Plenarprotokoll 16/35

Deutscher

Stenografischer Bericht

35. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006

Inhalt:

Glückwünsche zum Geburtstag der Abgeord- Dr. Angelica Schwall-Düren (SPD) ...... 2897 A neten Johannes Pflug und Winfried Dr. (DIE LINKE) ...... Nachtwei ...... 2887 A 2898 D Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- (CDU/CSU) ...... 2900 C nung ...... 2887 B Renate Künast (BÜNDNIS 90/ Absetzung der Tagesordnungspunkte 6, 9, 13 DIE GRÜNEN) ...... 2902 C und 15 ...... 2888 B Michael Roth (Heringen) (SPD) ...... 2905 A Nachträgliche Ausschussüberweisungen . . . . 2888 B (FDP) ...... 2907 A Begrüßung des neuen Direktors beim Deut- (CDU/CSU) ...... 2907 C schen Bundestag Dr. Hans-Joachim Stelzl . . 2888 C Dr. (DIE LINKE) ...... 2909 A Nachruf auf den Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland Paul Spiegel . . . . . 2888 D Axel Schäfer (Bochum) (SPD) ...... 2910 A (CDU/CSU) ...... 2911 C

Tagesordnungspunkt 3: a) Abgabe einer Erklärung durch die Bun- Tagesordnungspunkt 4: deskanzlerin zur Europapolitik ...... 2889 B a) Erste Beratung des von den Abgeordneten b) Antrag der Abgeordneten Christian Dr. Norbert Röttgen, Dr. , Ahrendt, Markus Löning, Michael Link (), weiteren Abge- (Heilbronn), weiterer Abgeordneter und ordneten und der Fraktion der CDU/CSU der Fraktion der FDP: Den Kommunen sowie der Abgeordneten , an den Grenzen zu Polen und der , Dr. , weite- Tschechischen Republik die Zusam- ren Abgeordneten und der Fraktion der menarbeit mit diesen Ländern erleich- SPD eingebrachten Entwurfs eines Geset- tern zes zur Einsetzung eines Nationalen (Drucksache 16/456) ...... 2889 B Normenkontrollrates (Drucksache 16/1406) ...... 2913 D c) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bericht der Bundesregierung über ihre b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Bemühungen zur Stärkung der gesetz- Laurenz Meyer (Hamm), Veronika geberischen Befugnisse des Europäi- Bellmann, Klaus Brähmig, weiteren Ab- schen Parlaments 2005 geordneten und der Fraktion der CDU/ (Drucksache 16/528) ...... 2889 C CSU sowie der Abgeordneten Dr. Rainer Wend, , , wei- Dr. , Bundeskanzlerin ...... 2889 C teren Abgeordneten und der Fraktion der Dr. (FDP) ...... 2895 B SPD eingebrachten Entwurfs eines Ersten II Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. , Donnerstag, den 11. Mai 2006

Gesetzes zum Abbau bürokratischer d) Erste Beratung des von der Bundesregie- Hemmnisse insbesondere in der mittel- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- ständischen Wirtschaft zes über die Bereinigung von Bundes- (Drucksache 16/1407) ...... 2914 A recht im Zuständigkeitsbereich des Bundesministeriums für Arbeit und So- c) Antrag der Abgeordneten , ziales und des Bundesministeriums für Rainer Brüderle, Paul K. Friedhoff, weite- Gesundheit rer Abgeordneter und der Fraktion der (Drucksache 16/1293) ...... 2931 A FDP: Statistikpflichten zurückführen – Bürokratiekosten senken e) Erste Beratung des von der Bundesregie- (Drucksache 16/1167) ...... 2914 A rung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes über die Bereinigung von Bun- desrecht im Zuständigkeitsbereich des in Verbindung mit Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (Drucksache 16/1290) ...... Zusatztagesordnungspunkt 3: 2931 A f) Erste Beratung des vom Bundesrat einge- Antrag der Abgeordneten Birgit Homburger, brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Dr. , Jörg van , weiterer Ab- Vereinfachung und Beschleunigung von geordneter und der Fraktion der FDP: Schlan- Zulassungsverfahren für Verkehrspro- ker Staat durch weniger Bürokratie und jekte Regulierung (Drucksache 16/1338) ...... 2931 A (Drucksache 16/119) ...... 2914 B g) Erste Beratung des vom Bundesrat einge- Dr. Norbert Röttgen (CDU/CSU) ...... 2914 B brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än- Martin Zeil (FDP) ...... 2915 D derung des Personenbeförderungsgeset- zes Dr. Rainer Wend (SPD) ...... 2917 A (Drucksache 16/1341) ...... 2931 B Sabine Zimmermann (DIE LINKE) ...... 2919 B h) Erste Beratung des von der Bundesregie- (BÜNDNIS 90/ rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- DIE GRÜNEN) ...... 2920 D zes zur Einführung einer Grundqualifi- kation und Weiterbildung der Fahrer Hartmut Koschyk (CDU/CSU) ...... 2923 A im Güterkraft- oder Personenverkehr Birgit Homburger (FDP) ...... 2924 B (Drucksache 16/1365) ...... 2931 B Dr. Rainer Wend (SPD) ...... 2925 C i) Erste Beratung des vom Bundesrat einge- brachten Entwurfs eines Gesetzes über Dr. Michael Bürsch (SPD) ...... 2926 B die Besteuerung des Spieleinsatzes Hildegard Müller, Staatsministerin BK . . . . . 2927 C (Spieleinsatzsteuergesetz – SpEStG) (Drucksache 16/1032) ...... 2931 C Dr. Carl-Christian Dressel (SPD) ...... 2929 C j) Erste Beratung des vom Bundesrat einge- brachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Tagesordnungspunkt 22: Änderung der Bundesnotarordnung (Drucksache 16/1340) ...... 2931 C a) Erste Beratung des vom Bundesrat einge- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur k) Erste Beratung des vom Bundesrat einge- Änderung des Personenbeförderungs- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur gesetzes und des Allgemeinen Eisen- Reform des Rechts der Unterbringung bahngesetzes in einem psychiatrischen Krankenhaus (Drucksache 16/1039) ...... 2930 D und in einer Entziehungsanstalt (Drucksache 16/1344) ...... 2931 C b) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- l) Antrag der Abgeordneten zes zur Sicherung der Unterbringung in (Bayreuth), Patrick Döring, Joachim Günther einem psychiatrischen Krankenhaus und (Plauen), weiterer Abgeordneter und der in einer Entziehungsanstalt Fraktion der FDP: Novellierung des Per- (Drucksache 16/1110) ...... 2930 D sonenbeförderungsgesetzes – Wettbe- werb im öffentlichen Personenfernver- c) Erste Beratung des von der Bundesre- kehr zulassen gierung eingebrachten Entwurfs eines (Drucksache 16/384) ...... 2931 C Gesetzes zur Modernisierung des Schul- denwesens des Bundes (Bundesschul- m) Antrag des Bundesministeriums der Finan- denwesenmodernisierungsgesetz) zen: Entlastung der Bundesregierung (Drucksache 16/1336) ...... 2931 A für das Haushaltsjahr 2005 – Vorlage Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006 III

der Haushalts- und Vermögensrech- men von 1992 zum Schutz und zur Nut- nung des Bundes (Jahresrechnung 2005) zung grenzüberschreitender Wasser- (Drucksache 16/1122) ...... 2931 D läufe und internationaler Seen (Drucksachen 16/739, 16/1420) ...... 2932 D n) Antrag der Abgeordneten Dr. , Hellmut Königshaus, Dr. Werner Hoyer, weiterer Abgeordneter und der Zusatztagesordnungspunkt 1: Fraktion der FDP: Die Entwicklungszu- sammenarbeit mit Kenia auf den Prüf- Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion stand stellen der FDP: Haltung der Bundesregierung zur (Drucksache 16/965) ...... 2931 D Umsetzung der europäischen Antidiskrimi- nierungsrichtlinie ...... 2933 A Dr. (FDP) ...... 2933 A Zusatztagesordnungspunkt 4: Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU) ...... 2935 A a) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) ...... 2936 B zes zu dem Europäischen Übereinkom- , Bundesministerin BMJ . . . . 2937 C men vom 6. November 2003 über den Schutz von Tieren beim internationa- Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/ len Transport (revidiert) DIE GRÜNEN) ...... 2939 C (Drucksache 16/1346) ...... 2932 A (CDU/CSU) ...... 2940 D b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) ...... 2942 B Brigitte Pothmer, (Köln), , weiteren Abgeordneten Christel Humme (SPD) ...... 2944 A und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/ Markus Grübel (CDU/CSU) ...... DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs 2944 D eines Gesetzes zur Verlängerung der (SPD) ...... 2946 A Ich-AG (Altötting) (CDU/CSU) . . . . (Drucksache 16/1405) ...... 2932 A 2947 A Renate Gradistanac (SPD) ...... c) Antrag der Abgeordneten Heike Hänsel, 2948 B Hüseyin-Kenan Aydin, Monika Knoche, Christoph Strässer (SPD) ...... 2949 A weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN: Flugticketabgabe jetzt – Entwicklungsfinanzierung auf breitere Tagesordnungspunkt 5: Grundlagen stellen (Drucksache 16/1203) ...... 2932 A a) Erste Beratung des von den Abgeordneten , Gisela Piltz, Jens d) Antrag der Abgeordneten Thilo Hoppe, Ackermann, weiteren Abgeordneten und , (Bre- der Fraktion der FDP eingebrachten Ent- men), weiterer Abgeordneter und der Frak- wurfs eines Gesetzes zur Einführung tion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- von Volksinitiative, Volksbegehren und NEN: Umsetzung des EU-Stufenplans Volksentscheid in das Grundgesetz zur Entwicklungsfinanzierung (0,7-Pro- (Drucksache 16/474) ...... 2950 B zent-Ziel) durch Flugticketsteuer unter- stützen b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Wolfgang Wieland, Hans-Christian (Drucksache 16/1404) ...... 2932 B Ströbele, Irmingard Schewe-Gerigk, wei- teren Abgeordneten und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN einge- Tagesordnungspunkt 23: brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än- a) Zweite Beratung und Schlussabstimmung derung des Grundgesetzes (Einführung des von der Bundesregierung eingebrach- von Volksinitiative, Volksbegehren und ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Volksentscheid) Übereinkommen über das Recht der (Drucksache 16/680) ...... 2950 B nichtschifffahrtlichen Nutzung interna- c) Erste Beratung des von den Abgeordneten tionaler Wasserläufe , Dr. Gregor Gysi, Dr. Lothar (Drucksachen 16/738, 16/1419) ...... 2932 C Bisky, weiteren Abgeordneten und der b) Zweite Beratung und Schlussabstimmung Fraktion der LINKEN eingebrachten Ent- des von der Bundesregierung eingebrach- wurfs eines Gesetzes zur Einführung der ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Pro- dreistufigen Volksgesetzgebung in das tokoll vom 17. Juni 1999 über Wasser Grundgesetz und Gesundheit zu dem Übereinkom- (Drucksache 16/1411) ...... 2950 C IV Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006

Ernst Burgbacher (FDP) ...... 2950 D der Fraktion der LINKEN: Gesetzliche Regelung für frühere Mitglieder der (CDU/CSU) ...... 2951 D Bundesregierung und Staatssekretäre Dr. (DIE LINKE) ...... 2953 D zur Untersagung von Tätigkeiten in der Privatwirtschaft, die mit ihrer ehemali- Maik Reichel (SPD) ...... 2954 D gen Tätigkeit für die Bundesregierung Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/ im Zusammenhang stehen DIE GRÜNEN) ...... 2957 C (Drucksache 16/846) ...... 2974 B Gert Winkelmeier (fraktionslos) ...... 2958 C b) Antrag der Abgeordneten Jürgen Koppelin, Dr. Max Stadler, , weite- Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU) . . . . . 2959 A rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Verhaltenskodex für ausschei- Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/ dende Regierungsmitglieder DIE GRÜNEN) ...... 2960 A (Drucksache 16/677) ...... 2974 C c) Antrag der Abgeordneten Volker Beck Zusatztagesordnungspunkt 5: (Köln), , , und der Fraktion des Erste Beratung des von den Fraktionen der BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Be- CDU/CSU und der SPD eingebrachten Ent- rufstätigkeit von ausgeschiedenen Mit- wurfs eines Investitionszulagengesetzes gliedern der Bundesregierung regeln 2007 (InvZulG 2007) (Drucksache 16/948) ...... 2974 C (Drucksache 16/1409) ...... 2960 D Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE) ...... 2974 D Simone Violka (SPD) ...... 2960 D (CDU/CSU) ...... 2975 C Christian Ahrendt (FDP) ...... 2962 A Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ Manfred Kolbe (CDU/CSU) ...... 2962 D DIE GRÜNEN) (zur Geschäftsordnung) 2977 A (DIE LINKE) ...... 2964 C Dr. Uwe Küster (SPD) Peter Hettlich (BÜNDNIS 90/ (zur Geschäftsordnung) ...... 2977 B DIE GRÜNEN) ...... 2965 B Hartmut Koschyk (CDU/CSU) (SPD) ...... 2966 D (zur Geschäftsordnung) ...... 2977 C (CDU/CSU) ...... 2968 A Dr. Uwe Küster (SPD) (zur Geschäftsordnung) ...... 2978 A

Tagesordnungspunkt 7: (FDP) ...... 2978 D a) Erste Beratung des von der Bundesregie- (SPD) ...... 2980 A rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ zes zur Strafbarkeit beharrlicher Nach- DIE GRÜNEN) ...... 2981 C stellungen (… StrÄndG) (Drucksache 16/575) ...... 2969 B b) Erste Beratung des vom Bundesrat einge- Zusatztagesordnungspunkt 6: brachten Entwurfs eines Stalking-Be- Erste Beratung des von den Fraktionen der kämpfungsgesetzes CDU/CSU und der SPD eingebrachten Ent- (Drucksache 16/1030) ...... 2969 B wurfs eines Gesetzes zur Neuregelung des Brigitte Zypries, Bundesministerin BMJ . . . . 2969 B Rechts der Verbraucherinformation (Drucksache 16/1408) ...... 2982 B Jörg van Essen (FDP) ...... 2970 D , Bundesminister BMELV . . . 2982 C Dr. Beate Merk, Staatsministerin (Bayern) . . 2971 D Hans-Michael Goldmann (FDP) ...... 2984 A Sevim Dagdelen (DIE LINKE) ...... 2972 D Elvira Drobinski-Weiß (SPD) ...... 2985 B Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 2973 C Dr. (DIE LINKE) ...... 2986 B Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 2987 B Tagesordnungspunkt 8: Julia Klöckner (CDU/CSU) ...... 2988 B a) Antrag der Abgeordneten Dr. Gregor Gysi, , Dr. Gesine Lötzsch und (SPD) ...... 2988 C Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006 V

Tagesordnungspunkt 10: Dr. (SPD) ...... 3005 D Antrag der Abgeordneten Ulrike Höfken, Hellmut Königshaus (FDP) ...... 3006 B , Bärbel Höhn, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion des BÜNDNIS- Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/ SES 90/DIE GRÜNEN: Bei gentechnisch DIE GRÜNEN) ...... 3006 D veränderten Pflanzen nationales Recht auf Dr. Karl Addicks (FDP) ...... 3008 B Einfuhrverbote und Schutzmaßnahmen nutzen Ute Koczy (BÜNDNIS 90/ (Drucksache 16/1176) ...... 2989 B DIE GRÜNEN) ...... 3008 D Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 2989 C Zusatztagesordnungspunkt 7: Dr. Max Lehmer (CDU/CSU) ...... 2990 B Erste Beratung des von den Fraktionen der Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/ CDU/CSU und der SPD eingebrachten Ent- DIE GRÜNEN) ...... 2991 D wurfs eines Gesetzes zur Fortentwicklung der Grundsicherung für Arbeitsuchende Dr. Max Lehmer (CDU/CSU) ...... 2992 B (Drucksache 16/1410) ...... 3009 D Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) ...... 2992 C Rolf Stöckel (SPD) ...... 3010 A Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/ Kornelia Möller (DIE LINKE) ...... 3011 C DIE GRÜNEN) ...... 2992 D Dirk Niebel (FDP) ...... 3012 B Elvira Drobinski-Weiß (SPD) ...... 2994 B Dr. (CDU/CSU) ...... 3013 C Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) ...... 2995 D Dirk Niebel (FDP) ...... 3015 B Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE) ...... 2996 A Dr. Ralf Brauksiepe (CDU/CSU) ...... 3015 D Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 2996 D (DIE LINKE) ...... 3016 A Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 3017 C Tagesordnungspunkt 11: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Tagesordnungspunkt 14: Umsetzung der neu gefassten Bankenricht- Antrag der Abgeordneten Dr. Barbara Höll, linie und der neu gefassten Kapitaladä- Frank Spieth, Dr. Ilja Seifert, weiterer Abge- quanzrichtlinie ordneter und der Fraktion der LINKEN: Er- (Drucksache 16/1335) ...... 2997 B mäßigung des Mehrwertsteuersatzes für Nina Hauer (SPD) ...... 2997 C apothekenpflichtige Arzneimittel auf 7 Pro- zent Frank Schäffler (FDP) ...... 2998 D (Drucksache 16/732) ...... 3018 C (CDU/CSU) ...... 2999 C Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) ...... 3018 C Dr. (BÜNDNIS 90/ Manfred Kolbe (CDU/CSU) ...... 3019 C DIE GRÜNEN) ...... 3001 A Dr. (FDP) ...... 3020 B Lydia Westrich (SPD) ...... 3021 C Tagesordnungspunkt 12: Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) ...... 3021 D Antrag der Abgeordneten Hellmut Königshaus, Dr. Karl Addicks, Christian Ahrendt, weiterer Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/ Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Aus DIE GRÜNEN) ...... 3023 D dem Peer-Review der OECD lernen – die Empfehlungen zur Umgestaltung der Ent- wicklungszusammenarbeit umsetzen Tagesordnungspunkt 17: (Drucksache 16/963) ...... 3002 A Erste Beratung des von der Bundesregierung Hellmut Königshaus (FDP) ...... 3002 B eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Dr. Christian Ruck (CDU/CSU) ...... 3003 B Änderung des Wohnungseigentumsgesetzes und anderer Gesetze Hüseyin-Kenan Aydin (DIE LINKE) ...... 3004 C (Drucksache 16/887) ...... 3024 C VI Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006

Tagesordnungspunkt 16: (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 3026 B Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Tagesordnungspunkt 21: – zu dem Antrag der Abgeordneten Thilo Hoppe, Ute Koczy, Hans-Josef Fell, weite- Erste Beratung des von den Abgeordneten rer Abgeordneter und der Fraktion des Bärbel Höhn, Dr. , Ulrike BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Mit der Höfken, weiteren Abgeordneten und der Frak- strategischen Partnerschaft zwischen tion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN der Europäischen Union und Latein- eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur amerika Ernst machen und deutsches Stärkung der Fahrgastrechte Engagement ausbauen (Drucksache 16/1146) ...... 3027 C – zu dem Antrag der Abgeordneten Heike Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/ Hänsel, Dr. Diether Dehm, Wolfgang DIE GRÜNEN) ...... 3027 C Gehrcke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN: Die Beziehungen Nächste Sitzung ...... 3028 C zwischen EU und Lateinamerika solida- risch gestalten – Kein Freihandelsab- kommen EU-Mercosur Anlage 1 (Drucksachen 16/941, 16/1126, 16/1441) . . . 3024 D Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 3029 A

Tagesordnungspunkt 19: Anlage 2 Erste Beratung des von der Bundesregierung Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Pfändungsschutz der Altersvorsorge und neu gefassten Bankenrichtlinie und der neu zur Anpassung des Rechts der Insolvenz- gefassten Kapitaladäquanzrichtlinie (Tages- anfechtung ordnungspunkt 11) (Drucksache 16/886) ...... 3025 C Dr. (DIE LINKE) ...... 3029 C

Tagesordnungspunkt 18: Antrag der Abgeordneten Harald Leibrecht, Anlage 3 Dr. Karl Addicks, Jens Ackermann, weiterer Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Für des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung einen Beobachterstatus Taiwans bei der des Wohnungseigentumsgesetzes und anderer Weltgesundheitsversammlung Gesetze (Tagesordnungspunkt 17) (Drucksache 16/968) ...... 3025 D (CDU/CSU) ...... 3030 B Dirk Manzewski (SPD) ...... 3032 B Zusatztagesordnungspunkt 8: Mechthild Dyckmans (FDP) ...... 3032 D Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) ...... 3033 C die Errichtung einer Bundesanstalt für den Digitalfunk der Behörden und Organisa- Peter Hettlich (BÜNDNIS 90/ tionen mit Sicherheitsaufgaben (BDBOS- DIE GRÜNEN) ...... 3034 B Gesetz – BDBOSG) Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär (Drucksache 16/1364) ...... 3026 A BMJ ...... 3035 B

Tagesordnungspunkt 20: Anlage 4 Antrag der Abgeordneten Winfried Hermann, Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Peter Hettlich, Dr. Anton Hofreiter, weiterer der Anträge: Abgeordneter und der Fraktion des BÜND- NISSES 90/DIE GRÜNEN: Fördergesetz – Mit der strategischen Partnerschaft zwi- für Dieselrußpartikelfilter baldmöglichst schen der Europäischen Union und Latein- vorlegen amerika Ernst machen und deutsches En- (Drucksache 16/946) ...... 3026 A gagement ausbauen Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006 VII

– Die Beziehungen zwischen EU und La- Anlage 7 teinamerika solidarisch gestalten – Kein Freihandelsabkommen EU-Mercosur Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes über die Errich- (Tagesordnungspunkt 16) tung einer Bundesanstalt für den Digitalfunk Anette Hübinger (CDU/CSU) ...... 3036 A der Behörden und Organisationen mit Sicher- heitsaufgaben (BDBOS-Gesetz – BDBOSG) Dr. Sascha Raabe (SPD) ...... 3037 A (Zusatztagesordnungspunkt 8) Lothar Mark (SPD) ...... 3038 A Ralf Göbel (CDU/CSU) ...... 3051 B Dr. Karl Addicks (FDP) ...... 3039 A Gerold Reichenbach (SPD) ...... 3052 D Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) ...... 3040 A Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) ...... 3054 B Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 3040 C (DIE LINKE) ...... 3055 A Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 3055 D Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zum Pfändungs- Anlage 8 schutz der Altersvorsorge und zur Anpassung des Rechts der Insolvenzanfechtung (Tages- Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung ordnungspunkt 19) des Antrags: Fördergesetz für Dieselrußparti- kelfilter baldmöglichst vorlegen (Tagesord- Dr. Günter Krings (CDU/CSU) ...... 3041 D nungspunkt 20) Dirk Manzewski (SPD) ...... 3043 D (CDU/CSU) ...... 3056 B Mechthild Dyckmans (FDP) ...... 3044 C Gabriele Frechen (SPD) ...... 3057 C Wolfgang Wolfgang Nešković (DIE LINKE) 3045 B (FDP) ...... 3058 B Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 3046 B Lutz Heilmann (DIE LINKE) ...... 3059 A Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär BMJ ...... 3046 D Anlage 9 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Anlage 6 des Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der Fahrgastrechte (Tagesordnungspunkt 21) Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Für einen Beobachterstatus Tai- (CDU/CSU) ...... 3059 D wans bei der Weltgesundheitsversammlung (Tagesordnungspunkt 18) (SPD) ...... 3060 D Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg Rita Schwarzelühr-Sutter (SPD) ...... 3062 A (CDU/CSU) ...... 3047 C Hans-Michael Goldmann (FDP) ...... 3062 D Detlef Dzembritzki (SPD) ...... 3048 C (DIE LINKE) ...... 3063 C Harald Leibrecht (FDP) ...... 3049 A Monika Knoche (DIE LINKE) ...... 3050 A Anlage 10 Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 3050 B Amtliche Mitteilungen ...... 3064 A

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(A) (C) Redetext

35. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident Dr. : Überweisungsvorschlag: Die Sitzung ist eröffnet. Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau- cherschutz (f) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie alle Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung herzlich und wünsche Ihnen einen guten Tag und uns b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Brigitte gute, konstruktive Beratungen. Pothmer, Volker Beck (Köln), Birgitt Bender, weiteren Abgeordneten und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/ Ich habe einige wenige amtliche Mitteilungen zu ma- DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verlängerung der Ich-AG chen: Der Kollege Johannes Pflug feierte am 8. April seinen 60. Geburtstag und der Kollege Winfried – Drucksache 16/1405 – Nachtwei feierte am 15. April seinen 60. Geburtstag. Im Überweisungsvorschlag: Namen des ganzen Hauses gratuliere ich zu diesen run- Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie den Geburtstagen nachträglich herzlich und wünsche al- Haushaltsausschuss les Gute. (B) c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heike Hänsel, (D) (Beifall) Hüseyin-Kenan Aydin, Monika Knoche, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion der LINKEN Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Flugticketabgabe jetzt – Entwicklungsfinanzierung Tagesordnung um die in der Zusatzpunkteliste aufge- auf breitere Grundlagen stellen führten Punkte zu erweitern: – Drucksache 16/1203 – ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der FDP: Hal- Überweisungsvorschlag: tung der Bundesregierung zur Umsetzung der europäi- Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent- schen Antidiskriminierungsrichtlinie wicklung (f) Finanzausschuss ZP 2 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion des BÜNDNIS- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie SES 90/DIE GRÜNEN zu den Antworten der Bundesregie- Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung rung auf die Fragen Nr. 26 und 27 auf Drucksache 16/1374 Ausschuss für Tourismus (siehe 34. Sitzung) Haushaltsausschuss ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgit Homburger, d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Thilo Hoppe, Dr. Max Stadler, Jörg van Essen, weiterer Abgeordneter und Kerstin Andreae, Marieluise Beck (Bremen), weiterer der Fraktion der FDP Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/ Schlanker Staat durch weniger Bürokratie und Regulie- DIE GRÜNEN rung Umsetzung des EU-Stufenplans zur Entwicklungs- – Drucksache 16/119 – finanzierung (0,7-Prozent-Ziel) durch Flugticket- Überweisungsvorschlag: steuer unterstützen Rechtsausschuss (f) – Drucksache 16/1404 – Innenausschuss Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie wicklung (f) Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Finanzausschuss ZP 4 Weitere Überweisung im vereinfachten Verfahren (Ergän- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie zung zu TOP 22) Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrach- Ausschuss für Tourismus ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Europäischen Haushaltsausschuss Übereinkommen vom 6. November 2003 über den ZP 5 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der Schutz von Tieren beim internationalen Transport SPD eingebrachten Entwurfs eines Investitionszulagengeset- (revidiert) zes 2007 (InvZulG 2007) – Drucksache 16/1346 – – Drucksache 16/1409 – 2888 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006

Präsident Dr. Norbert Lammert (A) Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (C) Finanzausschuss (f) Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Verbraucherschutz Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Tourismus Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss für Bildung, Forschung und Haushaltsausschuss Technikfolgenabschätzung ZP 6 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neurege- Der in der 32. Sitzung des Deutschen Bundestages lung des Rechts der Verbraucherinformation überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem – Drucksache 16/1408 – Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (9. Aus- Überweisungsvorschlag: schuss) zur Mitberatung überwiesen werden. Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (f) Antrag der Fraktion der LINKEN Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Für Selbstbestimmung und soziale Sicherheit – Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Strategie zur Überwindung von Hartz IV Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ZP 7 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der – Drucksache 16/997 – SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Fortent- Überweisungsvorschlag: wicklung der Grundsicherung für Arbeitssuchende Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) – Drucksache 16/1410 – Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Ausschuss für Kultur und Medien Innenausschuss Haushaltsausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? – Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist das so beschlos- Verteidigungsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend sen. Ausschuss für Gesundheit Schließlich möchte ich den neuen Direktor beim Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Bildung, Forschung und Deutschen Bundestag, Herrn Dr. Hans-Joachim Stelzl, Technikfolgenabschätzung der hinter mir Platz genommen hat, herzlich begrüßen. Haushaltsausschuss (Beifall) ZP 8 Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten (B) Entwurfs eines Gesetzes über die Errichtung einer Bundes- Ich wünsche ihm auch im Namen aller Kolleginnen und (D) anstalt für den Digitalfunk der Behörden und Organisa- Kollegen viel Erfolg bei seiner verantwortungsvollen tionen mit Sicherheitsaufgaben (BDBOS-Gesetz – BDBOSG) Aufgabe und verbinde das mit dem ausdrücklichen Dank an Herrn Professor Zeh für seine jahrelange verdienst- – Drucksache 16/1364 – volle Arbeit hier im Deutschen Bundestag. Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) (Beifall) Rechtsausschuss Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, möchte ich Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO Sie bitten, sich von den Plätzen zu erheben. Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so- (Die Anwesenden erheben sich) weit erforderlich, abgewichen werden. Am 30. April dieses Jahres ist Paul Spiegel, Vorsit- Die Tagesordnungspunkte 6, 9, 13 und 15 werden ab- zender des Zentralrats der Juden in Deutschland, verstor- gesetzt und in der Folge werden die Tagesordnungs- ben. Mit Paul Spiegel verlieren wir einen großartigen punkte 16 und 17 sowie 18 und 19 jeweils getauscht. Menschen und eine bedeutende Persönlichkeit, die sich Schließlich mache ich auf zwei nachträgliche Aus- um unser Land verdient gemacht hat. schussüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste Paul Spiegel wurde am 31. Dezember 1937 in Waren- aufmerksam: dorf/Westfalen geboren. Als Deutscher jüdischen Glau- Der in der 32. Sitzung des Deutschen Bundestages bens musste er im Kindesalter die Schrecken der überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich Nazibarbarei erfahren. Sein Vater überlebte die Konzen- dem Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung trationslager Buchenwald, Auschwitz und Dachau, seine (15. Ausschuss) zur Mitberatung überwiesen werden. nach Bergen-Belsen verschleppte Schwester Rosa nicht. Nachdem er im Exil in Brüssel überlebt hatte, kehrte er Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Neu- nach dem Zweiten Weltkrieg mit seiner Familie nach regelung der Besteuerung von Energieerzeug- Warendorf zurück. nissen und zur Änderung des Stromsteuerge- setzes Paul Spiegel gehörte zu denen, die das scheinbar Un- mögliche zu tun wagten und zurückkehrten, um jüdische – Drucksache 16/1172 – Gemeinden wieder aufzubauen. Die Aussöhnung von Überweisungsvorschlag: Juden und Deutschland, von deutschen Juden mit ih- Finanzausschuss (f) rem Land, stand im Mittelpunkt seines Wirkens. Das galt Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006 2889

Präsident Dr. Norbert Lammert (A) für sein Engagement in der Jüdischen Kultusgemeinde c) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre- (C) Düsseldorf ebenso wie für seine Arbeit als Präsident des gierung Zentralrats der Juden in Deutschland seit Januar 2000. Bericht der Bundesregierung über ihre Bemü- Bereits kurz nach seiner Amtseinführung warnte Paul hungen zur Stärkung der gesetzgeberischen Spiegel angesichts der Zunahme von rechtsextremen Ge- Befugnisse des Europäischen Parlaments 2005 walttaten und fremdenfeindlichen Übergriffen in Deutschland in öffentlichen Stellungnahmen vor der – Drucksache 16/528 – Gleichgültigkeit und stummen Zustimmung. Er erklärte Überweisungsvorschlag: nicht nur anlässlich des 50-jährigen Bestehens des Zen- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f) tralrats im September des Jahres 2000, dieser werde sich Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung nicht nur für Juden, sondern auch für Flüchtlinge, für Auswärtiger Ausschuss Aussiedler und für andere benachteiligte Minderheiten Innenausschuss einsetzen. Rechtsausschuss Verteidigungsausschuss Im Juli 2001 nahm Paul Spiegel als erster Repräsen- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit tant der Juden in Deutschland am öffentlichen Gelöbnis der Bundeswehr im Bendlerblock in Berlin-Tiergarten Zur Regierungserklärung liegt ein Entschließungsan- teil, dem Sitz des Oberkommandos des Heeres im Drit- trag der Fraktion Die Linke vor. ten Reich. Bei dieser Gelegenheit bezeichnete er die Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für Bundeswehr als „Teil unserer rechtsstaatlichen Demo- die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklä- kratie“. rung anderthalb Stunden vorgesehen. – Dazu höre ich Zu den Höhepunkten seiner zweiten Amtszeit nach keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. einstimmiger Wiederwahl als Präsident des Zentralrats Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat der Juden gehört die Unterzeichnung des Staatsvertra- die Bundeskanzlerin Frau Dr. Angela Merkel. ges zwischen Deutschland und dem Zentralrat im Januar 2003 in Berlin. In diesem Staatsvertrag verpflich- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) tet sich die Bundesregierung, das deutsch-jüdische Kul- turerbe zu erhalten und zu pflegen, zum Aufbau einer jü- Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin: dischen Gemeinschaft in Deutschland beizutragen und Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist gute ihre Integration in die deutsche Gesellschaft zu unter- Tradition dieses Deutschen Bundestages, regelmäßig stützen. über den Stand und die Perspektiven der europäischen Einigung zu debattieren. Eine solche Debatte in dieser Paul Spiegel hat nicht geschwiegen, wenn es Anlass (B) Woche, der Europawoche, ist nicht nur wegen dieser (D) zur Kritik oder zur Mahnung gab. Aber er hat sich nicht Tradition wichtig, sondern sie ist angesichts der Sach- zu allem und jedem geäußert. Auch deshalb hatte sein lage und der Situation meines Erachtens notwendig. Wort so großes Gewicht und fand sein Wirken so viel Respekt. Deshalb bin ich den Fraktionen sehr dankbar, dass sie darum gebeten haben, genau in dieser Woche über die Paul Spiegel war ein deutscher Patriot. Er wird uns Fragen Europas zu diskutieren; denn angesichts vieler fehlen. Unser Mitgefühl gilt seiner Frau und seinen bei- Einzelfragen, die wir debattieren, kann man den Ein- den Töchtern sowie der Gemeinschaft der Juden in druck gewinnen, dass der Blick auf das Ganze manch- Deutschland. Wir verneigen uns in Dankbarkeit vor ei- mal verloren geht. ner Lebensleistung, die uns nicht nur in Erinnerung blei- ben, sondern auch bleibende Verpflichtung sein wird. (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Leider wahr!) Ich danke Ihnen. Es war richtig, dass wir vor zwei Tagen, am Europa- tag, noch einmal des großen Europäers Robert Schuman, Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 c auf: des ehemaligen französischen Außenministers, gedacht a) Abgabe einer Erklärung durch die Bundeskanzle- und uns an seine Initiative zur Gründung der Montan- rin union erinnert haben. Schuman schlug vor, die für die Rüstungsindustrie notwendigen Rohstoffe Kohle und zur Europapolitik Stahl einer gemeinsamen Behörde zu unterstellen. Das war nicht irgendeine Initiative, sondern diese Initiative b) Beratung des Antrags der Abgeordneten hat das deutsch-französische Verhältnis als ein besonde- Christian Ahrendt, Markus Löning, Michael Link res Verhältnis begründet. Aber mit dieser Initiative sollte (Heilbronn), weiterer Abgeordneter und der Frak- auch verhindert werden, dass die europäischen Staaten, tion der FDP allen voran Deutschland und Frankreich, je wieder ge- Den Kommunen an den Grenzen zu Polen und geneinander in den Krieg ziehen. der Tschechischen Republik die Zusammenar- Europa als Friedensgemeinschaft – das war nach dem beit mit diesen Ländern erleichtern Ende des Zweiten Weltkriegs, nach so viel Leid und so – Drucksache 16/456 – großen Verlusten an Menschenleben, eine bahnbre- chende Idee. Europa als Friedensgemeinschaft – diese Überweisungsvorschlag: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f) Utopie wurde in den folgenden Jahrzehnten wirklich mit Innenausschuss Leben erfüllt. Aus der Vision wurde Realität: unsere Le- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie bensrealität. 2890 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (A) Sie alle kennen die Stichworte, die das dokumentie- bewusst werden, worum es geht. Denn auch das ist unser (C) ren: die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft von gemeinsames Gefühl: Die Beschwörung der Werte und 1957, die Einführung des Binnenmarktes und einer ge- der Ursprungsidee des europäischen Einigungsprozesses meinsamen Währung für zwölf Mitgliedsländer in dem reicht heute nicht mehr aus; damit ist es nicht getan. Verständnis, dass Länder, die dieselbe Währung haben, nie wieder gegeneinander antreten werden, und die Fort- Deshalb ist dies auch nicht die Stunde einer histori- entwicklung der Europäischen Gemeinschaft mit heute schen Reminiszenz, sondern es ist die Stunde einer Re- 25 und bald 27 Mitgliedstaaten. gierungserklärung. Die Wahrheit muss in den Blick ge- nommen werden; denn sie ist zum Teil ernüchternd. Im Rückblick kann man feststellen: Robert Schuman Viele Bürgerinnen und Bürger erleben Europa in der hat die Beziehungen der europäischen Länder zu ande- Kritik an detailliertesten Regelungen, im Zweifel, ob Eu- ren wahrhaft revolutioniert. Es ist eine völlige Neuord- ropa die Probleme der Zukunft – Arbeitslosigkeit und nung des europäischen Staatensystems entstanden. Diese ein zu geringes Wirtschaftswachstum – bewältigen kann. Neuordnung ist nach meiner Auffassung die größte seit Kurz gesagt muss man feststellen: Europa steht bei den dem Westfälischen Frieden. Europäerinnen und Europäern nicht so hoch im Kurs, wie es der historische Rückblick vielleicht vermuten (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie lässt. Dabei sind die beiden gescheiterten Volksabstim- bei Abgeordneten der FDP und des BÜND- mungen in Frankreich und Holland sicherlich nur Indi- NISSES 90/DIE GRÜNEN) katoren, die aber noch nicht alles aussagen. Nach dem Fall der Mauer, mit der Osterweiterung Das heißt, es reicht auch nicht aus, wenn wir darauf und dem Ende des Kalten Krieges hat die Friedens- und verweisen können, dass durchaus zukunftsweisende Lö- Werteidee schließlich unseren gesamten Kontinent er- sungen gefunden wurden. Ja, es ist glücklicherweise ein reicht. Gerade wir Deutschen mit unserer Geschichte Finanzrahmen für die kommenden Jahre beschlossen können uns gar nicht oft genug bewusst machen, dass worden. Ich füge hinzu: Es ist übrigens gelungen, bei der Frieden in Freiheit wahrlich keine Selbstverständlichkeit Vergabe der Mittel und bei den Kriterien sicherzustellen, ist. dass Strukturfondsmittel nicht mehr vergeben werden, (Beifall bei Abgeordneten der SPD) wenn Arbeitsplätze von einem Land in ein anderes verla- gert werden. Das ist ein sehr wichtiger Punkt, der viele Das ist ein Glück und es ist ein Geschenk. Dieser Frie- Menschen beunruhigt. den in Freiheit ist, weil er nicht selbstverständlich ist, auch immer wieder neu zu erarbeiten und zu verteidigen. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (B) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie (D) bei Abgeordneten der FDP und des BÜND- Es ist des Weiteren eine Einigung betreffend die Che- NISSES 90/DIE GRÜNEN) mieindustrie gelungen. Es ist eine grundsätzliche Eini- gung über die Dienstleistungsrichtlinie gelungen. Es ist Wir sollten uns schon bewusst machen, dass alle gu- dem Europäischen Parlament gelungen, eine sinnlose ten Wendepunkte in der deutschen Nachkriegsgeschichte Richtlinie wie die zum Sonnenschutz abzuwehren und untrennbar mit Europa verbunden sind. Ob es die Wie- nicht zu verabschieden. All das sind Fakten, die erfreu- dereingliederung in die Europäische Union oder die lich und positiv sind. deutsche Einheit ist: Wir verdanken der europäischen Integration eine beispiellose Zeit von Frieden, Freiheit Das alles reicht aber nicht aus, um den Bürgerinnen und Wohlstand. und Bürgern deutlich zu machen, was Europa für sie be- deutet und welche Verantwortung Europa hat. Wir müs- Wir sehen daran auch, dass Europa von Anfang an sen – davon bin ich zutiefst überzeugt – den Stand des mehr war als nur eine Zweck- oder Interessengemein- Projekts Europa kritisch überprüfen. Wir müssen den schaft. Europa hat sich immer auf gemeinsame Werte ge- Bürger in den Mittelpunkt stellen und seine Fragen be- gründet, ist sich immer seiner gemeinsamen Geschichte antworten: Was bedeutet das für meinen Arbeitsplatz, für bewusst gewesen und hat einen gemeinsamen Willen, meinen Wohlstand und für meine soziale Sicherheit bei die Zukunft zum Wohle aller zu gestalten. Genau über Krankheit und im Alter? Macht Europa die Dinge einfa- diesen Willen werden wir mit dem Blick auf die Zukunft cher, besser oder ist Europa ein Bremsklotz, eine Hürde? auch zu sprechen haben. Ich glaube, wir dürfen uns vor diesen Fragen nicht drü- Es ist ein einzigartiges Miteinander von größeren und cken. Wir müssen sie sehr spezifisch und konkret beant- kleineren Staaten entstanden. Im nächsten Jahr werden worten. wir das Jubiläum der Unterzeichnung der Römischen Verträge vor 50 Jahren begehen. Das ist noch einmal Ich denke, es geht um nicht mehr und nicht weniger, ein guter Anlass, um an das Erreichte zu erinnern. als dass wir der historischen Begründung der Europäi- schen Union eine Neubegründung hinzufügen. Ich will Das alles bietet aber auch Anlass, selbstbewusst nach die Dinge nicht dramatisieren, aber ich glaube, eine Neu- vorne zu schauen. Heute ist noch nicht der Tag, um im begründung ist notwendiger denn je. Denn wir sind in Detail über die deutsche Präsidentschaft im ersten folgender Situation: In der Zeit des Kalten Krieges war Halbjahr 2007 bzw. über die Tatsache, dass die Bundes- es ein riesengroßer Fortschritt, dass die westeuropäi- republik Deutschland gleichzeitig die G-8-Präsident- schen Länder in der Europäischen Union zusammenge- schaft innehaben wird, zu sprechen; aber wir sollten uns arbeitet haben, sich entschlossen haben, nicht mehr Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006 2891

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (A) gegeneinander zu handeln. Aber es war keine Frage, Jeder Mitgliedstaat – das wird auch für die Zukunft (C) dass diese Europäische Union dem gesamten sozialisti- gelten – wird zunächst einmal seine eigenen Aufgaben schen und kommunistischen System überlegen war. Es lösen müssen. Das gilt für Deutschland allemal; denn musste nicht aus sich heraus begründet werden, warum Deutschland ist die größte Volkswirtschaft in Europa. dieses Europa die richtige Antwort war. Es war die bes- Daraus dürfen wir keine falschen Schlussfolgerungen sere Antwort als alles, was jenseits des Eisernen Vor- ableiten. Wir haben unsere Pflicht zu tun. Wir waren die- hangs stattfand. jenigen, die im Rahmen der Europäischen Währungs- union den Stabilitätspakt eingeführt haben, um den Dann kam der große Siegeszug der Freiheit. Dann hat Menschen Sicherheit zu geben. Deshalb ist es nicht in sich die Überlegenheit der freiheitlichen Idee durchge- Ordnung, wenn wir zum dritten, vierten oder fünften setzt. Der Kalte Krieg war zu Ende. Der ganze Kontinent Mal diesen Stabilitätspakt verletzen; denn damit genü- kann heute nach dieser europäischen Idee leben. Aber gen wir unseren eigenen Ansprüchen nicht. die Situation in Bezug auf andere Kontinente hat sich verändert. Europa muss sich aus sich selbst heraus be- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- gründen und zeigen, dass es in einer Welt größeren Wett- neten der SPD – Beifall bei der FDP) bewerbs, in einer global transparenten Welt Politik nach seinen Wertvorstellungen gestalten kann. Das ist die Ich weiß, dass die Bundesregierung den Menschen in große Aufgabe, vor der wir stehen. diesem Lande mit manchem Beschluss in diesen Tagen manches zumutet. Glaubwürdigkeit in Bezug auf die (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der Maßstäbe, die wir bei anderen in Europa anlegen, ist FDP) aber ein hohes Gut. Deshalb hat sich diese Bundesregie- rung vorgenommen, die Verfassung und den Stabilitäts- Die Bürgerinnen und Bürger haben schlicht und er- pakt in Europa wieder einzuhalten. So einfach ist das. greifend Zweifel, ob das Modell der sozialen Marktwirt- Das muss durchgesetzt werden. schaft, ob unsere Vorstellungen von der Würde des Men- schen so überlegen, so dominant, so durchschlagend (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- sind, dass wir nicht nur in der Vergangenheit die neten der SPD und der FDP) Schlacht im Kalten Krieg gewinnen konnten, sondern dass wir auch jetzt in einer gemeinsam verantworteten Wir unterstützen aus vollem Herzen die Lissa- Welt unsere Art, zu leben, weiterführen können und an- bonstrategie, nach der das A und O in einer Welt zuneh- deren als Vorbild zeigen können. Deshalb müssen wir mender Widersprüche wirtschaftlicher Erfolg, Erfolg bei darüber nachdenken, was Europa bedeutet und wie der Innovation, Wachstum und Arbeitsplätzen, ist. Wir wer- Gestaltungsanspruch der Politik wieder durchgesetzt den unser Gewicht in vielen Bereichen in Europa nur (B) werden kann. Viele haben den Eindruck, dass es hier nur einbringen können, wenn erst einmal wir zeigen, dass (D) um den Fluss von Kapitalströmen geht, dass die Politik wir ein wirtschaftlich erfolgreiches Modell haben, das gar keine Kraft mehr hat. Wir müssen aber unsere Über- im Sinne der sozialen Marktwirtschaft gleichzeitig legenheit zeigen. Daher ist es, glaube ich, richtig und menschlich ist und soziale Verantwortung gewährleistet. wichtig, dass wir sehen: Mit 450 Millionen Menschen in Unsere Aufgabe ist es, aktiv an der Lissabonstrategie der Europäischen Union können wir natürlich die Regeln mitzuarbeiten. Es ist wichtig, zu überlegen, wo sich Eu- des Welthandels beeinflussen. Kein einziges Mitglieds- ropa Wachstumsfesseln angelegt hat. land könnte sich mit seinen Interessen so durchsetzen, Unsere Aufgabe muss es immer sein, auf den Wettbe- wie wir uns gemeinsam durchsetzen können. Um ein werb im Allgemeinen zu achten und vor allen Dingen Beispiel aus dem Umweltschutz zu nennen: Die einzel- auch kleinen und mittleren Unternehmen in der Europäi- nen Mitgliedstaaten hätten niemals so erfolgreich über schen Union eine Chance zu geben. Wir wissen: Wenn das Kiotoprotokoll verhandeln können. Wir haben eine Europa erfolgreich sein soll, dann muss es bei Bildung, gemeinsame Entwicklungshilfepolitik. Forschung und Innovation vorne sein. Das sind unsere Wir treten an vielen Stellen als Europäische Union Stärken. Deshalb ist unsere nationale Maßnahme richtig, auf und können so viel stärker gestalten. Das heißt, einer 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Forschung und alleine würde Schiffbruch erleiden, wo wir gemeinsam Entwicklung auszugeben. Es ist genauso richtig, dass unsere Interessen durchsetzen können. Das ist ein ganz wir darauf achten, dass die europäischen Forschungs- handfester Vorteil Europas. strukturen dem Anspruch genügen, Effizienz zu fördern. Sie dürfen nicht einem Regionalproporz entsprechen; (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der Forschung muss vielmehr da gefördert werden, wo Leis- FDP) tungen erzielt werden, die innovativ sind und mit denen wir weltweit an der Spitze stehen. Um aber das Gesamtziel zu erreichen, müssen wir uns konzentrieren und sagen, welches die wesentlichen Be- Wir sind sowohl innerstaatlich als auch auf europäi- reiche sind, in denen Erfolge sichtbar werden müssen scher Ebene einen Weg gegangen, der viele Regulierun- und in denen wir unseren Bürgerinnen und Bürgern be- gen mit sich gebracht hat. Ich unterstütze ausdrücklich, weisen müssen, dass wir mit Europa erfolgreicher sind dass die Kommission, insbesondere der Präsident der als ohne Europa. Da stellt sich aus meiner Sicht zunächst Kommission und der Vizepräsident Günter Verheugen, die Frage der wirtschaftlichen Dynamik, der sozialen gemeinsam sagt, dass Bürokratieabbau das Gebot der Verantwortung, die wir für die Menschen wahrnehmen, Stunde ist. Wir können 25 Prozent des bürokratischen und der Arbeitsplätze. Aufwandes nicht nur bei uns zu Hause, sondern in ganz 2892 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (A) Europa einsparen. Es ist im Übrigen ein revolutionärer unsere Interessen durchsetzen können – ist der Bereich (C) Schritt, dass wir uns nach fast 50 Jahren europäischer der äußeren Sicherheit, der europäischen Außen- und Einheit – Sie können zurzeit in Brüssel den mindestens Sicherheitspolitik. 6 Meter hohen Berg aufeinander gestapelter Papiere be- sichtigen, die den gesamten Acquis communautaire be- Nach dem Ende des Kalten Krieges haben sich völlig inhalten; all das ist in 50 Jahren entstanden – entschlie- neue Bedrohungen ergeben: Terrorismus, Fundamenta- ßen, angesichts einer sich dramatisch verändernden Welt lismus. Die Erkenntnis ist, dass kein Staat, kein Land, einmal nachzuschauen, ob man etwas ändern oder weg- keiner allein mit dieser Bedrohung fertig werden kann. nehmen kann. Auch das gehört zu Europa. Das können weder die Supermacht Vereinigte Staaten noch Russland, noch die Europäische Union, ge- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- schweige denn ein Mitgliedstaat. neten der SPD) Wenn man ehrlich ist, dann muss man feststellen: Eu- Die Frage, ob wir wirtschaftlich erfolgreich sein wer- ropa hat hier seit dem Ende des Kalten Krieges viel ler- den, ob wir den Menschen Arbeitsplätze geben können nen müssen. Wir haben auf dem Balkan nicht rechtzeitig und ob die Menschen den Eindruck haben, dass sich die gehandelt. Wir haben aus diesem Versagen glücklicher- Wertvorstellungen einer sozialen Ordnung in der - weise die Lehren gezogen. Es ist dann durch unseren päischen Union besser als auf nationaler Ebene verwirk- Einsatz, zum Beispiel in Mazedonien, gelungen – in lichen lassen, ist für mich die entscheidende Frage, an meiner Fraktion hat es darüber heiße Debatten gegeben –, der sich die Akzeptanz Europas beweisen muss. einen Bürgerkrieg zu verhindern. Es ist uns, der Europäi- Wir brauchen neben der wirtschaftlichen Dynamik schen Union, mittlerweile gelungen, die Verantwortung eine Antwort auf das Bedürfnis der Menschen nach für Bosnien und Herzegowina zu übernehmen. Das ist Sicherheit, nach innerer Sicherheit und nach Rechtssi- ein ganz neuer Meilenstein. Was haben wir uns noch cherheit. Umfragen zufolge ist das übrigens eine ganz über die Frage gestritten, ob wir außerhalb unserer Lan- wichtige Anforderung, die die Bürgerinnen und Bürger desgrenzen überhaupt auftreten dürfen! an Europa stellen; sie wollen das. (Zuruf von der LINKEN: Ihr streitet weiter!) Aber wir tun uns gerade auf diesem Gebiet schwer, Heute ist es für die überwiegende Mehrheit der Men- zuzulassen, dass nationalstaatliche Verantwortungen an schen selbstverständlich geworden, dass wir hier Verant- Europa übertragen werden. Sie erinnern sich sicherlich wortung übernehmen. alle an die Debatten über den Europäischen Haftbefehl. Wir nutzen heute ganz selbstverständlich das Schen- Wir überwachen die Friedensprozesse in der indone- (B) gener Abkommen. Gerade in der Innen- und Rechts- sischen Provinz Aceh. Wir haben als Europäische Union (D) politik wird es immer wieder Bereiche geben, in denen im Quartett eine ganz wichtige Rolle im palästinensisch- einzelne Länder sich zusammenschließen und vorange- israelischen Konflikt übernommen. Das Engagement im hen. Ich habe – um ein Beispiel zu geben – gestern mit Kongo bei der Absicherung der Wahlen reiht sich in die dem litauischen Ministerpräsidenten gesprochen: Li- Verantwortlichkeiten ein. tauen arbeitet hart daran, auch in das Schengener Ab- Was heißt das? Das heißt, Europa hat gelernt: Es muss kommen integriert zu werden, weil es als ein unglaubli- eingreifen, bevor es zu spät ist, bevor es zu dramatischen cher Vorzug gilt, Innengrenzen zu haben und die Konflikten kommt, bevor wieder Hungersnöte auftreten Außengrenzen dann gemeinsam zu schützen. Das ist ein wie in der Region der Großen Seen in Afrika. Europa Gedanke, den wir vor 30 oder 40 Jahren für völlig un- kann seinen Anspruch, ein Wertesystem zu haben, nicht möglich gehalten haben. mehr allein bei sich durchsetzen; wenn wir es mit diesem Wer heute einmal die Verhältnisse an deutsch-franzö- Wertesystem ernst meinen, dann müssen wir vielmehr da sischen Grenzübergängen mit denen an deutsch-polni- helfen, wo andere allein nicht klarkommen. Das ist die schen vergleicht, der spürt im Grunde schon die Unge- Konsequenz aus dem von uns erhobenen Anspruch. duld. Man fragt: Wann wird es denn nun endlich ein (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) bisschen einfacher? Die Fortschritte haben einen un- glaublichen Mehrwert für die Menschen und sie sind fast Wir werden immer wieder merken: Wir sind als Part- selbstverständlich geworden. ner gewünscht, gefragt. Angesichts dessen runzelt Wir haben inzwischen ein europäisches Strafregister manch einer die Stirn und fragt: Können wir das alles und einen europäischen Informationsverbund, Stichwort leisten? Aber ich sage ganz bewusst: Wenn wir unsere Europol. Gerade in der Innen- und Rechtspolitik werden Art, zu leben und zu wirtschaften, zu einer Art machen wir die Vereinheitlichung weiterführen müssen, auch wollen, mit der wir uns auch in der Welt Anerkennung wenn dazu viele Mitgliedstaaten ihre Vorbehalte aufge- und Durchsetzung verschaffen, dann werden wir uns vor ben müssen. Ich denke, es wird auch weiterhin eine in- den Verantwortungen und Herausforderungen in der tensive Diskussion im Deutschen Bundestag darüber ge- Welt nicht drücken können. Deshalb müssen wir auch ben, wie viel Souveränität wir abgeben und wie viel wir wirtschaftlich stark sein. Wenn wir Politik gestalten wol- behalten wollen. Diese Diskussion muss geführt werden. len – die Angst der Menschen ist, dass Politik nicht mehr die gestaltende Kraft hat –, dann müssen wir das durch- Ein weiterer zentraler Punkt – auch hierbei geht es um setzen und dann dürfen wir uns nicht drücken. Wenn wir die Frage, wie Europa wahrgenommen wird und wie wir uns drücken, dann wird das so verstanden, als wenn wir Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006 2893

