergaben die Banken Kredite minentesten Anwalt der deutschen Steuerzah- an ihre Kunden, die damit Waren im Ausland, ler. Dem um sich greifenden Relativismus in ukunft unter anderem in Deutschland, kauften. Via Politik und Ökonomie setzte er marktwirt- Z die

Bundesbank und Geschäftsbanken floss das schaftliche Prinzipientreue und ordnungspoli- Geld auf die Konten der deutschen Exporteure. tische Standfestigkeit entgegen. Was ihn dabei und Als sich die Eurokrise zuspitzte, nutzten die antrieb, verriet er in seinem 2012 erschienenen

Bürger der Krisenländer das Target-System Buch Die Target-Falle. Ihm gehe es nicht um inn S auch dazu, ihr Geld in Deutschland in Sicher- »theoretische Glasperlenspiele«, sondern »um heit zu bringen. Nun schwammen die Banken die Zukunft Europas im Allgemeinen und um erner hierzulande im Geld und mussten es sich nicht das Wohlergehen der Deutschen und ihrer -W mehr bei der Bundesbank leihen. Kinder im Besonderen«. Sinn warnte, dass die Target-Forderungen Der Altmeister der deutschen Ökonomen- ans H : der Bundesbank bei einem Auseinanderbre- zunft, Herbert Giersch, hat einmal gesagt,

chen des Euroraums verloren seien und die Ökonomen hätten eine Bringschuld gegenüber alle Steuerzahler die Zeche dafür zu zahlen hätten. der Gesellschaft. Hans-Werner Sinn hat diese -F Der EZB warf er vor, eine »riskante Kredit­ Bringschuld erfüllt wie kein Zweiter. ar ersatzpolitik« zu betreiben. Bei den Euro-­ T get

193 Otmar Issing DIE TARGET-FALLE – VIEL LÄRM UM NICHTS?

Otmar Issing ist Präsident des Center for Financial Studies an der Goethe-Universität . Von 1998 bis 2006 war er Mitglied im EZB-Direktorium und von 1990 bis 1998 im Direktorium der Deut- schen Bundesbank. Zuvor war er Mitglied des Sachverständigen­ rates und Professor in Erlangen- Nürnberg und Würzburg.

Hans-Werner Sinn war an fast allen wichtigen Target 2, wird auch für die Abwicklung der wirtschaftspolitischen Debatten der letzten geldpolitischen Operationen des Eurosystems Jahrzehnte in Deutschland beteiligt. (Davon und für den Handel mit Zentralbankguthaben zeugen die Beiträge zu diesem Buch.) Meist zwischen den Banken genutzt. hat er dabei eine führende Rolle gespielt. Viele Als Zahlungsverkehrssystem ist Target si- Themen hat er angestoßen und Öffentlichkeit cher ein Erfolg. Diese technische Seite soll hier wie Wissenschaft auf gravierende Probleme nicht weiter interessieren. Die Problematik von aufmerksam gemacht, gelegentlich geradezu Target liegt in der zeitlich wie betragsmäßig aufgeschreckt. Das gilt sicher für das hier be- unlimitierten, impliziten Kreditgewährung in handelte Thema. Höhe der aufgelaufenen Salden. Diese entste- HWS hat zunächst eine Reihe von Artikeln hen, wenn sich die Zahlungen über das System zu dieser Thematik geschrieben. Schließlich nicht ausgleichen. Wären die Salden im Um- sind zwei umfangreiche Bücher erschienen : fang begrenzt (oder kurzfristiger Natur, wie Die Target-Falle und The Euro Trap. man bei der Einführung dieses Clearingsys- Target steht für »Trans-European Automated tems ursprünglich angenommen hatte), wäre Real-time Gross Settlement Express Transfer dies kein Problem. System« und verbindet die nationalen Zah- Doch ist es nach Ausbruch der Krise ganz an- lungssysteme und den Zahlungsverkehrsme- ders gekommen. Als die Banken in den Über-

alle chanismus der EZB zu einem einheitlichen Sys- schussländern, allen voran in Deutschland, ihre -F tem, das grenzüberschreitende Überweisungen Kreditgewährung an die Peripherieländer mehr zwischen verschiedenen Systemen in der EU er­ oder weniger abrupt aussetzten, führten die ar

T get möglicht. Target, genauer die Fortentwicklung Zahlungen über das Target-System zu wachsen-

194 den negativen Salden der Notenbanken der De- den Erhalt des Eurosystems investiertem Geld fizitländer und analog zu posi­tiven Salden bei weiteres hinzuzufügen. Er spricht zu Recht von den Überschussländern. Über das Zahlungsver- »Pfadabhängigkeit« der Entwicklung. kehrssystem entstand so eine riesige automa­ Ihm geht es dabei um das große Ganze. In tische Finanzierung zwischen den Notenban- seinem Buch Die Target-Falle bekennt sich HWS ken. 2010 stieg der Forderungssaldo Finnlands, zu seiner im Gegensatz zu anderen Prominen- Deutschlands, Luxemburgs und der Nieder­ ten anfänglich durchaus positiven Einstellung lande dramatisch an und erreichte im Jahr 2012 zur Einheitswährung. Verständlicherweise muss den Höhepunkt von über 1 Billion Euro. Die die Enttäuschung über die Entwicklung umso Forderungen Deutschlands beliefen sich im größer ausfallen. Wie schnell man zum »Anti- ­August 2012 auf bis zu 751 Milliarden Euro. Seit- Europäer« abgestempelt wird, wenn man auf dem gingen die Beträge zurück. HWS zeigt ein- die Fülle von falschen Entscheidungen im Ein- drücklich, wie die Salden im Target-System von zelnen und die Konzeptionslosigkeit im Gan- der Niedrigzinspolitik der EZB und den dras- zen hinweist, musste er immer wieder erfahren. tisch reduzierten Anforderungen an die Quali- Mit ihm bin ich davon überzeugt, dass die tät der geforderten Sicherheiten für Kredite der ­Zukunft der Währungsunion und auch Euro- Notenbank an den Bankensektor abhängen. pas nicht gesichert wird, wenn man falsch Die Bundesregierung spielte zunächst die ­verstandene und zum Fehlverhalten geradezu Relevanz der Target-Salden deutlich herunter. ­einladende »Solidarität« einfordert. Ohne fis- Das zeigt einmal mehr, welch wichtige Rolle kalische Solidität, ohne harte »Budgetrestrik­ HWS gerade in dieser Debatte spielt. Schließ- tionen« – man kann Probleme nicht einfach lich handelt es sich hier um einen alles andere durch Gelddrucken überwinden – kann die als unerheblichen Teil des deutschen Auslands- ­europäische Wirtschaft nicht die Stabilität be-

vermögens. HWS weist auf die hohen Risiken wahren und gewünschte Dynamik gewinnen. uropas hin, die mit den Forderungen aus diesem Treibt die Währungsunion den nicht nur im E »Zwangskreditsystem« verbunden sind. Schei- Target-System implizierten Zwang zu Trans- det ein Defizitland aus dem Euro aus, dürften fers weiter voran, wird die gemeinsame Währung ukunft sich diese Forderungen als weitgehend unein- letztlich am Mangel an demokratischer Legiti- Z die bringlich erweisen. Der Verlust ist dann von mierung scheitern. Eine Fiskalunion europäi- den verbleibenden Notenbanken des Eurosys- scher Dimension kann es nur in einer vollentwi- und tems entsprechend den Kapitalanteilen zu tra- ckelten Politischen Union geben. Auf absehbare gen. Bräche das ganze System zusammen, wäre Zeit ist dies jedoch keine realistische Option. inn S der Verlust maximal. Dem Bekenntnis am Ende der Euro Trap Nachdem dies kein Land wollen kann, tra- schließe ich mich uneingeschränkt an : »The erner gen auch die hohen Target-Salden dazu bei, die better Europeans are not the romantics, but -W »Bereitschaft« zu finanziellen Hilfsoperationen those who seek realistic solutions that accord zu fördern, sei es durch Kredite über den ESM, with the free will of the people, the law of eco- ans H : direkte Finanzhilfen oder Ankäufe von Staats- nomics, and the free decisions of parliaments,

anleihen durch die EZB. Deutschland als – in without the latter being predetermined by tech- alle absoluten Beträgen – größter Gläubiger ist da- nocratic bodies overstretching their mandate, -F durch erpressbar, wie HWS betont, und steht and solutions that can be applied without a ar immer wieder vor der Abwägung, bereits in forced redistribution of wealth.« T get

195 Kai Carstensen WORTE STATT AKRONYME – HANS-WERNER SINN UND DIE EURORETTUNG

Kai Carstensen ist Professor für Ökonometrie an der Universität Kiel. Von 2007 bis 2014 war er Leiter des Bereichs Konjunktur und Be- fragungen am ifo Institut. Gemein- sam mit Hans-Werner Sinn hat er einen Insolvenzmechanismus für den Euroraum vorgeschlagen und die Kosten von Eurobonds analy- siert.

Als die griechische Regierung im Herbst 2009 pien wir unser gemeinsames Haus, die EU, aus- eingestand, dass ihre Statistiken gefälscht und richten wollen. Es geht um nicht weniger als ihre Finanzen zerrütten waren, lief eine Schock- die Zukunft Europas. welle durch den Euroraum. Sie markierte den Es gehört zur Bringschuld der akademischen Beginn einer Krise, die weit über das Ökono- Wissenschaft, mit Fakten und Analysen zu mische hinausreicht. Denn schnell wurde klar, ­dieser Diskussion beizutragen. Wohl niemand dass die vorhandenen Institutionen und Ver- in Deutschland hat sich darum so verdient fahren in Europa überfordert waren. Daher ­gemacht wie Hans-Werner Sinn. Wieder und war – und ist – die Eurokrise auch eine Krise wieder hat er in Zeitungsbeiträgen, Interviews, der EU : Staaten gerieten ins Straucheln, Ret- Aufsätzen und Büchern darauf hingewiesen, tungspakete wurden geschnürt, und Verträge dass Wunsch und Wirklichkeit bisweilen weit wurden gebrochen. Und am Ende war es im- auseinanderklaffen. Dabei hat er mit seiner mer wieder an der Europäischen Zentralbank, Meinung nicht hinter dem Berg gehalten, aber die Löcher in den Bilanzen von Staaten und er hat diese – im Unterschied zu vielen ande- Banken mit Hilfe der Notenpresse zu stopfen. ren, die wenig mehr als eine Meinung zu bieten Früher hieß das monetäre Staatsfinanzierung, haben – auf tiefschürfenden wirtschaftswissen- heute heißt es Target, ELA und EAPP. Doch schaftlichen und politökonomischen Analysen kann die Einführung technisch klingender Ak- aufgebaut. Nicht ohne Grund sind Bücher wie

alle ronyme und kompliziert wirkender Mechanis- Die Target-Falle und The Euro Trap sowohl -F men nicht verdecken, dass die Eurokrise und Bestseller beim breiten Publikum als auch Re- alle Versuche zu ihrer Überwindung die funda- ferenzwerke für die angewandte Wissenschaft ar

T get mentale Frage aufwerfen, an welchen Prinzi­ geworden.

196 Hervorstechend ist sein Talent, komplizierte einmal einheitliche europäische Statistiken exis­ Zusammenhänge so darstellen zu können, dass tierten. Zudem waren Medien und Politik an- sie der Öffentlichkeit und der Politik verständ- fangs eher zögerlich. Konnte es tatsächlich lich werden. Das hat zum einen damit zu tun, sein, dass allein Hans-Werner Sinn die Trag- dass es ihm mit wissenschaftlicher Brillanz, weite der Target-Salden erkannte ? Oder war ­gesundem Menschenverstand und viel Hart­ das nur ein Glasperlenspiel im Elfenbeinturm ? näckigkeit gelingt, den Kern einer Sache aus Mittlerweile sind die Fakten, wie Hans-Wer- der Vielzahl der Begleiterscheinungen und Ne- ner Sinn sie beschrieben hat, allgemein akzep- benschauplätze herauszuschälen. Zum ande- tiert : Um in einem anderen Euroland private ren kann er diesen Kern in eine Sprache klei- Schulden zu begleichen, Güter zu kaufen oder den, die auch Nicht-Ökonomen verwenden : sein Kapital in Sicherheit zu bringen, kann sich Anstatt Akronymen verwendet er das deutli- z. B. der griechische Privatsektor von seinen che Wort. Banken Zentralbankgeld beschaffen lassen und So war es auch mit den Target-Salden im Eu- über das Target-System ins Ausland transfe­ roraum. Als sie in etwa seit dem Beginn der rieren. Private Schulden werden dabei in Ver- weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise ausei- bindlichkeiten zwischen den Zentralbanken nanderzulaufen begannen, bemerkten es wohl umgewandelt. Diesen stehen zwar Pfänder ge- nur Eingeweihte. Selbst als sich die Entwick- genüber, die bei der heimischen Notenbank lung mit dem Beginn der Eurokrise dramatisch hinterlegt werden mussten. Die Anforderun- beschleunigte, schenkte dem kaum jemand Be- gen an die Werthaltigkeit der Pfänder wurden achtung. Welche Relevanz sollte auch die Tat- jedoch während der Eurokrise schrittweise ge- sache haben, dass es im »Trans-European Auto­ lockert. So akzeptiert die griechische Zentral- mated Real-time Gross Settlement Express bank im Rahmen von Notfallkrediten (ELA)

Transfer System«, also dem Echtzeit-Brutto- Bankschuldverschreibungen, deren wohl ein- uropas zahlungssystem zwischen den Banken des Eu- ziger Wert in einer Garantie durch den faktisch E roraums, zu einem Aufbau von Salden kam, so insolventen griechischen Staat besteht. dass Länder wie Griechenland, Irland, Spanien Aus den Target-Forderungen der Bundes- ukunft und Italien Verbindlichkeiten auftürmten, wäh- bank und all den anderen Rettungspaketen er- Z die rend Länder wie Deutschland, Luxemburg und rechnet sich eine Haftungssumme Deutsch- die Niederlande Forderungen ansammelten ? lands von 337 Mrd. Euro (Stand : Mai 2015). Es und Immerhin sei die Summe aller Salden – so wur- ist das Verdienst von Hans-Werner Sinn, früh- de tatsächlich argumentiert – exakt gleich null. zeitig darauf hingewiesen zu haben. Dafür ist inn S Hans-Werner Sinn gab sich mit derart einfa- er zuweilen als »anti-europäisch« diffamiert chen Beschwichtigungsversuchen nicht zufrie- worden. Ich kann jedoch nichts Schlechtes erner den. Denn mit diesem Argument seien ja alle ­darin erkennen, die Öffentlichkeit über die Ri- -W Schulden unproblematisch, und kein Gläubi- siken der Eurorettung aufzuklären. Denn nur ger müsse jemals beunruhigt sein. eine informierte Öffentlichkeit kann eine fun- ans H : Daher begann er, der Sache auf den Grund dierte Diskussion führen. Zudem ist Hans-

zu gehen. Das gestaltete sich nicht immer ein- Werner Sinn nie bei der Kritik stehengeblie- alle fach, denn die Zentralbanken waren wenig be- ben, sondern hat immer wieder Alternativen -F geistert, als er unbequeme Fragen zu stellen herausgearbeitet und der Politik unterbreitet. ar

­begann und sich herausstellte, dass noch nicht Auch dafür sind wir ihm zu Dank verpflichtet. T get

197 Marcel Fratzscher TARGET-FALLE ODER FLUCHTHILFE?

Marcel Fratzscher ist Präsident des DIW Berlin und Professor für Makroökonomie und Finanzen an der Humboldt-Universität zu Berlin. Zuvor war er für die Euro- päische Zentralbank, das Peterson Institute for International Econo- mics, die Regierung Indonesiens und die Weltbank tätig.

Hans-Werner Sinn hat die wirtschaftliche Be- Konstruktionsfehler des Euro hingewiesen und deutung Europas für Deutschland immer wie- Korrekturen angemahnt zu haben. Es gibt welt- der facettenreich und innovativ analysiert. Von weit kaum einen Wissenschaftler wie ihn, der einem der größten Unterstützer des europäi- die Fähigkeit hat, komplexe wissenschaftliche schen Integrationsprozesses und des Euro hat Zusammenhänge für eine breite Öffentlichkeit sich Hans-Werner Sinn im vergangenen Jahr- verständlich zu machen. Weil er Themen früh- zehnt jedoch zu einem der schärfsten Kritiker zeitig erkennen und rigoros argumentieren des Euro gewandelt. In vielen Aspekten sei- kann, hat er wie kein Zweiter wirtschaftspoliti- ner Kritik an Europa liegt er richtig : Der Euro sche Diskussionen in Deutschland über Jahr- ­wurde als politisches Projekt mit einigen wirt- zehnte gestaltet und beeinflusst. schaftspolitischen Geburtsfehlern geschaffen. Ein solches Thema, das Hans-Werner Sinn Der Euro hat nicht, wie ursprünglich erhofft, praktisch im Alleingang in die öffentliche Dis- zu einer Konvergenz und einer stärkeren insti- kussion eingebracht hat, sind die Target-Salden tutionellen Integration und engeren Koordi- innerhalb der Eurozone. Bei grenzüberschrei- nierung der Wirtschaftspolitik in der Eurozone tenden Zahlungen über das elektronische Zah- geführt. Im Gegenteil : Der Euro hat nicht ver- lungsverkehrssystem Target 2 (T2) entstehen hindern können, dass sich wirtschaftspoliti- bei den nationalen Zentralbanken entweder sche Divergenzen verstärkt haben und die Poli- Forderungen oder Verbindlichkeiten. Im Zuge

alle tik heute wieder mehr auf nationale Interessen der Krise im Euroraum sind beispielsweise bei -F ausgerichtet ist. der Bundesbank beträchtliche Target-Forde- Es ist eines der wichtigen Verdienste von rungen gegenüber anderen Mitgliedsländern ar

T get Hans-Werner Sinn, auf diese institutionellen aufgelaufen, auf dem Höhepunkt der Krise im

198 Juli 2012 rund 750 Milliarden Euro – vor allem des Euroraums wollen ihre nationalen Noten- deshalb, weil deutsche Banken seit dem Jahr banken behalten, da diese nach wie vor eine 2008 mehr als 400 Milliarden Euro aus den wichtige Rolle bei der Vergabe von Zentral- Krisenländern abgezogen haben. Dies konnten bankgeld spielen. Um in diesem Umfeld eine sie allerdings nur dank des Target-Systems und reibungslose Abwicklung des Zahlungsver- der Verfügbarkeit zusätzlicher Zentralbank- kehrs gewährleisten zu können, braucht es aber kredite tun. Andernfalls hätten sie wahrschein- ein Zahlungssystem wie Target 2. Ohne kann es lich größere Verluste erlitten. Das Target-Sys- keine Währungsunion geben. tem hat also in erster Linie dazu gedient, das Die Sorge, die im Target-Zahlungssystem Geld deutscher Anleger in Sicherheit zu brin- abgebildeten Ungleichgewichte innerhalb der gen. Eurozone könnten finanzielle Kosten und Risi- T2-Positionen sind nicht zwangsläufig mit ken für uns verursachen, ist bisher unbegrün- einem zusätzlichen Risiko behaftet. Nur im Fall det – das Target-System hat sich wohl eher als des Euroaustritts eines Mitgliedslandes, dessen Fluchthilfe für deutsche Investoren erwiesen. nationale Zentralbank per saldo T2-Verbind- Dennoch bleibt es ein Verdienst Hans-Werner lichkeiten aufweist, besteht die Möglichkeit ei- Sinns, die Entwicklungen rund um die Target- nes Verlusts. Mitte 2015 bereitet vor allem ein Salden aufgedeckt zu haben. Auch die Debatte möglicher Austritt Griechenlands, der mit sol- über einen möglichen Austritt Griechenlands chen Verlusten verbunden sein könnte, große aus dem Euro unterstreicht, dass viele wichtige Sorge. Zwar hinterlegt eine Bank Sicherheiten Fragen hinsichtlich der Konstruktion der Wäh- bei der Europäischen Zentralbank (EZB), die rungsunion bis heute unbeantwortet sind. im Konkursfall der Bank veräußert werden Deutschlands wirtschaftliche Zukunft ist können und damit mögliche Verluste für die unweigerlich mit der Europas verbunden. Mit

EZB gering halten. Allerdings werden diese wenig mehr als 1 % der Weltbevölkerung ist uropas

­Sicherheiten bei den nationalen Notenbanken Deutschland ein winziges Land. Ob Deutsch- E hinterlegt, wo sie die EZB im Falle eines Euro- land seine Wettbewerbsfähigkeit und Attrak­ austritts einfordern müsste. tivität des Wirtschaftsstandorts behaupten und ukunft

Bei der Analyse des Problems liegt Hans- damit auch langfristig seinen Wohlstand si- Z die

Werner Sinn zwar richtig, doch seine Lösungs- chern kann, hängt von der Frage ab, ob der eu- vorschläge werden kontrovers diskutiert. Er ropäische Integrationsprozess gelingt und Eu- und schlägt eine regelmäßige Glattstellung oder zu- ropa als Einheit und mit einer Stimme global sätzliche Absicherung der Target-Verbindlich- agieren kann. Es ist schade, dass Hans-W­ erner inn S keiten vor. Dies könnte jedoch zu Verwer­ Sinn sich zu einem Kritiker des Euro gewandelt fungen in den Krisenländern führen, denn die hat. Der Diskurs um Europas Zukunft würde erner Banken könnten deshalb weniger Kredite ver- enorm von einer konstruktiven, zukunftsori- -W geben, was sich gerade in der gegenwärtigen entierten Perspektive Hans-Werner Sinns und Krise als fatal erweisen würde. Zudem stellt seiner großen Überzeugungskraft profitieren. ans H : sich die Frage der Praktikabilität : Die Länder alle -F ar T get

199 Mark Schieritz ZWISCHEN ALLEN SCHUBLADEN

Mark Schieritz ist wirtschafts­ politischer Korrespondent der ZEIT in Berlin. Er studierte Volks- wirtschaftslehre und Politik­ wissenschaft an der Universität Freiburg und an der London School of Economics. Seine jour- nalistische Karriere begann er bei der Financial Times Deutschland.

Für das Verhältnis zwischen Journalisten und lierung der Banken, lehnt aber Konjunktur­ Experten gilt in der Regel dies : Die Journalis- programme ab. Er hat die Rettungspakete für ten recherchieren, und die Experten bewer- die europäischen Krisenstaaten verurteilt, aber ten das Ergebnis der Recherchen. Das klingt auch die deutschen Exportüberschüsse kriti- nach einer fairen Arbeitsteilung, bedeutet in siert. Hans-Werner Sinn hat seine Überzeu- der Praxis allerdings zumeist, dass die Journa- gungen, aber er hat sich nie in Schubladen ste- listen denjenigen Experten anrufen, dessen Be- cken lassen. Das war manchmal eine echte wertung eines Sachverhalts sich mit der Bewer- redaktionelle Herausforderung. tung dieses Sachverhalts durch den jeweiligen Aber noch in einer zweiten Hinsicht unter- Journalisten deckt. Das ist so, weil Journalisten scheidet sich Hans-Werner Sinn von vielen sei- eben oftmals nicht auf der Suche nach eine un- ner Kollegen : Er ging immer wieder selbst un- abhängigen Stimme sind, sondern nach einem ter die Journalisten. Das beste Beispiel dafür passenden Kronzeugen für die eigene Haltung. sind seine Analysen zu den Zahlungsströmen Es gilt die alte Reporterweisheit : Zu viel Re- zwischen Notenbanken der Währungsunion, cherche hat noch keiner Geschichte gutgetan. den so genannten Target-2-Salden. Nachdem Die meisten Experten wiederum wissen das ihn der frühere Bundesbankpräsident Helmut nicht, und das ist vielleicht auch ganz gut so, Schlesinger auf Merkwürdigkeiten in der Bi- denn sonst würden sie nicht mehr mit den lanz der Bundesbank aufmerksam gemacht

alle Journalisten sprechen. hatte, ließ das Thema Hans-Werner Sinn nicht -F Auf Hans-Werner Sinn trifft all dies nicht zu. mehr los. Er tauchte tief in die Materie ein, und Wer bei ihm anrief, der musste sich auf Über- als er nach einiger Zeit wieder auftauchte, war ar

T get raschung gefasst machen. Er ist für mehr Regu- das Konzept der Target-Falle geboren.

200 Diese Falle besteht sehr vereinfach gesagt rechtigt, andere sind es nicht. Der entscheiden- darin, dass sich die Banken in den Krisenstaa- de Punkt ist : Hans-Werner Sinn hat mit seinen ten bei der Europäischen Zentralbank (EZB) Arbeiten in erheblichem Umfang das Ver- refinanzieren konnten, als sie mit Ausbruch ständnis dieser Krise befördert. Er hat den der Krise plötzlich keinen Zugang mehr zu Blick darauf gelenkt, dass sie in ihrem Kern ­privatem Kapital hatten. Das hat den betroffe- keine Staatsschuldenkrise ist, sondern eine nen Ländern das Leben erleichtert. Weil aber Leistungsbilanzkrise. Die Gründung der Wäh- Verluste der EZB in einer Währungsunion von rungsunion hat wesentlich zu den Problemen ­allen Mitgliedstaaten – beziehungsweise ihren der Währungsunion beigetragen, weil durch Notenbanken – getragen werden müssen, wer- den Wegfall des Wechselkursrisikos zu viel Ka- den dadurch Haftungsrisiken ohne parlamen- pital vom Norden in den Süden geleitet wurde. tarische Zustimmung vergemeinschaftet. In Und das Elend begann, als sich diese Kapital- bester journalistischer Tradition hat Sinn also flüsse schlagartig umkehrten. Keine Analyse den Rat befolgt, den der Watergate-Enthüller der Krise kommt heute ohne die Analyse der Bob Woodward von seiner Quelle erhält : Fol- Target-Bilanzen aus, und in der Europäischen low the money ! Und ebenfalls in bester jour­ Zentralbank wird die Entwicklung der Ver- nalistischer Tradition hat er nicht etwa einen rechnungssalden sehr genau beobachtet. Fachaufsatz geschrieben, sondern einen Gast- Hans-Werner Sinn hat – mit der ihm eige- beitrag veröffentlicht, der der wirtschaftspoli­ nen Leidenschaft – seine wirtschaftspolitischen tischen Debatte in Europa eine neue Richtung Schlussfolgerungen aus seiner Erkenntnis ge- gab. zogen : Er hat sich dafür eingesetzt, den Zugang Sinns Analysen blieben nicht unwiderspro- der Banken zum Geld der Notenbank zu be- chen. Man hat ihm – und das gilt auch für den grenzen, er hat sich gegen die Bankenunion

Autor dieser Zeilen – vorgeworfen, Panik zu und den Rettungsfonds ESM ausgesprochen, uropas schüren. Man hat argumentiert, dass die Politik und er hat schon früh für einen – zumindest E der EZB die Risiken für die Steuerzahler unter vorübergehenden – Austritt Griechenlands aus dem Strich nicht erhöht, sondern gesenkt habe, der Währungsunion plädiert. ukunft weil ein Zusammenbruch des Finanzsystems Man muss diese Schlussfolgerungen nicht Z die sehr viel teurer geworden wäre als die Stützung teilen, um der ökonomischen Stringenz der der Banken. Man hat sich daran gestört, dass ­ihnen zugrunde liegenden Analyse Respekt zu und Sinn bei der Verbreitung seiner Thesen die in zollen – und ihre Bedeutung für die europa­ wissenschaftlichen Zirkeln übliche Zurückhal- politische Debatte zu würdigen. Der Philosoph inn S tung aufgegeben und den direkten Kontakt zur Karl Popper hat in seiner Schrift über die of­ Öffentlichkeit gesucht hat. Das hat dazu ge- fene Gesellschaft und ihre Feinde beschrieben, erner führt, dass er auch von Kräften vereinnahmt wie geschlossene Systeme zugrunde gehen, weil -W wurde, deren Ziele er nicht teilt – und man hät- sie sich gegen Kritik immunisieren und unab- te sich manchmal vielleicht gewünscht, dass er hängiges Denken unterdrücken. Hans-Werner ans H : sich gegen diese Art der Vereinnahmung ent- Sinn hat in diesem Sinne dazu beigetragen, den

schlossener zur Wehr gesetzt hätte. Diskurs über Europa offen zu halten. Er hat sei- alle Dennoch ist hier nicht der Platz, diese Ein- ne Rolle als Wissenschaftler ernst genommen. -F wände im Detail zu bewerten. Einige sind be- Er kann eben nicht anders. ar T get

201 Philip Plickert EIN SPÄTBERUFENER KRITIKER DER EURORETTUNG

Philip Plickert ist seit 2007 Mit- glied der Wirtschaftsredaktion der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Zudem ist er Lehrbeauftragter für Wirtschaftsgeschichte an der ­Goethe-Universität Frankfurt und der Universität Siegen sowie ­Stellvertretender Vorsitzender des Hayek-Clubs Frankfurt.

So scharfe Selbstkritik des bekanntesten deut- Sinn warnte : »Wir stolpern in einen neuen So- schen Ökonomen hatte man noch nie gehört : zialismus in Europa« – weil die Schulden sozia- »Ich war ein Dummkopf«, sagte Hans-Werner lisiert würden. Sinn und fügte hinzu : »als junger Mann«. In Die geschilderte Szene, die sich im Juni 2013 den frühen 1990er Jahren hatte Sinn, damals bei einer von Karl-Heinz Paqué in Magdeburg frisch berufener Professor in München, die Eu- organisierten Podiumsdiskussion zutrug, zeigt roeinführung vehement unterstützt. Jetzt be- Sinns Zerrissenheit. Hans-Werner Sinn ist ein reut er das. »Es war ein Riesenfehler, den Euro überzeugter Europäer, aber er sieht Europa in einzuführen.« Ökonomisch, aber auch poli- Gefahr wegen einer aus seiner Sicht grund­ tisch sei es schiefgegangen. »Was ist denn aus falschen Politik. Wie ein Löwe kämpfte er ge- dem angeblichen Friedensprojekt geworden ? gen die immer größeren Rettungspakete, die In Wahrheit habe ich noch nie so viel Hass in die Politik schnürte. Den dauerhaften Krisen- Europa erlebt wie jetzt.« fonds ESM, der 2012 eingerichtet wurde, nann- Das Publikum, das Sinn so reden hörte, hielt te er »eine gewaltige Bad Bank«. Damit begebe den Atem an. Doch trotz seiner Fundamental- sich Deutschland auf die schiefe Bahn der So­­ kritik wollte Sinn die Gemeinschaftswährung zialisierung der Schulden der südlichen Kri- nicht im großen Chaos scheitern lassen. Mit senländer. Die Kredite für einige Krisenländer dem Euro sei es wie mit einer zerrütteten Ehe, seien wohl verloren.

alle die Scheidungskosten seien zu hoch. Eine echte Im ifo Institut ließ Sinn regelmäßig den -F Lösung habe er nicht, gab Sinn zu. Wahr- »Haftungspegel« berechnen : dreistellige Mil­ scheinlich sei ein Durchwursteln mit hohen liardenbeträge, die Deutschland im schlimms- ar

T get Kosten und immer neuen Rettungspaketen. ten Fall durch Abschreibungen auf Hilfskredite

202 und Target-Forderungen als Verluste erleiden wenigsten Ökonomen und kaum ein Politiker würde. Im Bundesfinanzministerium wurde hatten zuvor überhaupt vom Target-System ge- der westfälische Sturkopf deshalb als fürchter- hört. Mit Gründlichkeit und Sturheit hat sich licher Quälgeist empfunden, der die Bevöl­ Sinn in die komplexe Materie vertieft und sie kerung in punkto Eurorettung verunsichere. in Zeitungskommentaren einem breiten Publi- Tatsächlich haben sich über die Zeit die War- kum erklärt. 2012 folgte ein dickes Buch voller nungen vor horrenden Haftungssummen ab- Grafiken und Interpretationen. Nur ein Sinn genutzt. Wahr ist aber auch, dass die »verant- vermag es, ein so sperriges ökonomisches The- wortlichen« Rettungspolitiker die Probleme ma unter dem Titel Die Target-Falle zu einem weit unterschätzt haben. Wolfgang Schäuble Bestseller zu machen. etwa sagte im Juli 2010 in der Frankfurter All­ Im Target-System baute sich tatsächlich fi- gemeiner Zeitung : »Die Rettungsschirme lau- nanzieller Sprengstoff auf. Als mit Beginn der fen aus – das haben wir klar vereinbart.« Grie­ Eurokrise 2009 die privaten Kredite zur Finan- chenland dürfe nur drei Jahre Kreditlinien in zierung der Leistungsbilanzdefizite der Peri- Anspruch nehmen. »Danach ist Schluss«, so pherie versiegten, schossen plötzlich die Tar­ Schäuble damals. So kann man sich irren. get-Salden in die Höhe. Target ist, wie es Sinn Heftigen Streit gab es darüber, ob Sinn die formuliert, für Krisenländer eine »goldene Kre- Fortschritte der Krisenländer bei der Wie­ ditkarte« mit unbegrenztem Überziehungskre- dererlangung der Wettbewerbsfähigkeit unter- dit. Die Schuldnerländer zapfen Target an und schätze. Anders als viele Ökonomen zog er erwerben Waren, Dienstleistungen, Immobilien nicht die Lohnstückkosten, sondern den BIP- oder Bankguthaben, zumeist in Deutschland. Deflator als Indikator heran. Die statistisch Diesen Vermögenstransfer »bezahlt« die Bun- ­ermittelten Lohnstückkosten seien durch die desbank. Größter Posten ihrer Bilanz sind nun

Entlassung von Hunderttausenden Gering­ Target-Forderungen in dreistelliger Milliarden- uropas produktiven künstlich reduziert worden (»Ent- höhe, deren Rückzahlung in den Sternen steht. E lassungsproduktivität«), argumentierte er. Weil Völlig zu Recht warnte Sinn, dass Deutsch- Sinn es für unmöglich hielt, dass Krisenländer land durch dieses Target-System in eine Falle ukunft wie Griechenland durch extrem starke Preis- gerate und erpressbar werde. Jene, die immer Z die und Lohnsenkungen innerhalb des Euro ihre neue Rettungsmilliarden verlangen, können Wettbewerbsfähigkeit wiedererlangen konn- auch auf die Target-Milliarden verweisen, die und ten, riet er Athen dazu, den Euro aufzugeben. im Fall eines Auseinanderbrechens der Euro-

Eine Exportbelebung nach einer Abwertung sei zone auf dem Spiel stehen. Wegen dieser finan- inn S der weniger schmerzvolle Krisenausweg als die ziellen Risiken – und wegen politischer und jahrelange, quälende interne Abwertung. geopolitischer Risiken – wurde in der Euro­ erner Hans-Werner Sinn war und ist der origi- krise ein Rettungspaket auf das nächste ge- -W nellste ökonomische Querdenker, den Deutsch­ türmt. Es ist wie mit einer zerrütteten Ehe, man land hat. Er hatte stets die Augen offen und bleibt zusammen aus Angst vor den Kosten ans H : ­erkannte neue Probleme früher als andere. So ­eines Bruchs. Als einen so zerrütteten Zusam-

entdeckte Sinn im Jahr 2011, nach einem Hin- menschluss hatte man sich das geeinte »Haus alle weis des Ex-Bundesbankpräsidenten Schlesin- Europa« aber nicht vorgestellt. Es bleibt Sinns -F ger, das Problem der explosionsartig ansteigen- Verdienst, diese Widersprüche klar herausge- ar den Target-Forderungen der Bundesbank. Die arbeitet zu haben. T get

203 Jürgen Stark ÜBER TARGET UND ANDERE FALLEN

Jürgen Stark ist Stellvertretender Vorsitzender im Verwaltungsrat und im Kuratorium des ifo Insti- tuts und Honorarprofessor an der Universität Tübingen. Er war von 2006 bis 2011 Mitglied des EZB- Direktoriums. Zuvor war er Staats- sekretär im Bundesministerium der Finanzen und Vizepräsident der Deutschen Bundesbank.

