Unitas 4-2016-Gesamt
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„Große Koalition beschädigt die Demokratie“ AGV-DIALOGPROGRAMM IN BERLIN (20. – 22. SEPTEMBER 2016) GAB EINBLICKE IN DIE POLITISCHE BEFINDLICHKEIT EIN JAHR VOR DER BUNDESTAGSWAHL VON BBR. HERMANN-JOSEF GROSSIMLINGHAUS Die aktuellen politischen Entwicklun- gen nach den Landtagswahlen in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern machten das diesjährige Dialogpro- gramm der Arbeitsgemeinschaft katholischer Studentenverbände (AGV) in der Bundeshauptstadt besonders spannend. Mit Vertretern aus Politik, Medien und Kirche – darunter Bundes- tagspräsident Norbert Lammert, der CDU/CSU-Fraktionsvorsitzende Volker Kauder und der Linken-Politiker Gregor Gysi – konnten die 18 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus dem AGV-Vor- stand, den Vororten von CV, KV und UV sowie dem Ringpräsidium des RKDB, Christoph Schwennicke (2. von rechts), Chefredakteur des Magazins CICERO, zog eine kritische Bilanz die politische Situation ein Jahr vor der Großen Koalition. der Bundestagswahl diskutieren. Zum Auftakt führte der Weg nach ben unsinnige Konzessionen an die je- sie speisen sich nach seiner Auffassung zu Kreuzberg zum Res Publika-Verlag. Dort weilige Klientel wie die Rente mit 63 hier einem erheblichen Teil aus einem Gefühl der wartete schon Christoph Schwennicke, und die Mütterrente dort. Ohnmacht, wenn in großen politischen Herausgeber und Chefredakteur des politi- Fragen alle derzeit im Parlament vertretenen schen Magazins CICERO. Er zog ein Jahr vor Zeit für einen Parteien einer Meinung sind. Es sei Zeit für der Bundestagswahl eine eher ernüchtern- politischen Wechsel einen Wechsel. Schwennicke glaubt, dass bei de Bilanz der bisher elf Jahre Große einer Neuauflage der Großen Koalition nach Koalition unter Angela Merkel: „Wenn sich Der mehrfach ausgezeichnete Journalist, den nächsten Bundestagswahlen die Demo- die beiden bislang großen Volksparteien unter anderem mit dem Henri-Nannen-Preis kratie in Deutschland einen beträchtlichen zusammentun, so addiert sich das nicht im und dem Medienpreis des Deutschen Schaden nehmen würde. Er wünscht sich Regierungshandeln“, stellte Schwennicke Bundestags, sieht die Wahlerfolge der AfD wieder eine handlungsfähige Regierung, der fest. Die beiden starken Kräfte würden sich nicht in erster Linie als Folge von Rassismus eine starke Opposition gegenübersteht.„Mit vielmehr gegenseitig aufheben. Übrig blie- und dumpfem Rechtsradikalismus, sondern diesem politischen Gezeitenspiel ist die parlamentarisch-repräsentative De- mokratie in unserem Land ein hal- bes Jahrhundert im Großen und Ganzen gut gefahren“, stellte Christoph Schwennicke fest. Zur AfD sagte der Chefredak- teur, dass es ihr zwar gelungen sei, als Protestpartei in eine Reihe von Landtagen einzuziehen. Doch: „Der Protest wird nicht Kanzler.