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (A) vor den Herausforderungen kapitulieren, und das wäre verteilt. Wir werden nächste Woche das Vergnügen ha- (C) genau das Falsche. ben, über die Neuordnung dieser Kompetenzen zu spre- chen – (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) (Dr. Werner Hoyer [FDP]: Da bin ich ge- Um all diese Aufgaben bewältigen zu können, muss spannt!) Europa handlungsfähig sein. Was die Handlungsfähig- keit betrifft, gibt es zwei Probleme, mit denen wir uns ein nicht so einfaches Thema, auseinander setzen müssen und die auch noch nicht voll- (Dr. Peter Struck [SPD]: Das ist wahr!) ständig gelöst sind. Handlungsfähig sind wir nur dann, wenn wir von unserer inneren Verfasstheit her die not- aber eines, dessen man sich annehmen muss. Verwischte wendigen Entscheidungen vernünftig treffen können. Kompetenzen sind nämlich immer ein Demokratiedefi- Handlungsfähig sind wir nur dann, wenn wir auch wis- zit. Die Leute wissen nicht mehr, wen sie für was verant- sen, welches Gebilde diese Europäische Union ist. Er- wortlich machen können. Das muss in Europa wieder weiterung und Vertiefung – beides sind Fragestellungen, möglich sein. die sich jetzt in einer völlig neuen Dimension stellen, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- weil Europa attraktiv ist, weil viele Mitglied dieser Eu- neten der SPD und der FDP und des Abg. ropäischen Union werden wollen, weil wir aber auch sa- Rainder Steenblock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gen müssen, wer das kann und wer das nicht kann und NEN]) welches Angebot wir machen, um nicht als eine abge- schlossene Burg wahrgenommen zu werden. Dieser Verfassungsvertrag schafft zum ersten Mal das Amt eines europäischen Außenministers. Da muss Was die Handlungsfähigkeit anbelangt, ist die De- man genau überlegen, welche Kompetenzen wir ihm ge- batte über den Verfassungsvertrag sehr wichtig. Es ist ben wollen. Ich schaue unseren Außenminister an und ein Rückschlag, dass die Volksabstimmungen in Frank- sage: Er wird durch den europäischen Außenminister reich und den Niederlanden negativ ausgegangen sind. nicht arbeitslos werden. Man wird aber natürlich wissen (Zuruf von der LINKEN: Ein Fortschritt!) müssen, wer für Europa auftritt, zum Beispiel in den Verhandlungen des Quartetts. Aber damit ist mitnichten eine Aussage darüber ge- troffen, ob wir einen Verfassungsvertrag brauchen oder Dieser Verfassungsvertrag weist mittels der Subsidia- nicht. Ich sage: Wir brauchen den Verfassungsvertrag. ritätsklausel zum ersten Mal den nationalen Parlamen- ten eine Bedeutung zu. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Sehr richtig!) (B) und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (D) Wir brauchen ihn, weil er auf verschiedene Fragen Ant- Im Übrigen hat mir der Kommissionspräsident gerade worten gibt. Er sagt uns, was unsere Grundrechte sind erzählt, dass das gar nicht ohne Differenzen mit dem Eu- und was das gemeinsame Verständnis ist. ropäischen Parlament geht; denn das Europäische Parla- ment wacht mit Argusaugen darüber, dass die nationa- Zum allerersten Mal – damals noch unter der Führung len Parlamente nicht wieder zu viele Möglichkeiten von – ist es gelungen, die Mitgliedstaa- bekommen. ten der Europäischen Union dazu zu bringen, das, was man allgemein als unsere Wertvorstellungen bezeichnet, An der Stelle will ich allerdings sagen: Das Europäi- in Form eines Grundrechtekatalogs niederzuschreiben. sche Parlament hat in den letzten Jahren in einem Maße Wir haben heiße Debatten gehabt – die werden auch an Bedeutung gewonnen, wie das vor 20, 30 Jahren weitergehen –, zum Beispiel über die Frage, wie wir auf überhaupt nicht vorstellbar war. Angesichts der Dienst- unsere christlichen Wurzeln Bezug nehmen, ob das über- leistungsrichtlinie und der Beratungen darüber hat es haupt möglich ist. Wir haben damit noch einmal einen zum ersten Mal Demonstrationen in Straßburg gegeben. tiefen Einblick in die unterschiedliche Geschichte der Einer unserer Europaparlamentarier hat gesagt, er fühle einzelnen europäischen Länder bekommen. In der Aus- sich geehrt; das habe es überhaupt noch nicht gegeben, einandersetzung mit anderen Religionen, mit anderen dass wegen einer europäischen Regelung demonstriert Kulturen wird es wichtig sein, dass wir als Europäer in werde. der Lage sind, auch unsere Wurzeln ganz klar zu benen- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der nen. Das erwarten andere von uns. Wie wollen wir für LINKEN) unsere Werte fechten, wenn wir das nicht können? Das zeigt, dass dort etwas entschieden wird. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Meine Damen und Herren, wir werden im Übrigen Der Verfassungsvertrag hat zum ersten Mal den Ver- über Folgendes weiter diskutieren müssen; das ist im such unternommen, klare Kompetenzordnungen fest- Verfassungsvertrag noch nicht geklärt. Ich bin der festen zuschreiben, etwas, was die Bürgerinnen und Bürger mit Überzeugung, dass die Entscheidung richtig war, dass Recht verlangen, was im Übrigen in unserem Grundge- die politische Kraft, die bei den europäischen Wahlen setz seit dem ersten Tage des Bestandes der Bundesrepu- die meisten Stimmen bekommt, auch das Recht erhält, blik Deutschland in klarer Form enthalten war. Es gehört den Präsidenten der Kommission zu benennen. Aber wir zu den wunderbaren Merkmalen des Grundgesetzes, werden auch weitersehen müssen. Wenn wir in Europa dass es die Kompetenzen klar auf die einzelnen Ebenen einen Gesetzgebungsprozess mit einem so starken Euro- 2894 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (A) päischen Parlament haben, dann muss es auch – was für Ich gehe auch davon aus, dass die Europäische Kommis- (C) uns ganz selbstverständlich ist – das Prinzip der Dis- sion Vorschläge machen wird, wie diese Defizite zu be- kontinuität geben. Es kann nicht sein, dass Richtlinien heben sind. in Generaldirektionen erarbeitet werden, die Jahrzehnte überleben, egal wer gerade gewählt und an der Arbeit ist. Wichtig ist auch, dass Beitrittsverhandlungen keine Auch das gehört zu einer Fortentwicklung Europas. Einbahnstraße sind. Die Kriterien müssen erfüllt wer- den. Das gilt für Kroatien genauso wie für die Türkei. Es (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der gibt auch keine Koppelgeschäfte. Nur weil zwei Länder FDP) am gleichen Tag die Beitrittsverhandlungen begonnen Das heißt, wir haben eine Europäische Union, die haben, müssen sie sie nicht auch am gleichen Tag ab- durch den Verfassungsvertrag in die Lage versetzt schließen. Jedes Land hat ein Anrecht darauf, so behan- wird, Entscheidungen zu treffen. Denn der institutio- delt zu werden, wie es sich selber darstellt. nelle Teil – die Fragen bezüglich der Kommission, des Es war richtig, meine Damen und Herren, dass die europäischen Außenministers, des Rates – muss so ge- Europäische Union die Verhandlungen über ein Stabili- klärt werden, dass Europa arbeiten kann. Die heutigen täts- und Assoziationsabkommen mit Serbien und Mon- Entscheidungsmechanismen in Europa sind so schwie- tenegro erst einmal unterbrochen hat, weil dort keine rig, dass man fast ein Fachhochschulstudium braucht, Kooperation mit dem Haager Gerichtshof für Kriegsver- um zu erkennen, wer gerade die Mehrheit hatte oder wie brechen stattfindet. Auch solche Signale müssen ausge- man eine Sperrminorität erzeugt. Die Zusammensetzung sandt werden: Beitritte gibt es nicht zu jedem Preis, son- der Kommission kann so nicht bleiben. Wir brauchen dern die Bedingungen, die für die Europäische Union also unbedingt den Verfassungsvertrag, um ein hand- gelten, müssen erfüllt werden. lungsfähiges Europa zu haben. Spätestens die deutsche Präsidentschaft wird sich damit befassen. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und SES 90/DIE GRÜNEN) der SPD) Da wir nicht alle, die Mitglied werden wollen, auf- Weil das Thema aber so schwierig ist und weil die In- nehmen können, werden wir die Nachbarschaftspolitik teressen so unterschiedlich sind, bin ich gegen einen weiterentwickeln. Das ist überhaupt keine Frage. Ich bin Schnellschuss, durch den wir in eine Lage versetzt wer- zutiefst davon überzeugt, dass wir das nicht einfach mit den, in der wir wieder nicht weiterkommen. Stattdessen Handelsassoziierungsabkommen machen können. Wir sollten wir sehr gut überlegen, wie wir das Projekt des werden diesen Staaten eine verstärkte politische Koope- Verfassungsvertrages zu einem Erfolg führen. Ich (B) ration anbieten müssen, die aber nicht in jedem Falle (D) möchte diesen Verfassungsvertrag, die Bundesregierung eine Vollmitgliedschaft bedeuten kann. Ich habe begrün- möchte ihn und auch, wie ich denke, die Mehrheit dieses det, warum Europa handlungsfähig sein muss. Ein Ge- Parlaments. bilde, das keine Grenzen hat, kann nicht in sich schlüssig (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie handeln und eine bestimmte Verfasstheit haben. Das bei Abgeordneten der FDP und des BÜND- müssen wir uns klar vor Augen führen und deshalb NISSES 90/DIE GRÜNEN) Grenzen ziehen. Meine Damen und Herren, der zweite große Punkt ist Meine Damen und Herren, ich glaube, wenn wir die die Frage der Erweiterung. Hier will ich ausdrücklich anstehenden Fragen beantworten und als Bundesrepu- sagen: Das, was versprochen ist, wird – da bewegen wir blik Deutschland unseren Beitrag dazu leisten, dass die uns alle in einer Kontinuität – umgesetzt. Dabei sind al- Menschen in ganz Europa nachvollziehen können, dass lerdings auch die Kriterien klar, unter denen Beitritte er- diese Europäische Union für uns eine einzigartige Mög- folgen können. Wir werden in der nächsten Woche den lichkeit ist, unsere Interessen, unsere Werte, unsere Art Fortschrittsbericht zu Bulgarien und Rumänien er- zu leben, lebbar zu machen, dann werden die Menschen halten. Ich denke, es ist klar, dass Bulgarien und Rumä- das auch verstehen. Es kann dann sein, dass einige nien Mitglieder der Europäischen Union werden. Punkte wieder unter die nationale Kompetenz fallen und andere aus der nationalen in die europäische Kompetenz (Beifall bei Abgeordneten der SPD) übergehen. Dies muss sich aber immer an folgenden Fra- Aber ich erwarte von der Europäischen Kommission gen orientieren: Hat es einen Mehrwert für die einzelnen auch, dass sie in ihrem Fortschrittsbericht die Defizite Menschen, für ihre soziale Sicherheit, für ihren Arbeits- klar benennt. platz und für unsere äußere und innere Sicherheit? Ha- ben wir damit die Möglichkeit, einen Beitrag zu leisten, (Dr. Peter Struck [SPD]: Richtig!) anderen bei der Lösung ihrer Probleme zu helfen? Wenn Wir helfen den Ländern nicht, wenn wir die Defizite wir diese Fragen ehrlich beantworten, dann werden wir einfach unter den Teppich kehren und davon ausgehen, die Europäerinnen und Europäer erreichen, und zwar dass die Europäische Union und die europäische Idee sie nicht nur mit Worten, sondern auch mit Taten. schon zudecken werden. Unsere Politik muss die Kraft haben, das Wichtige (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem vom Unwichtigen zu trennen. Wir müssen an die Kraft BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- von Frieden in Freiheit, von Demokratie und von Men- geordneten der FDP) schenrechten glauben, die auf der ganzen Welt verwirk- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006 2895

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (A) licht werden sollten. Mit unserer Politik auf der Grund- Wir Politiker dürfen die Skepsis gegenüber Europa (C) lage dieser unglaublich großen Erfolgsgeschichte nicht durch populistische Wettrennen bei der vermeintli- müssen wir die Zukunft gestalten. chen Wahrnehmung nationaler Interessen oder durch Teilnahme an der immer weiter um sich greifenden Eu- Menschen wie Schuman, de Gaulle, Adenauer und ropanörgelei geradezu anfeuern. viele andere standen damals vor unglaublich großen Trümmern; aber sie hatten Visionen. Wir haben ein star- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten kes Fundament, auf dem wir aufbauen können. Wir ha- der SPD und des Abg. Hartmut Koschyk ben eine jahrzehntelange Erfolgsgeschichte. Heute gibt [CDU/CSU]) es neue Bedrohungen, neue Herausforderungen und mehr Wettbewerb. Aber mit unserer Geschichte und un- Sicher, Europa hat Schwächen. Die Politik muss die- serem Selbstbewusstsein, das wir einbringen, können sen Schwachstellen zu Leibe rücken. Aber wir haben wir es schaffen, aus Europa auch im 21. Jahrhundert eine auch die Pflicht, darzustellen, dass der Prozess der Erfolgsgeschichte zu machen. Ich jedenfalls bin ent- europäischen Integration ohne Alternative ist und wir schlossen, gemeinsam mit der Bundesregierung und mit uns an der Zukunft unserer Völker versündigen würden, Ihnen das zu tun. wenn wir nicht entschlossen aufträten, wenn diesem In- tegrationsprozess Schaden droht. Herzlichen Dank. Die Staats- und Regierungschefs können dazu übri- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie gens selber beitragen, indem sie nach Tagungen der Eu- bei Abgeordneten der FDP und des BÜND- ropäischen Räte nicht immer nur das national Herausge- NISSES 90/DIE GRÜNEN) holte in den Vordergrund stellen und dabei das Ganze aus dem Blick verlieren. Europa ist kein Nullsummen- Präsident Dr. Norbert Lammert: spiel; Europa ist mehr als die Summe seiner Teile. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst Natürlich ist das schwer zu kommunizieren, wenn die der Kollege Dr. Werner Hoyer für die FDP-Fraktion. Menschen Angst um ihren Arbeitsplatz haben oder ihn bereits verloren haben. Man darf nicht übersehen, dass (Beifall bei der FDP) jeder verlorene Arbeitsplatz mit einem Gesicht, mit ei- nem konkreten Schicksal verbunden ist, während jeder Dr. Werner Hoyer (FDP): Arbeitsplatz, der durch die europäische Integration und Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der die Globalisierung neu geschaffen wird, eher abstrakt Zustand der Europäischen Union ist überaus besorgnis- bleibt. Dennoch müssen wir immer wieder darauf hin- (B) erregend. Über Jahrzehnte hinweg haben wir uns darauf weisen, dass die Veränderungen, die die europäische In- (D) verlassen können, dass die Integrationsfortschritte nicht tegration mit sich bringt, per saldo positiv sind. 50 000 reversibel sind. zusätzliche Arbeitsplätze netto durch die Öffnung nach Osten – so rechnet es uns der Bundesverband des Deut- (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Herr Präsi- schen Groß- und Außenhandels vor – ist eine Zahl, die dent, ich möchte gerne hören, was der Kollege man ernsthaft zur Kenntnis nehmen und kommunizieren sagt) muss.

Präsident Dr. Norbert Lammert: Die Gründergeneration der Europäischen Wirtschafts- gemeinschaft, die auch Kriegsgeneration war, ist heute Einen Moment, Herr Kollege Hoyer. Ich möchte dem im Deutschen Bundestag nicht mehr vertreten. Solange Fraktionsvorsitzenden der FDP gerne bei seinem ver- , , Hans-Dietrich Genscher ständlichen Bemühen behilflich sein, Ihrer Rede unge- und die Szene geprägt haben, war es völlig stört folgen zu können. Ich bitte all diejenigen, die an der undenkbar, dass die Qualität der Europäischen Union als Debatte nicht weiter teilnehmen können, möglichst größtes europäisches Friedensprojekt unserer Ge- schnell und geräuschlos den Saal zu verlassen. schichte im Bewusstsein der Menschen weit nach hinten (Dirk Niebel [FDP]: Sie könnten aber etwas rückt. Für die heutige junge Generation ist dies alles lernen, wenn sie blieben!) – erfreulicherweise – selbstverständlich erlebte Realität und Normalität, die kaum jemand hinterfragt. Dr. Werner Hoyer (FDP): Dennoch müssen wir – Frau Bundeskanzlerin, Sie ha- Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Zustand der ben das dankenswerterweise heute getan – immer wieder Europäischen Union ist besorgniserregend. Wir müssen auf die großen Zusammenhänge und auch auf die damit alles daran setzen, die aufkommenden Zweifel an der Ir- verbundenen fundamentalen Wertefragen hinweisen, reversibilität des Integrationsprozesses schnellstens aus- die wir mit der europäischen Integration verbinden. Wir zuräumen. Defizite an politischer Führung in Brüssel werden die jungen Menschen aber nicht allein durch den und in vielen Mitgliedstaaten, erschreckende, ja oft Verweis auf die Gräber von Verdun für Europa begeis- stumpfsinnige Renationalisierungstendenzen in einigen tern können. Hinzukommen muss der Hinweis auf die Mitgliedstaaten, abnehmendes Vertrauen der Bürgerin- Riesenchancen, die die europäische Integration für un- nen und Bürger, mangelndes Vertrauen in die Reformfä- sere Zukunftssicherung darstellt. Sie haben gesagt: Wir higkeit unserer Mitgliedstaaten – all das gibt Anlass zu müssen der historischen Begründung eine Neubegrün- größter Sorge. dung hinzufügen. – Das teile ich ausdrücklich. 2896 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006

Dr. Werner Hoyer (A) Europa ist die Antwort auf die Herausforderungen der lierung zurücknehmen. Das ist völlig richtig. An genau (C) Globalisierung. Mit Europa organisieren wir die Selbst- dieser Stelle muss die Bundesregierung aber selbst noch behauptung der Europäer im globalen Wettbewerb, und liefern. Ansonsten werden in Europa viele Hoffnungen zwar wirtschaftlich wie politisch. Ohne Europa werden zerstört, die sich vor allem auf Deutschland und die weder Deutschland noch Dänemark, weder Ungarn noch deutsche Bundeskanzlerin richten. Großbritannien ihre Interessen in der Welt wahren sowie Sicherheit und Wohlstand erhalten können. Wir Freien Demokraten wünschen Ihnen, Frau Bun- deskanzlerin, dass Sie die in Sie gesetzten Hoffnungen Dabei kann vieles besser gemacht werden. Man kann erfüllen können. Der Anspruch auf Reformen in Europa sich zum Beispiel auf das konzentrieren – Sie haben es und das Fehlen einer mutigen nationalen Reformpolitik gesagt –, was Europa besser kann als der Nationalstaat passen allerdings nicht zusammen. oder die Regionen. Wir sollten deshalb zum Beispiel dringend prüfen – um konkret zu werden –, ob das Sub- (Beifall bei der FDP) sidiaritätsprotokoll des Verfassungsvertrages, das ei- Am 25. März 2007, also etwa zur Halbzeit der deut- nen wirklichen Fortschritt darstellt, nicht vorab in Kraft schen Präsidentschaft, jährt sich die Unterzeichnung der gesetzt werden kann. Römischen Verträge zum 50. Mal. Es muss unsere Am- (Beifall bei der FDP) bition sein, diesen Jahrestag für einen neuen Aufbruch, nicht nur zur Reflexion und Rückbesinnung zu nutzen. Die Rolle der nationalen Parlamente kann, ja muss Frau Bundeskanzlerin, Sie haben gesagt, warten heiße schnellstmöglich sichtbar gestärkt werden. nicht, den Verfassungsprozess einschlafen zu lassen, Aber wir sollten nicht in Brüssel Kritik abladen, die sondern den geeigneten Zeitpunkt zum Handeln zu fin- nach Berlin oder in deutsche Landeshauptstädte gehört. den, der aber noch nicht gekommen sei. Wir haben aber Beim Antidiskriminierungsgesetz sehen wir, welchen nicht mehr viel Zeit. Spätestens während der deutschen Glaubwürdigkeitsverlust man sich sehr schnell einhan- Präsidentschaft, möglicherweise in dem kleinen Zeit- deln kann. fenster zwischen den Wahlen in Frankreich und dem Ende der deutschen Präsidentschaft, muss Deutschland (Beifall bei der FDP) alles versuchen, den Zug wieder auf die Schiene zu set- zen und die Weichen richtig zu stellen. Mit dem Vertrag Sie von der Union haben im letzten Jahr Ihre Wahlkreise von Nizza können wir uns auf Dauer nicht zufrieden ge- durchpflügt und mit dem Kampf gegen das rot-grüne ben. Wenn wir das täten, spielten wir denen in die Antidiskriminierungsgesetz richtig schön Punkte ge- Hände, die von vornherein nicht mehr wollten als eine macht. gehobene Freihandelszone. (B) (D) (Beifall bei Abgeordneten der FDP) (Beifall bei der FDP) Was ist daraus geworden? Sie hatten ursprünglich ge- sagt, in Zukunft würden EU-Richtlinien nur noch eins zu Wer mehr Demokratie, mehr Transparenz, mir Subsi- eins umgesetzt. Dann haben Sie aber eine Kirchenklau- diarität, mehr Dynamik und mehr Handlungsfähigkeit, sel herausgehandelt und für die Landwirte noch etwas auch in der Außen- und Sicherheitspolitik, will, muss herausgeholt. Und schon ist das alte rot-grüne Antidis- den Verfassungsprozess neu beleben. Ich halte es für kriminierungsgesetz wieder auf dem Tisch. ernsthaft erwägenswert, bei Wahrung des Gehalts des Vertrages über eine Verfassung für Europa seine (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- konstitutionellen Elemente zu einem echten, ver- NEN]: Weil es einfach gut ist!) gleichsweise schlanken und lesbaren Verfassungstext zu destillieren und die übrige Materie, insbesondere den Das schafft keine zusätzliche Glaubwürdigkeit; das Teil III, weitgehend sekundärrechtlich zu regeln. schafft kein Vertrauen in die Politik. Europa braucht Mut: Mut zur Erneuerung, Mut zur (Beifall bei der FDP) Freizügigkeit, Mut zum Wettbewerb, Mut zur Vertiefung Einen ähnlichen Fall unverantwortlichen Herum- und Mut zur weiteren Öffnung, auch wenn zwischen den schlagens auf Europa bei gleichzeitigem nationalen Ver- Entscheidungen in Zukunft vermutlich größere Abstände sagen sehen wir in vielen Fragen des Lissabonprozesses. liegen. Wir brauchen mehr Kreativität bei der prakti- Es ist doch geradezu rührend, wenn der Europäische Rat schen Ausgestaltung. Europa braucht Mut zur Freiheit, im Halbjahresrhythmus große Ziele bekräftigt, die natio- damit die Bürger und Staaten unseres Kontinents die in- nalen Hausaufgaben aber gleichzeitig nicht erledigt wer- tellektuellen, technologischen und ökonomischen Chan- den. cen nutzen und die Dynamik entfalten können, die wir für die Sicherung unserer Zukunft dringend brauchen. Deutschland wird umso mehr Einfluss entfalten kön- nen, je mutiger und konsequenter wir unsere Volkswirt- Wenn Sie, Frau Bundeskanzlerin, dem europäischen schaft modernisieren, unsere Bildungsanstrengungen in- Integrationsprozess neuen Schwung geben wollen, wer- tensivieren, unsere Haushalte sanieren und unsere den Sie die Freien Demokraten an Ihrer Seite finden, ins- Arbeitsmärkte deregulieren. besondere dann, wenn Sie Ihren europäischen Anspruch durch nationale Politik unterfüttern. Frau Bundeskanzlerin, Sie haben am Dienstag gefor- dert: Jobs schaffen, Bürokratie abbauen und Überregu- Ich danke Ihnen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006 2897

Dr. Werner Hoyer (A) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Union zusammen mit unseren Partnern voranbringen (C) der CDU/CSU – Dr. Guido Westerwelle [FDP]: können. Nicht zuletzt bei den Verhandlungen über die Das ist eine konstruktive Opposition, was!?) Finanzen haben Frau Bundeskanzlerin Merkel und Herr Außenminister Steinmeier bewiesen, dass wir die Euro- Präsident Dr. Norbert Lammert: päische Union voranbringen können. Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin Angelica (Beifall des Abg. Axel Schäfer [Bochum] Schwall-Düren das Wort. [SPD]) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Aber wir haben keine finanzielle Wundertüte mehr, wie wir sie bis zum Ende der 80er-Jahre besaßen, und die Dr. Angelica Schwall-Düren (SPD): Europäische Union ist vielfältiger und widersprüchlicher Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In geworden. Man muss heute auch sagen: Im Augenblick seiner Dankesrede anlässlich der Entgegennahme des haben wir keinen starken französischen Partner an unse- Bruno-Kreisky-Preises am 9. März 2006 sagte Jürgen rer Seite, der uns helfen kann, die Gegensätze zu über- Habermas: brücken. Was mich heute am meisten aufregt, die Zukunft Wir werden die Projekte, die angefangen und noch Europas nämlich, finden andere abstrakt und lang- nicht erledigt sind, fortsetzen müssen. Wir werden neue weilig. Akzente setzen und Impulse geben. Es ist ganz wichtig – ich bin froh, dass hierbei bis auf ganz wenige Ausnah- Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin überzeugt, die men große Einigkeit im Deutschen Bundestag besteht –, heutige Debatte im Deutschen Bundestag wird nicht nur dass das Verfassungsprojekt vorangebracht wird. Ich zeigen, dass wir Europa ernst nehmen, sondern auch, stimme mit der Bundeskanzlerin völlig überein, dass wir dass wir mit Leidenschaft diskutieren. Frau Bundeskanz- die Verfassung für die Handlungsfähigkeit, für größere lerin, Sie haben uns das eben bereits gezeigt. Transparenz und für mehr Bürgernähe brauchen. Mein Kollege Michael Roth wird anschließend genauere Aus- Die Europawoche gibt uns Gelegenheit, eine Stand- führungen dazu machen. ortbestimmung vorzunehmen. Jenseits von Gedenkritua- len ist es aber wichtig, dass wir uns der Herausforderun- Meine sehr verehrten Damen und Herren, das franzö- gen, aber auch der Gefahren eines Rückfalls hinter den sische und das niederländische Nein in den Referenden Stand der erreichten Integration bewusst sind. Es ist in zur Verfassung waren neben anderen Gründen auch mit der Tat so, dass wir bis spätestens 2009 eine Entschei- der Erwartung an die soziale Gestaltungskraft der Eu- dung darüber herbeiführen müssen, wohin die Europäi- ropäischen Union verbunden. Deswegen ist es wichtig, (B) (D) sche Union will. Wir müssen uns fragen, ob die Frie- dass wir in diesem Feld aktiv bleiben und noch aktiver denssicherung und die Wohlstandsentwicklung uns werden. weiterhin, ebenso wie in der vergangenen Zeit, gelingen werden. Die Bürgerinnen und Bürger zweifeln zuneh- (Zuruf des Abg. Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]) mend und immer wieder. Dennoch ist die Mehrheit für Sollte die europäische Dienstleistungsrichtlinie bis die Europäische Union. Das scheint ein Widerspruch zu zu unserer Ratspräsidentschaft noch nicht verabschiedet sein. Aber angesichts der rasanten Veränderungen nach sein – ich hoffe, dass sie es sein wird –, dann wird sich Beendigung des Ost-West-Gegensatzes ist es tatsächlich Deutschland selbstverständlich dafür einsetzen, dass die- so, dass die Ängste der Bürger und Bürgerinnen zuge- ses Projekt erfolgreich zu Ende gebracht wird. Für uns nommen haben: Ängste um ihren Arbeitsplatz, um den ist dabei klar, dass das Prinzip „Gleicher Lohn für glei- Verlust ihrer Identität, aber auch die Sorge um die Zu- che Arbeit am gleichen Ort“ zur Geltung kommen muss. kunft ihrer Kinder. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Das kennzeichnet auch die Herausforderungen für Europa, für die Europäische Union. Denn dass die Bür- Die soziale Dimension der Europäischen Union kann ger die EU für notwendig halten, weist darauf hin, dass im Jahr 2007 in hervorragender Weise angepackt wer- sie Erwartungen und Wünsche an die Europäische Union den, in einem Jahr, das auf europäischer Ebene als Jahr haben, dass sie Lösungen und Antworten auf die aufge- der Chancengleichheit für alle ausgerufen wird. Es worfenen Fragen und auf die Herausforderungen erwar- kommt in der Tat darauf an, dass konkrete Politik ge- ten. macht wird, die für die Menschen erfahrbar ist. Dabei geht es beispielsweise – übrigens sind das auch Faktoren Damit sind natürlich der Rahmen der zukünftigen Ar- für Wachstum im wirtschaftlichen Bereich – um Themen beit und damit auch der Rahmen der deutschen Ratsprä- wie Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz. Es geht sidentschaft gekennzeichnet. Die Frau Bundeskanzlerin um die Arbeitszeitrichtlinie, um die Arbeitsschutzrichtli- hat ein großes Tableau gezeichnet. Gemessen an der Tat- nie, um Fragen der Leiharbeit und um das Aktionspro- sache, dass eine Ratspräsidentschaft lediglich ein halbes gramm „Lebenslanges Lernen“.Hier gibt es eine Reihe Jahr dauert, sind die Erwartungen natürlich sehr hoch von Möglichkeiten, die notwendige Flexibilität mit der und wir müssen vorsichtig sein, um nicht Erwartungen sozialen Sicherheit für die Bürger und Bürgerinnen zu zu wecken, die dann nicht erfüllt werden können. verbinden. Es ist richtig, dass Deutschland in der Vergangenheit Um die Voraussetzungen für Chancengleichheit immer wieder gezeigt hat, wie wir die Europäische schaffen zu können, braucht der Staat allerdings finan- 2898 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006

Dr. Angelica Schwall-Düren (A) zielle Ressourcen. Deswegen müssen wir uns auch dem sein. Das hat, wenn ich beispielsweise an unsere Nach- (C) Thema „unfairer Steuerwettbewerb“ widmen. Ich bin barn Polen und die baltischen Staaten denke, auch mit froh, dass wir das Projekt der Schaffung einer einheitli- der Frage zu tun: Wie viele Kompetenzen sollen auf eu- chen Bemessungsgrundlage für die Unternehmensbe- ropäischer Ebene angesiedelt werden und wie viel kann steuerung weiterverfolgen werden. und muss weiterhin auf nationaler Ebene geregelt wer- den? (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU) Hier besteht ein Zusammenhang mit dem wichtigen Feld der Energiesicherheitspolitik, mit der Nachbar- Das historisch gewachsene Zusammenspiel der wirt- schaftspolitik und mit der gemeinsamen Außenpolitik, schaftlichen, politischen und sozialen Institutionen ist der bereits skizziert worden ist. Ich möchte allerdings ein fundamentaler Bestandteil unseres kulturellen euro- betonen, wie wichtig es ist, dass wir diese Politiken mit päischen Erbes. Das ist es, was wir soziale Marktwirt- den östlichen Nachbarn der Europäischen Union partner- schaft oder gelegentlich auch europäisches Sozialmodell schaftlich weiterentwickeln und uns auf gleicher Augen- nennen. höhe begegnen, damit die Menschen in diesen Ländern Klar ist: Bei der Umsetzung der Wachstumsstrategie die Chance bekommen, an der Entwicklung hin zu De- von Lissabon werden wir Sozialdemokraten darauf ach- mokratie, Wohlstand und sozialer Sicherheit teilzuneh- ten, dass es zu keinen marktradikalen Entwicklungen men, ohne dass damit Souveränitätsabgabe verbunden kommt, wie sie immer wieder von der FDP eingefordert ist. werden, sondern dass eine Modernisierung der gewach- (Beifall bei der SPD) senen Strukturen verfolgt wird. Würde hier ein Abbau betrieben, könnten wir nicht mit einem ökonomischen Wir haben in den nächsten Jahren eine Fülle von He- Erfolg rechnen, sondern müssten eher negative Abwehr- rausforderungen zu meistern: den Beitritt von Rumänien reaktionen befürchten. Wir werden das nationale Re- und Bulgarien, die Beitrittsverhandlungen mit weiteren formprogramm zur Umsetzung der Lissabonstrategie Ländern, die Entwicklung einer europäischen Perspek- sorgfältig begleiten, damit seine positiven Ansätze auf tive für den westlichen Balkan. Diese europäische Per- dem Frühjahrsgipfel 2007 als Erfolg gewertet werden spektive muss gesichert sein, aber dabei müssen wir Au- können. genmaß wahren und die Aufnahmefähigkeit der Europäischen Union berücksichtigen. Deswegen wün- Zum Thema Bürokratieabbau ist heute bereits einiges schen wir uns, wünschen wir der Bundesregierung, wün- gesagt worden. Dem möchte ich nur eines hinzufügen: schen wir Frau Merkel und Herrn Steinmeier im Vorfeld Es ist sicherlich wichtig, insbesondere kleine und mittel- und bei der Ausübung der deutschen Präsidentschaft in ständische Unternehmen in diesem Bereich zu entlasten. (B) der Europäischen Union weitsichtige und kompetente (D) Dabei darf aber keine blinde Deregulierung stattfinden. Partner. Ich bin sicher, dass wir dann gemeinsam erfolg- Vielmehr ist eine bessere Gesetzgebung erforderlich, um die Innovationsfähigkeit dieser Unternehmen zu stärken reich für die Zukunft der Bürger und Bürgerinnen in der und ihnen die Chance zu geben, am Wissens- und Tech- Europäischen Union arbeiten können. Diese Erfolge nologietransfer teilzunehmen, den wir auch im Rahmen werden von den Menschen gewürdigt werden und die der europäischen Forschungsprogramme unterstützen Europäische Union wird wieder mehr Akzeptanz bei ih- können. nen finden; da bin ich ganz sicher. An diesen konkreten Politikfeldern wird sich das zeigen. Frau Merkel hat in den letzten Tagen auf die europäi- sche Energiestrategie hingewiesen. In der Tat ist eine Herzlichen Dank. nachhaltige Energieversorgung, die bezahlbar und sau- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ber ist, eine sehr wichtige Bedingung für den Erfolg der der CDU/CSU) Europäischen Union und ihrer Mitgliedstaaten. Deswe- gen brauchen wir eine kooperative Energiestrategie, die Präsident Dr. Norbert Lammert: mehr bedeutet, als langfristige Lieferverträge abzu- schließen. Dazu gehören auch Elemente wie Energieeffi- Das Wort hat nun der Kollege Dr. Gregor Gysi, Frak- zienz und Energieeinsparung sowie die Unterstützung tion Die Linke. regenerativer Energien. Auch in diesem Bereich ist die (Beifall bei der LINKEN) Europäische Union tätig, um im Interesse einer ökologi- schen Nachhaltigkeit, aber auch im Interesse der Bewah- Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): rung und Schaffung von Arbeitsplätzen, beispielsweise im Handwerk und in der Landwirtschaft, Erfolge zu er- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Bun- zielen. deskanzlerin, Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, dass die große Leistung der Europäischen Union darin Hier muss Deutschland Impulsgeber sein, aber auch bestehen kann – und hoffentlich auch darin bestehen Moderator zwischen den unterschiedlichen Interessen wird –, dass es einen europäischen Frieden gibt, dass die der großen und der kleinen Staaten, zwischen den Län- Jahrhunderte der europäischen Kriege endlich überwun- dern, die in der Zukunft eher den nuklearen, den fossilen den werden und dass zumindest auf diesem Kontinent oder den regenerativen Energien eine Chance geben die kriegerische Geschichte ein Ende findet. Dann – so wollen. Deutschland muss auch Moderator zwischen die Hoffnung – wären die kriegerischen Auseinanderset- Ländern mit unterschiedlichen historischen Erfahrungen zungen innerhalb Jugoslawiens, aber auch der völker- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006 2899

Dr. Gregor Gysi (A) rechtswidrige Krieg der NATO gegen Jugoslawien die Konzerne, Best- und Besserverdienende geht? Das Ar- (C) hoffentlich letzten Kriege in Europa gewesen. Das wäre gument lautet, das sei gerade in einem anderen europäi- wichtig. schen Land so gemacht worden, danach müssten wir uns richten. Das ist organisiertes Steuerdumping, das dazu (Beifall bei der LINKEN) führt, dass die Staaten nicht mehr in der Lage sind, den Sie wissen, dass es in der EU-Verfassung, die von sozialen und ökologischen Ausgleich zu bezahlen, der zwei Völkern mehrheitlich abgelehnt worden ist – darauf aber dringend nötig ist, und die notwendigen Investitio- komme ich noch zu sprechen –, auch einen großen mili- nen vornehmen zu können. tärischen Teil gibt. Ich hätte es noch verstanden, wenn (Beifall bei der LINKEN) man die nationalen Streitkräfte durch irgendetwas Eu- ropäisches ablösen wollte. Es soll aber alles oben drauf- Wann machen wir endlich Schluss damit? Wann einigen gesetzt werden: Die NATO soll bleiben, die nationalen wir uns in der Europäischen Union endlich und legen Streitkräfte sollen bleiben und Europa will auch noch Mindeststeuern fest, die jedes Land erheben muss, zum Streitkräfte. Wozu eigentlich, wenn wir Europäer keine Beispiel bei der Körperschaftsteuer? Wir brauchen dies- Kriege mehr führen wollen? Das ist die Frage, die die bezüglich eine Verständigung, sonst ist das keine Union. Bevölkerungen stellen. Wir haben einen Binnenmarkt mit einer Binnenwährung, (Beifall bei der LINKEN) die Steuern aber sind völlig unterschiedlich. Die Unter- schiede sind viel größer als diesbezüglich zwischen den Frau Bundeskanzlerin, ich hätte heute von Ihnen ein Nord- und den Südstaaten in den USA. Das ist nicht zu Wort zu dem Interview erwartet, in dem Verteidigungs- verkraften. minister Jung auf die Frage, ob für unser Militär, die Bundeswehr, wirtschaftliche Interessen, Versorgungs- (Beifall bei der LINKEN) und Ressourcensicherung eine Rolle spielen, sagte: Ja, Dadurch haben wir ein Dumping bei Löhnen und bei das müsse man offen sagen. – Das ist ein Denken wie in sozialen und juristischen Standards. Weil meine Zeit da- den früheren Jahrhunderten. Ich will nicht, dass wir noch für nicht reicht, will ich das nicht näher ausführen. Nur Kriege wegen Erdgas, Erdöl und dergleichen führen! so viel: Bei der Zulassung der Beschwerde eines Nach- (Beifall bei der LINKEN) barn gegen einen Bau auf dessen Nachbargrundstück gibt es gewaltige Differenzen. Es macht aber einen Rie- Das wäre auch grundgesetzwidrig. Wenn Sie die Mütter senunterschied, ob Sie einem Investor sagen: „Das kann und Väter des Grundgesetzes gefragt hätten, ob sie sich acht Jahre dauern“ oder, in einem anderen Land, „Das vorstellen könnten, die Bundeswehr zur Durchsetzung dauert ein halbes Jahr“. Darüber muss man sich doch ökonomischer Interessen einzusetzen, hätten sie das völ- (B) verständigen, wenn man eine Union sein will. (D) lig zu Recht strikt verneint. Wir sollten uns an das Grundgesetz halten. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) Als die Erweiterung der Union anstand, hat man ge- sagt, man wolle nicht mehr zahlen, man wolle für den Bis Maastricht war die Europäische Union darauf Aufbau der Wirtschaften in Litauen, Slowenien und in ausgerichtet, die Volkswirtschaften der Länder anzuglei- anderen Ländern nicht mehr so viel Geld ausgeben. Das chen und sozusagen schrittweise eine ökonomische Ge- führte dazu, dass die Union umgerechnet für jeden Iren meinschaft in Europa zu schaffen. Das war auch sehr 122,1 Euro im Jahr zahlt, für jeden Slowenen aber nur sinnvoll. Aber wir müssen uns mit den Änderungen, die 44,4 Euro. Irland ist inzwischen aber das zweitreichste es seit Maastricht gegeben hat, auseinander setzen. Es Land in der Union. Was ist die Folge dessen? Die Folge war Helmut Kohl, der gesagt hat: Erst die politische ist, dass Dumpingstrukturen entstehen, weil man Slo- Union, dann die Währungsunion. Als er die politische wenien und andere Länder zwingt, über möglichst nied- Union nicht durchsetzen konnte, hat er sich entschieden, rige Steuern Anziehungskraft auszuüben. Das wirkt sich doch erst die Währungsunion einzuführen. Dafür zahlen negativ in den reicheren Ländern wie Frankreich und die europäischen Völker noch heute; denn das war der Deutschland aus und führt zu solch negativen Stimmun- Beginn der Dumpingstrukturen, mit denen wir es heute gen, die Sie nicht verstehen und womit Sie sich hier aus- zu tun haben. einander setzen. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) Eigentlich hätten wir vor der Währungsunion die Ver- Sie haben gesagt, bei der Erarbeitung einer Verfas- fassung gebraucht, über die jetzt diskutiert wird. Wir sung bräuchten Sie eine Denkpause, Sie müssten in hatten aber keine. Immer, wenn man so etwas im Nach- Ruhe darüber nachdenken. Nun sagen Sie, Sie wollen hinein einzuführen versucht, wird es kompliziert. Nun die Verfassung so, wie sie ist. Frau Bundeskanzlerin, haben wir – zum Teil – einen Binnenmarkt und eine Bin- Mehrheiten in Frankreich und in Holland haben die Ver- nenwährung – auch zum Teil –, aber keine wirkliche po- fassung abgelehnt. Das müssen Sie zur Kenntnis neh- litische Verfasstheit. Das ist ein riesiges Problem. Schritt men. für Schritt versuchen wir jetzt, das eine oder andere zu regeln. (Beifall bei der LINKEN) Wie lautet denn das Argument, das immer vorge- Sie können doch nicht einfach sagen: „Wir machen eine bracht wird, wenn es um die Senkung der Steuern für Pause“ und dann die gleiche Verfassung wieder einbrin- 2900 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006

Dr. Gregor Gysi (A) gen. Man muss sich doch Gedanken darüber machen, Volker Kauder (CDU/CSU): (C) was man ändern muss, um die Mehrheit der Bevölkerun- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und gen dafür zu gewinnen, gerade wenn man, wie auch wir, Herren! Seit 60 Jahren leben wir Europäer in Frieden. die Europäische Union will. Diese lange Phase des Friedens ist historisch einmalig. Ich fordere Sie auf: Denken Sie neu über den militäri- Schon deshalb ist die europäische Integration eine Er- schen Teil nach und darüber, wie der Neoliberalismus folgsgeschichte ohne Beispiel. aus der Verfassung verdrängt wird. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall bei der LINKEN – Zuruf des Abg. neten der SPD) Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]) Diese Erfolgsgeschichte ist eng verbunden mit den – Sie machen hier doch nichts weiter als neoliberale Po- christlich-demokratischen Baumeistern Europas: Konrad litik: Adenauer, Alcide de Gasperi, Robert Schuman und Helmut Kohl. Allerdings ist diese Leistung für die Mehr- (Beifall bei der LINKEN) heit der Menschen selbstverständlich geworden. Daher Sie wollen das Rentenalter heraufsetzen. Die Jungen sol- fragen sie nach dem Nutzen der Europäischen Union. len weniger Arbeitslosengeld II bekommen. Die von Das Dilemma besteht darin, dass ausgerechnet die fun- Arbeitslosengeld II Betroffenen wollen Sie auf unange- damentalen Errungenschaften der EU – Friede, Versöh- nehmste Weise kontrollieren. Der Sparerfreibetrag soll nung, Sicherheit und Wohlstand – in der Wahrnehmung heruntergesetzt werden. Dann machen Sie eine Reichen- vieler Menschen nicht mehr ausreichen, um den Nutzen steuer, die nicht einmal ein Witz ist. – Das ist die Wahr- der europäischen Integration darzustellen. Wir alle erle- heit. So wird gegenwärtig Politik organisiert. ben in unseren Wahlkreisen unmittelbar, wie deutlich der (Beifall bei der LINKEN) Unmut gewachsen ist. Nur noch jeder vierte Deutsche glaubt, dass die Mitgliedschaft in der EU für Deutsch- Mit dieser Politik werden Sie den Haushalt nicht konso- land unter dem Strich Vorteile hat. Nur jeder Vierte! lidieren, aber die Gesellschaft weiter entsolidarisieren. Das ist das Problem. Das liegt auch daran, dass die Menschen mit Sorge zur Kenntnis genommen haben, dass die EU in den letz- (Beifall bei der LINKEN) ten Jahren nach ihrer Auffassung zu schnell gewachsen Wir brauchen eine Europäische Union des Friedens ist. Das hat zu strukturellen Schwierigkeiten geführt. Da- und der Abrüstung und eine Europäische Union der mit die EU ihre Erfolgsgeschichte fortsetzen kann, brau- Wohlfahrt, aber dies nicht für die 10 Prozent Reichsten chen wir jetzt dringend eine Phase der Konsolidierung. in der Gesellschaft, sondern endlich für die Mehrheit der Zunächst müssen wir unsere Vorstellungen von Europa (B) Bevölkerungen. Dann wird es auch ein Ja zu einer verän- neu definieren und nüchtern fragen: Was ist die EU? (D) derten und brauchbaren Verfassung für Europa geben, Was soll die EU werden? Welche Aufgaben liegen vor die wir zweifellos dringend benötigen. uns? Ich sehe eine zentrale Aufgabe der EU in der inhaltli- Präsident Dr. Norbert Lammert: chen Vertiefung. Es ist deshalb richtig, wenn die Bun- Herr Kollege Gysi, ich weiß, dass Sie jetzt erst die deskanzlerin sagt, dass die EU nicht unbegrenzt wachsen richtige Betriebstemperatur erreicht haben. kann. Daraus folgt eine klare Erkenntnis: Der Wunsch (Heiterkeit) eines Landes nach Aufnahme in die Europäische Union muss auch mit der Aufnahmefähigkeit der EU in Über- Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): einstimmung gebracht werden. Das stimmt, Herr Präsident. Ich komme langsam in (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Form. Das haben Sie gut erkannt. neten der FDP) (Heiterkeit) Wichtiger als Konferenzen zur Seele und zur Identität Zum Schluss möchte ich aber noch einen Gedanken Europas ist, dass wir uns kritisch den gegenwärtigen Zu- vorbringen: Dann, Frau Bundeskanzlerin, habe ich die stand der Europäischen Union anschauen und fragen: Ist Hoffnung, dass wir eine Jugend erleben, von der wir sa- es gut so? Hier – da hat die Bundeskanzlerin völlig gen können, sie habe ein erweitertes europäisches Recht – müssen wir die EU so beim Wort nehmen, wie Selbstbewusstsein. Es wäre doch eine Chance, wenn sol- es im Verfassungsvertragsentwurf steht. Nur die Aufga- che Leute einer europäischen Mannschaft und nicht nur ben, die die Nationalstaaten allein nicht mehr regeln ihrer Nationalmannschaft die Daumen drücken würden. können, dürfen auf europäischer Ebene behandelt wer- Davon sind wir leider noch meilenweit entfernt, aber wir den. Das ist der Kern von Subsidiarität und diesen Kern werden es noch erleben. müssen wir europarechtlich verankern. Wir benötigen (Beifall bei der LINKEN) daher eine klare Abgrenzung von Verantwortungsbe- reichen, so wie sie durch die europäische Verfassung an- gestrebt wird. Wir können nicht zulassen, was gerade in Präsident Dr. Norbert Lammert: diesen Tagen vom Präsidenten der EU-Kommission wie- Nächster Redner ist der Vorsitzende der CDU/CSU- der formuliert worden ist, nämlich dass die Europäische Fraktion, Volker Kauder. Kommission immer wieder nach neuen Kompetenzen (Beifall bei der CDU/CSU) greift. Das untergräbt die politische Legitimität der EU. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006 2901

Volker Kauder (A) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Auswirkungen hat das? Welches sind die deutschen Inte- (C) neten der SPD) ressen? – Was man erreichen kann, wenn man sich früh- zeitig um die Themen und die Entwicklungsprozesse in Nur um zwei Beispiele zu nennen: Was hat die Euro- der Europäischen Kommission – ich nenne nur die Ent- päische Kommission mit den deutschen Naturschutzge- senderichtlinie und die Dienstleistungsrichtlinie – küm- bieten zu schaffen mert und darauf Einfluss nimmt, haben wir in diesen Ta- (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gen auch durch den Einsatz der Bundesregierung erlebt. NEN]: Die Frage kann ich Ihnen beantworten! Genau so muss es gemacht werden. Ohne die EU gäbe es diese Naturschutzgebiete (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: nicht!) Frühzeitig? Das war vor zwei Jahren!) oder mit der Frage, ab welcher Außentemperatur Arbeit- nehmer frei bekommen? Immerhin ist diese irrsinnige Wenn die Dinge erst beschlossen sind und den nationa- „Sonnenscheinrichtlinie“ inzwischen entschärft worden. len Parlamenten vorgelegt werden, können wir sie nicht mehr richten. Auf den Einwand, dass es ohne die EU diese Gebiete nicht gäbe, muss ich Ihnen sagen: Ich glaube, dass der (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Deutsche Bundestag und die deutschen Bundesländer neten der SPD) sehr wohl in der Lage sind, in eigener Kompetenz die Wir müssen schneller erfahren, welche Aufgaben aus Naturschutzgebiete in unserem Land festzulegen. Brüssel auf uns zukommen. Deshalb wird der Deutsche (Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Bundestag ein Verbindungsbüro in Brüssel einrichten. Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Wir müssen einfach schneller und dichter am Ball sein NEN]: 2050!) und in Brüssel deutlich machen: Der Deutsche Bundes- tag ist nicht Vollstrecker der Brüsseler Bürokratie, son- Dazu brauchen wir keine europäische Richtlinie. dern Mitgestalter europäischer Politik. Auch dafür sind (Beifall bei der CDU/CSU) wir in die nationalen Parlamente gewählt worden. Die Europäische Kommission sollte sich eher darauf (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- konzentrieren, Regulierungen auf den Prüfstand zu stel- neten der SPD) len und sie abzubauen, wenn sie nicht notwendig sind. Frau Bundeskanzlerin, wir werden Sie und die Bun- Nicht Bürokratieaufbau, sondern Bürokratieabbau muss desregierung deshalb dabei unterstützen, europäische zum Markenzeichen der Europäischen Union werden. Fehlentwicklungen rechtzeitig zu verhindern und dafür (B) Deutschland hat eine besondere ordnungspolitische zu sorgen, dass Richtlinienentwürfe dann nicht auf den (D) Verantwortung für Europa. Subsidiarität bedeutet für Weg gebracht werden, wenn sie nicht notwendig sind alle Ebenen mehr Freiheit. Diese Freiheit müssen wir er- und wenn sie unseren Interessen nicht entsprechen. Wir möglichen, weil die sichtbare Zurechenbarkeit von poli- werden uns also früher und mehr um Brüssel kümmern, tischer Verantwortung die EU transparenter, verständli- sehr viel mehr, als es in der Vergangenheit geschah. Nur cher und insgesamt handlungsfähiger macht. Mit diesem so können wir mitgestalten. Mehr an Freiheit und dem Mehr an Transparenz bringen ( [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: wir die Europapolitik wieder näher an die Menschen und Da bin ich gespannt!) das ist dringend notwendig. Die Europäische Union hat Kompetenzen an sich ge- Nahe bei den Menschen ist auch der individuelle Nut- zogen, die besser bei den individuellen Mitgliedstaaten zen der europäischen Integration. Wenn wir uns die Ex- aufgehoben wären. Dort aber, wo die Handlungsfähig- portzahlen anschauen, stellen wir fest: Zehntausende Ar- keit der EU wirklich gefragt ist, sind die Fortschritte beitsplätze bestehen in Deutschland allein dadurch, dass durchaus noch ausbaufähig. Die Bundeskanzlerin hat ein die neuen Mitgliedstaaten viel mehr Waren aus Deutsch- zentrales Thema angesprochen, die europäische Außen- land einführen, als sie hierher exportieren. Durch das in- und Sicherheitspolitik. Sie hat völlig zu Recht darauf tegrierte Europa können also Arbeitsplätze entstehen. hingewiesen, dass bezogen auf die Frage „Was ist auf Ich bin außerordentlich dankbar, dass es jetzt in Europa dem Balkan geschehen und wie haben wir reagiert?“ gelungen ist, zu sagen: Arbeitsplätze sollen am jeweili- nicht die Außenpolitik der EU versagt hat. Das Problem gen Ort entstehen. Europäische Fördermittel sollen nicht war vielmehr, dass sich die Nationalstaaten, die noch gar dazu genutzt werden, von einem Land ins andere Land keine EU-Politik formuliert haben, nicht rechtzeitig und transportiert zu werden. richtig haben einigen können. Deshalb ist die Frage, wie (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- die Europäische Union Außenpolitik gestalten und mit neten der SPD) einer Stimme sprechen kann – ich nenne beispielhaft nur das uns so berührende Thema: Wie gehen wir mit dem Auch dies ist heute in der Regierungserklärung der Iran um? –, von zentraler Bedeutung. Nicht die Sonnen- Bundeskanzlerin deutlich geworden: Wir alle müssen scheinrichtlinie ist die Zukunft der EU, sondern die au- der EU mehr Beachtung schenken. Die Themen und Ent- ßenpolitische Handlungsfähigkeit – das ist die Zukunft. scheidungsprozesse in Brüssel verdienen mehr öffentli- che Aufmerksamkeit; denn kritische Aufmerksamkeit (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- zwingt zu Transparenz: Was wird entschieden? Welche neten der SPD) 2902 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006

Volker Kauder (A) Meine sehr verehrten Damen und Herren, die EU hat Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (C) eine enorme Anziehungskraft nach außen. Diese Aus- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit Ver- strahlung verschafft Autorität und hat bisher erfolgreich laub, Frau Bundeskanzlerin, mir war diese Regierungs- Stabilität, Wohlstand, Demokratie und Sicherheit ver- erklärung in Sachen Europa zu wenig. breitet. Dabei waren die Erweiterungen der EU not- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) wendig und sinnvoll und nicht Ausfluss einer Gefällig- keitspolitik. Die Länder müssen fit für Europa sein; Das war eine Art abstraktes Gemälde. Es war mir aber darauf hat die Bundeskanzlerin hingewiesen. Deswegen zu abstrakt. Wenn Sie entlang der Straße Unter den Lin- sage ich hier, Frau Bundeskanzlerin: Jawohl, Rumänien den zur Humboldt-Universität gehen, dann können Sie und Bulgarien gehören zu Europa. Ich sage Bulgarien dort im Eingangsfoyer einen Satz von Marx lesen. Dort und Rumänien aber auch: Im Schlussspurt gibt es noch steht: etwas tun. – Wir werden den Fortschrittsbericht ganz ge- Die Philosophen haben die Welt nur unterschiedlich nau anschauen. Bulgarien und Rumänien haben jetzt interpretiert. Es kommt aber darauf an, sie zu verän- noch Zeit, einiges zu verändern. Die Voraussetzungen dern. für Rechtsstaatlichkeit und Sicherheit müssen auf dem Weg nach Europa gewährleistet sein. Sie haben heute nur interpretiert und nicht konkret ge- sagt, was Sie verändern wollen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich muss allerdings sagen, dass ich froh darüber bin, Es ist auch richtig, dass wir angesichts der Größe der dass Sie sich mit dieser Verve positiv für Europa positio- EU in Zukunft kreativ sein müssen, wenn es darum geht, nieren. Es fehlt nur noch, dass Sie auch Herrn Kauder an neue Formen außenpolitischer Zusammenarbeit zu ent- dieser Stelle überzeugen. Warum? Wir alle haben noch wickeln. Eine vernünftige Nachbarschaftspolitik – das in Erinnerung, wie gerade die CDU/CSU in den letzten wurde bereits formuliert – ist eine wichtige Zukunftsauf- Jahren systematisch Emotionen gegen die Europäische gabe für die Union. Bei der weiteren Entwicklung der Union geschürt hat. Union sind wir uns aber durchaus auch unserer gemein- samen Werte der Aufklärung, des christlichen Men- (Lachen bei der CDU/CSU) schenbildes und unserer Begabung zur Freiheit bewusst. – Sie können ruhig lachen. Sie haben sie systematisch Deshalb ist es auch richtig, dass diese Grundpositionen geschürt. Das war im Prozess hin zu Europa zu keinem in einem EU-Verfassungsvertrag angesprochen werden. Zeitpunkt hilfreich. (B) Das sind aus unserer Sicht konstituierende Elemente für (D) eine Europäische Union. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wer glaubt, etwas zu sein, hat aufgehört, etwas zu Es geht nicht nur um Bürokratieabbau und Ähnliches. Die Leitfrage an dieser Stelle muss lauten: In welchem werden. Europa wollen wir leben? Das ist die Frage, auf die die Diese Einsicht von Sokrates hat auch für die Europäi- Menschen eine Antwort haben wollen. Was sollen sie im sche Union Bestand. Herzen fühlen, wenn es darum geht, warum dieses Eu- ropa existiert und warum sie dafür Steuern zahlen? Es (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Sehr gut!) geht darum, dass wir in dieser kleinen politischen Krise der Europäischen Union – so kann man es nennen – Ungeachtet der Denkpause für Europa – der Status quo neue Ziele und Visionen setzen und eine nächste Zün- ist keine Lösung. Die EU muss ihre Fähigkeit, Probleme dungsstufe erreichen. Es muss den Menschen aber auch zu lösen, auf einer neuen Stufe beweisen. Dann wird etwas bringen. Ich sage – frei nach von Jacques auch ihr Nutzen wieder deutlicher sichtbar werden und Delors –: Die Menschen verlieben sich eben nicht in ei- die Europäische Union wird eine größere Zustimmung nen gemeinsamen Markt, sondern nur in das Wissen da- durch die Menschen erfahren. rum, dass es ihnen persönlich im Alltag und für die Zu- kunft ihrer Kinder etwas bringt. Zum Schluss möchte ich uns allen eine kluge Mah- nung des Verfassungsrichters Udo di Fabio mitgeben: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Nicht nur der freiheitliche Nationalstaat, sondern Es reicht nicht, zu sagen, wie – und warum – sich die auch die Europäische Union ist kein Selbstzweck, Europäische Union entwickelt. Wir sind von den Roh- sondern um der Menschen willen und ihrer Würde stoffen Kohle und Stahl sowie von den besonderen Inte- ressen einiger Länder an der Landwirtschaft ausgegan- und Freiheit wegen da. gen. Wir müssen aber über den Rohstoff der Zukunft re- (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU – Bei- den. Die wichtigsten Rohstoffe der Zukunft sind fall bei der SPD) Energie, Bildung und Forschung. Darüber haben Sie zu wenig geredet.