Target – ein Akronym, das nur wenige vor 2011 entdeckt, hinter dem sich die Target-Forde­ kannten und das nur im Jargon von Zahlungs- rungen der Bundesbank verbargen – allerdings verkehrsexperten von Banken und Zentral­ keineswegs absichtlich ! Die politische Brisanz, banken verwendet wurde. Target steht für die hinter diesen Zahlen steckte, wurde zu- »Trans-European Automated Real-Time Gross nächst weder von der Bundesbank noch von Settlement Express Transfer System«. Es war der EZB erkannt. Man interpretierte die Target- von Experten der Bundesbank entwickelt wor- Salden als eine Folge der einheitlichen Geld­ den und wurde im Eurogebiet zur Zahlungs- politik in Krisenzeiten. Ergo waren die Risiken verkehrsplattform. Target ist eigentlich ein aus den geldpolitischen Operationen auch ge- harmloses Instrument – in normalen Zeiten. meinschaftlich zu tragen, d. h., man haftete im In Krisenzeiten, wie seit 2010, kann daraus ein Umfang der Forderungen. höchst problematisches Vehikel werden, das zu In der ihm eigenen Beharrlichkeit, Leiden- erheblichen volkswirtschaftlichen Haftungs­ schaft und Konsequenz kniete sichHWS in die risiken führt. Target-Problematik hinein. Pointiert und z.T. Hans-Werner Sinn machte diese Risiken, die aggressiv argumentierend, mobilisierte er die sich mit der Eskalation der Krise im Euroraum Öffentlichkeit. Plötzlich wurde klar, dass die dramatisch erhöht hatten, gegenüber der Öf- Haftungsrisiken aus Target für die europäi- fentlichkeit transparent. Aufgegriffen hatte es schen, insbesondere die deutschen Steuerzah-

alle zunächst Helmut Schlesinger, der ehemalige ler, dem Umfang der Rettungsschirme hinzu- -F Präsident der Deutschen Bundesbank. Er hatte gerechnet werden müssen. in der Bundesbankbilanz einen regelrecht ex- In der öffentlichen Diskussion brachte dies ar

T get plodierenden Aktivposten unter »Sonstiges« manchen Zentralbanker in Erklärungsnot oder

204 auch in einen Konflikt. In meinem Fall dadurch, zeigt jedoch, dass die neuen Regeln genauso dass ich einerseits Mitglied des EZB-Direkto­ wenig greifen wie die alten. Denn es geht im- riums war, andererseits Stellvertretender Vorsit- mer wieder um politische Rücksichtnahmen zender des ifo-Verwaltungsrats und des -Kurato- und fehlenden politischen Willen der Durch- riums. Es ist ein Zeichen der in der EZB aufein- und Umsetzung. Das, was von dem neuen ins- andertreffenden unterschiedlichen politischen titutionellen Rahmen für den Euro bleibt, ist Kulturen, dass von mir in der Target-Debatte der ESM – der Europäische Stabilitäts-Mecha- eine förmliche Intervention gegenüber HWS er- nismus – und die Bankenunion. wartet wurde, mit der Begründung : ifo sei ein Aus der »Target-Falle« wurde – um in HWS’ staatlich finanziertes Institut und könne nicht ge- Formeln zu bleiben – die »Euro-Falle«. Dies ist gen die politischen Interessen der Zuwendungs- die Konsequenz aus den Rettungsaktionen und geber agieren. HWS’ Aktivitäten gingen über Po- institutionellen Änderungen seit 2010. Die da- litikberatung hinaus, seien reine Polemik. mals getroffenen »alternativlosen« Grundent- Für mich war klar : ifo und sein Präsident scheidungen belasten die Gegenwart und die sind in ihrer wissenschaftlichen Arbeit unab- Zukunft. Es war die falsche Weichenstellung. hängig und dem Gemeinwohl verpflichtet. Die Die Folge ist, dass die EZB zum entscheidenden Qualität der Arbeit muss sich im wissenschaft- Krisenmanager des Euroraums geworden ist. lichen Diskurs beweisen – es bedarf keiner (po- Die EZB hat zusätzliche Aufgaben übernom- litischen) Intervention ! Dennoch telefonierten men und ist zum »Kreditgeber der letzten Ins- wir miteinander, und am Ende stellte HWS fest : tanz« für Staaten geworden – ein klarer Verstoß »Das, was ich sage, entspricht doch auch Ihrer gegen das Verbot der monetären Finanzierung Meinung !« von Staatshaushalten. Mit dem Kauf von Staats­ Die Diskussion führte zu einer ernsteren anleihen im Rahmen der mengenmäßigen

Auseinandersetzung mit der Problematik in- ­Lockerung der Geldpolitik setzt die EZB ihre uropas nerhalb des Eurosystems. Die Target-Salden ultra­lockere Geldpolitik fort, ohne deren er- E sind inzwischen zurückgegangen. Das Grund- kennbare mittel- bis längerfristigen negativen problem aber besteht unverändert fort. Folgen zu berücksichtigen. Sie ist Gefangene ukunft

Zu Recht steht für HWS die »Target-Falle« ihrer eigenen Politik geworden, denn ein Aus- Z die synonym für den Rettungswahn, der die Politik stieg ist nicht ohne weiteres möglich. Zu sehr des Eurogebiets 2010/2011 befallen hatte. Man sind Regierungen und Finanzmärkte von den und handelte in Panik. Risiken wurden mit der EZB-Operationen abhängig.

Übernahme von noch größeren Risiken nach Der Weg nach vorn ? Von der Politik ist ge- inn S dem Motto bekämpft : Was immer erforderlich, genwärtig kein europäischer Quantensprung was immer es kostet. zu erwarten. Zu sehr ist man mit der aktuellen erner Die nationale Eigenverantwortung für die Krise befasst. Man sollte sich ernsthaft mit den -W öffentlichen Haushalte ging in gegenseitiger von HWS präsentierten Optionen für einen zu- Haftung auf. Aus der Nicht-Beistandsklausel kunftsfähigen Umbau Europas beschäftigen. Er ans H : wurde über eine temporäre Fazilität ein dauer- plädiert wohlbegründet u. a. für eine Schulden-

hafter Rettungsmechanismus für Staaten ge- konferenz für Krisenstaaten, die Möglichkeit, alle schaffen. Parallel dazu wurden im Rahmen des den Euro (vorübergehend) zu verlassen, eine -F Stabilitäts- und des Fiskalpakts die europäi- Insolvenzordnung für Eurostaaten und für eine ar schen Regeln verschärft. Die bisherige Praxis Konföderation nach Schweizer Vorbild. T get

205 Jens Weidmann DIE WÄHRUNGSUNION BRAUCHT EIN STABILES FUNDAMENT

Jens Weidmann ist seit Mai 2011 Präsident der Deutschen Bundes- bank und Mitglied des EZB-Rates. Zuvor war er Generalsekretär des Sachverständigenrates, Leiter der Abteilung Geldpolitik der Deut- schen Bundesbank und Leiter der Abteilung Wirtschafts- und ­Finanzpolitik im Bundeskanzleramt.

Zu den überraschenden Erkenntnissen der Fi- nalen Volkswirtschaften eingedämmt. Aller- nanz- und Schuldenkrise zählt, dass ein Buch dings haben sie ein zentrales Gestaltungsprinzip über das Zahlungssystem der Zentralbanken der Währungsunion nachhaltig geschwächt, des Eurosystems, das sogenannte Target-Sys- nämlich das Prinzip der Eigenverantwortung. tem, zum Bestseller werden konnte. Weniger Gemäß diesem Prinzip dürfen die Mitglied- überraschend ist hingegen die Tatsache, dass es staaten nicht für die Schulden der anderen Hans-Werner Sinn war, dem das Kunststück ­Eurostaaten haften. Aus gutem Grund ist es gelang, das sperrige Thema Target-Salden einer den Notenbanken daher auch untersagt, mone- breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. täre Staatsfinanzierung zu betreiben. So wie Fieber keine Krankheit, sondern Fakt ist aber, dass zusammen mit den fiska­ Symptom einer Krankheit ist, sind diese Salden lischen Rettungsmaßnahmen der Euroländer vor allem ein Symptom der Krise. Es ist unstrit- die geldpolitischen Krisenmaßnahmen zu einer tig, dass gerade Hans-Werner Sinn dazu bei­ Umverteilung von Risiken geführt und Ele- getragen hat, das Bewusstsein der Öffentlich- mente von Gemeinschaftshaftung etabliert -ha keit für die Risiken und Nebenwirkungen der ben. Das Verhältnis von Kontrolle und Haftung Krisenpolitik des Eurosystems zu schärfen. Zu ist dadurch im Ordnungsrahmen der Wäh- Recht hat er darauf hingewiesen, dass die bilan- rungsunion aus der Balance geraten. Die Mög- ziellen Risiken des Eurosystems durch die Kri- lichkeiten, die Verschuldungstätigkeit der Mit-

alle senmaßnahmen erheblich gestiegen sind. gliedstaaten zu kontrollieren, sind nämlich -F Die Krisenmaßnahmen des Eurosystems nicht entsprechend mitgewachsen. ­haben zwar eine Eskalation der Krise im Euro­ Zwar wurden im Zuge der Krisenaufarbei- ar

T get raum verhindert und ihre Folgen für die natio- tung Änderungen an den gemeinsamen Fis­

206 kalregeln vorgenommen, die durchaus in die einer Stabilitätsunion dauerhaft verlässlich ein- ­richtige Richtung weisen. Die bisherigen Er- gelöst werden. Um Otmar Issing zu zitieren : fahrungen mit den reformierten Regeln geben »Zu einer Währungsunion, in der die Länder jedoch Anlass zu Zweifeln an ihrer Bindungs- zwar ihre Geldpolitik auf eine supranationale wirkung. Ob die Regeln in Zukunft besser ein- Institution übertragen (…) haben, aber im gehalten werden als in der Vergangenheit, ist ­Übrigen darauf bestehen, souveräne Staaten zu daher fraglich. sein, passt nur das No-Bail-out-Prinzip. Wer Die Kernfrage für die Zukunft der Wäh- auf Selbständigkeit besteht, muss selbst für die rungsunion ist, wie Kontrolle und Haftung Folgen des eigenen Handelns haften.« In letzter wieder besser miteinander in Einklang ge- Konsequenz verlangt das die Möglichkeit einer bracht werden können, oder anders formuliert, staatlichen Insolvenz, ohne dass das Finanz­ wie der Rahmen der Währungsunion aussehen system kollabiert. Nur das Bestehen eines Ver- muss, damit die gemeinsame Währung ein sta- lustrisikos gewährleistet im Übrigen, dass die biles Fundament bekommt. Anleger ihre disziplinierende Rolle für die Fis- Hans-Werner Sinn sagt : »Damit eine Wäh- kalpolitik ausüben, indem sie für höhere Risi- rungsunion stabil ist und es nicht zu Schulden­ ken höhere Zinsen verlangen. exzessen kommt, sind zwei Modelle denkbar, Die Schaffung eines stabilen Fundaments der ein Sozialisierungsmodell und ein Haftungs- Währungsunion ist aus geldpolitischer Sicht modell.« Nach dem Sozialisierungsmodell ver- zentral, damit die Geldpolitik nicht ins Schlepp- tieft man die politische Integration Europas, tau der Fiskalpolitik gerät. Anders formuliert : indem man insbesondere eine Fiskalunion Die Fähigkeit der Geldpolitik, ihrem Mandat schafft, bei der nicht nur die Haftung auf die gerecht zu werden und Preisstabilität im ge- europäische Ebene gehoben wird, sondern meinsamen Währungsraum zu gewährleisten,

auch weitgehende fiskalische Durchgriffsrech- hängt auch davon ab, dass kein Druck entsteht, uropas te. Das würde aber eine Änderung der Euro­ im Fall einer Überschuldung von Staaten oder E päischen Verträge voraussetzen. Das Haftungs- Banken in die Verantwortung genommen zu modell ist dagegen mit dem Maastrichter werden, und dass die Notenbank, falls dieser ukunft

Vertrag bereits angelegt. Für eine stabile Wäh- Druck doch entsteht, stark genug ist, diesem zu Z die rungsunion müsste der bisherige Rahmen aber widerstehen. weiterentwickelt und die Eigenverantwortung Die Stabilität unserer Währung hängt aber und der einzelnen Länder als konstitutives Merk- nicht nur vom Vertrauen der Bevölkerung in mal der Währungsunion gestärkt werden. Das die Stabilitätsorientierung des Eurosystems ab, inn S Haftungsmodell belässt also Kontrolle und sondern auch von Bedingungen, die das Euro- Haftung auf der nationalen Ebene und bekräf- system selbst nicht schaffen kann. Zu diesen erner tigt den gegenseitigen Haftungsausschluss. Bedingungen gehören solide Staatsfinanzen, -W Für eine spürbare Abgabe nationaler Sou­ve­ eine wettbewerbsfähige Wirtschaft in den Mit- ränität scheinen derzeit ohnehin die politischen gliedstaaten und ein funktionstüchtiger Ord- ans H : Mehrheiten zu fehlen. Solange dies so bleibt, nungsrahmen. Hier sind die Regierungen ge-

führt daher kein Weg daran vorbei, den beste- fordert, die Weichen richtig zu stellen, damit alle henden Ordnungsrahmen der Währungsunion die Währungsunion als Stabilitätsunion erhal- -F zu härten. Nur mit einer Stärkung des Prinzips ten bleibt. ar der Eigenverantwortung kann das Versprechen T get

207 Martin Feldstein HANS-WERNER SINN UND DIE HAUSHALTSDEFIZITE

Martin Feldstein ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Har- vard University. Zwischen 1977 und 2008 war er Präsident des National Bureau of Economic Research, mit Ausnahme der Jahre 1982 bis 1984, in denen er Vorsitzender des Council of Economic Advisers und Berater von Präsident Reagan war.

Hans-Werner Sinn und ich teilen viele wirt- Zinszahlungen auf eine derart gestiegene schaftspolitische Interessen, und bei den meis- Verschuldung zu leisten bedeutet letztendlich, ten Themen kommen wir auch zu den glei- höhere Steuern zu erheben, was die wirtschaft- chen Schlussfolgerungen. Dies betrifft auch die liche Leistungsfähigkeit mindert. Zudem wer- Haushaltsdefizite, obgleich Hans-Werner sich den mehr als die Hälfte der amerikanischen eher über jene im Euroraum sorgt, während ich Staatsanleihen von ausländischen Investoren mich mit denen der amerikanischen Volkwirt- gehalten, so dass die Zinszahlungen auch zu schaft beschäftige. ­einer Verschlechterung der Terms of Trade Die Verschuldung des amerikanischen Zent- führen, was wiederum die Realeinkommen in ralstaats ist im vergangenen Jahrzehnt stark den Vereinigten Staaten reduziert. Darüber hi- ­angestiegen, von weniger als 5 Billionen US- naus vermindert der hohe Schuldenberg auch Dollar vor Beginn der Wirtschaftskrise im Jahr die Fähigkeit, auf militärische Notlagen zu re- 2007 auf über 13 Billionen US-Dollar heute. Im agieren. Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt verdop- Hans-Werner Sinn ist darüber besorgt, dass pelte sich die Verschuldung von weniger als die mangelnde Haushaltsdisziplin in Staaten 35 % auf zuletzt 74 %. Das Congressional Bud- wie Frankreich und Italien die Eurozone un­ get Office geht davon aus, dass die Staatsschul- tergräbt und die Verantwortung für nationale denquote in den kommenden beiden Jahr- Schulden auf die Europäische Zentralbank

alle zehnten auf 100 % ansteigen wird, falls sich das (EZB) verschoben wird – letztlich zu einem -F Zinsniveau wieder normalisiert und die Ren- großen Teil auf Deutschland. Der von allen ten- sowie Gesundheitsausgaben in Anbetracht ­Regierungen der Mitgliedsländer im Jahr 2012 ar

T get einer alternden Bevölkerung weiter steigen. verabschiedete sogenannte »Fiskalpakt« sollte

208 die Schulden und Defizite begrenzen. Jedes als Ankündigung, die EZB zum lender of last Land wurde verpflichtet, seine Verschuldung resort zu machen, mit der Folge, dass die Zins- Jahr für Jahr auf ein Maximum von 60 % im unterschiede drastisch zurückgingen. Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt zurück- Während Deutschland seit 2012 in jedem zuführen. Mitgliedsländer, die dem nicht nach- Jahr Haushaltsüberschüsse vorweisen konnte, kommen, sollten mit einer Geldstrafe belegt erwirtschafteten Frankreich und Italien Defi­ werden. Hans-Werner Sinn war einer der Ers- zite, die ihre Nettoverschuldung Jahr für Jahr ten, die kritisierten, dass Frankreich und Ita­ ansteigen ließen. In Frankreich legte die Netto- lien ihre Verschuldung nicht in dem erforder­ verschuldung im Verhältnis zum Bruttoinlands­ lichen Maße zurückführten und dass dies keine produkt von 81 % im Jahr 2012 auf 89 % im Jahr finanziellen Sanktionen nach sich zog. 2015 zu. In Italien stieg sie von 103 % auf 112 %. Ich kam in einem Artikel, den ich im Feb­ Es wurde keine Geldstrafe verhängt. ruar 2012 unter dem Titel »Europe’s Empty Fis- Die fundamentale Ursache dafür, dass Ita­ cal Compact« für das Project Syndicate schrieb, lien und Frankreich nicht in der Lage sind, ihre zu einer ähnlichen Schlussfolgerung. Darin Schuldenquoten zu senken, sind ihre hohen schrieb ich : »Der Fiskalpakt wird wohl ein wei- Staatsausgaben. Während der Anteil der teres Beispiel dafür werden, dass europäische ­Staatsausgaben am Bruttoinlandsprodukt in Politiker gern ökonomische Realitäten ihrem Deutschland bei 44 % liegt, sind es 51 % in Ita­ Wunsch unterordnen, mit neuen Regelungen lien und 57 % in Frankreich. Eine Anhebung zu prahlen, die Fortschritte auf dem Weg zu ei- von Steuern in dem Maße, dass die hohen ner stärkeren Integration der Währungsunion Staatsausgaben bezahlt werden könnten, ist machen.« nicht nur politisch schwierig, sondern hat auch Meine Schlussfolgerung, dass der Fiskalpakt eine negative Anreizwirkung und schwächt das

nicht effektiv sein würde, hat sich als richtig Wirtschaftswachstum. uropas

­erwiesen. Ich lag im Jahr 2012 jedoch falsch, Es gibt zahlreiche Strukturreformen, die E als ich schrieb, dass »die Finanzmärkte jetzt Frankreich und Italien durchführen könnten, ­erzwingen werden, was der politische Prozess um die Leistungsfähigkeit ihrer Volkswirtschaf- ukunft nicht vermag.« Ich erwartete, dass die stei­ ten zu verbessern. Der daraus resultierende Z die genden Schuldenquoten zu einem Anstieg der Anstieg der Wachstumsrate des Bruttoinlands- langfristigen Zinsen führen würden, weil die produkts würde automatisch die Staatsschul- und Investoren verstärkt auf die mit dem Schul­ denquoten reduzieren. Zudem würde das er- denanstieg einhergehenden Risiken fokussie- höhte Niveau des Bruttoinlandsprodukts auch inn S ren würden. Ich hatte nicht mit Mario Draghi ein vermehrtes Steueraufkommen nach sich und seinem Versprechen gerechnet, »alles zu ziehen, die Haushaltsdefizite reduzieren sowie erner tun«, um die Eurozone zu retten, und auch den Anstieg der Staatsschuldenquoten brem- -W nicht mit der Schaffung des Outright Monetary sen. Nichtsdestotrotz sollte die Begrenzung der Transaction Programms, im Rahmen dessen Expansionsrate der Staatsausgaben ganz oben ans H : die EZB sich verpflichtete, Staatsanleihen der auf der politischen Agenda stehen, um den An-

Mitgliedsländer auf dem Sekundärmarkt zu er- stieg der Verschuldung zu stoppen. alle werben. Die Finanzmärkte interpretierten dies -F ar T get

209 Gilles Saint-Paul DIE GEFAHR DES KONSENSES

Gilles Saint-Paul ist Professor der Volkswirtschaftslehre an der Paris School of Economics und an der New York University Abu Dhabi. Er ist ehemaliges Mitglied des französischen Conseil d’Analyse Economique. 2007 wurde ihm der Yrjö-Jahnsson-Preis der European Economic Association verliehen.

Ist Konsens ein Beleg für Wahrheit ? Während immer nur Variationen bekannter Themen dies in den Naturwissenschaften der Fall sein produziert werden. kann, ist der Konsens in den Sozialwissenschaf- Es verlangt von einem bekannten Professor ten oft hausgemacht. Ohne schlüssige Beweise viel Mut, den Konsens außer Acht zu lassen. erscheint es opportun, sich der Mehrheitsmei- Eine solche Person leistet einen unschätzbaren nung anzuschließen. Der Konsens bestimmt, Beitrag zur Forschungsgemeinschaft und trägt wie öffentlich geförderte Forschungsprojekte dabei das Risiko, dass es ihn persönlich teuer ausgestaltet sind. Das größte Risiko besteht zu stehen kommt, indem er z. B. ausgegrenzt ­darin, genauso falsch zu liegen wie alle ande- oder ignoriert wird. Einen solchen Beitrag hat ren. In einer Welt, in der Wissenschaftler relativ Hans-Werner Sinn während seiner erfolgrei- zu ihren Mitstreitern evaluiert werden, erzeugt chen Karriere geleistet. dies nur geringe Kosten. Das System der Peer- Im Vorfeld der Währungsunion waren viele Review-Begutachtung bedingt Konsens. Gut- Volkswirte skeptisch bezüglich einer einheit­ achter, die die gängige Meinung vertreten, ha- lichen Währung. Ihre Untersuchungen zeigten, ben kein Interesse, neue Forschungsarbeiten zu dass der Euroraum kein optimaler Währungs- akzeptieren, die diese hinterfragen, da ansons- raum sein würde. Die Länder unterschieden ten ihre eigenen Beiträge obsolet werden. In ei- sich in ihren Fundamentaldaten und Wirt- ner Forschungsgemeinschaft, die von Konsens schaftspolitiken. Nichtsdestotrotz stellte sich

alle geplagt ist, ist es unmöglich, dass sich Wissen nach Einführung des Euro der Konsens ein, -F dialektisch entwickelt, indem Paradigmen ab- dass die Währungsunion irreversibel sein gelehnt und durch sinnvollere ersetzt werden. ­würde. Die Diskussionen unter europäischen ar

T get Wissen verbreitet sich lediglich horizontal, da Makro­ökonomen drehten sich vor allem dar-

210 um, wie die Funktionsfähigkeit der Währungs- land aus, der zu beständigen Inflationsunter- union durch fiskalpolitische Koordination, schieden und einem Verlust an Wettbewerbs­ Strukturreformen oder Transfers verbessert fähigkeit führte. Da die nationale Geldpolitik werden könne. Den Ansatz in Gänze in Frage abgeschafft worden war, konnte dem nicht ent- zu stellen war ein sicherer Weg, als Außenseiter gegnet werden. Dieser Zustand würde so lange abgestempelt zu werden. Es war allgemein an- anhalten, wie die Finanzmärkte die Möglich- erkannt, dass die Kosten eines Austritts für ein keit eines Staatsbankrotts ignorieren und bereit Land riesig wären, obgleich ein solches Er­ seien, jedem Land zu den gleichen niedrigen eignis noch nicht stattgefunden hatte und die Zinsen Kredit zu gewähren. Kosten des Verbleibs für einige südeuropäische Das goldene Zeitalter endete abrupt, als die Länder immens erschienen. Finanzkrise einsetzte. Begünstigt durch die Er- In der Konsequenz führte dieser Konsens bei wartung, dass einige Länder den Euro aufgeben den Volkswirten zu einer großen Unterstüt- würden, spreizten sich die Renditen auf Staats- zung einer Politik, die versprach, »alles zu tun«, anleihen. Zudem setzte sich die Erkenntnis um die Einheitswährung zu bewahren, wie z. B. durch, dass eine Anpassung teuer würde, falls das OMT-Programm oder andere unkonven­ diese Länder in der Währungsunion bleiben. tio­nelle Maßnahmen. Bedenken bezüglich der Die Europäische Zentralbank machte der Krise Verfassungsmäßigkeit von Anleihekäufen oder ein Ende, als sie sich bereit erklärte, die Staats- der Einführung impliziter fiskalischer Transfers anleihen der Krisenländer zu einem Mindest- zwischen Mitgliedsländern von einer nicht ge- preis zu kaufen. Diese Politik ist praktikabel, wählten Instanz wurden weitgehend beiseite- solange der Eurokurs nicht auf ein Niveau fällt, geschoben. Zudem wurde auch den verzerren- das eine Inflationsspirale in Gang setzt, und den Effekten dieser Politik auf Vermögenspreise reichere Länder wie Deutschland und Finnland

und dem Risiko eines erneuten Boom-Bust- in Versuchung geraten, die Währungsunion zu uropas

Zyklus wenig Beachtung geschenkt. Das Ein­ verlassen; und solange die fiskalischen Trans- E zige, was zählte, war, dass die Anleihekäufe die fers, die die Steuerzahler dieser Länder zu leis- Staatsverschuldung der in Schieflage geratenen ten haben, undurchsichtig sind und als vor­ ukunft

Länder im Zaum hielten und dem Euroraum übergehend empfunden werden. Hans-Werner Z die damit Zeit erkauft wurde. Sinn hat große Zweifel und schreibt : In diesem Kontext schrieb Hans-Werner »Die Mitgliedschaft in der Eurozone bein - und Sinn The Euro Trap. Das Buch ist eine Anklage haltet nicht das Recht auf Transferleistungen des gesamten Europrojekts durch einen ehe- durch andere Länder, sollte ein Land seine inn S maligen Enthusiasten, der nicht davor zurück- Wettbewerbsfähigkeit verlieren. […] In Not schreckt, Öl ins Feuer zu gießen und sich um geratene Länder mit Hilfe permanenter lebens- erner der intellektuellen Wahrhaftigkeit willen Fein- erhaltender Maßnahmen im Euro zu halten, -W de in Brüssel zu machen. hilft diesen nicht wirklich.« In dem Buch schreibt Sinn, dass die Wäh- Die Zukunft wird zeigen, ob dies eine Pro- ans H : rungsunion einer Katastrophe den Weg be­­ phezeiung oder überzogener Pessimismus war.

reitete, als das Kapital in großem Stil von den Jedoch deuten die jüngsten politischen Ent- alle reicheren Ländern des Euroraums in die är­ wicklungen in Griechenland und Spanien dar- -F meren floss. Dieser Kapitalzufluss löste einen auf hin, dass Hans-Werner Sinn wohl Recht ar

Boom in Ländern wie Spanien und Griechen- behalten­ wird. T get

211 Dietrich Murswiek DIE EZB VOR DEM BUNDESVERFASSUNGS­ GERICHT – STAATSANLEIHENKÄUFE, TARGET-KREDITE UND HANS-WERNER SINN

Dietrich Murswiek lehrt Öffent­ liches Recht an der Universität Freiburg. Er war und ist Prozess- vertreter von in den Verfassungsprozessen gegen den Vertrag von Lissabon und gegen die »Eurorettung«.