“ Bisher messe man der AfD keine Problem- lösungskompetenz zu. Es gehe nur um einen Denkzettel, doch das sei nicht zukunftsfähig. Es bedürfe viel- mehr einer konstruktiven Mitarbeit in den Parlamenten und einer Positionierung in anderen Politik- feldern als nur der Flüchtlings- Bundestagspräsident Norbert Lammert (7. von links) stellte sich nach dem Gespräch mit den AGV-Vertretern auf problematik. Er verwies auf Die der Präsidialetage des Reichstagsgebäudes zum Gruppenfoto. Grünen, die sich aus einer Protest- bewegung zu einer stabilen Partei 298 unitas 4/2016 entwickelt habe. Ob dies auch der AfD gelin- ge, bleibe abzuwarten. Immerhin habe sie eine höhere Wahlbeteiligung bewirkt, in- dem sie vor allem ehemalige Nichtwähler mobilisiert habe. Die etablierten Parteien müssten sich nun schnell überlegen, wie sie die enttäuschten Protestwähler zurückge- winnen können. Im nächsten Gespräch mit Bundestags- präsident Prof. Dr. Norbert Lammert, das im Reichtagsgebäude stattfand, ging es vor- nehmlich um Fragen unseres demokratisch- parlamentarischen Systems. Durch eine Er- weiterung der Parteienlandschaft – etwa durch die AfD – werde der Ablauf im Bun- Bundestagspräsident Dr. Norbert Lammert hält das deutsche Wahlsystem im internationalen destag zwar komplizierter und die Organi- Vergleich für das beste. (Rechts neben Lammert der AGV-Vorsitzende Bbr. Moritz Findeisen, sation der verschiedenen Interessen schwie- links der stv. AGV-Vorsitzende Alexander Drees [KV].) riger, aber es sei ein „Spiegel des souveränen Wählerwillens“. Der zweite Mann im Staate rät in diesem Zusammenhang zu mehr Gelassenheit. des Bundestages von vier auf fünf Jahre zu dert die Wahlbeteiligung erkennbar nicht verlängern – wie es in allen Bundesländern und stört bei politischen Prozessen“, be- Nach dem Brexit-Votum in Großbritan- außer Bremen sowie beim Europaparla- tonte der Bundestagspräsident. nien sprach sich Bundestagspräsident Nor- ment schon der Fall sei. Die ständigen bert Lammert gegen Volksentscheide auf Wahlkämpfe schränkten „die Gestaltungs- Höchstgrenze für Abgeordnete Bundesebene aus. Diese begünstigten die möglichkeiten des Bundestages faktisch im Deutschen Bundestag Vereinfachung komplizierter Zusammen- erkennbar ein“, sagte der CDU-Politiker. hänge und bildeten eine ideale Plattform Eine fünfjährige Wahlperiode würde diesen Norbert Lammert hält das deutsche für Populisten. „Mein Eindruck ist, dass die Umstand relativieren. Seine Rechnung Wahlsystem im internationalen Vergleich zwischenzeitliche Begeisterung für Plebis- dazu: Bei vier Jahren vergehe ein halbes, bis zwar für das beste; dennoch sei es zu kom- zite und die Vorstellung, solche Volksent- sich das Parlament arbeitsfähig gemacht pliziert. Daher möchte er das Wahlrecht scheide seien der repräsentativen Demokra- habe, und das letzte Jahr stehe schon im ändern und für die Abgeordneten des tie sogar überlegen, mittlerweile deutlich Zeichen des nächsten Bundestagswahl- Deutschen Bundestags eine Höchstgrenze an Strahlkraft verloren haben“, betonte der kampfes. Der Bundestag habe also nur festlegen. Das Parlament hat eine Soll- CDU-Politiker. zweieinhalb Jahre, in denen er darauf keine größe von heute 598 Abgeordneten. Der- Rücksicht nehmen muss.