Präsident Dr. Norbert Lammert: (Zuruf von den Linken: Und Soziales!) Das Wort erhält nun die Vorsitzende der Fraktion des – Das Soziale leitet sich daraus ab. Sie werden es mer- Bündnisses 90/Die Grünen, Renate Künast. ken, wenn Sie genau hinschauen. Die Rohstoffe heißen Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006 2903

Renate Künast (A) Energie, Bildung und Forschung. Das sind die Zukunfts- Überall auf der Welt dreht sich alles um Energie. In (C) fragen. Auf diese Fragen brauchen wir europaweit Ant- Russland, China, Indien oder auch in Südamerika hat worten. Dabei kann und muss uns auch der Verfassungs- man entweder die entsprechenden Rohstoffe oder sichert vertrag helfen. sie sich mit Verträgen auf Jahrzehnte hinaus. Ich habe mit Freude gehört, Frau Merkel, dass Sie ge- Unsere Wirtschaft leidet unter den hohen Rohstoff- sagt haben: Die Europäische Union braucht eine neue preisen. Die Verbraucher haben im wahrsten Sinne des Begründung. – Sie müssen dann aber auch sagen, was Wortes die Schnauze voll, wenn sie regelmäßig stei- das sein soll. Das ist mehr als Ihr Satz: Wir müssen die gende Rechnungen bezahlen müssen. Sie aber haben Globalisierung nach unseren Werten gestalten. – Sie nicht gesagt, wie die Energiepolitik aussieht. Die Euro- müssen auch sagen, welche Werte Sie meinen. Dabei päische Union braucht eine neue Energiekultur. Nur so geht es nicht einfach um die Freiheit, weltweit Geld zu kann diese Lücke geschlossen werden. investieren. Es geht auch nicht einfach um die Freiheit großer Unternehmen, sich überall in der Welt niederzu- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- lassen und sich dies durch die WTO absichern zu lassen. SES 90/DIE GRÜNEN) Wir sagen: Die Europäische Union muss dafür stehen, Das heißt für uns, bis 2020 brauchen wir eine neue dass das Leben und die Gesundheit eines jeden Men- Energiekultur, mit der Europa zur energieeffizientesten schen, die sozialen Aspekte und auch der Erhalt der na- Region der Welt wird. Alle Maßnahmen, die wir in Eu- türlichen Lebensgrundlagen in der EU und im internatio- ropa treffen, und alle Ausgaben müssen sich an diesem nalen Handel abgesichert werden. Ziel messen lassen. Das können wir nicht aufschieben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN) Die EU hat in vielen Bereichen keine guten Be- schlüsse gefasst und Entscheidungen getroffen. Frau Wir brauchen – das sage ich, weil Frau Merkel die Merkel hat zum Beispiel über die Dienstleistungsricht- ganze Zeit über von der Verbindung von nationalen und linie geredet. Ich meine, dass die Dienstleistungsricht- europäischen Elementen geredet hat – nicht einfach nur linie kein Beispiel für einen guten Kompromiss ist. Das immer mehr Gipfel, auf denen viel geredet wird, aber am Schlimmste haben wir zwar verhindert, aber ein wirklich Ende nichts Konkretes herauskommt. Lassen Sie mich guter Kompromiss ist das immer noch nicht. dazu Goethe zitieren: „Über allen Gipfeln ist Ruh“. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Erst Marx, dann Goethe! – Dr. Werner Hoyer [FDP]: Aber (B) Beispielsweise sind die Kompromisse bei REACH das die Qualität steigt!) (D) Ergebnis aggressiver Lobbyarbeit und der Falschaussa- gen der Chemielobby. Auch dies ist kein guter Kompro- – Da sehen Sie: Quer durch Deutschland können wir auf miss. Zitate zurückgreifen, Herr Kollege. Das ist der Neid der Bildungsbürger, oder? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Wir brauchen Gipfel, die zu einem Ergebnis führen. Die Menschen müssen merken: Die Gelder werden nicht Wir können und dürfen in Europa nicht auf bessere mehr für veraltete Strukturen in der EU ausgegeben. Zeiten warten, sondern wir müssen jetzt etwas tun. Wir Frau Merkel ist einmal hinter Tony Blair hergelaufen brauchen eine Kultur der Exzellenz im Bildungsbe- und hat mit Verve gerufen, dass zu viel Geld für die reich im Wettbewerb um die klügsten Köpfe. Aber in ei- Agrarwirtschaft und zu wenig für Zukunftsaufgaben aus- ner solchen Exzellenz müssen sich alle, nicht nur Eliten gegeben wird. – Was ist denn heute mit diesem Satz? Wo entwickeln können. haben Sie denn gefordert, die Gelder anders auszuge- ben? (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN) Ich will Ihnen zwei Beispiele nennen. Wenn wir über Wir wollen beim Bürokratieabbau gerne mitmachen. eine neue Bildungs- und Forschungspolitik reden, weil Aber, Frau Merkel, Bürokratieabbau darf nicht heißen, jedes Kind in Europa – egal wo und egal, wie viel Geld Standards abzubauen. Die europäischen Standards für die Eltern in der Tasche haben – einen wichtigen Roh- die Umwelt und das Soziale sind keine Knebelung, viel- stoff darstellt, dann brauchen wir an dieser Stelle neuen mehr dienen sie den Zielen der Europäischen Union, da- Schwung; dann müssen Bildung und Forschung neu aus- mit die Menschen gesund leben können und auch nach- gerichtet werden. folgende Generationen eine gesunde Umwelt haben. Wir müssen – sozusagen in einer Kultur der Exzellenz – (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) in Europa das Auto entwickeln, das ohne Öl angetrieben wird, und es weltweit vermarkten. Aber dann müssen im Das von Ihnen gezeichnete Gemälde der Europapoli- Siebten Forschungsrahmenprogramm auch endlich neue tik war viel zu abstrakt, weil Sie zum Beispiel über Wett- Prioritäten gesetzt werden. Man muss vorrangig mo- bewerb reden, aber nicht sagen, wie es mit der Lissa- derne Technologien unterstützen, zur schnellen Reduk- bonstrategie weitergeht. Die EU will weltweit zu einer tion von CO2-Emissionen beitragen, sich um den größ- der wettbewerbsfähigsten Regionen werden. Aber im ten Einspareffekt durch mehr Effizienz bemühen und Energiebereich sind wir davon meilenweit entfernt. klar sagen, dass es nicht angeht, den obsoleten Eura- 2904 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006

Renate Künast (A) tomvertrag noch mit weiteren Forschungsgeldern zu Lassen Sie mich noch auf eines hinweisen: Die euro- (C) bedenken. 4,8 Milliarden Euro in Euratom zu inves- päische Außen- und Sicherheitspolitik muss sich in tieren, ist falsch; sie müssen stattdessen in erneuer- diesen Tagen an zwei Bereichen messen lassen. Das eine bare Energien und in eine Effizienzstrategie investiert ist das Thema „Kongo“, über das wir demnächst auch werden. hier diskutieren werden. Ich halte es für richtig, dass die Europäische Union auf die Bitte der UN eingeht, im (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Kongo einen demokratischen Prozess zu organisieren und sowie bei Abgeordneten der LINKEN) zu unterstützen. Es wird aber im Zusammenhang mit dem Eines ist klar: Der Atomausstieg in Deutschland ist Kongo auch um die Frage gehen, was wir darüber hinaus richtig. Was aber in Deutschland richtig ist, darf nicht in tun. Wie helfen wir beim Ausbau der dortigen Sicher- der Europäischen Union konterkariert werden. Dabei heitsstrukturen? Wie helfen wir bei der Bekämpfung der sind Sie, Frau Merkel, und diese Bundesregierung gefor- Korruption und wie helfen wir, dass der Nutzen der dert, sich nicht darauf zurückzuziehen, dass in Deutsch- wertvollen Bodenschätze der Bevölkerung statt irgend- land bis 2009 der Koalitionsvertrag gilt, während in der welchen Eliten oder anderen Staatsangehörigen zugute europäischen Politik genau das Gegenteil gemacht wird. kommt? Die Zukunft auch der Lissabonstrategie liegt darin, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) dass wir uns in der Energiepolitik weiterentwickeln. Deshalb müssen die Investitionen verlagert werden. Ich habe die Rede der Kanzlerin auch in einem ande- ren Zusammenhang – ich denke dabei an den Iran – ge- Sie haben über internationale Aufgaben geredet. nau verfolgt. Europa muss zeigen, dass es die internatio- Diese bestehen aber nicht nur in der allgemeinen Fest- nale Politik gegenüber dem Iran bestimmen kann. Wir stellung, wir würden unsere Werte Glück bringend wei- wollen keine militärische Lösung. Wir wollen das, was terverbreiten. Im nächsten Jahr ziehen wir fünf Jahre im Irak passiert ist, nicht noch einmal erleben. Wir wis- nach dem Weltgipfel für nachhaltige Entwicklung in sen darum, dass wir immer für die Existenz Israels ste- Johannesburg eine Zwischenbilanz. Dabei geht es auch hen und eintreten wollen. Wir müssen an der Stelle eine um die Aufgaben, zum Beispiel um die klare Verpflich- Leistung bringen: Wir müssen ein Anreizpaket schaffen. tung – auch dieser Bundesregierung –, Millionen von Europas Aufgabe besteht darin, dem Iran klar zu ma- Menschen aus der Armut zu befreien, das heißt, mehr in chen, dass wir ihm sozusagen die „Carrots and Sticks“ Entwicklungshilfe zu investieren und die europäische hinhalten und dass Europa immer dafür sorgen wird Außen- und Sicherheitspolitik entsprechend auszurich- – nur dann wirkt diese Maßnahme –, dass alle Länder ten. Es geht um nachhaltige Entwicklung und Krisenprä- gemeinsam hinter diesem Anreizpaket stehen werden. (B) vention, auch bei der G-8-Präsidentschaft. Es geht vor Nur dann haben zivile Lösungen eine Chance und nur (D) allem darum, weitere Beiträge zu leisten, damit die Do- dann wird der Druck entsprechend stark. harunde tatsächlich eine Runde für die Entwicklungslän- der wird. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich habe Ihrer Regierungserklärung genau zugehört Mein letzter Satz. Frau Bundeskanzlerin, Sie haben und war froh, dass Sie nicht in alter CDU-Manier davon viel von mehr Transparenz und Kontrolle in Europa ge- gesprochen haben, dass das Boot voll sei. sprochen. Ich sage Ihnen an dieser Stelle eines: Es gibt ( [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE einen Punkt, an dem Sie beginnen können. Es geht in GRÜNEN]: Das stimmt!) Europa nicht nur um die Frage, wer verantwortlich ist – das Europäische Parlament oder die nationalen Parla- Diese Mentalität hat zwar Herr Kauder ein bisschen auf- mente –, sondern auch um die Frage, wer wie viel Geld gegriffen, aber nicht die Bundeskanzlerin. Das war in ih- erhält. Ich fordere Sie daher auf: Unterstützen Sie die rer Rede positiv. Transparenzinitiativen der Kommission! Europa kommt nur weiter, wenn wir die finanziellen Mittel um- Es geht bei den neuen Aufgaben um die Weiterent- schichten. Der erste Schritt dahin ist, für mehr Transpa- wicklung der europäischen Nachbarschaftspolitik für renz zu sorgen, sodass man weiß, wer in Europa etwas all diejenigen, die wir zumindest heute nicht aufnehmen können. Aber dann sollten wir nicht so tun, Frau Merkel, von den satten Geldern erhält. Ich weiß, dass das die als würden wir den anderen einen Gefallen tun. Viel- Landwirte, zumindest die großen, treffen wird. Aber das mehr haben die Europäische Union und auch Deutsch- wäre der erste Schritt. Dann wären Sie mit einem Verfas- land ein vehementes und elementares Interesse an solch sungsvertrag, mehr Transparenz und einer neuen interna- einer neuen Nachbarschaftspolitik: denn wir wollen, tional verantwortlichen Politik auf dem richtigen Weg. dass die Länder, die aus alten Systemen herausgefallen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sind, eine Perspektive bekommen und sich orientieren können. Lassen Sie uns also ehrlich sagen: Die Europäi- sche Union muss auch dann, wenn ihr nicht alle beitreten Präsident Dr. Norbert Lammert: können, gegenüber den Nachbarn mit offenen Armen da- Frau Kollegin Künast, ich bin immer ganz beein- stehen. druckt, wenn nach Überschreiten der Redezeit der letzte (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Satz angekündigt wird, und wäre noch mehr erleichtert, wenn er in der Nähe der Ankündigung tatsächlich er- Wir müssen unsere internationale Politik ausbauen. folgte. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006 2905

Präsident Dr. Norbert Lammert (A) (Heiterkeit – Renate Künast [BÜNDNIS 90/ Es stimmt zwar, dass die europäische Verfassung in (C) DIE GRÜNEN]: Ich bemühe mich!) zwei Staaten keine Zustimmung gefunden hat. Aber ver- gessen wir nicht: In 15 Staaten hat es eine ganz klare Das Wort hat nun der Kollege Michael Roth für die Mehrheit dafür gegeben. Diese 15 Staaten repräsentieren SPD-Fraktion. die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger in der Euro- (Beifall bei der SPD) päischen Union. Erst vorgestern hat Estland ein ganz klares Zeichen gesetzt. Finnland erwägt, die europäische Verfassung zu ratifizieren, genauso wie Portugal. Das ist Michael Roth (Heringen) (SPD): wahrer Mut und wahres Verantwortungsbewusstsein. So Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eu- macht man die so genannte Reflexionsphase zu etwas ropa, die Europäische Union braucht endlich wieder Wertvollem und signalisiert: Die Verfassung ist nicht tot. mehr Mut und weniger Verzagtheit und Kleingläubig- Dieses Verfassungsprojekt hat eine Zukunft. keit. Ich störe mich ein wenig daran, wie pessimistisch und verdrossen wir über das große Projekt Europa reden (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten und wie wenig wir bereit sind, mit den Bürgerinnen und der CDU/CSU) Bürgern ins Gespräch darüber zu kommen, Ich weiß, dass auch bei uns im Bundestag die Verfas- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) sungsdebatte allzu oft missverstanden wurde. Viele hiel- ten sie für eine kleinkarierte Debatte, für Glasperlen- warum es sich lohnt, Europa stark, handlungsfähig, de- spiele von Juristen und Politologen. Sie fragten sich, was mokratisch und zukunftsfähig zu machen. Nur so kann eigentlich die Botschaft sei, die hinter dieser Verfassung ein Aufbruch entstehen, und zwar sowohl in Deutsch- stehe. Es geht dabei nicht nur um Institutionen und um land als auch in ganz Europa. Ich frage mich manchmal, Strukturen. Darauf hat die Bundeskanzlerin hingewie- wo in Europa, in den Mitgliedstaaten der Europäischen sen. Es geht um die große Frage, wie wir Globalisie- Union, diejenigen sind, die zu Erneuerung und Verände- rung demokratisch gestalten und wie wir uns in den Pro- rung bereit sind? Wo sind die Politikerinnen und Politi- zess der Globalisierung einbringen können. Das geht ker, die die Krise, in der wir uns befinden, als eine nicht, indem wir Ängste schüren wie die PDS, sondern Chance verstehen? indem wir deutlich machen, dass die Politik es schafft, Der Kollege Kauder hat eben große Christdemokraten den Menschen nach innen und nach außen Sicherheit zu angesprochen. Ich möchte ein paar Sozialdemokraten er- geben und auch soziale Sicherheit zu schaffen. Das ist wähnen, und zwar nicht nur Willy Brandt und Helmut unser großes Projekt. Schmidt, sondern auch Jacques Delors – ihn hat schon Wir müssen endlich den Beweis erbringen, dass Ver- (B) Frau Künast erwähnt –, François Mitterrand und Olof tiefung und Erweiterung zwei Seiten derselben Medaille (D) Palme. Sie alle sind Männer – leider ist noch keine Frau sind. darunter –, die nach vorne geschaut haben, die Visionen hatten und die sich auch dem Mainstream entgegenge- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) stellt haben. Solche Politiker brauchen wir in der Euro- Die EU hat sich aus guten Gründen erweitert. Wir haben päischen Union wieder. die Teilung Europas überwunden. Jetzt müssen wir mit (Beifall bei der SPD) der Vertiefung voranschreiten. Eine immer größer wer- dende Europäische Union braucht mehr Demokratie, sie Ich hoffe, dass solche Männer und Frauen auch im Bun- braucht handlungsfähige Strukturen und sie muss außen- destag und auf der Regierungsbank sitzen. politisch – da hat Herr Kauder völlig Recht – mit einer Nach den gescheiterten Referenden in Frankreich und Stimme sprechen und einheitlich handeln. Da haben wir den Niederlanden ist man nicht müde geworden, den noch verdammt viel zu tun. Menschen einzureden, dass nun in Europa kleine Bröt- Die Verfassung gibt nicht in allen Bereichen ausrei- chen gebacken werden müssten. Welch ein Unsinn! Seit chende Antworten. Sie ist aber ein wichtiger Schritt nach wann haben Kleinmut und Verzagtheit zu neuen Ufern vorne. Wenn man die Verfassung mit den Ergebnissen geführt? Deutschland hat sich im Übrigen immer, auch der Regierungskonferenzen von Amsterdam und Nizza und gerade in schwierigen Zeiten, als Motor eines demo- vergleicht, dann stellt man fest, dass sie ein großer kratischen, handlungsfähigen und solidarischen Europas Schritt nach vorne gewesen ist, den die Parlamentari- verstanden. Auch unsere Partner erwarten das von uns. erinnen und Parlamentarier des Europäischen Parla- Sie erwarten von uns neue Ideen. Wir pflastern im Mo- ments und der nationalen Parlamente ermöglicht haben. ment die ganze Hauptstadt mit den etwas merkwürdig Ich bin durchaus bereit, darüber zu streiten, ob es zu die- anmutenden Installationen zum Thema „Land der sem Verfassungsvertrag nicht möglicherweise Ergänzun- Ideen“. Nun zeigen wir doch einmal, dass wir wirklich gen geben kann, um die Kernbotschaften der Verfassung, ein Land der Ideen sind, dass wir bereit sind, Europa die anders lauten, als Sie, Herr Gysi, es dargestellt ha- nach vorne zu bringen. Wir dürfen uns nicht nur zurück- ben, zu schärfen. Kritik kann aufgenommen werden. Es halten und in Passivität üben. kann durchaus eine Erklärung zur sozialen oder kulturel- (Zuruf von der LINKEN: Vorschläge!) len Identität aufgenommen werden, die Präambel kann revidiert oder es können Teile aus der Verfassung he- – Es liegen schon zahlreiche Vorschläge vor. Auf ein rausgelöst werden, die nicht zwangsläufig in eine Ver- paar werde ich noch zu sprechen kommen. fassung gehören. Lassen Sie uns darüber reden! Lassen 2906 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006

Michael Roth (Heringen) (A) Sie uns deutlich machen, dass wir den politischen Willen Auch die EU-Kommission sollte die Initiative ergreifen (C) dazu haben! Danach können uns Juristinnen und Juristen und in die Offensive gehen. Was sie momentan aber be- erklären, ob das alles zu machen ist. Wir brauchen zu- treibt, ist „Rosinenpickerei durch die Hintertür“. Es ist nächst einmal einen Schritt nach vorne und die Bot- zwar sachlich richtig, dass die Europäische Union per- schaft, dass wir dieses Projekt wirklich realisieren wol- spektivisch mehr Kompetenzen im Bereich der sozialen len. Sicherheit und bei der polizeilichen und justiziellen Zu- sammenarbeit braucht – sicherlich geht es auch um ein (Beifall bei Abgeordneten der SPD) besseres Miteinander zwischen den nationalen Parla- Acht Kolleginnen und Kollegen hatten in dieser Wo- menten und dem Europäischen Parlament –; aber jetzt zu che Gelegenheit, an der Konferenz des Europäischen fordern, der europäischen Ebene neue Kompetenzen zu- Parlaments und der nationalen Parlamente in Brüssel kommen zu lassen, ist verantwortungslos. Wir halten ei- teilzunehmen. Ich war hocherfreut, zu sehen, dass es un- nen solchen Schritt nur dann für verantwortbar, wenn ter den Abgeordneten ganz viele Freundinnen und dieses Verfassungsprojekt als Ganzes durchgesetzt wird. Freunde dieses Verfassungsprojekts gibt, gerade aus den Denn eine Verlagerung zusätzlicher Kompetenzen auf Ländern, in denen es keine Mehrheit – noch keine Mehr- die europäische Ebene ist nur in Verbindung mit Ratsre- heit – für das Verfassungsprojekt gegeben hat. Darauf formen akzeptabel, zum Beispiel dem Prinzip der dop- sollten wir aufbauen. pelten Mehrheit, und einem gestärkten Europäischen Parlament. Nur wenn das gegeben ist, können wir der Die Grundsatzdebatte wird durch einen Beitrag der Abwanderung von weiteren Kompetenzen auf die euro- EU-Kommission ergänzt. Sie hat sich gestern dazu geäu- päische Ebene zustimmen. Wir sollten uns dagegen weh- ßert. Sie will Ergebnisse für Europa liefern. Ich hätte mir ren, dass die Kommission durch die Hintertür die Auf- von der Europäischen Kommission mehr Selbstkritik ge- weichung dieses Verfassungskompromisses betreibt. wünscht. Die ursprünglichen Vorschläge der Kommis- sion zur Dienstleistungsrichtlinie – Stichwort Bolkestein – (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der haben zum Glaubwürdigkeitsverlust der EU beigetra- CDU/CSU) gen, weil nicht deutlich wurde, dass eine Vervollkomm- nung des Binnenmarktes auch Solidarität bedeutet. Wir Präsident Dr. Norbert Lammert: dürfen den Binnenmarkt nicht in dem Sinne vervoll- Herr Kollege Roth, schauen Sie bitte gelegentlich auf kommnen, dass Lohndumping betrieben wird und sozi- die Uhr. ale Standards in den Mitgliedstaaten gefährdet werden. Das ist die Botschaft. Ich hoffe, dass die Kommission diese Botschaft, die von den Menschen und den nationa- Michael Roth (Heringen) (SPD): (B) (D) len Parlamenten kam, verstanden hat. Frau Bundeskanzlerin, zum Schluss möchte ich gern noch eine Bitte äußern. Wie der Kollege Kauder eben (Zuruf von der LINKEN) schon angesprochen hat, stehen Bundestag und Bundes- Auch von einigen nationalen Regierungen hat es Zu- regierung in Verhandlungen darüber, wie wir die Mit- stimmung für die Vorschläge der Kommission gegeben. wirkungs-, die Mitentscheidungs- und auch die Kon- Auch ihnen gegenüber ist Kritik angebracht. Zu dieser trollmöglichkeiten des Bundestages ausweiten können. Kritik gehört auch Selbstkritik. Wir tun oft so, als Ich würde mich sehr darüber freuen, wenn Sie, Frau komme das Gute nur aus den nationalen Hauptstädten Bundeskanzlerin, die Verhandlungsführer der Bundesre- und das Schlechte immer aus Brüssel. Das ist falsch. gierung, nämlich Staatsminister Gloser und Staatssekre- Kein einziges Gesetz kommt in der EU zustande, ohne tär Hintze, bei dieser Arbeit unterstützten. dass die nationalen Regierungen im Rat mitwirken. Wir Wir brauchen eine parlamentsfreundliche Regelung. sitzen bei der europäischen Gesetzgebung immer mit im Mehr Rechte für das deutsche Parlament bedeuten nicht Boot. Wir sollten den Leuten keinen Sand in die Augen mehr Blockaden, sondern ein höheres Maß an Legitima- streuen, sondern deutlich machen, dass wir ein ganz tion für europäische Entscheidungen, ein Stück mehr wichtiger Partner dieses Europas sind. Die nationalen Verantwortung für den Bundestag und auch unsere Ver- Hauptstädte gehören unverzichtbar zu Brüssel. pflichtung, Europapolitik endlich ernster zu nehmen, als Wir kennen das Spiel: Früher hat man bei Ratlosigkeit wir es in den vergangenen Jahren getan haben. Ich wün- einen Arbeitskreis gegründet, heute eröffnet man eine sche mir mehr Mut, mehr Entschlossenheit. Vielleicht Denkpause. Das ist die so genannte Reflexionsphase. kann auch die heutige Debatte einen kleinen Beitrag Diese soll verlängert werden. Ich bin skeptisch. Offen- dazu leisten. sichtlich verstehen viele unter einer Denkpause nicht Vielen Dank. eine Pause zum Denken, sondern eine Pause vom Den- ken. Wir sollten jetzt deutlich machen, dass zu dieser (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Reflexionsphase Ideen und die Bereitschaft, sich zu streiten, gehören. Das fehlt mir. Präsident Dr. Norbert Lammert: (Beifall bei der SPD) Das Wort hat nun der Kollege Christian Ahrendt für die FDP-Fraktion. Ich danke der Bundeskanzlerin und dem Außenminis- ter dafür, dass sie sich für die Verfassung einsetzen. (Beifall bei der FDP) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006 2907

(A) Christian Ahrendt (FDP): Wenn wir diesen Weg gehen und Sie den Antrag un- (C) Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten terstützen, dann ist das einer der Schritte, die wir brau- Damen und Herren! Wir haben jetzt viel zum Thema chen, um den Gesamtprozess wieder zu beleben. „europäische Verfassung“ gehört. Wir haben in dieser Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. Woche lesen müssen – wir haben auch in der Regie- rungserklärung heute Morgen nichts dergleichen gehört –, (Beifall bei der FDP) dass die Bundesregierung keine Initiative plant, den EU- Verfassungsprozess neu zu beleben. Ich halte dies für Präsident Dr. Norbert Lammert: unverständlich. Es ist vielleicht aus Sicht der Bundesre- Ich erteile das Wort nun dem Kollegen Henning Otte gierung verständlich, sich auf den Standpunkt zu stellen, für die CSU/CSU-Fraktion. dass dieser Verfassungsprozess derzeit nicht von Erfolg gekrönt ist und dass eine neue Initiative daher keinen Er- (Beifall bei der CDU/CSU) folg haben kann. Ich glaube, dass das ein Irrtum ist. Eu- ropa – weniger Deutschland – braucht vielmehr gerade Henning Otte (CDU/CSU): das, was die Bundeskanzlerin in ihrer Regierungserklä- Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Frau Bun- rung im letzten Jahr hier vorgetragen hat: Es sind die be- deskanzlerin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der rühmten kleinen Schritte, die uns in Europa weiterbrin- WDR hat in dieser Woche anlässlich des Europatages zu gen. Diese Schritte müssen gewagt werden. einem Forum in Berlin mit dem Thema „Europas unge- Die EU-Verfassung ist in erster Linie daran geschei- wisse Zukunft“ eingeladen. Auch dieses Forum hat ver- tert, dass sie eine Verfassung für Politiker, für Verwal- deutlicht, dass die Zukunft Europas nicht von sich aus si- tungen und weniger eine Verfassung für Menschen ist. cher ist, sondern aktiv gestaltet werden muss. Europa Sie ist letztendlich auch dort gescheitert, wo sie den Bür- braucht dazu mehr Vertrauen. gerinnen und Bürgern in Europa begegnet ist. Den Ernst- Die Politik muss noch stärker für die Akzeptanz Eu- fall haben wir in Frankreich und in den Niederlanden ge- ropas werben. Sie muss Entscheidungen transparenter sehen: Dort ist die Verfassung in einem Referendum machen, damit der europäische Gedanke einen festen abgelehnt worden. Platz im Bewusstsein der Bürger erlangt. Dafür brau- Wir können diesen Zustand nur ändern, wenn wir chen wir ein europäisches Wir-Gefühl, das Bewusst- kleine Schritte gehen. Die FDP hat Ihnen hier einen sol- sein für eine große gemeinsame Aufgabe. Herr Gysi, zu chen kleinen Schritt vorgeschlagen, indem sie beantragt Ihrer Neiddiskussion kann ich nur sagen: Sie haben diese hat, die grenzüberschreitende Zusammenarbeit der gemeinsame Aufgabe, dieses europäische Wir-Gefühl Kommunen zu erleichtern. Wir alle wissen, dass die noch immer nicht verstanden. (B) Grenzregionen in Europa ein wesentlicher Faktor sind, (D) um den europäischen Integrationsprozess voranzubrin- (Beifall bei der CDU/CSU) gen. Die Bürger in den Grenzregionen erleben, wie Eu- Wir müssen die Menschen mitnehmen und ihnen die ropa etwas vor Ort regeln kann. Vorzüge Europas gerade für unser Land, aber auch für Europa insgesamt deutlich machen. Die Menschen sind Ich will das an einem kleinen Beispiel erläutern. Der kritisch. Die Menschen wissen aber auch um die Not- Zweckverband auf der Insel Usedom kann sein Abwas- ser in Zukunft nicht mehr entsorgen, weil die Kapazitä- wendigkeit und Bedeutung Europas. Das zeigt sich ins- ten ausgeschöpft sind. In der Stadt Swinemünde gibt es besondere darin, dass nach einer jüngsten Forsa-Um- ausreichende Klärwerkskapazitäten. Um eine Zusam- frage 50 Prozent der befragten Bürger der Meinung sind, menarbeit zwischen dem Zweckverband auf der einen Europa sei für sie im vergangenen Jahr wichtiger gewor- Seite und der Stadt Swinemünde auf der anderen Seite den. Über 60 Prozent halten eine EU-Verfassung für not- zu ermöglichen, bedarf es zwischenstaatlicher Überein- wendig. kommen, die derzeit nicht geschlossen werden können. Wir alle, meine sehr verehrten Damen und Herren, ob Ein solches Modell gibt es aber. Das ist das Karlsru- in den nationalen Parlamenten und Regierungen oder in her Übereinkommen von 1996, damals geschlossen den EU-Institutionen, sind aufgefordert, die Sorgen der zwischen der Schweiz, Frankreich, Luxemburg und Menschen ernst zu nehmen und sie mit einem vernünfti- Deutschland. Das hat Modellcharakter. Wir brauchen gen Konzept zu überzeugen. dieses Modell nur umzusetzen. Das ist ein kleiner (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Schritt, wenn es darum geht, die Integration in Europa Michael Roth [Heringen] [SPD]) gerade in den Grenzregionen nach vorn zu treiben und damit auch den Verfassungsprozess neu zu beleben, aus Wir müssen ihnen verdeutlichen, dass die EU-Bürger dem einfachen Grund: Wenn die Menschen anhand kon- mit Europa in eine Win-win-Situation kommen. kreter Beispiele endlich erleben, wie die europäische In- Lassen Sie mich das an drei Beispielen festmachen: tegration auch bei ihnen vor Ort wirkt, dann kommen an der Erweiterung, an der Energiepolitik und an der wir dem Ziel ein Stück näher, dass die Verfassung nicht Strukturförderung. nur in den Parlamenten Aussicht auf Erfolg hat, sondern dass sie auch in den Köpfen der Menschen verankert (Zuruf von der LINKEN: Da sind wir jetzt wird und wir am Ende einen erfolgreichen Verfassungs- aber gespannt!) prozess erleben. Vor zwei Jahren hat die EU die größte Erweiterungs- (Beifall bei der FDP) runde ihrer Geschichte vollzogen. Heute können wir zu 2908 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006

Henning Otte (A) Recht sagen: Das war ein wichtiger, ein richtiger Schritt Das war ein eindeutiger Schwerpunkt, den Frau Merkel (C) und ein Erfolg. Wir haben nicht nur die Vollendung der hier gesetzt hat. Vision Europas maßgeblich vorangebracht, sondern auch die Teilung Europas endgültig überwunden. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU) Insgesamt setzen wir in Deutschland auf eine Zieltrias aus Versorgungssicherheit, Wettbewerbsfähigkeit und Nach einer Studie des Deutschen Industrie- und Han- Umweltverträglichkeit, und das im europäischen Kon- delskammertages sind in Deutschland durch die EU-Er- text. Das ist die Win-win-Situation, die wir in Deutsch- weiterung 80 000 neue Stellen geschaffen worden. land brauchen, die Vertrauen schafft und die die Men- 5,5 Millionen deutsche Arbeitsplätze werden durch den schen von Europa überzeugt. Export in europäische Nachbarstaaten gesichert. Die Strukturhilfe im Rahmen der Zielförderung so- Wir dürfen angesichts der anstehenden Erweiterung wie die Mittel für die Gemeinschaftsaufgaben stellen ei- aber nicht vergessen: Nur eine funktionierende EU kann nen weiteren Bereich dar, an dem wir deutlich sehen, den neuen Beitrittskandidaten die Unterstützung geben, was Europa für uns leistet. Seit der Einigung des Minis- die sie erwarten. terrates am vergangenen Freitag steht fest, dass die Ziel-1- (Vorsitz: Vizepräsident ) Förderung für die neuen Bundesländer, aber auch für den so genannten alten Regierungsbezirk Lüneburg und da- Vorfestlegungen und einen Beitrittsautomatismus darf es mit für meinen Wahlkreis Celle–Uelzen ab 2007 bereit- nicht geben. stehen wird. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Wir werden insgesamt nicht darum herumkommen, der SPD) uns auf Grenzen festzulegen und Wege zu entwickeln, In einer beispielhaften Zusammenarbeit von Kom- die abgestufte Modelle beinhalten. Folglich müssen mission, Europäischem Parlament, Bundesregierung, – hier denke ich an Bulgarien und Rumänien – die Auf- Bundestag sowie den Ländern und Kommunen konnte nahmekriterien erfüllt werden. Nur wenn wir auf der Er- hier ein hervorragendes Ergebnis erzielt werden. Dazu füllung der Beitrittsbedingungen bestehen und die Bei- gehört: Die private Kofinanzierung wird möglich sein. trittskandidaten auch wissen, dass wir diese Vorsätze Die Anrechenbarkeit der nicht erstattungsfähigen Mehr- ernst nehmen, kann Europa zu einem Markenzeichen wertsteuer ist gesichert. Die gewerblichen Investitionen nach innen wie nach außen gedeihen. können gefördert werden, ohne dass dies zu Abwande- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) rungen führen wird. Das ist ein großer Erfolg für unsere (B) Region. (D) Ich erwarte, dass die Kommission ehrlich mit dem Fortschrittsbericht umgeht und entsprechend reagieren (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- wird. Das gehört dazu, wenn eine Win-win-Situation neten der SPD) entstehen soll, und nur das schafft Vertrauen in Europa. Wir müssen nun gemeinsam am Ball bleiben, damit (Beifall bei der CDU/CSU) die Ausgestaltungen der Förderprogramme wirkliche Strukturverbesserungen vor Ort erzielen. Denn das, Die Energiepolitik wird in den nächsten Jahren eines meine sehr verehrten Damen und Herren, wird ein Ge- der zentralen und bestimmenden Themen sein. Die Ver- sorgung eines Landes bestimmt die künftige Entwick- winn für die Menschen vor Ort sein. Sie werden diese lung, die Zukunftschancen, aber auch die Wettbewerbs- europäische Strukturförderung nutzen und damit wird fähigkeit. Die Energiepolitik in der Europäischen Union die Akzeptanz für Europa weiter steigen. Das ist Aus- muss mittel- und langfristig zu einer Verringerung der druck der Win-win-Situation vor Ort. Rohstoffimporte und zur Bekämpfung der globalen Kli- Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie maveränderung beitragen. uns gemeinsam um Vertrauen für ein gemeinsames Aber sie muss auch einen Beitrag zur Lissabonstrate- Europa werben. Wir wollen dieses gemeinsame Europa gie leisten. Arbeitsplätze und Wirtschaftswachstum kön- weiterbauen. Nicht mies machen, sondern anpacken, die nen nur mit einer wettbewerbsfähigen Energie und wett- Chancen für Deutschland und für Europa nutzen – das ist bewerbsfähigen Energiepreisen geschaffen werden. Hier das, was die Menschen von uns erwarten. müssen wir auch die deutschen Interessen in der Ener- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) giepolitik verdeutlichen: Wir wollen die weitere Libera- lisierung und Öffnung der Märkte für Strom und Erdgas und wir müssen unsere Versorgungssicherheit gewähr- Vizepräsident Wolfgang Thierse: leisten sowie Energieeinsparung und den Ausbau erneu- Kollege Otte, das war Ihre erste Rede im Deutschen erbarer Energien, aber auch Innovation und Forschung Bundestag. Herzliche Gratulation und alles Gute für Ihre vorantreiben. Das hat die Frau Bundeskanzlerin in ihrer weitere Arbeit! Regierungserklärung ganz deutlich gesagt. Frau Künast (Beifall) war anscheinend nicht im Bilde, als die Regierungs- erklärung dazu abgegeben worden ist. Ich erteile nun Kollegen Diether Dehm, Fraktion Die Linke, das Wort. (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Das kommt häufiger vor!) (Beifall bei der LINKEN) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006 2909

(A) Dr. Diether Dehm (DIE LINKE): gung in eine „vernetzte Sicherheitspolitik“? Was ist von (C) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bot- einem Verteidigungsminister zu halten, dessen Verteidi- schaft des französischen und holländischen Referen- gungsbegriff so ungefähr alles umfasst, was angeblich dums ist doch klar: Die Leute – auch die Mehrheit der Deutschland und der EU nützt? Deutschland auf den Deutschen, die Sie per Volksabstimmung zu Wort kom- Spuren des Terrorexperten im Weißen Haus und seiner men zu lassen höchst vorsorglich nie gewagt haben – Energiesicherung im Irak und im Iran? wollen keine Verfassung, vor der sie in Deckung gehen müssen, und keinen ungehemmten Wettbewerbskanniba- Frau Merkel, dass Sie sich den größten Brecher des lismus Völkerrechts der letzten zwei Jahrzehnte am 14. Juli nach Stralsund in Ihren Wahlkampf holen, ist schon ein (Rainder Steenblock [BÜNDNIS 90/DIE bemerkenswerter Schulterschluss. Helfen Sie Mecklen- GRÜNEN]: Oh!) burg-Vorpommern lieber wirtschaftlich, statt solche zweifelhaften Showeffekte zu initiieren! – natürlich! – über die Sozialbindung des Eigentums in unserem Grundgesetz hinweg. Sie wollen keinen Ver- (Beifall bei der LINKEN – Markus Löning fassungsvertrag, der dem neoliberalen Sozialdumping, [FDP]: Da seid ihr ja an der Regierung!) dem Lohndumping und dem Mittelstandsruin die Tore sperrangelweit öffnet. Heute und in den nächsten drei Tagen werden Tau- sende von überwiegend jungen Menschen nach Wien (Beifall bei der LINKEN) fahren. Sie werden dies nicht tun, um das Freihandels- Die Leute wollen auch keine verfassungsmäßig legiti- abkommen zwischen der EU und dem Mercosur zu be- mierten EU-Eingreiftruppen rund um den Erdball. Die jubeln, mit dem die großen Agrarunternehmen in Latein- Mehrheit der Europäer und auch wir wollen nicht kei- amerika noch größer werden und die Kleinbauern um nen, sondern einen anderen Verfassungsvertrag. Wir ihre Existenz gebracht werden können. In unserem An- wollen einen – ich zitiere aus unserem Entschließungs- trag zur EU-Lateinamerikapolitik haben wir ausführlich antrag –, der „die Grundintention eines sozialen, fried- begründet, warum wir den Verzicht auf ein Freihandels- fertigen und demokratischen Europas im Geiste seiner abkommen fordern. Wir sollten aus dem Verhandlungs- Gründer und Gründerinnen und im Einklang mit dem paket jene Teile aus den Titeln „Dialog“ und „Koopera- Willen der Bevölkerungsmehrheit in den EU-Mitglied- tion“, die bereits ausverhandelt sind, herausnehmen und staaten widerspiegelt“. Die Verfassung ist nicht das Pro- unabhängig von den anderen Teilen umgehend in Kraft blem. Die Politik dahinter ist der Kern der hausgemach- setzen. ten so genannten Verfassungskrise. Linke und andere Globalisierungskritiker werden in (B) (Beifall bei der LINKEN) Wien sein, um den Aufbruch des jungen, des modernen (D) Lateinamerikas – in Bolivien, in Venezuela und in ande- Frau Bundeskanzlerin, Sie haben deswegen wohl ren Ländern – gegen die undifferenzierten Vorverurtei- auch vor einem Schnellschuss gewarnt, um den selbst lungen und die Drohgebärden der EU-Kommission und mit aufgebauten Erwartungsdruck hinsichtlich der deut- der US-Regierung zu unterstützen und zu stärken. schen EU-Präsidentschaft 2007 jetzt etwas zu dämpfen. Hören Sie also auf, große Worte wie „neue “ (Beifall bei der LINKEN) zu tönen und damit Willy Brandt wieder einmal zu ver- hunzen! Gerade jetzt, wo die bolivianische Regierung den Gas- reichtum ihres Landes nicht mehr zum Nulltarif ausplün- In der Tat: Da fehlen für die deutsch-polnischen und dern lässt, sondern nationalisiert! Glaubt denn hier deutsch-tschechischen Grenzregionen nach wie vor die irgendjemand, der ökonomische Unsinn bei uns in Abkommen, die die grenzüberschreitende Bekämpfung Deutschland mit der Privatisierung der Bahn, der Post, der Geflügelpest oder ähnlicher Katastrophen ermögli- der Wasserversorgung und der Krankenhäuser sei das chen. Wir finden den dazu vorliegenden Antrag der FDP Wesen, an dem die Welt genesen soll? sehr viel konkreter als Ihre großen Worte. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall des Abg. Markus Löning [FDP]) Dagegen stellen wir heute unseren Entschließungsan- – Ich danke Ihnen, Herr Löning. trag als klare zukunftsfähige Alternative zur Abstim- (Zurufe von der CDU/CSU: Oh!) mung. Nur ein soziales, solidarisches und friedfertiges Europa – nach dem Beispiel der Abwahl Berlusconis – Unsere Zustimmung ist doch selbstverständlich, wenn und dem Sieg der französischen Jugend über ihren wir etwas vernünftig finden. Da sehen Sie einmal, wie Ministerpräsidenten – kann ein Partner der Völker sein. undogmatisch die Linken sind. Der Gegengipfel in Wien morgen trägt den Titel „Alter- Laut „Spiegel online“ vom 9. Mai 2006 fordern Sie, nativen verbinden“ „Eine andere Welt ist möglich!“. In Frau Merkel, dass sich – ich zitiere wörtlich – „EU-Staa- Europa ist die andere Welt auf dem Weg. In Venezuela, ten nicht gegenseitig die Rohstoffe wegnehmen“. Frau Bolivien und bald in ganz Lateinamerika hat sie schon Merkel, warum eigentlich nur „EU-Staaten“? Was ver- angefangen. steht die Bundesregierung laut „Die Welt“ vom 18. April Ich danke für die Aufmerksamkeit. unter „Offensive in Richtung Kaukasus“? Was meint Herr Jung mit einer Einbeziehung der Energieversor- (Beifall bei der LINKEN) 2910 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006

(A) Vizepräsident Wolfgang Thierse: lichkeit basiert, werden wir auch umsetzen. Dafür wer- (C) Ich erteile das Wort Kollegen Axel Schäfer, SPD- den wir uns alle miteinander anstrengen. Fraktion. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Axel Schäfer (Bochum) (SPD): Das heißt auch, deutlich zu machen, dass manche ein Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir Stückchen Abschied von der Vorstellung nehmen müs- haben heute Donnerstag; es ist Alltag. Also lassen Sie sen, dass Europapolitik in besonderer Weise Außenpoli- uns deshalb über die Alltagsfragen unserer Europaarbeit tik ist; das ist Europapolitik immer auch. Aber Europa- reden, auch wenn wir natürlich im Hinblick auf den politik ist heute in überwiegendem Maße Innenpolitik. Europatag am 9. Mai auch darüber sprechen müssen, Das ist unsere Domäne und muss auch so bleiben. Es ist was wir bisher erreicht haben. eine Selbstverpflichtung, und zwar nicht nur sozusagen exklusiv für die Mitglieder im Europaausschuss, sondern Der erste Punkt ist: Allen denjenigen, die Europa- auch inklusive aller anderen 23 Ausschüsse in diesem skepsis verbreiten, die immer genau wissen, was nicht Parlament, die sich stärker europäisieren müssen. geht, und als selbstverständlich annehmen, was gelungen ist, sei gesagt: Europa war bisher eine Erfolgsgeschichte. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie All das, was wir bisher voranzubringen versucht haben, bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE ist, wenn auch über viele Schritte, gelungen. Das sollten GRÜNEN) wir deshalb in den Mittelpunkt unserer Arbeit stellen, Die Europäisierung beinhaltet auch die Frage, wie wir wenn wir über die Probleme reden, die wir noch zu lösen in dieser Gemeinschaft agieren. Wenn Europäerinnen haben. und Europäer über europäische Fragen reden, dann ist (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten das eine europäische Angelegenheit und keine Sache, der CDU/CSU) die zwischenstaatlich abläuft oder eine Einmischung in innere Angelegenheiten bedeutet. Deshalb sage ich an Wir haben an einem ganz wichtigen Beispiel gesehen, dieser Stelle ganz deutlich: Ich freue mich, wenn eine wie Europa funktioniert und es zu funktionieren hat: Partei, die zum Verfassungsbogen gehört – also von über eine stärkere Parlamentarisierung. Viele wich- Christdemokraten und Liberalen über die Grünen bis zu tige Inhalte konnten durchgesetzt werden – es wurde den Sozialdemokraten –, in einem europäischen Land schon von der Dienstleistungsrichtlinie gesprochen –, gute Wahlergebnisse erzielt. Ich freue mich natürlich weil es im Europäischen Parlament im Rahmen einer ganz besonders, wenn Sozialdemokratinnen und Sozial- großen Kooperation vor allem zwischen Christdemokra- demokraten gewinnen. Es ist aber wichtig, dass wir uns (B) tinnen und Christdemokraten sowie Sozialdemokratin- in jedem Land, in dem über Europapolitik diskutiert (D) nen und Sozialdemokraten zu einem Sachkompromiss wird, öffentlich gegen Rechtspopulisten und Europa- gekommen ist, Dinge vorangebracht wurden, die von der feinde aussprechen. Das gehört zu einer solchen Debatte Kommission völlig anders gesehen wurden, und Pro- im Deutschen Bundestag. bleme gelöst wurden, was die Regierungen allein nicht hinbekommen hätten. Uns als Parlamentarierinnen und (Beifall bei der SPD – Michael Grosse-Brömer Parlamentarier gerade hier im Bundestag sollte es ein [CDU/CSU]: Gegen die europafeindlichen Stück selbstbewusst machen, dass wir daran in außerge- Linkspopulisten, genau!) wöhnlicher Weise mitwirken konnten. Denn wir haben Deswegen formuliere ich etwas deutlicher, als die Re- uns rechtzeitig eingeklinkt. Wir haben das neue Verhält- gierungsmitglieder es können: Den Vergleich, den der nis zwischen dem Europäischen Parlament und dem polnische Verteidigungsminister vorgebracht hat – Stich- Deutschen Bundestag schon praktiziert. Genau darauf worte „Gaspipeline“ und „Molotow-Ribbentrop-Pakt“ –, wird es in Zukunft verstärkt ankommen. ist in jeder Hinsicht unakzeptabel. Deshalb sollten wir (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten das in diesem Haus gemeinsam zurückweisen. Das ist der CDU/CSU) keine europäische Haltung, sondern widerspricht der historischen Wahrheit und ist das Gegenteil all dessen, Wenn das aber gelingen soll, dann brauchen wir auch was wir auf dem Gebiet der Europapolitik in diesem ein neues parlamentarisches Verständnis. Haus bisher gemeinsam vorangebracht haben. (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Sehr gut!) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Wir brauchen – liebe zu unterstützende Regierung – ein Auf der anderen Seite sage ich ganz klar: Ich freue neues Verständnis für die Zusammenarbeit von Parla- mich, dass nach dem hochgeschätzten Christdemokraten ment und Exekutive. Carlo Ciampi in Italien Giorgio Napolitano zum Präsi- (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Sehr rich- denten gewählt worden ist, tig! – Rainder Steenblock [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall des Abg. Dr. Diether Dehm [DIE GRÜNEN]: Sehr gut!) LINKE]) Das, was im Koalitionsvertrag zu Recht steht, nämlich der zu unserer Parteifamilie gehört. dass zwischen Bundestag und Bundesregierung eine Vereinbarung getroffen wird, die auf Parlamentsfreund- (Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE]: Na, na!) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006 2911

Axel Schäfer (Bochum) (A) Ich freue mich besonders darüber, weil er im Europäi- An diesem gemeinsamen Europa, das Jean Monnet auf (C) schen Parlament Vorsitzender des Verfassungsausschus- der Basis der „Solidarität der Tat“ aufgebaut hat, wollen ses war und weil er in Italien ein Garant für Europapoli- wir in diesem Haus weiterbauen. tik ist. Er ist ein Gegenbild zu gewissen Separatisten, die Vielen Dank. es in der bisherigen italienischen Regierung auch gab. Das muss an dieser Stelle einmal von Parlamentarierin- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten nen und Parlamentariern des Deutschen Bundestages ge- der CDU/CSU) sagt werden. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Vizepräsident Wolfgang Thierse: der LINKEN) Ich erteile das Wort dem Kollegen Thomas Silberhorn, CDU/CSU-Fraktion. Diese Bundesregierung ist natürlich verpflichtet, die (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ratspräsidentschaft vorzubereiten. Das tut sie, genauso wie auch wir uns einbringen. Allein der Respekt vor de- nen, die zurzeit in der Verantwortung stehen, nämlich Thomas Silberhorn (CDU/CSU): vor unseren finnischen Freunden, die sich jetzt an die Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir reden Ratifizierung des Vertrages machen, und vor Österreich, hier über eine Akzeptanzkrise der Europäischen Union, das zurzeit die Ratspräsidentschaft inne hat, gebietet es vielleicht die tiefste, die sie in ihrer Entwicklung hat. aber, dass wir uns heute noch nicht festlegen. Wir wissen Just in dem Moment, in dem die Europäische Union mit schließlich noch nicht, wie weit wir am Ende des Jahres dem Verfassungsvertrag und der Erweiterung ihre ambi- gekommen sein werden. Uns muss aber bewusst sein, tioniertesten Projekte auf den Weg gebracht hat, schwin- dass gegenüber Deutschland eine große Erwartungshal- det das Vertrauen der Bürger in die europäische Integra- tung besteht, Europa voranzubringen und entscheidend tion. Ich glaube, das gebietet uns, innezuhalten und nach zur Problemlösung beizutragen. den Gründen zu fragen, die sicher vielschichtig sind. Nach meiner Auffassung gehört dazu aber auch, dass die Es ist gut, dass die Bundeskanzlerin auf die Kontinui- Anliegen der Bürger und die europapolitische Agenda tät hingewiesen hat. Die letzte deutsche Ratspräsident- nicht immer zusammenpassen. Die Europäische Union schaft, im ersten Halbjahr 1999, war, das sagen heute die beantwortet Fragen, die sich für die Bürger nicht stellen, Historiker, eine der erfolgreichsten. Es ist gut, dass wir und umgekehrt ist die Europäische Union nicht in der daran anknüpfen wollen. Das ist gut für Angela Merkel Lage, auf die drängenden Zukunftsfragen der Bürger und gut für Frank-Walter Steinmeier. ausreichende Antworten zu geben. Das halte ich für eine der tieferen Ursachen der Akzeptanzkrise, in der wir ste- (B) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten cken. (D) der CDU/CSU) Die Europäische Union beschäftigt sich zum Beispiel Ich erlaube mir aber, auf Nuancen hinzuweisen. Wir mit einer Richtlinie über optische Strahlung, bei der dürfen es uns nicht zu einfach machen und beispiels- gottlob der Sonnenschein ausgenommen werden konnte. weise sagen: Wenn über schwierige Kommissionsvorla- Ich bin der dritte Redner, der das heute ansprechen muss. gen nach zwei Jahren noch nicht entschieden wurde, Man kann nicht oft genug betonen, dass durch solche können sie verfallen. – Ich erinnere nur daran, dass die Dinge das Vertrauen der Bürger in die europäische Inte- Vredeling-Richtlinie schon 1970 – Arbeitsminister war gration nachhaltig beschädigt wird, weil niemand einse- damals , SPD – auf den Weg gebracht hen kann, dass das Fragen sind, die man auf europäi- wurde. Erst 1994 haben sich der Rat und das Europäi- scher Ebene behandeln muss. sche Parlament über die Einrichtung europäischer Be- (Beifall bei der CDU/CSU) triebsräte geeinigt – Arbeitsminister war Norbert Blüm, CDU. Dieser lange Weg war notwendig, um dieses Vor- Die Europäische Union befasst sich mit der Daseins- haben im Interesse der Arbeitnehmerinnen und Arbeit- vorsorge, bei der für jedermann einsichtig ist, dass sie in nehmer voranzubringen. Wir sollten darum nicht leicht- erster Linie auf kommunaler Ebene angesiedelt bleiben fertig über bürokratisch festgelegte Verfallsdaten muss. Ganz aktuell befasst sich die Europäische Union sprechen. mit der Einrichtung einer europäischen Grundrechte- agentur, obwohl Europa seit Jahrzehnten den weltweit (Beifall bei Abgeordneten der SPD) dichtesten Grundrechteschutz hat. Dafür möchte man mehr als hundert Beamte einstellen und weit mehr Geld Subsidiarität darf nicht zu einem Wettlauf dergestalt zur Verfügung stellen, als der Europarat zur Verfügung ausarten, dass wir uns in dem überbieten, was wir alles hat, um Grundrechte zu schützen, und das für eine Be- nicht machen. Beim Thema Subsidiarität müssen wir hörde, die von dem gerichtlichen Grundrechtsschutz, darüber diskutieren, was wir machen, um Europa ge- den wir in Europa seit Jahrzehnten haben, weit entfernt meinsam voranzubringen. Wir bringen es gemeinsam ist. Das alles sind keine Beiträge zum Bürokratieabbau voran. Bertolt Brecht hat das einmal unübertrefflich for- muliert – das entspricht dem deutschen Verständnis –: (Dr. [CDU/CSU]: Sehr gut!) oder dazu, dass Bürger wieder neues Vertrauen in die eu- Und weil wir dies’ Land verbessern, lieben und be- ropäische Integration fassen können. schirmen wir’s, und das Liebste mag’s uns schei- nen, so wie anderen Völkern ihrs … (Beifall bei der CDU/CSU) 2912 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006