Das politische Schauspiel der »Eurorettung« In den Prozessen gegen den vorläufigen hat von Anfang an sein juristisches Nach- oder »Rettungsschirm« und dann gegen den ESM Nebenspiel auf der Bühne des Bundesverfas- ging es darum, ob Bundesregierung und sungsgerichts gefunden. Die Rettungsmaßnah- ­Bundestag Entscheidungen getroffen haben, men, die Hans-Werner Sinn mit öffentlichen die die zum Kern des Demokratieprinzips ge­ Stellungnahmen und wissenschaftlichen Ab- hörende Haushaltsautonomie des Bundestages handlungen als ökonomisch unvernünftig be- verletzen. kämpfte, versuchte ich als Prozessvertreter Pe- Wir konnten durchsetzen, dass Entschei- ter Gauweilers juristisch zu Fall zu bringen. dungen über Rettungskredite oder andere Ret- Das Bundesverfassungsgericht urteilt frei- tungsmaßnahmen (z. B. Staatsanleihenkäufe) lich nicht am Maßstab ökonomischer Rationa- der EFSF- oder ESM-Organe nicht ohne vor­ lität. Es geht im Verfassungsprozess nicht dar- herige konstitutive Zustimmung des Bundes­ um, ob Rettungsmaßnahmen, für die Hunderte tages beschlossen werden dürfen und dass von Milliarden an Steuergeldern aufs Spiel ge- ­sogar für wichtige Entscheidungen im Rah- setzt werden, ökonomisch sinnvoll sind und men bereits beschlossener Rettungsprogram- politisch verantwortet werden können. Es geht me (z. B. Auszahlung einer neuen Tranche) die allein um ihre Vereinbarkeit mit dem Grund- Zustimmung des Bundestages erforderlich ist. gesetz. Das Grundgesetz macht aber kaum Das Bundesverfassungsgericht hat so dem

alle Vorgaben dafür, wofür die Steuergelder aus­ Wähler die Chance offengehalten, mit seiner -F gegeben werden dürfen. Selbst wenn viele Mil- Stimme auch eine Änderung der Rettungspoli- liarden in ein Fass ohne Boden geschüttet wer- tik zu bewirken. ar

T get den, ist das nicht per se verfassungswidrig. Die Haushaltsautonomie könnte allerdings

212 auch dann verloren gehen, wenn sich der Bund zeigt und der – wie Sinn gezeigt hat – die euro- in einer solchen Höhe zu Hilfsleistungen im päische Währungspolitik in der »Target-Falle« Rahmen der Rettungspolitik verpflichtet, dass einsperrt, wurde vom Bundesverfassungsge- er für andere finanzwirksame Entscheidungen richt völlig ignoriert. Hier liegt eine Crux der keinen Spielraum mehr hat. Hans-Werner Sinn Rechtsprechung : Demokratie und Souveränität hat als Sachverständiger vor dem Bundesver- werden vom Bundesverfassungsgericht dage- fassungsgericht deutlich gemacht, dass der fi- gen geschützt, dass sie durch verfassungswid­ nanzielle Spielraum des Bundestages nicht nur rige rechtliche Regeln verletzt werden, nicht durch die für die EFSF und für den ESM einge- jedoch dagegen, dass die Politiker ökonomi- gangenen Verpflichtungen eingeschränkt wird, sche Zwänge schaffen, die die vom Grundge- sondern auch durch die Rettungsmaßnahmen, setz vorausgesetzte politische Entscheidungs- die ohne Beteiligung der Politik von der EZB freiheit weitgehend zunichtemachen. Wie sehr ergriffen worden sind, nämlich einerseits durch die Freiheit des Bundestages eingeschränkt ist, die Ankäufe von Staatsanleihen der Krisen­ beispielsweise über neue Hilfen für Griechen- staaten, andererseits durch die Target-Kredite, land zu entscheiden, wenn bei Versagung der und er hat vorgerechnet, wie hoch die Gesamt- Hilfen milliardenschwere Target-Forderungen belastung ist, die sich daraus ergeben kann. abgeschrieben werden müssen, interessiert das Das Bundesverfassungsgericht hat jedoch ge- Bundesverfassungsgericht nicht. sagt, dass aus dem Demokratieprinzip eine Im OMT-Verfahren erzielten wir einen wich- Obergrenze nur für solche Risiken folge, die tigen Zwischenerfolg, zu dem Sinn mit seiner die Haushaltsautonomie praktisch vollständig Stellungnahme als Sachverständiger beigetra- leerlaufen ließen. Mit dem ESM sei die Grenze gen hat. In seinem Beschluss vom 14. Januar dessen, was der Bundestag verantworten kön- 2014 hat das Bundesverfassungsgericht die

ne, auch dann noch nicht überschritten, wenn von uns vertretene Rechtsauffassung, dass die uropas man die Risiken aus den Staatsanleihenkäufen Staatsanleihenkäufe Wirtschafts- und nicht E der EZB und aus den Target-Salden mitberück- Geldpolitik seien und daher in die Kompetenz sichtige. der Mitgliedstaaten gehörten, vorläufig bestä- ukunft

Das Bundesverfassungsgericht hat sich auch tigt. Der Europäische Gerichtshof hingegen be- Z die nicht davon überzeugen lassen, dass es sich beim gnügt sich in seinem Urteil vom 16. Juni 2015 Target-System um einen mit dem Demokra- damit, dass die EZB für ihr OMT-Programm und tieprinzip nicht zu vereinbarenden Haftungs- ein angeblich geldpolitisches Ziel (Beseitigung automatismus handelt. Dass die Target-Salden einer Störung des Transmissionsmechanismus) inn S Kredite sind und dass diese bei Uneinbring- genannt hat, und verschließt die Augen davor, lichkeit die Bilanz der Bundesbank und letzt- dass es der EZB um massive Einwirkung auf erner lich dann den Bundeshaushalt belasten, hatte die Risikoprämien und damit auf die Finan­ -W Hans-Werner Sinn auch vor dem Bundesver- zierungsbedingungen der Krisenstaaten geht – fassungsgericht dargelegt. Den Richtern war dass sie also Rettungspolitik betreibt, die par­ ans H : das wohl zu kompliziert. Sie lehnten es ab, sich lamentarisch verantwortet werden muss. Jetzt

inhaltlich mit der Target-Problematik zu befas- hat das Bundesverfassungsgericht das letzte alle sen. Der strukturelle Konstruktionsmangel des Wort und wird sich hoffentlich an die Argu- -F Eurosystems, der sich in den Target-Salden mente Sinns erinnern. ar T get

213 Markus Söder HANS-WERNER SINN UND DIE ZUKUNFT DER WIRTSCHAFTS- UND WÄHRUNGSUNION

Markus Söder ist seit 1994 Mit- glied des Bayerischen Landtags und war von 2003 bis 2007 CSU- Generalsekretär. Seit 2007 gehört er der Bayerischen Staatsregie- rung an, seit November 2011 als bayerischer Finanzminister. Im Oktober 2013 wurden ihm zudem die Themen Landesentwicklung und Heimat übertragen.

Die Staatsschuldenkrise und die Zukunft der langfristig eine gute Zukunft zu sichern und Wirtschafts- und Währungsunion sind die das Vertrauen in den Euro zu erhalten, sind zentralen europapolitischen Themen unserer aus Sicht des Freistaats mehrere Grundsätze Zeit. Auch für Hans-Werner Sinn : Er hat die wichtig : geld- und finanzpolitischen Entwicklungen stets intensiv und scharfsinnig kommentiert, Verantwortung und Haftung gehören Alternativen aufgezeigt und die Diskussion in untrennbar zusammen Deutschland damit sehr bereichert. Der Euro ist eine einheitliche Währung ver- Die Frage nach der Zukunft der Gemein- schiedener Staaten, die unterschiedliche fiskal- schaftswährung Euro ist auch für den Freistaat und wirtschaftspolitische Strategien verfolgen. Bayern von herausragender Bedeutung. Wie in Diese Konstruktion ist nur dann dauerhaft und kaum einem anderen Land sind Unternehmen nachhaltig tragfähig, wenn die Folgen politi- hier exportorientiert und weltweit aktiv. Der scher Entscheidungen vom jeweiligen Staat zu Euro schafft wirtschaftliche Stärke und Ar - tragen sind. Daraus folgt unter anderem auch, beitsplätze, verschafft zusätzliche Möglichkei- dass die Europäische Union nicht zu einer ten für Unternehmen und Märkte, verbessert Transferunion werden darf, bei der sich Schuld- die Integration der Finanzmärkte, hat seit Ein- nerländer von ihren reichen Nachbarn alimen- führung stabile Preise gesichert und die euro- tieren lassen. Solidarität ist keine Einbahn­

alle päische Identität gesteigert. Deshalb hat sich straße. Finanzhilfen der Eurogemeinschaft für -F Bayern immer sehr deutlich für einen stabilen einzelne Länder darf es nur im Gegenzug für Euro eingesetzt. Haushaltskonsolidierung und Strukturrefor- ar

T get Um der Wirtschafts- und Währungsunion men geben.

214 Einhaltung des Stabilitäts- und politik keinesfalls verpassen, sonst wird der Wachstumspakts Boden für neue Übertreibungen an den Finanz­ Der europäische Stabilitäts- und Wachstums­ märkten und die nächste Krise bereitet. pakt muss konsequent eingehalten werden. Ein Hans-Werner Sinn werden die meisten For- nachlässiger Umgang mit dem Pakt verführt zu derungen und Positionen bekannt vorkom- mehr Schulden und wird damit zu einer schwe- men, hat er sie doch selbst in der einen oder ren Hypothek gerade für künftige Generatio- anderen Form vertreten. Seine wertvollen Bei- nen von Steuerzahlern. Solide Haushaltspolitik träge beschränken sich jedoch bei weitem nicht ist der Schlüssel für nachhaltiges Wachstum, auf die europäische Schuldenkrise. Professor Beschäftigung und Investitionen. Der Freistaat Sinn hat sich in der Vergangenheit zu nahe- Bayern zeigt wie kaum eine andere Region Eu- zu allen großen Wirtschaftsthemen der poli­ ropas, dass sich Wachstum und solide Haus- tischen Agenda zu Wort gemeldet. Von den haltspolitik keineswegs ausschließen, sondern volkswirtschaftlichen Schwierigkeiten der vielmehr gegenseitig bedingen. deutschen Wiedervereinigung über Mindest- lohn und Arbeitslosenversicherung bis hin zu Wachstum durch Strukturreformen umweltökonomischen Themen und den Über- statt durch Schulden treibungen an den Finanzmärkten : Seine Ana- Für eine moderne Wachstumspolitik ist es ent- lysen sind von Weitblick, dem Sinn für das scheidend, dass die wirtschaftlichen Rahmen- ­große Ganze und einem tiefen Verständnis für bedingungen stimmen. Ein wettbewerbsfähi- politische Zusammenhänge gekennzeichnet. ges Steuersystem, flexible Arbeitsmärkte und Die von ihm vertretene Sichtweise ist oft krea- eine zukunftsfähige Sozialpolitik, die konse- tiv, bisweilen ungewöhnlich, aber wissen- quent auf Hilfe zur Selbsthilfe setzt, sind die schaftlich immer fundiert. Dabei transportiert

wichtigsten Bausteine für Wachstum und Be- er komplexe ökonomische Zusammenhänge uropas schäftigung. Staaten wie Irland, Portugal und auch für den Laien verständlich. E Spanien haben gezeigt, dass nachhaltige Struk- Hans-Werner Sinn hat seit seiner Amtsüber- turreformen positive Auswirkungen auf die nahme das ifo Institut zu einem wissenschaft­ ukunft

Wirtschaft eines Landes haben. lichen Aushängeschild Bayerns gemacht. Er hat Z die

einen weltweit vernetzten Think Tank geschaf- Lockere Geldpolitik ist kein Allheilmittel fen, der sich auf höchstem wissenschaftlichem und Die Wirtschafts- und Währungsunion kann Niveau mit praxis- und politikrelevanten Fra- nicht dauerhaft durch eine expansiv ausgerich- gen auseinandersetzt. Wie kein Zweiter hat er inn S tete Geldpolitik künstlich am Leben erhalten es verstanden, Öffentlichkeit und Politik über werden. Mit ihrer Politik kann die Europäische ökonomische Zusammenhänge zu informie- erner Zentralbank den Mitgliedstaaten lediglich Zeit ren. Seine Leistungen und seine Verdienste um -W für Reformen kaufen. Die EZB darf den Mo- Deutschland und Bayern können nicht hoch ment des Umkehrens zu einer normalen Geld- genug eingeschätzt werden. ans H : alle -F ar T get

215 Wolfgang Schäuble ÖKONOM, KOMMUNIKATOR, EUROPÄER – EINE BITTE AN HANS-WERNER SINN

Wolfgang Schäuble ist seit 1972 Mitglied des Bundestages. Er ist einer der Architekten der Wieder- vereinigung Deutschlands und Europas, geehrt mit dem Inter­ nationalen Karlspreis zu Aachen. Er war Chef des Bundeskanzler­ amtes, zwei Mal Bundesinnen­ minister, seit 2009 ist er Bundes­ minister der Finanzen.

Hans-Werner Sinn ist ein außergewöhnlicher Staaten von Europa« vor, ein »Bundesstaat«, Ökonom. Er ist auf vielen Feldern der Wirt- eine echte Staatsgründung – mir eher eine kon- schaftswissenschaften zu Hause, thesenfreudig, sequente »Mehr-Ebenen-Demokratie« : kein kreativ, stellt sich gleichwohl den Mühen von quasi-nationalstaatliches Gemeinwesen mit Forschung und Empirie und hat dann noch ein dem Schwergewicht im Zentrum, sondern eine ausgeprägtes Talent zur Kommunikation in die spezifisch europäische Mischform von natio- breitere Öffentlichkeit. Ihre Debatten befeuert naler und gemeinschaftlicher Souveränität, ein er immer wieder aufs Neue. Die ökonomischen sich ergänzendes, ineinandergreifendes Sys­ Laien verstehen ihn, wie sonst nur seine Kolle- tem von Demokratien verschiedener Reich­ gen in den Vereinigten Staaten oder in Groß- weite und Zuständigkeiten, eine national-eu­ britannien verstanden werden. Für Politiker ropäische Doppeldemokratie. mögen zwar manchmal seine Scharfzüngigkeit Wie auch immer diese institutionelle Zu- und gedankliche Schärfe nicht immer ange- kunft Europas genau aussehen wird – Hans- nehm sein, aber das muss man aushalten kön- Werner Sinn legt mit seinem Plädoyer für die nen. weitere Integration den Finger in die eigent­li­ Über die jeweils aktuellen europäischen De- che Wunde des Euroraums : das bisherige Feh- batten, über akute Krisen und schwankende len einer gemeinsamen Finanz- und Wirtschafts­ Nachrichten zu Sorgenkindern in der euro­ politik, vom Fehlen einer noch weiter gehenden

alle päischen Familie hinweg verliert Hans-Werner politischen Union ganz zu schweigen. Das Pro- -F Sinn nie die grundsätzliche Frage nach der ins- blem ist bekanntlich nicht neu. Von Beginn der titutionellen Zukunft der Europäischen Union europäischen Einigung an war dies die Lage : ar

T get aus dem Blick. Ihm schweben die »Vereinigten Mehr Integration wäre immer besser gewesen,

216 aber die Bevölkerungen der Mitgliedstaaten Der »große Sprung« in ein bundesstaatliches standen meist einer noch stärkeren ­Integration Europa, noch dazu angeführt von Deutsch- nicht sehr freundlich gegenüber. In den 1990er land, scheint mir dagegen eine unrealistische Jahren gab es dann erneut eine g­ roße Debatte, und unpolitische Vorstellung in der Gemenge- ob man erst eine politische Union oder erst die lage, in der wir uns auf absehbare Zeit befin- Währungsunion schaffen sollte. Bibliotheken den; undenkbar auch in diesem Europa, wie es von Büchern zur Währungsunion sagen uns nun einmal historisch gewachsen ist : 28 gleich- seither, eine Währungsunion ohne eine Fiskal- berechtigte Nationen in der Europäischen Uni- und Wirtschaftsunion funktioniere nicht. Wir on. In die Zukunft einer tieferen Integration bemühen uns im Euro­raum – notgedrungen –, Europas führt kein einmaliger »großer Sprung«, diese Gewissheit zu erschüttern. Aber wenn sondern nur das geduldige Vorangehen auf wir es damals, in den 1990er Jahren, andersher- den Wegen, die sich immer wieder öffnen, mal um versucht hätten, würden wir bis heute keine schneller durch Krisen, mal langsamer ohne gemeinsame Währung haben. Wir würden im- sie. mer noch über die Gestaltung einer politischen Die Richtung jedenfalls muss man kennen. Union diskutieren. Deswegen haben wir beim Und eine Prise vorwärtsdrängenden Idealis- Euro denselben Weg eingeschlagen, wie er be- mus kann auch der europäische Realismus gut reits nach dem Scheitern der Europäischen vertragen : Wir werden es uns in der ungeheuer Verteidigungsgemeinschaft 1954 im französi- dynamischen und vernetzten Welt des 21. Jahr- schen Parlament eingeschlagen wurde : erst hunderts nicht mehr lange leisten können, uns einmal zu beginnen mit dem, was möglich ist, in Europa vornehmlich mit uns selbst zu be- und dann Schritt für Schritt weiterzugehen. schäftigen. Wir brauchen unsere gesammelte Bei der Vertiefung der Integration Europas, Kraft, um unseren Beitrag zu leisten zur Lö-

die ich so sehr wie Hans-Werner Sinn will, soll- sung der drängenden globalen Ordnungsfra- uropas ten wir die bewährte europäische Methode gen – ob auf den Finanzmärkten, allgemein im E fortführen, Kerne der Zusammenarbeit in der Wirtschaftsbereich oder in Fragen von Sicher- Europäischen Union zu bilden und kleinere, heit und Umwelt. Auch wenn Hans-Werner ukunft besonders kooperationsbereite Gruppen von Sinn die Dinge gelegentlich anders sieht und Z die

Mitgliedstaaten vorangehen zu lassen. Das war andere Antworten gibt als die Bundesregie- der Vorschlag von und mir 1994 rung : Dass Europa sich zu dieser Relevanz ei- und in unserem Kerneuropa-Papier. »Verschiedene ner die Welt mitordnenden Macht weiterent-

Geschwindigkeiten« oder eine »variable Geo- wickelt, ist immer auch das Ziel des überzeugten inn S metrie«, mit offenen Türen für die übrigen Mit- Europäers Hans-Werner Sinn. Und : Er darf gliedstaaten, haben wir längst in vielen Be­ nun zwar aus dem Amt scheiden, leider – aber erner reichen – ob im Schengen-Raum oder bei der aufhören, sich als Ökonom an der politischen -W Arbeit an der Finanztransaktionssteuer. Vor und wirtschaftlichen Debatte zu beteiligen, das allem der Euroraum bildet eine Art Kern­ darf er bitte nicht ! ans H : europa und zieht immer wieder weitere EU-

Mitglieder an – zuletzt Litauen. alle -F ar T get

217 Prominente Gäste und volles Haus bei der Festveranstaltung zum 50-jährigen Jubiläum des ifo Insti- tuts im Juni 1999.

( von links nach rechts ) Der Chef der BMW Stiftung ­Herbert Quandt, Michael Schaefer, der französische Ministerpräsident Manuel Valls und HWS beim Munich Economic Summit 2015.

Jean-Claude Trichet und der ehemalige­ Bundesfinanzminister Theo Waigel, offenbar zufrieden mit den Ausführungen des ifo-­Präsidenten in der Jahres­ versammlung 2006.

218 Bundesbankpräsident Jens Weid- mann, der Doyen der deutschen Geldpolitik Helmut Schlesinger und HWS bei der Festver­ anstaltung des Münchner Volks- wirte Alumni-Clubs im Juni 2013.

Jens Weidmann und HWS teilen sich das Pult auf der Festveranstal- tung des Münchner Volkswirte Alumni-Clubs im Juni 2013.

( von links nach rechts ) HWS, ­Dietrich Murswiek, ­Otmar Issing, Brun-Hagen Hennerkes und Marc Beise diskutieren in der ifo Jahresversammlung 2013.

219 Euro, April 2010 DIE MIGRATIONSWELLE: Hans-Werner Sinn und die 9 Zuwanderungsdebatte Panu Poutvaara EINLEITUNG Die Migrationswelle: Hans-Werner Sinn und die Zuwanderungsdebatte

Panu Poutvaara leitet das ifo Zentrum für Internationalen Insti- tutionenvergleich und Migrations- forschung und ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der ­Ludwig-Maximilians-Universität München. Seine Forschungs- schwerpunkte sind internationale Migration, Politische Ökonomie und Finanzwissenshaft.

Um Hans-Werner Sinns Beiträge zur Einwan- markt durch eine verpflichtende Besteuerung derungsdebatte zu verstehen, muss man zuerst zu ersetzen. seine Sichtweise des Sozialstaats verstehen. Pri- HWS wies darauf hin, dass die Möglichkeit vate Versicherungen können Individuen nicht der Migration auch das Problem der adversen gegen Risiken versichern, die sich aus dem Selektion mit sich bringt. Wenn die Personen Fehlen angeborener Fähigkeiten oder schuli- mit hohen Einkommen und die mit niedrigen schen Erfolgs ergeben. Denn Versicherungen Einkommen frei wählen können, in welchem können nur mit Erwachsenen Verträge ab- Land sie Steuern zahlen oder Sozialleistungen schließen. Bei Erwachsenen aber besteht ein in Anspruch nehmen, stehen die einzelnen großer Teil der Unsicherheit bezüglich ihres Staaten vor einem ähnlichen Problem, wie dies Verdienstpotenzials nicht mehr, und sie ken- bei Versicherungen der Fall wäre, wenn die nen in der Regel ihre Begabungen. Eine private Versicherungsnehmer ihre Entscheidung zum Versicherung wäre somit allein für die Per­ Abschluss einer Versicherung noch dann tref- sonen attraktiv, die ein ungünstiges Ergebnis fen könnten, wenn sie wissen, ob ein Risiko ­erwarten, während die, die mit einem hohen ­besteht. Ein solcher Versicherungsmarkt wür- Einkommen rechnen, keine Versicherung ab- de zusammenbrechen. Obwohl Migration zwi- schließen werden, die eine Umverteilung zu- schen Ländern viel komplizierter ist als der gunsten derjenigen mit niedrigeren Einkom- Wechsel von einem Versicherer zum anderen, men bedeuten würde. Bei einer Umverteilung sind beim Wettbewerb zwischen Ländern ähn-

igrationswelle durch Besteuerung besteht dieses Problem da- liche Kräfte am Werk.

M gegen nicht. Daher sind Regierungen in der Der Wunsch, den Sozialstaat vor schädlichem ie

D Lage, den fehlenden privaten Versicherungs- Systemwettbewerb zwischen den Ländern zu be-

222222222 wahren, veranlasste HWS zu der Forderung, dass überzeugenden Intuition. Wenn ein Argument für Migranten weiterhin das Sozialsystem ihres logisch nicht korrekt war oder einen entschei- Heimatlandes gelten sollte. Dieser Vorschlag ist denden Aspekt der realen Welt außer Acht ließ, umstritten; es gibt dagegen heftigen Widerstand wies er umgehend darauf hin. Es ist nicht über- mit dem Argument, dass bei diesem Ansatz raschend, dass viele seiner Postdoktoranden ­Migranten im Vergleich zur einheimischen Be­ und Doktoranden später Professoren an Uni- völkerung dauerhaft unterschiedlich be­handelt versitäten im In- und Ausland wurden. werden würden. Aber man muss in Erinnerung Auch meine späteren Aufenthalte am CES, rufen, wodurch der Vorschlag begründet ist : zunächst als Postdoktorand und später als Pro- durch den Wunsch, es dem Sozialstaat zu ermög- fessor an der Universität Helsinki, waren be­ lichen, auch in Zeiten freier Migration den Be- reichernde Erfahrungen. Nachdem ich dem nachteiligten Versicherungsschutz zu bieten. CESifo-Forschernetzwerk, das HWS gegründet Migration stellt den Sozialstaat vor große hat, um den internationalen Austausch unter Herausforderungen. Das bedeutet indessen Ökonomen zu fördern, beigetreten war, stellten nicht, dass die freie Mobilität der Arbeit nicht die jährlichen CESifo Area Conferences für wünschenswert wäre. Im Gegenteil : Die vier mich eine hervorragende Plattform für berei- Freiheiten – Freiheit des Verkehrs von Gütern, chernde Diskussionen dar. Seit 2010 leite ich Dienstleistungen, Kapital und Arbeit – bringen die Migrationsforschung am ifo Institut. So- große Handelsgewinne mit sich und ermög­ wohl für mich als auch für meine Bereichs­ lichen eine effizientere Allokation von Kapital leiterkollegen waren die hohen Standards, die und Arbeit. Während Migration, die auf Pro- HWS am ifo Institut eingeführt hat, ein ent- duktivitätsunterschiede zurückzuführen ist, scheidendes Motiv, an das ifo zu kommen und wohlfahrtssteigernd ist, führt Migration, die dort zu arbeiten. durch Unterschiede in der Besteuerung und in HWS hat sich wiederholt zum Thema Migra­ uwanderungsdebatte

Transferleistungen veranlasst ist, zu einer in­ tion geäußert, insbesondere hinsichtlich der Z

effizienten Allokation von Arbeit. HWS’ Vor- ­Osterweiterung der Europäischen Union. Es ist die schläge haben das Ziel, diese Ineffizienzen zu eine große Herausforderung für die europäi- und verringern und freie Migration und europäi- schen Sozialstaaten, sich auf den wachsenden

sche Sozialstaaten miteinander zu vereinbaren. Migrationsstrom sowohl innerhalb Europas als inn Gegen Ende meines Promotionsstudiums auch aus armen Ländern einzustellen. Als mög- S war ich von Dezember 2000 bis Ende März liche Politikmaßnahme wird von HWS und an- 2001 als Gast am CES. Mir gefiel die den intel- deren Ökonomen vorgeschlagen, Einwanderern erner lektuellen Austausch fördernde Atmosphäre allmählich den Zugang zum Umverteilungssys- -W dort sehr gut, und ich erhielt von HWS wert- tem ihres Ziellandes zu ermög­lichen. Dies wird ans H volle Ratschläge zu meiner Arbeit über die mit dem Begriff »verzögerte Integration« be- : Auswirkungen der Einkommensumverteilung zeichnet. Solch ein System wäre ein Mittelweg auf risikobehaftete Investitionen in Bildung zwischen der Vermeidung von Systemwettbe- und wie dies durch die Möglichkeit der Migra- werb und der sofortigen vollständigen Integra­ tion beeinflusst wird. In den wöchentlichen tion von Einwanderern. Es bleibt zu hoffen, dass

Lunchtime-Seminaren verband HWS’ Heran- HWS sich auch in seinem Ruhestand sowohl zu igrationswelle gehensweise an verschiedene ökonomische dieser als auch zu den vielen anderen Debatten, M ie

Fragestellungen die vertiefte Analyse mit einer zu denen er beigetragen hat, äußern wird. D

223 Klaus F. Zimmermann MIGRATION: EMPIRISCHE EVIDENZ UND ÖKONOMISCHE RATIONALITÄT

Klaus F. Zimmermann ist Direktor des unabhängigen Forschungs­ instituts zur Zukunft der Arbeit (IZA) in Bonn, Professor für Wirt- schaftliche Staatswissenschaften an der Universität Bonn sowie Honorarprofessor an der Freien Universität Berlin und der Renmin University of China in Beijing.

Der Professor mit dem Seemannsbart zieht ei- semester 1976 an der Universität Mannheim, nen persönlich in den Bann, er kümmert sich also vor ziemlich genau 40 Jahren. Anlass war um jeden, der mit ihm diskutiert. Er ist ein meine Seminararbeit über die Grundzüge des ­besessener Ökonom mit festem Vertrauen in Keynesianismus beim Finanzwissenschaftler wirtschaftstheoretische Zusammenhänge, un- Hans Nachtkamp, zu dessen Assistenten Sinn erschütterlich davon überzeugt, dass die Welt gehörte. Später waren wir langjährige Assis­ besser wird, wenn sich ökonomische Erkennt- tentenkollegen in der Fakultät mit gegenüber­ nisse durchsetzen. Als Provokateur und Me- liegenden Büros der Universität. Danach über dienstar mit Instinkt für die großen Themen ein Jahrzehnt auch Professorenkollegen in der der Zeit hat er zahllose wirtschaftspolitische Universität München sowie Kollegen bei der Debatten in Deutschland geprägt. Leitung zweier großer Wirtschaftsforschungs- Auch wenn er immer Recht behalten will institute, er beim ifo Institut, ich beim Deut- und es nicht immer bekommen kann, erzwingt schen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). er in aller Regel die notwendige Debatte über Demographie generell hat mich seit meiner die richtigen Fragen. Sinn denkt radikal, er geht Promotionsarbeit beschäftigt, Migration erst also an die Wurzeln der Probleme, ist dabei aber seit meiner Zeit an der Universität München. weder parteipolitisch verortbar noch extrem. Zu Migrationsfragen kam Hans-Werner Sinn Er ist zutiefst menschlich, jemand, der sich allerdings erst danach, in meiner Zeit als DIW- wirklich sorgt und an seine Einsichten glaubt. Präsident, er in seiner Rolle als Präsident des

igrationswelle So war Hans-Werner Sinn immer gewesen, ifo Instituts. Migration hat ihn insbesondere

M er ist unverfälscht und verlässlich er selbst ge- im europäischen Kontext interessiert, und mit ie

D blieben. Auf ihn traf ich zuerst im Sommer­ dem Instinkt für das Populäre hat er für sich

224 das ökonomisch Rationale der Thematik ge- wieder. Dies ist problematisch, denn die euro- wählt, nicht das empirisch Gesicherte. Aspekte päische Idee der gemeinsamen prosperieren- waren über die Jahre die Osterweiterung der den wirtschaftlichen Entwicklung basiert auch Europäischen Union, die mögliche Wohlfahrts­ auf der Hoffnung einer umfassenden Integra­ migration aus europäischen Mitgliedsländern tion der Arbeitsmärkte und größerer Mobilität. und zuletzt die Nettobeiträge von Zuwande- Es ist also nicht das »Zu viel« an Migration, rern zum deutschen Wirtschafts- und Sozial- das Sorge bereiten sollte, sondern eher das system. »Zu wenig«. Tatsächlich wandern immer noch Ohne empirische und institutionelle Details viel weniger Menschen in Europa, als einfache lassen sich die ökonomischen Ursachen und Wirtschaftsmodelle dies erwarten lassen wür- Konsequenzen von Migrationsentscheidungen den. Auch global ist dazu die Bewertung nicht scheinbar einfach abgreifen : Menschen wan- verschieden : 97 % aller Menschen weltweit le- dern, wenn die Lohndifferenziale zwischen ben heute in dem Land, in dem sie geboren Sende- und Ursprungsland hoch sind. Sie wurden. Das war vor hundert Jahren auch nicht kommen und bleiben, wenn so erhebliche Ver- anders. Wir sind also, trotz aller Spekulationen besserungen ihrer Lebensbedingungen zu er- auf ein kommendes Zeitalter der Migration, zielen sind. Die Öffnung der Grenzen zu Polen das künftig unsere demographischen und wirt- und anderen osteuropäischen Staaten war des- schaftlichen Ungleichgewichte hinwegfegt, in halb bei vielen mit der Erwartung eines Mas- diesem letzten historischen Zeitraum nicht of- senzuflusses verbunden. Auch Zuwanderung fener geworden. ohne Arbeit in die Sozialsysteme von Bür- Von vereinzelten Problemen in großen Städ- gern aus europäischen Staaten erscheint wegen ten, also in sozialen Brennpunkten, abgesehen, des hohen wirtschaftlichen Nutzens angesichts lassen sich in Europa keine Anzeichen einer großer Leistungsdifferenzen und Freizügigkeit ­relevanten Wohlfahrtsmigration wissenschaft- uwanderungsdebatte

ökonomisch plausibel, der Gedanke an »Wohl- lich belegen. So arbeiten beispielsweise heute Z

fahrtsmigration« nur konsequent. Selbst wenn viele Menschen aus den neuen Beitrittsstaaten die die Nettoeinzahlungen in die sozialen Siche- Rumänien und Bulgarien bei uns, viele davon und rungssysteme durch Migranten positiv sind, mit guten Qualifikationen, ohne dass gleich­

könnte die Nutzung öffentlicher Güter und zeitig die Nutzung unseres Sozialstaates durch inn staatlicher Leistungen diese Vorteile kompen- Migranten aus diesen Ländern bedenkenswert S sieren. Hans-Werner Sinn hat sich zu diesen gestiegen wäre. Nichts hindert die Politik Themen frühzeitig als Warner und Mahner ge- ­allerdings daran, mögliche Gesetzeslücken zu erner äußert. schließen, wenn sie eine Ausnutzung begüns­ -W

Glücklicherweise zeigen empirische Studien, tigen würden. Sozialstaatstourismus ist aber ans H dass diese wirtschaftlichen Besorgnisse letzt- schon heute nicht möglich. : lich praktisch unbegründet sind. Die europäi- Ich teile die Ansicht von Hans-Werner Sinn, sche Binnenmobilität am Arbeitsmarkt ist eher dass künftig unser Arbeitsmarkt noch mehr gering, auch wenn sich seit der Osterweiterung durch Zuwanderung profitieren könnte und und der großen Wirtschaftsrezession eine Stär- sich Deutschland dadurch leichter an die Si-

kung der Wanderungsbewegung ergeben hat. cherung der Renten herantasten würde. Dafür igrationswelle

Es ist aber nicht zu Masseneinwanderungen brauchen wir problemorientierte Debatten, M ie gekommen, Arbeitskräfte verlassen uns auch und seine Stimme ist weiter gefragt. D

225 Giuseppe Bertola HANS-WERNER SINNS HERKUNFTSPRINZIP FÜR MIGRATION UND SOZIALSTAAT

Giuseppe Bertola hat VWL an der Princeton University, dem Euro- pean University Institute, der Uni- versità di Torino und der EDHEC Business School gelehrt. Er ist CEPR und CESifo Research Fellow, hat zu vielen Themen publiziert und verschiedene nationale und internationale Institutionen be­ raten.