„Bei einer fünfjäh- zeit sind es 630 Männer und Frauen. Be- Legislaturperiode des rigen Wahlperiode wären es dreieinhalb dingt durch den im Wahlrecht vorgeschrie- Bundestags verlängern Jahre“, sagte Lammert. Außerdem werde benen Vollausgleich aller Überhangmanda- nirgendwo so oft gewählt wie in Deutsch- te könnten es nach der Bundestagswahl Norbert Lammert befürwortete in dem land: Bürgermeister und Landräte, Stadt- 2017 sogar mehr als 700 sein. Daher stellt Gespräch mit den Vertretern der katholi- räte und Kreistage, Landtage, der Bundes- sich Lammert eine Obergrenze für die Ab- schen Studentenverbände, die Wahlperiode tag, das Europäische Parlament. „Dies för- geordnetenzahl vor. Ausgleichssitze für Überhangmandate soll es auch weiterhin geben, aber nur bis zur festgelegten „Kap- pungsgrenze“. Union hat historische Verantwortung Im Fraktionssaal der Partei Die Linke tra- fen die Seminarteilnehmer am nächsten Tag den ehemaligen Fraktionsvorsitzenden Dr. Gregor Gysi. Auf die Frage, wie die AfD aufzuhalten sei, misst er der Union eine „historische Verantwortung“ bei. Nach den Bundestagswahlen 2017 müsse die CDU/ CSU in die Opposition geschickt werden und wieder konservativer werden. Dann könne sie einen Teil der AfD-Wähler inte- grieren, eine Aufgabe, die keine andere Partei erledigen könne. Gleichzeitig müsse Die Linke die SPD von links unter Druck set- zen, damit sie wieder sozialdemokratischer werde. „Wenn dann eine rot-rot-grüne Nach getaner Arbeit folgte am ersten Abend der schon traditionelle Besuch in der „Ständigen Vertretung“, Regierung die sozialen Fragen deutlich bes- kurz: StäV, an deren Wände hunderte von Fotos und Dokumenten aus der Zeit der Bonner Republik und ser löst, erledigt sich die AfD zum Teil von der Jahre in Berlin seit dem Regierungsumzug hängen: ein politisches Lese- und Bilderbuch. Hier gab es selbst“, meint Gregor Gysi. Und er mahnt: Gelegenheit zum geselligen Beisammensein und Austausch zwischen den Verbandsvertretern. „Wenn in Deutschland der Rechtsruck gestoppt wird, sendet dies auch ein wichti- >> unitas 4/2016 299 Weitere Gesprächspartner: (linkes Bild) Der Vorsitzende der CDU/CSU-Wirtschafts- und Mittelstandsvereinigung Dr. Carsten Linnemann [rechts daneben der stv. AGV-Vorsitzende Alexander Drees und die AGV-Pressereferentin Bsr. Petra Lammerding]; (rechtes Bild) der Linken-Politiker Dr. Gregor Gysi. ges Signal nach ganz Europa. Wenn Köpenick. Eine Absicherung auf einem stützung gewinne, wie sich große Teile der Deutschland es nicht schafft ebenso!“ Listenplatz will er nicht. „Ich will Ratschläge bürgerlichen Mitte radikalisierten, wie die geben in Fragen, die mir wichtig sind, aber Demokratieverachtung wachse und die Das sei keine leichte Aufgabe, aber sie ich will keine Ersatz-Führungsrolle, auch kein Sitten verrohen würden. Sie alle eine die sei unbedingt notwendig, meint der Links- Ministeramt in einer möglichen rot-rot-grü- Angst vor Veränderungen und das Miss- Politiker. Ein Problem sieht er allerdings bei nen Koalition“, stellte Gysi klar. trauen gegen die Eliten. den Grünen, da sie alles offen ließen und sich nicht auf eine Koalition festlegen Im Gespräch mit dem Bundesvorsitzen- Linnemann schloss sich der Meinung wollten. „Das ist ein unglückliches Signal“, den der CDU/CSU-Wirtschafts- und Mittel- der AGV an, dass die Flüchtlingskrise so Gysi. standsvereinigung, Dr. Carsten Linnemann, Gefahren für den Sozialstaat mit sich brin- machte der Paderborner Abgeordnete klar, ge. „Ich sehe durchaus das Risiko, das wir Bestimmte konservative Werte dass die AfD Ausdruck für einen allgemei- uns nur noch mit Flüchtlingsfragen