Thomas Silberhorn (A) Wir müssen uns die großen Zukunftsfragen stellen konkret tun. Wir können aber gar nicht selbstständig (C) und darauf Antworten finden: Was tun wir gegen die handeln, sondern wir sind darauf angewiesen, dass die Verlagerung von Arbeitsplätzen ins Ausland? Was tun Beamten der Europäischen Kommission Vorschläge auf wir, um wieder mehr Wachstum und Beschäftigung in den Tisch legen. Europa zu entfalten, und was tun wir, um unsere interna- tionale Wettbewerbsfähigkeit in Zeiten der Globalisie- (Rainder Steenblock [BÜNDNIS 90/DIE rung zu erhalten? Das sind die Zukunftsfragen, auf die GRÜNEN]: Ja, aber das hat die Regierung so wir Antworten finden müssen. gewollt!) Es genügt bei der Beantwortung dieser Zukunftsfra- Dieser Anachronismus ist schlichtweg unhaltbar. Wenn gen nicht, dass wir unsere Vision von der europäischen wir die Gestaltungskraft der Politik zurückgewinnen Integration an der Nachkriegsgeschichte orientieren. wollen, dann müssen wir auch dafür sorgen, dass Vor- Denn wir können die Zukunft nicht mit alten Lösungen schläge für neue Initiativen auf europäischer Ebene gewinnen. Wir müssen unsere Zukunftsvision von der von den gewählten Politikern eingebracht werden kön- europäischen Integration an den Problemen orientieren, nen. vor denen wir stehen. Dazu gehört aus meiner Sicht, dass (Rainder Steenblock [BÜNDNIS 90/DIE wir eine Vision der europäischen Integration entwi- GRÜNEN]: Das musst du mal deiner Regie- ckeln, durch die wir die wirtschaftliche Dynamik in der rung klar machen!) Europäischen Union wieder entfalten können, durch die wir internationale Wettbewerbsfähigkeit gewinnen, Deswegen fordere ich, dass wir hier tätig werden. Na- durch die wir innere Sicherheit angesichts der neuen Be- türlich weiß ich, dass so etwas in einen Vertrag gegossen drohungen gewährleisten können und durch die wir eine und ratifiziert werden muss; aber wir müssen einen sol- Europäische Union schaffen, die einen Beitrag zur Si- chen Prozess doch einmal anstoßen, damit die gewählten cherheit und zur Stabilität in der Welt leistet. Das ist Politiker – ich meine unsere Kollegen im Europäischen meine Vision der europäischen Integration. Parlament – in die Lage versetzt werden, aus parlamen- Dazu gehört auch, dass wir ganz pragmatische Ant- tarischem Interesse heraus Initiativen für die konkrete worten finden: Was tun wir denn konkret, um den Bin- Europapolitik zu ergreifen. nenmarkt, der immer noch nicht vollendet ist, endlich zu (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- vollenden? Was tun wir konkret, um Bürokratie abzu- neten der SPD, der LINKEN und des BÜND- bauen? Was tun wir konkret, um Bildung und Forschung NISSES 90/DIE GRÜNEN) zu stärken? Ich glaube, wir müssen die Balance zwi- (B) schen unserer Vision von der europäischen Integration Ich begrüße die Forderung, den Grundsatz der Dis- (D) und den pragmatischen Antworten auf die Fragen, die kontinuität, der im Bundestag gilt, auch auf europäi- sich den Arbeitnehmern, den Unternehmern, den Men- scher Ebene einzuführen, damit wir Vorschläge, die die schen in Europa heute stellen, neu austarieren. Kommission eingereicht hat, die aber keine Zustimmung finden, auch wieder loswerden können. Allerdings müs- (Beifall bei der CDU/CSU) sen Vorschläge auch von den demokratisch gewählten Wir müssen uns zum Ziel setzen, dass wir im Inneren Politikern formell eingebracht werden können. Nur so der Europäischen Union die Attraktivität wiedergewin- gelingt es, politische Handlungsmacht und politische nen, die die Europäische Union nach außen, insbeson- Verantwortung miteinander zu verknüpfen. Es ist ein- dere für die Beitrittskandidaten, hat. Wenn es uns ge- fach untragbar, dass die Abgeordneten, die die politische lingt, dass wir im Inneren so attraktiv bleiben und Verantwortung tragen und von den Bürgern politisch werden, wie wir es nach außen sind, dann können wir verantwortlich gemacht werden, keine Handlungsmög- mit gutem Grund den Anspruch vertreten, dass wir den lichkeiten haben, da diese bei den Beamten liegen, die Prozess der Globalisierung mitgestalten können, und wiederum sich den Wählern nicht stellen müssen und zwar nach unseren europäischen Wertvorstellungen. Das nicht politisch verantwortlich gemacht werden. Das muss die Zielsetzung sein. passt nicht zusammen. Es ist heute schon mehrfach angemahnt worden (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der – auch von der Bundeskanzlerin –, dass die Politik ihre LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE Gestaltungskraft zurückgewinnen muss. Ich glaube, dass GRÜNEN – Rainder Steenblock [BÜND- wir selbst eine ganze Menge dafür tun können, und NIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau! Lass uns möchte zwei Punkte herausgreifen. dazu mal einen gemeinsamen Antrag in den Bundestag einbringen!) Zum einen geht es mir um die aus meiner Sicht zwar historisch verständliche, aber heute anachronistische Si- Zur Frage, wie die Politik ihre Gestaltungskraft zu- tuation, dass neue Initiativen in der Europäischen Union rückgewinnen kann, möchte ich noch einen zweiten fast nur von der Europäischen Kommission auf den Punkt ansprechen: Auch wir als Deutscher Bundestag Tisch gelegt werden können. Damit haben wir uns fast müssen darüber nachdenken, wie wir unsere Gestal- vollständig in die Hände von Beamten begeben. Kein tungskraft in Fragen der Europapolitik stärken können. gewählter Politiker kann auf europäischer Ebene eine Wenn man sich die Präsenz in diesem Saal anschaut Initiative ergreifen, selbst dann nicht, wenn er Hand- – bitte gestatten Sie mir diese Bemerkung –, dann könnte lungsbedarf sieht. Die Menschen fragen uns, was wir man durchaus den Eindruck gewinnen, dass die Akzep- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006 2913

Thomas Silberhorn (A) tanzkrise der Europäischen Union auch die Abgeordne- rung allein; es betrifft vielmehr jede Bundesregierung. (C) ten des Deutschen Bundestages erfasst hat; Es ist eine Frage, die das Parlament als Ganzes angeht. Wir müssen dafür sorgen, dass der Deutsche Bundestag, (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) wenn er in europäischen Fragen Position bezieht, bei der dafür habe ich sogar Verständnis. Bundesregierung Gehör findet. Das bedeutet: Stellung- nahmen des Bundestages müssen einen höheren Grad an Wir müssen in diesem Hause für Fragen der Europa- Verbindlichkeit erhalten, als das bisher der Fall ist. politik mehr öffentliche Aufmerksamkeit erzeugen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE Das beginnt damit, dass wir diesbezüglich besser von GRÜNEN) der Bundesregierung unterrichtet werden müssen, als es Ich formuliere diesen Anspruch als Einladung an die bisher der Fall ist. Es ist doch Unfug, dass der Bundesrat Bundesregierung, das Parlament einzubinden und es mit viel umfangreicher von der Bundesregierung unterrichtet dafür zu nutzen, in europäischen Fragen Transparenz wird als die gewählten Mitglieder dieses Hauses. und die nötige öffentliche Aufmerksamkeit zu schaffen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Diesen Beitrag können und wollen wir leisten, und ich neten der SPD – Beifall bei der LINKEN) glaube, dass uns das gelingen kann. Wenn wir die Ak- zeptanz für die europäische Politik verstärken wollen Wir Abgeordnete des Deutschen Bundestages werden und neues Vertrauen gewinnen wollen, müssen an erster auf informellem Wege von den Beobachtern und Vertre- Stelle die Abgeordneten dieses Hauses mitgenommen tern der Bundesländer in Brüssel – das sage ich aus vol- werden. ler Überzeugung und kann es bei Bedarf auch gerne beweisen – besser über die deutsche Europapolitik infor- Vielen Dank. miert als von der Bundesregierung. Dieser Zustand ist (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- unhaltbar. Wir müssen uns, was das Ausmaß der Unter- neten der SPD) richtung durch die Bundesregierung angeht, mindestens auf Augenhöhe mit dem Bundesrat bewegen. Vizepräsident Wolfgang Thierse: (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Ich schließe die Aussprache. neten der LINKEN und des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN – [SPD]: Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungs- Wenden Sie sich damit doch mal an Ihre Kanz- antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/1413. (B) lerin!) Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Wer (D) stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Entschließungs- Die Bundesregierung muss dafür sorgen, dass ihre antrag ist mit den Stimmen des Hauses mit Ausnahme Europapolitik nicht nur hinter verschlossenen Türen von der Fraktion Die Linke abgelehnt. den Beamten in den Ministerien gemacht wird, sondern dass sie auch von den Abgeordneten mitgetragen werden Tagesordnungspunkte 3 b und 3 c. Interfraktionell wird kann. Das ist die erste Voraussetzung, um auch in der Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 16/456 Öffentlichkeit wieder Vertrauen in die europäische Poli- und 16/528 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus- tik zu gewinnen. schüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so be- (Beifall bei der CDU/CSU und der LINKEN) schlossen. Gestatten Sie mir eine letzte Bemerkung: Die Büro- Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 c so- kratie in Brüssel, die wir oft beklagen, wird nicht nur wie Zusatzpunkt 3 auf: von den Brüsseler Beamten, sondern auch von den Re- gierungen der Mitgliedstaaten verursacht. Es ist einfach 4a) Erste Beratung des von den Abgeordneten unbefriedigend, dass die Positionen, die der Bundestag Dr. Norbert Röttgen, Dr. Michael Meister, vertritt, für die Bundesregierung völlig unverbindlich Laurenz Meyer (Hamm), weiteren Abgeordneten sind. Es gibt sogar die Praxis, dass Beamte der Bundes- und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abge- regierung in den Verhandlungen in Brüssel Parlaments- ordneten Olaf Scholz, Ludwig Stiegler, vorbehalte einlegen. Damit machen sie von einem Mittel Dr. Rainer Wend, weiteren Abgeordneten und der Gebrauch, das uns Abgeordneten de jure gar nicht zur Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Verfügung steht. Wir werden lediglich im Nachhinein Gesetzes zur Einsetzung eines Nationalen Nor- davon in Kenntnis gesetzt. Das bedeutet, dass der Bun- menkontrollrates destag von den Beamten der Bundesregierung instru- – Drucksache 16/1406 – mentalisiert wird. Das ist ein ungeheuerlicher Vorgang. Überweisungsvorschlag: (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE Geschäftsordnung GRÜNEN) Innenausschuss Rechtsausschuss Ich bitte um Nachsicht dafür, dass ich das hier so offen Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ansprechen muss: Dies betrifft nicht diese Bundesregie- Haushaltsausschuss 2914 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006

Vizepräsident Wolfgang Thierse (A) b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dies hat seither jede Bundesregierung wiederholt. Von (C) Laurenz Meyer (Hamm), , jeder politischen Konstellation, die es seither gegeben Klaus Brähmig, weiteren Abgeordneten und der hat, ist angekündigt worden, Bürokratie abzubauen. Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten (Dr. Michael Bürsch [SPD]: Es ist auch etwas Dr. Rainer Wend, Doris Barnett, Klaus Barthel, geschehen!) weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes – Nichts ist geschehen! zum Abbau bürokratischer Hemmnisse insbe- (Dr. Michael Bürsch [SPD]: Doch!) sondere in der mittelständischen Wirtschaft In den letzten 30 Jahren hat es am Ende jeder Legisla- – Drucksache 16/1407 – turperiode nicht nur nicht weniger, sondern sogar mehr Überweisungsvorschlag: Bürokratie gegeben als zuvor. Die Geschichte des Ab- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Innenausschuss baus von Bürokratie – dem wichtigen Ziel, Bürger und Rechtsausschuss Unternehmen von Kosten und Freiheitsbeschränkungen Finanzausschuss zu befreien – ist eine Geschichte des politischen Schei- Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und terns Verbraucherschutz Ausschuss für Arbeit und Soziales (Birgit Homburger [FDP]: Das setzt Ausschuss für Gesundheit sich jetzt fort!) Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Wir wollen und werden dies ändern. Wir trauen uns Ausschuss für Bildung, Forschung und zu, dieser Geschichte des Scheiterns mit einem neuen Technikfolgenabschätzung Ansatz ein Ende zu bereiten. Weil die Erfahrungen der Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss für Kultur und Medien vergangenen Jahrzehnte so negativ sind, ist Skepsis si- Haushaltsausschuss cherlich angebracht. Deshalb will ich begründen, wie wir das Ziel, das uns alle in diesem Hause verbindet, er- c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Martin reichen wollen: Der neue Ansatz der Koalitionsfraktio- Zeil, Rainer Brüderle, Paul K. Friedhoff, weiterer nen ist nicht theoriegeboren, sondern er besteht darin, et- Abgeordneter und der Fraktion der FDP was auf unser Land zu übertragen, das in anderen Statistikpflichten zurückführen – Bürokratie- Ländern mit Erfolg praktiziert wird. Das heißt, wir wol- kosten senken len die positiven Erfahrungen, die andere Länder ge- macht haben, nutzen. Diese anderen Länder sind insbe- – Drucksache 16/1167 – sondere die Niederlande, Großbritannien – Tony Blair –, (B) Überweisungsvorschlag: Dänemark und weitere europäische Länder. Ich möchte (D) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) die Methode schildern, die Inhalt unseres Gesetzentwur- Innenausschuss fes ist. Drei Elemente machen den neuen Ansatz aus. ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgit Das erste Element ist die Einführung und Anwendung Homburger, Dr. Max Stadler, Jörg van Essen, einer Methode, um durch Bürokratie entstehende Kos- weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP ten zu messen. Schlanker Staat durch weniger Bürokratie (Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: und Regulierung Höchste Zeit!) – Drucksache 16/119 – Es ist möglich, die durch Gesetze verursachten Bürokra- Überweisungsvorschlag: tiekosten zu erfassen, zu messen. Dazu gibt es eine ob- Rechtsausschuss (f) jektive Methode, bezogen auf einen bestimmten Büro- Innenausschuss kratiebegriff, die schon angewendet wird und akzeptiert Finanzausschuss ist. Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Diese Methode werden wir anwenden, so wie das Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für schon in anderen Ländern gemacht wird, und zwar flä- die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. – Ich chendeckend auf alle Gesetze, alle Rechtsverordnungen höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. und alle Verwaltungsvorschriften. So werden wir erfas- sen können, wie hoch die Kosten sind, die durch Gesetze Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen verursacht werden. Wir werden sehen, wie viel Bürokra- Norbert Röttgen, CDU/CSU-Fraktion, das Wort. tie, die durch Gesetze veranlasst wird, kostet. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) In den Niederlanden lag der Wert bei 3,6 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Die niederländische Regierung Dr. Norbert Röttgen (CDU/CSU): konnte, nachdem sie gesehen hat, welche Kosten Büro- Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle- kratie verursacht, Abbauziele vereinbaren und hat fest- gen! Im Jahre 1969 hat der damalige Bundeskanzler gelegt, diesen Stand in einer Legislaturperiode um Willy Brandt zum ersten Mal für eine Regierung das Ziel 25 Prozent senken zu wollen; das hat die Bundeskanzle- proklamiert, Bürokratie abzubauen. rin heute Morgen aufgenommen. Das haben die Nieder- länder dann gemacht. Die Vierjahresfrist ist noch nicht (Dr. Michael Bürsch [SPD]: Sehr gut!) abgelaufen, aber sie haben schon 18 Prozent erreicht. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006 2915

Dr. Norbert Röttgen (A) Für die Niederlande bedeuten Bürokratiekosten in wenn eine solche Stellungnahme des Normenkontrollra- (C) Höhe von 3,6 Prozent des BIP ein Einsparvolumen von tes erfolgt, gerät die Regierung, die mit dieser Rechts- 4 Milliarden Euro. Davon haben sie schon drei Viertel vorschrift Bürokratie verursachen will, in Rechtferti- erreicht. Das ist die Wirklichkeit. Eine solche Kostenent- gungsdruck. Das ist der Mechanismus. Sie muss sich für lastung gab es für die Adressaten von Bürokratie. Wenn die Verursachung von Bürokratie rechtfertigen – und das wir das auf das deutsche Bruttoinlandsprodukt beziehen ist richtig. und genauso erfolgreich sind wie die Niederländer – dort ist es nicht Fiktion, sondern Realität –, dann wäre das in (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Deutschland eine Entlastung der Unternehmen bei Büro- Wir wollen, dass Bürokratieverursachung in unserem kratiekosten von 20 Milliarden Euro. Land zu einem rechtfertigungsbedürftigen Verhalten (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- wird. Denn das kann Bürokratie reduzieren. neten der SPD) Drittes Element. Wir schaffen für dieses Ziel des Bü- Ich komme auf 20 Milliarden Euro, indem ich die Erfah- rokratieabbaus eine parlamentarisch-gesetzliche rungen der Niederlande auf Deutschland übertragen Grundlage. Bislang wurde immer gesagt: Das macht die habe. Exekutive allein. – Wir brauchen, wenn wir das Ziel Bü- rokratieabbau erreichen wollen, die Exekutive. Aber wir Wir kündigen nicht an, dass es diese Entlastung in werden das Ziel nur gemeinsam erreichen; die Exekutive Höhe von 20 Milliarden Euro auch tatsächlich geben allein schafft das nicht. Vielmehr müssen das Parlament, wird. Fest steht: Durch die Umsetzung dieser Methode der Gesetzgeber, und die Exekutive zusammenwirken. können die Unternehmen bei ihren Kosten so stark ent- Dazu gibt es ein Gesetz; es entstammt der Mitte des lastet werden, wie es mit kaum einem anderen Projekt Bundestages und wurde von den Koalitionsfraktionen möglich wäre. Denn es kostet uns nichts. Der Staat hat formuliert. Das gibt dem gesamten Vorhaben eine parla- keine Einnahmeausfälle zu verkraften, wenn er auf Bü- mentarische Grundlage. Wir als Gesetzgeber involvieren rokratie verzichtet. Es gibt also erneut nur Gewinner. und engagieren uns bei diesem Thema und machen es Eine solch enorme Kostenentlastung der Unternehmen zum Maßstab auch unseres Verhaltens. Wir wollen betei- könnten wir auf absehbare Zeit mit keinem anderen In- ligt werden und wollen uns an der Bearbeitung dieses strument der Politik und der Gesetzgebung realisieren. Themas beteiligen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) neten der SPD) Ich komme zu meiner letzten Bemerkung. Nach allen Zum zweiten Element, das die Niederlande anwenden Erklärungen verbindet uns das Ziel des Bürokratieab- (B) und das wir übertragen wollen: In den Prozess der Ent- baus bzw. des Bürokratiekostenabbaus. Ich habe die Di- (D) stehung von Recht, von Gesetzen muss mit Blick auf den mensionen geschildert, um die es geht. Es ist ein Thema, Abbau und die Vermeidung von Bürokratie eine unab- das mit Kosten, aber auch mit Freiheit zu tun hat. Es ver- hängige Kontrolle eingebaut werden. Denn Bürokratie bindet uns alle. Ich möchte eine letzte Erfahrung aus den fällt nicht vom Himmel, sondern wird durch Gesetze, Niederlanden schildern und das mit einer Bitte und ei- Rechtsverordnungen und Verwaltungsvorschriften staat- nem Appell verbinden. Im niederländischen Parlament lich erzeugt. Das hängt mit der bestimmten Art der ex- ist dieses Thema, von ganz links bis zum anderen Ende pertenhaften Organisation von Gesetzgebung zusam- des politischen Spektrums, nicht streitig. Man geht das men. Die Experten haben ihr kleines Planquadrat vor Thema gemeinsam an. Ich möchte alle Fraktionen dazu sich, das sie beherrschen und zusammen mit Interessen- einladen, mitzuwirken und sich konstruktiv zu beteili- gruppen gestalten. Sie erklären der Politik, dass es an gen, damit wir zusammenwirken bei der Verfolgung ei- dieser Stelle unbedingt notwendig ist, diese Regulierung nes gemeinsamen Zieles und so als Gesetzgeber in der vorzunehmen. Das kennen alle, die sich schon einmal in- Sache gemeinsam etwas erreichen. Diesen Schlussappell tensiv mit der Entstehung von Rechtsvorschriften befasst möchte ich an alle richten und verbinde ihn mit der Be- haben. merkung: Wir sind selbstverständlich bereit, Korrektu- Darum brauchen wir in dieser Phase, implementiert in ren und Verbesserungen anzunehmen; wir wollen einen der Exekutive, eine Kontrollinstanz, eine unabhängige Diskussionsprozess. Was wir anstreben, ist, dass dieses Instanz, die weisungsunabhängig ist und die nicht mit Ziel gemeinsam, auf breiter Grundlage, getragen wird. Politikern oder weisungsabhängigen Beamten besetzt Denn so kann es umso erfolgreicher realisiert werden. wird, sondern mit unabhängigen Sachverständigen, die Danke. intervenieren können. Diese Institution heißt Normen- kontrollrat. Der Normenkontrollrat ist kein politischer (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Zensor. Er sagt dem Parlament nicht, was der politische Wille eines Gesetzes sein soll, sondern er stellt fest, ob Vizepräsident Wolfgang Thierse: für das durch die Politik festgelegte Ziel dieses Maß an Ich erteile das Wort Kollegen Martin Zeil, FDP-Frak- Bürokratie erforderlich ist. Er kann das in seiner Stel- tion. lungnahme kritisieren. Die Erfahrungen aus den anderen Ländern zeigen, Martin Zeil (FDP): dass die Regierungen ihre Gesetzesvorschläge verän- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! dern. Das müssen sie von Rechts wegen nicht. Aber Man gewinnt manchmal den Eindruck, als wäre 2916 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006

Martin Zeil (A) Bürokratie etwas, das unser Land gewissermaßen ohne Die spannendste Frage aber ist – auch dazu haben Sie (C) unser Zutun befallen hätte, und als bräuchten wir mög- nichts gesagt –: Wer wird nun Mitglied dieses Rats? Die lichst viele externe Gremien, um ihr abzuhelfen. Es ist Zusammensetzung ist noch geheimer als die endgültige aber wichtig, noch einmal darauf hinzuweisen – Herr Nominierung unserer WM-Mannschaft. Der Bundestrai- Röttgen hat es ebenfalls erwähnt –, dass wir selbst als ner wird sein Geheimnis am 15. Mai lüften. Wir dürfen Gesetzgeber, die Regierungen und Verwaltungen in der als Parlament gespannt sein, wann nun endlich konkrete EU, im Bund und in den Ländern die Quelle der Büro- Vorschläge seitens der Regierung kommen werden. kratie sind, niemand sonst. Den Bürgern müssen wir sa- gen: Wer für jedes neue Problem eine Regelung fordert, (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Zuerst der fordert auch mehr Bürokratie. müssen wir das Gesetz haben!) Es geht also letztlich auch um unser Staatsverständ- Entscheidend ist, dass dort unabhängiger Sachverstand nis. Dass wir als Liberale uns dabei etwas leichter tun als und Praxiserfahrung einziehen und keine Frösche zur andere, liegt auf der Hand: Für uns ist das Loslassen sei- Trockenlegung des Sumpfes nominiert werden. tens des Staates kein schmerzhafter Prozess wider Wil- (Beifall bei der FDP – Dr. Norbert Röttgen len, sondern ein Freiheitsthema schlechthin. [CDU/CSU]: Richtig! Wir sind einer Mei- (Beifall bei der FDP) nung! – Olaf Scholz [SPD]: Quak! Quak!) Ich erinnere in diesem Zusammenhang nur an die zahl- Wir bedauern, dass die Besetzung allein Sache der Exe- reichen Entbürokratisierungsinitiativen unserer Fraktion, kutive ist und das Parlament außen vor bleibt. die unter Federführung der Kollegin Homburger in den Beim Mittelstandsentlastungsgesetz haben Sie von letzten Jahren gestartet wurden. einer Entfesselungsoffensive gesprochen. Ja, es enthält Es ist gut, wenn die schwarz-rote Regierung nun end- einige verdienstvolle Ansätze. Es ist auch gut, dass man lich erste, zaghafte Schritte in die von uns seit langem sich dem herausragenden Problem der Deklaration von vorgezeichnete Richtung unternimmt. Altholz widmet. Sie wissen im Grunde aber selbst, dass Sie mit diesem Entwurf viel zu kurz springen. Es hat (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU – auch schon aus den eigenen Reihen Kritik gegeben. Beifall bei Abgeordneten der FDP – Ernst Burgbacher [FDP]: Sehr zaghafte!) (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Nein!) Nach langem Hin und Her haben Sie jetzt das Gesetz Wir werden Ihnen im Gesetzgebungsverfahren gerne über den Normenkontrollrat vorgelegt. Über die Na- helfen, vielleicht doch noch zu einer echten Entfesselung mensgebung lässt sich streiten; wir hätten uns den um- zu kommen. (B) (D) fassenderen „Bürokratiekosten-TÜV“ gewünscht. Es ist auch kein gutes Omen, dass im Namen des Bürokratie- (Beifall bei der FDP) abbaus erst einmal Stellenmehrungen vorgenommen Meine Damen und Herren von der Koalition, viel wurden. schlimmer als diese Trippelschritte ist aber etwas ganz (Beifall bei Abgeordneten der FDP – Hartmut anderes: Während Sie hier vollmundig von Mittelstands- Koschyk [CDU/CSU]: Wir haben doch keine entlastung reden, haben Sie in Ihrer kurzen Amtszeit Stellenmehrungen vorgenommen!) schon selbst neue bürokratische Belastungen zu ver- antworten. Ich nenne nur das Vorziehen der Fälligkeit Der Entwurf weist auch inhaltliche Mängel auf: Der der Sozialversicherungsbeiträge, Begriff der Bürokratiekosten wird auf die „Informati- onspflichten“ reduziert. (Ernst Burgbacher [FDP]: Richtig!) (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Weil nur die neue Zwangsversicherung für Kleinbetriebe bei der das messbar ist!) Lohnfortzahlung, die Fahrtenbuchführung bei Ge- schäftswagen für Selbstständige und – als neuesten Sün- Dabei wissen auch Sie es besser, nämlich dass der weit- denfall – das neue Antidiskriminierungsgesetz, dessen aus größere Teil der Kosten den Unternehmen durch die Bestimmungen von jedem Normenkontrollrat, der seine Umsetzung anderer Rechtsvorschriften und vor allen Aufgabe ernst nimmt, sofort beanstandet werden müss- Dingen durch die hierfür erforderlichen Investitionen ten. entsteht. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei Abgeordneten der FDP – Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Deshalb machen wir Es ist dieses völlig widersprüchliche Verhalten, das das Mittelstandsentlastungsgesetz!) Ihrer Politik die Glaubwürdigkeit nimmt. Die „Wirt- schaftswoche“ hat es so beschrieben: Ferner möchte ich erwähnen: Die Kontrollaufgabe des Rats darf sich nicht nur auf Initiativen der Regierung be- … die Augen vor der Realität verschließen, konse- ziehen. Das Modell der Messung der Bürokratiekosten quent am Sachverstand der Wissenschaft vorbeihö- entspricht unseren Vorschlägen. Aber eines dürfen wir ren und schamlos die Bedenken gegen das eigene nicht vergessen: Auch das modernste Fieberthermometer Tun verschweigen. ist noch keine Therapie gegen die Krankheit selbst. Lassen Sie mich zum Abschluss sagen: Solange Sie (Beifall bei der FDP) so weitermachen, lösen Sie keine Probleme, sondern Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006 2917

Martin Zeil (A) sind selbst Teil des Problems. Dabei kann es so einfach Von daher scheint es vielleicht nicht ganz so leicht zu sein. (C) sein: Ich darf ein etwas ironisches Zitat bringen. Wernher Bürokratieabbau kostet nichts, steigert das Brutto- von Braun hat gesagt: inlandsprodukt und macht populär, Bei der Eroberung des Weltraums sind zwei Pro- so der Vorsitzende des niederländischen Normenkon- bleme zu lösen: die Schwerkraft und der Papier- trollrats. krieg. Mit der Schwerkraft wären wir fertig gewor- den. Wenn Sie auf diese Weise Popularität suchen, wenn Sie den großen Worten endlich Taten folgen lassen, ha- (Heiterkeit bei der SPD und der CDU/CSU) ben Sie die FDP-Fraktion an Ihrer Seite. Ich glaube, daran sieht man: So pessimistisch muss (Beifall bei der FDP – Hartmut Koschyk man nicht sein, wenn man die Ursachen dafür erkennt, [CDU/CSU]: Machen wir doch! Wir machen warum wir Bürokratieabbau bisher nicht erreicht haben. es den Niederländern nach!) Es gibt mehrere Ursachen. Ich will zwei benennen, weil sie mir wichtig sind. Mit unserem Gesetzgebungsvorha- ben versuchen wir, genau diese Dinge zu umschiffen und Vizepräsident Wolfgang Thierse: zu vermeiden. Ich erteile das Wort Kollegen Rainer Wend, SPD- Fraktion. (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Sehr richtig!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Die erste Ursache ist: Die FDP – wenn ich jetzt bösar- tig wäre, würde ich vielleicht auch einige unserer neuen Freundinnen und Freunde von der CDU/CSU mit einbe- Dr. Rainer Wend (SPD): ziehen, Herr Präsident! Meine Damen und Herren! (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Nein, nein!) Kein Staat kann ohne Recht, kein Recht ohne Staat bestehen. aber das tue ich nicht – sagt „Bürokratieabbau“ und spricht anschließend über den Kündigungsschutz, die Max Weber hat gesagt: „Eine Verwaltung“, die dieses Tarifautonomie, das Betriebsverfassungsrecht, die Um- Recht durchsetzen will, „ist entweder bürokratisch oder weltstandards und das Antidiskriminierungs- oder, so dilettantisch“. heißt es jetzt, das Gleichstellungsgesetz. Was ich damit sagen will, ist: Bürokratie ist auch Be- (Martin Zeil [FDP]: Ja!) standteil eines Rechtsstaates. Ohne Bürokratie kann (B) Wohlgemerkt: Selbstverständlich kann man über jeden (D) Willkür herrschen. Deswegen geht es bei unserem Vor- dieser Punkte inhaltlich diskutieren. Man tut dem Thema haben heute in Wahrheit nicht um einfache und pau- Bürokratieabbau aber einen Tort an, wenn man diese in- schale Deregulierung, sondern um eine richtige und ef- haltlichen Themen unter der Überschrift „Bürokratieab- fektive Regulierung. bau“ subsumiert. Damit erreichen Sie nämlich, dass bei In unserer Republik haben sich aber über Jahrzehnte uns eine Art Reflex entsteht, nachdem immer dann, bürokratische Regeln verselbstständigt und führen für wenn Bürokratieabbau gesagt wird, der Verdacht ent- Bürgerinnen und Bürger, aber auch für Unternehmer zu steht, dass Kündigungsschutzabbau gemeint ist. Belastungen. (Beifall bei der SPD) Ich möchte ein Zitat von Ralf Dahrendorf anführen, Deswegen sage ich Ihnen an dieser Stelle: Wenn Sie der gesagt hat: wirklich Bürokratieabbau wollen, dann ist es ein Fehler, dies mit materiellen Dingen, über die man diskutieren Wir brauchen Bürokratien, um unsere Probleme zu kann, zu verknüpfen. lösen. Aber wenn wir sie erst haben, hindern sie uns, das zu tun, wofür wir sie brauchen. (Martin Zeil [FDP]: Das kam in meinem Bei- trag nicht vor, Herr Kollege!) Wenn es so ist, wie der Kollege Röttgen gesagt hat, Die zweite Ursache, die ich für diese Problematik (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: So ist es!) sehe, ist auch schon angesprochen worden. Ich meine dass die Belastungen der Bürokratie so groß sind, und das nicht bösartig, aber es ist natürlich wahr, dass sich auch die Erkenntnis von Dahrendorf und anderen die ist, der Beamtenapparat und die Behörden verselbstständi- dass diese Belastungen riesig sind, stellt sich natürlich gen. Ich glaube, dass ihrem Verhalten im Regelfall hehre die Frage: Warum haben wir es alle nicht geschafft Motive zugrunde liegen. Natürlich sitzen der Abtei- – Herr Röttgen hat Recht damit –, diese Dinge zu re- lungsleiter X und der Referatsleiter Y seit vielen Jahren geln? Sie, Herr Kollege von der FDP, sagen: Es ist alles an einer Thematik. Sie sind zutiefst überzeugt davon, ganz einfach. Wenn alles ganz einfach ist, stellt sich die dass der Zweck, dem sie seit Jahren oder Jahrzehnten Frage, warum die Partei, die in unserer Republik am dienen, nicht mehr in der bisherigen Perfektion erreich- bar ist, wenn man die Vorschrift X oder Y auch nur mo- längsten mit in der Regierung saß, das nicht schon längst difiziert. geregelt hat, was dort zu regeln ist. (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Das ist so!) (Beifall bei der SPD – Martin Zeil [FDP]: Das müssen Sie Ihren Koalitionspartner fragen!) Das muss man respektieren. 2918 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006

Dr. Rainer Wend (A) Ich wiederhole es: Es ist noch nicht einmal Bösartig- Deutschland übertragen, würden Kosten von etwa (C) keit, als wollten sie dabei nur für ihre Pfründe sorgen. 80 Milliarden Euro entstehen. Wenn wir diese wie in den Darum geht es nicht. Es geht darum, dass sie in ihrer jah- Niederlanden um 25 Prozent reduzieren würden, ergäbe relangen Arbeit und Tätigkeit gefangen sind und deswe- das nach Adam Riese 20 Milliarden Euro, um die die gen um Normen kämpfen und sie nicht hinterfragen, die Wirtschaft in unserer Republik entlastet würde. in Wirklichkeit veränderungswürdig sind. Das ist der zweite Grund, warum wir uns beim Thema Bürokratie- Viele sagen – sie haben Recht –: Wir sind aber nicht abbau so schwer tun. die Niederlande; denn wir sind ein föderaler Staat. Viele dieser Dokumentationsverpflichtungen gehen nicht vom Jetzt möchte ich Ihnen gerne sagen, warum ich Bund, sondern von den Bundesländern aus; das ist wahr. glaube, dass wir diese beiden Dinge mit unserem Ge- Aber das ist kein Grund zur Resignation, sondern dies ist setzentwurf, der heute hier vorliegt, umschiffen und in eher ein Grund, die Länder zu motivieren. Wir müssen den Griff bekommen: Bei der Einrichtung des Normen- ihnen sagen: Steigt in den Wettbewerb ein! Zeigt, wer kontrollrates und bei diesem Gesetz geht es eben nicht beim Bürokratieabbau, beim Messen von Dokumenta- darum, den gesetzgeberischen Zweck im Kündigungs- tions- und Berichtspflichten und der anschließenden Re- recht oder wo auch immer zu hinterfragen, sondern es duzierung dieser Pflichten am besten ist. geht ausschließlich – von mir aus können Sie in Klam- Ein Wettbewerb zwischen den Ländern sowie dem mern „nur“ dahinter schreiben – darum, Dokumenta- Bund und den Ländern, der in diese Sache Bewegung tions- und Berichtspflichten zu messen. bringt, ist richtig und gut. Deswegen stellt der föderale Ich möchte das an einem praktischen Beispiel der Staat zwar auf den ersten Blick ein Problem dar, aber auf Bauindustrie verdeutlichen, damit wir uns einmal vor den zweiten Blick könnte er eine Chance dafür sein, eine Augen führen, was das eigentlich heißt. Es gibt eine Vor- Dynamik zu entfalten. Denn kein Bundesland will – das schrift, wonach die Unternehmen der Bauwirtschaft ihre hoffe ich jedenfalls – bei diesem Wettbewerb das Hochbauleistungen monatlich in Form einer Statistik do- Schlusslicht sein und beim Bürokratieabbau am schlech- kumentieren und staatlichen Stellen übermitteln müssen. testen abschneiden. Auch da ist Wettbewerb gut. Unterstellen wir einmal, dass in einem Unternehmen ein (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Mitarbeiter vier Stunden im Monat damit beschäftigt ist, der CDU/CSU) der über den Daumen gepeilt 30 Euro für jede dieser Stunden verdient. Wenn wir das einmal ausrechnen Von Herrn Röttgen ist – das finde ich völlig richtig – – 30 Euro pro Stunde mal vier Stunden mal zwölf, weil die Frage aufgeworfen worden: Wer macht eigentlich es ja zwölf Monate sind –, dann kommen wir zu dem Er- mit? Herr Kollege Zeil, Sie haben mich ein bisschen ent- (B) gebnis, dass dieses Unternehmen aufgrund dieser Statis- täuscht. Sie haben uns vorgeworfen, auf diesem Gebiet (D) tik eine Kostenbelastung von 1 440 Euro im Jahr hat. nicht genug getan zu haben. – Erstens. Die Opposition Das hört sich wie Peanuts an. muss so etwas tun, sonst wäre sie keine Opposition. Rechnen wir jetzt aber einmal weiter: In der Bauwirt- (Martin Zeil [FDP]: Außerdem stimmt es!) schaft gibt es gut 300 000 Unternehmen. Wenn wir diese 1 440 Euro mit 300 000 multiplizieren, dann kommen Zweitens. Sie könnten in Teilen sogar Recht haben; dazu wir auf eine Größenordnung von 432 Millionen Euro, sage ich gleich noch etwas. Wir befinden uns in einem die die gesamte Bauwirtschaft nur diese eine Pflicht zur Gesetzgebungsverfahren, in dem wir vieles noch bes- Erstellung einer Statistik im Jahr kostet. Damit sind wir ser machen können. Aber dann habe ich die Bitte, dass nicht mehr bei Peanuts. Sie nicht nur erklären, die Regelungen gingen offen- sichtlich in die richtige Richtung, und uns ansonsten Warum ist es unter Aufrechterhaltung des gesetzgebe- Versagen vorwerfen. Vielmehr müssen Sie sich Ihrer- rischen Zwecks denn nicht möglich, zu sagen, dass diese seits Mühe geben, konkrete Vorschläge zu unterbreiten, Verpflichtung nicht zwölfmal im Jahr, sondern beispiels- (Martin Zeil [FDP]: Das haben wir doch ge- weise nur noch viermal im Jahr, also alle drei Monate, macht!) besteht? Ich habe ausgerechnet, dass das eine erhebliche Ersparnis von 288 Millionen Euro im Jahr bedeuten die dann aber nicht wie beim Antidiskriminierungsge- würde. An dieser Stelle erkennen wir: Nur durch eine setz irgendwo stehen bleiben. Beim Thema Bürokratie- Reduzierung von Dokumentations- und Berichtspflich- abbau müssen diese Vorschläge konkret werden und sie ten, ohne materiell in Recht, Gesetze und Ansprüche ein- dürfen keine materiellen Ansprüche in unserer Gesell- greifen zu müssen, entlasten wir die Wirtschaft in unse- schaft betreffen. rer Republik erheblich. Das ist eine gute Sache. Wir haben ein weiteres Gesetz zum Thema „Entlas- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten tung des Mittelstandes“ eingebracht. Mit diesem Arti- der CDU/CSU) kelgesetz werden wir 16 Gesetze und Verordnungen än- dern: das Bundesdatenschutzgesetz, das Gesetz über die Ich möchte die gesamtvolkswirtschaftlichen Zahlen Lohnstatistik, die Abgabenordnung, das Umsatzsteuer- aus den Niederlanden nennen. Dort wurde errechnet, gesetz, die Gewerbeordnung und das Chemikalienge- dass die Dokumentationspflichten die Wirtschaft mit setz. etwa 19 Milliarden Euro belasten. Davon sollen 25 Pro- zent, fast 5 Milliarden Euro, eingespart werden. Wenn Viele meinen, das seien nur Kleinigkeiten. – Das ist wir diese Zahlen auf das Bruttoinlandsprodukt in wahr. Aber diese Kleinigkeiten summieren sich zu ei- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006 2919

Dr. Rainer Wend (A) nem großen Vorschlag, der unter dem Strich Substanz In Ihrem Plan zum Bürokratieabbau gibt es Punkte, (C) hat. Ich sage aber gleich dazu: Das muss in diesem Ge- die wir im Großen und Ganzen mittragen können. setzgebungsverfahren noch nicht das Ende der Fahnen- stange sein. (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Hört! Hört!) (Martin Zeil [FDP]: Doch!) Das betrifft beispielsweise die Änderungen beim Chemi- kaliengesetz, beim Fahrlehrergesetz oder bei Teilen des Vielleicht fallen uns weitere Dinge ein, die wir einarbei- Umsatzsteuergesetzes. Es betrifft aber nicht die Ände- ten, sodass wir am Ende sagen können: Dieses Gesetz ist rungen beim Datenschutz. Hierüber hätten Sie sich mehr im Laufe des Verfahrens noch besser geworden, als es Gedanken machen können. Kleine Betriebe zu entlasten, zum Zeitpunkt der Einbringung gewesen ist. indem der Datenschutz ausgehöhlt wird, ist keine ver- antwortungsvolle Politik. Eine solche Politik bedenkt Eine abschließende Bitte. Nicht nur wir müssen sa- auch die gesellschaftlichen Folgen von Demokratie-, gen: Wir müssen versuchen, diese Regelungen einmütig von Bürokratieabbau. Dafür stehen wir als Linksfrak- zu beschließen. Vielmehr ist dies auch ein Appell an die tion. Ministerien und die Beamten. Wir brauchen sie. Die Bü- rokratiemessung und der Abbau der Bürokratie sind (Dr. Carl-Christian Dressel [SPD]: „Demokratie- ohne die Bürokratie selbst schlichtweg nicht möglich. abbau“ war das richtige Wort!) Sie darf den Normenkontrollrat nicht als eine Instanz auffassen, die ihr etwas Böses will. Der Rat ist vielmehr – Man kann sich versprechen. Ich denke, Sie haben dafür eine Instanz, die ihre Aktivitäten begleitet, Anregungen Verständnis. gibt und gegenüber dem Parlament deutlich macht, wie Das eigentlich Problematische an den Vorschlägen der Prozess der Entbürokratisierung vorangehen soll. der großen Koalition ist, dass Sie an den wirklichen Pro- Der Normenkontrollrat soll keine Konkurrenz sein und blemen der kleinen und mittleren Unternehmen völlig auch niemanden überwachen. vorbei gehen. Erst letzte Woche sprach ich mit einer Un- ( [CDU/CSU]: Sehr richtig!) ternehmerin aus Sachsen, die eine Initiative gegründet hat. Die Vorschläge der Bundesregierung zum Bürokra- Er soll ihre Arbeit begleiten sowie für die Ministerien tieabbau ernten vor Ort nur Hohn und Gelächter. Der und für das Parlament eine Hilfe von unabhängigen Frust beim Mittelstand ist enorm. Wir fragen uns, ob Sie Fachleuten sein, die sich in Politik, Verwaltung, Wirt- eigentlich mit den Unternehmen vor Ort – vor allen Din- schaft und Wissenschaft auskennen. Wenn wir das auf gen mit den kleineren Unternehmen – reden. Ich zitiere den Weg bringen, dann ist das in der Tat ein neuer An- aus dem Brief der Geschäftsführerin eines Unterneh- satz. Dann ist es der Versuch, aus der Erstarrung der Bü- mens an das Bundesministerium für Arbeit und Soziales: (B) rokratiediskussion der letzten Jahre herauszukommen. (D) Lassen Sie uns alle gemeinsam diesen Versuch unterneh- Sie sollten mit dem Wort „Bürokratieabbau“ sehr men. Er kann sich für unser Land lohnen. vorsichtig umgehen, da in den letzten Jahren die Bürokratiebelastung für die kleineren Unternehmen Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. geradezu explodiert ist und sich auch nicht durch (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) schöne neue Namen verschleiern lässt. Ich denke, mit diesem Satz hat sie den Nagel auf dem Vizepräsident Wolfgang Thierse: Kopf getroffen. Ich erteile das Wort Kollegin Sabine Zimmermann, Fraktion Die Linke. Sie bat mich, folgenden Punkt anzusprechen: die vor- gezogene Fälligkeit der Sozialversicherungsbeiträge. (Beifall bei der LINKEN) Wir haben das Thema bereits im Ausschuss behandelt. Eine verfehlte Wirtschafts- und Sozialpolitik hat die So- Sabine Zimmermann (DIE LINKE): zialversicherungssysteme in die Krise geführt. Mit einer vorzeitigen Fälligkeit der Sozialabgaben ist dieser Krise Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! nicht zu begegnen. Die bürokratischen Belastungen sind Meine Damen und Herren! Herr Röttgen, Sie werden jedoch – vor allem für die kleineren und mittleren Unter- mir immer sympathischer. nehmen – enorm hoch. Der Steuerberaterverband und (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU so- die betroffenen Unternehmen haben angeboten, die Fäl- wie des Abg. Olaf Scholz [SPD] – Dr. Carl- ligkeit auf den dritten bis fünften Tag des Folgemonats Christian Dressel [SPD]: Herr Röttgen, das zu legen. Die Regierung hat dies ignoriert. Nun hat die würde mir zu denken geben! – Dr. Norbert Unternehmerin an den Petitionsausschuss geschrieben Röttgen [CDU/CSU]: Das schadet mir zwar und von einem Abgeordneten einer Koalitionsfraktion, jetzt ein bisschen, aber ich habe Verständnis nämlich dem Abgeordneten Günter Baumann von der dafür!) CDU/CSU-Fraktion, am 15. Februar 2006 folgende Ant- wort bekommen: Ich habe mit Freude gehört, dass Sie alle Gesetze be- leuchten wollen. Damit meinen Sie sicherlich auch das Ich bin mit Ihnen einer Meinung, dass es sich bei Monster Hartz IV. Das sollten wir tatsächlich als ge- der vorgezogenen Fälligkeit der Sozialversiche- meinsames Ziel sehen; darin bin ich mit Ihnen einer rungsbeiträge um einen hohen bürokratischen Auf- Meinung. wand handelt … 2920 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006

Sabine Zimmermann (A) Soll ich mehr dazu sagen oder spricht diese Aussage für Investoren bevorzugt, die betroffenen Anwohner jedoch (C) sich? Sieht so Ihr Bürokratieabbau aus? benachteiligt werden. Ich fasse zusammen: Ihre Vorschläge zum Bürokratie- Die Linke hat zum Thema Bürokratieabbau eine ein- abbau bringen in der Praxis wenig und laufen in die fal- fache Haltung. Wir sind gegen Gesetze und Vorschriften, sche Richtung. Ihre Flickschusterei an den Sozialversi- die die Menschen belasten. Demzufolge müsste die Bun- cherungssystemen führt gerade für die kleineren desregierung als Erstes – das sprach ich eingangs an – Unternehmen zu neuer Bürokratie. das bürokratische Monster Hartz IV abschaffen. Sie wollen aber zu Hartz IV noch ein Fortentwicklungsge- Das eigentliche Problem des Mittelstands ist die setz beschließen. Den Betroffenen muss dieser Name ei- schwache Binnenwirtschaft. Das bestätigen alle Exper- gentlich Angst machen. Kleinste Auskünfte bis ins De- ten landauf, landab. Sie aber legen mit der angekündig- tail! Diese Bürokratie gehört bekämpft. ten Erhöhung der Mehrwertsteuer ein Antiwachstums- programm auf, das vor allem die sozial Schwachen, die (Beifall bei der LINKEN) kleinen Unternehmen, den Mittelstand und die Selbst- ständigen belasten wird. Denn diese profitieren nicht Die Bundesregierung spricht zwar von Bürokratieab- von der Senkung der Sozialversicherungsbeiträge. bau zugunsten von Wirtschaft und Bürgern. Aber Letz- tere kommen bei Ihnen leider kaum vor. Das Streichen Die Regierung will zur Verringerung der Bürokratie- von noch so vielen Vorschriften wird nichts an der Auf- kosten einen Normenkontrollrat einrichten. Wie der tragslage der kleinen Handwerker und Dienstleister Kollege Röttgen von der Union sagt – das Zitat ist sehr ändern, wohl aber zu einem weiteren Verfall sozialer und interessant; Herr Röttgen, wir beide werden vielleicht ökologischer Standards führen. Wir hingegen setzen hier doch noch Freunde –, auf ein öffentliches Investitionsprogramm, das vor allem (Dr. Carl-Christian Dressel [SPD]: Das war die Binnennachfrage nachhaltig stärken soll. eine Drohung!) Gesetzliche Auflagen belasten große Unternehmen in soll dieser ein „Wachhund sein, der laut bellt, wenn das der Tat weniger als kleine. Aber der Marktmacht der Bürokratieabbauziel nicht erreicht wird“. Großunternehmen tritt man nicht gegenüber, indem man dereguliert, sondern indem man dafür sorgt, dass (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Absolut Steuern gezahlt werden. Dafür brauchen wir ein Mehr an richtig!) staatlicher Kontrolle; denn Steuerhinterziehung ist zu ei- Die Linke hat erhebliche Zweifel, ob der Hund immer an nem Hobby der Konzerne geworden. Fast 11 Milliarden der richtigen Stelle bellen wird. In den Niederlanden gibt Euro haben die Betriebsprüfer im letzten Jahr bei Groß- (B) es dieses Verfahren bereits. Dort zählten die jährlichen unternehmen eingetrieben. 11 Milliarden Euro! Mit die- (D) Umweltberichte der Unternehmen bislang zu den unnüt- sen Steuereinnahmen könnte der Staat endlich wieder In- zen bürokratischen Belastungen. Wie wird es denn bei vestitionen tätigen. Die öffentlichen Aufträge würden uns sein? Weitere Fragen sind offen. Warum soll der dem Mittelstand mehr helfen als eine gestrichene Vor- Normenkontrollrat seine Stellungnahme nicht öffentlich schrift. abgeben dürfen? Warum sollen Verbraucher, Gewerk- Wenn Sie bei der Steuerfahndung so viel Kraft und schafter und Sozialverbände nicht Mitglieder dieses Ra- Energie einsetzten wie bei Hartz IV, dann könnten Sie tes stellen dürfen? Zumindest diese Fragen sind zu be- sich wesentlich mehr Geld holen als bei den Langzeit- antworten. arbeitslosen in diesem Land. Die Regierung hat noch weitere Maßnahmen zum Bü- Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. rokratieabbau angekündigt. Die Linke ist aber misstrau- isch, wenn die Bundesregierung von Bürokratieabbau (Beifall bei der LINKEN) redet. Herr Bundesminister Glos hat in seiner ersten Amtshandlung unser Misstrauen bestätigt. Gegen seinen Vizepräsident Wolfgang Thierse: Plan, das Gaststättengesetz abzuschaffen, haben Ge- Ich erteile das Wort Kollegen Matthias Berninger, meinden, Gaststättenverbände und Verbraucherschützer Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen. zu Recht protestiert. Ginge es nach dem Minister, hätte jeder ohne Erlaubnis eine Kneipe an jeder Ecke aufma- Matthias Berninger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- chen können. Der Schlamperei wären Tür und Tor geöff- NEN): net worden. Die Überprüfung der Einhaltung der Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin Vorschriften betreffend den Brandschutz und die Flucht- dem Vorredner Rainer Wend dankbar, dass er beim wege sowie des Lebensmittelrechts und der Hygienevor- Thema Bürokratieabbau darauf hingewiesen hat, dass es schriften wäre unter den Tisch gefallen. Der Plan ist zum in diesem Land sehr viele Regelungen gibt, die aus einer Glück in der Schublade verschwunden. Ich hoffe, dass er Verwaltung ein effizientes Instrument machen, das dafür dort bleibt. sorgt, dass die Bürgerinnen und Bürger in etwa wissen, Ein anderes Beispiel: Die große Koalition will dafür woran sie sind, und dass die Alternative häufig Willkür sorgen, dass Bauvorhaben schneller umgesetzt werden. ist. Dazu hat Max Weber eine Menge geschrieben, wie- Der Politik muss es aber um die Menschen in diesem wohl er den Übergang von einer eher monarchisch ge- Land gehen. Der Bund für Umwelt und Naturschutz kri- prägten Verwaltung, über die sich schon Bismarck auf- tisiert, dass bei den Vorhaben von Union und SPD die geregt hat, in die Weimarer Republik beobachtet hat. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006 2921

Matthias Berninger (A) Selbst wenn wir uns alle darauf verständigen, dass es gemacht. Insofern kann man hier anhand konkreter Zah- (C) nicht darum geht, die Bürokratie abzuschaffen, sondern len Risiken und Nebenwirkungen eines Gesetzes ab- dass es darum geht, sie effizienter zu machen und zu schätzen. Ich denke, dass der Normenkontrollrat die schauen, wo Unsinn geschieht, sollte man immer im Freiheit haben sollte, auch andere bürokratische Belas- Auge haben, dass sie notwendig ist, sie für Bürgerinnen tungen, wenn er sie für relevant hält, in den Blick zu und Bürger, aber auch für Unternehmen wichtig ist, weil nehmen. Ich will ein Beispiel nennen. Es ist immer noch sie ihnen Sicherheit gibt, dass es ein Korsett von Rege- nicht möglich, Sozialversicherungsbeiträge online zu lungen in diesem Lande gibt, und dass sie ein Teil des zahlen. Das Verfahren ist eine monatliche Routine für demokratischen Rechtsstaates ist. Das geht manchmal in große und kleine Unternehmen und es ist mit enormem der Debatte unter. Ich war ganz froh, dass Sie das ange- Aufwand verbunden. Warum soll der Normenkontrollrat sprochen haben. nicht bei einer Änderung im Sozialbereich darauf hin- weisen, dass eine kleine Modifikation am Gesetz den Die Koalitionsfraktionen haben einen Gesetzentwurf Unternehmen in Deutschland erhebliche Kosten sparen zur Einführung eines Normenkontrollrates ausgearbei- könnte? Der Normenkontrollrat soll ja gleich einem Fie- tet. Darüber ist zum Teil belustigt nach dem Motto ge- berthermometer in der Lage sein, solche Kosten zu mes- schrieben worden: Neue Bürokratie zum Bürokratieab- sen. bau. Der Normenkontrollrat knüpft an Erfahrungen an, die in Großbritannien und Holland gemacht wurden, und (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) an die Feststellung, dass die Entscheidung, in eine solche Richtung zu gehen, tatsächlich Belastungen abgebaut Deswegen lautet mein Vorschlag: Lassen Sie uns die- hat. Deswegen halte ich es für falsch, zu glauben, das sen Zaun in dem Gesetz abbauen! Lassen Sie uns dem werde es nicht bringen. Normenkontrollrat das Vertrauen entgegenbringen, dass die Experten, die in ihn berufen werden, schon wissen, Der Kollege Röttgen hat darüber hinaus den Opposi- welche Gesetze ihnen besonders wichtig sind. Lassen tionsfraktionen das Angebot gemacht, bei dem Normen- Sie uns in der Begründung darauf hinweisen, dass in an- kontrollrat mitzuarbeiten, das heißt, diesen Gesetzent- deren Ländern mit den Informationspflichten ein beson- wurf der großen Koalition mitzutragen. Ich kann Ihnen derer Erfolg erzielt wurde! Wenn wir uns bei diesen für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen sagen, beiden Punkten entgegenkommen können, dann hat je- dass unsere Mitarbeit davon abhängt, ob er an zwei Stel- denfalls meine Fraktion keine Bedenken, einem solchen len, die mir sehr wichtig erscheinen, substanziell verän- Vorhaben zuzustimmen. dert wird. Zunächst zur ersten Stelle. Ich halte nichts da- von, dass sich der Normenkontrollrat auf Vorschläge Das Ziel, Bürokratie abzubauen, ist ohnehin das Ziel der meisten Regierungen. Ich habe mir das in den Län- (B) aus der Regierung beschränkt. Wir sind das Parlament. (D) Die Bürgerinnen und Bürger, die uns hier zuschauen, be- dern angesehen, egal wer dort regiert hat, ob das eine Al- suchen den Gesetzgeber. Wir sind nicht der Gesetzentge- leinregierung wie in Bayern war oder – man möchte es gennehmer. Ich denke, dass es richtig wäre, den Zustän- kaum glauben – eine Regierung wie Rot-Grün in Nord- digkeitsbereich des Normenkontrollrats auf Gesetze aus rhein-Westfalen. Landauf, landab haben Landesregie- dem Parlament zu erweitern. rungen das Ziel, Bürokratie abzubauen. Das ist in den letzten Jahren Gegenstand jeder Regierungserklärung (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Sehr gut!) von neu gewählten Kanzlern und der Kanzlerin gewe- sen. Es gibt also einen großen Konsens im Parlament. Es Das sage ich auch deshalb, weil der Normenkontrollrat ist schon darauf hingewiesen worden, dass wir es beim die Freiheit hat, zu entscheiden, ob er ein Gesetz für so Bürokratieabbau mit der Ministerialbürokratie zu tun relevant hält, dass er sich mit ihm befasst. Ich denke, haben, einem relativ mächtigen Partner, der häufig zu je- dass eine solche Regelung das Selbstbewusstsein des der Lösung ein Problem findet Parlaments zum Ausdruck bringen würde. (Dr. Michael Bürsch [SPD]: Der Satz ist gut!) (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Das werden wir konstruktiv aufgreifen!) und uns genau sagt, dass es nur eine ganz bestimmte Lö- Das ist für uns eine wichtige Voraussetzung, um diesem sung für ein Problem gibt, die häufig mit Bürokratie ver- Vorhaben zuzustimmen. bunden ist, also Sachzwänge erzeugt. Ich denke, dass das richtig ist. Die meisten Kolleginnen und Kollegen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie haben Erfahrungen sammeln können. Ich selbst habe Er- bei Abgeordneten der CDU/CSU) fahrungen auf beiden Seiten des „Bauzauns“ machen können; schließlich war ich früher Staatssekretär. Der zweite Punkt bezieht sich auf die Zuständigkeit, das heißt auf die engere Definition, was Bürokratie ist. Zur Debatte gehört schon, festzustellen, dass wir Par- Da wird die große Weide der Bürokratie durch einen ho- lamentarier auch nicht ganz ohne sind. Nach einem hen Zaun umgrenzt. Der Normenkontrollrat soll sich Skandal, beispielsweise nach einem Brand in einem nämlich nur auf solche Themen beschränken, die mit Flughafengebäude, sind wir Parlamentarier die Ersten, Berichtspflichten zu tun haben. Ich bin ein sehr prag- die sagen: Die Brandschutzvorschriften müssen enorm matischer Mensch. Es ist richtig, dass man anhand von verbessert werden. So ist es nach dem Brand auf dem Berichten genaue Berechnungen anstellen kann. Eine Düsseldorfer Flughafen geschehen. Wenn infolge hoher Rechnung, wie Bürokratiekosten entstehen und wie sie Schneebelastungen Turnhallendächer einstürzen, dann letzten Endes darstellbar sind, hat der Kollege Wend auf- wird zuerst darüber geredet, ob man nicht die Vorschrif- 2922 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006