Öffentliche Sozialsysteme können Einkom- ten, ähnlich wie bei Familienzugehörigkeiten, mens- und Gesundheitsrisiken dort absichern, zuschreiben. Ein »Herkunftsprinzip« könnte wo private Versicherungsmärkte fehlen. Die vorsehen, dass bedürftige Personen nicht durch Teilnahme an solchen Systemen muss ver- die Gemeinschaft unterstützt werden, in der pflichtend sein. Dies ist aber bei lokaler Finan- sie leben, sondern durch die, aus der sie stam- zierung in integrierten Volkswirtschaften nicht men. Das war bis zur industriellen Revolution möglich, da erfolgreiche Individuen hohen der Fall (und bis 2012 zumindest formal in der Steuern ausweichen werden, während diejeni- Schweiz, wo immer noch die »Ursprungskom- gen, die weniger Glück haben, dorthin ziehen, mune« jedes Bürgers aus dem 18. Jahrhundert wo Sozialleistungen höher sind. Migrations- festgehalten wird), als wirtschaftliche Integra­ entscheidungen sind effizient, wenn sie auf tion durch Zölle und Abgaben an Brücken und Produktivitätsunterschieden basieren. Sind sie Stadttoren stark eingeschränkt war. Das Her- allerdings Folge unterschiedlicher Steuern und kunftsprinzip selbst könnte Arbeitsmobilität Transferleistungen, lösen sie einen Kürzungs- nur dadurch verringern, dass bedürftige Mig- wettlauf von Steuern und Transfers aus und ranten auf die Unterstützung ihrer weit ent- führen bei im Wettbewerb stehenden Sozial- fernten Verwandten und Mitbürger angewiesen systemen zu einer ebenso ineffizienten fehlen- wären und die risikoreiche Migration damit den Absicherung wie unter Laissez-faire-Be- weniger attraktiv würde. Aus diesem Grund dingungen. wurde die Industrialisierung moderner Volks-

igrationswelle Wenn Auswahlmöglichkeit ein Problem ist, wirtschaften durch den Aufbau nationaler So-

M sollte sie beseitigt werden. Man könnte jedem zialstaaten stark gefördert. Die Entwicklung ie

D Individuum unveränderbare Rechte und Pflich­ von Sozialsystemen, die die Urbanisierung von

226 Arbeitern ermöglicht und eine in Agrargesell- Sozial­system einige Jahre verbunden blieben, schaften übliche Abhängigkeit von einer Ab­ bevor sie Zugang zu dem des Ziellandes be­ sicherung durch Familien und Dorfgemein- kämen. schaften auflöst, dauert in China und anderen Dies ist eine kluge und strittige Lösung eines Schwellenländern noch an. In allen europäi- schwierigen Problems. Sie kann durch einfache schen Ländern ist dieser Prozess allerdings lan- finanzwissenschaftliche Argumente gerecht- ge abgeschlossen. fertigt werden. Ebenso wie Investitionsent- Hans-Werner Sinn analysierte früh die Pro- scheidungen unter investorspezifischen Steu- bleme, die sich aus dem Versuch der Europäi- ersätzen sind auch Migrationsentscheidungen schen Union ergeben, Märkte über die Grenzen unverzerrt, solange Steuern und Sozialleistun- nationaler Sozialstaaten hinaus zu integrieren. gen für eine Person über nationale Grenzen Wenn Sozialbeiträge und -leistungen nicht in ­hinaus konstant bleiben. In der Praxis brächte geeigneter Weise angeglichen werden, z. B. die strikte Umsetzung des Herkunftsprinzips durch die Entwicklung einer politischen Union allerdings hohe Kosten und große administra- und eines integrierten Sozialstaats oder zu­ tive Probleme mit sich. Bedürftige Migranten mindest durch bindende supranationale Re- müssten entweder zurück in ihr Herkunftsland geln, löst Migration, weg von Steuern hin zu reisen oder wären auf die Bereitschaft des Ziel- Sozialleistungen, einen Kürzungswettlauf aus landes angewiesen, Leistungen vorab auszu- und führt zum »Tod des Sozialstaats«. Diese zahlen, die dann zudem vom Heimatland man- Aussicht ist nicht nur für Finanzwissenschaft- gels nachprüfbarer und durchsetzbarer Regeln ler im Hinblick auf die Vorteile der sozialen möglicherweise nicht zurückerstattet würden. Marktwirtschaft, sondern auch für alle europä- HWS’ Herkunftsprinzip zielt darauf ab, ei- ischen Bürger, die wirtschaftliche Integration nen Ausgleich zwischen Kosten und Nutzen nicht akzeptieren, wenn sie zum Untergang von Migration unter den unvollständigen po­ uwanderungsdebatte

­ihrer Wohlfahrtsstaaten führt, unerträglich. litischen Rahmenbedingungen der EU herzu- Z

Um diesem Problem zu begegnen, hat stellen. Es kann sinnvoll verhindern, dass tat- die

HWS herkunftsbezogene Sozialtransfers vor­ sächliche oder befürchtete Sozialmigration den und geschlagen. Natürlich werden Männer und Sozialstaat oder die Popularität wirtschaftlicher

Frauen über geographische und politische Integration erodiert. Kritiker können anmer- inn Grenzen hin­weg Partner und Nachkommen ken, dass Personen, die eine Beschäftigung statt S haben, so dass, anders als bei der vorindustri­ Sozialleistungen suchen, bei verzögerter Integ- ellen Geburtsrechtsregelung, Individuen nicht ration ein nützliches Sicherheitsnetz für ihre erner aufgrund ihrer Nationalität bestimmte Steuer- riskanten Entscheidungen verlieren. Tatsäch- -W pflichten und Leistungsansprüche haben soll- lich sind die meisten Migranten mehr als be- ans H ten. Ursprünglich verwies HWS darauf, dass es reit, zur Wirtschaft und zum Sozialsystem des : theoretisch sinnvoll wäre, einen jungen Men- Ziellandes beizutragen. Ein übermäßiger Fo- schen vor die Wahl eines bestimmten Sozial- kus auf Motive der Sozialmigration könnte die systems für sein ganzes Leben zu stellen. Später Öffentlichkeit und Politik von den Vorteilen argumentierte er praktischer und mit Nach- ökonomischer Integration und von der Ent-

druck für Regeln zur »verzögerten Integra­ wicklung einer angemessenen integrierten und igrationswelle tion«, wobei Migranten ihrem nationalen vereinheitlichten Sozialpolitik ablenken. M ie D

227 Joachim Herrmann ASYLMISSBRAUCH STOPPEN – ZUWANDERUNG STEUERN !

Joachim Herrmann gehört seit 1994 dem Bayerischen Landtag an. Seit Oktober 2007 ist er bayeri- scher Innen- und Bau-, seit Herbst 2013 auch Verkehrsminister. Von Oktober 1998 bis September 1999 war er Staatssekretär im Sozial­ ministerium und von 2003 bis 2007 Vorsitzender der CSU-Landtags- fraktion.

Als den »ökonomischen Seismograph der Re- von Drittstaatsangehörigen sinnvoll zu steu- publik« hat 2012 Mark Schieritz, Finanzkorres- ern. pondent der ZEIT, Hans-Werner Sinn bezeich- Auch wenn Professor Sinn damit erneut net, der mit seinen Publikationen »den Sound die gesellschaftspolitisch grundlegende Debat- zu den wirtschaftspolitischen Megatrends der te um Zuwanderung bereichert hat, müssen vergangenen 30 Jahre lieferte«. Ein solcher Me- aus der Sicht des Innenministers, der auch Ver- gatrend ist aktuell die explosionsartig zuneh- fassungsminister ist, zu der ökonomischen Be- mende Migration. Professor Sinn hat sich der trachtung weitere Dimensionen von Chancen Thematik vor allem über die ökonomische und Risiken der Zuwanderung hinzutreten. ­Fragestellung genähert, welcher wirtschaftliche Mit der Zuwanderung sind vielfach mensch- Nutzen sich für Deutschland mit den unter- liche Tragödien verbunden, die sich schon aus schiedlichen Migrationsformen verbindet. ethisch-moralischen Gründen einer Bewertung Ein viel beachteter Debattenbeitrag kam im in »Euro und Cent« entziehen. Dem »Staat« Kern zu dem Ergebnis, dass Deutschland schon stellen sich zwingend auch rechtliche sowie zur Auffüllung seines demographischen Defi- rechtspolitische Fragestellungen, die einer öko- zits massiv Zuwanderung benötige, allerdings nomischen Betrachtung nur in begrenztem die fiskalische Bilanz der Ausländerzuwande- Maße zugänglich sind. Besonders augenfällig rung jedenfalls dann ins Negative drehe, wenn ist dies bei Asylbewerbern. Von Verfassung we- man auch die allgemeinen Staatsausgaben gen ist für ihre Anerkennung allein das Vorlie-

igrationswelle für Verteidigung, Infrastruktur, Polizei u. a. m. gen einer politischen Verfolgung maßgeblich.

M ­berücksichtige. In letzter Konsequenz bedürfe Ihre berufliche oder schulische Qualifikation ie

D es eines Punktesystems, um die Zuwanderung ist nicht von Belang.

228 Spielraum für ökonomische Überlegungen Es ist Unternehmen und Arbeitsinteres­ ergibt sich allerdings bei flankierenden Gesichts- senten durchaus zuzumuten, zunächst Ange- punkten des Asylverfahrens. Grundsätzlich kön­ bot und Nachfrage zusammenzubringen, ehe n­ en Asylbewerber, die sich mindestens drei Mo- der Staat einem Drittstaatler einen gesicherten nate im Land befinden oder deren Antrag bereits Aufenthaltsstatus verschafft. Sehr wohl disku- anerkannt ist, dem Arbeitsmarkt zur Verfü- tieren kann man aber, ob etwa die Bundes­ gung stehen und einen Beitrag zu ihrem eigenen agentur für Arbeit sowie die Außenhandels- ­Lebensunterhalt und zur wirtschaftlichen Wert- kammern ihren Service verbessern können, schöpfung des Aufnahmelandes leisten. Um etwa durch die Einrichtung von Jobbörsen in aber nicht durch großzügige Beschäftigungs- für die deutsche Wirtschaft besonders interes- möglichkeiten weitere Anreize für asylfremde sante Drittstaaten. illegale Migration nach Deutschland zu setzen, Mit Blick auf die Zuwanderung von Fach- hat die Staatsregierung angeordnet, dass Asyl­ kräften aus Drittstaaten hat der deutsche Ge- bewerbern aus sicheren Herkunftsstaaten oder setzgeber schon 2012 die Europäische Hoch- wenn ihr Asylantrag als offensichtlich unbe- qualifiziertenrichtlinie umgesetzt. Die damit gründet abgelehnt worden ist, grundsätzlich kei- verbundene Blaue Karte EU erlaubt die Zuwan- ne Beschäftigungserlaubnis erteilt werden darf. derung von Hochschulabsolventen mit einem Ein abgelehnter Asylbewerber hat Deutsch- Bruttoarbeitslohn von mindestens 47 600 Euro land umgehend zu verlassen. Das ergibt sich bzw. in Mangelberufen von ca. 37 128 Euro nicht nur aus ordnungspolitischen Erforder- ohne Vorrangprüfung für den deutschen Ar- nissen, sondern auch aus der Notwendigkeit, beitsmarkt. Anders als von der Wirtschaft staatliche Ressourcen für die Unterbringung ­immer wieder gefordert, sollten die Mindest­ und Betreuung der tatsächlich politisch Ver- entgeltgrenzen nicht abgesenkt werden, sonst folgten zu nutzen. Davon zu trennen ist die ar- könnten die Einstiegsgehälter der in Deutsch- uwanderungsdebatte

beitsmarktbezogene Zuwanderung. Hier muss land bestens ausgebildeten Jungakademiker Z

Deutschland zuallererst um EU-Bürger wer- oder Fachkräfte unter Druck geraten. die ben. Sie genießen Arbeitnehmerfreizügigkeit Insgesamt gesehen stimme ich mit Professor und und haben damit das Recht, eine Erwerbstätig- Sinn – trotz aller Unterschiede unserer Positio-

keit aufzunehmen. Da diese Menschen aus dem nen im Detail – uneingeschränkt überein, dass inn europäischen Kulturkreis kommen, fällt zu- eine wirksame Steuerung der Zuwanderung S dem ihre Integration leichter. aus Erwerbsgründen notwendig ist. Ich stimme Professor Sinn zu, dass die Zu- Auch wenn Herr Professor Sinn nun aus erner wanderung von Drittstaatsangehörigen aus Er- dem aktiven Erwerbsleben ausscheidet, würde -W werbsgründen sinnvoll gesteuert werden muss. es mich sehr wundern, wenn er sich nicht auch ans H Skeptisch sehe ich aber die Idee eines Punkte- in Zukunft mit seiner Erfahrung, die er über : systems. Denn es konterkariert das Prinzip, die Jahrzehnte als »ökonomischer Seismograph dass ein Zuzug nur mit einem konkreten Job­ der Republik« gesammelt hat, zu Wort melden angebot in Betracht kommt. Da nicht jeder den würde. Und das wäre gut so. Denn unsere poli- Anforderungen unseres dynamischen Arbeits- tische Debattenkultur und das gesellschaftspo-

marktes entsprechen wird, ist die Gefahr groß, litische Meinungsbild wären ohne die Beiträge igrationswelle dass er über kurz oder lang auf staatliche So­ von Professor Sinn eindeutig ärmer. M ie zialleistungen angewiesen ist. D

229 Otto Schily »WIR SIND AM BEGINN EINER NEUEN MIGRATIONSWELLE.« – HANS-WERNER SINN IM DEZEMBER 2013

Otto Schily war von 1998 bis 2005 deutscher Bundesminister des Innern. Er war Mitbegründer der Partei Die Grünen und wechselte 1989 zur SPD. 2001 wurde er mit dem Bayerischen Verdienstorden und 2004 mit dem Großen Bun- desverdienstkreuz ausgezeichnet. Heute leitet Schily eine Anwalts- kanzlei in Berlin.

Die Voraussage von Hans-Werner Sinn hat sich leichtern und damit zugleich den Rahmen der bewahrheitet. Nach jüngsten Prognosen steigt Handlungsmöglichkeiten erkennen lassen. im Jahr 2015 die Zahl der Asylbewerber auf Die Ursachen für Wanderungsbewegungen über 800 000. Auch die Warnung von Hans- sind bekanntlich sehr heterogen. In vielen Län- Werner Sinn, dass die Ausgestaltung unserer dern in mehr oder weniger unmittelbarer Sozialsysteme einen starken Anreiz für Ar- Nachbarschaft Europas herrschen katastropha- mutsflüchtlinge bildet, nach Deutschland zu le Zustände, in dem von einem blutigen Bür- kommen, hat sich als berechtigt erwiesen. gerkrieg verwüsteten Syrien, in Afghanistan, in Die Ausgabenbelastungen für Kommunen und Libyen, im Irak, in Eritrea und anderen Gebie- Länder durch Zuzug von Asylbewerbern wer- ten Afrikas. Viele Menschen suchen verständ­ den inzwischen auf 10 Mrd. Euro geschätzt. licherweise, diesen Zuständen zu entfliehen, »Angesichts dieser Verhältnisse sollte nun end- und riskieren sogar ihr Leben, um über das lich eine ideologiefreie und nicht vom Streben Mittelmeer nach Europa zu gelangen. nach politischer Korrektheit getriebene De­ Nur eine sehr geringe Zahl der Migranten batte über die Migrationspolitik beginnen«, hat nach Art. 16 a GG Anspruch auf Asyl, das fordert Hans-Werner Sinn. Diese Forderung nur zum Schutz vor politischer Verfolgung im ist aktueller denn je. Hans-Werner Sinn ver- Heimatland gewährt wird. Jedoch erhalten im- steht sich als Ökonom, der Sachverhalte wis- merhin nahezu ein Drittel der Asylbewerber senschaftlich analysiert, aber nicht für die eine einen Schutzstatus unter Befolgung der Genfer

igrationswelle oder andere politische Position agitiert. Für die Flüchtlingskonvention nach den Vorschriften

M Politik sind seine Einschätzungen aber hilf- des unter der rot-grünen Bundesregierung mo- ie

D reich, weil sie die Beurteilung der Probleme er- dernisierten Aufenthaltsrechts.

230 Inzwischen hat sich aber das Asylverfahren Das Migrationsthema hat inzwischen Di- de facto zu einem Einwanderungsverfahren mensionen angenommen, die es außerdem entwickelt. Das Asylverfahren in seiner aktuel- dringend geboten erscheinen lassen, die Zu- len Praxis ist daher ein zusätzlicher Anreiz für ständigkeiten neu zu ordnen. Die Schaffung Armutswanderung, in erhöhtem Maße aus den ­eines eigenständigen Ministeriums auf Bun- Balkanländern. Dieser Anreiz wird noch ver- desebene, die Kostenentlastung der Kommu- stärkt, wenn neuerdings gefordert wird, Asyl- nen und die Erweiterung der Möglichkeiten bewerber in die deutsche Gesellschaft zu in­ privater Initiativen könnten dazu beitragen, tegrieren. Die Integration eines Asylbewerbers dass situationsangepasster agiert werden kann kann jedoch erst mit einer positiven Asylent- und die Lage sich etwas entspannt. scheidung beginnen, sonst wird die Asylprü- Mit einer ideologisch aufgeladenen Debatte fung eigentlich überflüssig, weil sich allein im ist jedenfalls niemandem geholfen. Ob Mig­ Lauf des langen Asylverfahrens der Aufent- ration Bereicherung oder Belastung ist, ent- haltsstatus des Asylbewerbers so verfestigt, dass scheidet sich im Einzelfall. Nicht selten ist eine spätere Beendigung seines Aufenthaltes ­Migration beides, Bereicherung und Belastung nicht mehr möglich und in vielen Fällen auch zugleich. Historisch war Deutschland stets nicht vertretbar ist. Einwanderungsland in unterschiedlichen Grö- Diese Misere ist freilich nicht zuletzt auch da- ßenordnungen und wird es auch in Zukunft rauf zurückzuführen, dass das deutsche Aufent- sein. Wir können froh sein, dass die deutsche haltsrecht noch zu starr und unflexibel ist. Die Gesellschaft nach Umfragen die Aufnahme Hürden, sich in Deutschland um ein Aufent- von Flüchtlingen positiv bewertet. Damit das haltsrecht und einen Arbeits- oder Ausbildungs- so bleibt, sollten wir aber da Grenzen für Ein- platz zu bemühen, sind viel zu hoch, und die wanderung setzen, wo es geboten erscheint, Möglichkeiten, die den Behörden erlauben, zu beispielsweise bei der Einwanderung aus den uwanderungsdebatte

situationsgerechten flexiblen Entscheidungen zu Balkanstaaten. Viel wird schließlich davon ab- Z

gelangen, sind zu begrenzt. Es sollte beispiels­ hängen, ob wir uns in der Europäischen Union die wei­se zulässig sein, dass die Behörden Bürger- auf eine vernünftige und solidarische Zusam- und kriegsflüchtlingen, die nicht selten über beacht­ menarbeit in Flüchtlings- und Einwanderungs-

liche fachliche Qualifikationen verfügen, ohne fragen einigen können. Auch insoweit wird es inn langwierige Prüfungen einen gesicherten Auf- darauf ankommen, eine agierende und nicht S enthaltsstatus als »Einwanderer« gewähren. Das nur reagierende Politik entwickeln. Es ist rich- ist in unserem ökonomischen Interesse, aber tig, Flüchtlinge aus Seenot zu retten. Richtiger erner ­entspricht auch humanitären Grundsätzen. Wir wäre es, EU-Einrichtungen in Nordafrika zu -W müssen sowieso von einer passiven zu einer ak­ schaffen, die es den Flüchtlingen gestatten, die ans H tiven Migrations- und Flüchtlingspolitik gelan- Einreise in ein europäisches Land zu beantra- : gen. Die Einführung eines Punktesystems nach gen, ohne dass sie sich zuvor auf einem Schleu- kanadischem Vorbild, das die Einwanderung serboot in Lebensgefahr bringen. Sicherlich qualifizierter Menschen erleichtert, sollte wieder würden solche Einrichtungen die Probleme auf die politische Tagesordnung gesetzt werden. nicht vollständig lösen, aber vermutlich we-

Wir brauchen ohnehin ein »Zwei-Türen-Sys- nigstens mildern. igrationswelle tem«, das es erlaubt, von einem Asylantrag zu M ie einem »Einwanderungs«-Antrag überzugehen. D

231 Silke Übelmesser DIE RICHTIGEN? !

Silke Übelmesser hat den Lehr- stuhl für Finanzwissenschaft an der Universität Jena inne und ist For- schungsprofessorin am ifo Institut. Sie studierte Volkswirtschaftslehre in München, wo sie auch promo- vierte und habilitierte. Sie beschäf- tigt sich vor allem mit Bildungs-, Migrations- und Sozialpolitik.

Deutschland ist Weltmeister – im Fußball und tionen und ihre unternehmerischen Aktivi­ anderswo. Insbesondere ist Deutschland das täten für Wachstumsimpulse sorgen. Und die- Land mit der weltweit niedrigsten Geburten­ ses Wachstum ist notwendig, um die steigen- rate. In den letzten fünf Jahren erblickten den Lasten der sozialen Sicherungssysteme zu so wenige Kinder in Deutschland die Welt schultern. wie nirgendwo sonst. Deutschland ist aber Die Politik ist hier gefragt, auch wenn zum auch Weltmeister bei den Zuwanderern. Über Gegensteuern nicht mehr viel Zeit bleibt. Mehr 1,2 Mio. Menschen kamen 2014 nach Deutsch- (lebenslange) Bildung, eine höhere Erwerbs­ land und somit etwa 0,5 Mio. mehr, als im glei- tätigkeit von Frauen und damit verbunden eine chen Jahr Deutschland den Rücken kehrten. effektive Familienpolitik, die insbesondere die Für ein Land mit einer alternden Bevölke- Vereinbarkeit von Familie und Beruf fördert, rung, in dem die Sterberate die Geburtenrate können helfen. Aber das wird nicht ausreichen. seit Jahren übersteigt, sind das gute Nachrich- Zuwanderung der »Richtigen« kann hier einen ten. Im Jahr 2035, wenn die Babyboomer im wichtigen zusätzlichen Beitrag leisten. Zurzeit Rentenalter sind, werden selbst bei einer jähr­ hat Deutschland hier Glück : Es ziehen momen­ lichen Nettozuwanderung von 200 000 Men- tan nicht nur viele Menschen nach Deutsch- schen deutlich weniger Erwerbstätige deutlich land. Diese verfügen außerdem im Schnitt über mehr Rentnern gegenüberstehen, als dies heute hohe Bildungsabschlüsse und berufliche Qua- der Fall ist. Für die wirtschaftliche Dynamik lifikationen – auch im Vergleich mit der einhei-

igrationswelle sind das keine guten Aussichten, denn es sind mischen Bevölkerung.

M immer noch die Jüngeren, bei aller wertvollen Von Glück muss man hier sprechen, da ca. ie

D Erfahrung der Älteren, die durch ihre Innova- 60 % der Zuwanderer aus anderen EU-Ländern

232 nach Deutschland kommen. Die EU-Prinzipi- auch daran, wohin andere Menschen aus ihrem en der Freizügigkeit und der Nicht-Diskrimi- Heimatland gezogen sind. Eine größere Ge- nierung erschweren es Deutschland bei diesen meinschaft von Landsleuten erleichtert die Zuwanderern, regulierend einzugreifen. Wer Orientierung. kommen möchte, darf auch kommen, wenn es Deutschland hat hier die Chance, die Zu- sich um Arbeitnehmer und Selbständige han- wanderung der »Richtigen« zu verstetigen und delt. Für alle anderen Zuwanderer aus der EU auch längerfristig als attraktives Zielland wahr- gilt dies mit ein paar Einschränkungen. Aber genommen zu werden. Dazu ist aber neben wer möchte denn kommen ? Hans-Werner ­allgemeineren politischen Aktivitäten auch ein Sinn hat sich schon vor 15 Jahren mit diesem Umdenken in der Migrationspolitik nötig : Thema beschäftigt, als es um die Osterweite- Nicht so sehr auf dem Papier, denn da hat sich rung der EU ging. Er hat insbesondere auf die Deutschland in den letzten Jahren laut OECD großen wirtschaftlichen Unterschiede der Bei- zu einem der Länder mit dem liberalsten Zu- trittsländer im Vergleich zu den EU-Ländern wanderungssystem entwickelt. Wichtig ist viel- hingewiesen und die großen Wanderanreize, mehr, dass dies auch so gelebt und empfunden die sich daraus ergeben, betont. wird, und zwar sowohl bei denen, die da sind, Aus ökonomischer Sicht ist Wanderung et- als auch bei denen, die darüber nachdenken was sehr Positives, wenn die Migranten dort- zu kommen. Attraktiv und beliebt zu sein, ist hin gehen, wo ihr Bruttoeinkommen und ent- letztendlich auch eine Voraussetzung für ein sprechend ihre Produktivität am höchsten sind. Land, um innerhalb des rechtlichen Rahmens Denn dort erwirtschaften die Zuwanderer am die »Richtigen« auswählen zu können. meisten verglichen mit anderen Ländern. Der Ein wichtiger Grund für Hans-Werner Sinns Kuchen wird insgesamt am größten und somit fundierte Analysen der Zuwanderung mit all auch die Grundlage für Besteuerung und Um- ihren Chancen und Herausforderungen für uwanderungsdebatte

verteilung innerhalb eines Landes und über Deutschland ist sicherlich – neben seiner wis- Z

Landesgrenzen hinweg. senschaftlichen Expertise und seinem Gespür die

Aber die Zuwanderer orientieren sich nicht für wichtige wirtschaftspolitische Fragestellun- und am Bruttoeinkommen. Menschen wandern gen –, dass er selbst ein Zuwanderer ist. Von

dorthin, wo sie ein besseres Leben führen kön- Geburt Westfale, lebt er seit 1984 in Bayern. Er inn nen. Dazu trägt ein höheres verfügbares Netto- ist sozusagen ein »Zuagroaster«, der erst durch S einkommen bei. Die Steuern, die zu zahlen Heirat mit einer Bayerin zum Bayer wurde sind, sind also von Bedeutung, aber auch die ­(siehe Artikel 6 der Verfassung des Freistaates erner wohlfahrtsstaatlichen Leistungen, auf die An- Bayern). Nicht nur – aber auch – wegen seiner -W spruch besteht. Andere Aspekte wie das kultu- ernsthaft betriebenen Integrationsanstrengun- ans H relle Umfeld, die Bildungs- und Sozialpolitik gen, die sich unter anderem in seiner Vorliebe : und vieles andere, was man heute auch gerne für bayerische Volksmusik und bayerische mit »Willkommenskultur« beschreibt, spielen Tracht äußern, kann man über Hans-Werner ebenfalls eine Rolle. All dies beeinflusst die An- Sinn mit voller Überzeugung sagen : Für Bay- reize der Zuwanderer und ist nur schwer und ern und München war seine Zuwanderung ein

wenn, dann nur indirekt, wirtschaftspolitisch Glück. Er ist ein Musterzuwanderer und ohne igrationswelle zu steuern. Zuwanderer orientieren sich aber Frage der Richtige ! M ie D

233 Martin Werding SPIEL OHNE GRENZEN: DIE FREIZÜGIGKEITSDEBATTE

Martin Werding ist seit 2008 ­Professor für Sozialpolitik und öffentliche Finanzen an der Ruhr- Universität Bochum. Zuvor leitete er ab 2000 den ifo-Forschungs­ bereich »Sozialpolitik und Arbeits- märkte«. Seine akademische Ausbildung absolvierte er in ­München und Passau.

Migration ist wohl die älteste Strategie der zedenzfälle eine kaum lösbare Aufgabe. Außer- Menschheit zur Anpassung an sich ändernde dem sollte diskutiert werden, welche Auswir- Rahmenbedingungen und Risiken. Zugleich kungen auf Arbeitsmärkte und öffentliche führt sie immer wieder zu Konflikten, die in Haushalte sich ergeben würden und ob aus der Gegenwart allerdings zivilisierter ausgetra- deutscher Sicht eine Übergangszeit bis zur gen werden als früher und andere Gegenstände Freizügigkeit nach dem Muster der Süderwei- haben, die einer rationalen Analyse besser zu- terung hilfreich oder sogar nötig sein könnte. gänglich sind. Trotzdem ist Migration in ihren Politik und Öffentlichkeit waren seinerzeit vielen Formen bis heute politisch und gesell- skeptisch gegenüber einer Zuwanderung von schaftlich ein schwieriges Thema. Wer sich -öf Arbeitskräften. Zuvor war die Arbeitslosigkeit fentlich dazu äußert, erfährt rasch unerwartete 30 Jahre lang tendenziell immer weiter gestie- Kritik und erhält auch unerbetenen Beifall. gen – ein Trend, der sich erst ab 2005 wieder Eines der ersten Forschungsprojekte, des- umkehrte. Die deutschen Arbeitsmärkte galten sen sich Hans-Werner Sinn als ifo-Präsident als hoch reguliert, wenig flexibel und daher ­persönlich annahm, war dem ThemaEU -Ost­ kaum geeignet, eine größere Migrationswelle erweiterung und Arbeitnehmerfreizügigkeit aufzunehmen, ohne weitere, bereits ansässige gewidmet. Auftraggeber war die Bundesregie- Arbeitskräfte aus ihren Jobs zu verdrängen. rung, man schrieb das Jahr 2000. Während auf Dass die Arbeitsmarktakteure gerade dabei EU-Ebene die Verhandlungen mit bis zu zwölf ­waren, eine kaum vorausgeahnte »interne«

igrationswelle Beitrittsstaaten anliefen, sollte abgeschätzt ­Flexibilität zu entwickeln, trat erst in der Krise

M werden, wie groß das Migrationspotenzial in 2008/2009 hervor. Auch ein Umdenken in ie

D diesen Ländern war – mangels passender Prä- ­Migrationsfragen bahnte sich erst langsam an :

234 Die »Süssmuth-Kommission«, die in ihrem sender Druck durch Migration auf die Sozial- Abschlussbericht feststellte, dass Deutschland kassen zwar bisher nicht, nicht zuletzt weil längst ein Zuwanderungsland war und daher dem bereits einige rechtliche Regelungen ent- sein Einwanderungsrecht modernisieren soll- gegenstehen. Wer wie Sinn den Sozialstaat vor te, um zu einem attraktiven Zielland zu wer- Erosionskräften der Globalisierung schützen den, beendete ihre Arbeit erst 2001. will, sollte diese Frage aber im Auge behalten. In seiner Abschätzung des Migrationspoten- Rückblickend kann man sagen, dass zials gelangte das ifo Institut zu Zahlen, die im Deutschland die Übergangsfristen bis zur vol- Vergleich zu anderen Schätzungen im Auftrag len Freizügigkeit vielleicht wirklich brauchte der EU als hoch erschienen. Trotzdem zeigte und seine Arbeitsmärkte durch gezielte Refor- Sinn, dass freie Wanderungen grundsätzlich men dann deutlich flexibilisiert hat. Es hätte Teil einer optimalen Transformationsstrategie die Freizügigkeit aber schon 2007 einführen sowohl für Ost- als auch für Westeuropa sein können, als der »Polish plumber« in London könnten. Er plädierte dafür, Übergangsfristen – bereits zum Inbegriff eines gut ausgebildeten, wenn überhaupt – so kurz wie möglich zu set- fleißigen Handwerkers geworden war, und zen und sie zu nutzen, um die deutschen Ar- nicht erst 2011. Vorteile aus der Migration wur- beitsmärkte anpassungsfähiger zu machen. Die den damit verspielt, während im Gegenzug Politik hörte alle diese Botschaften nicht gern. auf Großbritannien nach seiner sofortigen Ar- Sie blieb auf ihrem vorgezeichneten Kurs, han- beitsmarktöffnung möglicherweise mehr Zu- delte möglichst lange Übergangsfristen aus und wanderung entfiel, als das Land verkraften schöpfte sie bis zum letzten Tag aus. konnte – nicht ökonomisch, aber politisch. Mögliche Probleme sah das ifo Institut bei Vora­b wurde dort nur mit um die 10 000 zu- den Wirkungen freier Wanderung auf die öf- sätzlichen Zuwanderern pro Jahr gerechnet, in fentlichen Haushalte, wegen der Gefahr, dass der Realität wurden daraus phasenweise bis zu uwanderungsdebatte

umverteilende Sozialleistungen eines Landes 500 000. Z

wie Deutschland auf einen unbestimmten Per- Recht behalten hat das ifo Institut im Rück- die sonenkreis ausgedehnt werden, so dass das blick nämlich auch mit seinen Migrations- und System überfordert wird oder abgebaut werden schätzungen. Über sie wurde in der deutschen

muss. Hans-Werner Sinn plädierte daher öf- Ökonomie damals eine Art Methodenstreit inn fentlich dafür, die soziale Sicherung für eine ­geführt. Beim mit enormen Unsicherheiten be- S Übergangszeit nach dem »Heimatlandprinzip« hafteten Versuch, aus der EU-Süderweiterung zu gestalten – als weitaus milderes Mittel im Rückschlüsse auf die Ost-West-Migration zu erner Vergleich dazu, Migration komplett zu unter- ziehen, wichen die ifo-Forscher vom Lehr- -W binden. Ein solcher Umbau des Europarechts buchstandard ab. Rechnet man ihre Zahlen ans H erschien damals nicht als verhandelbar. Sinn für Deutschland aus damaliger Sicht auf die : wiederholte diese Empfehlung später mit Nach- ganze EU 15 um und berücksichtigt dann, wel- druck, als sich die EU daran machte, auch die che Grenzen anschließend rasch geöffnet wur- Freizügigkeitsrechte für Nichterwerbstätige zu den und welche nicht, passen Gesamtzahlen erweitern, bei denen dieses Risiko noch viel und umgelenkte Ströme in einzelne Länder

größer ist. Empirisch bestätigt sich ein wach- aber gut zu den ifo-Schätzwerten. igrationswelle M ie D

235 Holger Bonin »SO WIE DIE ZUWANDERUNG LÄUFT, LÄUFT SIE FALSCH.«

Holger Bonin leitet die Arbeits- marktabteilung am Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) in Mannheim und lehrt Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik an der Universität Kassel. Zu seinen Hauptarbeitsgebieten zählen die Fachkräftesicherung und der demographische Wandel.