Matthias Berninger (A) ten verändern muss. Nach einem Lebensmittelskandal Erstens. Heute steht ein zweites Gesetz auf der Tages- (C) – zuletzt hatten wir einen Gammelfleischskandal; es ordnung. Durch eine ganze Reihe von Regelungen sollen wurde so manche Sau durchs Dorf getrieben – schienen kleine und mittlere Unternehmen von Bürokratie entlas- geradezu bergeweise neue Vorschriften die einzige Lö- tet werden. Was kleine Unternehmen angeht, soll die sung der Probleme zu sein. Bagatellgrenze von 350 000 Euro Umsatz im Jahr auf 500 000 Euro angehoben werden, damit sie es mit einer Man wird mit diesem Gesetz nur dann Erfolge erzie- geringeren Regelungsdichte zu tun haben. Man setzt et- len, wenn das Parlament an bestimmten Stellen den Mut was fort, was Rot-Grün in der letzten Legislaturperiode hat, auf Regelungsdichte zu verzichten. begonnen hat. Das freut mich sehr. Ich habe mir seitens (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- einer Finanzverwaltung Informationen darüber besorgt, SES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und was es für diese Betriebe bedeutet, wenn wir ihnen auf der FDP) diese Art und Weise mehr Freiheiten einräumen wollen: Entsprechende Vordrucke werden entwickelt, aus denen Dazu bedarf es in der Tat der Mitwirkung von Opposi- die neue Definition der Einnahme-Überschuss-Regelung tion und Regierung. Die Regierung allein kann das nicht für die Betriebe hervorgeht. In der Praxis wird es da- schaffen. durch komplizierter als zuvor. Die Kollegin Zimmermann hat den Datenschutz, das Umweltrecht und verschiedene andere Standards ge- Dazu sage ich Ihnen: So kann es nicht funktionieren. nannt, die ihr wichtig sind. In diesem Sinne hat sich auch Wir müssen dafür Sorge tragen, dass die von uns vorge- der Kollege Wend geäußert. Auch ich stehe auf diesem nommenen Änderungen wirkliche Entlastungen für die Standpunkt. Für mich ist das heutige Datenschutzrecht Betriebe sind. Es geht nicht an, dass etwa die Steuerver- allerdings nicht sakrosankt. Das Datenschutzrecht dient waltung eines Landes dem mit irgendwelchen Vordru- dazu, die Bürgerinnen und Bürger und auch Unterneh- cken entgegenwirkt, sodass am Ende womöglich das Ge- men elementar zu schützen. Das enthebt uns aber nicht genteil von dem herauskommt, was das Parlament davon, dafür zu sorgen, dass dieses Recht effizient ist. Es erreichen wollte. Es reicht also nicht, Gesetze abzuschaf- nutzt dem Datenschutz überhaupt nichts, das Daten- fen; vielmehr müssen wir berücksichtigen, wie sich et- schutzrecht von Veränderungen auszuklammern, indem was in der Realität auswirkt. Bei dem von mir genannten wir sagen: Das ist ein Heiligtum; wir reden nicht da- Beispiel ist es nicht so gut gelaufen. rüber, ob auf diesem Gebiet etwas besser werden kann. Zweitens – Stichwort „Gaststättenrecht“ –: das so Der Datenschutz ist unser gemeinsames Anliegen; da genannte Bulettenabitur. Frau Zimmermann, ich war für sind wir uns einig. Wir wollen durch Bürokratieabbau Verbraucherschutz zuständig. Ich kann Ihnen eines sa- keine Bürgerrechte beseitigen. Daher sollten wir selbst- (B) gen: Wenn man eine Gaststätte eröffnen will, dann hat (D) verständlich auch Themen wie Datenschutz, Umwelt- man es mit Regelungen zu tun, die nicht für Verbrau- recht bearbeiten. cherschutz sorgen, sondern dafür, dass man verzweifelt. Ich glaube im Übrigen nicht, dass sich die Qualität von Umweltschutz an der Anzahl der Seiten von Vor- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schriften messen lässt. Ich bin daher sehr froh, dass es sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der ein Umweltgesetzbuch geben soll, in dem die Umwelt- SPD und der FDP) schutzvorschriften neu zusammengefasst werden. Ich bin für einen modernen Verbraucherschutz und eine An dieser Stelle möchte ich eine kleine Nebenbemer- gute Kontrolle. Regelungen wie die bisherigen müssen kung machen. Wenn wir mit der in den nächsten Wochen beseitigt werden. Der Bundeswirtschaftsminister hat zu- anstehenden Föderalismusreform dafür Sorge tragen, nächst die Abschaffung dieser Regelungen angekündigt. dass jedes einzelne Bundesland dieses Umweltgesetz- Dann hat er gesagt, er trete doch nicht für deren Ab- buch mit Einzelvorschriften umgehen kann, dann laufen schaffung ein, weil das Ganze im Zusammenhang mit Investoren Amok, weil sie glauben, dass sie bestimmte der Föderalismusreform in die Zuständigkeit der Länder Investitionen nach Prüfung von deren Rechtmäßigkeit in falle. Wir sollten ein Signal setzen, finde ich, und das einem Bundesland auch in einem anderen tätigen kön- dennoch abschaffen. Wenn einzelne Länder nach der Fö- nen, und anschließend feststellen müssen, dass es erheb- deralismusreform der Meinung sind, dass sie das Bulet- liche rechtliche Unterschiede gibt. tenabitur doch brauchen, dann sollen sie es meinetwegen wieder einführen. Die Abschaffung wäre ein richtiger Ich halte es für wichtig, an dieser Stelle nicht den Schritt. Das ist eine von den Maßnahmen, Herr Kollege Fehler zu machen, Föderalismusreform mit der büro- Wend, über die wir vorhin gesprochen haben, die wieder kratischen Verkomplizierung unseres Rechtssystems zu in diese Vorlage hineinkommen sollten. verwechseln. Mir ist zum Beispiel auch nicht ersichtlich, warum wir 16 verschiedene Bauordnungen haben, Ich habe die Zeit ein bisschen überzogen, danke Ihnen nachdem man sich zunächst einmal auf eine Bundesbau- für die Aufmerksamkeit und hoffe, dass wir gemeinsam ordnung verständigt hat. So etwas ist keine Stärkung der vorankommen. Länder, sondern greift das Nervenkostüm vieler Betei- ligter an. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) der SPD – Dr. Rainer Wend [SPD]: Du hast ja Zwei Beispiele zum Abschluss. ganz gut gesprochen!) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006 2923

(A) Vizepräsident Wolfgang Thierse: und dass dieser Epoche machende Schritt bei der Be- (C) Ich erteile das Wort Kollegen Hartmut Koschyk, kämpfung überflüssiger Bürokratie in unserem Land CDU/CSU-Fraktion. vom Parlament getan wird. Wir beraten und verabschieden mit diesem Entwurf Hartmut Koschyk (CDU/CSU): eines Gesetzes zur Einsetzung eines Normenkontrollrats auch den Entwurf eines Mittelstandsentlastungsgeset- Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! zes, das den Bürokratiekostendschungel mit ersten kon- Herr Kollege Berninger, Sie haben durch Ihren konstruk- kreten Maßnahmen lichtet. Wir sollten uns als Deutsche tiven Redebeitrag deutlich gemacht, dass sich die große immer anschauen – davon ist hier mehrfach gesprochen Koalition bei ihrem Ziel, mit messbarem Bürokratieab- worden –, was unsere Nachbarn in dieser Frage besser bau und wirksamer Mittelstandsentlastung in Deutsch- machen. Wir haben uns das genau angeschaut. Ich bin land ernst zu machen, in diesem Hause auf eine breite unserem Kollegen Röttgen sehr dankbar, der über lange Mehrheit weit über die Koalitionsfraktionen hinaus ab- Zeit mit Fachleuten gesprochen hat, die in die Nieder- stützen kann. lande gereist sind und sich das dort genau angeschaut ha- Wir alle sind uns einig, dass vor allem Wirtschaft und ben. Wir haben uns das auch in Dänemark und in Groß- Mittelstand seit Jahrzehnten unter der Last unsinniger britannien angeschaut. Was sich bei unseren Nachbarn beim Abbau überflüssiger Bürokratie bewährt hat, das Vorschriften und Regelungen leiden. Wir alle, auch die wollen wir jetzt auch in Deutschland wagen. Kollegen der Freien Demokraten, sollten die Kraft zur Selbstkritik haben und einräumen, dass die Bundesregie- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- rungen aller Farbschattierungen, auch Wirtschaftsminis- neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE ter – über lange Zeit sind sie von den Freien Demokraten GRÜNEN) gestellt worden –, ihren Beitrag dazu geleistet haben. Ich habe von der Doppelstrategie gesprochen. Es 80 Prozent der Bürokratiekosten tragen Handwerk kommt der Normenkontrollrat, aber es kommt auch ein und Mittelstand in unserem Land und die entsprechen- Mittelstandsentlastungsgesetz. Ich will einige Beispiele den Mittel fehlen bei den Investitionen und bei der dafür nennen, wo das Mittelstandsentlastungsgesetz Schaffung neuer Arbeitsplätze. Ich bin dankbar dafür, greifen wird. Jährlich fallen in Deutschland 8 Millionen dass das Bundeswirtschaftsministerium durch das Insti- Tonnen Altholz an. Wenn jemand zurzeit eine Lieferung tut für Mittelstandsforschung einmal hat errechnen las- von nur 100 Kilogramm erhält, muss er einen zweiseiti- sen, wie hoch die jährlichen Bürokratiekosten sind. gen amtlichen Vordruck ausfüllen. Das wird der Vergan- Man schätzt diese Kosten auf 45 Milliarden Euro. Wenn genheit angehören. Im produzierenden Gewerbe werden (B) (D) es uns gelingt, davon auch nur ein Viertel abzubauen, wir bei der Statistikerhebung die Grenze, von der an dann entlasten wir die Unternehmen in unserem Land Unternehmen einbezogen werden, von 20 auf 50 Be- um rund 10 Milliarden Euro. Das ist ein Betrag, der jede schäftigte anheben. Damit werden wir 25 000 Kleinbe- Mühe wert ist. Das Beste daran ist: Der Abbau überflüs- triebe sozusagen von der Stichprobe und damit auch von siger Bürokratie kostet den Finanzminister keinen Cent. der Meldepflicht befreien. Für Betriebe mit insgesamt 600 000 Beschäftigten wird in dem Jahr 2007 die (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Lohnstrukturerhebung ganz entfallen. neten der SPD) Wir wissen, das alles reicht noch nicht. Deshalb wer- Wir haben uns für eine Doppelstrategie bei diesen den wir im laufenden Gesetzgebungsverfahren prüfen, Maßnahmen entschieden. Wir richten einen Normen- wo wir noch weitere Entlastungsmomente einbringen kontrollrat ein, der Regierung und Parlament berät und können. So wollen wir, dass Existenzgründer in den bei der Aufgabe unterstützt, den Wildwuchs in Gesetzen ersten drei Jahren von allen Pflichten bezüglich statisti- und Verordnungen dauerhaft zu bändigen. Herr Kollege scher Auskünfte freigestellt werden. Das wollen wir ins Berninger, wir sind sehr offen dafür, dies nicht auf Ge- laufende Gesetzgebungsverfahren einbringen. Ein ande- setzesinitiativen der Bundesregierung zu beschränken, rer Punkt betrifft die vielen technischen Möglichkeiten – Herr Kollege Berninger hat davon gesprochen –, die sondern dies im parlamentarischen Beratungsverfahren uns die moderne Informationstechnik auch bei der Bü- auf Gesetzentwürfe aus dem Parlament auszudehnen. rokratieentlastung bei Handwerk und Mittelstand bietet. Auch darüber, ob wir die Kompetenzen des Normenkon- trollrats noch um das eine oder andere erweitern können, Wir werden auch in das laufende Verfahren zum ers- wollen wir im Verfahren offen sprechen. ten Mittelstandsentlastungsgesetz schnell realisierbare weitere Vorschläge einfügen. Gleichzeitig beginnen wir Ich sage sehr deutlich: Es ist gut und richtig, dass die mit den Vorbereitungen für ein zweites Mittelstandsent- Einrichtung eines Normenkontrollrats kein bürokrati- lastungsgesetz, das bereits im Herbst konkrete Gestalt scher Akt ist, den eine Bundesregierung auf dem Verord- annehmen soll. nungswege erledigt, sondern dass das eine Initiative aus dem Parlament heraus ist Unsere Fraktion hat über 60 konkret umsetzbare Punkte genannt, die wir uns für diese Legislaturperiode (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- vorgenommen haben. Ein Drittel wird umgesetzt; bei ei- neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE nem weiteren Drittel sind wir auf einem guten Weg. Wir GRÜNEN) lassen nicht locker, wenn es darum geht, in unserem 2924 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006

Hartmut Koschyk (A) Land etwas für mehr Wachstum und Beschäftigung zu (Dr. Carl-Christian Dressel [SPD]: Leider viel (C) tun. zu häufig!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Ich sage Ihnen klipp und klar: Wir haben schon Anfang neten der SPD) der 90er-Jahre deutlich gemacht, dass wir in Zeiten, als wir Verantwortung getragen haben, Dingen zugestimmt Denn wenn ein Unternehmer sich nicht mehr mit der haben, denen wir heute nicht mehr zustimmen würden, Meldung für die vierteljährliche Produktionserhebung die man damals als richtig empfunden hat und die zu im Fertigteilbau beschäftigen muss, dann hat er mehr mehr Bürokratie geführt haben. Wir stehen zu der Ver- Zeit für sein Unternehmen. antwortung; aber weil wir das erkannt haben, fordern wir (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) schon seit Beginn der 90er-Jahre konsequent immer wie- der die Reduzierung von überflüssigen Vorschriften in Somit sichert Entbürokratisierung Arbeitsplätze und Deutschland. schafft neue. Mehr Arbeitsplätze garantieren durch hö- here Steuereinnahmen auch die Entlastung, die wir brau- (Dr. Carl-Christian Dressel [SPD]: Bis 1998 chen, um wieder zukunftsnotwendige Investitionen für waren Sie an der Regierung!) unser Land tätigen zu können. Da sind wir bei den anderen Fraktionen bisher gegen Deshalb freuen wir uns, dass wir schon bei dieser De- eine Wand gelaufen. Ich freue mich, dass es jetzt eine batte gespürt haben, dass auch die Freien Demokraten gemeinsame Erkenntnis des ganzen Hauses gibt. und Bündnis 90/Die Grünen sich an diesem Gesetzge- (Beifall bei der FDP) bungsverfahren und diesen Beratungen in Bezug auf echten Bürokratieabbau in Deutschland und echte Mit- Ich möchte auch deutlich machen, dass die Landesre- telstandsentlastung konstruktiv beteiligen wollen. Wenn gierungen, in denen wir vertreten waren bzw. sind, im- es uns insgesamt gelingt, mit breiter parlamentarischer mer wieder Anstrengungen unternommen haben. Ich Mehrheit endlich Konkretes auf den Weg zu bringen, nenne beispielsweise entsprechende Zahlen für Baden- dann werden die Bürgerinnen und Bürger in unserem Württemberg. Dort wurde im Jahr 2000 eine Initiative Land spüren, dass die Politik aus dem Parlament heraus zum Abbau überflüssiger Bürokratie gestartet. Wir ha- Ernst macht, den Dschungel überflüssiger Bürokratie in ben es geschafft, innerhalb von vier Jahren die Verwal- Deutschland nachhaltig zu lichten. tungsvorschriften in Baden-Württemberg um über 2 000 auf die Hälfte zu reduzieren. Das ist immer noch nicht Herzlichen Dank. genug. Deswegen werden wir die Anstrengungen fort- (B) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) setzen. Anstrengungen erwarten wir aber auch von der (D) Bundesregierung. Vizepräsident Wolfgang Thierse: (Beifall bei der FDP) Das Wort hat nun Kollegin Birgit Homburger, FDP- Von der Bundesregierung gab es nach der Wahl bisher Fraktion. nur zahllose Ankündigungen. Es hieß, Bürokratieabbau (Beifall bei der FDP) werde Chefsache. Auf dem Weltwirtschaftsgipfel in Da- vos wurde dies angekündigt. Man muss allerdings deut- lich sagen, dass wir davon bisher nichts gesehen haben. Birgit Homburger (FDP): Jetzt haben wir die erste Lesung eines entsprechenden Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In Gesetzentwurfs. Was bisher gelaufen ist, ist also wirk- dieser Debatte ist über die Gesetzentwürfe zum Bürokra- lich kein Ruhmesblatt für die Koalition. tieabbau schon einiges gesagt worden. Herr Kollege Röttgen, Sie haben beispielsweise einleitend erklärt, Ich sage sehr deutlich: Wir begrüßen beide Gesetzent- dass es seit 30 Jahren im Prinzip Ziel jeder Regierung würfe. Aber ich sage Ihnen auch sehr deutlich: Sie gehen gewesen sei, Bürokratie abzubauen. Ich muss Ihnen ganz nicht weit genug. Ich bin der Auffassung, dass wir end- ehrlich sagen: Diese Meinung teile ich nicht. In den lich dazu kommen müssen, in Deutschland über die Be- 80er-Jahren, als es Deutschland wirtschaftlich gut ging, fristung von Gesetzen nachzudenken und Verordnun- sind in diesem Land einige Bestimmungen beschlossen gen grundsätzlich mit einem Verfallsdatum zu versehen. worden, die für mehr Bürokratie gesorgt haben und die Es soll nicht derjenige sozusagen die Beweislast haben, den Deutschen Bundestag heute nicht mehr passieren der sie abschaffen will, sondern derjenige, der sie weiter würden. Es ist nicht so, dass das Ziel seit 30 Jahren das- behalten will. Auch das wäre eine strukturelle Maß- selbe ist. nahme. (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Ich habe (Beifall bei der FDP) gesagt, dass das Ziel proklamiert, aber nicht erreicht wurde!) Wir fordern von Ihnen klipp und klar – ich komme darauf noch zu sprechen – eine Eins-zu-eins-Umsetzung Aber es ist in der Tat richtig – da wende ich mich an der europäischen Richtlinien. Diese haben Sie vollmun- Sie, Herr Dr. Wend, denn Sie haben das gesagt –, dass dig angekündigt. Sie tun es allerdings nicht. Ich nenne in die FDP in der Vergangenheit an den Bundesregierungen diesem Zusammenhang beispielsweise das Antidiskrimi- beteiligt war. nierungsgesetz. Vor diesem Hintergrund sind natürlich Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006 2925

Birgit Homburger (A) alle möglichen Bekenntnisse zum Bürokratieabbau nicht Das ist nicht akzeptabel. (C) allzu viel wert. Unser Vorschlag zum Antidiskriminierungsgesetz Ähnliches gilt für das Mittelstandsentlastungsge- – Herr Dr. Wend, Sie haben dies angesprochen – ist ganz setz. Es geht zwar in die richtige Richtung; Herr einfach: Gehen Sie über eine Eins-zu-eins-Umsetzung Röttgen, Sie haben das Gesetz überschwänglich gelobt. der Europäischen Richtlinien nicht hinaus. Ihr Kollege, Herr Fuchs, hat als mittelstandspolitischer (Beifall bei der FDP) Sprecher Ihrer Fraktion aber öffentlich geäußert, dieses Gesetz sei bei weitem nicht ausreichend und müsse an Wenn Sie jedes Mal bei der Umsetzung einer solchen entscheidender Stelle überarbeitet werden. Richtlinie weitere Kriterien draufsatteln, dann wird das nur dazu führen, dass Sie mehr Bürokratie und mehr (Ernst Burgbacher [FDP]: Aha!) Kosten in diesem Land provozieren. Das lassen wir Ih- Wo Herr Fuchs Recht hat, hat er Recht. nen als Opposition nicht durchgehen. (Ernst Burgbacher [FDP]: Recht hat er!) Vizepräsident Wolfgang Thierse: Wir können ihm nur zustimmen. Frau Kollegin Homburger, gestatten Sie eine Zwi- schenfrage des Kollegen Wend? (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Das habe ich doch angekündigt, Frau Kollegin!) Birgit Homburger (FDP): Ich möchte Ihnen sehr deutlich sagen: Wenn durch das Gerne. Mittelstandsentlastungsgesetz für kleine und Kleinst- betriebe ein paar Regelungen verändert werden – bei- Dr. Rainer Wend (SPD): spielsweise durch eine vereinfachte Statistik –, dann ist Frau Kollegin Homburger, könnten Sie mir freundli- das lobenswert. cherweise erklären, was die Frage, ob in Zukunft auch (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Es kommt, Behinderte in den Schutzbereich des Antidiskriminie- Frau Homburger!) rungsgesetzes genommen werden sollen, mit dem Thema Bürokratie zu tun hat? Aber wir erwarten von der Bundesregierung, dass sie endlich an die Hauptkostenblöcke geht. Es wurde schon das Institut für Mittelstandsforschung zitiert, das jährli- Birgit Homburger (FDP): che Kosten in Höhe von 46 Milliarden Euro allein auf- Das will ich Ihnen gerne erklären. Wir haben in Deutschland eine ganze Reihe von Regelungen, die eine (B) grund bürokratischen Aufwands für die Betriebe festge- (D) stellt hat. Diskriminierung verhindern. Wir alle – ich glaube, da sind wir uns in diesem Hause völlig einig – sind gegen Was sind die großen Kostenblöcke? Ein zu kompli- eine Diskriminierung sowohl von Behinderten als auch ziertes Steuerrecht, ein zu kompliziertes Sozialversiche- von alten Menschen wie auch gegen eine Diskriminie- rungsrecht, ein zu kompliziertes Arbeitsrecht, ein zu rung aufgrund der sexuellen Orientierung. Wir haben kompliziertes Umweltrecht und viel zu viel Statistiken. aber klare Regelungen in Deutschland, die das schon Das ist das Ergebnis der Studie, die im Auftrag des Wirt- jetzt verhindern. schaftsministeriums durch das Institut für Mittelstands- forschung durchgeführt wurde. Was aber machen Sie? (Dr. Carl-Christian Dressel [SPD]: Reden Sie Fehlanzeige! Wenn Sie nicht bereit sind, auch an die mal mit den Behindertenverbänden!) großen Kostenblöcke heranzugehen, dann werden Sie in Wenn es jetzt auf europäischer Ebene zusätzliche Richt- der Zukunft keine Entlastung im Bereich der Bürokratie- linien gibt, die in Deutschland umgesetzt werden müs- kosten erreichen. sen, dann werden sie – das sagen wir als Rechtsstaats- partei FDP – auch umgesetzt. (Beifall bei der FDP) (Zuruf von der SPD: Hört! Hört!) Das zeigt sich beispielsweise auch an dem Vorziehen der Fälligkeit für die Abgabe der Sozialversicherungs- Aber wir sagen Ihnen sehr deutlich: Dass Sie jetzt anfan- beiträge; die entsprechende Regelung gilt seit Januar. gen, im Zivilrecht Kriterien einzuführen, wonach es Das bedeutet Zusatzbelastungen in Höhe von 3 Milliar- sanktioniert werden kann, wenn zwei Menschen sich den Euro. Herr Röttgen, wenn Sie sagen, zusätzliche dazu entscheiden, keinen Vertrag miteinander zu schlie- Kosten müssten zukünftig gerechtfertigt werden, dann ßen, ist schlicht und ergreifend falsch. sind Sie schlicht und ergreifend unglaubwürdig. Sie hät- (Dr. Rainer Wend [SPD]: Aber was hat das mit ten im Januar die Chance gehabt, dieses unsinnige Ge- Bürokratie zu tun?) setz rückgängig zu machen. Sie haben dies nicht gewollt und haben sehenden Auges 3 Milliarden Euro zusätzli- – Moment, ich bin gerade dabei, das zu erklären. – Das che Kosten für die Betriebe und für die Krankenkassen, Wesen des Zivilrechts besteht darin, Herr Kollege die jetzt zweimal eine Abrechnung machen müssen, in Dr. Wend, dass zwei Menschen selber entscheiden kön- Kauf genommen. Trotzdem erklären Sie heute, dass Sie nen, ob sie einen Vertrag schließen oder nicht. zukünftig die Bürokratiekosten gerne reduzieren wollen. (Dr. Carl-Christian Dressel [SPD]: Oder dis- (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Genau!) kriminieren!) 2926 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006

Birgit Homburger (A) Wenn dem einen die Nase des anderen nicht gefällt, dann Den Ruf nach Bürokratieabbau mit der Forderung nach (C) braucht er keinen Vertrag abzuschließen, auch wenn Ih- einem schlanken Staat gleichzusetzen, bringt uns auf nen das nicht passt. Das ist das Wesen des Zivilrechts. den Holzweg. Den schlanken Staat bzw. einen Staat zu wollen, der sich möglichst weit zurückzieht und viel- Wenn Sie jetzt hier Kriterien einführen und anfangen, leicht nur noch hoheitliche Aufgaben wahrnimmt, be- dies zu ändern, dann führt das nur zu einem: dass zu- deutet nicht, Bürokratie abzubauen, liebe FDPler. Das ist künftig in diesem Zusammenhang auch im Bereich des ein Abbau von Staatsaufgaben. Das mag zwar das neoli- Zivilrechts Klage eingereicht wird und dadurch zusätzli- berale Verständnis von Bürokratieabbau sein. Aber das che Bürokratie und höhere Kosten entstehen. Das ist ist nicht unser Verständnis und steht auch nicht zur De- kontraproduktiv für Deutschland. Wir brauchen dies batte. nicht, um Diskriminierung zu verhindern. Was Sie jetzt vorhaben, ist eine überflüssige Vorschrift und überflüs- (Beifall bei der SPD) sige Bürokratie. Wenn wir von Bürokratieabbau reden, dann meinen (Beifall des Abg. Ernst Burgbacher [FDP]) wir gerade nicht den schlanken Staat. Wir meinen damit nicht den Rückzug aus den staatlichen Aufgaben. Denn Deswegen lehnen wir Ihren Vorschlag ab. Ich kann nur die Auffassung der Sozialdemokraten ist: Wir brauchen darauf verweisen, dass Frau Dr. Merkel, die heute Bun- einen starken Staat. Wir brauchen einen Sozialstaat, der deskanzlerin ist, das noch vor wenigen Monaten, vor der seine Fürsorgepflichten gegenüber seinen Bürgerinnen Bundestagswahl, genauso gesehen hat wie wir. und Bürgern wahrnimmt. Der Ruf nach einem schlanken (Beifall bei der FDP) Staat ist sehr populär. Denn es wird vielfach unterstellt, dass nur der schlanke Staat zu einer starken Wirtschaft führen kann, dass ein starker Staat und eine starke Wirt- Vizepräsident Wolfgang Thierse: schaft einander ausschließen. Diese Rechnung geht nicht Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Ende kommen. auf. Wenn Sie eines Beweises dafür bedürfen, sollten Sie nach England schauen und sehen, was Maggie Thatcher Birgit Homburger (FDP): dort angestellt hat. Das ist die Widerlegung des Staats- Unter Schwarz-Rot ist Bürokratie wie eine Hydra. modells „schlanker Staat“. Schon für jede Ankündigung der Abschaffung einer Vor- schrift kommen zwei neue hinzu. Deswegen werden wir Die Diskussion um Bürokratieabbau setzt dort an, wo als FDP-Bundestagsfraktion alles daransetzen, Sie auch es darum geht, wie der Staat seine Aufgaben wahr- zukünftig beim Thema Bürokratieabbau zu treiben, da- nimmt. Genau an dieser Stelle müssen wir natürlich im- mit es wirklich zu Bürokratieabbau kommt und Kosten mer wieder prüfen, wie die öffentliche Hand möglichst (B) (D) reduziert werden. Die Republik ächzt in diesem Zusam- effizient arbeiten kann. Das heißt, wir müssen prüfen, menhang unter Kosten von jährlich 46 Milliarden Euro wie sie Ressourcen schonen und mit möglichst geringer und Sie kommen nicht vorwärts. Das muss ein Ende ha- bürokratischer Belastung der Wirtschaft und der Bürge- ben, und zwar so, dass wir in diesem Lande mehr Frei- rinnen und Bürger arbeiten kann. heit und damit mehr Chancen insbesondere für mehr Ar- Zweite Klarstellung. Wenn wir über Bürokratieabbau beitsplätze haben. reden, dann sollten wir dies bitte schön unter dem Ge- sichtspunkt tun, es handele sich um ein Gesamtkunst- Vielen Dank. werk von Staat, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Ich (Beifall bei der FDP) nenne Ihnen dazu Beispiele: Die Kritik an bürokrati- schen Regelungen und Verfahren sollte nicht unterschla- Vizepräsident Wolfgang Thierse: gen, dass viele Exzesse nicht staatlichen Ursprungs sind, Ich erteile das Wort Kollegen Michael Bürsch, SPD- zum Beispiel die Vorgaben der Berufsgenossenschaften, Fraktion. das im Gesundheitswesen bzw. zwischen Krankenkassen und kassenärztlichen Vereinigungen bestehende Regel- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) werk oder die verschiedenen nationalen und internatio- nalen Normgremien. Die allgegenwärtigen DIN reichen Dr. Michael Bürsch (SPD): von der einheitlichen Kennzeichnung von Lineaturen in Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Alle reden Schulheften über Prüfnormen für den Knieschutz bis von Bürokratieabbau. Der Beitrag der Kollegin zum IT-Management. Das Europäische Komitee für Homburger hat aber gezeigt, dass es sehr unterschiedli- Normung, CEN, hat im März 2006 stolz verkündet, den che Vorstellungen zu diesem Thema gibt. Das gibt mir zehntausendsten europäischen Standard verabschiedet Anlass zu ein paar Klarstellungen. zu haben. Hinzu kommen immer mehr EU-Normen, die kompliziert und unübersichtlich erscheinen. Erste Klarstellung. In diesen Tagen wird heftig über den Staat diskutiert: Brauchen wir einen starken Staat? Die Wirtschaft sollte sich an ihre eigene Nase fassen. Brauchen wir – das ist das FDP-Modell – einen schlan- Es gibt wunderbare Beispiele dafür, wie bürokratisch die ken Staat? Um es gleich sehr deutlich zu sagen: Das ist Wirtschaft – das ist die Domäne der FDP – selber ver- nicht unser Thema, wenn wir über Bürokratieabbau re- fährt und jede Menge interne Regeln aufstellt. In der den. „Zeit“ wurde darüber vor kurzem ein Artikel veröffent- licht. Ein Beispiel: Die Mitarbeiterin eines Chemiekon- (Martin Zeil [FDP]: Leider!) zerns wollte etwas Gutes tun. Sie schlug vor, zehn Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006 2927

Dr. Michael Bürsch (A) veraltete Computer nicht einfach wegzuwerfen, sondern zuüben. Wir brauchen einen Kulturwandel. Wir brau- (C) an eine Schule abzugeben. Was ist passiert? In allen Ab- chen einen Verwalter, der nicht die buchstabengetreue teilungen wurde geprüft, ob das möglich ist. Die Buch- Verwaltung der Vorschriften anstrebt, sondern bereit ist, halterin sagte schließlich, das geht nicht, ich kann das zu gestalten und Verantwortung zu übernehmen. Wenn nicht verbuchen. Im Ergebnis landeten die Computer auf der Beamtenbund und andere Organisationen bei diesem dem Sondermüll. So sieht die Bürokratie aus, die uns die Kulturwandel mitmachen, sind sie herzlich willkommen. Wirtschaft vorlebt. Wenn die Wirtschaft mit dem Finger Also: Wir gehen an die Arbeit. Das Werk wird uns auf die Politik zeigt, zeigen drei Finger auf sie zurück. mindestens noch 25 Jahre lang beschäftigen. Viel Ver- Dritte Klarstellung zu den Möglichkeiten des Gesetz- gnügen! gebers unter dem Gesichtspunkt, dass es nicht um das (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Staatsmodell geht, sondern darum, wie wir ressourcen- schonend vorgehen und Gesetze besser machen können. Es geht um eine kosten- und zeitsparende Gesetzesan- Vizepräsident Wolfgang Thierse: wendung. Ein Beispiel für eine bessere Gesetzgebung ist Ich erteile der Staatsministerin Hildegard Müller das die Vereinfachung und Zusammenführung von Vor- Wort. schriften. Eine große Hilfe wäre beispielsweise die Zu- (Beifall bei der CDU/CSU) sammenführung der Normen, die das Arbeitsrecht regeln – sie sind bisher auf viele Einzelgesetze verstreut –, in Hildegard Müller, Staatsministerin bei der Bundes- einem Gesetz. Ein weiteres Beispiel ist die Vermeidung kanzlerin: von Doppelzuständigkeiten, die wir immer noch zu- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und hauf haben. In Deutschland gibt es – das wissen viele Herren! In Deutschland haben wir – das ist bereits gesagt nicht – zwei Meldewesen, nämlich über das Standesamt worden – ein zu enges Geflecht von Gesetzen und Ver- und über das Einwohnermeldeamt. Muss das denn sein? ordnungen. Viele Vorschriften, Auflagen und Melde- Viele Länder haben überhaupt kein Meldewesen. Die pflichten schränken die Spielräume der Menschen, Un- USA sind vielleicht nicht das beste Beispiel. Ob wir aber ternehmen ein und lähmen ihre Initiativen. Deshalb ist es zwei Meldewesen brauchen, stelle ich infrage. Solche notwendig, zu überlegen, ob wir unsere Kräfte nicht viel Beispiele können sie rauf- und runterdeklinieren. An besser für die Freisetzung innovativer Kräfte nutzen soll- dieser Stelle können wir ansetzen. ten. Zu dem heute vorliegenden Gesetzentwurf sage ich: (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Sehr richtig!) Das Standardkostenmodell ist der richtige Weg, weil Wir beschneiden die Freiheit und damit die Kreativität (B) zum ersten Mal auf der Basis von Zahlen und Fakten mit (D) den vier Grundrechenarten belegt werden kann, wo man der Menschen und Unternehmen in unserem Land. ansetzen kann. Man darf allerdings nicht zu viel erwar- Wir alle haben dazu beigetragen. Es wurden bereits ten. Die Informations- und Berichtspflichten, die hiermit gute Beispiele genannt. Kollege Berninger hat auf das ins Visier genommen werden, machen in der Tat gerade große Sicherheitsbedürfnis hingewiesen. Wann immer einmal 5 bis 10 Prozent des bürokratischen Aufwands irgendetwas passiert, wird sofort gefragt: Warum hat die aus. Es ist aber immerhin ein richtiger Schritt auf dem Politik das nicht geregelt? Warum gibt es Regelungs- Weg, bei den Kosten Transparenz herzustellen und – das lücken? Warum wurde etwas abschließend nicht so gere- ist neu – bei den Beteiligten ein Kostenbewusstsein zu gelt, dass alles hundertprozentig abgedeckt ist? schaffen. Man muss in der Tat bei der Verwaltung anfan- gen. Es hat auch viel versteckten Protektionismus aus der Wirtschaft heraus gegeben. Die Wirtschaft hat ihre Ver- Vierte Klarstellung. Das, worüber wir reden, ist eine antwortung mitzutragen und kann sich daraus nicht zu- Domäne der Bürgerinnen und Bürger. Fassen wir uns rückziehen. Oftmals geht es um den Schutz von Produk- doch einmal an unsere eigene Nase! In Deutschland leis- ten, die Sicherung von Nischen oder vieles andere. ten auch wir, die Bürgerinnen und Bürger, einen erhebli- Natürlich hat auch die Verwaltung selber ein Bestreben, chen Beitrag zum Bürokratieaufwand, weil wir bei allen alles perfekt zu machen, und damit hat sie zu den Proble- Entscheidungen der Verwaltung auf Einzelfallgerechtig- men beigetragen. Das heißt, einfache Schuldzuweisun- keit pochen. Bei finanziellen Ansprüchen ist es sehr be- gen nützen uns nichts. liebt, für den eigenen Fall bis auf zwei Stellen nach dem Die Ursache liegt vielleicht darin, dass in den letzten Komma Gerechtigkeit zu verlangen, sie notfalls vor Ge- 30 Jahren immer wieder über dieses Thema gesprochen richt einzuklagen. Das ist eine Aufforderung an uns alle wurde, aber am Ende nichts passiert ist. und an die Organisationen, die im gesellschaftlichen Sektor tätig sind. (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: So ist es!) Ich weise darauf hin, dass sich der Deutsche Beam- Wir müssen Kräfte freisetzen – nicht vorrangig für neue tenbund dieses Themas dankenswerterweise annimmt. Gesetze, sondern für neue Ideen, die zugleich neue Frei- heiten und damit neuen Wohlstand sichern. Unsere Un- (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Sehr gut!) ternehmen müssen wieder investieren, produzieren und neue Arbeitsplätze schaffen, statt mit neuen Statistiken Er will dafür sorgen, dass in der Verwaltung ein anderes beschäftigt zu werden. Bewusstsein, eine andere Mentalität Einzug hält. Die Verwalter müssen allerdings bereit sein, Ermessen aus- (Beifall bei der CDU/CSU) 2928 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006

Staatsministerin Hildegard Müller (A) Mit den heutigen Initiativen und dem Programm der nachvollziehbar und messbar. Wir werden hier darüber (C) Bundesregierung für Bürokratieabbau und bessere berichten. Rechtsetzung tragen wir diesen Anforderungen an einen modernen Bürokratieabbau Rechnung. Ziel ist es dabei, Wir wollen uns aber nicht nur auf das Standardkos- einen wirkungsvollen und zugleich möglichst schlanken tenmodell beschränken. Auch weitergehende Instru- und kostengünstigen Ansatz zum Abbau von Bürokratie mente und Verfahren sollen geprüft und durchgeführt zu wählen. Hierbei sollten wir – das ist gesagt worden – werden. Wir müssen noch neue Techniken entwickeln, durchaus von guten Beispielen aus dem Ausland lernen. um eine umfassende Bewertung aller Lasten durchfüh- Wir müssen mehr von anderen Ländern – im Übrigen ren zu können. Wir haben diese Techniken heute noch auch von unseren eigenen Bundesländern – lernen, in nicht. Die Bundesregierung wird in diesem Bereich ei- denen es bereits gute Initiativen zum Bürokratieabbau geninitiativ weiterdenken. gibt. Der Normenkontrollrat ist bereits erwähnt worden. Die Bundesregierung hat sich in ihrem Programm zum Die Bundesregierung selber hat vor zwei Wochen ei- Bürokratieabbau bereits jetzt verpflichtet, den künftigen nen ersten – ich betone: ersten – entscheidenden Schritt Normenkontrollrat regelmäßig in Anspruch zu nehmen. unternommen. Am 25. April dieses Jahres hat das Kabi- Es ist gut, dass wir heute die Einrichtung dieses Büro- nett das Programm „Bürokratieabbau und bessere kratie-TÜV auf den Weg bringen. Ich freue mich schon Rechtsetzung“ beschlossen. Dabei handelt es sich um jetzt auf eine konstruktive und intensive Zusammenar- eine Gesamtstrategie, die den Anforderungen an einen beit mit den Experten, die in diesem Gremium sitzen modernen Bürokratieabbau Rechnung tragen wird. Ziel werden. Er soll eine starke Stimme bekommen. Seine dieser Strategie ist es, nicht nur die Reduzierung beste- Macht wird die Öffentlichkeit sein. Aber ich sage auch: hender Belastungen zu intensivieren, sondern vor allem Politische Verantwortung ist nicht übertragbar. Auch wir auch bei der frühzeitigen Verhinderung neuer Bürokratie müssen zu den Dingen stehen, die wir politisch regeln. effektiv anzusetzen. Wir brauchen eine bessere Rechtset- Aber das, was für notwendig erachtet wird, sollte so zung. Wir vergrößern damit den Freiraum für Wirtschaft schlank wie möglich in Kraft treten. und Gesellschaft. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU) Ich habe nicht nur die Überprüfung bestehender Nor- Lassen Sie mich kurz nur einige Maßnahmen dieses men im Auge, sondern wir müssen auch grundlegende Programms vorstellen. Neu ist, dass sich wirklich die ge- Ansätze zu besserer Rechtsetzung mit dem Normenkon- samte Bundesregierung, alle Kabinettsmitglieder diesem trollrat besprechen und praktische Umsetzungsmöglich- Ziel verpflichtet haben. Damit sind sich Kabinett, Minis- (B) keiten finden. Ich bin mir sicher, dass der Normenkon- (D) terien und Verwaltung bei diesem Thema einig und wer- trollrat für uns alle eine Bereicherung sein wird. den gemeinsam vorangehen. (Wolfgang Bosbach [CDU/CSU]: Sehr gut!) Auch wir sind für die Einführung des Standardkos- tenmodells. Das ist ein innovativer und für Deutschland Vor diesem Hintergrund und weil das Initiativrecht neuer Ansatz. Denn bislang hat es keine Methode gege- für die Gesetzgebung – das ist bereits gesagt worden – ben, bestehende Bürokratiekosten zuverlässig zu erfas- nicht allein bei der Bundesregierung liegt, würde auch sen. Liebe Kollegen von der FDP, Sie haben bemängelt, ich mich freuen, wenn der Sachverstand der Experten dass sich das nur auf Berichts- und Informationspflich- nicht nur von den Bundesministerien genutzt würde. ten bezieht. Ihr eigener Antrag vom Januar dieses Jahres (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Sehr gut!) beinhaltete genau diesen Ansatz, die Messung von Be- richts- und Informationspflichten. Im Laufe des Verfahrens lassen sich ja vielleicht noch Änderungen vornehmen. (Martin Zeil [FDP]: Der war weitergehend!) Insbesondere in der Woche des Europatages muss Darauf sollten Sie hier ehrlicherweise hinweisen. darauf hingewiesen werden – auch die Bundeskanzlerin hat das eben ausdrücklich gesagt –, dass auch die Euro- Das Standardkostenmodell ist eine wichtige Voraus- päische Union erheblich zur Bürokratie beiträgt. Viele setzung für die Quantifizierung und damit letztlich die Rechtsetzungsakte gehen mittlerweile auf europäische Rückführung von Bürokratiekosten in Deutschland. Der Vorgaben zurück. Daher ist es entscheidend, dass wir die einheitliche methodische Ansatz erlaubt es, hier Bürokratie nicht nur beim Bund, sondern auch auf euro- schnellstmöglich vorzugehen und systematisch zu mes- päischer Ebene begrenzen und, wo möglich, abbauen. sen. Wir werden die Belastungen, die auf Berichten, For- Wir bieten den anderen europäischen Ländern hier un- mularen und Anträgen beruhen, sehr konkret messen. Es sere Partnerschaft an. Wir sollten nicht nur die Möglich- gibt zum Beispiel 62 so genannte Primärstatistikerhe- keiten nutzen, voneinander zu lernen, sondern uns auch bungen, 62 Auskunftspflichten, die teilweise mehrfach dem gemeinsamen Ziel des Bürokratieabbaus verpflich- pro Jahr erhoben werden. Dies muss sich ändern. ten. Auf der Grundlage dieser Messung wird die Bundes- Dieser Prozess muss auch auf der Ebene der EU in regierung ein verbindliches Abbauziel für bestehende, einem möglichst frühen Stadium der Gesetzgebung bes- auf Informationspflichten beruhende Bürokratiekosten ser als bisher berücksichtigt werden. Ich begrüße, dass festlegen. So wird Bürokratiekostenabbau transparent, Kommissionspräsident Barroso vorgestern angekündigt Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006 2929

Staatsministerin Hildegard Müller (A) hat, die nationale Ebene bereits bei der Formulierung Ich bedanke mich für die Diskussion. Als Koordinato- (C) von Gesetzentwürfen stärker an der Rechtsetzung mit- rin der Bundesregierung für Bürokratieabbau und bes- wirken zu lassen. Auch das ambitionierte Programm von sere Rechtsetzung werde ich als Ansprechpartnerin fun- Vizepräsident Verheugen, das Maßnahmen zur Rechts- gieren. Ich lade Sie zur Mitarbeit ein. Ich bin mir sicher, bereinigung und Folgenabschätzung von EU-Recht ent- dass wir mit diesem zukunftsweisenden Konzept ge- hält, zielt in die richtige Richtung. meinsam einen Erfolg haben werden. Mittlerweile hat auch die Kommission das Standard- Vielen Dank. kostenmodell für sich entdeckt, für das wir ebenfalls werben. Ich kündige schon jetzt an, dass dieses Thema (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- im Rahmen der deutschen Ratspräsidentschaft im nächs- neten der SPD) ten Jahr einen unserer Schwerpunkte bilden wird. Wir wollen innerhalb der Europäischen Union eine bessere Vizepräsident Wolfgang Thierse: Rechtsetzung erreichen. Ich erteile das Wort Kollegen Carl-Christian Dressel, SPD-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Heute beraten wir aber nicht nur die Einführung des Dr. Carl-Christian Dressel (SPD): Standardkostenmodells, sondern auch das erste Mittel- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Max standsentlastungsgesetz. Weitere konkrete Maßnahmen Weber hat Bürokratie als die rationale Form legitimer werden folgen. Seien Sie versichert, dass nicht nur die Herrschaft definiert. Demnach vollzieht sich bürokrati- Bundesregierung viele weitere Ideen hat. Auch aus der sche Herrschaft im Unterschied zu traditionaler oder Mitte des Parlaments, zum Beispiel im Parlamentskreis charismatischer Herrschaft nach überprüfbaren Regeln. Mittelstand der Union – er ist bereits erwähnt worden –, Der Vorteil einer funktionierenden Verwaltung ist, dass werden eine Reihe von Maßnahmen entwickelt, wie wir sie für Legitimität und Transparenz im demokratischen die Unternehmen ganz konkret entlasten können. Durch Staatswesen sorgt. Alles Verwaltungshandeln im demo- die Anhebung der Buchführungspflichtgrenze auf kratischen Rechtsstaat muss sich auf Gesetze zurückfüh- 500 000 Euro werden zum Beispiel 150 000 Unterneh- ren lassen. Ich bin froh, dass wir in Deutschland über men entlastet. eine, wie ich glaube, effiziente Verwaltung verfügen. Wir müssen durch unsere Gesetze dafür sorgen, dass die Der Bürokratieabbau in unserem Land ist eine drin- Verwaltung auch effizient sein kann. gend notwendige Aufgabe. Er ist überfällig und er wird sich nur als gemeinsame Kraftanstrengung meistern las- Nicht nur im öffentlichen Dienst gibt es Bürokratie – wie Kollege Bürsch schon ausgeführt hat –; aber der (B) sen. Ich setze großes Vertrauen in die große Koalition (D) und bedanke mich schon jetzt für die Unterstützung der öffentliche Dienst in Deutschland, meine Damen und Herren von der FDP, ist leider seit Jahren dazu verurteilt, verschiedenen Ressorts der Bundesregierung. Sie macht in regelmäßigen Abständen Ihre Anträge zur Entbüro- mich zuversichtlich, dass wir bei dieser Aufgabe voran- kratisierung, die sich nicht nur sinngemäß, sondern auch kommen werden. im Wortlaut häufig wiederholen, auf Papier zu drucken, Ich würde mich freuen, wenn wir bei diesem Vorha- zu verteilen, zu verwalten und vor allem zu ertragen. Da ben über die Parteigrenzen hinweg zusammenarbeiten tun mir nicht nur die Beamten Leid, da tun mir auch die könnten. Dazu liegen Angebote der verschiedenen Frak- Bäume Leid, die für das Papier der Drucksachen sterben tionen vor. Ich werde in dieser Frage auf die Fraktionen müssen. zugehen und ihre Expertise einbeziehen. Aber wir soll- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) ten ehrlich sein: In keiner Fraktion ist ein Platz für Heili- genscheine angebracht. Wir sollten uns dazu bekennen, Das meine ich nicht im Spaß. Ihre redundante Antrags- dass wir alle in den vergangenen Jahren Fehler gemacht flut der letzten Jahre hat dazu beigetragen, dass der Be- haben. Ich denke nur an eine Fragestunde, in der von der griff des Bürokratieabbaus häufig zu einer Leerformel FDP-Fraktion kritisiert wurde, dass sich die Bundesre- verkommt. Ich möchte bei dieser Gelegenheit einen gierung nicht mehr für die Rückhaltebügel in Omnibus- sachlichen Beitrag beisteuern. sen einsetze. Vonseiten der FDP höre ich immer wieder, Gesetze (Wolfgang Bosbach [CDU/CSU]: Aha! So war bräuchten ein Verfallsdatum. So schreiben Sie unter Punkt I. 3 des vorliegenden Antrags: das! Jetzt kommt es raus!) Wenn ein Gesetz ein Verfallsdatum hat und von Dazu sage ich nur: Auch in der FDP mag es in dieser ganz allein aufgehoben wird, wird der Aufwand Frage den einen oder anderen Hänger gegeben haben. schon sehr viel größer sein, es dann doch noch zu (Martin Zeil [FDP]: Kümmern Sie sich lieber verlängern. einmal darum, was Sie in den letzten Monaten Das halte ich für eine gewagte These. Glauben Sie denn gemacht haben!) allen Ernstes, dass sich nach Ablauf der Frist bei der Wie gesagt: Das Ziel des Bürokratiekostenabbaus ist un- Überprüfung eines Gesetzes die Normierungsgegner ser gemeinsames Ziel. durchsetzen werden? Aus eigener Erfahrung kann ich sa- gen: Das ist nicht so. In Bayern laufen kommunale Ver- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- ordnungen nach 20 Jahren aus. Doch nichts ist einfacher, neten der SPD) die identische Rechtsnorm als gut und bewährt erneut zu 2930 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006

Dr. Carl-Christian Dressel (A) verabschieden. Das Gleiche geht im Übrigen aus einer Herr Zeil, Sie haben vorhin das Stichwort Staatsver- (C) Studie der Bertelsmann-Stiftung zum Thema Sunset-Le- ständnis genannt. Anhand der Äußerungen von Ihnen gislation hervor: keine Reduzierung der mit Regulierung und Ihren Fraktionskollegen kann man klar und deutlich verbundenen administrativen Lasten. erkennen: Es geht Ihnen nicht um Bürokratieabbau, es geht um das Staatsverständnis. Wenn Sie von Bürokra- Zweitens möchte ich von Ihnen gerne wissen, wie Sie tieabbau sprechen, dann meinen Sie neben dem Aufbau festlegen wollen, welche Gesetze befristet sein sollen. von Entbürokratisierungsbürokratien doch nur den Ab- Anders als in Ihrem Antrag haben Sie, Frau Homburger, bau von Schutz- und Beteiligungsrechten der Bürger bis selbst gesagt, dass es Grenzen bei der Anwendung der hin zum Abbau des Sozialstaats. von Ihnen vorgeschlagenen Befristung geben muss; Quelle „Financial Times Deutschland“, 10. April 2006. (Beifall bei der SPD) Wo liegen diese Grenzen? Wie wollen Sie eingrenzen, welche Gesetze ein solches Verfallsdatum haben sollen? Die SPD-Fraktion hat Ihrem Antrag in der 15. Legis- Es ist so wie immer – Rainer Wend hat das auch schon laturperiode nicht zugestimmt; sie wird ihm auch in der festgestellt –: Ihre Vorschläge klingen markig und dyna- 16. Legislaturperiode nicht zustimmen. misch, aber sie sind wenig konkret. (Dr. Michael Bürsch [SPD]: In der 17. auch (Beifall bei Abgeordneten der SPD) nicht!) Das Gleiche gilt für den Bürokratiekosten-TÜV. Mit Sollten Sie in der 17. Legislaturperiode diesem Hause Normenkontrollrat und Standardkostenmodell setzen wir noch angehören, dann wird auch bei der dann sicherlich unsere Koalitionsvereinbarung zum Bürokratieabbau erscheinenden Neuauflage eine Ablehnung des Wieder- jetzt in die Tat um. Wenn Gesetzesvorlagen auf Effizienz gängers seitens unserer Fraktion erfolgen. und Wirtschaftlichkeit hin überprüft werden, werden wir ordentlich Bürokratie einsparen. Ich danke Ihnen. Auch wenn für diese Vorlage das strucksche Gesetz (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gilt, muss man eines klar machen: Der Nutzen dieser der CDU/CSU – Ernst Burgbacher [FDP]: Ob Form des Bürokratieabbaus liegt in der kritischen Ana- Sie dann noch da sind?) lyse der bürokratischen Auswirkungen einer Gesetzes- vorlage, nicht aber ihrer inhaltlichen Zielsetzung. Vizepräsident Wolfgang Thierse: (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Kollege Dressel, dies war Ihre erste Rede im Deut- schen Bundestag. Herzliche Gratulation und alles Gute Es wird Ihnen wieder nicht gelingen, damit ein Gesetz für Ihre weitere Arbeit! zum Kündigungsschutz zum Scheitern zu bringen, (B) (D) meine Damen und Herren von der FDP. (Beifall) In der Rechtsbereinigung, die Sie auch ansprechen, Ich schließe die Aussprache. haben wir in der vergangenen Legislaturperiode im Rah- men der Initiative schon Zahlreiches bewegt; gekrönt Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen wurde es durch die Einsparung von 217 Gesetzen und auf den Drucksachen 16/1406, 16/1407, 16/1167 und Rechtsverordnungen im Bereich des damaligen Ministe- 16/119 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus- riums für Gesundheit und Soziale Sicherung – der größte schüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Beitrag zur Rechtsbereinigung in 40 Jahren. Sie ignorie- Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so be- ren dies schlichtweg. schlossen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Ich rufe die Tagesordnungspunkte 22 a bis 22 n sowie Zusatzpunkte 4 a bis 4 d auf: Meine Damen und Herren von der FDP, Sie könnten ei- nen wichtigen Beitrag zum Bürokratieabbau leisten, 22 a) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten wenn Sie die Ministerien und auch den Deutschen Bun- Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Per- destag nicht mehr mit der Forderung, jährlich ein Berei- sonenbeförderungsgesetzes und des Allgemei- nigungsgesetz vorzulegen, von der Arbeit abhalten. nen Eisenbahngesetzes (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Martin – Drucksache 16/1039 – Zeil [FDP]: Also: Wir brauchen kein Parla- ment mehr!) Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Für interessant halte ich es, dass Sie im gleichen b) Erste Beratung des von der Bundesregierung Atemzug fordern, neue Maßnahmen zu ergreifen wie eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur eine Pflicht, die Gesetzesfolgenabschätzung zu doku- mentieren. Das führt zum Aufbau von mehr Bürokratie. Sicherung der Unterbringung in einem psychia- Wenn wir im Rahmen der ZPO-Reform über Dokumen- trischen Krankenhaus und in einer Entzie- tierungspflichten sprechen, sind es doch gerade Ihre hungsanstalt Rechtspolitiker, die sagen: Das ist überflüssiger Büro- – Drucksache 16/1110 – kratismus. Ich kann Ihnen nur auf den Weg mitgeben: Es Überweisungsvorschlag: reicht, was in §§ 43 und 44 der Gemeinsamen Geschäfts- Rechtsausschuss (f) ordnung der Bundesministerien steht; es muss nur umge- Innenausschuss setzt werden. Ausschuss für Gesundheit Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006 2931

Vizepräsident Wolfgang Thierse (A) c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- i) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten (C) gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Moderni- Entwurfs eines Gesetzes über die Besteuerung sierung des Schuldenwesens des Bundes (Bundes- des Spieleinsatzes schuldenwesenmodernisierungsgesetz) (Spieleinsatzsteuergesetz – SpEStG) – Drucksache 16/1336 – – Drucksache 16/1032 – Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuss (f) Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss Finanzausschuss (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Sportausschuss d) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- j) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung der Bereinigung von Bundesrecht im Zuständig- Bundesnotarordnung keitsbereich des Bundesministeriums für – Drucksache 16/1340 – Arbeit und Soziales und des Bundesministe- Überweisungsvorschlag: riums für Gesundheit Rechtsausschuss – Drucksache 16/1293 – k) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Überweisungsvorschlag: Entwurfs eines Gesetzes zur Reform des Rechts Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) der Unterbringung in einem psychiatrischen Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Krankenhaus und in einer Entziehungsanstalt Ausschuss für Gesundheit – Drucksache 16/1344 – e) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes über Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) die Bereinigung von Bundesrecht im Zustän- Innenausschuss digkeitsbereich des Bundesministeriums für Ausschuss für Gesundheit Verkehr, Bau und Stadtentwicklung l) Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst – Drucksache 16/1290 – Friedrich (Bayreuth), Patrick Döring, Joachim Überweisungsvorschlag: Günther (Plauen), weiterer Abgeordneter und der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) Fraktion der FDP Innenausschuss Novellierung des Personenbeförderungsgeset- f) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten (B) zes – Wettbewerb im öffentlichen Personen- (D) Entwurfs eines Gesetzes zur Vereinfachung und fernverkehr zulassen Beschleunigung von Zulassungsverfahren für Verkehrsprojekte – Drucksache 16/384 – Überweisungsvorschlag: – Drucksache 16/1338 – Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) Ausschuss für Bildung, Forschung und Innenausschuss Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus Ausschuss für Tourismus m) Beratung des Antrags des Bundesministeriums g) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten der Finanzen Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Per- sonenbeförderungsgesetzes Entlastung der Bundesregierung für das Haushaltsjahr 2005 – Vorlage der Haushalts- – Drucksache 16/1341 – und Vermögensrechnung des Bundes (Jahres- Überweisungsvorschlag: rechnung 2005) – Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie – Drucksache 16/1122 – Ausschuss für Tourismus Überweisungsvorschlag: h) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Haushaltsausschuss gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ein- n) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Karl führung einer Grundqualifikation und Wei- Addicks, Hellmut Königshaus, Dr. Werner terbildung der Fahrer im Güterkraft- oder Hoyer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Personenverkehr der FDP – Drucksache 16/1365 – Die Entwicklungszusammenarbeit mit Kenia Überweisungsvorschlag: auf den Prüfstand stellen Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie – Drucksache 16/965 – Ausschuss für Arbeit und Soziales Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Technikfolgenabschätzung Entwicklung (f) Ausschuss für Tourismus Auswärtiger Ausschuss 2932 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006

Vizepräsident Wolfgang Thierse (A) ZP 4 a)Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 a und 23 b auf. (C) gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen, Europäischen Übereinkommen vom 6. Novem- zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. ber 2003 über den Schutz von Tieren beim internationalen Transport (revidiert) Zunächst Tagesordnungspunkt 23 a: – Drucksache 16/1346 – 23 a) Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und eines Gesetzes zu dem Übereinkommen über Verbraucherschutz (f) das Recht der nichtschifffahrtlichen Nutzung Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung internationaler Wasserläufe b) Erste Beratung des von den Abgeordneten – Drucksache 16/738 – Brigitte Pothmer, Volker Beck (Köln), Birgitt Bender, weiteren Abgeordneten und der Fraktion Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN einge- ses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verlänge- heit (16. Ausschuss) rung der Ich-AG – Drucksache 16/1419 – – Drucksache 16/1405 – Berichterstattung: Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Abgeordnete Ulrich Petzold Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Haushaltsausschuss Horst Meierhofer Lutz Heilmann c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heike Sylvia Kotting-Uhl Hänsel, Hüseyin-Kenan Aydin, Monika Knoche, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LIN- Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktor- KEN sicherheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Flugticketabgabe jetzt – Entwicklungsfinan- Drucksache 16/1419, den Gesetzentwurf anzunehmen. zierung auf breitere Grundlagen stellen Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Gegenstimmen oder Enthal- – Drucksache 16/1203 – tungen? – Keine. Der Gesetzentwurf ist damit einstim- (B) Überweisungsvorschlag: mig angenommen. (D) Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (f) Tagesordnungspunkt 23 b: Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie b) Zweite Beratung und Schlussabstimmung des Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs Ausschuss für Tourismus eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 17. Juni Haushaltsausschuss 1999 über Wasser und Gesundheit zu dem d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Thilo Übereinkommen von 1992 zum Schutz und Hoppe, Kerstin Andreae, Marieluise Beck (Bre- zur Nutzung grenzüberschreitender Wasser- men), weiterer Abgeordneter und der Fraktion läufe und internationaler Seen des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Drucksache 16/739 – Umsetzung des EU-Stufenplans zur Entwick- lungsfinanzierung (0,7-Prozent-Ziel) durch Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- Flugticketsteuer unterstützen ses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- heit (16. Ausschuss) – Drucksache 16/1404 – – Drucksache 16/1420 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Berichterstattung: Entwicklung (f) Finanzausschuss Abgeordnete Ulrich Petzold Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Dirk Becker Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Horst Meierhofer Ausschuss für Tourismus Lutz Heilmann Haushaltsausschuss Sylvia Kotting-Uhl Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach- ten Verfahren ohne Debatte. Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktor- sicherheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an Drucksache 16/1420, den Gesetzentwurf anzunehmen. die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen überweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der wollen, sich zu erheben. – Auch dieser Gesetzentwurf ist Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. damit einstimmig angenommen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006 2933

Vizepräsident Wolfgang Thierse (A) Ich rufe Zusatzpunkt 1 auf: (Abgeordnete der LINKEN entrollen ein (C) Transparent und tragen T-Shirts mit einem Aktuelle Stunde Aufdruck – Abg. Cornelia Hirsch [DIE auf Verlangen der Fraktion der FDP LINKE] trägt als Schriftführerin ebenfalls ein Haltung der Bundesregierung zur Umsetzung T-Shirt mit Aufdruck – der europäischen Antidiskriminierungsricht- [CDU/CSU]: Also, das kann man doch nicht linie machen! Da wird im Parlament demonstriert! Das kann nicht sein! – Unruhe) Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Guido Westerwelle, FDP-Fraktion, das Wort. Wir Freie Demokraten – – (Beifall bei der FDP) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Dr. Westerwelle, ich muss Sie bitten, Ihre Rede Dr. Guido Westerwelle (FDP): kurz zu unterbrechen, damit ich den Kolleginnen und Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- Kollegen der Linksfraktion deutlich machen kann, dass ren! Wir haben heute Morgen eine Debatte zur Europa- dies hier kein Ort für Demonstrationen irgendwelcher politik geführt. Die Bundeskanzlerin hat sich in ihrer Art ist. Rede dafür eingesetzt – wir finden, das ist anerkennens- wert –, dass wir aus Brüssel nicht noch mehr Bürokratie (Zuruf von der LINKEN: Wir protestieren bekommen. Aber wenn man die Bürokratie aus Brüssel hier!) ablehnt, dann darf man in Deutschland aus dem, was aus Brüssel kommt, nicht noch mehr Bürokratie machen. Das können Sie draußen machen. (Beifall bei der FDP) (Alexander Dobrindt [CDU/CSU]: Würden Sie vielleicht die Schriftführer auch einmal er- Meine sehr geehrten Damen und Herren von der mahnen?) Unionsfraktion, an dieser Stelle fehlt Ihr Beifall. Denn mit Verlaub gesagt: Sie waren diejenigen, die in der letz- Was wir dagegen hier tun, ist, uns mit Worten auseinan- ten Legislaturperiode gemeinsam mit uns dafür ge- der zu setzen und nicht mit Transparenten. kämpft haben, dass das, was aus Brüssel kommt, eins zu (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP eins umgesetzt wird. und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Christel Humme [SPD]: Das war ein Fehler!) (B) Deswegen würde ich Sie bitten, die Transparente und die (D) Davon ist nicht mehr die Rede. T-Shirts, die die Funktion von Transparenten haben, draußen zu zeigen, aber nicht hier drinnen. (Beifall bei der FDP) (Lebhafte Zurufe im ganzen Hause) Sie setzen nicht eins zu eins um, was aus Brüssel kommt, sondern setzen den Unfug eins zu eins um, den Rot-Grün begonnen hat. Das ist das Entscheidende. Dr. Guido Westerwelle (FDP): Wenn Sie mir noch die Bemerkung erlauben: Einige (Vorsitz: Vizepräsidentin Katrin Göring- von Ihnen sollten diese T-Shirts nicht tragen. Die sind Eckardt) bei Ihrer Figur wirklich nicht mehr kleidsam. Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen von (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der der Union, man sieht Ihnen die Freude über dieses FDP, der CDU/CSU und der SPD) Gesetz an. Sie haben vor ungefähr einem Jahr eine Bun- destagsdrucksache eingebracht, über die wir hier gespro- Ich meinte die Herren, damit das gleich klar ist. chen haben. Sie trägt den Titel: „Kein weiterer Arbeits- platzabbau – Antidiskriminierungsgesetz zurückziehen“. (Renate Gradistanac [SPD]: Ich weiß jetzt, wa- Ihre Haltung gegen das Antidiskriminierungsgesetz, wie rum wir das Antidiskriminierungsgesetz brau- sie in diesem Antrag zum Ausdruck kam, war damals chen!) richtig und wäre heute auch noch richtig. Dann müssten Sie gemeinsam mit uns gegen das, was jetzt Gleichbe- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: handlungsgesetz genannt wird, kämpfen. Rot-Grün hat das „Antidiskriminierungsgesetz“ genannt; Sie nennen Herr Dr. Westerwelle, ich muss die Sitzung unterbre- es jetzt „Gleichbehandlungsgesetz“. Das ist derselbe Un- chen, bis die Kollegen sowohl die Transparente als auch fug in anderer Färbung und dagegen wenden wir uns mit die T-Shirts nach draußen geschafft haben. aller Entschiedenheit. (Joachim Stünker [SPD]: Der Ältestenrat soll (Beifall bei der FDP) tagen! – Alexander Dobrindt [CDU/CSU]: Frau Präsidentin, haben Sie die Aufgabe, hier Es ist übrigens auch ein Irrtum, zu glauben, dass ir- für Ordnung zu sorgen, oder nicht? Eine un- gendeiner Minderheit, irgendeiner zu schützenden glaubliche Provokation! – Weitere lebhafte Gruppe damit geholfen werden könnte. Zurufe im ganzen Hause) 2934 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006

(A) Dr. Guido Westerwelle (FDP): Deswegen bedeutet dieses Gesetz eine Ausweitung (C) Frau Präsidentin, bei allem Respekt: Ich bin der Über- von Bürokratie. Es ist minderheitenfeindlich. Hier wird zeugung, dass Sie das richtig machen und auch für Ord- keinem Behinderten geholfen; hier wird keinem Schwu- nung sorgen. Aber wozu ich nicht bereit bin, ist: Wenn len geholfen; hier wird keiner Lesbe geholfen; hier wird vom Präsidium aus eine solche Demo gemacht wird, tue niemandem geholfen, der zu Recht geschützt werden ich hier nicht so, als ginge das einfach so weiter. Das muss. In Wahrheit ist es ein Gesetz, das den zu Schüt- mache ich nicht mit. zenden schadet. Auch das muss klar gesagt werden. (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der (Beifall bei der FDP – Irmingard Schewe- SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der SES 90/DIE GRÜNEN) redet ja wie Herr Kusch!) Dann unterbrechen wir jetzt hier. Ich würde dann jetzt Wir wollen an dieser Stelle festhalten: Diese Debatte beantragen, dass die Sitzung unterbrochen wird. findet in diesem Hause ja nicht zum ersten Mal statt. Wir haben das, was jetzt vorgelegt wird, schon einmal ge- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: meinsam verhindert. Herr Dr. Westerwelle, die Sitzung ist im Moment un- (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: terbrochen. Nein, haben wir nicht verhindert!) (Abgeordnete der LINKEN sowie Abg. Union und FDP haben im Bundesrat diesen Unfug von Cornelia Hirsch [DIE LINKE] verlassen den Saal) Rot-Grün angehalten. Jetzt kommt er wieder. Wir wis- sen, dass Ihre eigenen Leute darüber entsetzt sind. Jeden Tag lese ich von einem Kollegen aus der Unions-Bun- Dr. Guido Westerwelle (FDP): destagsfraktion, was das für ein Schrott von Rot-Grün Na, fabelhaft. ist, den sie hier heute durchbringen sollen. (Abg. Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/ (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- DIE GRÜNEN] nimmt auf dem Stuhl eines NEN]: Mindermeinung!) Schriftführers Platz – Jerzy Montag [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Außerdem hat jetzt Ich sage Ihnen dazu: Denken Sie an Ihr freies Mandat. ein Grüner bei den Schriftführern Platz ge- Mannesmut vor Königinnentreue, das ist hier jetzt ange- nommen!) sagt. – Ich habe mich selten so gefreut, einen Grünen da oben (Beifall bei der FDP) (B) zu sehen. (D) Damit das Ganze korrekt bleibt: Frauenpower selbstver- (Heiterkeit – Wolfgang Bosbach [CDU/CSU]: ständlich auch. Komm, wir machen die Sitzung jetzt weiter! – Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Jawohl!) Wir Freien Demokraten sind der Überzeugung, dass den Minderheiten hier geschadet wird, weil sie in Wahr- heit um Chancen gebracht werden, dass der Mittelstand Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: mit noch mehr Bürokratie belastet wird, dass deutschen Ich würde die Sitzung jetzt gern wieder aufnehmen. Interessen durch dieses Gesetz nicht entsprochen wird, Nachher haben wir eine Ältestenratssitzung. Da gibt es dass sie vielmehr in Europa benachteiligt werden. Wir möglicherweise Leute, die das dort thematisieren wol- können auch auf die Regierungserklärung, die schließ- len. lich von Ihrer eigenen Bundeskanzlerin hier abgegeben Ich erteile Herrn Dr. Westerwelle also erneut das worden ist, verweisen. Die Bundeskanzlerin hat hier in Wort. ihrer Regierungserklärung gesagt: Wir haben uns vorge- nommen, die EU-Richtlinien im Grundsatz nur noch Dr. Guido Westerwelle (FDP): eins zu eins umzusetzen. Wenn wir uns zusätzlich zu Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Wir kommen jetzt dem, was wir in Europa vereinbaren, Lasten aufbürden, wieder zur Sache zurück. Ich will zu dem Gleichbehand- haben wir gegenüber unseren europäischen Mitbewer- lungsgesetz, das dem ehemaligen Antidiskriminierungs- bern keine fairen Chancen. – Das war richtig, das bleibt gesetz eins zu eins entspricht und das Sie dem Deutschen richtig und es ist gut, dass es noch eine Kraft in diesem Bundestag vorlegen, noch eine Bemerkung dazu ma- Hause gibt, die sich an das erinnert, was Sie früher mit chen, welcher Schutz damit eigentlich erreicht wird. Aus vertreten haben, nämlich mehr Freiheit und weniger Bü- unserer Sicht ist es eben Unfug, zu glauben, man könne rokratie. irgendeiner der zu schützenden Minderheiten hiermit ir- (Beifall bei der FDP) gendwie helfen. Das Ergebnis dieses Antidiskriminie- rungsgesetzes wird nicht sein, dass den zu Schützenden „Mehr Freiheit wagen“ war doch eigentlich die Über- geholfen wird. Die werden zu den Vorstellungsgesprä- schrift Ihres Amtsantritts. chen gar nicht mehr eingeladen, weil die Firmen be- fürchten müssen, mit irgendwelchen Verbandsklagen Man ist einigermaßen atemlos darüber, mit welch ra- überzogen zu werden. santem Agendawechsel wir es in diesem Hause zu tun haben. Wir werden darüber mit Sicherheit noch manches (Beifall bei der FDP) Mal reden. Ich appelliere an die Ministerpräsidenten der Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006 2935

Dr. Guido Westerwelle (A) Bundesländer, die diesen Unfug schon einmal mit uns Diese europäische Antidiskriminierungsrichtlinie gefällt (C) gestoppt haben, es auch diesmal wieder im Bundesrat zu mir eher nicht. Dies gilt übrigens auch für viele andere tun. Wir werden jedenfalls dann an deren Seite stehen. Richtlinien, zum Beispiel die FFH-Richtlinie, die Vogel- Es darf nicht dazu kommen, dass Herr Müntefering mit schutzrichtlinie, die uns bis aufs Blut drangsaliert. seinem berühmten Satz nach der Regierungsbildung „Schwarz ist auch nur ein ganz dunkles Rot“ Recht be- Lassen Sie mich eine Metapher wählen, damit das kommt. Das wäre wirklich bedauerlich. auch diejenigen im Publikum verstehen, die sich nicht von Sonnenaufgang bis zum Sonnenuntergang mit dem Wir brauchen mehr Freiheit. Wir müssen mehr Frei- Wechselspiel von europäischem und nationalem Recht heit wagen. Das schafft Arbeitsplätze in Deutschland beschäftigen: und nicht diese Bürokratie. Ob sie von Schwarz-Rot oder von Rot-Grün kommt – sie ist in beiden Fällen Un- (Zuruf von der FDP: Das wird auch durch eine fug. Metapher nicht besser!) (Beifall bei der FDP) Wenn Sie einen lange in der Sonne liegenden und inzwi- schen übel riechenden Handkäse verpacken müssen, Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: dann macht es keinen Unterschied, ob Sie diesen in eine Als nächster Redner hat der Kollege Dr. Jürgen Gehb, alte Pappschachtel legen oder in einen Parfümflakon CDU/CSU-Fraktion, das Wort. versenken wollen. Das olfaktorische Unbehagen bleibt mit nur graduellen Unterschieden bestehen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD – Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Und Sie müs- GRÜNEN]: Jetzt geht es nach Canossa!) sen den zweiten Stinkkäse noch daneben le- gen!) Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU): Ich mache hier und heute keinen Hehl aus meiner bei Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die jeder Gelegenheit artikulierten Auffassung: Diese Anti- Europäische Kommission hat am 23. Februar dieses Jah- diskriminierungsrichtlinien – ich betone: bereits die res vor dem Europäischen Gerichtshof ein unter dem Richtlinien – stellen einen fundamentalen Angriff auf Aktenzeichen C-43/05 geführtes Feststellungsurteil er- unsere kontinentaleuropäische und vom Grundsatz der wirkt, das in etwa folgenden Tenor hat: Die Bundesrepu- Privatautonomie geprägte Rechtsordnung dar. Dazu blik Deutschland hat ihre Verpflichtungen aus der Richt- stehe ich und dabei bleibe ich auch. Dennoch müssen linie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur wir sie umsetzen. Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirk- (Dr. Rainer Wend [SPD]: So weit geht nicht (B) lichung der Gleichbehandlung in Beruf und Beschäfti- (D) gung verletzt, indem sie nicht alle Verwaltungs- und einmal die FDP! – Jerzy Montag [BÜND- Rechtsvorschriften erlassen hat, die notwendig sind, um NIS 90/DIE GRÜNEN]: Herr Kollege, geht es dieser Richtlinie in Bezug auf bestimmte Diskriminie- ein bisschen kleiner? Das Ende des Abendlan- rungsmerkmale nachzukommen. des!) Warum erwähne ich dieses Urteil? Die Zeit drängt. Deswegen hatte der „Tagesspiegel“ auch vollkommen Nach diesem Erkenntnisverfahren folgt sozusagen das Recht, als er vor zwei Tagen geschrieben hat: Wer dieses Vollstreckungsverfahren, Projekt hätte stoppen wollen, der hätte das vor langer, langer Zeit in Brüssel tun müssen. (Zuruf von der LINKEN: Genau darum geht es!) (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da haben Sie auch nichts getan!) mit der Konsequenz, dass eine Strafe in Höhe von 900 000 Euro fällig wird für jeden Tag, den diese Richt- Deshalb liegt das Kind nicht nur nicht erst seit gestern linie nicht umgesetzt ist. im Brunnen, sondern dieser Brunnen steht auch nicht an Diese Koalition hat diese Richtlinie nun umgesetzt. der Spree. Gestern hat die Bundesregierung einen entsprechenden (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Gesetzentwurf im Kabinett verabschiedet. NEN]: Um Gottes willen!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Einem weiteren Leitsatz möchte ich frönen: Das LINKEN) Wünschbare darf nicht zum Feind des Machbaren und, Die heutige Aktuelle Stunde gibt mir keinen Anlass wie in diesem Fall, auch Erforderlichen werden. und lässt mir auch nicht Zeit genug, jedes Detail dieses Wünschbar wäre sicherlich – nicht jeder teilt diese Auf- Gesetzesvorhabens hier darzulegen. Ich möchte damit fassung – eine Alleinregierung der CDU/CSU. Dann auch nicht den einzelnen Lesungen vorgreifen. Deshalb sähe nicht nur dieses Gesetzeswerk anders aus, dann will ich mich auf zwei oder drei allgemeine Erwägungen würden wir uns vielleicht auch eher dem Parfümflakon beschränken. nähern. Herr Westerwelle, jede europäische Richtlinie ist in (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ihr hättet ja ein biss- nationales Recht umzusetzen, ob sie einem nun gefällt chen mehr Widerstand leisten können!) oder nicht. Auch wenn unser jetziger Koalitionspartner oder ir- (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Eins zu eins!) gendeine andere Fraktion alleine regieren würde, sähe 2936 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006

Dr. Jürgen Gehb (A) das Gesetzeswerk anders aus. Freilich würde man sich rum es überhaupt geht. An einem einzigen Punkt geht (C) dann vielleicht eher in der Nähe zur Pappschachtel be- die Regierung ein kleines bisschen darüber hinaus, näm- finden. In diesem Hause gibt es seit geraumer Zeit aber lich bei der Aufzählung der betroffenen Gruppen. Bei keine Alleinregierung. der Aufzählung der betroffenen Gruppen würde noch zu- sätzlich dadurch diskriminiert, wenn die einen die Guten (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ und die anderen die Schlechten bzw. die Bösen genannt DIE GRÜNEN]: Ja und keine Pappschach- würden. tel! – Dr. Rainer Wend [SPD]: Aber Pappna- sen!) Ein anderer Punkt ist die Überschrift. Es ist ein ge- waltiger Unterschied, ob Diskriminierung verboten oder Weder Schwarz-Gelb noch Rot-Grün, noch Schwarz-Rot nur so getan wird, als ob ein allgemeines Gleichbehand- sind von der Not entbunden, Kompromisse finden zu lungsgebot eingeführt wird. Wenn man Diskriminierung müssen. wirklich verhindern will, dann muss man gerade un- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Aber ein biss- gleich behandeln. chen mehr Mühe hättet ihr euch schon geben (Beifall bei der LINKEN) können, mein lieber Jürgen!) Weil die diskriminierten Gruppen benachteiligt sind, Dieser Kompromiss – nicht mehr und nicht weniger – ist muss ihnen eine Chance gegeben werden, diesen Nach- gefunden worden. Wenn es zur Lesung des Gesetzes teil auszugleichen. Wenn bei ungleichen Verhältnissen kommt, können wir uns um die arithmetische Umset- alle gleich behandelt werden, dann wird dadurch nur die zung kümmern. Darüber, ob sie im Grundsatz eins zu Ungleichheit reproduziert. Das soll aber gerade über- eins, eins zu 1,1 oder eins zu 0,9 beträgt, können wir uns wunden werden. trefflich streiten. Für heute soll es damit sein Bewenden haben. Weil die Regierung der Meinung ist, dass es in diesem Lande keine Diskriminierung gibt, weil es sie nicht Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. geben darf, wird das Gesetz auch nicht Diskriminie- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- rungsverbot, sondern Gleichbehandlungsgebot genannt. neten der SPD) Schon da fällt sie weit hinter die Richtlinie zurück. Es wird also nicht im Verhältnis eins zu eins oder eins zu Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: 1,1, sondern im Verhältnis eins zu 0,5 umgesetzt. Für die Fraktion Die Linke hat der Kollege Dr. Ilja Es geht aber noch weiter. Die Antidiskriminierungs- Seifert das Wort. richtlinie der EU besagt nichts anderes als das, was in (B) Art. 13 des Amsterdamer Vertrages steht, dass nämlich (D) (Beifall bei der LINKEN – Ina Lenke [FDP]: Diskriminierung verboten ist. Was steht in dem von der Wo bleiben die Transparente?) Regierung vorgelegten Gesetz? Diskriminierung ist mit Ausnahme folgender Punkte verboten. Es folgt unter an- Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE): derem die Ausnahme, dass es ausreicht, einen so ge- Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol- nannten „sachlichen Grund“ geltend zu machen, der legen! Lieber Herr Kollege Gehb, wenn es in diesem dann wieder zu einer Diskriminierung berechtigt. Ein Lande und auf diesem Kontinent Dinge gibt, die funda- sachlicher Grund ist nach allgemeiner Rechtsprechung mental gegen unser Verständnis von Gerechtigkeit ver- in diesem Lande – Herr Westerwelle, Sie sind Jurist ge- stoßen, dann ist es die Diskriminierung von Minderhei- nug, um das zu bestätigen – die Angabe, dass die Besei- ten und nicht die Umsetzung einer Richtlinie. Ich finde, tigung der Diskriminierung zu teuer sei. Die EU-Richtli- Sie haben das Pferd völlig von hinten aufgezäumt. nie sieht aber nicht vor, dass Diskriminierung erlaubt ist, (Beifall bei der LINKEN) wenn ihre Beseitigung nur teuer genug ist. Auf Wunsch der FDP reden wir hier darüber, wie sich Ich nenne ein Beispiel. Wenn vor dem Eingang zum die Bundesregierung zur Antidiskriminierungsrichtlinie Rathaus drei Treppenstufen sind, dann können die Be- verhält. Sie, die FDP, möchten sie am liebsten ganz und hindertenorganisationen verlangen, eine Rampe zu gar verhindern. Herr Westerwelle, Sie versteigen sich bauen; das ist gerade noch möglich. Wenn aber verhin- dazu, zu sagen, dass Minderheiten durch diese Richtlinie dert werden soll, dass Behinderte ins Rathaus kommen, eher Schaden als Nutzen haben. dann werden vor dem Eingang zum Rathaus neun Stufen gebaut; denn dort eine Rampe hinzubauen, wäre viel zu (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ teuer. Also ist es keine Diskriminierung. Diese Denk- DIE GRÜNEN]: Unglaublich!) weise ist doch absurd. – Es ist wirklich unglaublich, was Sie hier sagen. (Beifall bei der LINKEN) (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Demzufolge ist dieser Finanzierungsvorbehalt, der NEN]: Je weniger Schutz, umso mehr sich hinter dem „sachlichen Grund“ versteckt, abzu- Rechte – das ist die Logik der FDP!) schaffen. Dieses Gesetz setzt die Richtlinie nicht um, sondern fällt weit dahinter zurück. Wenn es wenigstens so wäre, dass die Regierung die Richtlinie eins zu eins umsetzte, dann wäre ich ja schon Sie aber, Herr Westerwelle, tun ebenso wie Ihre ganze heilfroh. Schauen wir aber doch bitte einmal nach, wo- Fraktion so – das ist bedauerlich –, als sei das Ganze ein Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006 2937

Dr. Ilja Seifert (A) furchtbares und schlimmes bürokratisches Hindernis auf (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: In neun (C) dem Weg zur realen Gleichbehandlung von Menschen Minuten!) mit unterschiedlichen Handicaps. Das Handicap kann Ich muss erst einmal anfangen. Wenn das so weitergeht, beispielsweise auch aus einem Migrationshintergrund dann sind zehn Minuten schon richtig. Das ist wie mit bestehen. der Frage der Umsetzung. (Renate Gradistanac [SPD]: Sie wollen Gleichbehandlung! Jetzt haben Sie es selber Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: noch einmal betont!) Wird das alles im Protokoll festgehalten? – Nein, ich will keine Gleichbehandlung, sondern ich (Iris Gleicke [SPD]: Ja! Da bin ich ganz sicher, will Ungleichbehandlung, um am Ende eine Gleichstel- dass das im Protokoll ist! – Zuruf von der lung zu erreichen. Das Ziel ist die Gleichstellung, nicht SPD: Dann kann man es wenigstens nachle- die Gleichbehandlung. sen!) (Beifall bei der LINKEN) Brigitte Zypries, Bundesministerin der Justiz: Genau darüber reden wir; das dürfen wir nicht verwech- Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten seln. Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde diese Aktuelle Stunde sehr wichtig. Der Im- Es gibt in der Tat Themen in der Politik, bei denen es petus darf aber nicht sein, dieses Antidiskriminierungs- schwierig ist, eine sachliche Debatte zu führen, weil die gesetz zu verhindern, sondern der Impetus muss dahin Vorurteile der verschiedenen Seiten so manifest sind, gehen, dieses Gesetz auszuweiten, sodass Sanktionen dass die Menschen das, worum es im Gesetzentwurf wirklich greifen. Momentan enthält dieses Gesetz kei- geht, in der Regel nicht mehr wahrnehmen. Ich erlebe nerlei wirksame Sanktionsmöglichkeiten. Es passiert das in meinem Ressort leider nicht nur bei diesem Ge- doch gar nichts, wenn nichts passiert. Das ist das setz. Schlimme. Im Urheberrecht gibt es ein ähnliches Problem. Da Wenn wir wenigstens erreichen würden, dass in der hat man sich auf eine bestimmte Weise festgelegt und Bevölkerung das Bewusstsein entsteht, es sei unanstän- meint, es seien Vorschläge im Gesetzentwurf enthalten, dig, Menschen wegen ihrer sexuellen Orientierung, die aber gar nicht drinstehen. Es gibt Interessengruppen, die immer wieder mit der Behauptung, im Gesetzent- (Renate Gradistanac [SPD]: Das heißt „sexu- wurf seien bestimmte Vorschläge enthalten, öffentlich zu elle Identität“, nicht „Orientierung“!) Felde ziehen. Damit erreichen sie aber das Gegenteil. (B) (D) wegen ihrer Behinderung oder wegen ihrer Herkunft zu Dasselbe Problem stellt sich beim Antidiskriminie- diskriminieren, dann hätten wir schon etwas erreicht. rungsgesetz, besser gesagt beim Allgemeinen Gleichbe- Aber wenn nichts passiert und Menschen trotzdem dis- handlungsgesetz. In Heft 18/2006 des „Focus“ wird Herr kriminiert werden, dann haben wir wenig erreicht. Des- Wendt, der Chef der gleichnamigen Maschinenbau halb muss dieses Gesetz Möglichkeiten zu Sanktionen GmbH aus Georgsmarienhütte, dem ein zweiseitiger Be- enthalten, die bei Verstößen gegen dieses Gesetz zum richt gewidmet ist, wie folgt zitiert: Einsatz kommen. Seit das Antidiskriminierungsgesetz gilt, betreiben Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. wir bei Stellenausschreibungen und Bewerberaus- wahl einen Riesenaufwand, (Beifall bei der LINKEN) (Dr. Carl-Christian Dressel [SPD]: Hört! Ich danke Ihnen für die Möglichkeit, hier vor diesem Hört!) Haus zu reden. Aber ich danke Ihnen überhaupt nicht für den Impetus, den Sie damit verbinden. um uns gegen Klagen abzusichern. Denn wir müs- sen im Zweifelsfall nachweisen, dass wir einen Be- (Beifall bei der LINKEN) werber nicht diskriminiert haben. Bei Bewerbungs- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ihre Argumentation gesprächen sind wir jetzt immer zu dritt. erschließt sich uns auch nicht immer!) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist voraus- schauend! – Irmingard Schewe-Gerigk Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ein bisschen Für die Bundesregierung hat das Wort jetzt die Bun- Sachkenntnis wäre nicht schlecht!) desministerin Brigitte Zypries. Es ist immer wieder dasselbe Phänomen: Es wird eine (Das Rednerpult lässt sich nicht verstellen – Behauptung in den Raum gestellt und die Menschen Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ist das jetzt eins denken, dass dies auch zutrifft. Dabei gilt die betreffende zu eins oder mehr?) Regelung noch gar nicht. Sie wissen überhaupt nicht, wovon sie reden. Brigitte Zypries, Bundesministerin der Justiz: Insofern danke ich sehr für diese erste Gelegenheit – Das wissen Sie in zehn Minuten. Gedulden Sie sich – es wird noch mehrere geben –, deutlich zu machen, noch so lange und hören Sie schön zu! worum es beim Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz 2938 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006

Bundesministerin Brigitte Zypries (A) geht. Das erste, was wir lernen müssen, ist, dass es zwei Wir machen im Arbeitsrecht nichts anderes als das, was (C) verschiedene Regelungsbereiche gibt. Genauer gesagt bezüglich des Geschlechts seit 25 Jahren – beispiels- gibt es sogar drei. Es gibt erstens eine Antirassismus- weise in § 611 a BGB – geltendes Recht in Deutschland richtlinie, die sich auf das Verbot der Diskriminierung ist. Mehr machen wir nicht. wegen Rasse und ethnischer Herkunft bezieht und die ei- nen sehr tiefen Regelungsbereich hat. Sie gilt sowohl im (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Arbeitsrecht als auch im Zivilrecht. Im Zivilrecht greift Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Da täuschen Sie sie sogar relativ tief in die Rechtsverhältnisse ein und be- sich!) wirkt damit das, von dem Herr Gehb gesagt hat, dass wir Die Grünen behaupten nun, wir machten sogar weni- es in Deutschland nicht kennen. Wir haben nämlich im ger. Wir sagen aber, dass es genauso viel ist. Das klären Grundsatz keine Vorschriften, an wen man sich wenden wir vielleicht in der ersten Lesung. Erst einmal gilt: Aus darf; wir halten die Vertragsfreiheit sehr hoch. der Umsetzung ergibt sich nicht mehr Bürokratie für die Die Antirassismusrichtglinie regelt außerdem den Zu- Arbeitgeber als das, was sie durch den § 611 a seit gang zu Bildung, Gesundheit und Sozialleistungen. Das 25 Jahren kennen. Der einzige Unterschied ist, dass sich heißt, der zweite Schwerpunkt liegt im öffentlichen die Regelung nicht nur auf das Geschlecht, sondern auch Recht. auf alle anderen Diskriminierungsmerkmale in Art. 13 des EU-Vertrages bezieht. Meiner Meinung nach ist das Daneben gibt es zwei Richtlinien, die sich auf das Ar- nicht kritikwürdig. beitsrecht erstrecken und auf die sich das Urteil des EuGH bezieht. Diese enthalten die Merkmale Religion (Zustimmung bei Abgeordneten des BÜND- und Weltanschauung, Behinderung, Alter, sexuelle Iden- NISSES 90/DIE GRÜNEN) tität und Geschlecht, Rasse und ethnische Herkunft sind nicht enthalten; sie sind an anderer Stelle geregelt. Aber Beim Zivilrecht gibt es nun unterschiedliche Rege- alle anderen Merkmale nach Art. 13 des EG-Vertrages lungstiefen und Diskriminierungsmerkmale wie Rasse, werden berücksichtigt. Eine Diskriminierung wegen der ethnische Herkunft und Geschlecht. Deshalb vertreten in diesem Artikel genannten Merkmale darf in Europa wir die Meinung: Bei Massengeschäften des täglichen nicht erfolgen. Lebens – das sind solche Geschäfte, bei denen jemand einer unbestimmten Vielzahl von Menschen eine Viel- Damit wird übrigens auch durch den europäischen zahl von Angeboten macht, beispielsweise wenn man im Vertrag dokumentiert, dass es sich bei der EU – Herr Kaufhof ein Haarshampoo, bei Karstadt ein paar Unter- Westerwelle, Sie haben mit dem Zitat von Frau Merkel hosen oder bei Ebay ein Fahrrad im Angebot kaufen zu Recht darauf hingewiesen – nicht nur um eine Wirt- will; also überall dort, wo es dem Verkäufer egal ist, mit (B) schaftsgemeinschaft, sondern auch um eine Wertege- wem er den Vertrag schließt, handelt es sich um ein Mas- (D) meinschaft handelt. sengeschäft – kann es keinen Grund für Diskriminierung geben, weil wir hier die Wertentscheidung aus Art. 13 (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ des EU-Vertrages anwenden. Mit anderen Worten: Wir DIE GRÜNEN) haben hier alle Merkmale aufgenommen. Ich glaube, Es ist völlig klar, dass die EU nicht nur die Wirtschaft dass das Sinn macht. schützen will, sondern auch die Werte. Was anderes als Natürlich kann man fragen: Warum regelt ihr das gelebte Menschenrechtspolitik ist denn die Wertepolitik denn? Solche Fälle sind doch in der Vergangenheit in der EU? Deutschland über die Generalklauseln des bürgerlichen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Rechts abgehandelt worden. In §§ 138 und 242 BGB DIE GRÜNEN – Jerzy Montag [BÜND- sind solche Fälle gerichtsfest gelöst. – Das waren für die NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist auch für Richterinnen und Richter aber immer nur Krücken, Herrn Gehb wichtig!) Hilfsmittel. Nun gibt es eine Regelung, die besagt: Wenn jemand keine Arme hat, weil er als Contergan-Geschä- Wir haben also im Arbeitsrecht eine andere Rege- digter geboren wurde, darf er nicht eines Lokals verwie- lungstiefe als im Zivilrecht. Im Zivilrecht gibt es nur sen werden, weil er nur mit den Füßen essen kann. Wa- eine Regelung in Bezug auf das Geschlecht, nämlich die rum will man so jemandem verbieten, in einem Vierte Gleichstellungsrichtlinie, sowie eine Richtlinie, öffentlichen Lokal zu essen? die die Merkmale Rasse und ethnische Herkunft schützt und deren Regelungstiefe sehr viel weiter geht. Das (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem heißt, es gibt ein buntes Durcheinander von verschiede- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) nen Regelungsbereichen. Warum will man Menschen, die eine Behinderung oder Eines ist aber gegeben, Herr Westerwelle: Im Arbeits- ein bestimmtes Alter haben, bestimmte Massengeschäfte recht gilt die Gleichbehandlung aller Merkmale. Inso- versagen? Wodurch ist legitimiert, dass beispielsweise fern setzen wir im Arbeitsrecht – das ist unstreitig, wie 70-Jährigen, die die notwendigen Sicherheiten bieten, Ihnen Ihre Mitarbeiter sicherlich bestätigen werden – die pauschal kein Kredit gewährt wird? Richtlinie eins zu eins um. (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LIN- (Widerspruch bei der FDP und dem BÜND- KEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- NIS 90/DIE GRÜNEN) NEN) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006 2939

Bundesministerin Brigitte Zypries (A) Warum sollten wir den Banken in Deutschland eine Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C) solch pauschale Vorgehensweise nicht verbieten, wenn NEN): die individuellen Voraussetzungen – diese dürfen natür- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! lich überprüft werden; das steht ausdrücklich in unserem Deutschland bekommt ein Gleichbehandlungsgesetz und Gesetzentwurf – gegeben sind? Verehrte Frau Kollegin, – um mit den Worten des Berliner Bürgermeisters zu das ist der Unterschied zwischen öffentlichem Recht und sprechen – das ist auch gut so. Nach einigem Gezerre hat Zivilrecht: Die Verfassung besagt, dass der Staat nicht sich die Koalition offensichtlich geeinigt und siehe da: diskriminieren darf. Wir reden hier aber über das Zivil- Der Ansatz von uns Grünen hat sich weitgehend durch- recht. gesetzt. Das ist ein Sieg der Vernunft, ein Erfolg der bes- seren Argumente. Das zeigt deutlich: Grüne Politik (Beifall bei Abgeordneten der SPD) wirkt nachhaltig. Wir legen fest, dass man in solchen herausgehobenen Si- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – tuationen im Zivilrechtsverkehr nicht diskriminieren Beifall bei der FDP) darf. Im Detail werden wir uns noch streiten. Die Koalition will einige Abstriche machen. Das gefällt uns nicht. Des- (Beifall bei der SPD) halb werden wir den Gesetzentwurf der Regierung auf Da dies noch nicht geregelt ist, muss es im Rahmen der Herz und Nieren prüfen. Verwässerungen werden wir Umsetzung der EU-Richtlinien einfachgesetzlich gere- entgegentreten; denn das Gleichbehandlungsgesetz darf gelt werden; das ist nun einmal so. kein Papiertiger werden, es muss einen wirksamen Schutz vor Ausgrenzung gewährleisten. Da meine neun Minuten Redezeit gleich vorbei sind, Herr Bosbach, Sie haben nach dem Lob gefragt. Ich möchte ich zusammenfassend feststellen, dass wir die will mit Lob nicht geizen, EU-Richtlinien sachgerecht umsetzen. Nur bei den Mas- sengeschäften des täglichen Lebens haben wir zusätzli- (Beifall des Abg. Hans-Christian Ströbele che Diskriminierungsmerkmale eingeführt, ansonsten [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Wolfgang werden die EU-Richtlinien eins zu eins umgesetzt. Da- Bosbach [CDU/CSU]: Nicht übertreiben!) rüber hat schon Rot-Grün lange gestritten. Herr Bosbach obwohl gestern eine große Zeitung schrieb, der größte und Herr Gehb haben den letzten Feinschliff vorgenom- Fehler des Gesetzes sei, dass die Grünen es lobten. men und noch weitere Verhandlungsergebnisse in die- sem Sinne erzielt. Ich kann jedenfalls nicht erkennen, wo (Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (B) die EU-Richtlinien im Arbeitsrecht nicht eins zu eins NEN – Lachen bei der FDP) (D) umgesetzt werden und wo die Umsetzung über das hi- Die Richtung stimmt. Unsere zentrale Forderung war nausgeht, was bereits im Betriebsverfassungsgesetz ge- immer: Das Gleichbehandlungsgesetz darf niemanden regelt ist. ausgrenzen und (Zuruf von der FDP) (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Bosbach wird von den Grünen gelobt!) – Das ist ein anderer Punkt. Es ist jedenfalls geltendes deutsches Recht. es muss klarstellen, (Wolfgang Bosbach [CDU/CSU]: Zur Sache!) Ich schließe mich den Worten meines Vorredners an und sage vielen Dank für die Gelegenheit, einmal im Zu- dass niemand wegen seiner ethnischen Herkunft, des sammenhang darzustellen, was wir eigentlich regeln. Ich Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer fände es schön, wenn ein bisschen Sachlichkeit in die Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität be- Diskussion einkehrte nachteiligt werden darf. Ich freue mich über den Zu- spruch. (Beifall bei der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) und wenn man zur Kenntnis nähme, dass es nicht darum Dieses Ziel ist offenbar erreicht. Behinderte, ältere Men- geht, Bürokratiemonster aufzubauen, sondern darum, die schen, Lesben und Schwule sowie religiöse Minderhei- EU-Richtlinien umzusetzen, und zwar möglichst schnell ten sind nun auch im Zivilrecht geschützt. Das ist ein – denn aufgrund des politischen Streits sind wir schon wichtiger gesellschaftspolitischer Fortschritt. Das ist, spät dran –, und dass unsere Regelungen sachgerecht wie die Ministerin sagte, die eigentliche Erweiterung sind. über die Richtlinie hinaus. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem Halten wir doch fest: In diesem Hause gibt es nur BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) noch eine Fraktion, die geschlossen dagegen schäumt, dass Lesben und Schwule in das Gesetz voll einbezogen werden. Es gibt nur noch eine Partei, die unbedingt errei- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: chen will, dass behinderte Menschen im Zivilrecht aus- Das Wort hat die Kollegin Irmingard Schewe-Gerigk, geschlossen bleiben, und diese sitzt hier auf der ganz Bündnis 90/Die Grünen. rechten Seite. 2940 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006

Irmingard Schewe-Gerigk (A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Das Einlenken der Koalitionsspitze im Ausschuss (C) Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das sagen Sie wi- zeigt deutlich: Das jahrelange Gezeter von Frau Merkel der besseres Wissen!) und Herrn Stoiber gegen das Antidiskriminierungsgesetz war absolut unehrlich und das rächt sich jetzt einfach. Es ist die FDP, Was haben Sie alles für Schauergeschichten über den (Zuruf von der FDP: Absolut falsch!) Untergang des Abendlandes erzählt! Dabei schafft die deutsche Bundesregierung lediglich ein Gesetz, wie es die weiter Amok gegen dieses Gesetz läuft. Meine Da- viele andere Länder in Europa längst haben. Ich muss sa- men und Herren von der FDP, für eine Partei, die sich gen: Die Wirtschaftlichkeit in diesen Ländern ist höher angeblich um Bürgerrechte kümmern will – ich kenne als in Deutschland. die Aussage noch –, ist Ihre heutige Aufführung wirklich eine Schande. Mein Appell an die Koalition: Bringen Sie Ihren Ge- setzentwurf nun endlich ein! Wir werden darüber sach- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN lich diskutieren und für jeden vernünftigen Ansatz haben und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten Sie unsere Unterstützung. der SPD) Eines möchte ich aber noch festhalten, Herr Sie haben einen einseitigen Freiheitsbegriff. Für Sie Westerwelle: Vor Wahlen versuchen Sie immer den Ein- zählt nur die Freiheit derjenigen, die etwas besitzen. Sie druck zu erwecken, Sie seien für die gleichen Rechte stehen für die nackte Ellenbogenfreiheit. von Homosexuellen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Nein, da bin Ina Lenke [FDP]: Das reicht aber jetzt!) ich bekanntermaßen sehr dagegen, Frau Kolle- Wir verstehen Freiheit umfassend. Vertragsfreiheit gin!) gilt immer für beide Seiten, für die Arbeitgeber und die Heute stelle ich fest, dass die CDU schwulen- und les- Arbeitnehmer, für die Anbieter und für die Verbraucher. benfreundlicher ist als die FDP. Vertragsfreiheit heißt eben auch: Alle Menschen müssen am Markt teilnehmen können. Keine Person darf ausge- (Widerspruch bei Abgeordneten der FDP) grenzt werden, weil sie eine dunkle Haut hat, weil sie Ich nehme das so zur Kenntnis und ich freue mich auf eine Frau ist oder weil sie angeblich zu alt ist. Wir wol- die Debatten, die wir demnächst führen werden. len Freiheit und gesellschaftliche Verantwortung, Frei- heit und Gerechtigkeit. Deshalb bedeutet Diskriminie- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (B) rungsschutz mehr Freiheit für die Bürgerinnen und sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- (D) Bürger. KEN) Auch als Wirtschaftspartei, meine Kolleginnen und Kollegen von der FDP, sind Sie nicht auf der Höhe der Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Zeit. Das Wohl der Wirtschaft hängt doch nicht davon Das Wort hat jetzt der Kollege Wolfgang Bosbach. ab, dass sie Schwule, Lesben und Menschen mit Behin- derung diskriminiert. Wolfgang Bosbach (CDU/CSU): (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Macht sie jetzt Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es gibt schon nicht!) verschiedene Möglichkeiten, eine parlamentarische Rede anzulegen. Erfolgreiche Unternehmen wissen schon längst, dass Di- versity das Erfolgsmodell der Zukunft ist. (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich versuche es einmal mit einer eher seltenen Variante: Ich schildere die Dinge einmal so, wie sie sind. Zurück zum Koalitionsvertrag. Es war sehr merkwür- dig, wie die Einigung zustande kam. Ministerpräsident (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU so- Stoiber hat eine höhere Vorsteuerpauschale für Land- wie bei Abgeordneten der SPD und des wirte herausgeschachert. Im Gegenzug hat er seinen Wi- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von derstand gegen die Aufnahme von Lesben und Schwulen der FDP: Vorsicht, Vorsicht!) in das Gesetz aufgegeben. Das war für Stoiber wohl ein Dass die FDP diese Aktuelle Stunde beantragt hat, Bauernopfer, diesmal anders herum gesehen. Es wirft kann ich verstehen. Das hätte ich an Ihrer Stelle genauso kein gutes Licht auf diese Koalition, dass sie ernsthafte gemacht. Wenn Sie es nicht gemacht hätten, wären Sie Bürgerrechtsfragen so verhandelt, als sei man auf dem Ihr Geld nicht wert. Viehmarkt in Vilshofen. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Danke!) Die Bundeskanzlerin erlebt in den letzten Tagen einen mittleren Aufstand in den eigenen Reihen. Das ist kein Herr Westerwelle hat eine feurige Rede gehalten, und Wunder. Wer jahrelang die Eins-zu-eins-Umsetzung von zwar unter vollständigem Verzicht auf eine sachliche Ar- EU-Richtlinien als höchstes Glaubensdogma gepredigt gumentation; deswegen war diese Rede so feurig. Die hat, darf sich nicht wundern, wenn jetzt die aufgehetzten Grünen loben die Union und überschreiten damit die Fußtruppen irritiert sind. Grenzen des parlamentarischen Anstands. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006 2941

Wolfgang Bosbach (A) (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU, der Grün schon selber eliminiert hat: keine Arbeitgeberhaf- (C) SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE tung für Dritte; keine Probleme bei der Auswahl bei der GRÜNEN) Erstellung von Sozialplänen wegen des Kriteriums Al- ter; Vermietung von Wohnraum; es soll möglich bleiben, Das ist jetzt fast unangenehm. sozial ausgewogene Vermietungsstrukturen zu erhalten. Das alles hatte Rot-Grün schon selber geändert. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kollege, Sie haben aber nicht erwartet, dass ich Auch die letzte Fassung ist keine Eins-zu-eins-Um- deswegen einen Ordnungsruf erteile? setzung dessen, was Rot-Grün wollte. Wir haben das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen sichergestellt. Wir (Heiterkeit) haben eine Ausschlussfrist für die Geltendmachung von Ansprüchen im arbeitsrechtlichen Teil auf drei Monate Wolfgang Bosbach (CDU/CSU): vereinbart. Nein. Dennoch wäre es gut gewesen. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Die Bürokratie In der Sache liegen die Grünen nicht ganz richtig; ist ja doch da!) denn es ist keine Eins-zu-eins-Umsetzung Inwiefern ist das eine Eins-zu-eins-Umsetzung? (Widerspruch bei Abgeordneten der SPD, der Wenn man das europäische Recht in Bezug auf die Ver- FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- jährung nach drei Jahren eins zu eins umsetzt, dann muss NEN) ein Arbeitgeber 36 Monate lang Dokumentationspflich- – Moment! – dessen, was Rot-Grün wollte, wie gerade ten erfüllen. Wer hier laut applaudiert, wenn gefordert behauptet worden ist, wird, das europäische Recht eins zu eins umzusetzen, der will die Wirtschaft mit einem erheblichen Aufwand (Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- belasten. NEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Zu- stimmung bei der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) es ist keine Eins-zu-eins-Umsetzung des europäischen Das ist die Wahrheit. Wir ändern die Frist von 36 Mona- Rechts, sondern es liegt dazwischen. ten auf drei Monate ab. Wir entlasten die Wirtschaft zu einem wesentlichen Teil und Sie sagen: Wir hätten aber (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ lieber eine Umsetzung eins zu eins gehabt. DIE GRÜNEN]: Und der Titel ist auch anders geworden! Die Überschrift ist neu!) Kommen wir zum zivilrechtlichen Teil. Da geht es um eine politische Bewertung; die muss jedermann für (B) Ich stelle mich hier nicht hin und sage: Genau so sich selber vornehmen. Ich gestehe Ihnen sofort zu, dass (D) wollte ich immer die Umsetzung des europäischen wir da über europäisches Recht hinausgehen. Ich sage Rechts in nationales Recht. Ich stelle mich auch nicht Ihnen aber auch, dass mir das Hinausgehen über das eu- hin und sage: Genau so ist der Inhalt vernünftig. Ich ropäische Recht jedenfalls an dieser Stelle nicht schwer stelle mich aber hier hin und sage: Wir haben einen fällt. Kompromiss gefunden; das ist kein fauler Kompromiss, sondern ein Kompromiss, den man mit Argumenten gut Im zivilrechtlichen Teil, bei den Massengeschäften begründen kann. des täglichen Lebens, besteht der europäische Schutz vor Diskriminierung wegen des Geschlechts, der Rasse und (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der Ethnie. Nehmen wir das Restaurantbeispiel, das die der SPD) Bundesministerin gerade erwähnt hat. Der Restaurantbe- Ich weiß nicht, ob die Grünen oder die FDP mehr Ent- sitzer könnte einen Farbigen unter Hinweis auf dessen täuschung darüber empfinden, dass die Pläne von Rot- Hautfarbe nicht abweisen – richtig so! –, Grün oder dass die Vorgaben von der europäischen (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE Ebene nicht eins zu eins umgesetzt worden sind, oder GRÜNEN]: Aber einen Behinderten!) darüber, dass sich die Koalition in einer schwierigen Frage tatsächlich geeinigt hat. Ich glaube, dass es zu die- aber einen Behinderten. Ein Freier Demokrat kann das ser Einigung gekommen ist, ist Ihre eigentliche Enttäu- mitmachen; schung. (Zurufe von der FDP: Ach!) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) ich nicht. Was beschlossen worden ist, ist nicht die Urfassung von Rot-Grün; denn Rot-Grün selber hat die Urfassung (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem aufgegeben. Es gab im Grunde drei verschiedene Geset- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Irmingard zespakete. Es gab das Urvorhaben von Rot-Grün, Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Die Aktuelle Stunde ist ein Bumerang!) (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Erst einmal Urgrün!) Ich könnte draußen nicht mit guten Argumenten erklä- ren, warum wir jemanden vor Diskriminierung wegen wenn man so will: den besonders streng duftenden Käse. seiner Hautfarbe schützen, aber wegen seiner Behinde- Diesen Käse hat Rot-Grün selber parfümiert. Rot-Grün rung nicht. hat sich im Laufe der Debatte selber geändert. Zum Teil werden heute, im Mai 2006, Dinge angegriffen, die Rot- (Iris Gleicke [SPD]: Richtig!) 2942 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006

Wolfgang Bosbach (A) Wer eine Umsetzung eins zu eins will, nimmt die Diskri- lich sein soll, sind Sie, Herr Kollege Bosbach, schuldig (C) minierung des Behinderten in Kauf. geblieben. (Christel Humme [SPD]: So ist es!) (Beifall bei der FDP – Irmingard Schewe- Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das Deswegen fällt es mir an dieser Stelle nicht schwer, da- Behindertenbeispiel war doch wohl eindeu- rüber hinauszugehen. tig! – Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Nicht zu- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie gehört!) der Abg. Irmingard Schewe-Gerigk [BÜND- – Nein! Das war keine zwingende Begründung. Er hat NIS 90/DIE GRÜNEN]) gesagt, dass er damit leben kann. Zum Verbandsklagerecht. Nun wird die Ausweitung Damit stellt sich für mich die Frage, was das Wort der des Verbandsklagerechts beklagt. Das Verbandsklage- deutschen Bundeskanzlerin wert ist. Mein Fraktionsvor- recht wird nicht ausgeweitet; das Verbandsklagerecht sitzender hat schon aus der Regierungserklärung zitiert. wird abgeschafft. Wie viele Gespräche und Telefonate Für mich ist auch entscheidend, was Frau Merkel vor der habe ich in den letzten Tagen immer nach demselben Wahl gesagt hat. Sie hat direkt nach ihrer Nominierung Muster geführt?! Zunächst kam harte Kritik an dem, was als Kanzlerkandidatin in einem Interview mit der „Bild“- vereinbart worden ist, und drei Minuten später kam die Zeitung gesagt: „Wir werden als Erstes die Dinge anpa- Bitte, doch einmal den Text zu übersenden, damit man cken, die unsere Wirtschaft behindern, an erster Stelle wisse, was vom Gesetzgeber jetzt tatsächlich geplant sei. Bürokratie und Überreglementierung. Beides können wir sehr schnell umsetzen, weil es nichts kostet. Wir (Zuruf von der SPD: Genau!) werden zum Beispiel jede europäische Richtlinie nur Ich gebe sofort zu, dass die Unkenntnis eines Sachver- noch eins zu eins umsetzen und nicht wie Rot-Grün noch halts die Bewertung des Sachverhalts wesentlich erleich- draufsatteln“. – Jetzt hören wir von Frau Schewe- tert. Gerigk: Das AGG ist im Wesentlichen rot-grün. – Das ist die Wahrheit, meine Damen und Herren! (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie der Abg. Irmingard Schewe- (Beifall bei der FDP) Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Weil Frau Merkel damals Recht hatte, verstehen wir Aber spätestens dann, wenn diese Aktuelle Stunde vor- nicht, warum man jetzt im zivilrechtlichen Teil weit über bei ist, wenn sich der Pulverdampf verzogen hat, wenn die EU-Vorgaben hinausgeht wir uns in einer sachlichen Debatte mit dem Gleichbe- (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ (B) (D) handlungsgesetzentwurf beschäftigen, werden sich viele DIE GRÜNEN]: Weil wir das Diskriminieren Bedenken – nicht alle, aber viele – als gegenstandslos er- nicht mehr möchten!) weisen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir in zwei, drei Jahren viel ruhiger und sachlicher über den Gegen- und die Liste der Merkmale – nach der Richtlinie müss- stand debattieren werden als heute in dieser Aktuellen ten das eigentlich nur die Merkmale Rasse, ethnische Stunde. Herkunft und Geschlecht sein – um die Merkmale Be- hinderung, Alter, sexuelle Identität und Weltanschauung (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie erweitert. der Abg. Irmingard Schewe-Gerigk [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der SPD: (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ Sehr gute Rede!]) DIE GRÜNEN]: Alte Menschen sollen auch nicht mehr diskriminiert werden! – Weitere Zurufe) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Ich erteile das Wort dem Kollegen Dr. Heinrich Kolb, – Nein! Das ist eben nicht so. Das wird nicht ohne Wir- FDP-Fraktion. kung bleiben – das ist auch angesprochen worden –, etwa im Einzelhandel, in der Gastronomie und in der Versicherungswirtschaft. Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (Iris Gleicke [SPD]: Hoffentlich kommt so Ich halte aus dem bisherigen Verlauf der Debatte zu- eine Wirkung!) nächst einmal fest: Der Entwurf des Allgemeinen Deswegen ist schon richtig – das muss man Frau Merkel Gleichbehandlungsgesetzes geht unzweifelhaft über das auch einmal sagen –: versprochen – gebrochen. Sie hat hinaus, was europarechtlich geboten ist; dafür habe ich sich vor der Wahl anders geäußert, als sich das jetzt nach die Kronzeugin Schewe-Gerigk und den Kronzeugen der Wahl in ihrer aktuellen Politik niederschlägt. Das Bosbach. kann nicht sein. (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der FDP) DIE GRÜNEN]: Ja, weil wir das auch wol- len!) Wenn weiter gilt, was unser Bundespräsident Horst Köhler in seiner Rede am 15. März 2005 gesagt hat, Es ist keine Eins-zu-eins-Umsetzung, und eine zwin- nämlich: „Angesichts der Lage auf dem Arbeitsmarkt gende Begründung dafür, warum dieses Mehr erforder- brauchen wir … eine politische Vorfahrtsregel für Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006 2943

Dr. Heinrich L. Kolb (A) Arbeit“, dann kann dieses Gesetz, wie es vorgelegt wor- zeigt doch, dass es sich nicht wirklich um einen Fort- (C) den ist, keine Gesetzeskraft erlangen. schritt handelt, sondern um eine Verschlechterung der ursprünglichen Vorlage. Ich will auf einige Punkte eingehen, die Sie angespro- chen haben, Herr Bosbach. Zunächst zu dieser tollen (Beifall bei der FDP – Wolfgang Bosbach Verbesserung, dass man die Unterlagen nur noch drei [CDU/CSU]: Das ist doch EU-Recht!) Monate und nicht mehr 36 Monate aufbewahren muss. Diejenigen in der Union, die noch ein Gespür dafür Das Problem ist doch nicht – verstehen Sie das nicht? –, haben, was den Mittelstand drückt, haben hier versucht, dass man die Unterlagen irgendwo hinlegt und sie da lie- etwas zu verändern: der Kollege Hinsken, der Kollege gen lässt. Das Problem ist, dass der Arbeitgeber, der eine Fuchs, sicherlich auch der Kollege Rauen, obwohl ich Stellenanzeige aufgegeben hat, sich für den Fall einer seinen Namen nicht in der Zeitung gelesen habe. Aber möglichen Klage rüsten muss, die er im Voraus über- die Vernünftigen in der Union waren offensichtlich in haupt nicht absehen kann. der Minderheit. (Wolfgang Bosbach [CDU/CSU]: Das gibt Deswegen muss man sagen: Die Union vertritt mit ih- doch Europa vor! – Dr. Jürgen Gehb [CDU/ rer aktuellen Politik nicht länger die Interessen der gro- CSU]: Das ist doch die Richtlinie!) ßen Zahl kleiner und mittlerer Unternehmen in diesem Land. Das ist doch der bürokratische Aufwand, der an dieser Stelle entsteht. (Beifall bei der FDP) Sie ist zum Wahlverein für eine Kanzlerin mutiert und (Beifall bei der FDP) nickt eine sozialdemokratisch dahergekommene, unge- Ich sehe auch ein Problem in dem Zusammenspiel des schminkte Gesetzesvorlage ohne größeres Murren ab. von Ihnen potenziell zu ändernden Kündigungsschutzge- Die Ministerin – eine weitere Kronzeugin – hat öffent- setzes mit dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz. lich erklärt, es sei im Wesentlichen das, was ursprüng- Wenn nämlich zum Beispiel in einem Vertrag eine Ver- lich vorgesehen gewesen sei. längerung der Wartezeit enthalten ist, in einem anderen, Im Ergebnis steht für mich fest: Das Gesetz ist ein beispielsweise dem eines älteren Arbeitnehmers, aber weiteres Beispiel dafür, wie Schwarz-Rot rücksichtslos nicht, ist sehr leicht glaubhaft zu machen, dass hier eine wie eine Dampfwalze über das zarte Konjunkturpflänz- Diskriminierung vorliegen könnte. Dann hat der Arbeit- chen hinwegrollt. geber die Beweislast, dass das nicht der Fall ist. Deswe- (Zurufe von der SPD: Oh!) (B) gen müssen Unternehmen sich an der Stelle warm anzie- (D) hen. Sie haben die Wirtschaft am Anfang des Jahres durch das Vorziehen der Fälligkeit der Sozialbeiträge mit Bürokra- Wir haben auch ein Problem mit – das geht eindeutig tie und Liquiditätsentzug belastet. Sie erhöhen die Mehr- über die Eins-zu-eins-Umsetzung hinaus – dem eigen- wertsteuer um 3 Prozent. Sie verschlechtern durch die ständigen Klagerecht für Gewerkschaften und Betriebs- angestrebte Änderung das Kündigungsschutzgesetz. Sie räte. Hier wird Tür und Tor für neuen Kuhhandel zwi- haben eine ideologisch motivierte Reichensteuer im Vi- schen Betriebsrat und Unternehmensleitung geöffnet, sier, bei der das Aufkommen und der Schaden für unser wie wir ihn aus dem Bereich des Betriebsverfassungsge- Land in keinem Verhältnis stehen werden. Das AGG ist setzes leider schon kennen. Dass ich noch einmal erle- ein weiterer Beweis dafür, dass die deutsche Bundesre- ben muss, dass sich die Union in diesem Haus aktiv für gierung unter Führung von Angela Merkel offensichtlich ein Klagerecht der Gewerkschaften einsetzt, hätte ich, die Wirtschaft und den Arbeitsmarkt einem Härtetest un- ehrlich gesagt, nicht gedacht. terziehen will. Anstatt den aufkeimenden Aufschwung zu hegen, gibt die Bundeskanzlerin ein ums andere Mal (Beifall bei der FDP – Jerzy Montag [BÜND- dem sozialdemokratischen Koalitionspartner klein bei, NIS 90/DIE GRÜNEN]: Die hat auch einen und zwar auch da, wo Härte in der Sache gefragt wäre. Gewerkschaftsflügel!)