Deutschland im Spätherbst 2014 – die Asyl­ gen von Zuwanderern angestellt und erkannt : suchendenzahlen steigen, die Kommunen äch- Die scheinbare Entlastung des Staatsbudgets zen unter den Lasten der Aufnahme von im- kommt zustande, weil die nun überall zitierte mer mehr Flüchtlingen, und in Dresden gehen Steuer-Transfer-Bilanz die Kosten für die allge- fremdenfeindliche Pegida-Anhänger auf die meinen Staatsausgaben nicht enthält. In einem Straße. In diesem Klima fällt eine Nachricht auf Gastbeitrag für die Frankfurter Allgemeine Zei- fruchtbaren Boden. In einer vom Verfasser im tung stellt er klar, dass sich bei Berücksichti- Auftrag der Bertelsmann-Stiftung erstellten gung sämtlicher staatlicher Aktivitäten für die Studie steht, dass die bei uns lebenden Men- Ausländer eine Negativbilanz ergeben muss. schen mit ausländischer Staatsbürgerschaft im Dieses Minus für den Staat ist eine mit den Jahr 2012 im Durchschnitt pro Kopf 3300 Euro deutlichen Defiziten bei der ökonomischen mehr an Steuern und Sozialbeiträgen zahlten, ­Integration verbundene Tatsache, auf die auch als sie persönlich an Sozialtransfers in An- die Bertelsmann-Studie deutlich hinweist. Da- spruch nahmen. Die positive Zahl verbreitet mit lässt sich der Artikel auch als Kritik an sich wie ein Lauffeuer durch die Medien, und ­Medien lesen, die wissenschaftliche Befunde bald dient sie in öffentlichen Debatten um Mi- durch mangelnde Differenzierung entstellen gration als Beleg dafür, dass Zuwanderung die und so dem Misstrauen der Bürger gegenüber deutschen Staatsfinanzen entlastet. journalistischer Arbeit Nahrung geben. Die zum Teil fehlgehende öffentliche Rezep- Außerdem bedient Sinn diejenigen, die sich

igrationswelle tion der Studie ruft Hans-Werner Sinn auf den angesichts der breiter werdenden Migrations-

M Plan. Er hat am ifo schon vor gut zehn Jahren ströme Sorgen machen, mit einem seiner präg- ie

D eigene Rechnungen zu den fiskalischen Beiträ- nanten Merksätze : »So wie die Zuwanderung

236 derzeit läuft, läuft sie falsch.« Damit heizt er Die ökonomisch fundierten Argumente he- die hitzig geführte Diskussion um die richtige ben Sinns Beiträge aus der oft durch Emotio- Regulierung der Zuwanderung und um ein Zu- nen und Ressentiments geprägten Migrations- wanderungsgesetz noch einmal an – und wird debatte heraus. Obwohl Sinn in der Diskussion dafür von Teilen der Medien und der Öffent- um die fiskalischen Effekte der Zuwanderung lichkeit in diffamierender Weise weit an den auch als Person ungewöhnlich scharf angegrif- rechten Rand des politischen Meinungsspekt- fen wird, vermeidet er durch äußerst fairen rums gerückt. Dabei spielt Sinn auch jetzt nur Umgang mit der Bertelsmann-Studie und ih- seine lange gefundene Rolle des migrationspo- rem Verfasser auch diesmal jede Unsachlich- litischen Mahners, der die ökonomischen Vor- keit. Vielmehr bleibt er – und das ist typisch für teile grenzüberschreitender Mobilität selbst- Hans-Werner Sinn – strikt bei der Theorie und verständlich kennt, aber auch die möglichen versucht, sein auf der Clubgüter-Theorie basie- unerwünschten Begleiterscheinungen sieht rendes Argument, dass jedem hinzukommen- und darum vor ungesteuerter Zuwanderung den Ausländer der durchschnittliche Aufwand warnt. für die öffentliche Infrastruktur zuzurechnen Sinns migrationspolitische Überzeugungen ist, selbst wenn der Staat kurzfristig gar nicht gründen sich auf eigene Untersuchungen zu mehr dafür ausgibt, auch für Laien verständ- den Folgen der Erweiterung des gemeinsamen lich zu machen. Arbeitsmarkts nach dem EU-Beitritt der durch Allerdings kommt auch Sinn dabei nicht um niedrige Löhne und soziale Sicherungsniveaus Vereinfachungen herum. So sagt er nichts da­ geprägten osteuropäischen Staaten. Seine Stu- zu, ob die deutsche Infrastruktur überhaupt die dien zeigen, wie durch Arbeitnehmerfreizügig- optimale Betriebsgröße hat, was der Fall sein keit bei starren Arbeitsmärkten Beschäftigung muss, damit das von ihm ins Feld geführte und soziale Absicherung von Geringqualifi- ­Theorem gilt. Vor allem aber vermeidet er Hin­ uwanderungsdebatte

zierten unter Druck geraten können und dass weise auf Daten, die dafür sprechen könnten, Z

Länder wie Deutschland, die über das Staats- dass die Zuwanderung nach Deutschland zu- die budget eher stark umverteilen, Gefahr laufen, letzt doch gar nicht so falsch gelaufen ist. Die und mehr und geringer qualifizierte Migranten an- zuletzt stark verbesserte Qualifikation von

zuziehen, als es ökonomisch optimal wäre. Die Neu ­zuwanderern und die hohen Beschäfti- inn von Sinn oft wiederholte Forderung, Migran- gungsraten osteuropäischer Zuwanderer etwa S ten erst einmal nicht den vollen Zugang zu passen nicht gut zu seiner migrationspoliti- staatlichen Transfers zu geben, um Zuwande- schen Botschaft. Vielleicht ist Hans-Werner erner rung in Arbeitslosigkeit oder den Sozialstaat zu Sinn, wie viele exzellente Theoretiker, Skeptiker -W vermeiden, hat damit einen formal relativ ein- und misstraut guten Anzeichen. Mit Sicherheit ans H fachen, aber dennoch mächtigen theoretischen aber weiß er, dass man die Öffentlichkeit am : Kern. besten durch eindeutige Aussagen gewinnt. igrationswelle M ie D

237 Reiner Klingholz DEUTSCHLAND IST NICHT KANADA

Reiner Klingholz ist Chemiker und Molekularbiologe, forschte an der Uni Hamburg, war Wissen- schaftsredakteur bei der ZEIT und Geschäftsführer des Magazins GEO. Seit 2003 ist er Direktor des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung, einer Denkfabrik für Fragen des demographischen Wandels.

Auf einer bilateralen Konferenz in Japan mit dig sei : weil wir unsere Umlagesysteme finan- dem bezeichnenden Namen »Imploding Po­ zieren müssen, weil unsere Unternehmen Ar- pulations« ist mir einmal eine interessante beitskräfte brauchen und weil wir uns lieber ­Grafik begegnet. Ein japanischer Demograph vermischen, als in einem Altersheim völkischer ­zeigte eine Langfrist-Bevölkerungsprognose Identität auszusterben. für sein Land : Nach einem steilen Aufstieg bis Zuwanderung ist längst akzeptiert in Deutsch- zur Jahrtausendwende sank die Kurve ab und land, vor allem weil die Unternehmen den endete im Jahr 3200 bei einem einzigen Japa- volkswirtschaftlichen Bedarf klargemacht ha- ner. Das Erstaunliche an der Präsentation war ben. Es gibt aber auch Zwischenrufe, wonach weniger die absurde Vorstellung von der kom- die Zuwanderung je nach Betrachtungsweise pletten Entleerung des Inselreiches, sondern ein Kostenfaktor sei, dass ohnehin immer die dass kein einziger der (überwiegend japani- Falschen kämen, dass Migranten ein Mittel für schen) Zuhörer in schallendes Gelächter aus- Lohndumping seien und dass wir die Zuwan­ brach. In diesem Moment habe ich begriffen, derung gar nicht nach den Bedürfnissen des dass eine ganze Nation so überzeugt von der Landes ausrichteten. Hans-Werner Sinn hat Nichtvermischung mit anderen Kulturen sein deshalb vorgeschlagen (und wir vom Berlin-In- kann, dass sie lieber ihren eigenen Untergang stitut ebenso), sich am Punktesystem der Kana- plant, als eine Zuwanderung zu organisieren. dier zu orientieren und Zuwanderer nach deren Ein solches Szenario ist in Deutschland un- Fähigkeiten und unserem Bedarf auszuwählen.

igrationswelle denkbar. Auch Hans-Werner Sinn schreibt, Das ist eine gute Idee – zumindest für die bes-

M dass angesichts der hiesigen demographischen te aller Welten. Doch gibt es diese Welt leider nur ie

D Entwicklung Zuwanderung dringend notwen- in ökonomischen Theoriegebäuden. Kanada hat

238 mit seinem Punktesystem jahrelang ein klares Sig­ weils Regionen, aus denen viele Menschen aus n­ al an Zuwanderungswillige ausgesandt. Doch verschiedensten Gründen nach Deutschland nachdem zunächst nur bestimmte Berufsgrup- wollen. Und dafür auch Wege finden. Deutsch- pen angeworben wurden, war irgendwann klar, land ist nicht Kanada. dass sich damit nicht auf wechselhafte Nachfra- Deutschland hatte in der Vergangenheit gen reagieren lässt. Software-Ingenieure waren selbst Probleme damit, seine Zuwanderung zu nach der Dotcom-Blase Kandidaten für die Ar- steuern, als es glaubte, dies tun zu können. So beitslosigkeit. Danach warb Kanada unspezifisch kamen die Gastarbeiter als nützliche Arbeits- Hochqualifizierte an, in der Hoffnung, dass die- kräfte – bis der Strukturwandel ihnen die Jobs se Menschen schon einen Job finden würden. raubte. Was zuvor ein Auswahlkriterium war, Aber auch diesen Ansatz hat die kanadische eine geringe Qualifikation für die Arbeit unter ­Regierung wieder verworfen, weil zu viele Aka­ Tage oder am Band von Opel, wurde nun zum demiker als Taxifahrer endeten. Heute kennt das Problem. Der Anwerbestopp in den Rezessions­ Punktesystem so viele Sonderregelungen, dass jahren nach 1973 verhinderte zwar, dass weitere es kaum noch zu verstehen ist. Doch bei allen Geringqualifizierte nach Deutschland kamen. Problemen – das System ist flexibel, sorgt für Doch der aus sozialen Gründen erlaubte Fami- ausreichend Nachschub auf dem Arbeitsmarkt liennachzug senkte das mittlere Qualifikations- und liefert gute Integrationsergebnisse. niveau der Neuankömmlinge weiter ab. Dennoch lässt es sich nicht 1 : 1 auf Deutsch- Auch die letzte große Zuwanderungswelle land übertragen, denn eine Auswahl der Zu- nach dem Untergang des Kommunismus ent- wanderer ist hierzulande kaum möglich : Das zog sich einer Auswahl nach Qualifikation : In Gros der Migranten stammt aus Ländern der der Folge der Jugoslawienkriege kamen rund EU, die im Rahmen der Freizügigkeitsregelung 350 000 Flüchtlinge aus dem kollabierten Viel- kommen. Der nächste große Teil sind Flücht- völkerstaat. Zusätzlich machten sich fast 2 Mil- uwanderungsdebatte

linge und Asylsuchende. Hier regeln Gesetze, lionen Spätaussiedler aus dem einstigen Ost- Z

wer aus humanitären Gründen kommen darf block auf nach Deutschland. Für sie war die die und wer nicht. Eine Auswahl nach Qualifika­ Abstammung, nicht die Ausbildung das Will- und tion ist nicht vorgesehen. Der Teil der Zuwan- kommenskriterium.

derer, die über besondere Anwerbekriterien Eine Steuerung der Zuwanderung ist also inn wie die Blaue Karte EU nach Deutschland kom- gar nicht so leicht. Und sie dürfte auch in Zu- S men, ist verschwindend gering. Ein Punkte­ kunft nicht einfacher werden, zumal die Zahl system könnte auch künftig nur in diesem Be- der Krisen im Nahen Osten und in Afrika der- erner reich zur Wirkung kommen. zeit genauso wächst wie die dortige Bevölke- -W

Kanada hat ganz andere Voraussetzungen : rung. Deutschland kann nur versuchen, Mittel ans H Erstens ist das Land von zwei Ozeanen umge- und Wege zu finden, zwischen jenen zu unter- : ben, zweitens ist es nicht Teil einer Wirtschafts- scheiden, die ein Anrecht auf Schutz und Asyl union mit frei wählbarem Arbeitsort, und haben, und jenen, die aus wirtschaftlichen ­drittens hat es nur eine einzige Landesgrenze. Gründen kommen. Deutschland kann weiter Deutschland ist Mitglied der EU mit ihren offe- von einer gesteuerten Zuwanderung träumen –

nen Grenzen, die EU grenzt ihrerseits an Dritt- doch vorerst muss es sich damit beschäftigen, igrationswelle staaten sowie, gepuffert durch einen kurzen die Potenziale jener optimal zu nutzen, die M ie

Seeweg, an Afrika und den Nahen Osten – je- ohnehin­ kommen. D

239 Herbert Brücker IST MIGRATION EIN VERLUSTGESCHÄFT FÜR DEN STAAT? EINE KRITISCHE WÜRDIGUNG

Herbert Brücker ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Uni- versität Bamberg und Forschungs- bereichsleiter am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB). Im Mittelpunkt seiner For- schung stehen die Ursachen und Arbeitsmarktwirkungen internatio- naler Migration.

Hans-Werner Sinn besitzt die seltene Gabe, gegen Zuwanderung vereinnahmt oder ihm, wichtige politische Themen frühzeitig zu er- aus den gleichen Gründen, von anderer Seite kennen, sie theoretisch einzuordnen und seine Ausländerfeindlichkeit unterstellt wird. Ergebnisse verständlich und provokativ zu Sinns erster kontroverser Beitrag zur Migra- kommunizieren. Das gilt auch für seine Beiträ- tionsforschung behandelt die Schätzung des ge zur Migration. Eines vorweg : Ich habe mich Migrationspotenzials im Zuge der EU-Ost­ an einigen Kontroversen mit ihm beteiligt und erweiterung. Nimmt man seine Prognose wört- bin oft zu anderen Schlussfolgerungen gelangt. lich, dann müssten heute, rund zehn Jahre nach Zugleich habe ich seine Beiträge immer als in- dem EU-Beitritt, knapp 2,7 Mio. Menschen aus tellektuelle Herausforderung empfunden und den fünf größten Beitrittsländern in Deutsch- von ihnen profitiert. land leben. Tatsächlich waren es Ende 2014 Dabei herrscht in einem wesentlichen Punkt 1,3 Mio. Personen. Es ist allerdings nicht ganz Einigkeit : Sinn hat immer wieder die positi- fair, der Studie die tatsächliche Entwicklung ven Effekte der Arbeitsmigration hervorgeho- gegenüberzustellen. Denn die Osterweiterung ben. Er verweist darauf, dass auf gut funktio- der EU war mit langen Übergangsfristen für die nierenden Arbeitsmärkten die Einwanderung Arbeitnehmerfreizügigkeit verbunden, die von von Niedrigqualifizierten bei Hochqualifizier- den einzelnen Mitgliedstaaten unterschiedlich ten und Kapitaleigentümern Vorteile entstehen angewendet wurden. Die so erzeugte Migra­ lässt, die die Nachteile der einheimischen Nied- tionsumlenkung konnte genauso wenig anti­

igrationswelle rigqualifizierten übersteigen. Dies gilt es in Er- zipiert werden wie die erneute Umlenkung

M innerung zu rufen, wenn etwa die rechte Seite nach Deutschland durch den asymmetrischen ie

D des politischen Spektrums ihn als Kronzeugen Schock der Eurokrise. Eine Prognose für die

240 EU insgesamt hat Sinn nie erstellt. Sie kann des- gative Beitrag der Ausländer von 1800 Euro auf halb weder widerlegt noch bestätigt werden. 590 Euro pro Jahr und Kopf. Im Mittelpunkt der Sinn’schen Migrations- Wenn wir über die fiskalischen Effekte der forschung stehen die fiskalischen Folgen. In Zuwanderung sprechen, verschiebt sich das Bild ­einer Studie für das Wirtschaftsministerium ohnehin. Die fiskalische Bilanz der Neuzuwan- berechnete er 2001 einen negativen Beitrag der derer ist sehr viel besser als die des durchschnitt- Migrationsbevölkerung zu den öffentlichen lichen Bestands der ausländischen Bevölke- Haushalten und Sozialversicherungen von rung : Sie haben zu 40 % einen Hochschulab- 1420 DM pro Kopf und Jahr. In einer Ausein­ schluss und sind besser in den Arbeitsmarkt andersetzung um die Interpretation einer Stu- integriert. Außerdem steigen angesichts eines die von Holger Bonin ermittelte er 2014 einen schrumpfenden Erwerbspersonenpotenzials die negativen Beitrag von 1800 Euro pro Ausländer Nettoerträge der Migration. Auch erhöht sich und Jahr. durch Zuwanderung die Zahl der Steuerzahler, Ich halte diese Berechnung für zweifelhaft. so dass die öffentliche Pro-Kopf-Verschuldung Zwar weist Sinn zu Recht darauf hin, dass eine sinkt. Nach Bonins Studie würde unter der umfassende Betrachtung des fiskalischen Bei- ­Annahme, dass die Qualifikationsstruktur der trags der In- und Ausländer auch die nicht künftigen Zuwanderer genauso schlecht wie die ­persönlich zurechenbaren Staatsausgaben be- des gegenwärtigen Bestands der ausländischen rücksichtigten muss. Man kann im Detail dar- Bevölkerung ist, die Nachhaltigkeitslücke der über streiten, in welchem Umfang diese Aus­ öffentlichen Haushalte bei einer Nettozuwan­ gaben durch Zuwanderung steigen und wie sie derung von 200 000 Personen um 0,4 Prozent- In- und Ausländern zugerechnet werden müs- punkte steigen. Wenn wir dagegen die durch- sen. Ich finde es aber schwer vertretbar, dass schnittliche Qualifikation der Neuzuwanderer Sinn in seinen Berechnungen die Einnahmen zugrunde legen, würde sie deutlich sinken. uwanderungsdebatte

einer wichtigen Residualkategorie, der sonsti- Zudem berücksichtigen weder Bonin noch Z

gen Staatseinnahmen,­ einseitig den Inländern Sinn, dass die Einkommen der Einheimischen die zurechnet. Er argumentiert, es handele sich um durch Zuwanderung steigen. Wer wie Sinn die und Vermögenserlöse, die den Inländern gehörten. positiven gesamtwirtschaftlichen Effekte be-

Das ist aus zwei Gründen unzutreffend : Ers- tont, kann diesen Zusammenhang nicht igno- inn tens umfasst diese Kategorie auch andere Posi- rieren. S tionen, etwa Rückflüsse aus Transfers und Sub- Die Schlussfolgerung, dass Migration ein ventionen. Zweitens tragen Ausländer ebenso Verlustgeschäft für den Staat ist, halte ich gera- erner wie Inländer durch ihre Steuern und Abgaben de angesichts des demographischen Wandels -W zum staatlichen Vermögen bei. Das kann auch für gewagt. Aber ich teile Sinns Auffassung, ans H nicht durch den Verweis, dass Neuzuwanderer dass die positiven Wohlfahrtseffekte der Mig- : dazu noch gar nicht beigetragen haben könn- ration keine Selbstläufer sind, sondern von den ten, entkräftet werden : Bonin hat den durch- richtigen Anreizen und Steuerungsmechanis- schnittlichen Beitrag der aus­ländischen Bevöl- men abhängen. Wie diese einzuschätzen und kerung, nicht der Neuzuwanderer, berechnet. welche Schlüsse zu ziehen sind, wird kon­

Und die lebt im Schnitt bereits 18 Jahre hier. trovers bleiben. Hans-Werner Sinn wird sich igrationswelle

Bei einer symmetrischen Zurechnung der ­sicher weiter an dieser Debatte beteiligen. Ich M ie sonstigen Staatseinnahmen schrumpft der ne- freue mich darauf. D

241 Eckhard Cordes MIT KARTE UND KOMPASS GEGEN DEN DEMOGRAPHISCHEN WANDEL

Eckhard Cordes ist einer der pro- filiertesten deutschen Manager. Er gehörte u. a. dem Vorstand der Daimler Benz AG an und war ­Vorstandsvorsitzender der Franz Haniel GmbH und der Metro AG. Er ist Vorsitzender des Aufsichts- rats der BilfingerSE und leitet den Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft.

Der demographische Wandel stellt Deutsch- Wie so oft war es Hans-Werner Sinn, der die land vor eine Vielzahl von Herausforderungen. prekäre demographische Situation in Deutsch- Zwar sind viele westliche Industriestaaten mit land erkannte und sich nicht scheute, in die- dem Problem der Überalterung ihrer Bevölke- sem Kontext auch das Thema Migration – in rung konfrontiert, aber in Deutschland ist die Deutschland insbesondere in Zeiten der »Pegi- Lage besonders alarmierend : In einem Mitte da« ein heißes Eisen – öffentlich aufzugreifen. 2015 von BDO und Hamburgischem WeltWirt- Er forderte eine Zuwanderungspolitik, die ins- schaftsInstitut HWWI( ) veröffentlichten Rank­ besondere hochqualifizierte Migranten nach ing ist Deutschland mit 8,28 Geburten je 1000 Deutschland führt, um sowohl den demogra- Einwohner das absolute Schlusslicht in einem phischen Problemen als auch dem zunehmen- weltweiten Vergleich von 209 Ländern. Das den Fachkräftemangel in Deutschland aktiv Verhältnis der über 65-jährigen deutschen Be- entgegenzuwirken. Die Verfügbarkeit qualifi- völkerung zu den 15- bis 64-Jährigen wird sich zierter Arbeitskräfte ist nun einmal einer der bis 2030 im Vergleich zum Jahr 2000 verdop- wichtigsten Einflussfaktoren für die Standort- pelt haben. Abgesehen von den daraus resultie- entscheidungen multinationaler Unternehmen. renden immensen Schwierigkeiten bei der Fi- Deshalb ist die Zuwanderung hochqualifizier- nanzierung unseres Rentensystems, stellt diese ter Arbeitskräfte von zentraler gesellschaftli- Entwicklung auch die deutschen Arbeitgeber cher Bedeutung und Hans-Werner Sinns Vor- vor große Herausforderungen. Schließlich schlag insofern zu begrüßen.

igrationswelle schrumpft ja die Bevölkerung im erwerbsfähi- Doch wie ließe sich ein derartiges Vorhaben

M gen Alter zusehends, und die Nachwuchsströ- realisieren ? Derzeit ist in Deutschland der ie

D me werden immer dünner. ­Anteil an Migranten mit Hochschulabschluss

242 im internationalen Vergleich gering. Während zierter Einwanderer besser auszuschöpfen. Die dieser nach Angaben der OECD beispielsweise Einführung des gesetzlichen Mindestlohns in in Kanada und Großbritannien bei etwa 50 % Deutschland zum 1. Januar 2015 verhindert je- und in den USA bei rund einem Drittel liegt, doch leider eine solche Lohnflexibilität nach verfügt in Deutschland nur circa ein Fünftel unten, die nötig wäre, um geringer qualifizierte ­aller Einwanderer über einen Hochschulab- Einwanderer gemäß ihrer (u. a. aufgrund von schluss. Hier gibt es also deutlich Luft nach Sprachbarrieren und häufig fehlendem Aus­ oben ! Aber Hans-Werner Sinn wäre nicht bildungsstandard) geringeren Produktivität zu Hans-Werner Sinn, hätte er nicht auch einen entlohnen. Hierzu muss erwähnt werden, dass konkreten Lösungsvorschlag für diese Her­ Arbeitnehmer aus anderen Ländern auch bei ausforderung parat : Insbesondere für Ein­ einer geringeren Entlohnung grundsätzlich ei- wanderer, die aus Nicht-EU-Staaten nach nen Anreiz hätten, nach Deutschland einzu- Deutschland kommen möchten, schlägt er die wandern, sofern nur ihr in Deutschland zu er- Einführung eines Punktesystems vor, dem wartendes verfügbares Realeinkommen noch ­Kriterien wie die berufliche Qualifikation, das immer höher wäre als in ihrem Heimatland. ­Alter sowie die Sprachkompetenz von Einwan- So wichtig der Zuzug Hochqualifizierter ist : derern zugrunde liegen. Dabei müsste Deutsch- Auch unabhängig vom Qualifikationsniveau land keineswegs das Rad neu erfinden, kennen birgt die Zuwanderung von Arbeitskräften fun- wir solche Punktesysteme doch bereits aus damentale Vorteile für die deutsche Wirtschaft. ­vielen anderen Ländern, allen voran den USA, Insofern sind die EU-Freizügigkeitsrichtlinie Kanada und Großbritannien. Dort steuert man und die Öffnung des deutschen Arbeitsmarkts bereits seit vielen Jahren erfolgreich den Migra- für Arbeitnehmer aus den östlichen EU-Staa- tionsstrom mit Hilfe des Qualifikationsniveaus ten erste große Schritte in die richtige Rich- der Einwanderer. Gerade in Deutschland, wo tung. Um die gesamtgesellschaftliche Heraus- uwanderungsdebatte

ein vergleichsweise ausgeprägter Sozialstaat forderung der Finanzierung des Rentensystems Z

tendenziell eher gering- als hochqualifizierte in Zeiten einer überalternden Bevölkerung zu die

Einwanderer anlockt, erscheint die Adaption gewährleisten und zudem die Produktion so- und eines solchen Punktesystems als ein logischer, wie die Forschung und Entwicklung in der

ja geradezu offensichtlicher Schritt. ­Industrie an deutschen Standorten langfristig inn Zudem wäre natürlich noch eine Reihe zu sichern, ist jedoch dringend eine umfassen- S ­weiterer arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen dere, aktive Gestaltung der Zuwanderung nach wünschenswert, um die vorgeschlagene Migra- Deutschland erforderlich. erner tionspolitik bestmöglich zu flankieren. Dazu Ich hoffe, dass Hans-Werner Sinn auch nach -W gehört aus Unternehmenssicht in erster Line seinem wohlverdienten Eintritt in den Ruhe- ans H die zügigere Anerkennung ausländischer Bil- stand nicht müde wird, den Entscheidungs­ : dungsabschlüsse in Deutschland. Ferner könn- trägern unseres Landes mit Karte und Kom- te durch eine Senkung der Lohnnebenkosten pass zur Seite zu stehen, wenn sich diese in den die Anwerbung hochqualifizierter Arbeitneh- kommenden Jahren, getrieben durch den be- mer zusätzlich erleichtert werden. Weiterhin vorstehenden Austritt der Babyboomer aus

könnten flexiblere Löhne dabei helfen, auch dem Erwerbsleben, unweigerlich intensiver mit igrationswelle das Potenzial insbesondere niedriger qualifi- dem Thema Zuwanderung befassen müssen. M ie D

243 Beim Munich Economic Summit 2008: ( von links nach rechts ) ­Jürgen Chrobog, seinerzeit ­Vorstandsvorsitzender der BMW Stiftung Herbert Quandt, HWS und , damals ­Bundesminister für Arbeit und Soziales.

HWS und eine ganze Riege von Trägern des CES Distinguished Fellow Awards: ( von links nach rechts ) Ernst Fehr, Richard Blundell, Robin Boadway, Olivier Blanchard, Philippe ­Aghion, Bruno Frey, ­Andrei Shleifer, James Poterba und Avinash Dixit.

Brunch im Sinn’schen Garten zum 60. Geburtstag von HWS mit ­Wegbegleitern, Schülern und Freunden.

244 ( von links nach rechts ) Der ­damalige Bayerische Staats­ minister der Finanzen, Kurt ­Faltlhauser, der damalige DIW- Präsident Klaus Zimmermann, HWS und seine Frau ­Gerlinde beim abendlichen Empfang der VfS-Jahrestagung 2007 »Bildung und Innovation« in München.

HWS begrüßt , damals Bundesministerin für Arbeit und Soziales, auf dem Munich Economic Summit 2011.

Stefan Quandt und HWS beim Munich Economic Summit 2006.

245 Die Welt am Sonntag, 25.07. 2010 IM DIENSTE DER PROFESSION: 10 Hans-Werner Sinn als Motor des Wandels Meinhard Knoche EINLEITUNG Im Dienste der Profession: Hans-Werner Sinn als Motor des Wandels

Meinhard Knoche ist neben Hans-Werner Sinn das zweite ­Mitglied des ifo-Vorstands und verantwortet insbesondere die kaufmännische Leitung des ifo Instituts und der CESifo GmbH. Als Honorarprofessor unterrichtet er an der Hochschule Weihen­ stephan-Triesdorf mit Schwer- punkt Personalmanagement.