Sie haben, um das vor Ihrer Fraktion zu verbrämen, Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: einen 16-Punkte-Katalog vorgelegt. Er heißt jedenfalls Wenn Sie bitte zum Schluss kommen. offiziell so; wenn man genau hinschaut, sind es nur acht Punkte. Ein Punkt ist die Verkürzung der Dokumenta- Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): tionszeit; ein zweiter ist, dass die Antidiskriminierungs- Ich fordere die Bundeskanzlerin auf, ihren Amtseid stelle jetzt in einem unionsgeführten Ministerium ange- nachzulesen, den sie vor diesem Haus geleistet hat. siedelt ist und nicht mehr, wie vorher, in einem SPD- geführten. Wenn das die Verbesserungen sind, die Sie Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. erreicht haben, dann gute Nacht! Dass gleichzeitig ein (Beifall bei der FDP) 16-köpfiger Beirat mit 16 Stellvertretern eingeführt wor- den ist, der Millionen Steuergelder zusätzlich kostet, Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Das Wort für die SPD-Fraktion hat die Kollegin NEN]: Das ist EU-Recht!) Christel Humme. 2944 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006

(A) Christel Humme (SPD): lich war und dass wir ab der nächsten Woche die parla- (C) Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe Kollegin- mentarische Beratung erneut aufnehmen und zum Ab- nen! Nach der heutigen Debatte hätte ich schon ganz schluss bringen können. Ich hoffe, dass dies – wie es die gerne gewusst, was denn die eigentliche Position der Frau Ministerin gesagt hat – in sachlicher und nicht in FDP ist. polemischer Form geschieht. Denn es ist ein guter Kom- promiss, den wir gemeinsam erzielt haben. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das können Sie in meinen Reden aus dem letzten Jahr nachle- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) sen!) Aber Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Nach den beiden Wortmeldungen, Herr Westerwelle und FDP, fahren immer noch auf die aktuelle Diskussion ab, Herr Kolb, ist mir das bei weitem nicht klar geworden. in der immer wieder reflexartig Pauschalvorwürfe erho- Denn ich habe erst letzte Woche einer Pressemitteilung ben und Horrorszenarien beschrieben werden. Ich ver- von Ihrem sozialpolitischen Sprecher folge die Debatte genau und stelle genauso wie Frau Schewe-Gerigk fest: Die FDP stellt mit ihrer Argumen- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das bin ich!) tation eine Minderheit im Bundestag dar. Folgendes entnommen – ich zitiere –: (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Menschen mit Behinderungen müssen Chancen- NEN]: Einsam!) gleichheit und eine bessere Integration und Teil- Ich sage Ihnen aber zu, dass wir Sie deswegen nicht dis- habe an der Gesellschaft erfahren. kriminieren werden. Wir werden uns mit Ihren Argu- (Christine Lambrecht [SPD]: Sonntagsrede!) menten ernsthaft auseinander setzen. Benachteiligungen sind zu beseitigen, (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Da haben Sie wirklich Recht!) (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Ist irgendje- mand dagegen?) Sie von der FDP haben heute Morgen behauptet, dass das Hinausgehen über eine Eins-zu-eins-Umsetzung der die Rechte von Minderheiten müssen gestärkt wer- Richtlinien zu einem nicht akzeptablen Bürokratieauf- den. bau und damit zu Wettbewerbsnachteilen der deutschen (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Ist dagegen je- Wirtschaft führe. Das ist ein Standardargument und für mand?) mich überhaupt nicht belegbar. Ganz im Gegenteil: Wirt- schaftwachstum und Schutz vor Diskriminierung sind So weit kann ich der FDP vollkommen zustimmen. meiner Ansicht nach keine Gegensätze. Die befürchtete (B) (D) (Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Ist zwar nicht Lähmung der Wirtschaft hat weder in Großbritannien von mir, aber trotzdem richtig! noch in Schweden, in Frankreich oder in den Niederlan- den stattgefunden. Dort gibt es schon lange eine Antidis- Ein Gesetz alleine schafft natürlich noch keine Tole- kriminierungskultur und entsprechende gesetzliche Re- ranz und keinen Respekt. Aber wenn es Ihnen ernst da- gelungen. mit ist, die Rechte von Minderheiten zu stärken, dann müssen Sie diesen Minderheiten natürlich ein Instrument (Beifall bei der SPD) an die Hand geben, mit dem sie ihre Rechte durchsetzen Für mich ist sehr wichtig: Das Gleichbehandlungsge- können. Nichts anderes machen wir, wenn wir die euro- setz wird auch einen Beitrag zu mehr Gleichstellung von päischen Richtlinien in nationales Recht umsetzen. Männern und Frauen leisten. Davon bin ich überzeugt. Ich sage Ihnen auch – das hat die Frau Ministerin dan- Frauen wird ein Mittel an die Hand gegeben, mit mehr kenswerterweise schon erwähnt –: Wir gehen dabei ganz Nachdruck für gleichen Lohn für gleichwertige Arbeit bewusst über eine Eins-zu-eins-Umsetzung hinaus. Wür- und für gerechte Aufstiegs- und Karrierechancen im Be- den wir Ihren Vorstellungen folgen, wären bestimmte ruf zu kämpfen. Helfen wird ihnen unter anderem die na- Gruppen nämlich nicht so geschützt, wie es Ihr sozialpo- tionale Gleichstellungsstelle. Ich freue mich, dass diese litischer Sprecher zu Recht fordert. Nicht geschützt wä- Stelle im Bundesministerium für Familie, Senioren, ren Menschen mit Behinderung, ältere Menschen, Frauen und Jugend angesiedelt sein wird. Ich wünsche Schwule und Lesben. dieser Stelle wie auch dem Gesetz den größtmöglichen Erfolg. An dieser Stelle sage ich Ihnen auch: Das Gesetz ist längst überfällig. Es ist der Bevölkerung und den betrof- Vielen Dank. fenen Gruppen längst nicht mehr vermittelbar, warum (Beifall bei der SPD) gerade in Deutschland diese Richtlinien noch nicht um- gesetzt worden sind, während alle anderen europäischen Staaten ausnahmslos gehandelt haben. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Das Wort hat der Kollege Markus Grübel, CDU/CSU- (Zuruf des Abg. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]) Fraktion. Ich bin über die Reden, die vorhin gehalten worden sind, sehr froh. Denn sie zeigen: Die große Koalition be- Markus Grübel (CDU/CSU): wegt etwas im Interesse der betroffenen Menschen. Ich Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen bin dankbar, dass der gestrige Kabinettsbeschluss mög- und Herren! Seit rund sechs Jahren stehen die ersten Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006 2945

Markus Grübel (A) zwei von vier europäischen Antidiskriminierungsrichtli- Aber die Union hat keine absolute Mehrheit. Von da- (C) nien im Raum. Die rot-grüne Koalition hat fünf Jahre ge- her mussten wir uns mit unserem Koalitionspartner eini- braucht, um sich auf einen Kompromiss zu einigen. Wir, gen. Wir haben durchaus Verbesserungen erreicht, die die Koalition aus CDU/CSU und SPD, haben diesen für die Anwendung eines Gleichbehandlungsgesetzes Kompromiss in fünf Monaten hinbekommen. wichtig sind. Diese Verbesserungen sind auch von Be- deutung, damit dieses Gleichbehandlungsgesetz künftig (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und eine hohe Akzeptanz in der Gesellschaft findet; denn das der SPD – Zurufe von der FDP und dem brauchen wir. Ein Gesetz, das gegen den Willen der Ge- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sellschaft angewendet wird, ist kein gutes Gesetz. – Das sage ich besonders in Richtung derjenigen, die ge- Ich möchte ein paar Beispiele nennen, Herr Kolb, wo legentlich behaupten, wir hätten zu lange gebraucht; ich wir Verbesserungen erreicht haben. erinnere an die Debatte in der letzten Sitzungswoche. Dieser Vorwurf fällt auf Sie selber zurück. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ich habe euer Papier!) Wir haben einen Kompromiss, der – wie das bei Kompromissen meistens der Fall ist – nicht alle voll be- Denn Sie haben offensichtlich nicht alle Beispiele des friedigen kann. Das hat die Debatte zweifellos gezeigt. Kollegen Bosbach verstanden. Ein Hauptproblem besteht darin, dass die EU-Richt- linien viel zu eng gefasst sind und viel zu wenig auf (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ich habe es deutsche Rechtstraditionen Rücksicht nehmen. schriftlich! Zufällig ist mir das in die Hände gelangt!) Neben dem schon bestehenden Regelungsgeflecht – es besteht in Deutschland beispielsweise ein sehr enges Re- Denken Sie an das Thema Kontrahierungszwang, an den gelungsgeflecht im Arbeitsrecht und im Mietrecht – legen Zwang, zivilrechtliche Verträge abzuschließen, zum Bei- wir ein weiteres Regelungsgeflecht in Form des Antidis- spiel an den Zwang eines Vermieters, mit einem be- kriminierungsgesetzes vor. Nutzen und Schaden einer stimmten Mieter einen Vertrag abzuschließen. Dieser Richtlinie müssen künftig viel stärker abgewogen wer- Kontrahierungszwang soll nicht im Gesetz stehen. den. Es ist die Aufgabe der Bundesregierung, von Anfang Denken Sie an den Bereich der Kirchen. Kirchen sol- an aufzupassen, dass es solche Richtlinien, die dann um- len das Personal einstellen können, das sie wollen: die gesetzt werden müssen, nicht mehr gibt. katholische Kirche Mesner und Hausmeister, die katho- (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Jürgen Gehb lisch sind, und die evangelische Kirche eine Sekretärin oder einen Sekretär im Kirchenbüro, der aus der Kir- (B) [CDU/CSU]: Gar nicht erst über Bande spie- (D) len!) chengemeinde kommt. Auch da haben wir Verbesserun- gen erreicht. Es handelt sich hier um ein Erbe der rot-grünen Regierung. Man könnte auch sagen: Es ist vergossene Denken Sie an das wichtige Thema „Abtretbarkeit Milch. Tatsache ist aber – das sage ich in Richtung FDP –: von Schadenersatz und Entschädigungen“. Diese Forde- Wir müssen die EU-Richtlinien umsetzen, ob wir wollen rungen sollen nicht, wie im früheren Entwurf vorgese- oder nicht. hen, an Verbände abgetreten werden können. Die Ver- bände hätten ansonsten ein viel zu großes (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Eins zu eins! wirtschaftliches Interesse daran gehabt, solche Forde- Das haben wir immer gesagt! Da sind wir da- rungen geltend zu machen. bei!) (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Abmahnver- Im Rahmen der Verhandlungen in der Koalition wur- eine!) den Kompromisse erzielt. Bekannt ist, dass zusätzliche Gruppen in den zivilrechtlichen Diskriminierungsschutz Es macht auch einen Unterschied, ob jemand selber als aufgenommen wurden. Aber eines ist und war immer Kläger auftreten muss oder seine Klage sozusagen an ei- klar: Der Schutz von Behinderten ist in der Union unum- nen Verband abtreten kann und dieser Verband quasi stritten. anonym bzw. abstrakt die Klage führen kann. Die jetzt vorgesehene Regelung wird eine dämpfende Wirkung (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) haben. Es wäre ein Problem, wenn das Gleichbehand- lungsgesetz eine Prozessflut auslösen würde und manche Schwerer fällt mir in der Tat zum Beispiel der Schutz dieses Gesetz als Trittbrettfahrer nutzten. beim Merkmal Weltanschauung. Die Behinderten sind eine eng umschriebene Gruppe. Beim Merkmal Weltan- Die Fristen für die Geltendmachung von Ansprüchen schauung ist es schon schwieriger, zu definieren, wer da- – Kollege Bosbach hat es angesprochen – wurden auf runterfällt und wer nicht. drei Monate verkürzt. (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist Pipifax!) NEN]: Steht im Grundgesetz!) – Das ist nicht Pipifax. Denn bei einer Eins-zu-eins-Um- Es besteht eine Grauzone bei Gruppen, die zum Beispiel setzung wären es 36 Monate gewesen. Aber eines bleibt: verfassungsrechtlich bedenklich sind und jetzt mögli- Auch wenn die FDP die absolute Mehrheit in diesem cherweise in den zivilrechtlichen Schutzbereich fallen. Hause hätte, müsste sie die Richtlinien umsetzen und 2946 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006

Markus Grübel (A) alle Kröten, die Sie angesprochen haben, schlucken. Da- Es mag ja sein, dass Frau Merkel das irgendwann einmal (C) ran kann kein Zweifel bestehen. anders gesehen hat. Ich habe zu dieser Frage eine ziem- lich eindeutige Haltung. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Birgit Homburger [FDP]: Eins zu eins! – (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Der Bundesprä- Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE sident sieht das anders!) GRÜNEN]: So viel zur Europatauglichkeit der FDP!) Herr Bosbach, ich bin froh darüber, dass wir mittler- weile auf einer sehr sachlichen Ebene arbeiten. Wir Jetzt gilt es für uns, die Richtlinien zügig umzusetzen. unterhalten uns endlich über die Ziele, die mit dem Denn in Deutschland hat kein Mensch Verständnis dafür, Antidiskriminierungsgesetz bzw. dem Allgemeinen wenn wir Tag für Tag Strafzahlungen in Höhe von Gleichbehandlungsgesetz verfolgt werden: Es geht um 900 000 Euro an die EU leisten müssen. Darum ans Menschen und um Werte. Ansonsten führen Sie doch Werk! immer gerne eine Wertediskussion. Die Würde des Men- schen ist ein Wert. Ich komme zum Schluss. Bei aller Kritik an dem jet- zigen Kompromiss sollten alle zur Kenntnis nehmen, (Dr. Carl-Christian Dressel [SPD]: Sehr rich- dass wir deutliche Schritte zum Bürokratieabbau und zu tig!) einem schlanken Umgang mit den Richtlinien erreicht Herr Montag, Sie haben vorhin dazwischen gerufen, haben. das sei schon durch das Grundgesetz geregelt. Das ist es Ich danke Ihnen. aber eben nicht. Das Grundgesetz entfaltet keine Dritt- wirkung. Das heißt, im Grundgesetz kann zwar sehr viel (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- stehen, trotzdem wirkt es beispielsweise nicht im Ver- neten der SPD) hältnis zwischen dem Gastwirt und einem Gast, der ab- gewiesen wird, weil er aufgrund seiner Behinderung Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: – das wurde schon dargestellt – mit den Füßen essen Das Wort für die SPD-Fraktion hat die Kollegin muss. Diesem Gast bringt es nichts, sich auf das Grund- Christine Lambrecht. gesetz zu berufen. Deswegen muss Schluss sein mit die- sen Sonntagsreden, wenn Sie wirklich etwas gegen Dis- kriminierung tun wollen. Christine Lambrecht (SPD): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ohne (Beifall bei der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: In den Sonntagsreden geht es bei Ihnen (B) jetzt eine Krise in der Koalition herbeibeschwören zu (D) wollen, möchte ich an dieser Stelle dem Kollegen um andere Themen!) Bosbach ausdrücklich widersprechen. Meine Damen und Herren von der Linkspartei, Herr (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Oh! – Dr. Guido Seifert, wir haben nicht eins zu eins umgesetzt, sondern Westerwelle [FDP]: Was seid ihr heute mu- gerade im zivilrechtlichen Bereich draufgesattelt. tig!) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Aha!) Er hat nämlich gesagt, Sie von der FDP seien Ihr Geld Das finde ich sehr gut und richtig. Davon bin ich voll wert. Angesichts der Beiträge aber, die Sie heute abge- und ganz überzeugt. liefert haben, ist dies beim besten Willen nicht der Fall. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das muss man (Beifall bei der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb einmal festhalten!) [FDP]: Sie müssen noch Geld mitbringen, wenn Sie so weitermachen!) Es ist eben nicht ausreichend – Herr Bosbach hat das ganz interessant dargestellt –, dass jemand wegen seiner Ich höre seit einer Dreiviertelstunde nur, es werde nicht Hautfarbe nicht diskriminiert werden kann, wegen seiner eins zu eins, sondern über die EU-Richtlinien hinausge- Behinderung aber schon. hend umgesetzt. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, es geht nicht nur darum, ob man eins zu eins (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Dann darf man oder ein Stückchen mehr oder weniger umsetzt, als in den Wählern vorher nicht die Eins-zu-eins- den Richtlinien vorgesehen. Umsetzung ankündigen!) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist schon die Herr Seifert, Sie haben vorhin gesagt, es sei nur ein Frage! Frau Merkel hat das so angekündigt!) bisschen verändert worden. Wir haben aufgenommen, dass Menschen wegen ihrer Behinderung, wegen ihrer Inhaltlich geht es hier vielmehr um Menschen, deren geschlechtlichen Identität oder wegen ihres Alters nicht Würde verletzt wurde und die aufgrund bestimmter diskriminiert werden dürfen. Sie können doch nicht sa- Merkmale diskriminiert wurden. Wir wollen diesen gen, das sei bloß ein bisschen. Es geht konkret um eine Menschen ein Instrument an die Hand geben, damit mit ganze Menge Menschen, die mit diesem Instrument die dieser Diskriminierung Schluss ist. Darum geht es, nicht Chance bekommen, sich zu wehren, die das Recht ha- um die Eins-zu-eins-Umsetzung. ben, die Achtung ihrer Würde durchzusetzen. (Beifall bei der SPD) (Zuruf des Abg. Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006 2947

Christine Lambrecht (A) Ich bin darüber verwundert, dass gerade Sie so etwas sa- uns in Deutschland ist das anders. An dieser Stelle muss (C) gen und diesen Tagesordnungspunkt zu einer Kundge- man, so glaube ich, mit berühmten Worten sprechen: bung missbrauchen, die mit dem Thema überhaupt „Hier stehe ich, ich kann nicht anders.“ Wir sind ver- nichts zu tun hat. pflichtet, diese vier EU-Richtlinien umzusetzen. Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen von der FDP- Ich hoffe, dass wir in den anstehenden Beratungen ein Fraktion, ich bin mir sicher, Sie wären die ersten, die uns hohes Niveau an Sachlichkeit erreichen. Wir müssen uns als Regierung brandmarken und triezen würden, wenn darüber unterhalten, worum es eigentlich geht. Es geht wir tägliche Strafzahlungen in Höhe von 900 000 Euro nicht darum, wer von vornherein Recht hatte und wer leisten müssten, sich um wie viele Millimeter bewegt hat, sondern darum, dass Menschen den Schutz bekommen, den sie verdie- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ihr sollt es doch nen. nur eins zu eins umsetzen und dann ist gut!) Vielen Dank. weil wir diese Richtlinien nicht fristgemäß umgesetzt (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten haben. der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Für die CDU/CSU-Fraktion spricht der Kollege Der Kompromiss, der jetzt gefunden wurde, Stephan Mayer. (Zuruf von der FDP: Ist schlimm!)

Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): ist zwar nicht das Ei des Kolumbus, aber es ist auch kein übler Kompromiss. Viele der Punkte, die jetzt kritisiert Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten und vor allem von der Wirtschaft vollkommen zu Recht Kolleginnen! Sehr geehrten Kollegen! Zunächst möchte angeprangert werden, sind – das wurde schon ausgeführt – ich positiv herausstellen, dass es in diesem Haus einen in diesen vier EU-Richtlinien originär enthalten. Ich Konsens darüber gibt, dass jegliche Diskriminierung von denke zum Beispiel an die verschuldensunabhängige Menschen wegen äußerlicher Merkmale oder Veranla- Haftung bei Nichtvermögensschäden oder an die Be- gungen unanständig und unangemessen ist. weislastumkehr gemäß § 22 des Allgemeinen Gleichbe- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) handlungsgesetzes. Dieser Konsens entspringt nicht zuletzt dem christlichen Es ist gelungen, viele Dinge, die ursprünglich im An- (B) Menschenbild und der christlichen Soziallehre, nach der tidiskriminierungsgesetz angelegt waren, herauszuver- (D) die Unverletzbarkeit der Würde des Menschen das handeln. Ich glaube, deswegen kann man mit Fug und höchste Gut ist, das es zu schützen gilt. Aus diesem Recht behaupten: Das jetzt vorliegende Allgemeine Grund ist es meines Erachtens vollkommen richtig, dass Gleichbehandlungsgesetz ist kein rot-grünes Urprodukt. sich eine Gesellschaft Regeln gibt, um Diskriminierun- Es hat nichts mit dem ursprünglichen Entwurf zu tun; es gen zu ahnden. ist ein neues Gesetz. Es ist mit Sicherheit nicht das beste Gesetz, das man sich wünschen würde, aber es ist mei- (Beifall der Abg. Iris Gleicke [SPD]) nes Erachtens ein tragfähiger Kompromiss. An dieser Stelle ist es mit der Gemeinsamkeit aber auch schon vorbei. Diese Regelungen gibt es in Deutsch- Gleichwohl gibt es mit Sicherheit in vielen Punkten land bereits. Wir haben eine sehr ausdifferenzierte noch Konkretisierungsbedarf; ich möchte dies in keiner Rechtsprechung. Ich verweise beispielsweise auf § 611 a Weise verhehlen. Es ist einem privaten Vermieter, der des Bürgerlichen Gesetzbuches. über ein Haus mit drei oder vier Wohneinheiten verfügt, nicht klar zu machen, dass er mit seinen Vermietungen (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Dann brauchen ein Massengeschäft betreibt wir das Gesetz ja gar nicht, Herr Mayer!) (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Hier liegt der grundlegende Fehler – das ist der Sünden- NEN]: Tut er auch nicht! Haben wir nie ge- fall –: Diese vier EU-Richtlinien, die es jetzt in nationa- sagt, Herr Kollege!) les Recht umzusetzen gilt, hätten in dieser Form nie ver- abschiedet werden dürfen. Der Sündenfall ist nicht in und daher behandelt wird wie eine Wohnungsbaugesell- Berlin, sondern vor langer Zeit in Brüssel passiert. schaft oder eine Ferienanlage, die per Internet Wohnun- gen vermietet. Hier besteht noch Bedarf, die Defini- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) tionen zu konkretisieren. Ich möchte das etwas differenzierter ausführen: Diese Als positiv möchte ich darstellen, dass der Kontrahie- vier EU-Richtlinien, die es jetzt in deutsches Recht um- rungszwang keinen Eingang in den zivilrechtlichen Teil zusetzen gilt, entspringen einer Rechtsposition, die der des Gesetzes gefunden hat. Der vermeintlich Diskrimi- deutschen Rechtssystematik und Rechtsgeschichte dia- nierte hat also keine Sanktionsmöglichkeit und keinen metral entgegensteht. Skandinavische und angelsächsi- Anspruch darauf, dass der Vertrag zustande kommt. sche Länder haben keine Probleme, diese vier EU-Richt- linien umzusetzen, weil ihr Antidiskriminierungsgesetz (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Aber auf Scha- diesen Richtlinien von Hause aus sehr stark ähnelt. Bei denersatz!) 2948 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006

Stephan Mayer (Altötting) (A) Ebenso möchte ich in aller Deutlichkeit auf Folgen- geschaffen, die sie unterstützt und berät. Zu den Aufga- (C) des hinweisen: Entgegen vielerlei Bekundungen gibt es ben dieser Stelle gehören die Öffentlichkeitsarbeit, die kein Verbandsklagerecht im Allgemeinen Gleichbehand- Durchführung von wissenschaftlichen Untersuchungen lungsgesetz. und die Vorlage von Berichten und Handlungsempfeh- lungen. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Natürlich! Die Gewerkschaften klagen selbst gegen den Wil- Ich freue mich sehr, sogar leidenschaftlich – ich weiß len des Betroffenen! Das habt ihr da einge- nicht, warum dieses Wort verpönt ist –, dass sich der baut!) Koalitionsausschuss auf einen Gesetzentwurf geeinigt Es wird keine Branche für vermeintliche Gutmenschen hat, in dem sämtliche Merkmale, um die es in dieser Dis- oder für Berufsquerulanten entstehen, die Deutschland kussion geht, unter Diskriminierungsschutz gestellt wer- massenhaft mit Klagen überziehen können. den. Im Zivilrecht geht er sachgerecht und mit Augen- maß über die EU-Vorgaben hinaus. Das ist, so meine ich, Genauso ist es gerade für die Arbeitgeber ein erhebli- ein großer Erfolg für uns alle, vor allem aber für die cher Fortschritt, dass vermeintlich diskriminierte Arbeit- Menschen, die wir vor Diskriminierung schützen wollen. nehmer oder Bewerber nur noch drei Monate Zeit haben, sich mit einer Klage gegen den Arbeitgeber bzw. mögli- (Beifall bei der SPD) chen Arbeitgeber zu wenden, und nicht, wie ursprüng- Die Bürgerinnen und Bürger können sich zukünftig bes- lich vorgesehen, drei Jahre. ser gegen Benachteiligungen aufgrund ihrer ethnischen Ich halte es ebenso für positiv, dass die Antidiskrimi- Herkunft, der so genannten Rasse, ihres Geschlechts, ih- nierungsstelle, die in den EU-Richtlinien ebenfalls als rer Religion bzw. Weltanschauung, ihres Alters, auf- verpflichtend vorgesehen ist, grund von Behinderungen oder ihrer sexuellen Identität wehren. Eine Beschränkung auf einzelne Diskriminie- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Aber nicht so!) rungsmerkmale wäre wirklichkeitsfremd. Wie soll es zu bei dem qualitativ hervorragend dafür geeigneten Bun- rechtfertigen sein, dass derselbe Mensch – das wurde be- desfamilienministerium angesiedelt wird. reits von Herrn Bosbach erwähnt – beispielsweise auf- grund seiner ethnischen Herkunft nicht diskriminiert und Es wird mit Sicherheit erforderlich sein, bestimmte benachteiligt werden darf, aufgrund seiner Behinderung Bereiche noch einmal auf den Prüfstand zu stellen und aber sehr wohl? Versicherungen werden Menschen mit ganz leidenschaftslos und ergebnisoffen zu diskutieren, Behinderungen in Zukunft nicht mehr ohne Angabe wie den vorgesehenen Beirat nach § 30 des Allgemeinen nachprüfbarer Gründe abweisen können. Lesben und Gleichbehandlungsgesetzes. Aber darüber kann man im Schwulen kann künftig nicht mehr der Zutritt zu Hotels (B) (D) weiteren Gesetzgebungsverfahren beraten. und Gaststätten verwehrt werden; das freut mich als Das Gesetz ist nicht so schlecht, wie es dargestellt Tourismuspolitikerin. wird. Man sollte jetzt die Wogen glätten und getrost ins Die Europäische Union versteht sich – auch das ist Gesetzgebungsverfahren übergehen. heute schon gesagt worden – nicht nur als Währungs- Herzlichen Dank. und Wirtschaftsunion. Sie ist auch eine Werteunion. Zu ihren Werten zählt auch die Nichtdiskriminierung. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) (Beifall der Abg. Iris Gleicke [SPD]) Ein Gesetz kann zwar nicht immer vor Diskriminierung Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: schützen. Es zeigt aber auf, welche Werte für eine Ge- Als Nächstes spricht die Kollegin Renate sellschaft wichtig sind. Gradistanac, SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD) Renate Gradistanac (SPD): Das Gleichbehandlungsgesetz ermutigt Benachteiligte, Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und sich zu wehren. Es gibt gute Instrumente an die Hand, Herren! Die EU-Gleichbehandlungsrichtlinien werden in gegen Benachteiligungen vorzugehen und sie zu unter- deutsches Recht umgesetzt. So steht es in unserem binden. Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz Koalitionsvertrag. Mit dem Entwurf für ein Allgemeines schützt nicht nur die Rechte der benachteiligten Bürge- Gleichbehandlungsgesetz wird dieser Auftrag erfüllt und rinnen und Bürger, sondern auch die Menschenwürde werden die vier EU-Richtlinien, wie wir meinen, nahezu von uns allen; das gefällt mir. eins zu eins in nationales Recht umgesetzt. Als Frauenpolitikerin begrüße ich ausdrücklich, dass (Beifall bei der SPD) die Antidiskriminierungsstelle beim Bundesministerium Es ist höchste Zeit, dass die EU-Vorgaben umgesetzt für Familie, Senioren, Frauen und Jugend angesiedelt ist. werden. Ich wünsche mir eine schnelle Verabschiedung Es geht hier nicht um die Frage, ob sie zum Verantwor- dieses Gesetzentwurfs. Schließlich haben wir lange Zeit tungsbereich der SPD oder der CDU/CSU gehört. Es ist auf ihn gewartet. vielmehr das dafür geeignete Ministerium, Herr Kolb. Für die Menschen, die sich benachteiligt fühlen, wird (Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Nicht nur eine unabhängig arbeitende bundesweite Anlaufstelle darauf mussten wir lange warten!) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006 2949

Renate Gradistanac (A) Aber jetzt können wir stolz auf den Gesetzentwurf sein. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Da täuschen Sie (C) sich: Er ist noch keine 25 Jahre alt!) Vielen Dank. spricht hier eine ganz deutliche Sprache; denn in diesen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten 25 Jahren sind weniger als 200 Fälle vor Gericht gelan- der CDU/CSU) det, weniger als 200 Fälle mit einem klaren Hintergrund und mit der Umkehr der Beweislast zugunsten derjeni- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: gen, denen wegen ihres Geschlechts der Zugang zu einer Als Letzter in dieser Debatte spricht der Kollege Arbeitsstelle verweigert wird. Da können Sie nicht be- Christoph Strässer, SPD-Fraktion. haupten, hier werde Bürokratie aufgebaut. Sie bauen ei- nen Popanz auf. Christoph Strässer (SPD): (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das werden wir Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und ja sehen!) Herren! Gleich zu Beginn eine Klarstellung und ein Be- kenntnis: In der letzten Stunde ist häufig erwähnt wor- – Wir werden das in der Praxis sehen, wie wir es auch im den – in formaler Hinsicht völlig zu Recht –, dass es EU- Hinblick auf § 611 a BGB gesehen haben. Richtlinien gibt, die wir umsetzen müssen. Das klingt Ihre Auffassung wird auch deutlich an dem, was Sie nach dem Prinzip: Halb trug man ihn, halb zog es ihn. in Bezug auf die Gewerkschaften gesagt haben. (Iris Gleicke [SPD]: Oh ja! – Zuruf von der (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ja! Hoffentlich!) FDP: Das heißt anders: Halb zog sie ihn, halb sank er hin!) Ich persönlich als einer, der über 20 Jahre als Anwalt tä- tig war, sage Ihnen: § 611 a BGB wäre in einem viel grö- Ich sage Ihnen – ich denke, das gilt für meine gesamte ßeren Umfang angewendet worden, wenn die Gewerk- Fraktion –: Wir müssen diese EU-Richtlinien nicht um- schaften nicht nur bei Aussicht auf Erfolg geklagt hätten. setzen, sondern wir wollen sie umsetzen, weil wir der Wir sollten froh darüber sein, dass die Gewerkschaften Auffassung sind, dass das ein ganz wichtiger Schritt in die Möglichkeit zur Klage haben – sie sollen sie auch die richtige Richtung ist. behalten –; denn sie gehen, anders als Sie glauben, ver- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten antwortlich damit um. Sie machen in der Praxis so davon des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Gebrauch, dass alle etwas davon haben und dass es an Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Hier unterschei- dieser Stelle vorangeht. den sich die Motivationslagen der Koalitions- partner allerdings doch ein wenig!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (B) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (D) – Darüber bin ich auch froh; denn sonst wären wir uns so einig, dass wir gemeinsame Veranstaltungen durchfüh- Ich möchte auch in meiner Funktion als menschen- ren könnten. rechtspolitischer Sprecher unserer Fraktion etwas zu die- sem Thema sagen. Ich bin schon erstaunt, wie wenig die (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Wir wollen keine Menschenrechte in unserer Diskussion eine Rolle spie- Fusion! Wir wollen nur eine Koalition!) len. Deshalb bin ich froh, dass wir mit diesem Gesetzent- wurf endlich die Erklärung zur Würde des Menschen der – So ist es. Deshalb freut es mich, dass deutlich gewor- Wiener Menschenrechtskonferenz vom Jahre 1993 um- den ist, an welchen Stellen wir unsere Schwerpunkte set- setzen. Darin stehen die Maßgaben, nach denen wir zu zen. handeln haben: Wir haben die Allgemeine Erklärung der Aus meiner Sicht ist es kein Widerspruch, Fragen der Menschenrechte zu berücksichtigen und die Freiheits- Antidiskriminierung und der Gleichbehandlung in einem rechte; an allererster Stelle aber steht das Gleichbehand- deutschen Gesetz zu regeln. Denn auch an anderen Stel- lungsgebot. Ich finde, es stünde uns gut an, dies, wenn len – § 611 a BGB ist bereits genannt worden – haben auch als letztes Land, endlich umzusetzen; denn Men- wir bereits klargestellt, was wir tun wollen und wie wir schenrechtspolitik – das haben wir in diesem Hohen vorgehen wollen. Die Themen Antidiskriminierung und Haus oft genug gesagt – ist nicht teilbar und nicht trenn- Gleichbehandlung gehören im deutschen Arbeitsrecht bar und gilt auch nach innen. Deshalb müssen wir dafür zur alltäglichen Praxis. Ich habe noch niemanden getrof- sorgen, dass Menschen, die behindert, homosexuell oder fen, der mir erklären kann, warum solche Bestimmungen älter sind, entsprechende Instrumente in die Hand be- nicht auch im Zivilrecht – in den Bereichen, die wir in kommen, um ihre Rechte einzufordern, wie alle anderen. diesem Gesetzentwurf aufführen – sinnvoll sein sollten. (Beifall bei der SPD) Das brächte uns einen guten Schritt nach vorne. Dadurch entsteht keine neue Bürokratie. Im Gegenteil, dadurch Sie sollten sich auch einmal die Entscheidungen des wird die Würde des Menschen gestärkt, insbesondere Europäischen Gerichtshofs in Luxemburg anschauen, derjenigen, die in dieser Gesellschaft benachteiligt sind. die in den letzten Wochen und Monaten eine Rolle ge- spielt haben. In vielen dieser Entscheidungen – ich (Beifall bei der SPD) bringe sie Ihnen einmal mit, sodass Sie sie durchsehen Ich möchte noch etwas im Hinblick auf die Gewerk- können – hat der Europäische Gerichtshof sehr deutlich schaften sagen. § 611 a BGB – er hat vor einiger Zeit gesagt, dass Diskriminierung, auch im Privatrecht, mit sein 25-jähriges Jubiläum gefeiert – der Würde des Menschen und mit der Werteordnung der 2950 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006

Christoph Strässer (A) Europäischen Union nicht vereinbar ist. Art. 6 und zes zur Änderung des Grundgesetzes (Einfüh- (C) Art. 13 des EU-Vertrages besagen dies ganz deutlich. rung von Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Unstrittig! Brauchen Sie gar nicht anzuführen! Ist abgehakt!) – Drucksache 16/680 – Deshalb wollen wir auch den Menschen in Deutschland Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) endlich Instrumentarien in die Hand geben, die ihnen Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und helfen, ihre Rechte einzufordern. Geschäftsordnung Rechtsausschuss (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Die Frage ist, wie Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union man das macht!) c) Erste Beratung des von den Abgeordneten Petra Eine kleine Polemik zum Schluss kann ich mir auch Pau, Dr. Gregor Gysi, Dr. Lothar Bisky, weiteren als ehemaliges FDP-Mitglied nicht verkneifen. Abgeordneten und der Fraktion der LINKEN ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einfüh- (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das habe ich rung der dreistufigen Volksgesetzgebung in schon nachgelesen, Herr Strässer!) das Grundgesetz – Das wissen Sie also. – Ich will ein Wort des bei Ihnen – Drucksache 16/1411 – früher ja sehr geschätzten Fraktionskollegen Joseph Fischer anführen – ich weiß nicht, wie das heute ist –, Überweisungsvorschlag: Innenausschuss (f) (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und NEN]: Hoch geschätzt!) Geschäftsordnung Rechtsausschuss der einmal im Zusammenhang mit Außenpolitik gesagt Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend hat: Wenn man einen Muffin aufpustet, ihn in den Back- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ofen stellt und reinsticht, dann kommt nur heiße Luft Zwischen den Fraktionen ist verabredet, eine Drei- raus. viertelstunde darüber zu debattieren. – Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das haben Sie mit einem Soufflé verwechselt! Eine Soufflé, Ich erteile das Wort dem Kollegen Ernst Burgbacher, kein Muffin! – Dr. Guido Westerwelle [FDP]: FDP-Fraktion. Lernt ihr Sozis denn nicht kochen?) (B) (Beifall bei der FDP) (D) So ist es, wie diese Debatte entlarvt, mit Ihrer Bürger- rechtspolitik. Schon deshalb hat sie sich gelohnt. Ernst Burgbacher (FDP): Herzlichen Dank. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In den Verfassungen aller Bundesländer gibt es inzwi- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten schen Elemente, die die direkte Mitentscheidung der Be- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) völkerung zulassen. Damit hat man in aller Regel gute Erfahrungen gemacht. In den Kommunen kennt man Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: diese Elemente sowieso. Der Stand des Grundgesetzes Die Aktuelle Stunde ist damit beendet. hierzu ist faktisch aber nach wie vor der von 1949. Die direkte Beteiligung des Volkes ist nur bei der Länderneu- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a bis 5 c auf: gliederung vorgesehen. a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Ernst Über dieses Thema wurde schon viel diskutiert. Auch Burgbacher, Gisela Piltz, Jens Ackermann, weite- in diesem Hohen Hause gab es immer wieder Ansätze, ren Abgeordneten und der Fraktion der FDP ein- das zu ändern. Ich erinnere mich an einen Gesetzentwurf gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einfüh- von Rot-Grün aus der 14. Legislaturperiode, der aller- rung von Volksinitiative, Volksbegehren und dings so spät vorgelegt wurde, nämlich erst kurz vor de- Volksentscheid in das Grundgesetz ren Ende, dass darüber nicht mehr vernünftig diskutiert – Drucksache 16/474 – werden konnte. Wir als FDP hatten damals den Versuch Überweisungsvorschlag: unternommen, einen Kompromiss herbeizuführen. Er Innenausschuss (f) wurde leider abgelehnt. Ich sage offen: Damals habe ich Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und eher zu den Skeptikern gehört; Geschäftsordnung Rechtsausschuss (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend NEN]: Wir erinnern uns!) Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union dazu bekenne ich mich. Ich will das gleich begründen. b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Wolfgang Wieland, Hans-Christian Ströbele, In der letzten Legislaturperiode hatten wir uns mit ei- Irmingard Schewe-Gerigk, weiteren Abgeordne- nem neuen Thema zu beschäftigen, nämlich mit dem ten und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE EU-Verfassungsvertrag. Wir von der FDP haben da- GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Geset- mals einen Gesetzentwurf vorgelegt mit dem Ziel, einen Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006 2951

Ernst Burgbacher (A) Volksentscheid über die EU-Verfassung durchzuführen. entscheid eingeleitet werden darf; denn wir wollen nicht, (C) Ich sage heute: Es wäre wichtig gewesen, das zu tun. Es dass direkte Demokratie dazu missbraucht wird, den liegt leider an Ihnen, dass es nicht dazu kam. Wahlkampf in eine bestimmte Richtung zu lenken. Das wäre falsch. Wenn wir darüber reden, dann bitte praxis- (Beifall bei Abgeordneten der FDP – gerecht und so, dass es nicht durch andere Dinge in ein Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- falsches Licht gerückt wird. NEN]: Ach was!) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben den Stein Wir haben das damals vorgeschlagen, weil alles andere ins Wasser geworfen. Jetzt geht es darum, dass wir das nicht durchsetzbar war. Wir müssen in diesem Haus ein sehr ernsthaft betreiben. Ich bitte Sie herzlich: Wir haben Stück weit praxisorientierte Politik machen. über verschiedene Dinge zu diskutieren, über die Quo- (Beifall bei der FDP – Jerzy Montag [BÜND- ren, die Ausnahmetatbestände und anderes. Wir alle soll- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Uns hätten Sie auf Ih- ten – das sage ich für die FDP-Fraktion ausdrücklich rer Seite!) zu – offen in die Beratungen gehen. Wir sollten in der Debatte auch keine Hürden aufbauen, die man hinterher Einiges wurde inzwischen weiterentwickelt. Wir ha- nicht mehr überspringen kann. Denn wir wissen: Das ben Erfahrungen in den Ländern und in den Kommunen, Grundgesetz lässt direktdemokratische Elemente zu, die wertvoll sind. Gespräche mit Organisationen wie aber dazu müssen wir das Grundgesetz ändern. Dafür „Mehr Demokratie“ und anderen haben uns neue Argu- brauchen wir in diesem Haus eine Zweidrittelmehrheit. mente geliefert, die wir natürlich berücksichtigen. Meine Erfahrung mit der Föderalismusreform, die am Schluss Ich schaue jetzt zu den Kolleginnen und Kollegen von an zwei oder drei Leuten gescheitert ist, hat mir gezeigt, der Union. Manche von Ihnen haben mit uns gestimmt, dass es in manchen Fällen die Möglichkeit geben muss, als es darum ging, einen Volksentscheid über die EU- dass das Volk den Parlamentariern, vor allem den Regie- Verfassung möglich zu machen. Ich weiß: Auch bei Ih- rungen Beine macht. Deshalb habe ich meine Meinung nen gibt es Diskussionen. Wir sollten die Debatte so füh- geändert. Wenn man zu einer Meinungsänderung ren, dass wir nicht von vornherein das Tor zumachen; kommt, sollte man das auch umsetzen. vielmehr sollten wir das Tor ein Stück weit öffnen, so- dass wir auch aus dem Lager der Union mehr Zustim- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten mung bekommen. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wie schon gesagt, hat man in der 14. Legislatur- Es geht nicht darum, die Gesetzgebung durch das Par- periode den Fehler gemacht, dass man den Gesetzent- lament zu ersetzen, sondern darum, diese Gesetzgebung wurf am Ende der Legislaturperiode vorgelegt hat. Des- zu ergänzen. Es geht ferner darum, verkrustete Struktu- (B) (D) wegen haben wir unseren Gesetzentwurf zu Anfang der ren ein Stück aufzubrechen. Es geht darum, Bürgern Legislaturperiode eingebracht. Damit haben wir den mehr Möglichkeiten zu geben, sich direkt am politischen Stein ins Wasser geworfen. Es freut mich, dass die Grü- Geschehen zu beteiligen. Ich bin ein Anhänger der re- nen und die Linke nachgezogen haben. Auf Initiative der präsentativen Demokratie; ich will sie nicht grundsätz- FDP liegen jetzt drei Gesetzentwürfe vor. Damit können lich ändern. Aber ich will sie um das Instrument der wir nun arbeiten. Volksgesetzgebung, der Volksinitiative, des Volksbegeh- rens und des Volksentscheids, ergänzen. Nach meiner Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben uns für festen Überzeugung können wir damit unsere Demokra- ein dreistufiges Verfahren entschieden – darin stimmen tie stärken; nach meiner festen Überzeugung und der wir alle eigentlich überein –: Volksinitiative, Volksbe- Überzeugung meiner Fraktion können wir damit unsere gehren, Volksentscheid. Dabei sehen wir ganz unter- Demokratie ein Stück weit aktiver, erlebbarer machen schiedliche Quoren vor, auf die ich nicht im Einzelnen und bürgerschaftliches Engagement stärken. Deshalb eingehen will. Es stellt sich natürlich die Frage, wie hoch bitte ich Sie herzlich, mit uns eine offene und unvorein- man die Hürden setzt. Die Hürden sollten schon so hoch genommene Diskussion zu führen, damit wir zu einer sein, dass es nicht jeden Tag eine Initiative gibt. Aber sie gemeinsamen Lösung kommen. Nur darum kann es ge- dürfen nicht so hoch sein, dass sie nicht übersprungen hen. werden können. Deshalb haben wir Quoren gewählt, die sich aufgrund unserer Erfahrungen als sinnvoll erwiesen Herzlichen Dank. haben, was uns Experten bestätigen. (Beifall bei der FDP) Eine weitere Frage ist, ob wir Volksentscheide zu be- stimmten Themen ausschließen oder ob wir Volksent- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: scheide zu allen Themen zulassen. Wir waren beim Aus- Das Wort erhält der Kollege Ingo Wellenreuther, schluss von Themen sehr restriktiv. Wenn es aber um CDU/CSU-Fraktion. Ausgaben geht, dann soll auch ein Deckungsvorschlag gemacht werden. Ansonsten – darüber sind wir uns in Ingo Wellenreuther (CDU/CSU): diesem Hause weitgehend einig – sind Abgabengesetze Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Haushaltsgesetze ausgenommen. und Kollegen! Herr Burgbacher, schon vielfach – das ha- Ich bitte Sie, auch über folgenden Punkt nachzuden- ben Sie zu Recht ausgeführt – hat sich der Deutsche ken: Wir haben in unserem Gesetzentwurf vorgesehen, Bundestag mit dem Thema einer stärkeren Beteiligung dass drei Monate vor einer Bundestageswahl kein Volks- des Volkes an der Gesetzgebung beschäftigt. Die 2952 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006

Ingo Wellenreuther (A) aktuelle Debatte um Plebiszite ist deswegen zunächst zu Der zweite Grund gegen Plebiszite sind die immer (C) begrüßen, weil diese Frage diesmal weder aus wahltakti- komplexer werdenden Fragestellungen unserer pluralisti- schen Gründen und unter Zeitnot noch anlässlich eines schen Gesellschaft. Um diesen gerecht zu werden, ist ein Einzelfalls diskutiert und debattiert wird. Die Einfüh- ausgewogenes, auf Kompromissbereitschaft basierendes rung von Plebisziten auf Bundesebene ist sowohl eine Entscheidungs- und Gesetzgebungsverfahren erforder- verfassungsrechtliche als auch eine politische Grund- lich. Im Gegensatz zu Plebisziten können im parlamenta- satzfrage, die nicht für Wahltaktik missbraucht werden rischen Verfahren verschiedene Interessen, insbesondere darf, sondern in Ruhe und vor allem sachlich diskutiert auch die von Minderheiten, berücksichtigt und gewichtet werden muss. Auch da gebe ich Ihnen Recht. werden: durch Beratungen im Plenum und in Ausschüs- sen, Berichterstattergespräche und Sachverständigenan- Aber an der Diskussion, Herr Burgbacher, stört mich, hörungen. Bei Volksentscheidungen ist dieses ausgewo- dass den Gegnern von Plebisziten immer wieder populis- gene Verfahren nicht möglich, denn dabei geht es tisch unterstellt wird, sie hielten die Bevölkerung für letztlich nur um die Frage „Ja oder nein?“. nicht in der Lage, ihre Meinung sachgerecht zu äußern. (Ernst Burgbacher [FDP]: Das habe ich aber Der dritte Grund liegt darin, dass Plebiszite die ver- nicht getan!) fassungsrechtlich garantierte föderale Grundstruktur un- seres Staates beeinträchtigen. Art. 79 Abs. 3 des Grund- – Das haben Sie nicht getan, aber dieses Argument hört gesetzes garantiert die grundsätzliche Beteiligung der man öfter. Länder an der Gesetzgebung. Bei der Volksgesetzge- Außerdem stört mich, dass von den Befürwortern von bung bliebe die Beteiligung dieser Länderinteressen au- Plebisziten der Eindruck erweckt wird, als sei nur die ßen vor. Die vorliegenden Gesetzentwürfe sehen zwar unmittelbare Demokratie die wahre Demokratie, ein All- die Möglichkeit der Konkurrenzvorlage durch den Bun- heilmittel gegen Politikverdrossenheit und das jetzige destag vor, nicht aber durch den Bundesrat. Sie enthalten System der repräsentativen Demokratie sei im Gegen- zwar eine Länderklausel, aber das ist keine inhaltliche satz dazu eine minderwertige Form der Demokratie, ein Mitgestaltung der Länder im Sinne des Grundgesetzes, geschichtliches Versehen, das endlich korrigiert werden sondern eine reine Formalie. müsse. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Wer so argumentiert, verkennt, dass uns das mit guten NEN]: Dann können Sie ja Vorschläge ma- Gründen gewählte System der parlamentarisch-repräsen- chen, wie es besser geht!) tativen Demokratie über 50 Jahre hinweg eine nicht zu unterschätzende politische Stabilität in Deutschland be- – Machen wir. (B) (D) schert hat. Lassen Sie mich deshalb sechs Gründe nen- Viertens. Plebiszite bergen die Gefahr der weiteren nen, die gegen Plebiszite und für unsere repräsentative Abwertung des Parlaments. Seien wir einmal ehrlich: Demokratie sprechen. Der Deutsche Bundestag hat schon heute kräftig gegen Erstens. Plebiszite bergen die Gefahr des Miss- Bedeutungsverlust zu kämpfen. Dies hängt mit Europa brauchs und der politischen Destabilisierung. Für diese zusammen, mit der Normenflut der europäischen Institu- Bedenken und Vorbehalte gibt es Beispiele aus unserer tionen, mit einer Föderalismusreform, bei der der Bund deutschen Geschichte. In der Weimarer Republik haben den Ländern zu Recht weitere Zuständigkeiten überträgt, Volksabstimmungen das Land politisch aufgewühlt und und schließlich mit der gestiegenen Neigung, politische gespalten Debatten in Talkshows anstatt im Plenum auszutragen. Kämen jetzt noch Plebiszite hinzu, sei die Frage erlaubt, (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- über welche wichtigen Fragen das Parlament überhaupt NEN]: Das ist falsch!) noch eigeninitiativ zu entscheiden hätte. Die großen und letztlich mit zu deren Scheitern beigetragen, Herr Stunden des Parlamentes wären Vergangenheit, über die Wieland. Schicksalsfragen der Nation würde woanders entschie- den, Herr Wieland. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Das ist wirklich falsch!) (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Meine Güte! – Jerzy Montag [BÜND- – Lesen Sie es nach! NIS 90/DIE GRÜNEN]: Er hat so gut ange- (Lachen des Abg.Wolfgang Wieland [BÜND- fangen!) NIS 90/DIE GRÜNEN]) Fünftens. Durch Plebiszite besteht die Gefahr, dass Im Dritten Reich wurden Volksbefragungen dazu miss- sich Parlamentarier ihrer Verantwortung entziehen und braucht, die diktatorischen Entscheidungen des Nazire- insbesondere unpopuläre und sensible Fragestellungen gimes nach außen demokratisch legitimiert erscheinen einer Entscheidung des Volkes überließen. zu lassen, wie etwa 1933 der Austritt aus dem Völker- bund oder 1938 der Anschluss Österreichs. Der Parla- Sechstens bergen Plebiszite die Gefahr, dass Sachfra- mentarische Rat hat sich daher ganz bewusst und strikt gen nicht nach sachbezogenen Gesichtspunkten ent- zur parlamentarisch-repräsentativen Demokratie und ge- schieden werden. Es ist auch zu befürchten, dass sich das gen Plebiszite bekannt, als er 1948/49 das Grundgesetz Volk und der Einzelne von Stimmungen und subjektiver ausgearbeitet hat. Betroffenheit leiten lassen, Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006 2953