Seit 25 Jahren ist Hans-Werner Sinn der Öf- sie Meinungen verändert und politische und fentlichkeit als Antreiber für politischen Wan- gesellschaftliche Entscheidungen beeinflusst del in Deutschland und Europa bekannt. Die haben; die institutionellen Veränderungen da- Beiträge in den vorangegangenen Kapiteln be- gegen sind sicht- und messbare Realität ge­ legen, wie er sich beharrlich gegen Fehlent- worden. In welch vorausschauender Weise er wicklungen in der Politik stemmt, verbreitete wissenschaftliche Institutionen aufgebaut oder Denkmuster aufbricht, Meinungsführerschaft verändert und sich selbst als »Marke« in den übernimmt, Veränderungen anstößt und so Medien etabliert hat, schildern die Autoren der dauerhafte Spuren in der Gesellschaft hinter- Beiträge dieses Kapitels. Als Ordinarius an der lassen hat. Mit unzähligen Aktionen – Büchern, Ludwig-Maximilians-Universität München hat Aufsätzen, Presseartikeln, Interviews und Auf- er das Center for Economic Studies (CES) ge- tritten in Fernseh- und Radiosendungen – ist gründet und zu einem internationalen Treff- er Millionen Menschen ein Begriff geworden, punkt für Ökonomen aus aller Welt gemacht, hat Wissen vermittelt und Einstellungen ge- unter seiner Präsidentschaft entwickelten sich prägt – kurzum : unsere Gesellschaft verändert das ifo Institut von einem wissenschaftlichen wie kein anderer deutscher Ökonom vor ihm. Nobody zum europaweit forschungsstärksten rofession

P Weitgehend dem Blick der Öffentlichkeit Wirtschaftsforschungsinstitut und das CESifo-

der verborgen, aber ähnlich wirkungsvoll sind die Forschernetzwerk zu einem der weltweit größ-

Spuren, die er im institutionellen Gefüge der ten Ökonomennetzwerke seiner Art; sowohl Wissenschaft nicht nur in Deutschland hin­ beim Verein für Socialpolitik als auch beim ienste

D terlassen hat. Bei seinen wirtschaftspolitischen ­International Institute for Public Finance stieß m I Vorstößen kann man nur erahnen, wie intensiv er als Präsident tiefgreifende institutionelle Re-

248248248 formen an. Dadurch wurden auf der einen Sei- tituten klappt nicht nur in München hervorra- te die Rahmenbedingungen für die dort tätigen gend. Wissenschaftler verbessert und deren Output Diese Vorbildwirkung gilt nicht nur für den vervielfacht; auf der anderen Seite wurden die von Hans-Werner Sinn betriebenen institutio- Möglichkeiten für den weltweiten Ideenaus- nellen Wandel, sondern auch für sein persön­ tausch unter Ökonomen wesentlich ausgebaut. liches Engagement in der Öffentlichkeit. Seine Die Veränderungsprozesse haben nicht nur die beherrschende Präsenz in den Medien ist nach Schlagkraft dieser Institutionen auf ein neues wie vor Vorbild und Ansporn für andere Öko- Niveau gehoben, sondern auch wesentlich da­ nomen, sich in die öffentliche wirtschaftspoliti- zu beigetragen, dass sich das System der wirt- sche Debatte einzumischen. Dass es heute eine schaftswissenschaftlichen Forschung, Lehre neue Generation ausgezeichneter Ökonomen und Nachwuchsförderung in Deutschland ins- gibt, die in den Medien zu Wort kommen, ist gesamt grundlegend gewandelt hat. So war der ohne das Vorbild HWS kaum denkbar. Turnaround des ifo Instituts, der auch die Hans-Werner Sinns Bedeutung als einer der ­ambitionierten wissenschaftspolitischen Ziel- forschungsstärksten deutschen Ökonomen, setzungen des Wissenschaftsrats aufgriff, die einflussreichster Politikberater und akademi- Blaupause für andere Institutionen, ebenfalls scher Unternehmer ist kein Zufall. Er ist Volks- konsequent auf wissenschaftliche Exzellenz, wirt mit Leib und Seele, der sich und seiner gesellschaftliche Relevanz und Internationali- Profession die öffentliche Geltung und den

tät zu setzen. Es hat ein regelrechter Umbruch Einfluss verschaffen will, die sie in anderen andels W der deutschen Wirtschaftsforschung stattge- Ländern längst haben. Diesem Leitmotiv folgt des

funden : Waren noch Mitte der 1990er Jahre die er konsequent und vereint dabei entscheidende Wirtschaftsforschungsinstitute in den Augen zehn »P« in einer Person : Als Professor und der Universitätsprofessoren die verlängerte, wissenschaftlicher Perfektionist begeistert er otor von ökonomischer Theorie weitgehend unbe- nach wie vor die Studenten für die Ökonomie, M als leckte Werkbank der Ministerien, waren die und als Politikberater und Publizist macht er Ökonomen an den Universitäten für die Wirt- die ökonomische Theorie für die politische inn schaftsforschungsinstitute die theoretischen Praxis nutzbar. Er ist Protagonist und Prophet, S Bleistiftspitzer, die von Wirtschaftspolitik kei- indem er neue Themen aufgreift und auf ne Ahnung hatten. Dieser Graben ist zuge- ­Chancen und Gefahren hinweist. Dabei agiert erner schüttet : Alle deutschen Wirtschaftsforschungs- er als PR-Profi, Provokateur und Polarisierer, -W institute werden heute von ausgezeichneten, mit dem Anliegen, wachzurütteln und Sensibi- ans H forschungsstarken und international sichtba- lität zu wecken. Als Präsident des ifo Instituts : ren Ökonomen geleitet und sind attraktive Ar- ist er ein leuchtendes Beispiel für andere Insti- beitgeber auch für den Ökonomennachwuchs. tutspräsidenten, sich nicht in den Niederungen Beim wissenschaftlichen Output auf dem Ge- des Wissenschaftsmanagements zu verzetteln, rofession biet der VWL hat insbesondere das ifo Institut sondern sich um das Große und Ganze zu P

die Universitäten im deutschsprachigen Raum kümmern und die präsidiale Bühne zu nutzen, der eingeholt, und die Zusammenarbeit zwischen um Einfluss auf politische und gesellschaftliche den volkswirtschaftlichen Fakultäten und den Entwicklungen auszuüben. P10 – ein Phäno- ienste

außeruniversitären Wirtschaftsforschungsins- men ! D m I

249 Robert Solow EIN MUSTERBEISPIEL INSTITUTIONELLEN UNTERNEHMERTUMS

Robert Solow lehrte von 1950 bis 1995 am MIT und ist nun Robert K. Merton Scholar der Russell Sage Stiftung. Er erhielt den Wirtschafts­ nobelpreis 1987, die National Medal of Science 1994 und die Freiheits- medaille des Präsidenten der USA 2015. Er ist Mitglied im Orden Pour le Mérite.

Institution Building, der Aufbau und die Weiter­ kennung zu zollen und dabei alle daran zu er- entwicklung von Institutionen, ist ein schwieri- innern, welche Bedeutung diese Leistung nicht ger und anstrengender Prozess. Das weiß jeder, nur für die Wirtschaftswissenschaft in Mün- der es je selbst einmal versucht hat oder es aus chen, sondern für die deutsche Wirtschaftswis- nächster Nähe beobachten durfte. Meine Frau senschaft insgesamt besitzt. Natürlich kann ich besaß einst ein T-Shirt, bedruckt mit einem dabei lediglich die Sicht eines interessierten tiefgründigen Ausspruch, den man Jean-Paul und sympathisierenden Außenseiters beschrei- Sartre zuschreibt : »Bei einem Fußballspiel ver- ben, was allerdings keineswegs ein unwichtiger kompliziert sich alles durch die Anwesenheit oder gar irrelevanter Standpunkt ist. der gegnerischen Mannschaft.« Ich habe keine Ich denke 20 Jahre zurück an die Mitte der Ahnung, ob diese Zuschreibung authentisch 1990er Jahre. Hans-Werner Sinn ist schon Pro- ist, aber ich füge hinzu, dass das Institution fessor an der Ludwig-Maximilians-Universität Building komplizierter als Fußball sein muss, und bereits ambitioniert, in der Wirtschafts- da bereits die bloße Anwesenheit der eigenen wissenschaft etwas aufzubauen. Es gibt einige Mannschaft oftmals beabsichtigte oder unbe- herausragende deutsche Ökonomen, aber kein absichtigte Schwierigkeiten für denjenigen er- wirkliches Zentrum aktiver ökonomischer rofession

P zeugt, der versucht, eine Institution aufzubau- Forschung, das auf der internationalen Bühne

der en oder neu auszurichten. Das ist der Grund, einen deutlichen Fußabdruck hinterlässt. Das

weshalb ich mich dazu entschlossen habe, Institut für Weltwirtschaft in Kiel hat zwar Hans-Werner Sinns Vorstellungskraft, Fähig- eine lange Tradition, ist aber weithin nicht als ienste

D keit und Entschlossenheit bei der Errichtung ­Quelle oder Treffpunkt neuer Ideen bekannt. m I der uns heute bekannten CESifo-Gruppe Aner- Das ifo Institut war fast ausschließlich wegen

250 seines »Konjunkturbarometers« geläufig, steu- Sprache veröffentlicht. DasCES ifo-Netzwerk erte aber nur wenig bis gar nichts zur makro- entstand und machte München zu einer legiti- ökonomischen Forschung oder zur Konjunk- men Konkurrenz zum Centre for Economic turtheorie bei. Policy Research (CEPR) in London und zum Wenn ich mich recht entsinne, hatte Hans- National Bureau of Economic Research (NBER) Werner Sinn schon damals eine Seminarreihe in Cambridge. München gesellte sich damit unter dem Dach des neu gegründeten Center zu Paris, Barcelona und Toulouse als ein maß­ for Economic Studies ins Leben gerufen und gebliches, googelnswertes Zentrum ökonomi- bereits damit begonnen, Redner, Berater und schen Gedankenguts auf dem europäischen Teilnehmer anderer deutscher und europäi- Kontinent. scher Universitäten und, soweit möglich, sogar Es ist wirklich nicht möglich, sich den Ver- von weiter her einzuladen. Im Jahr 1994 hatte lauf dieser Transformation ohne die Willens- er etwas begonnen, woraus später die Vortrags- kraft, die Energie und die intellektuelle Stärke reihe »Munich Lectures in Economics« wurde, Hans-Werner Sinns vorzustellen. Dies war kein und er startete sie mit dem brillant ausgewähl- zufälliger oder sich aus sich selbst heraus ent- ten Avinash Dixit als erstem Vortragenden. wickelnder Prozess. Ich denke, dass Hans-Wer- Dies war ganz und gar kein Routineakt akade- ner Sinn von Anfang an eine zumindest un­ mischer Arbeitsbeschaffung. Tatsächlich han- gefähre Vision eines künftigen Zielzustands delte es sich um ein Stück akademischen Un- vor Augen hatte. Eine Vision, die vielleicht

ternehmertums. Geschickt eingefädelt, brachte nicht alle Details umfasste, aber sicherlich die andels W es München auf die Weltkarte der Wirtschafts- Grundidee von dem enthielt, was dem heu­

CES des wissenschaft. Schon die Tatsache, dass so viele tigen ifo-Komplex sehr ähnlich gewesen derer, die die Munich Lectures hielten, eine sein muss : ein auch aus internationaler Sicht führende Stellung auf den Gebieten der Polit- effektives, verflochtenes und vertikal integrier- otor ökonomik und der Finanzwissenschaft inne- tes Set an Aktivitäten, die von grundlegender M als hatten, lässt leicht erkennen, welchen persön­ akademischer Lehre und Forschung bis hin zur lichen Einfluss Hans-Werner Sinn ausübte. öffentlichen Diskussion der aktuellen finanz- inn

Dann, im Jahr 1999, wurde er Präsident des wissenschaftlichen Themen in Bezug auf die S ifo Instituts, und es ergab sich die Gelegenheit, öffentlichen Ordnung und Staatstätigkeit rei- eine neue kombinierte Institution größeren chen sollten. erner Ausmaßes zu schaffen. Was folgte, war eine Und all dies wurde erreicht, während Hans- -W wahrlich innovative Episode, ein Musterbei- Werner Sinn auch weiterhin über die Wirt- ans H spiel institutionellen Unternehmertums, falls schaftswissenschaft im Allgemeinen und ins- : es ein solches überhaupt je zuvor gegeben hat- besondere über die deutsche Ökonomie te. Das Programm des ifo Instituts wurde refor- nachdachte und starke Positionen zu diskus­ miert, so dass es fortan Konjunkturforschung sionswürdigen politischen Problemen ein- rofession der modernen Art umfasste. Die wissenschaft- nahm. Dies ist ein außergewöhnliches Zeugnis P

liche Fachzeitschrift CESifo Economic Studies von Anstrengung und Leistung. der wurde ins Leben gerufen und in englischer ienste D m I

251 Hans Zehetmair EIN GLÜCKSGRIFF NICHT NUR FÜR BAYERN

Hans Zehetmair war von 1986 bis 2003 Staatsminister in der Bayeri- schen Staatsregierung und von 1993 bis 1998 Stellvertretender Bayerischer Ministerpräsident. Von 2004 bis 2014 war er Vorsitzender der Hanns-Seidel-Stiftung. Er ist Vorsitzender des Rates für deut- sche Rechtschreibung.

Dass es 1984 gelungen ist, Hans-Werner Sinn 1990er Jahre für die Gründung des Center for an die Ludwig-Maximilians-Universität Mün- Economic Studies (CES), das die internatio­ chen zu holen, erwies sich als ausgesprochener nale Sichtbarkeit der Münchner Nationalöko- Glücksfall. Die Berufung, ausgesprochen noch nomie weiter gesteigert hat und vor allem auf durch meinen Vorgänger Hans Maier, hat maß- dem Gebiet der Nachwuchspflege erfolgreich geblich dazu beigetragen, dass München in den aktiv ist. ökonomischen Wissenschaften, um mit Tho- Die Situation des ifo Instituts war seinerzeit mas Mann zu sprechen, »leuchtete« und seither nicht leicht. Der Wissenschaftsrat hatte 1998 ungebrochen leuchtet. das Institut ausgesprochen negativ evaluiert Die Mitarbeiter im Ministerium mussten und es vom Wirtschaftsforschungsinstitut zur seinerzeit all ihr Verhandlungsgeschick auf­ Serviceeinrichtung »abgestuft«. Hans-Werner bieten, um Hans-Werner Sinn den Gang von Sinn hat unmittelbar nach seinem Amtsantritt Mannheim nach München schmackhaft zu mit großem Erfolg gegengesteuert, das Institut machen, aber am Ende stand ein Angebot, dem mit seiner fachlichen Kompetenz geschickt man nicht widerstehen konnte. Und wir wissen weiterentwickelt und es zu einer weithin sicht- heute : Der Einsatz hat sich gelohnt. Hans-Wer- baren, auch über Fachkreise hinaus bekannten rofession

P ner Sinn hat nicht nur an seinem Lehrstuhl für Einrichtung gemacht, ich möchte ohne Über-

der Nationalökonomie und Finanzwissenschaft, treibung sagen : zum führenden Wirtschafts-

sondern vor allem auch durch die Übernahme forschungsinstitut Deutschlands. 2002 wurde der Leitung des Münchner ifo Instituts im Jahr das Institut »an-Institut« an der LMU, die ienste

D 1999 Herausragendes geleistet. Besonders ver- ­Evaluationsberichte der Leibniz-Gemeinschaft m I dienstvoll war sein Einsatz schon während der 2006 und 2009 gerieten zum Triumph und be-

252 stätigten die Impulse, die Hans-Werner Sinn den Weg des für richtig Erkannten geht. Hut ab dem Institut gegeben hat. vor diesem Mut zur öffentlichen, auch streit­ Überflüssig zu betonen, dass Hans-Werner baren Auseinandersetzung ! Sinn einen Bekanntheitsgrad erreicht hat, der Sie erwarten an dieser Stelle jetzt von einem weit über den Wirkungsbereich eines Hoch- Altphilologen nicht, dass er einzelne Thesen, schullehrers hinausgeht, der in der Fachwelt zu Standpunkte und Äußerungen Hans-Werner den meistzitierten Vertretern seines Fachs ge- Sinns fachlich kommentiert; davon bin ich als hört. Unzählige Auftritte in den Medien, Kom- ökonomischer Laie weit entfernt. Was ich aber mentare zu aktuellen wirtschaftspolitischen glaube beurteilen zu können, ist die Leistung, Ereignissen, Gutachten und Beratung der poli- die er für die Sichtbarkeit Münchens, Bayerns tischen Spitzen des Landes, das alles vereint und Deutschlands in der wirtschaftswissen- Hans-Werner Sinn mit fachlicher Seriosität schaftlichen Forschung erreicht hat, und diese und internationaler Anerkennung seiner For- Leistung ist nicht hoch genug zu schätzen. Wir schungsarbeit. Zu nennen sind auch seine an brauchen mehr von seinem Schlag ! die breite Öffentlichkeit gerichteten Bücher Wenn Hans-Werner Sinn nunmehr in den zu jeweils aktuellen volkswirtschaftlichen The- Ruhestand geht, bedeutet das mehr als nur ei- men. Er ist damit das, was ich einen Wissen- nen routinemäßigen Wechsel auf einer Posi­ schaftskommunikator im besten Sinne nennen tion. Für die von ihm geleiteten Forschungsins- möchte : Ein Wissenschaftler, der sich nicht in titutionen ist das ein gravierender Einschnitt,

seiner Denkerstube verkriecht, sondern es ver- das Ende einer Ära. Aber ich bin mir sicher, andels W steht, die Öffentlichkeit für seine Arbeit zu be- dass wir auf seinen Rat und seine Expertise des

geistern, Interesse für Fragen der Forschung auch künftig nicht verzichten müssen und er gerade bei jungen Leuten zu wecken. Und der seine Stimme weiterhin immer dann einbrin- dabei nicht der Versuchung erliegt, das Niveau gen wird, wenn es um die wirtschaftliche Zu- otor und den Tiefgang der Gedanken auf dem Altar kunft unseres Landes geht. M als der Popularität zu opfern. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen, lieber Sinns Thesen sind nicht immer bequem, er Herr Professor Sinn, einen guten Eintritt in die inn eckt gern an, provoziert. Aber nicht um des Ef- neue Lebensphase, Gesundheit, vielleicht etwas S fekts und der Schlagzeile willen : Dahinter ste- mehr Zeit für die Familie, aber auch weiterhin cken eine Mission, eine Geradlinigkeit und viel Energie für Ihre Beiträge zur öffentlichen erner ­Authentizität, die sich nicht einem mutmaßli- Debatte ! -W chen Mainstream anpasst, sondern konsequent ans H : rofession P der

ienste D m I

253 Bernd Huber HANS-WERNER SINN: HEITERES UND ERNSTES

Bernd Huber ist Professor für Finanzwissenschaft und seit 2002 Präsident der Ludwig-Maximilians- Universität München. Seit 1999 ist er Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats des Bundesministeriums der Finanzen.

Das erste Mal habe ich Hans-Werner Sinn Mit- Kapitaleinkommensbesteuerung bewegt er sich te der 1980er Jahre erlebt, als ich Student in an der Spitze der internationalen wissenschaft- Gießen war und er dort den Lehrstuhl für Fi- lichen Diskussion, wählt aber die Form der nanzwissenschaft vertrat. Was war das für eine klassischen Monographie. neue, faszinierende Art der Finanzwissenschaft, Der Finanzwissenschaft hat Hans-Werner die er uns beibrachte ! Theoretisch fundiert, Sinn – wie einer alten Liebe – immer die Treue sehr stringent, aber immer mit dem Anspruch, gehalten, trotz seiner vielfältigen sonstigen Ak- aus der Analyse auch konkrete wirtschafts- tivitäten. So hatte er noch vor wenigen Jahren und finanzpolitische Schlussfolgerungen zu den Vorsitz der internationalen Fachorganisa- ­gewinnen. Und was für ein Dozent ! Enthusias- tion, des International Institute of Public Fi- tisch, schwungvoll und mit großer Überzeu- nance, übernommen. Und seine Arbeiten, sein gungskraft ! Und wenn man etwas nicht begriff, Enthusiasmus und die Faszination, die er aus- erklärte er es noch einmal, und am Ende leuch- übt, haben viel dazu beigetragen, dass viele tete einem von der Tafel ein orangefarben von uns Jüngeren Ende der 1980er, Anfang der schraffierter Wohlfahrtsgewinn entgegen ! 1990er Jahre in die Finanzwissenschaft einge- Wie nur wenige hat Hans-Werner Sinn die stiegen sind. rofession

P Finanzwissenschaft in Deutschland – aber auch Das ist lange her, aber schon damals war

der international – mit vielen richtungsweisenden Hans-Werner Sinn eine Legende; viele Ge-

Beiträgen geprägt. Er ist einer der Großen des schichten rankten sich um ihn, seine Ideen, Faches. Dabei ist es interessant, wie er in vielen ­seinen Arbeitseifer und seine Brillanz. Beson- ienste

D seiner Beiträge Neuerung und Tradition ver- ders beliebt war eine – vermutlich erfundene – m I bindet. In seinem bahnbrechenden Werk zur Anekdote über seine gemeinsame Assistenten-

254 zeit mit Klaus F. Zimmermann in Mannheim. Dabei scheute er sich auch früher schon Beide waren (und sind) äußerst fleißige Wis- nicht, sich mit bedeutenden Persönlichkeiten senschaftler. Als Klaus Zimmermann eines anzulegen. Ich kann mich gut an eine Runde Abends gegen acht Uhr seine Tasche zu packen erinnern, in der Hans-Werner Sinn ein Papier, begann, fragte ihn Hans-Werner Sinn deswe- das er verteilt hatte, vorstellte. Nach etwa gen ganz überrascht : »Klaus, du gehst schon ?« 15 ­Minuten wandte er sich an einen der Zu­ Antwort Zimmermann : »Aber Hans-Werner, hörer, einen hochrangigen Politiker : »Herr weißt du denn nicht, ich habe diese Woche ­Minister, wir sind auf Seite 14, bitte schlagen doch Urlaub.« Sie die Seite auf, damit Sie der Diskussion fol- Aber das Œuvre und das Wirken von Hans- gen können.« »Ja, natürlich.« Antwortete der Werner Sinn gehen weit über die Finanzwissen- ­Minister und blätterte folgsam auf Seite 14. schaft hinaus : In München hat er Anfang der Mit der Präsidentschaft des ifo Instituts über- 1990er Jahre das Center for Economic Studies nahm Hans-Werner Sinn im Jahr 1999 eine (CES) gegründet, den Generationswechsel der neue, große Aufgabe. Bei all seiner Präsenz in volkswirtschaftlichen Fakultät mitgestaltet und den Medien wird dabei leicht über­sehen, dass er viele Reformen angestoßen. Aber : bei allem in den vergangenen 15 Jahren das ifo zu einem ­Erneuerungswillen immer der Respekt vor herausragenden Wirtschaftsforschungsinstitut der Tradition und der Geschichte des Faches. gemacht hat, mit großer nationaler wie interna- Das Hans-Möller-Seminar der volkswirtschaft- tionaler Strahlkraft. Aber natürlich stehen beim

lichen Fakultät ist hierfür ein schönes Beispiel. ifo Institut vor allem seine engagierten, mitun- andels W Mit seiner Energie und seiner Überzeu- ter provokanten Beiträge zur wirtschaftspoliti- des

gungskraft hat er auch in der Fachgesellschaft schen Diskussion im Zentrum der öffentlichen der Ökonomen in Deutschland, dem ehrwür- Aufmerksamkeit. Ich habe in diesen Jahren oft digen Verein für Socialpolitik, sofort, nachdem seinen Mut und die Konsequenz, mit der er für otor er 1997 den Vorsitz übernommen hatte, einen seine Positionen streitet, bewundert. M als grundlegenden Reformprozess eingeleitet. Um Hans-Werner Sinn – das ist ein großer Mann solche Veränderungen durchzusetzen, hilft und Wissenschaftler mit einer außergewöhn­ inn ihm neben seiner intellektuellen Brillanz und lichen Karriere und einer herausragenden S seinem Charme vor allem seine schier uner- ­Lebensleistung. Auch wenn er sich nun vorge- schöpfliche Energie. Wenn man selber nach ei- nommen hat, zukünftig mehr im Garten seines erner ner langen Diskussion eigentlich nur noch das schönen Hauses in Italien zu arbeiten, wird er -W

Ende herbeisehnt, blüht Hans-Werner Sinn auf sicher weiter wissenschaftlich und publizistisch ans H und setzt seine gesamte Beredsamkeit ein, um aktiv bleiben. Denn einen Garten, der groß ge- : auch die letzten verbliebenen Zweifel an seiner nug wäre, einen Hans-Werner Sinn auszulas- Argumentation auszuräumen. ten, den gibt es nicht. rofession P der

ienste D m I

255 Agnar Sandmo FÜHRUNG DURCH VORBILD

Agnar Sandmo ist emeritierter Professor der Volkswirtschafts­ lehre an der Norwegian School of Economics in Bergen. Er forschte zu ökonomischer Unsicherheit, Finanzwissenschaft, Umweltöko- nomik und ökonomischer Ideen- geschichte. Sein jüngstes Buch ist Economics Evolving, Princeton 2011.

Die Wege von Hans-Werner Sinn und mir be- war, Grundlagenforschung mit Politikanalyse gannen sich in den späten 1970er Jahren zu zu verbinden. Eine weitere Besonderheit war kreuzen, als er noch an der Universität Mann- die Entwicklung des CES zu einem Drehkreuz heim war. Die Begegnungen wurden regelmä- der europäischen Wirtschaftsforschung. Bei- ßiger, als er nach München ging und 1991 das des wäre ohne Hans-Werner Sinns starke Lei- Center for Economic Studies (CES) gründete. tung unmöglich gewesen. Diese Leitung war Ich wurde damals Mitglied des Wissenschaft­ doppelter Natur. Ein guter Leiter kann durch lichen Beirats des CES und blieb es bis 2009, weises, mit einer starken Zukunftsvision ge- die letzten acht Jahre als Vorsitzender. In dieser paartes Management, aber auch als Vorbild Zeit erlebte ich den Aufbau und die Entwick- führen. Hans-Werner Sinn hat beides getan. Im lung des CES mit, die eng mit dem akademi- Folgenden beleuchte ich besonders die zweite schen Profil und der Initiative seines Leiters Dimension seiner Leitung. verknüpft waren. Später erlaubte mir meine Während ich Hans-Werner bei seiner Arbeit Position am Ring einen Blick auf das ganze als Erbauer eines Imperiums – ich nutze dieses ­CESifo, aber ich hoffe auf Verständnis, dass ich Wort in einem rein positiven Sinn ! – zusah, meine Schilderung auf das CES konzentriere. war ich von Bewunderung, aber auch, zu­ rofession

P Die beachtliche Entwicklung, die das CES mindest in den frühen Jahren, von Verwunde-

der vor und nach der engen Verzahnung mit dem rung erfüllt. Denn der junge Ökonom, den ich

ifo Institut nahm, wird in anderen Beiträgen vor fast 40 Jahren kennen lernte, schien mir dieses Buches beschrieben. Ich möchte dazu nicht für eine solche Karriere bestimmt. Man ienste

D nur anmerken, dass die stärkste Eigenschaft denke an seine frühen Forschungsinteressen : m I des CES als Forschungsinstitut sein Anspruch Er schrieb seine Diplomarbeit zum Marx’schen

256 Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate Wirtschaftstheorie besitzt und davon überzeugt und befasste sich in seiner Doktorarbeit mit ist, dass sie denjenigen, die nach einer besseren der puren Entscheidungstheorie unter Unsi- Wirtschaft und Gesellschaft streben, viel zu cherheit. Die Wahl des ersten Themas reflek- bieten hat, zwangsweise inspirierend auf junge tierte das in den 1960er und 1970er Jahren star- Ökonomen. ke Interesse an marxistischen Ideen. Das zweite Hans-Werner hat viel zur Förderung junger galt damals als heißes Forschungsthema, das Ökonomen getan. Gleichzeitig ist es ein wich­ viele Herausforderungen für begabte Theoreti- tiges Merkmal seiner Aktivitäten, dass er auch ker bot. Aber keines der beiden Themen schien ein scharfes Auge für die Beiträge älterer Öko- relevant zur Anbahnung einer Karriere als ein- nomen hat. Dies zeigt sich in der Aufmerksam- flussreicher Akteur auf dem Parkett der polit- keit, die er in seinen Schriften den Arbeiten ökonomischen Debatte. Es waren Themen, die früherer Generationen entgegenbringt, und er zwar für Aufregung in akademischen Semina- hat das CES nicht nur zu einem wichtigen Treff- ren sorgten, aber kaum bei einem größeren Pu- punkt junger Forscher, sondern auch zu einem blikum. Ort der Interaktion zwischen den jungen und Meine Sicht auf Hans-Werners akademi- den nicht mehr so jungen Forschern gemacht. sches Profil änderte sich, als ich seine Habili­ Ein schönes Beispiel dafür ist eine Konferenz tationsschrift Kapitaleinkommensbesteuerung. im Jahr 1998, auf der es eine Diskussion zwi- Eine Analyse der intertemporalen, internationa- schen zwei großen alten Herren der Finanz­

len und intersektoralen Allokationswirkungen wissenschaft gab : James Buchanan und Richard andels W las. Es war noch immer ein Theoriebuch, je- Musgrave. Sie präsentierten ihre alternativen des

doch auf eine angewandtere und politikrele- Sichtweisen zur Natur der Finanzwissenschaft vantere Art, und sie begründete seinen Ruf als und die richtige Einstellung von Ökonomen jemand, der Resultate von höchster wirtschafts­ zum Staat – ergänzt durch aufschlussreiche otor politischer Relevanz produzierte. Diese Kom- Kommentare des Auditoriums und von Hans- M als bination aus Theorie und Anwendungsbezug Werner. Das Buch, das aus diesen Vorträgen brachte Hans-Werner mit ans CES. Er legte hervorging (Public Finance and Public Choice, inn diese Verbindung nicht nur bei der Wahl ins­ 1999), sollte von jedem Finanzwissenschaftler S titutioneller Forschungsthemen und der Aus- gelesen werden, der nicht nur schlau, sondern wahl seiner Mitarbeiter und Besucher zugrun- auch weise werden will. Es belegt, dass das CES erner de, sondern setzte auch seine eigene Arbeit nicht nur neue Ergebnisse, sondern auch die -W entlang dieser Linien fort, indem er seine Fä- tiefe Reflexion des Fachs vorantreibt. ans H higkeiten als Theoretiker und als Politikana­ Eine interessante Seite des Altwerdens ist, : lytiker nutzte, um eine Reihe hochrelevanter dass man jungen bekannten Menschen dabei Themen aufzugreifen. Beispiele sind seine Bü- zusieht, wie sie sich dem Ruhestand nähern. Im cher über die Wiedervereinigung (gemeinsam Falle Hans-Werners werde ich den »Ruhe- rofession mit seiner Frau Gerlinde), Globalisierung, die stand« jedoch definitiv nicht ganz für bare P

Eurokrise und die globale Umwelt. Nicht jeder Münze nehmen. Man wird seinen formalen der

Ökonom kann von sich erwarten, so viele Bü- Rückzug aus einigen Positionen zur Kenntnis cher und Artikel zu einem so breiten Spektrum nehmen müssen. Aber dass er sich aus der öko- ienste

verfassen zu können. Dennoch wirkt das Bei- nomischen Forschung und Debatte zurück- D m spiel von jemandem, der eine Leidenschaft für zieht, ist undenkbar. I

257 Alfons Weichenrieder DAS CES ALS BAUSTEIN DER INTERNATIONALISIERUNG UND NACHWUCHSFÖRDERUNG

Alfons Weichenrieder lehrt an der Goethe-Universität Frankfurt, ist Gastprofessor an der Wirtschafts- universität Wien, Forschungs­ professor am ifo, Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats beim BMF und Managing Editor des ­FinanzArchiv. Er promovierte 1995 unter der Betreuung von Hans- Werner Sinn.

Anfang der 1990er Jahre war die deutsche nicht nur etwa 30 internationale Forscherin- Volkswirtschaftslehre vielfach noch so organi- nen und Forscher jährlich in Kontakt mit dem siert, als ginge es darum, sich von der Außen- Münchener Fachbereich und den dortigen welt und dem Nachwuchs bestmöglich abzu- Doktoranden wie mich, sondern auch einige schotten. Als ich zu dieser Zeit als Doktorand deutsche Forscher als mögliche Ansprechpart- in den Verein für Socialpolitik, den Verband ner. der Volkswirte im deutschsprachigen Raum, Seit nunmehr 25 Jahren geben die Gäste aufgenommen werden wollte, um auf der Jah- über Vorträge und Minikurse den Doktoran- restagung vorzutragen, bedurfte es dreier Emp- den eine Vorstellung von der aktuellen For- fehlungsschreiben von bereits etablierten Mit- schungsfront auf verschiedensten Gebieten. gliedern. Zwei davon durften nicht der eigenen Über die Jahre ist mit den Besuchen der Gast- Universität angehören. Für einen jungen For- wissenschaftler ein Netzwerk von über 1000 scher war es damals um ein Vielfaches einfa- Mitgliedern aus den verschiedensten Ländern cher, in die American Economic Association entstanden. Die Area Conferences sorgen dafür, aufgenommen zu werden als in das deutsche dass das CES und das ifo Institut eine gewisse Äquivalent. Heimatbasis für all diese Forscher darstellen. rofession

P Dass ich überhaupt externe Professoren Das CES als internationales Institut für Gast-

der kannte, die ich um Empfehlungsschreiben an- forscher wurde als Idee geboren, um Hans-

sprechen konnte, lag an dem im Jahr 1991 er- Werner Sinn trotz eines Rufs nach Bern in richteten Center for Economic Studies (CES), München zu halten. Als Gründungsdirektor ienste

D dessen Gründungsdirektor Hans-Werner Sinn mit starken Kontakten nach Nordamerika, die m I war. Das CES brachte seit seiner Gründung u. a. in zwei Auslandsjahren in Kanada gewach-

258 sen waren, war er eine Idealbesetzung. Für vie- der wichtigste Rohstoff einer Dissertation sind, le Münchener Doktorandengenerationen war waren daher Gold wert, und die Erkenntnis, Sinn ein Vorbild, wie man internationale Kon- dass Ideen selten im stillen Kämmerlein oder takte pflegt und Diskussionen führt. Er er­ beim Abarbeiten einer starren Gliederung, leichterte es zu erkennen, welche Konferenzen aber sehr häufig in der ungezwungenen Dis- und Plattformen relevant sind. Mit den CES kussion und bei Begegnungen mit anderen Munich Lectures entstand eine Reihe von Vor- Forschern entstehen, ebenso. trägen und Büchern, die seinesgleichen sucht Aus den internationalen Kontakten des CES und Forscher wie Avinash Dixit, Anthony At- erwuchsen auch wichtige Chancen für die kinson, Paul Krugman, Rüdiger Dornbusch, ­Habilitanden. Und Hans-Werner Sinn legte Jean Tirole, Peter A. Diamond, Torsten Persson höchsten Wert darauf, dass sie ergriffen wur- oder Nicholas Stern nach München brachte. den. Es gibt wohl kaum einen der vielen Habi­ Insbesondere durch die Initiative des CES litanden, die von Sinn gefördert wurden, der brach in München die Zeitenwende im Hin- nicht ein Auslandsjahr an einer renommierten blick auf verstärkte Internationalisierung und Universität verbracht hätte. Nachwuchsförderung einige Jahre früher an Das CES war sicher nicht das Ende einer als an vielen anderen deutschen Universitäten. notwendigen Entwicklung zu mehr Interna­ Insbesondere die zahlreichen Doktoranden tionalisierung. Aber es brachte entscheidende am CES hatten dadurch maßgebliche Vorteile. Fortschritte am Standort München und setzte

Noch heute denke ich mitunter an die Aufre- ein Beispiel für andere Orte. Inzwischen wird andels W gung, die mir daraus erwuchs, dass bereits in an vielen deutschen Fachbereichen der Nach- des

meinem ersten Doktorandenvortrag über ein wuchs in Graduiertenschulen gefördert, und Kapitel meiner Dissertation auch zwei renom- auch die Aufnahme junger Forscher in den mierte ausländische Gastprofessoren zuhörten. Verein für Socialpolitik wird heutzutage nicht otor Sie saßen indes nicht nur mit am Tisch, son- mehr behindert, sondern aktiv gefördert. Auch M als dern gaben tatsächlich auch wertvolle Hin­ an dieser Öffnung hatte Hans-Werner Sinn weise, die in die letztendliche Publikation ein- maßgeblichen Anteil. Als dessen Vorstand inn flossen. (1997 – 2000) führte er ein, dass der Verein für S Vor 25 Jahren wurden in Deutschland noch Socialpolitik Vorträge seiner jungen Mitglieder sehr viele volkswirtschaftliche Dissertationen auf ausländischen Konferenzen mit einer pau- erner geschrieben, indem der Doktorand nach eini- schalen Reisekostenprämie fördert. Dies mach- -W gen Monaten Einarbeitung dem Doktorvater te den Verein für junge Forscher deutlich at- ans H (bzw. sehr viel seltener der Doktormutter) eine traktiver und verband in besonders effektiver : mehrseitige Gliederung vorlegen musste, die Weise die Internationalisierung und die Nach- dann eben abzuarbeiten war. Besonders hilf- wuchsförderung miteinander. Internationali- reich im Hinblick auf neue Forschungsergeb- sierung und Nachwuchsförderung : Beide Ziele rofession nisse war das meist nicht. Vorbilder, wie Hans- waren über lange Jahre hinweg wichtige Grund- P

Werner Sinn, die klarmachten, dass – neben anliegen von Hans-Werner Sinn. der

Fleiß und solider Methodik – originelle Ideen ienste D m I

259 Otto Wiesheu VOM ELFENBEINTURM IN DIE POLITIKBERATUNG

Otto Wiesheu war von Mitte 1993 bis Ende 2005 Bayerischer Staats- minister für Wirtschaft, Infrastruk- tur, Verkehr und Technologie. Er warb Hans-Werner Sinn 1999 als ifo-Präsidenten an und unterstütz- te dessen Reorganisation des Ins- tituts. Seit 2009 ist er Präsident des Wirtschaftsbeirates Bayern.

Mein Erstkontakt mit Hans-Werner Sinn ent- München (LMU) wollte sich Sinn voll und ganz stand aus einer großen Verlegenheit : Das ifo In- dem Center for Economic Studies (CES) und stitut wurde im Jahr 1998 nach eingehender Eva- dem Verein für Socialpolitik, der seit 1873 be- luierung vom Wissenschaftsrat abgestuft von steht und einen großen Namen hat, widmen einer Forschungseinrichtung der Blauen Liste zu und mit beiden Institutionen die Internatio­ einer forschungsbasierten Serviceeinrichtung. nalisierung der wirtschaftswissenschaftlichen Diese Abstufung ließ sich trotz ernsthafter Ver- Diskussion in Deutschland vorantreiben. Da- handlungen im Wissenschaftsrat nicht verhin- bei erschien ihm die Kärrner-Arbeit, die beim dern. Sie war aber für das Ansehen und die Zu- ifo Institut anstand, nicht förderlich. kunft des ifo Instituts nicht akzep­tabel. Nachdem andere Persönlichkeiten, die mir Das Bestreben aller am ifo Institut Interes- Professor Sinn nannte, nicht in Betracht ka- sierten war es, das zu korrigieren. Das Ziel war men, habe ich ihn bei einem weiteren Gespräch unumstritten, der Weg dahin offen. Von mir als in die Pflicht genommen. damaligem Bayerischem Wirtschaftsminister Sinn knüpfte die Übernahme des Präsiden- wurde – unabhängig von der Verantwortung tenamts an eine Reihe von Bedingungen : weiterer Gremien – erwartet, eine Lösung zu ƒƒ Er bleibt weiterhin Professor an der LMU. rofession

P finden. Und die Lösung war für mich : Pro­fessor ƒƒ Das ifo Institut wird eng mit dem CES verzahnt. ƒ

der Dr. Hans-Werner Sinn muss Präsident ­werden. ƒ Ein Teil des Personals beim ifo Institut soll

Ich habe ihn also bei einem Vier-Augen-­ zügig ausgetauscht werden. Gespräch mit diesem Anliegen konfrontiert. Er ƒƒ Eine regelmäßige Personalauffrischung mit ienste

D hat erst einmal abgelehnt. Neben seinem Lehr- Nachwuchskräften aus der Universität wird m I stuhl an der Ludwig-Maximilians-Universität ermöglicht.

260 ƒƒ In Kooperation mit der LMU werden Pro- ƒƒ die Evaluierung durch die Leibniz-Gemein- motionen beim ifo Institut gefördert. schaft im Jahr 2006, die der Arbeit des ifo ƒƒ Abteilungsleiterpositionen im ifo Institut Instituts große Fortschritte bescheinigte und sollten auch durch Wissenschaftler besetzt dem ifo in Aussicht stellte, wieder in die Rie- werden können, die ihre Lehrstühle behalten. ge der Forschungseinrichtungen aufgenom- men zu werden; Das war nach seiner Meinung notwendig, um ƒƒ dann, nach erneuter Evaluierung, der Be- qualifizierten Nachwuchs und Talente für die schluss der Gemeinsamen Wissenschaftskom- wirtschaftswissenschaftliche Diskussion und mission von Bund und Ländern 2009, das ifo die empirische Forschung zu rekrutieren. Institut von Januar 2010 an wieder als über- Und die Finanzierung für die folgenden Jahre wiegend forschende Einrichtung zu fördern; musste Aktivitäten erlauben, die eine Rückkehr ƒƒ schließlich die Regelevaluierung 2012/2013 des ifo Instituts in den Status der Forschungs- durch den Senat der Leibniz-Gemeinschaft, einrichtung der Blauen Liste fördern sollten. in der die Leistungen des Institutes mit bes- Diese Konditionen waren durchaus in mei- ten Noten auf allen Arbeitsgebieten bewertet nem Sinne. Auch nach meiner Überzeugung wurden. war der Weg zur Wiedergewinnung des Status »Forschungseinrichtung« nur durch eine enge Eng verbunden mit dieser enormen Aufbauleis- Verflechtung mit dem universitären Potenzial tung ist die Tatsache, dass Professor Sinn heu­ und durch die Implementierung eines hohen

te der in der Öffentlichkeit meistzitierte Wirt- andels

wissenschaftlichen Anspruchs in die Arbeit des W schaftswissenschaftler in Deutschland ist, sein ifo Instituts möglich. des

Renommee weit über Deutschland hinausreicht Laut Wissenschaftsrat musste das ifo Institut und er im Rahmen der wirtschaftswissenschaft- daran arbeiten, lichen Diskussion auf europäischer und interna- otor ƒ

ƒ die nötige Resonanz in der wirtschaftswis- M tionaler Ebene zu den anerkann­testen Ökono- senschaftlichen Diskussion zu finden, als

men gehört. Auch durch die Reorganisation und ƒƒ in international renommierten wissenschaft- Stärkung des ifo Instituts hat er sein Ziel erreicht, lichen Zeitschriften präsent zu sein, inn die wirtschaftswissenschaftliche Diskussion aus S ƒƒ in der wirtschaftswissenschaftlichen und wirt­ Deutschland heraus auch international zur schaftspolitischen Diskussion öffentlich über- ­Geltung zu bringen und große Resonanz in der erner

zeugend mitzuwirken. -W wirtschaftspolitischen Diskussion zu erzielen.

Professor Sinn erhielt von mir die uneinge- Ein Beispiel unter vielen ist der jährliche Mu­ ans H schränkte Unterstützung in all diesen Punkten ­nich Economic Summit, den CESifo gemein- : und übernahm bei ifo den Chefposten – eine sam mit der BMW Stiftung Herbert Quandt Entscheidung, die ich nie bereuen musste, son- seit 14 Jahren mit renommierter internationa- dern die alle meine Erwartungen mehr als er- ler Besetzung aus Wissenschaft, Politik und rofession füllte. Wirtschaft durchführt und der den großen eu- P

Es ist nicht meine Sache, die außerordentlich ropäischen Fragen gewidmet ist. Für mich ist es der erfolgreiche Reorganisation und Aufbauarbeit ein Glücksfall, dass Hans-Werner Sinn 1999 beim ifo unter seiner Leitung seit 1999 im Ein- das Präsidentenamt bei ifo angetreten hat. ienste

zelnen zu schildern. Für mich waren schlagen- Herzlichen Dank und alle guten Wünsche D m de Ergebnisse : für die Zukunft ! I

261 Robert Haveman INSTITUTIONELLER WANDEL UND DIE UNWIDERSTEHLICHE KRAFT

Robert Haveman ist John Bascom Emeritus Professor of Economics and Public Affairs, University of Wisconsin-Madison (USA) und For- schungsprofessor am ifo Institut. Er war Präsident des Interna­tional Institute of Public Finance und Vorsitzender des Wissenschaft­ lichen Beirats des ifo Instituts.

Nur selten ist man in der Lage, aus unmittel­barer und Daten zu versorgen. Sein Status war sei- Nähe den radikalen Wandel einer wichtigen In- nerzeit von einem Forschungsinstitut in eine stitution beobachten zu können. Ich hatte die- forschungsbasierte Serviceeinrichtung herab- ses Privileg. Es begann im akademischen Jahr gestuft und die staatliche Förderung stark ge- 1998 – 1999, als ich zusammen mit meiner Frau kürzt worden. und Kollegin Barbara Wolfe eingeladen wurde, Für das damalige ifo-System war die Ernen- ein paar Monate als Gast am Center for Econo- nung von Hans-Werner zum Präsidenten ein mic Studies (CES) zu verbringen. Das CES ist ein Schock, ein klassisches Beispiel dafür, wie ein von Hans-Werner Sinn gegründetes und gelei­ festgefahrenes Objekt durch eine unwidersteh- tetes Institut der Universität München (LMU), liche Kraft in Schwung gebracht wird. das dazu dient, Wissenschaftler aus ­aller Welt Eine der ersten Amtshandlungen Hans- miteinander ins Gespräch zu bringen. Werners war die Etablierung einer Reihe von Während dieses Besuchs wurde bekannt, Lunchtime-Seminaren, um dort Forschungs­ dass Hans-Werner zum Präsidenten des ifo In- ergebnisse vortragen und diskutieren zu lassen. stituts ernannt worden war. Dass er dieses Amt Barbara Wolfe und ich wurden eingeladen, den angenommen hatte, war eine Überraschung. Eröffnungsvortrag im »neuen ifo« zu halten. rofession

P Denn das ifo war damals beileibe nicht dafür Wir haben damals über unsere Forschung über

der bekannt, eine universitätsnahe, wissenschaft- die Auswirkungen von Clintons Sozialgesetz-

lich ausgerichtete Forschungseinrichtung zu gebungsreform (1996) auf Arbeit und Wohl­ sein. Es war ein großes und altbacken arbeiten- ergehen vorgetragen. Der große Raum war ge- ienste

D des Institut, das seinen Auftrag darin sah, Re- füllt mit den damaligen ifo-Beschäftigten; m I gierungen und die Wirtschaft mit Gutachten nicht gerade jung und mit einem gewissen bü-

262 rokratischen Habitus. Anders als in Univer­ Der Auftrag des ifo Instituts, Unternehmens- sitätsseminaren wurden kaum Fragen gestellt, daten zu erheben und die Ergebnisse der Öffent- und es kam zu keiner inhaltlichen Debatte – lichkeit mitzuteilen, wird mit Hilfe ­moderner abgesehen von den Fragen, die Hans-Werner Methoden durchgeführt, und die Produkte die- selbst in den Raum stellte. Mein Hauptgedanke ser Anstrengungen werden heute weltweit be- war : »Weiß dieser Mann, was er sich damit an- kannt gemacht. Der prominente ifo-Geschäfts- tut ?« Aber das war eindeutig die falsche Frage; klimaindex ist ein Konjunkturfrühindikator, sie hätte lauten sollen : »Wissen die Leute, was der State-of-the-art-Methoden widerspiegelt. mit ihnen geschieht ?« Nun, das war vor 16 Jah- Die Database for Institutional Comparisons in ren. Seitdem wurde das ifo Institut zu einem Europe (DICE) bietet länder­übergreifende Ver- einzigartigen und hochwertigen Wirtschafts- gleiche mit systematischen Informationen über forschungsinstitut transformiert. Institutionen und Regu­lierungen. Seit dem Jahr 2000 habe ich als Gastforscher So bekannt das ifo Institut für seine wissen- und Forschungsprofessor und auch als Mit- schaftlichen Arbeiten ist : Die meisten dieser glied und Vorsitzender des Wissenschaftlichen Studien haben ihren Ursprung im laufenden Beirats des ifo Instituts aus erster Hand erlebt, politischen Diskurs in Deutschland und Euro- wie das Institut zunächst umstrukturiert und pa. Sie sind bemerkenswerte Beispiele, wie die teilweise abgewickelt wurde, um später wieder neuesten theoretischen Erkenntnisse und em- zu wachsen. Seitdem entwickelte ifo eine strikte pirischen Methoden der Volkswirtschaftslehre

Forschungsorientierung und enge Verbindun- Politik beleuchten und anleiten können. Gleich- andels W gen zu zahlreichen in- und ausländischen For- zeitig beteiligen sich die ifo-Mitarbeiter regel- des

schungsinstitutionen, und es kehrte Schritt für mäßig an der öffentlichen Debatte. Insoweit Schritt zurück in den angestrebten Status einer bildet das ifo Institut eine hervorragende Brü-

Leibniz-Forschungseinrichtung. Es wuchs in cke zwischen akademischer Forschung und öf- otor die Position als eine der renommiertesten For- fentlicher Politikdebatte. M als schungseinrichtungen in Deutschland und ei- Schließlich hat ifo einen wichtigen Ausbil- nes der führenden ökonomischen Think Tanks dungsauftrag : Sein Graduiertenprogramm um­ inn in Europa hinein. fasst mehr als 40 Doktoranden und bietet S Unter Hans-Werners Führung wurden acht ­ihnen ein Umfeld, das ihnen das Schreiben he-

Forschungsbereiche etabliert, die jeweils von rausragender Dissertationen und die Präsenta- erner einem anerkannten und aufstrebenden Be- tion von Forschungsergebnissen auf der inter- -W reichsleiter geführt werden, der einen Lehr- nationalen Bühne ermöglicht. ans H stuhl an der LMU hat und das Prestige eines Heute leistet ifo in Forschung, Politikbera- : Universitätsprofessors genießt. Jeder ifo-For- tung und Doktorandenausbildung Herausra- schungsbereich ist ausgerichtet auf angewand- gendes. Während des radikalen institutionellen te, politikorientierte Wirtschaftsforschung. Die Wandels war die Zusammenarbeit zwischen rofession ifo-Wissenschaftler veröffentlichen ihre Arbei- dem Wissenschaftlichen Beirat sowohl mit P

ten regelmäßig in führenden internationalen dem ifo-Vorstand als auch den Leitern der For- der

Fachzeitschriften. Die ifo-Forscher produzie- schungsbereiche höchst produktiv. Der Bei- ren mehr wissenschaftliche Publikationen als trag, den Hans-Werner zur Transformation des ienste

irgendeine andere wirtschaftswissenschaftliche ifo geleistet hat, gehört ganz oben auf die Liste D m Forschungseinrichtung in Deutschland. seiner Lebensleistungen. I

263 Wilhelm Simson EIN TURNAROUND OHNEGLEICHEN

Wilhelm Simson ist ehemaliger Vorstandvorsitzender der EON SE und Altpräsident des Verbands der Chemischen Industrie. Als Vorsitzender des Verwaltungsrats und des Kuratoriums des ifo Insti- tuts in den Jahren 2001 bis 2010 begleitete er ifo in der Phase des Umbruchs.

Als ich mich auf Bitte der ifo-Organe bereit er- Als Hans-Werner Sinn und ich uns im Jahr klärte, im Verwaltungsrat des ifo Instituts mit- 2001 zum ersten Mal trafen, erklärte ich ihm : zuwirken und dessen Vorsitz im Jahr 2001 zu Als Chemiker hätte ich nur begrenzte Kennt- übernehmen, ahnte ich nicht, dass ich Gele- nisse von Betriebswirtschaft. Macht nichts, genheit haben würde, einen der spannendsten sagte Sinn, denn im ifo gehe es allein um die und erfolgreichsten Turnarounds der deut- Volkswirtschaft. Dieser kurze Satz war Pro- schen Forschungsgeschichte mitzugestalten. gramm und sein persönliches Credo – und die Zuvor war das Institut in einer Evaluierung erste wichtige Information für mich als Vor­ durch den Wissenschaftsrat (1996 – 1998) außer­ sitzenden des Verwaltungsrats. ordentlich kritisch bewertet worden, weil es Es folgte in den nächsten zehn Jahren eine sich unter dem früheren Vorstand trotz früher schier unglaubliche Erfolgsgeschichte. Existen- Warnungen des Wissenschaftsrats (1982) zu tiell wichtig war, dass die durch die Wirren der weit von der Wissenschaft entfernt hatte. Eine Evaluierung bis an die Grenzen der Insolvenz Schließung des Instituts konnte nur zum Preis strapazierten Finanzen schon Ende 2002 sa- der Umwandlung in eine Serviceeinrichtung – niert waren. Und dann gewann auch die Neu- verbunden mit einer drastischen Kürzung der ausrichtung des Instituts an Fahrt. Dazu war rofession

P institutionellen Förderung – abgewendet wer- es nötig, eingefahrene Gleise zu verlassen. Auf

der den. In dieser Situation übernahm der neue der Grundlage einer ambitionierten Vision

Vorstand unter Leitung von Hans-Werner Sinn wurden die Aufgaben und Ziele neu definiert. das Ruder mit der Marschorder, es an die Spitze Die Struktur des Instituts wurde reformiert ienste

D der deutschen Wirtschaftsforschungsinstitute und die Abläufe umgekrempelt, um das Institut m I zu führen. effizient zu managen und möglichst viele Mittel

264 in die Forschung stecken zu können. Die unter- lichkeit. Die Bereitstellung der Wirtschafts­ schiedlichsten Herausforderungen – Abbruch, daten – hier besonders der renommierte ifo Umbau, Forschungsoutput, Akquisition attrak- Geschäftsklimaindex – sowie Seminare und tiver Drittmittelprojekte, Beiträge zur Politik- Vorträge mit eigenen und externen Wirt- beratung, Heranbildung des wissenschaftlichen schaftswissenschaftlern machten das Institut Nachwuchses, Service . . . – mussten in einem zu einer festen Größe im öffentlichen Bewusst- Konzept vernetzt werden. Es gab Diskussionen sein. Dazu kamen Statements von Hans-Wer- im Verwaltungsrat, wie das alles zu schaffen ner Sinn in Nachrichtensendungen und Talk- sei. Das betraf auch den Abbau von weit mehr shows, in denen er seine unglaubliche Fähigkeit, als 100 Beschäftigten von 260 (1996) auf unter komplexe wirtschaftliche Zusammenhänge in 150 Beschäftigte (2002), der dringend geboten prägnanter Form dazustellen, voll zur Geltung und ein entscheidender Baustein war, die fi- bringen konnte. Seine Bucherfolge über bren- nanzielle Sanierung in Rekordzeit meistern nende Themen machten ihn zu einem Erfolgs- und schon bald danach wieder junge, ehrgei­ autor. Es ist ihm immer wieder gelungen, zige Nachwuchskräfte einstellen zu können. ­wichtige öffentliche Debatten zu verschiede- Die Verhandlungen mit dem Betriebsrat waren nen Themen anzustoßen. schwierig, führten aber im Ergebnis zum Er- Waren die ersten fünf Jahre meiner Tätigkeit folg. im Verwaltungsrat von diesen Themen domi- Die Vision eines »internationalen Zentrums niert, so rückte in den nächsten sieben Jahren

moderner politikorientierter, wirtschaftswis- mehr und mehr die Rückumwandlung zum andels W senschaftlicher Forschung und wissenschaft- Forschungsinstitut in den Vordergrund. Ein des

lich basierter Politikberatung« wurde Schritt erstes Etappenziel war erreicht, als der Senat für Schritt umgesetzt. Ein zentrales Hilfsmittel, der Leibniz-Gemeinschaft die gesamten ifo- die abgeschmolzenen Forschungskapazitäten Leistungen sehr positiv bewertete und gleich- otor wieder aufzustocken, war eine umfangreiche zeitig ankündigte, im Jahr 2009 über die Rück- M als

Drittmittelforschung, die half, die finanzielle stufung des ifo zur Forschungseinrichtung zu Basis absichern und den jungen Wissenschaft- entscheiden, was dann auch geschah : Die Ge- inn lern Freiräume für Forschung einräumen zu meinsame Wissenschaftskonferenz beschloss, S können. Ein weiterer Baustein war die Inter­ das ifo ab 2010 wieder als Forschungseinrich- nationalisierung, zu der die Tochtergesellschaft tung zu fördern. Das ifo Institut hat nun – so erner CESifo GmbH mit dem Aufbau des interna­ der Leibniz-Senat – den Status eines führenden -W tionalen Forschernetzwerks entscheidend bei- ökonomischen Think Tanks in Europa, wozu ans H trug. Die mit Hilfe der neuen Organisation und man der kompletten Belegschaft gratulieren : Personalpolitik aufgebauten attraktiven Rah- muss. Bei dieser Entwicklung hatte Hans-Wer- menbedingungen für die Forschung und nicht ner Sinn in Meinhard Knoche einen großarti- zuletzt der Erfolg wirkten wie ein Magnet auf gen Mitstreiter, der ihm Managementaufgaben rofession junge hervorragende Wissenschaftler. Das ver- der Institutsleitung abnahm. Beide zusammen P

half dem Institut nicht nur zu einem hervor­ waren für mich das »Dream Team« des ifo Ins- der ragenden Forschungsoutput, sondern machte tituts. es auch zu einem Sprungbrett zur Berufung Dir, lieber Hans-Werner, wünsche ich einen ienste

von ifo-Forschern an angesehene Universtäten. bestimmt unruhigen, aber mit mehr Zeit für D m Die nächste Stoßrichtung betraf die Öffent- Familie und Hobbys erfüllenden Ruhestand. I

265 Günter Verheugen DIE EICHE IM WALD DER ÖKONOMIE

Günter Verheugen, von 1999 bis 2010 EU-Kommissionsmitglied und von 2007 bis 2010 Europäischer Covorsitzender des Transatlanti- schen Wirtschaftsrates, lehrt an der Europa-Universität Viadrina zu Fragen der europäischen Integ- ration und leitet das Carl Friedrich Goerdeler-Kolleg für Good Govern­ ance.

Heinrich Heine beschreibt im Wintermärchen alle Politiker (und wohl auch Wissenschaftler) in einer für ihn erstaunlich liebenswürdigen empfanden Sinns Befunde immer als hilfreich. Weise die Westfalen als sentimentale Eichen. Ihm ergeht es da ähnlich wie dem Papst. Wenn Nun, Heine kannte Hans-Werner Sinn nicht. er etwas sagt, was einem in den Kram passt, Westfale ist er, eine trutzige Eiche im deutschen dann beruft man sich gerne auf ihn. Wenn er Ökonomen-Wald ist er auch, aber sentimen- aber etwas sagt, was einem ganz und gar gegen tal – nein, das kann man von Hans-Werner den Strich geht, dann heißt es, er solle sich ge- Sinn wirklich nicht sagen. Was er für richtig er- fälligst heraushalten. kannt hat, das sagt er ohne Schnörkel und ohne Ich weiß nicht mehr ganz genau, wann mir jede Rücksicht auf Freund und Feind. Der El- Hans-Werner Sinn zum ersten Mal aufgefallen fenbeinturm der reinen Wissenschaft ist jeden- ist, aber ich hatte schon, bevor wir uns kennen falls sein Zuhause nicht. gelernt haben, das Gefühl, auf eine neue Spe­ Ich bin nicht berufen, die wissenschaftliche zies gestoßen zu sein. Ein Wirtschaftswissen- Leistung von Hans-Werner Sinn zu würdigen. schaftler, der eine verständliche Sprache spricht, Was ich vielleicht beurteilen kann, ist die Wir- der sich nicht hinter einem Wall von Konjunk- kung, die er auf die deutsche und internatio­ tiven versteckt, sondern, um es in der Politiker- rofession

P nale Öffentlichkeit hat. Mir ist in Europa kein sprache zu sagen, »klare Kante« zeigt – das

der zweiter Nationalökonom gegenwärtig, der auch empfand ich als neu.

nur annähernd so viele politische Anstöße ge- Es ist inzwischen eine ganze Kohorte von liefert hat wie Hans-Werner Sinn. Das Wort Ökonomen in die Fußstapfen von Hans-Wer- ienste

D »Anstöße« ist bewusst gewählt, und die Asso­ ner Sinn getreten, und es tut der Zunft nicht m I ziation mit »anstößig« durchaus gewollt. Nicht gut, dass man jetzt für jede gewünschte Posi­

266 tion »seinen« Ökonomen finden kann, der das Was die Eurokrise angeht, über die ich in bestätigt, was man gerne hören möchte. Aber vielen Fernsehsendungen und öffentlichen ich denke, dass keiner an das Original heran- Veranstaltungen mit Hans-Werner Sinn disku- reicht. In der wirtschafts- und gesellschaftspo- tiert habe, so teile ich seine Analyse weitge- litischen Debatte in Deutschland und Europa hend. Die Währungsunion hatte von Anfang ist die Stimme von Hans-Werner Sinn unver- an einen schweren Konstruktionsfehler. Der wechselbar. Wirtschaftspolitik ist schon lange Glaube an den Stabilitäts- und Wirtschaftspakt keine arkane Disziplin mehr. Wer in der Poli- war bestenfalls blauäugig. Man mag sagen, dass tik die ökonomischen Zusammenhänge nicht das große politische Ziel wichtiger und dass ­begreift, ist schon verloren. Mir scheint, dass ­etwas Besseres nicht zu haben war. Dass alle Hans-Werner Sinn über seinen Fachbereich europäischen Finanzminister und die Fach­ ­hinaus einen herausragenden Beitrag für die leute der EU-Kommission den abschüssigen Weiterentwicklung des politischen Diskurses Pfad, auf den wir uns begeben hatten, schlicht geleistet hat. Dazu gehört auch, dass er zwar ignoriert haben – das ist ein großes Versagen. bestimmt und konsequent auftritt, aber nicht Und auch wenn es schmerzhaft ist : Die Diag- besserwisserisch, herablassend oder intolerant. nose von Hans-Werner Sinn ist nicht nachträg- Man kann gut mit ihm diskutieren. Er hört zu, liche Rechthaberei, sondern ein Signal für die nimmt die Argumente seines Gegenübers ernst Zukunft. und ist durchaus bereit, anderen Auffassungen Hans-Werner Sinn ist uneingeschränkt für

ihre Berechtigung zu lassen. das europäische Projekt. Die EU-Gegner kön- andels W In den letzten Jahren, in Zeiten der Krise, die nen ihn nicht zu den Ihren zählen. Man ist aber des

Europa zu verschlingen droht, ist Hans-Wer- nicht europafeindlich, wenn man Fehler und ner Sinn zu erstaunlicher Popularität und Be- Versäumnisse in der Realisierung des euro­ kanntheit gelangt. Er hat die Debatte über die päischen Integrationsmodells klar benennt. otor Eurokrise in ungewöhnlicher Weise bestimmt. Für das, was die Europäische Union jetzt zu tun M als

Ich bin da nicht in allem seiner Meinung, vor hat, wird die Stimme von Hans-Werner Sinn allem wenn es um die sozialen Auswirkungen wichtig bleiben. inn strikt ordnungspolitischer Positionen geht. Wir leben in einer Zeit, in der es uns allen S Aber ich muss der Fairness halber hinzufügen, zunehmend schwerfällt, eine klare Orientie- dass Hans-Werner Sinn für sich niemals in rung zu behalten. Da ist es gut, wenn es Leucht- erner ­Anspruch genommen hat, der bessere Politiker türme gibt, deren Signale unmissverständlich -W zu sein. Auch wenn viele es versucht haben, er sind. Hans-Werner Sinn hat seine Disziplin zu ans H lässt sich nicht vereinnahmen. Das ist vermut- einem solchen Leuchtturm gemacht. Müssen : lich einer der Gründe dafür, weshalb er heute jetzt nur noch die Steuerleute dem Signal fol- unangefochten als der einflussreichste deut- gen ? sche Ökonom gilt. Ja, wenn man das wüsste . . . rofession P der

ienste D m I

267 Monika Schnitzer HANS-WERNER SINN UND SEIN BEITRAG ZUR INTERNATIONALISIERUNG DES FORSCHUNGSSTANDORTS DEUTSCHLAND

Monika Schnitzer hat den Lehr- stuhl für Komparative Wirtschafts- forschung an der LMU inne. Sie ist Mitglied der Bayerischen Aka­ demie der Wissenschaften, des ­Wissenschaftlichen Beirats beim BMWi und der Expertenkommis­ sion Forschung und Innovation. Seit 2015 ist sie Vorsitzende des Vereins für Socialpolitik.

Vier Jahre lang hat Hans-Werner Sinn als Vor- Mehrzahl der deutschen Forscher eher die sitzender den traditionsreichen Verein für So- Ausnahme denn die Regel. Fragte man Kolle- cialpolitik geführt und geprägt, von 1997 bis gen in den USA, welche deutschen Ökonomen 2000. Wie alle seine Aufgaben ging Hans-Wer- und welche deutschen Fakultäten sie kennen ner Sinn auch dieses Amt mit dem Ziel an, würden, dann waren es nur wenige Namen und ­etwas zu bewegen und zum Besseren zu ver­ Standorte, die genannt wurden. ändern. Ich kann mich an viele Diskussionen Heute stellt sich die Situation ganz anders im Kollegenkreis darüber erinnern, wie denn dar : Inzwischen ist es unverzichtbar, in interna- der fast 125 Jahre alte Verein erfolgreich ins tionalen referierten Zeitschriften zu veröffent- 21. Jahrhundert zu führen wäre. Und wie so oft lichen, und immer mehr deutschen Forschern überzeugte Hans-Werner Sinn mit seiner Ana- gelingt es, mit ihren Arbeiten auch in den Top- lyse und seinen Ideen. Als besonders wichtig 5-Zeitschriften zu landen. Junge Deutsche pro- sah er die Aufgabe an, die Internationalisierung movieren im Ausland, immer mehr deutsche des Forschungsstandorts Deutschland voran- Nachwuchsforscher gehen auf den internatio- zutreiben. Um das zu verstehen, muss man nalen Jobmarkt und werden erfolgreiche Pro- sich zurückversetzen und vergegenwärtigen, fessoren an renommierten US-Departments. rofession

P wie sich die Situation für die deutsche Natio- Auf internationalen Konferenzen sind Forscher

der nalökonomie damals darstellte. aus Deutschland in großer Zahl vertreten.

Bis in die 1990er Jahre hinein war Deutsch- Dass Deutschland als Forschungsstandort land als Forschungsstandort für Ökonomie in- für Ökonomen inzwischen kein weißer Fleck ienste

D ternational wenig sichtbar. In internationalen auf der Landkarte mehr ist, dazu hat Hans- m I Zeitschriften zu veröffentlichen, das war für die Werner Sinn in vielfältiger Weise beigetragen :

268 durch die Gründung des CES und den Aufbau Hans-Werner Sinns Amtszeit als Vereinsvor­ des CESifo-Forschernetzwerks, aber eben auch sitzender fiel. Seit 1997 wird mit diesem Preis durch zahlreiche Neuerungen im Verein für jährlich ein(e) junge(r) Ökonom(in) unter 45 Socialpolitik, die großen Anteil daran hatten, Jahren aus dem deutschsprachigen Raum aus- den Verein zu öffnen und die deutschsprachi- gezeichnet, dessen/deren Forschung interna­ gen Ökonomen international sichtbarer zu tionale Anerkennung erfahren hat. Es sollte ­machen. Für seine besonderen Verdienste im also in besonderer Weise honoriert und sicht- Verein wurde ihm 2014 auf der Jahrestagung in bar gemacht werden, wenn junge Nachwuchs- Hamburg die erste Gustav-Schmoller-Medaille wissenschaftler mit ihrer Forschung interna­ verliehen, benannt nach einem der Gründer­ tional erfolgreich sind. väter des Vereins. In der offiziellen Würdigung Und auch die dritte große Neuerung in durch den Vorsitzenden Michael Burda hieß Hans-Werner Sinns Amtszeit zielte auf eine es : »Hans-Werner Sinn hat in seiner Zeit als stärkere Internationalisierung der deutsch- Vorsitzender (1997 – 2000) zentrale Neuerun- sprachigen Forschungslandschaft ab. Die Ver- gen im Verein für Socialpolitik eingeleitet. einszeitschrift war bis dato weitgehend in deut- Durch die Neuauflage der Vereinszeitschriften, scher Sprache gehalten, erst vereinzelt wurden die Einführung des innovativen Vortragsprä- auch Beiträge in Englisch veröffentlicht. Dass mienprogramms für Nachwuchswissenschaft- deutsche Forscher aber im Ausland nicht ge- ler und die Erstvergabe des Gossen-Preises hat hört werden, wenn sie nur auf Deutsch ver­

er dem Verein entscheidende Impulse gegeben, öffentlichen, das stand für Hans-Werner Sinn andels W die einen nachhaltigen Einfluss auf unsere Ge- außer Zweifel : »English is the lingua franca.« des

sellschaft haben werden.« Unter seiner Führung wurde die bisherige Ver- Hans-Werner Sinns Vision war es, gerade einszeitschrift abgelöst durch zwei neue Zeit- die jungen Nachwuchswissenschaftler fit für schriften, eine englischsprachige, die German otor den internationalen wissenschaftlichen Wett- Economic Review, die sich an die internatio­ M als bewerb zu machen. Junge deutschsprachige nale Forschergemeinschaft richtete, und eine Forscher sollten ermutigt werden, ihre For- deutschsprachige, die Perspektiven der Wirt- inn schung auf ­internationalen Konferenzen zu schaftspolitik, die ein Forum für die wirt­ S präsentieren und sich der internationalen schaftspolitische Debatte in Deutschland bie-

Fachdiskussion zu stellen. Dazu warb Hans- ten ­wollte. »The German Economic Review will erner Werner Sinn umfangreiche Mittel für ein be a bridge between German-speaking econo- -W

Vortragsprämien­programm speziell für junge mists and the international economic commu- ans H Nachwuchs­wissenschaftler ein. Dieses Pro- nity«, so Hans-Werner Sinn in seinem Vorwort : gramm, das seit inzwischen 18 Jahren interna­ zur ersten Ausgabe der German Economic Re- tionale Konferenzbeiträge mit einem Gesamt- view im Jahr 2000. fördervolumen von fast einer Million Euro Wenn sich junge Nachwuchswissenschaftler rofession unterstützt hat, trug wesentlich dazu bei, dass heute wundern, warum es einer solchen Brü- P

junge Nachwuchswissenschaftler aus dem cke bedarf, dann ist das der beste Beleg dafür, der deutschsprachigen Raum mittlerweile auf allen wie erfolgreich Hans-Werner Sinns Initiativen internationalen Konferenzen präsent sind. waren, um die deutschsprachigen Ökonomen ienste

Ähnlich motiviert war auch die Einführung stärker als zuvor in die internationale For- D m des Gossen-Preises, dessen erste Vergabe in schungslandschaft zu integrieren. I

269 Robin Boadway HANS-WERNER SINNS VERMÄCHTNIS FÜR RATIONALE WIRTSCHAFTSPOLITIK: DER AUFBAU VON FORSCHUNGSINSTITUTIONEN

Robin Boadway ist Emeritus der Queen’s University, Officer im ­Order of Canada, Fellow der Royal Society of Canada, Distinguished CES Fellow und Vorsitzender im Wissenschaftlichen Beirat des ifo Instituts. Er war Herausgeber des Journal of Public Economics und Präsident des IIPF.

Hans-Werner Sinn ist bekannt für seinen bei- nare Kernbestandteile der Doktorandenausbil- spielhaften Beitrag zu aktuellen wirtschaftspo- dung und des intellektuellen Austauschs an der litischen Debatten in Deutschland und Europa. Volkswirtschaftlichen Fakultät sind. Finanz- Doch ebenso wichtig ist sein Engagement bei wissenschaft war anfangs das zentrale For- der Entwicklung bedeutender Forschungsein- schungsgebiet des CES und bleibt weiterhin richtungen, die das Streben nach wissenschaft- seine Stärke, wenngleich es inzwischen auch licher Erkenntnis mit der Verbreitung fundier- auf anderen großen Feldern der Ökonomie ak- ter Ideen zur Gestaltung von Politik verbinden; tiv ist. Das Flaggschiff des CES sind die alljähr- sie sind eine Ausbildungsstätte für künftige Ge- lichen Munich Lectures, die von renommier- nerationen kritischer Wissenschaftler, die sich ten Wirtschaftswissenschaftlern gehalten und sowohl in der Forschung als auch in öffentli- als Buch von MIT Press veröffentlicht werden. chen Politikdebatten engagieren. Diese Institu- Sie haben sich als eine der führenden ökono- tionen spiegeln Hans-Werners eigene Kompe- mischen Vortragsreihen weltweit etabliert. tenzen und Werte wider. Als Hans-Werner im Jahr 1999 ifo-Präsident Hans-Werners Engagement bei der Entwick- wurde, hat sich die Dimension seiner Tätigkeit lung von Institutionen begann vor 25 Jahren, geradezu verdoppelt. Seine Führungsleistung rofession

P als er kurz nach Übernahme des Lehrstuhls für außergewöhnlich zu nennen wäre eine Unter-

der Finanzwissenschaft an der Ludwig-Maximi­ treibung. Hatte das ifo damals noch den Status

lians-Universität München (LMU) das Center einer Serviceeinrichtung, wurde es zügig in ein for Economic Studies (CES) gründete. Seitdem vollwertiges Leibniz-Forschungsinstitut umge- ienste

D beherbergt das CES einen nie abbrechenden wandelt, dessen Arbeit eng mit der Volkswirt- m I Strom von Gastwissenschaftlern, deren Semi- schaftlichen Fakultät verknüpft wurde. Dies ist

270 in hohem Maß auf Hans-Werners Engagement, Kooperation zwischen CES und ifo Institut ins- Talent und harte Arbeit zurückzuführen, nach titutionalisierte. Deren Kern ist das weltweite dessen Bild das ifo Institut gestaltet wurde. Netzwerk von Wissenschaftlern, die zunächst Es leistet fundierte empirische Wirtschaftsfor- als kurzfristige Gäste ans CES oder ifo kommen schung, um politische Debatten in Deutsch- und dann eine permanente Verbindung einge- land und über dessen Grenzen hinaus mit hen. Die internationale Reichweite des CESifo überzeugenden Argumenten und aus einem wurde gestärkt durch jährliche Konferenzen ideologiefreien Blickwinkel zu bereichern. For- der Netzwerk-Areas, die CESifo-Working-Pa- schung und Politikberatung des ifo sind da- per-Reihe und politikorientierte Publikationen von geleitet, was aus langfristiger Perspektive wie das CESifo Forum. Auf Hans-Werners Ini- für die Wirtschaft und den gesellschaftlichen tiative hin wurde CESifo Mitherausgeber der Fortschritt wichtig ist. Es legt Wert sowohl auf Zeitschrift Economic Policy, und er war maß- wissenschaftliche Publikationen in referierten geblich beteiligt an der Gründung der Zeit- internationalen Zeitschriften als auch auf poli- schrift German Economic Review durch den tikorientierte Bücher und Berichte. Verein für Socialpolitik. Zu Hans-Werners be- Ein wesentlicher Baustein für die Umwand- deutendsten Initiativen zählt, wie er seine Prä- lung in ein vollwertiges Forschungsinstitut sidentschaft des International Institute of Pub- ­waren die Berufungen herausragender For- lic Finance (IIPF) nutzte, um dessen Reputation schungsbereichsleiter, die gleichzeitig als Pro- als führender und ältester weltweiter Verbund

fessoren an der LMU tätig sind, sowie die der Finanzwissenschaftler zu stärken. Dank andels W ­Gewinnung junger Wissenschaftler, die ihre seines Einsatzes wurde das IIPF-Büro in das ifo des

Forschung für das Institut mit ihrer Promotion Institut verlagert. Die akademische Bedeutung oder Habilitation kombinieren. Die enge Ver- des IIPF wurde durch seine Verbindung mit knüpfung des ifo mit der LMU war und ist der der Zeitschrift International Tax und Public otor Schlüsselfaktor für die Gewinnung und Bin- Finance­ und durch die von IIPF und CESifo M als dung dieses hochqualifizierten Personals. So ­gemeinsam ausgerichtete Richard Musgrave stieg das ifo Institut schnell an die Spitze von Lecture erhöht. inn

Deutschlands Wirtschaftsforschungsinstituten Das Wirkungsspektrum dieser Institutio- S auf, und sein Einfluss erstreckte sich bald auf nen, die Hans-Werner aufbaute, ist breit. Deren

Europa und darüber hinaus. Hans-Werner war Beitrag zu den politischen Debatten in Europa erner mehr als nur ein Institutspräsident. Durch sei- wurde signifikant ausgeweitet, und ihre Be­ -W ne außergewöhnliche Forschungsleistung, vor deutung für die wissenschaftliche Förderung ans H allem in Form von Büchern, durch die Initi­ einer neuen Generation junger Ökonomen in : ierung neuer Forschungsfelder und durch die Deutschland und Europa kann nicht hoch ge- aktive Teilnahme an politischen Debatten in nug bewertet werden. Vielleicht am bedeut- den Medien war er Vorbild für die leitenden samsten ist, in welchem Ausmaß die interna­ rofession

Wissenschaftler wie auch für die Nachwuchs- tionale Ausstrahlung von CES, ifo Institut und P

wissenschaftler und prägte er den Ton im Ins­ CESifo die Zusammenarbeit unter jungen Wis- der titut. senschaftlern aus vielen Ländern angeregt hat. Die Symbiose aus akademischer und politik- Die Institutionen sind eine Hommage an ienste

orientierter Forschung wurde mit der Grün- Hans-Werners Energie und Weitblick. D m dung der CESifo GmbH verfestigt, die die enge I

271 Bert Losse ABTEILUNG ATTACKE: HANS-WERNER SINN UND SEINE GASTBEITRÄGE IN DER WIRTSCHAFTS­ WOCHE – EINE PERSÖNLICHE RÜCKSCHAU

Bert Losse ist Diplom-Volkswirt und stellvertretender Leiter des Politik-Ressorts der Wirtschafts­ Woche. Dort verantwortet er unter anderem die Heftstrecke »Der Volkswirt«. Vor seiner Tätigkeit bei der WirtschaftsWoche arbeitete er mehrere Jahre beim Magazin impulse.

Etwa alle vier Wochen, meistens donnerstags, gern etwas überfallartig, aber Sinn formuliert kommt es zwischen Hans-Werner Sinn und so, dass man seinen Gedankengängen auch der WirtschaftsWoche-Redaktion zu einem ohne VWL-Diplom folgen kann; die Thesen ­nahezu identischen Mailverkehr. Je nachdem, sind klar und kontrovers, die Unterfütterung wer zuerst an den Termin denkt, steht darin : mit Daten und eigenen Berechnungen ist stets »Lieber Herr Losse, was soll ich schreiben ? akkurat. Fragen zu Griechenland und der Eu- HWS« oder »Lieber Herr Professor Sinn, haben ropäischen Zentralbank (EZB) darf man ihm Sie schon eine Idee für Ihre Kolumne ?« Die an- auch zu Zeiten zusenden, zu denen andere schließende Diskussion ist kurz (Ökonomen längst im Bett liegen. Es kann passieren, dass würden sagen : effizient), und das Ergebnis lässt die Antwort um 0 :35 Uhr kommt. sich seit über zehn Jahren in der Wirtschafts- Mit wem hat sich Hans-Werner Sinn in den Woche nachlesen, aktuell in der Heftstrecke vergangenen Jahren nicht alles angelegt : An­ »Der Volkswirt«. gela Merkel teilte er in einem offenen Brief via Es ist für Journalisten ja so eine Sache mit WirtschaftsWoche mit : »Sie sollten aufpassen, Gastautoren, zumal solchen aus der Wissen- dass Sie nicht als Kanzlerin in die Geschichte schaft. Bisweilen ist das Redigieren kein Ver- eingehen, die Deutschlands Wohlstand ver- rofession

P gnügen, die Texte sind nicht selten langatmig spielt hat.« Er kritisierte in seiner Kolumne die

der und verschachtelt, und wenn man sie verein- Spartengewerkschaften und die Umweltpolitik,

facht, sind manche Autoren beleidigt. Bei HWS er geißelte den gesetzlichen Mindestlohn und gab und gibt es diese Probleme so gut wie nie. die Europäische Bankenunion, forderte die ienste

D Die Zusammenarbeit war stets angenehm und Pkw-Maut und eine Freihandelszone der EU m I konstruktiv. Gut, seine Texteinstiege kommen mit Russland, er rechnete aus, warum die Ab-

272 wrackprämie für Pkw der Volkswirtschaft lierte eine Replik auf die Replik, und im Poli­ schadet, und erklärt, warum das gesetzliche tikressort der WirtschaftsWoche brach leichte Rentenalter von 65 Jahren abgeschafft gehört. Nervosität angesichts der Frage aus, wie viel Mit Inbrunst und zum großen und anhalten- Reden und Gegenreden wohl noch folgen den Missfallen der Bundesregierung attackier- könnten. Aus anderen Ressorts kam die vor- te er die Rettungspolitik der EU im griechi- sichtige Rückfrage, ob das Thema Leistungs­ schen Dauerdrama (»Öffentliches Geld senkt bilanz auf dem Lesermarkt tatsächlich massen- den Reformdruck und verlängert den Schlend- tauglich sei. rian«) und die ordnungspolitische Rutschpar- Wer mit Hans-Werner Sinn zusammenar- tie der EZB, die für ihn »zur Bad Bank mu- beitet, muss nur drei Situationen fürchten. Ers- tiert«. Einmal widmete einen ganzen Text der tens : Der ifo-Server hakt, so dass Mails im Frage, ob man Griechenland vom Entwick- ­Nirvana landen (kommt selten vor). Zweitens : lungsstand her mit der Mongolei gleichsetzen Sinn hat sich mal wieder eine neue (kryptische) könne. Im Frühjahr 2011 eröffnete er eine De- E-Mail-Adresse zugelegt, weil die alte (ebenso batte, die die Wirtschaftspolitik bis heute be- kryptische) zu vielen Personen bekannt gewor- gleitet : die Frage der Target-Salden im Euro­ den ist und nun zu viel unerwünschte Post sei- päischen System der Zentralbanken. Nur über nen elektronischen Briefkasten verstopft. Und die Erbschaftsteuer und die Reformpläne des drittens : Man schreibt eine eilige Nachricht Bundesfinanzministers wollte er trotz Bitten und erhält diese Antwort : Dear sender, Prof.

der Redaktion partout nicht schreiben. Das Sinn reserves certain times during the year for andels W Thema sei ihm zu verworren. his research. Thus your mail will not be read. des

Auch Ökonomenkollegen geraten bisweilen Doch irgendwie erreichte man sich am Ende in den Fokus, und wie es scheint, streitet sich immer. Hans-Werner Sinn schrieb für uns aus

Hans-Werner Sinn besonders gern mit Marcel dem Urlaub auf Fuerteventura (über die Wirt- otor Fratzscher, dem Präsidenten des Deutschen schaftsaussichten für 2015), aus Italien (über M als

­Instituts für Wirtschaftsforschung, etwa über die Abhängigkeit von russischem Gas) und Anleihekäufe der Notenbank oder die Ursa- während einer Chinareise (über die Ein-Kind- inn chen des deutschen Exportüberschusses. Nach­ Politik). S dem Sinn geschrieben hatte, die Überschüsse Meine Lieblingsmail von Hans-Werner Sinn seien »Spiegelbild der milliardenschweren Ret- (er verzeihe mir an dieser Stelle die Abkehr von erner tungsmaßnahmen für Krisenländer, zu denen der journalistischen Verschwiegenheitspflicht) -W

Deutschland gedrängt wurde«, und es sei »fins- ist die Folgende : »Lieber Herr Losse, worüber ans H terste Winkelakrobatik, wenn man Deutsch- soll ich schreiben ? Über das Wetter ? Oder über : land vorwirft, es sei bei den Rettungsaktionen das Klima ? Gar das Wirtschaftsklima ? Oder zu knausrig, und ihm andererseits seine gro- über die Ferien, die wir alle dringend benöti- ßen Exportüberschüsse anlastet«, schickte uns gen ?« rofession

Marcel Fratzscher eine kritische Replik. Die Gar keine schlechte Idee. Ich bin sicher : Auch P

Reaktion aus München nach deren Veröffentli- dazu würde ihm etwas Sinnvolles einfallen. der chung kam prompt : Hans-Werner Sinn formu- ienste D m I

273 Ulrich Wilhelm DAS HAT ER SICH VERDIENT – ÜBER DIE MEDIENMARKE HANS-WERNER SINN

Ulrich Wilhelm, Journalist und Jurist, ist seit 2011 Intendant des Bayerischen Rundfunks und seit 2013 Mitglied im Executive Board der Europäischen Rundfunkunion (EBU). Von 2005 bis 2010 war er Chef des Presse- und Informa­ tionsamtes der Bundesregierung sowie Regierungssprecher.

Für viele Journalisten ist Hans-Werner Sinn für eine kapitalgedeckte Zusatzrente – nicht ein »Medienstar«. Ein vergiftetes Lob ? Je mehr unbedingt zur Freude des damaligen Bundes- Sendeplätze und Kolumnen einer füllt, desto arbeitsministers Norbert Blüm. argwöhnischer wird gefragt : Ist diese Medien- 2003 veröffentlicht er seinen Bestseller Ist präsenz wirklich gerechtfertigt, stehen dahin- Deutschland noch zu retten? – ein Buch, mit ter auch gute und substanzielle Gedanken ? Bei dem er die Debatte um Gerhard Schröders Hans-Werner Sinn wird das wohl niemand be- Agenda 2010 anfeuert, auch wenn dieser später streiten können. Kaum ein deutscher Ökonom einmal über ihn sagen wird : »Dieser Herr hat es geschafft, so zu einem Meister des Agen- Sinn – oder heißt er Unsinn ?« Dabei lässt sich da Settings zu werden wie Hans-Werner Sinn – Hans-Werner Sinn keiner politischen Couleur dank einer klaren Haltung und sicher auch zuordnen oder »unterordnen«, wie er sagen dank des Umstandes, zur richtigen Zeit mit würde, er sieht sich als Mitglied der »Wissen- den richtigen Inhalten am richtigen Ort gewe- schaftspartei«. sen zu sein. Wahrgenommen wird, wer Gelegenheiten Zusammen mit seiner Frau Gerlinde be- beim Schopfe packt. Historische Zäsuren sind schreibt und kritisiert er 1991 in dem Buch dafür ein gutes Umfeld. Der Fall der Mauer rofession

P Kaltstart die wirtschaftliche Gestaltung der brachte eine Neuausrichtung des Medieninter-

der Wiedervereinigung. Wenige Jahre später gibt esses. Die Politik wurde ökonomischer, die Be-

er wesentliche Impulse für die Entwicklung richterstattung ebenfalls. Das »Gleichgewicht der »Riester-Rente« : In einem Gutachten des des Schreckens« war der Aufmacher von ges- ienste

D Wissenschaftlichen Beirats beim Bundeswirt- tern, die »Globalisierung« wurde zur neuen m I schaftsministerium formuliert er Eckpunkte Headline. Hans-Werner Sinns akademische

274 Entwicklung und die relevanten Fragen dieser All das ohne großen Pressestab und Ghost­ Zeit – sie laufen synchron. writer. Der einzige Luxus, den er sich gönnt : Zur richtigen Zeit mit passendem Profil am Ab und zu nimmt er sich eine Auszeit, um in richtigen Ort – das ist eine fraglos notwendige, Ruhe ein Buch zu Ende zu schreiben. aber sicher nicht hinreichende Bedingung für Das Handelsblatt kann ihn in einer Titelge- Hans-Werner Sinns Medienerfolg. Ein Erfolg, schichte als »Falschen Propheten« brandmar- der kam, weil Wissenschaft für ihn nicht Selbst- ken – und freut sich doch weiterhin über seine zweck ist. »In der Universität hat man doch engagierten Meinungsartikel. Selbstverständ- ­einiges zu sagen, und ich möchte, dass das ge- lich, unverdrossen, und warum auch nicht ? hört wird« – mit diesem wissenschaftlichen Hans-Werner Sinn hat sich auf diese Spielre- Selbstbewusstsein tritt Sinn auf. Und das ver- geln eingestellt. Selbstironie gehört auch dazu. ständlich und, wenn gewünscht, auch in 30 Se- Alle kennen seinen markanten Bart, weshalb kunden. Bei ihm wird in deutscher Sprache die taz aus ihm schon mal »Käpt’n Ahab im ifo« ­lebendig, was sonst vor allem angelsächsischen machte. Seitdem ziert der Artikel, eingerahmt Ökonomen zugeschrieben wird. Die renom- zwischen akademischen Würden, den Flur des mierte britische Zeitung The Independent wähl- ifo Instituts – aufgehängt vom Chef persönlich. te ihn vor diesem Hintergrund 2011 zu den Medienverstand mal Tempo plus Inhaltstiefe »Ten People Who Changed The World«, vor hoch Fleiß – mit dieser Formel ist der Ökonom ­allem wegen seiner erhellenden Analysen der Sinn zur Medienmarke geworden. Mit hand-

Finanzkrise. Einem so technisch klingenden werklichem Geschick, Mut zur Meinung und andels W Begriff wie »Target-Salden« wird durch ihn Le- fachlicher Brillanz. Dieses rare Angebot wird des

ben eingehaucht. auch weiterhin auf starke Nachfrage treffen. All das zeigt : Hans-Werner Sinn hat das Denn Hans-Werner Sinn liebt den Dialog mit

­zentrale Themenfeld Wirtschaft mit den ­Be der Öffentlichkeit. Als Ökonom weiß er : Auf- otor dürfnissen der Medienöffentlichkeit versöhnt. merksamkeit ist eines der knappen Güter un­ M als

Selbst die immer anspruchsvolleren Rhythmen serer Zeit. Wir schenken sie ihm, er schenkt sie der Medienwelt bewältigt er in einem atem­ uns. Ob er sie verdient hat, mag sein Publikum inn beraubenden Pensum. Er steht in- und auslän- entscheiden. Dass er sie sich verdient hat, ist S dischen Reportern zur Verfügung, gibt Radio- ­gewiss. interviews und bezieht in Talkshows Position. erner -W ans H : rofession P der

ienste D m I

275 HWS und der ehemalige bayeri- sche Wirtschaftsminister Otto Wiesheu bei der 60-Jahr-Feier des ifo Instituts im Juni 2009.

Meinhard Knoche, Wilhelm ­Simson – seinerzeit ifo-Ver­ waltungsratsvorsitzender – und HWS in der Jahresversammlung des ifo Instituts 2010.

Koryphäen der Volkswirtschafts- lehre bei HWS’ Geburtstagskon­ ferenz im April 2008: ( von links nach rechts ) Peter Birch Sørensen, Sir James Mirrlees, Monika ­Schnitzer, Assaf Razin, John D. Wilson und Michael Keen.

276 Nobelpreisträger Robert Solow und HWS bei der CESifo Economic Studies Konferenz »What’s Wrong with Modern Macro­ economics?« 2009.

»Griechen zwangsgerettet – ­Europa gespaltet?« ( von links nach rechts ) Michalis Pantalouris, ­, Günter Verheugen, HWS und Silvia Wadhwa, bei Maybrit Illner am 16. Juli 2015.

Professorenkollegen und gute Freunde: Pierre Pestieau, ­Robin Boadway und HWS im Juni 2009 am Rande der Richard ­Musgrave Lecture in München.

277

ANHANG BILDNACHWEISE

Sämtliche Autorenporträts wurden von den jewei­ KAPITEL 2 ligen Autoren zum Zwecke der Veröffentlichung in diesem Buch zur Verfügung gestellt. Die Bildrechte Autorenporträts: liegen bei den Autoren, sofern es nicht anders S. 52 Alessandra Schellnegger angegeben wird. S. 62 Tristan Rösler Photography S. 64 Deutscher Bundestag/ Stella von Saldern VORWORT Fotos zur Zeitgeschichte: Fotos zur Zeitgeschichte: S. 68 oben ifo, 10.11.1999 S. 12 oben Romy Bonitz, 22.10.2008 S. 68 Mitte Romy Bonitz, 04.02.2014 S. 12 Mitte Romy Bonitz, 12.06.2015 S. 68 unten Romy Bonitz, 11.10.2007 S. 12 unten Kinga Bien, 22.06.2004 S. 69 oben Romy Bonitz, 28.09.2015 S. 13 oben Romy Bonitz, 29.06.2006 S. 69 Mitte Romy Bonitz, 13.07.2013 S. 13 Mitte dpa, 17.10.2014 S. 69 unten Klaus-Reiner Klebe, 02.05.2003 S. 13 unten Falk Heller/argum, 07.05.2002

KAPITEL 3 KAPITEL 1 Autorenporträts: Autorenporträts: S. 84 Jan Voth S. 16 Barbara Hartmann S. 22 Erzbischöfliches Ordinariat Fotos zur Zeitgeschichte: München (Fotograf : Klaus D. Wolf) S. 90 oben Romy Bonitz, 28.06.2010 S.0 3 Xinwei Zhang, zuerst veröffentlicht S. 90 Mitte Hilmar Jönke, 06.11.2001 im International Talent Magazine S. 90 unten Renate Meitner, 04.07.2014 (China) S. 91 oben Klaus-Reiner Klebe, 02.05.2003 S. 41 Reto Klar S. 91 Mitte Ulf Huber, 21.06.1999 S. 91 unten Klaus-Reiner Klebe, 05.05.2006 Fotos zur Zeitgeschichte: S. 44 oben Lorenz Böck, 25.04.2008 S. 44 Mitte Markus Siebler, 20.11.2013 KAPITEL 4 S. 44 unten dpa, 20.04.2009 S. 45 oben Romy Bonitz, 22.04.2009 Fotos zur Zeitgeschichte: S. 45 Mitte dpa – Bildarchiv, 18.02.2004 S. 112 oben Kinga Bien, 24.11.2004 S. 45 unten Andrea Rapl, 05.08.2008 S. 112 Mitte Romy Bonitz, 24.01.2006 S. 112 unten Romy Bonitz, 29.06.2007 S. 113 oben Kinga Bien, 22.06.2004 S. 113 Mitte Romy Bonitz, 25.10.2010 S. 113 unten Romy Bonitz, 12.06.2015 nhang A

280 KAPITEL 5 Fotos zur Zeitgeschichte: S. 218 oben Ulf Huber, 21.06.1999 Fotos zur Zeitgeschichte: S. 218 Mitte Lorenz Böck, 21.05.2015 S. 138 oben Lorenz Böck, 21.05.2015 S. 218 unten Romy Bonitz, 28.06.2006 S. 138 Mitte Romy Bonitz, 04.02.2013 S. 219 oben Romy Bonitz, 14.06.2013 S. 138 unten Romy Bonitz, 25.10.2012 S. 219 Mitte Romy Bonitz, 14.06.2013 S. 139 oben Lorenz Böck, 21.05.2015 S. 219 unten Romy Bonitz, 26.06.2013 S. 139 Mitte CES, 1992/93 S. 139 unten Romy Bonitz, 17.04.2008 KAPITEL 9

KAPITEL 6 Autorenporträts: S. 230 Jörg Carstensen/dpa Autorenporträts: S. 240 Stefan Brending S. 148 Julica Bracht/RWI S. 156 Laurence Chaperon Fotos zur Zeitgeschichte: S. 244 oben Leonhard Lenz, 06.06.2008 Fotos zur Zeitgeschichte: S. 244 Mitte Hilmar Jönke, 25.11.2013 S. 160 oben Leonhard Lenz, 06.06.2009 S. 244 unten Romy Bonitz, 26.04.2008 S. 160 Mitte Hilmar Jönke, 19.11.2002 S. 245 oben Romy Bonitz, 10.10.2007 S. 160 unten Romy Bonitz, 13.05.2015 S. 245 Mitte Lorenz Böck, 20.05.2011 S. 161 oben Markus Zimmer, 19.11.2014 S. 245 unten Klaus-Rainer Klebe, 04.05.2006 S. 161 Mitte Romy Bonitz, 12.06.2015 S. 161 unten Romy Bonitz, 20.01.2010 KAPITEL 10

KAPITEL 7 Foto im Beitrag von Ulrich Wilhelm: S. 275 Romy Bonitz, 29.06.2006 Autorenporträts: S. 168 Laurence Chaperon Fotos zur Zeitgeschichte: S. 170 Frank Rumpenhorst/Bundesbank S. 276 oben Romy Bonitz, 23.06.2009 S. 176 David Ausserhofer S. 276 Mitte Romy Bonitz, 28.06.2010 S. 276 unten Lorenz Böck, 25.04.2008 Fotos zur Zeitgeschichte: S. 277 oben Romy Bonitz, 06.11.2009 S. 184 oben Lorenz Böck, 29.04.2010 S. 277 Mitte dpa, 16.07.2015 S. 184 Mitte Andrea Rapl, 05.08.2008 S. 277 unten Romy Bonitz, 25.05.2009 S. 184 unten Romy Bonitz, 10.10.2007 S. 185 oben Romy Bonitz, 28.05.2014 S. 185 Mitte Lorenz Böck, 29.04.2010 KARIKATUREN S. 185 unten Romy Bonitz, 26.04.2008 S. 14 : Torsten Wolber S. 46 : Torsten Wolber S. 70 : Bernhard Prinz KAPITEL 8 S. 92 : Torsten Wolber S. 114 : Torsten Wolber Autorenporträts: S. 140 : Dirk Meissner S. 202 Nordrhein-westfälische S. 162 : Heiko Sakurai ­Akademie der Wissenschaften S. 186 : Miriam Migliazzi & Mart Klein S. 216 Ilja C. Hendel/BMF S. 220 : Bernhard Prinz S. 246 : Frank Hoppmann nhang A

281 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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© 2016 Carl Hanser Verlag München www.hanser-literaturverlage.de Herstellung: Denise Jäkel Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich unter Verwendung einer Fotografie von Romy Bonitz Satz: Kösel Media GmbH, Krugzell Druck und Bindung: Firmengruppe Appl, aprinta druck, Wemding Printed in Germany ISBN 978-3-446-44791-2

Sinn_02_festschrift_anhang.indd 282 17.02.2016 12:44:11 DIE WICHTIGSTEN WERKE VON HANS-WERNER SINN

Der Euro. Von der Friedensidee zum Zankapfel Carl Hanser Verlag, 2015, 560 Seiten, auch als E-Book erhältlich

Die Target-Falle. Gefahren für unser Geld und unsere Kinder Carl Hanser Verlag, 2012, 418 Seiten, auch als E-Book erhältlich

Kasino-Kapitalismus. Wie es zur Finanzkrise kam, und was jetzt zu tun ist Zuerst erschienen im Econ Verlag, 2009, 351 Seiten

Das grüne Paradoxon. Plädoyer für eine illusionsfreie Klimapolitik Zuerst erschienen im Econ Verlag, 2008, 477 Seiten

Die Basar-Ökonomie. Exportweltmeister oder Schlusslicht? Zuerst erschienen im Econ Verlag, 2005, 247 Seiten

Ist Deutschland noch zu retten? Zuerst erschienen im Econ Verlag, 2003, 499 Seiten

Kaltstart. Volkswirtschaftliche Aspekte der deutschen Vereinigung Zuerst erschienen im Mohr Siebeck Verlag, 1991, 242 Seiten

Weitere Informationen zum Autor und seinen Büchern: www.hanswernersinn.de 25 JAHRE DEUTSCHE WIRTSCHAFTSPOLITIK

Hans-Werner Sinn hat wie kein anderer Wissenschaftler die wirtschafts- politische Diskussion der letzten 25 Jahre in Deutschland geprägt. Anlässlich seines Eintritts in den Ruhestand als Präsident des ifo Instituts sowie als Professor an der Universität München stellen in diesem Buch 111 bedeutende Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Politik, Wirt- schaft und Medien ihre Sicht auf die wichtigsten Themen dieser Debatte vor. Damit liefert das Buch nicht nur einen Rückblick auf Sinns öff entliches Wirken, sondern bietet zugleich eine geschichtliche Tour d’Horizon der großen Streitfragen eines Vierteljahrhunderts deutscher und euro päischer Wirtschaftspolitik.

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