Ingo Wellenreuther (A) (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- wichtige gesetzliche Regelungen nicht mehr selbst ent- (C) NEN]: Also das Volk ist dumm! Sagen Sie es scheiden soll, sondern die Verantwortung abgibt? Das doch ruhig!) hat mir bis jetzt noch niemand erklären können. vor allem deswegen, weil organisierte und öffentlich- (Beifall bei der CDU/CSU) keitswirksame Lobbyarbeit noch mehr Einfluss erhalten Auch eine Steigerung der Beteiligung an Wahlen und könnte als heute schon. Populismus, Stimmungsmache, Abstimmungen tritt dadurch nicht ein. Ich weiß, dass schlagwortartige Parolen können die Entscheidung über Vergleiche nur schwer möglich sind, aber hier lohnt sich Sachfragen zum unsachlichen Abstimmungskampf de- einmal ein Blick in die Schweiz. Dort liegt die Wahlbe- gradieren. teiligung meist unter 50 Prozent. Sie ist also niedriger als (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) in jedem anderen demokratischen Land. Das zeigt: Di- rektdemokratische Elemente können kontraproduktiv Herr Wieland, was Sie gerade dokumentieren, entspricht wirken und die Gefahr der Wahlmüdigkeit nimmt sogar genau dem, was ich vorhin gesagt habe und was mich zu. Insgesamt glaube ich, dass es ein Trugschluss ist, sehr stört: Sie versuchen, mit Totschlagargumenten dass die Politikverdrossenheit mit der Einführung von Stimmung zu machen. mehr direkter Demokratie überwunden werden könnte. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Liebe Kolleginnen und Kollegen, oft zeichnen die Be- NEN]: Das ist das Fazit Ihrer Rede: Gut ge- fürworter der direkten Demokratie ein unrealistisches nug, die CDU zu wählen, aber nicht, um eine Bild nach dem Motto: In der Mitte des Volkes entsteht Abstimmung durchzuführen!) ein Gesetzentwurf, es folgt eine breite gesellschaftliche Außerdem können und wollen nur wenige Bürger sich sachliche Diskussion, jeder stimmberechtigte Bürger be- schon allein aus Zeitgründen mit einer oftmals umfang- teiligt sich, wägt alle Argumente intensiv ab und ent- reichen und fachlich schwierigen Materie intensiv aus- scheidet auf dieser Grundlage nach objektiven Kriterien, einander setzen. In der Gesamtschau sind das alles wobei er das Allgemeinwohl und die Minderheiten ganz Gründe gegen eine Ausweitung der unmittelbaren De- fest im Blick hat. – Ich glaube, mit der politischen Wirk- mokratie und zugleich ein Plädoyer für unser bewähr- lichkeit von direktdemokratischen Entscheidungen hat tes parlamentarisch-repräsentatives System. dieses Bild nur sehr wenig zu tun. Ich will noch zwei der gängigsten Argumente anspre- Lassen Sie mich zusammenfassen: Die Ergänzung un- chen und entkräften, die von Anhängern von Plebisziten serer repräsentativen Demokratie um plebiszitäre Ele- immer wieder erhoben, deshalb aber trotzdem nicht mente auf Bundesebene, die Sie angesprochen haben, (B) stichhaltiger werden: Herr Burgbacher, würde die Wesenszüge unserer Demo- (D) kratie meines Erachtens verändern. Ich kann nur raten: Erstens. Angeblich werden mit direktdemokratischen Unterschätzen wir nicht die Gefahr des Populismus, der Verfahren sowohl in anderen Staaten als auch auf Lan- in Plebisziten steckt, schätzen wir unsere geschichtli- desebene und kommunaler Ebene positive Erfahrungen chen Erfahrungen nicht gering und überschätzen wir gemacht. nicht deren Bedeutung im Kampf gegen die Politikver- (Ernst Burgbacher [FDP]: Absolut!) drossenheit. – Herr Burgbacher, Sie haben es angesprochen. Was an- Deshalb plädiere ich dafür, unser ausgewogenes par- dere Staaten anbelangt, ist ein Vergleich wegen gravie- lamentarisches Verfahren und unseren starken Föderalis- render Unterschiede meines Erachtens nahezu unmög- mus wertzuschätzen. lich. Das betrifft sowohl die Größe der Bevölkerung als Ich danke Ihnen – auch Ihnen, Herr Wieland. auch die jeweilige Tradition von Plebisziten als auch den Staatsaufbau. (Beifall bei der CDU/CSU) (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Dann schaffen wir eine Tradition!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Als Nächster hat der Kollege Dr. Lothar Bisky für die Was den Vergleich der Bundesebene mit der Landes- Fraktion Die Linke das Wort. ebene und der kommunalen Ebene angeht – ich kann es beurteilen; ich sitze auch im Gemeinderat –, ist zu sagen: (Beifall bei der LINKEN) Man darf nicht verkennen, dass die politischen Fragen in den Kommunen und in den Ländern regional und sach- Dr. Lothar Bisky (DIE LINKE): lich viel besser überschaubar sowie weniger komplex Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mehr sind. Insgesamt hinken diese Vergleiche gewaltig. direkte Demokratie steht zur Debatte. Herr Burgbacher, ich bin froh, dass wir in gemeinsam mit der Zweitens wird mit Plebisziten angeblich der Politik- FDP bereits die direkte, die dreistufige Volksgesetzge- verdrossenheit und dem Vertrauensverlust der Politiker bung durchgesetzt haben. Im Übrigen geschah das auch entgegengewirkt. Ich warne davor, die Wirkung von Ple- gemeinsam mit dem damaligen Bündnis 90. Es funktio- bisziten insoweit zu überschätzen. Vor allem erscheint niert. mir dieses Argument geradezu unlogisch. Warum soll das Vertrauen in Politik und das Parlament eigentlich ge- Herr Wellenreuther, auch damals hörte ich Reden von nau dann gesteigert werden, wenn das Parlament über der CDU, in denen die Gefahren beschworen wurden. 2954 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006

Dr. Lothar Bisky (A) Diese sind aber nicht eingetreten. Sie können Ihre Kolle- Sie und uns wird nicht jedes Ergebnis einer Volksini- (C) gen in der CDU fragen. Natürlich ist das die Landes- tiative, eines Volksbegehrens oder eines Volksentscheids ebene und wir sprechen hier über die Bundesebene. Alle erfreuen. Die Linksfraktion im Berliner Abgeordneten- Gefahren und auch manche Wunder, die sich einige er- haus kann davon ein Lied singen. Dennoch hat kürzlich hofft hatten, sind aber eben nicht eingetreten, sondern es Die Linke gemeinsam mit anderen Fraktionen einen Ge- ist zu einem vernünftigen Umgang der Bürgerinnen und setzentwurf in das Abgeordnetenhaus eingebracht, der Bürger und, wie ich denke, auch der Politiker mit diesem die demokratischen Mitwirkungsmöglichkeiten der Ber- Instrument gekommen. Ich bin froh, dass jetzt drei Frak- linerinnen und Berliner erweitert; und das ist gut so. tionen mehr direkte Demokratie fordern. Wir können in (Beifall bei der LINKEN) diesem Parlament gar nicht genug sein. Ich hoffe, dass uns eine sachliche Diskussion zu einer vernünftigen Lö- Wir haben nicht nur in Berlin erfahren und verinner- sung bringen wird. licht, dass jeder Zuwachs an demokratischen Verfahren die Kluft zwischen politisch Verantwortlichen und dem (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. eigentlichen Souverän verkleinert. Die Ablehnung der Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- europäischen Verfassung in Frankreich und den Nieder- NEN]) landen – das ist heute schon mehrfach erwähnt worden – Wir wollen den Bürgern auf Bundesebene mehr di- und die katastrophal niedrige Wahlbeteiligung in den rekte Einflussmöglichkeiten verschaffen. Das richtet vergangenen Wochen – die Wahlbeteiligung in Thürin- sich eben nicht gegen die parlamentarische Demokratie. gen am vergangenen Sonntag lag bei nur rund 42 Prozent – zeigen: Wir müssen schleunigst und umfas- (Ernst Burgbacher [FDP]: Richtig!) send handeln. Dazu wurde von drei Fraktionen dieses Ich sehe das als eine untrennbare Einheit und ich möchte Hauses ein Vorschlag auf den Tisch gelegt. mich nicht weiter auf die Gegensatzdiskussion einlassen. Vor gut 16 Jahren stand ich auf dem Alexanderplatz Ich komme aus einem Land, in dem es eine Zivilge- und hörte, wie ein späterer Alterspräsident des Deut- sellschaft, wenn überhaupt, nur marginal gegeben hat, schen Bundestages erklärte – ich zitiere –: und ich möchte in einem Land leben, in dem zivilgesell- Es ist, als habe einer die Fenster aufgestoßen … schaftliches Engagement nicht nur geduldet, sondern auch bewusst gefördert wird. Die Worte waren von . Er wollte am 4. November 1989 unter anderem den Wunsch ausdrü- (Beifall bei der LINKEN) cken, dass Bürgerinnen und Bürger endlich ernst genom- Meine Damen und Herren von der FDP und den Grünen, men werden, dass vielfältige, auch direkte Mitentschei- (B) gerade deshalb wollen wir im Unterschied zu Ihnen nicht dungsmöglichkeiten, dass mehr direkte und indirekte (D) nur Gesetzesvorlagen zum Gegenstand der dreistufigen Demokratie in der Gesellschaft Einzug halten. Volksgesetzgebung machen, sondern auch politische (Zuruf des Abg. [CDU/CSU]) Entscheidungen zur Debatte stellen. Es geht zum Bei- spiel um Fragen der Privatisierung. Die Bürgerinnen und – Bei Stefan Heym kenne ich mich ganz gut aus. Lassen Bürger müssen nach unserer Auffassung die Möglichkeit Sie uns heute gemeinsam die Fenster ein Stück weiter haben, bei wichtigen politischen Fragen mitzureden. Ich aufstoßen. wünsche mir, dass sie in die Lage versetzt werden, deut- Ich bedanke mich. licher zu erklären, was sie bei bestimmten Themen poli- tisch wollen. (Beifall bei der LINKEN) Natürlich schwächt das nicht die parlamentarische Demokratie; denn die Antworten, die dort auf bestimmte Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Fragen gegeben werden, werden dann ja im Parlament Als Nächster spricht der Kollege Maik Reichel, SPD- umgesetzt .Ich will jetzt nicht der Versuchung unterlie- Fraktion. gen, konkrete Fragen zu nennen; denn dann stellt sich die Frage, ob man sie positiv oder negativ formulieren Maik Reichel (SPD): soll. Das ist nach meinem Dafürhalten Aufgabe für Ex- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und perten. Dafür gibt es Psychologen und Soziologen, die Kollegen! Heute liegen uns drei Anträge vor, die wir in genau wissen, wie man eine Frage formuliert, damit man erster Lesung beraten und die zum Inhalt die Einfüh- eine gültige und zuverlässige Antwort bekommt. rung einer dreistufigen Volksgesetzgebung auf Bun- desebene haben, nämlich Volksinitiative, Volksbegehren Dennoch sage ich: Ich bin dafür, den Bürgerinnen und und Volksentscheid. Bürgern solche Fragen zu stellen, also direkt über eine politische Sachfrage abstimmen zu lassen. Jede Fraktion In der Bundesrepublik Deutschland gibt es seit Be- hätte nach unserem Vorschlag die Möglichkeit, den Bür- ginn der Existenz unseres Landes Bestrebungen, eine gerinnen und Bürgern eine Sachfrage zur Entscheidung solche Volksgesetzgebung einzuführen. 1948 – das ist vorzulegen. Das würde den Wahlkampf revolutionie- gerade genannt worden – hat der Parlamentarische Rat ren. Nicht mehr Versprechungen, an die sowieso immer auf diese Möglichkeit zur direkten Beteiligung im Hin- weniger glauben, stünden im Vordergrund, sondern die blick auf die deutsche Geschichte bewusst verzichtet. von den Fraktionen gesetzten Themen würden eine grö- Stattdessen wurde die repräsentative parlamentarische ßere Rolle spielen. Demokratie eingeführt. Ein zweites Mal, 1976, schei- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006 2955

Maik Reichel (A) terte die Einführung einer größeren Bürgerbeteiligung, Betrachten wir eine Ebene darunter: Ein Blick auf die (C) als die dafür eingesetzte Enquete-Kommission dieses 16 deutschen Bundesländer zeigt, dass dort – wenn Ansinnen ablehnte. Auch nach der Einheit Deutschlands auch in unterschiedlicher Ausgestaltung – Volksabstim- zu Beginn der 90er-Jahre war der Versuch, Volksabstim- mungen möglich sind. In den Länderverfassungen zu mungen zu ermöglichen, nicht von Erfolg gekrönt. Viele verschiedenen Zeiten verankert, stellt diese Form der di- von Ihnen, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ha- rekten Demokratie einen wesentlichen Bestandteil de- ben diesen Prozess begleitet. mokratischen Umgangs mit den Bürgerinnen und Bür- gern dar. Unser Grundgesetz bietet dafür – das haben wir be- reits festgestellt und das wird auch in den Anträgen er- (Iris Gleicke [SPD]: Sie ist auch erfolgreich!) wähnt – die verfassungsrechtliche Grundlage. In Art. 20 des Grundgesetzes steht der deutliche Satz: – Das muss man sagen. – Von dieser Möglichkeit wurde und wird unterschiedlich rege Gebrauch gemacht, bei Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. unterschiedlichem Erfolg für die jeweiligen Initiatoren. Ergänzend heißt es: Bis zum Jahr 2002 gab es allein in Bayern 40 solcher Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmun- Abstimmungen, in Brandenburg 21, in Mecklenburg- gen … ausgeübt. Vorpommern 15, in Hessen 14, in Nordrhein-Westfalen zehn und in Baden-Württemberg nur vier. Diese Aufzäh- Seit nunmehr fast sechs Jahrzehnten hat sich die auf lung ließe sich weiter fortsetzen. dem Grundgesetz aufbauende parlamentarisch-repräsen- tative Demokratie bewährt. Zumindest auf Bundesebene Es gibt viele Bürgerbewegungen oder -initiativen auf ist die direkte Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger kommunaler wie auch auf Landes- und Bundesebene, noch nicht eingeführt, auf kommunaler und Landes- die deutlich den Willen der Bevölkerung zeigen, sich ak- ebene aber schon. tiv für die Gesellschaft einzusetzen und sie mitzugestal- ten. Wir beklagen gerade in dieser Zeit zu Recht die all- mähliche Politikverdrossenheit unserer Bürger, die sich Sie alle, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ha- sehr unterschiedlich darstellt: Teilnahmslosigkeit bei po- ben vor wenigen Tagen Post von der Aktion Volksab- litischen Sachthemen, Desinteresse und – das ist gerade stimmung erhalten, die sich für die Einführung von angesprochen worden; es bedrückt uns alle – die sin- Volksabstimmungen stark macht. Die heutige Debatte kende Wahlbeteiligung. Letztere zeichnet sich seit eini- wird längst nicht mehr nur auf innerparlamentarischer gen Jahren deutlich ab. Das zeigen die Bundestagswah- Ebene geführt. (B) len wie auch die Wahlen auf Landesebene. Ganz allein stehen die außerparlamentarischen Be- (D) In meinem Heimatland Sachsen-Anhalt sank die strebungen nicht, hat doch bereits die Enquete-Kommis- Wahlbeteiligung von 71,5 Prozent im Jahr 1998 auf sion „Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements“ des 56,5 Prozent im Jahr 2002 und auf 44,4 Prozent am 14. Deutschen Bundestages festgestellt – ich zitiere –: 26. März dieses Jahres. Wie wir eben gehört haben, lag Bürgerschaftliches Engagement steht in enger Ver- die Beteiligung an der Kommunalwahl in Thüringen bindung mit Teilhabe- und Mitgestaltungsmöglich- noch etwas niedriger; sie ist auf 42 Prozent gesunken. keiten. Demokratie ist nun einmal auf eine aktive, verantwor- Die Empfehlung der Enquete-Kommission lautete, die tungsbewusste und vor allem interessierte Mitarbeit von Beteiligungsrechte zu stärken und neue Beteiligungs- Bürgerinnen und Bürgern angewiesen. Das Verantwor- möglichkeiten zu schaffen. tungsbewusstsein sollte sich nicht nur auf einen Urnen- gang alle vier Jahre beschränken. In den vergangenen 58 Jahren sind die guten Gründe, Wenn wir jetzt über eine durchaus sinnvolle Verlänge- die für eine stärkere Bürgerbeteiligung sprechen, auf un- rung der Wahlperiode des Deutschen Bundestages von terschiedlicher Ebene in allen Bereichen der Gesell- vier auf fünf Jahre diskutieren, dann müssten damit auch schaft thematisiert und erörtert worden. Ich glaube, dass stärkere Einflussmöglichkeiten der Bevölkerung einher- eine solche Beteiligung, wenn sie in einem entsprechen- gehen. den gesetzlichen Rahmen erfolgt, einer sich breit ma- chenden Ohnmacht gegenüber der Politik entgegenwir- (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ken kann. NEN]: Allerdings! Das ist gekoppelt!) Es sei ein Blick auf die Jüngeren in unserem Land ge- Ein europaweiter Vergleich zeigt, dass in den meisten stattet. Das Desinteresse an Politik und politischem Han- Ländern Volksentscheide mit Volksinitiativen und Volks- deln scheint mir bei ihnen sehr stark ausgeprägt. Ande- begehren eingeleitet werden. Das bekannteste System rerseits erleben wir aber bei bestimmten aktuellen hat die Schweiz. Volksabstimmungen gibt es unter ande- Anlässen ein starkes, spontanes Engagement. Gerade rem auch in Österreich und Italien. Dabei finden wir die diese jungen Menschen sind es, die in den nächsten Jah- unterschiedlichsten Regelungen hinsichtlich der Min- ren und Jahrzehnten unsere Gesellschaft gestalten wer- destbeteiligung, der Quoren. Diese dienen dazu – das den. Die frühe Einbindung – auch in demokratische halte ich für besonders wichtig –, dem Missbrauch von Strukturen – ist dabei ein nicht zu unterschätzender Fak- Volksabstimmungen vorzubeugen. tor. 2956 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006

Maik Reichel (A) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten habe in meiner Stadt erlebt, dass ein solches Verfahren (C) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) das Interesse an der Mitgestaltung des Gemeinwohls steigen lässt. Die Menschen gehen bewusster mit man- Der Wunsch der jungen Leute danach ist spürbar. Dafür chen Entscheidungen um und versuchen, sich einzubrin- müssen entsprechende Formen gefunden werden. gen. Darin liegt eine sehr große Chance, eine höhere Ak- (Beifall bei der SPD) zeptanz der politischen Entscheidungen zu erreichen und Politikverdrossenheit, die wir alle täglich erleben, abzu- Ich weiß, dass es in der Frage der Einführung von bauen. Aber wir müssen auch bereit sein, die Bürgerin- Volksinitiativen, Volksbegehren und Volksentscheiden nen und Bürger teilhaben zu lassen. viele Argumente Pro und Kontra gibt. Einige sind bereits angesprochen worden. Auch ich kann mich mancher Be- Ich habe auf unterer Ebene Menschen erlebt, die sich fürchtung nicht entziehen, habe ich selbst doch bereits für eine Sache einsetzen, die sich über das normale Maß zwei solcher Volksentscheide auf unterschiedlichen Ebe- hinaus engagieren. Jeder von Ihnen kennt sicherlich ge- nen erlebt. Der eine liegt noch nicht lange zurück; es war nügend Beispiele. Einige der Initiatoren des Bürgerent- vor einem Jahr auf Landesebene – in Sachsen-Anhalt –, scheids in meiner Stadt sitzen heute im Stadtrat, einer der letzten Endes gescheitert ist. davon sogar als mein zweiter stellvertretender Bürger- meister. Er und andere tun mit, und das auf konstruktive Wesentlich intensiver und nachhaltiger für mich war Art und Weise. Ich weiß natürlich, dass man so etwas ein Bürgerentscheid auf kommunaler Ebene in meiner nicht einfach auf Bundesebene umsetzen kann. Aber ich Heimatstadt Lützen, wo ich die Ehre habe, Bürgermeis- glaube, dass dieses Beispiel Möglichkeiten und Chancen ter sein zu dürfen. Im Laufe der Wochen und Monate, in einer Volksabstimmung aufzeigt. denen ich diesen Bürgerentscheid mit vorausgegange- nem Bürgerbegehren begleitet habe – sozusagen von der Uns liegen nun drei Gesetzentwürfe vor. Alle gehen anderen Seite, also von der Seite, die wir alle hier wahr- von einer dreistufigen Volksbeteiligung – Volksinitia- scheinlich einmal kennen lernen werden –, konnte ich tive, Volksbegehren und Volksentscheid – aus. Die Frak- das Für und Wider eines solchen Entscheides erleben. tion des Bündnisses 90/Die Grünen hält sich in ihrem Ich erkenne mitunter die Bedenken an, die von Kritikern Gesetzentwurf im Wesentlichen an den rot-grünen Ge- geäußert werden. Angeführt wird immer – nicht so sehr setzentwurf aus der 14. Legislaturperiode. Das will ich hier im Haus, wohl aber außerhalb – die fehlende Kom- nicht verhehlen. petenz der Menschen, die sich beteiligen sollen; denn alle müssen in die Lage versetzt werden, den Hinter- (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- grund einer Entscheidung zu verstehen. Überblicken NEN]: Eben! Das erwarten wir von Ihnen denn alle Beteiligten das Thema und die Folgen? Wird auch!) (B) (D) der Bürger also richtig und sachlich informiert? Was ist, Die Volksinitiative soll den Bürgerinnen und Bürgern er- wenn sich das Parlament – in diesem Fall der Stadtrat – möglichen, eine Gesetzesvorlage einzubringen, über die bei einem unliebsamen Thema vor der eigenen Verant- dann im Bundestag mit Anhörungsrecht debattiert wird. wortung drückt? Was geschieht bei fehlenden aufgezeig- Die Zahl der Mindestbeteiligung liegt bei den Grünen ten Alternativen durch die Initiativen? Ein weiterer Kri- und der FDP bei 400 000 und bei der Linksfraktion bei tikpunkt ist die mitunter mangelhafte Beteiligung der 100 000 Wahlberechtigten. Wahlberechtigten. Hinsichtlich der möglichen Inhalte solcher Initiativen (Vorsitz: Vizepräsidentin ) – einige sind schon genannt worden – liegen ähnliche Dann drängt sich mir der Gedanke auf, dass die bloße Ansätze vor, ohne dass man genauer darauf eingeht. Ich Auswahl zwischen Ja und Nein zu einfach gedacht ist. glaube, gerade hier gibt es noch gehörigen Klärungsbe- Tendenziell wird eine Frage zumeist so gestellt, dass darf, was alles im Rahmen einer Volksabstimmung mög- man sie logischerweise sofort mit Ja beantworten muss. lich sein darf. Ist das immer zielführend? Das alles sind Dinge, die mir durch den Kopf gegangen sind. Wenn ich mir alle drei Gesetzentwürfe anschaue, dann stelle ich fest: Die vorgeschlagenen Beschlussfris- (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ten des Bundestages bei einer Volksinitiative reichen von NEN]: Mit welchem Ergebnis?) sechs bis acht Monaten. Auch die vorgeschlagenen Pro- – Darauf komme ich noch zu sprechen. zentklauseln einer erfolgreichen Beteiligung bei einem Volksbegehren liegen mit knapp 1,7 Prozent – das ist der Die angeführten Argumente – es gibt sicherlich noch Vorschlag der Linksfraktion – und 10 Prozent deutlich wesentlich mehr – sprechen für mich jedenfalls nicht ge- auseinander. Hier besteht ebenfalls großer Klärungsbe- gen die Einführung eines Volksentscheids. darf. Die vorgeschlagenen Fristen für die Entscheidung des Bundestages über ein erfolgreiches Volksbegehren (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- liegen bei drei bzw. sechs Monaten. Auch bei den Quo- NEN]: Gut!) ren für den Volksentscheid gibt es natürlich Unter- Es handelt sich vielmehr um Dinge, die es in der Ausein- schiede zwischen den drei Gesetzentwürfen. Bei der andersetzung mit den Menschen vor Ort zu klären gilt. Linksfraktion reicht die Mehrheit der abgegebenen Stim- Daran sollte meiner Meinung nach – ich spreche hier men ohne Mindestbeteiligung. Bei der FDP und den ganz sicher auch für meine Fraktion – die Einführung ei- Grünen müssen es mindestens 15 Prozent sein. Das ist ner Volksabstimmung nicht scheitern. Ich persönlich die Bandbreite, über die wir noch diskutieren müssen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006 2957

Maik Reichel (A) Einen Zusatzpunkt enthält der Gesetzentwurf der Das Wort hat nun der Kollege Wolfgang Wieland für (C) Linksfraktion. Dort heißt es in Art. 82 c Abs. 4: die Fraktion der Grünen. Drei Wochen nach Festlegung des Wahltermins zum Deutschen Bundestag hat jede Fraktion des Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Bundestages das Recht, eine Sachfrage zur Abstim- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Dies ist mung am Wahltermin vorzuschlagen. … Der ge- – es wurde hier mehrfach gesagt – wahrlich nicht die wählte Bundestag ist für seine Wahlperiode an die erste Debatte über dieses Thema in diesem Hause und es Entscheidung der Bürgerinnen und Bürger in diesen sind wahrlich nicht nur ganz unbekannte Argumente ge- Fragen gebunden. wesen, die wir hier gehört haben. Aber, Herr Kollege Herr Kollege Bisky, Sie haben darauf hingewiesen, dass Burgbacher, ohne jede Häme: Über Spätbekehrte freut der Wahlkampf dadurch interessanter werde. Ich stelle man sich immer am meisten. Wir freuen uns darüber, mir das auch interessant vor, halte es aber für wenig dass die FDP nunmehr fest an der Seite der Befürworter durchdacht, das miteinander zu verquicken. der direkten Demokratie und der Volksgesetzgebung steht. (Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]: Da hätte man Sie jetzt auf die Mehr- (Zuruf des Abg. Ernst Burgbacher [FDP]) wertsteuer festgenagelt!) Wir hätten es sogar noch besser gefunden, wenn die Op- – Ich habe damit keine Probleme. Das gebe ich doch zu. position vorher darüber geredet und eventuell eine ge- meinsame Initiative gestartet hätte. Sie haben am Wo- Es wird noch einige Diskussionen geben. Ich stelle es chenende Ihren Parteitag. Man las, dass Sie dort über mir sehr schön vor, an einem Wahlsonntag dort zu sitzen, direkte Demokratie reden wollen. Das finden wir gut. wenn wir neben der Bundestagswahl – manchmal kom- Wir finden, dass es immer nötig ist, Demokratie auf eine men sogar noch Landtagswahlen oder Kommunalwahlen breitere Basis zu stellen. hinzu – fünf Abstimmungen über die Vorschläge von fünf Fraktionen haben. Dann greift die Linksfraktion mit Das alles jedoch ist für uns nicht entscheidend. Ent- Art. 82 b in ein fast abgeschlossenes Verfahren ein, in- scheidend ist, dass es in dieser Legislaturperiode endlich dem sie die Möglichkeit eröffnen will, ein bereits be- zu dem überfälligen Schritt hin zur direkten Demokratie schlossenes, aber noch nicht ausgefertigtes Gesetz durch kommt. die sehr geringe Beteiligung von nur 500 000 Wahlbe- rechtigten wieder zu kippen. Das ist ein unpraktikables Dazu liegt einiges auf dem Tisch. Wir werden eine Mittel und führt nicht zum Ziel. Vertrauensfrage der besonderen Art zu behandeln ha- (B) ben. Das letzte Jahr stand im Zeichen einer anderen Ver- (D) Auch wenn nicht alles, was hier vorgeschlagen trauensfrage. Ein Teil von Ihnen wird sich schmerzlich wurde, nutzbringend ist, so wurde doch mit den jetzt ein- daran erinnern. Jetzt stellt sich die Frage, welches Ver- gebrachten Gesetzentwürfen eine neue Grundlage für trauen wir eigentlich in den Souverän, in das Volk haben. weitere Gespräche gelegt. Es wird Diskussionen geben. Ihre Antwort darauf, Herr Wellenreuther, war sehr nega- Die SPD – das kann ich sagen – ist dazu bereit. Auch die tiv: Sie haben so gut wie gar kein Vertrauen. Das Volk Kolleginnen und Kollegen unseres Koalitionspartners kann das nicht, es versteht das nicht, es ist Opfer von werden sich diesen Diskussionen sicherlich nicht ver- Demagogen und von Populisten. Politik ist viel zu kom- schließen. plex geworden, als dass wir sie in Form der Frage „Ja (Beifall des Abg. Rüdiger Veit [SPD]) oder nein“ zur Abstimmung stellen könnten. Wenn wir in die jüngere Geschichte zurückblicken, dann Das ist nicht unser Bild. Das ist wahrlich auch nicht stellen wir fest, dass es bereits verschiedene Anträge aus die Erfahrung, die in den Ländern – das wurde zu Recht allen Fraktionen gab, auch einen, der vor Jahren von der von den Kollegen der SPD erwähnt – gemacht wurde. PDS gestellt worden ist. Heute liegen drei auf dem Das ist vor allem nicht die Erfahrung, die in den Kom- Tisch. Im Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und munen gemacht wurde. Inzwischen kennen alle Landes- SPD haben wir uns darauf verständigt, die – ich zitiere – verfassungen die Volksgesetzgebung. Inzwischen wird „Einführung von Elementen der direkten Demokratie“ sie bundesweit mit sehr guten Erfolgen kommunal zu prüfen. Damit liegen die besten Voraussetzungen vor, durchgeführt. Dennoch stellen Sie sich als – ich darf das einen gemeinsamen Weg zu gehen. Die Koalition wird sagen – noch recht junger Mensch hierhin und beschwö- sich auch in dieser Frage ihrer Verantwortung stellen. ren wieder einmal die Geister von . Weimar ist nicht an der direkten Demokratie gescheitert; Weimar ist Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. leider an ganz anderem gescheitert. (Beifall bei der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP und der LIN- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: KEN) Herr Kollege Reichel, das war Ihre erste Rede in die- sem Haus. Ich beglückwünsche Sie dazu sehr herzlich Die Volksbegehren, die es dort geben sollte, kamen und wünsche Ihnen für Ihre weitere Arbeit alles Gute. wegen zu hoher Quoren nicht zustande; auch das muss man im Gedächtnis behalten. Es sollte um Fragen wie (Beifall) Fürstenenteignungen und Militärausgaben – Stichwort 2958 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006

Wolfgang Wieland (A) „Panzerkreuzerbau“ – gehen; doch das ist an den Zu- Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (C) stimmungsquoren gescheitert. Ich bringe wirklich nur diesen Satz zu Ende. – Er un- terschrieb gegen die Umbenennung einer Straße in Ich ziehe daraus einen ganz anderen Schluss: Funk- „Rudi-Dutschke-Straße“, obwohl er nicht unterschrifts- tionierbar gemachte direkte Demokratie gibt dem Volk berechtigt war. Das Tröstliche ist: Direkte Demokratie die Möglichkeit, zu gestalten, und zwar nicht anstelle ist lernbar. Diese Anträge sind eine gute Chance, sich da- oder als Ersatz des Bundestages, sondern ergänzend. Sie mit vertraut zu machen. gibt dem Volk das Bewusstsein, etwas in diesem Land bewirken zu können. Die schlechten Wahlbeteiligun- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gen, von denen Sie gesprochen haben, haben wir doch, sowie bei Abgeordneten der LINKEN) obwohl wir keine Volksgesetzgebung auf Bundesebene haben. Das sind doch alles Erscheinungen, die schon da Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: sind. Daher muss klar sein: Wir vertrauen auf den Sou- Das Wort hat nun der Kollege Gert Winkelmeier. verän; wir geben ihm mehr Möglichkeit, mitzugestalten und mitzureden. Gert Winkelmeier (fraktionslos): (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir beraten heute über die Bedeutung von Volksabstim- Wie Sie richtig gesagt haben, Herr Kollege, haben wir mungen in unserer Demokratie. Nach dem Willen der hier den unter Rot-Grün erarbeiteten Gesetzentwurf ein- Oppositionsfraktionen soll das Grundgesetz dahin ge- gebracht. Obwohl es mit , Herr Kollege hend geändert werden, dass künftig auch auf Bundes- Benneter, nicht immer ganz einfach war, stehen wir zu ebene Volksinitiativen, Volksbegehren und Volksent- jeder Zeit zu unserer rot-grünen Vergangenheit in diesem scheide gesetzgeberischen Einfluss ausüben können. Haus. Wir wollen Ihnen auch die Zustimmung zu dem, Knapp 57 Jahre nach der Verabschiedung des Grundge- was wir vorgelegt haben, erleichtern. Um den etwas du- setzes wird es Zeit, unsere parlamentarisch-repräsenta- biosen Satz „Was gestern richtig war, kann heute nicht tive Demokratie weiterzuentwickeln. Den Bedürfnissen falsch sein“ einmal zu variieren: Das, was gestern Ihre der Bevölkerung nach mehr direkter Demokratie im Billigung hatte, kann heute nicht nur deswegen falsch 21. Jahrhundert ist Rechnung zu tragen. Diese Weiter- sein, weil Sie einen noch zu überzeugenden – nach dem, entwicklung muss durch neue Beteiligungsrechte ge- was wir hier gehört haben, scheint das ein weiter Weg zu schehen. In Meinungsumfragen befürworten über sein; aber wir stehen ja am Anfang dieser Legislaturperi- 80 Prozent der Menschen in Deutschland die Einführung ode und haben noch Zeit – Koalitionspartner haben. der bundesweiten Volksabstimmung. Mit dieser Einfüh- (D) (B) Ich gestehe der CDU/CSU-Fraktion auch zu – die rung verwirklichen wir auch ein Stück des real verwirk- „Bild“-Zeitung schrieb gestern „Schauder-Kauder“ – lichten Freiheitsbegriffes. (Zuruf des Abg. Reinhard Grindel [CDU/CSU]) Unter den Abgeordneten sind auch Mitglieder des Vereins „Mehr Demokratie e. V.“. Einige gehören der – ja, gemeint war der große Bruder von Siegfried Regierungspartei SPD an. Rot-Grün hat bereits in der Kauder; die „Bild“-Zeitung differenziert da nicht –, dass 14. Wahlperiode einen Gesetzesentwurf zur Volksgesetz- sie diese Woche einige Dinge schaudernd schlucken gebung eingereicht. Die Hürden waren aus meiner Sicht musste: das Antidiskriminierungsgesetz – Nachbeben zwar viel zu hoch, doch es war damals ein Schritt in die waren eben noch zu spüren –, die Reichensteuer und richtige Richtung. Wenn die Kolleginnen und Kollegen Weiteres. Jetzt werden Sie denken: Und nun sollen wir der SPD es wirklich ernst meinten, dann wäre jetzt die auch noch „direkte Demokratie“ schlucken. richtige Zeit, Einfluss auf ihren Regierungspartner zu nehmen, damit die CDU/CSU die Volksgesetzgebung Ich mache Ihnen zum Schluss Hoffnung: Da, wo es in nicht länger blockiert. Es wird allerhöchste Zeit, dass der den Kommunen Elemente der direkten Demokratie gibt, Bundestag zu der Einsicht findet, dass Volksabstimmun- sind die Konservativen, die CDU/CSU oft vorn. Sie ha- gen ein wichtiges Instrument sind, weil Menschen ganz ben hier in Berlin gegen die Einführung des Bürgerent- direkt Verantwortung für Politik in unserem Land über- scheides auf kommunaler Ebene erbittert gestritten. nehmen wollen. Kaum war er gegen Ihren Willen da, waren die CDUler die Ersten, die Bürgerbegehren gestartet haben. Damit treten wir auch einer Volksverdrossenheit ent- gegen. Die Beteiligung an Bundestagswahlen nimmt im- mer mehr ab. Am 18. September 2005 war sie mit Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: 77,7 Prozent so niedrig wie nie. Herr Kollege, denken Sie bitte an Ihre Redezeit. Eine kürzlich in Rheinland-Pfalz erstellte Jugendstu- die ergab, dass die 14- bis 18-jährigen Jugendlichen eine Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): große Distanz zu den Parteien haben. Sie favorisieren Nur noch ein Wort zu Friedbert Pflüger: – lösungsorientiertes Handeln. Drei Viertel der Jugendli- chen sind frustriert, weil sie glauben, dass sie keine Chance haben, Politik real zu beeinflussen. Dieses Be- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: wusstsein können wir durch mehr direkte Demokratie Sie sind am Ende Ihrer Redezeit. verändern. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006 2959

Gert Winkelmeier (A) Deshalb dürfen die Hürden nicht so hoch sein. Das gefordert, dem Bürger das vermeintliche Angebot zu (C) Erfordernis von 100 000 Unterschriften für Volksinitiati- machen, sich mit Gesetzesinitiativen an uns zu wenden. ven und von 1 Million Unterschriften unter ein Volksbe- gehren muss auch ein Signal sein, dass es möglich ist, (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- eine Volksinitiative bzw. ein Volksbegehren durchzufüh- NEN]: Ein tatsächliches Angebot, kein ver- ren. Ein Volksbegehren, das eine Verfassungsänderung meintliches!) anstrebt, benötigt sogar 2 Millionen Unterschriften. – Herr Kollege Wieland, es ist eben kein tatsächliches Beim Volksentscheid bedarf es einer Mindestzustim- Angebot; es ist ein Feigenblatt. Wenn ich mir die Ent- mung von einem Viertel der Stimmberechtigten. würfe der drei Oppositionsfraktionen ansehe, komme ich Wir sollten den Mut zur Volksgesetzgebung und Ver- zu dem Ergebnis, dass dies Etikettenschwindel ist, weil trauen in die Bevölkerung haben. Das ist grundsätzlich damit nicht mehr Volksdemokratie ausgelöst wird. Das ein guter Politikansatz. Er stärkt zivilgesellschaftliches Einzige, was Sie erreichen würden, meine sehr verehrten Engagement. Das ist unser Interesse. Damen und Herren, wäre letztlich eine Minderheitende- mokratie in Deutschland. Vielen Dank. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Es würden sich aktive, engagierte Interessenverbände zu Wort melden. Glauben Sie denn ernsthaft, dass sich in Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Deutschland plötzlich Freundeskreise zusammenfinden Das Wort hat nun für die CDU/CSU-Fraktion der würden, um Gesetzesinitiativen zu starten? Kollege Stephan Mayer. (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es gibt doch viele davon!) Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine werten Kolle- Nein, die Situation wäre doch die: Verbände, Lobbyis- ginnen! Sehr geehrte Kollegen! Wir Deutsche können ten, Interessenverbände würden versuchen, Partikular- auf die parlamentarisch-repräsentative Demokratie mit interessen mit einer Volksinitiative zu erreichen. Fug und Recht stolz sein. Die parlamentarisch-repräsen- (Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]: tative Demokratie hat uns mittlerweile über 55 Jahre Die sind im Moment alle machtlos!) eine Periode der Stabilität in Deutschland beschert. Gleichwohl muss uns klar sein, dass Demokratie nicht Der Antrag der Linken hat, wie ich finde, mit demo- gottgegeben ist und dass Demokratie und demokratische kratischen Strukturen überhaupt nichts mehr zu tun. Er (B) Strukturen auch immer wieder erkämpft werden müssen. beinhaltet, dass schon 100 000 Unterschriften von Wahl- (D) berechtigten ausreichen, um eine Volksinitiative zu star- Eines muss uns ebenso klar sein: Demokratie lebt von ten, um einen Gesetzesantrag an den Bundestag zu rich- der Mitwirkung der Bürgerinnen und Bürger. Es darf uns ten. 100 000 Wahlberechtigte entsprechen gerade einmal alle hier im Hause nicht ruhig lassen, dass die Politik- 2 Promille der deutschen Wahlberechtigten insgesamt. verdrossenheit – vielleicht auch die Politikerverdros- senheit – in Deutschland immer größer wird. (Sevim Dagdelen [DIE LINKE]: Schon mal was von Minderheitenrechten gehört?) (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Ja!) Da kann man wirklich mit Fug und Recht von einem Feigenblatt sprechen. Vor allem mich als jungen Abgeordneten beschäftigt es durchaus, wenn ich in einer Umfrage des Emnid-Insti- Nein, wir als Politiker sind gefordert, unserem Auf- tuts lese, dass nur noch 3 Prozent der deutschen Bevöl- trag wieder gerecht zu werden. Sehen Sie ins Grundge- kerung Vertrauen in die deutschen Politiker haben. Die setz. Art. 21 des Grundgesetzes fordert uns als Parteien Frage ist nur, welcher Weg der richtige ist, um die Bür- auf, an der politischen Willensbildung des Volkes teilzu- gerinnen und Bürger in Deutschland wieder stärker an nehmen. die Demokratie und an die Politik heranzuführen. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ich habe viele Gespräche mit Bürgerinnen und Bür- NEN]: Aber doch nicht mit Alleinvertretungs- gern in meinem Wahlkreis und auch bei Veranstaltungen anspruch!) hier in Berlin. Nie wird mir der Eindruck vermittelt, dass die Bürger ein Gesetzesinitiativrecht haben wollen, dass Wir müssen wieder stärker Bodenhaftung bekommen. sie sich mit Gesetzentwürfen unmittelbar an den Bun- Wir müssen auf die Bevölkerung zugehen und das auf- destag wenden wollen. Was die Bürgerinnen und Bürger nehmen, was sie uns an die Hand gibt. in Deutschland wollen und ganz vehement einfordern, Eine Erweiterung von plebiszitären Elementen im ist, dass wir hier im Hause, aber auch alle anderen politi- deutschen Grundgesetz wäre mit Sicherheit eine Steil- schen Ebenen in Deutschland eine authentische, eine vorlage für eine zusätzliche Stimmungs- und Mei- ehrliche Politik betreiben. nungsmache. Populisten und Demagogen würden sich (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) auf den Plan gerufen fühlen. Herr Kollege Wieland, ich frage Sie: Wenn es so ist, dass man durch eine verstärkte Wir sind gefordert, meine sehr verehrten Damen und Aufnahme plebiszitärer Elemente in Landesverfassun- Herren, uns wieder zum Bürger zu bewegen, und nicht gen oder kommunalen Satzungen das Interesse der 2960 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006

Stephan Mayer (Altötting) (A) Bevölkerung an der Politik erhöht, warum ist dann die aus die Möglichkeit, Gesetzesinitiativen in den Deut- (C) Wahlbeteiligung bei vielen Landtagswahlen und Kom- schen Bundestag einzubringen. munalwahlen – bei den Bundestagswahlen nicht so sehr – Nein, meine sehr verehrten Damen und Herren, wir in den letzten Jahren desaströs eingebrochen? Es ist also als Parteien sind in der Verantwortung, zu absorbieren, nicht so, dass man durch die Aufnahme plebiszitärer was die Bevölkerung, was die Bürgerinnen und Bürger Elemente in Verfassungen automatisch eine Steigerung in Deutschland denken und wollen, und das entspre- des Interesses der Bevölkerung an der Politik erreicht. chend in den Deutschen Bundestag einzubringen. Des- Meines Erachtens ist sogar das Gegenteil der Fall. wegen halte ich, gelinde gesagt, nichts von solchen (Beifall bei der CDU/CSU) Gesetzesinitiativen, wie sie von den drei Oppositions- fraktionen hier eingebracht werden. Wir werden sie Was Sie vorschlagen, ist ein Feigenblatt. Es besteht trotzdem in aller Sachlichkeit und Nüchternheit behan- die eklatante Gefahr der Manipulation. Ich bin sehr wohl deln. der Meinung, dass wir eine aktive Bürgergesellschaft brauchen, dass wir eine moderne Zivilgesellschaft in (Ernst Burgbacher [FDP]: Offenheit!) Deutschland erreichen müssen, dass wir die Bevölke- Wir alle – das möchte ich abschließend noch einmal rung wieder stärker dazu aufrufen müssen, sich in die festhalten – sind gefordert, uns damit auseinander zu set- Verantwortung zu begeben. zen, wie wir die Bevölkerung, die Bürger wieder stärker an die Politik heranführen können, wie wir sie wieder Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: stärker zu nachhaltiger und stetiger Verantwortung in Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Deutschland bewegen können. Kollegen Winkler? (Beifall bei der CDU/CSU)

Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Gern. Ich schließe die Aussprache zu diesem Punkt. Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzent- Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- würfe auf den Drucksachen 16/474, 16/680 und 16/1411 NEN): an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse Herr Kollege Mayer, ich habe eine Frage, da ich weiß, vorgeschlagen. Gibt es dazu andere Vorschläge? – Ich dass Sie aus Bayern stammen. Was Sie eben alles aufge- sehe, das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisun- zählt haben – Bühne für Demagogen, Populisten usw. –, gen so beschlossen. (B) würde ja eine Gefahr auch auf Landesebene bedeuten. (D) Aber Sie haben in Bayern doch selber die Erfahrung ge- Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf: macht, dass die Möglichkeiten überhaupt nicht in dieser Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ Art und Weise missbraucht werden, sondern im Gegen- CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines teil die Bevölkerung sehr verantwortlich mit diesem In- Investitionszulagengesetzes 2007 (InvZulG strument umgegangen ist. Wie stehen Sie denn dazu? 2007) Das ist ja nicht in einen Sachzusammenhang mit dem zu bringen, was Sie gerade gesagt haben. Oder wollen Sie – Drucksache 16/1409 – vielleicht in Bayern jetzt die Verfassung ändern, damit Überweisungsvorschlag: dieses Instrument dort herausgenommen wird? Finanzausschuss (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Herr Kollege Winkler, ich habe es ja schon ausge- Haushaltsausschuss führt: Die Bürgerinnen und Bürger interessieren sich an sich nicht für die Möglichkeit, Bürgerbegehren, Volks- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die begehren zu starten. Wer sich tatsächlich aus reinen Par- Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich tikularinteressen dafür interessiert, sind nun einmal spe- höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlos- zielle Interessenverbände, Aktivistengruppen, sen. (Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Kollegin Simone Violka, SPD-Fraktion. NEN]: Die CDU Friedrichshain-!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten die dieses Instrumentarium ganz bewusst ausnutzen. Ich der CDU/CSU) sehe die große Gefahr, dass wir als politische Parteien und als Parlamentarier insgesamt den Anschein erwe- Simone Violka (SPD): cken, dass wir uns aufgrund der Möglichkeit der Volks- Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! initiative, die wir geschaffen haben, nicht mehr selbst Wie Sie alle wissen, läuft das Investitionszulagengesetz um Gesetzesinitiativen oder das, was das Volk wirklich 2005 zum Ende des Jahres 2006 aus. Trotz der nach wie bewegt und wirklich interessiert, so stark kümmern; vor nicht zufrieden stellenden Lage in den neuen Län- denn rein formal hätte die Bevölkerung dann von sich dern im Hinblick auf Arbeitsplätze und Produktivität Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006 2961

Simone Violka (A) sollten wir den Blick auf die sichtbaren Erfolge aber Wir brauchen in den neuen Ländern weiterhin die (C) nicht verlieren. Nicht zuletzt durch die so genannte I-Zu- Investitionsförderung zum Aufbau einer stabilen Wirt- lage konnten sich in den vergangenen Jahren konkur- schaft. Dieses Anliegen wird auch von vielen gesell- renzfähige und innovative Unternehmen ansiedeln und schaftlichen Gruppen wie Wirtschaftverbänden und Ge- entwickeln. werkschaften massiv unterstützt. Das ist auch gut so; denn eine verlässliche Wirtschaftsförderung schafft Ver- Mein Dank gilt den vielen, die bereit waren und auch trauen in Deutschland und in die EU. Deshalb soll die weiterhin bereit sind, sich in diesen Regionen so stark zu Förderung betrieblicher Investitionen in Betrieben des engagieren. Dabei wurden viele Arbeitsplätze geschaf- verarbeitenden Gewerbes und bestimmter produktions- fen, die auch zukünftig den Menschen dort eine Perspek- naher Dienstleistungen in den Jahren 2007 bis 2009 im tive bieten. Doch der unglaubliche wirtschaftliche Um- Rahmen dieser Gesetzesinitiative fortgesetzt werden. wälzungsprozess seit 1989 hat mehr Arbeitsplätze Dabei stehen natürlich die eben genannten Bereiche im gekostet, als bisher aufgefangen werden konnten. Des- Vordergrund. halb ist eine Fortführung dieses so erfolgreichen Instru- mentes unabdingbar und wurde im Koalitionsvertrag be- Ein großer Erfolg ist es aber, dass erstmalig auch das reits festgeschrieben. Beherbergungsgewerbe in den Genuss dieses Förderin- strumentes kommen kann. Für viele Regionen in den (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) neuen Ländern ist das besonders wichtig, weil sich durchaus tragfähige Konzepte im Bereich des Tourismus Der heute einzubringende Gesetzentwurf dient der als Wirtschaftskraft entwickeln lassen. Das gilt meist für Schaffung einer Nachfolgeregelung für das auslaufende Gegenden, wo es in absehbarer Zeit nicht zu einem Auf- Gesetz. Er soll die Investitionszulage auf hohem Niveau bau anderer Wirtschaftsbereiche kommen wird. Damit über 2006 hinaus bis Ende 2009 festschreiben. Dabei sollen die Chancen der geförderten Regionen im Wettbe- können wir nicht unbeachtet lassen, dass die Anforde- werb um Ansiedlungen weiter gestärkt und bestehende rungen der Europäischen Kommission an die Beihil- Standortnachteile vermindert werden. feregelungen gestiegen sind. Das ist auch gut so; denn es ist wichtig, die Rentabilität verschiedener Instrumente Gerade auch in Grenzgebieten ist das nach wie vor von Zeit zu Zeit zu überprüfen. Nur so kann verhindert ein wichtiger Punkt. Ich komme aus Sachsen – zwei Au- werden, dass ein einst durchaus notwendiger Einsatz ßengrenzen zu neuen Mitgliedern in der EU! – und weiß, verschiedener Mittel und Wege im Laufe der Zeit nicht wie schwer es in diesen grenznahen Räumen schon jetzt nur nutzlos, sondern im Extremfall sogar kontraproduk- ist, den Menschen eine wirtschaftliche Perspektive zu tiv wird. Im Fall der Investitionszulage ist das derzeit gewähren. Wir brauchen aber positive wirtschaftliche Entwicklungen, damit Menschen auf der Suche nach Ar- (B) aber nicht der Fall. (D) beit und einer lebenswerten Infrastruktur nicht ihre Hei- Unsere reale wirtschaftliche Situation vor Ort hat sich mat verlassen müssen. doch nicht verbessert, nur weil Regionen, denen es noch Eines bedingt dabei das andere: Eine Ausdünnung der schlechter geht, neu in die Europäische Union dazuge- Bevölkerung hat zur Folge, dass auch das gesellschaftli- kommen sind. Das mag ja in Statistiken abstrakt so dar- che Umfeld abgebaut wird. Schulschließungen, weniger stellbar sein; in der Realität haben die Menschen aber Kulturangebote, weitere Wege usw. sind dabei häufig die nichts davon. Daher bin ich sehr froh, dass in diesem Folge und machen Regionen unattraktiv. Das hat wie- Punkt ein Kompromiss mit der Europäischen Kommis- derum zur Folge, dass sich Menschen dort nicht ansie- sion gefunden werden konnte. Mein Dank gilt an dieser deln oder weiter weggehen. Daraus folgt, dass dort keine Stelle auch unserem deutschen EU-Kommissar, Günter Unternehmen angesiedelt werden, weil ein Fachkräfte- Verheugen, der in Brüssel ein verlässlicher Partner ist, mangel herrscht. Diese Spirale muss aufgehalten wer- wenn es um die Wahrung deutscher Interessen geht. den. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Ein Mosaiksteinchen dabei ist das Förderinstrument der Investitionszulage. Ich weiß, dass durch das Auslau- Dennoch: Beihilfen werden von Brüssel generell fen des alten Gesetzes bis zum In-Kraft-Treten des jetzt misstrauisch beäugt, egal in welchem Land sie gewährt vorgelegten Entwurfes eine Förderlücke entstanden ist. werden. Deshalb ist es wichtig, vor Ort sehr verantwor- Unser Ziel war es daher, eine einvernehmliche Lösung tungsbewusst mit diesem Instrument umzugehen. Denn mit Brüssel zu erreichen, mit der diese Lücke möglichst negative Fälle, die auch zu Rückzahlungen führen, wer- geschlossen werden kann. Leider konnte diesbezüglich den nur zu gern als Beispiel für die Nichtzweckmäßig- nur ein Kompromiss erreicht werden. Immerhin bestand keit dieser Regelungen angeführt. Die Begehrlichkeiten man nach intensiven Verhandlungen nicht auf der einge- auf das Geld aus Brüssel sind überall groß. Den Unter- tretenen Lücke von zwölf Monaten. Die weitere Förde- nehmen bringt es nichts, wenn sie Gelder für Investitio- rung ist jetzt bereits vom Tag der Verkündigung des Ge- nen, die von vornherein als nicht förderfähig gelten, für setzes an möglich. Das heißt, je eher dieses Gesetz sich dennoch in Anspruch nehmen und diese dann wie- verabschiedet wird, umso eher – bereits im Jahr 2006 – der zurückzahlen müssen. Dies ist oftmals mit einem können wieder Förderungen nach dem Investitionszula- langen Rechtsstreit verbunden, der zusätzliche Kosten gengesetz gewährt werden. für die betroffenen Unternehmen verursacht. Doch das sind nur sehr wenige Ausnahmen, die in keinem realen Daher sollten wir diesen Gesetzentwurf so schnell Verhältnis zu den vielen positiven Beispielen stehen. wie parlamentarisch möglich beraten und gemeinsam 2962 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006

Simone Violka (A) verabschieden. Denn die Investoren stehen weiterhin in Hinzugekommen ist ein Problem, über das man sich (C) den Startlöchern. Es liegt nun an uns, den Startschuss so sehr ernsthaft Gedanken machen muss: Wir haben ei- schnell wie möglich abzufeuern. gentlich in ganz Deutschland festzustellen – auch wenn es die Unternehmen in den neuen Bundesländern beson- Vielen Dank. ders stark trifft –, dass sich die deutschen Geschäftsban- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) ken nach der wirtschaftlichen Stagnation der letzten Jahre aus der Finanzierung des Mittelstandes vollstän- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: dig zurückgezogen haben. Für die FDP-Fraktion hat nun das Wort der Kollege (Peter Hettlich [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Christian Ahrendt. NEN]: Das ist genau das Problem!) Die Investitionsförderung ist natürlich kein Ersatz für Christian Ahrendt (FDP): die fehlende Finanzierung des Mittelstandes. Sie ist aber Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und zumindest ein Instrument, um die Kapitaldienstfähigkeit Herren! Auch die FDP-Fraktion wird der Verlängerung der kleinen und mittelständischen Unternehmen zu ver- der Investitionsförderung im Rahmen des Investitionszu- bessern. Auch deshalb ist es sinnvoll, dem Entwurf des lagengesetzes zustimmen. Ich darf daran erinnern, dass Investitionszulagengesetzes 2007 zuzustimmen. wir dieses Gesetz 1997 zusammen mit der CDU/CSU- Fraktion, damals noch in Regierungsverantwortung, auf Drittens. An dieser Stelle – das muss man leider sagen den Weg gebracht haben. Dieses Gesetz ist auch heute – kann man die Regierung nicht besonders loben. noch ein zentraler und vor allem verlässlicher Bestand- (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Loben reicht teil der Förderung vor allen Dingen kleiner und mittel- schon, Herr Kollege!) ständischer Unternehmen in den neuen Bundesländern. – Loben reicht schon? Es reicht aber nicht einmal zum (Beifall bei der FDP) normalen Loben. Besonders freut mich natürlich, dass die Förderung (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Das ist etwas des Beherbergungsgewerbes Eingang in das Investi- anderes!) tionszulagengesetz gefunden hat. Der Tourismus in den neuen Bundesländern, besonders aber der Tourismus in Sie kennen den EU-Haushaltskompromiss, der im Mecklenburg-Vorpommern ist ein bedeutender Wirt- Dezember geschlossen wurde. Die Bundeskanzlerin ist schaftszweig, den es auch in Zukunft nachhaltig zu för- für den EU-Haushaltskompromiss besonders gelobt wor- dern gilt. den. Tatsache ist, dass im Zeitraum 2007 bis 2013 in den (B) neuen Bundesländern 5 Milliarden Euro Fördermittel (D) (Beifall des Abg. Roland Claus [DIE LINKE]) fehlen, weil diese Mittel im EU-Fonds für regionale Ent- wicklung eingespart wurden. Der Bundesverkehrsminis- Wir müssen aber an dieser Stelle die Frage stellen, ter hat in seiner Rede anlässlich der Vorstellung des Jah- warum es nach 16 Jahren deutscher Einheit noch erfor- resberichtes zum Stand der deutschen Einheit verkündet, derlich ist, über ein Investitionszulagengesetz zu spre- dass, wenn 1 Milliarde Euro in den Wirtschaftskreislauf chen. Wir können zunächst feststellen, dass sich die Si- eingespeist wird, rund 25 000 Arbeitsplätze geschaffen tuation der mittelständischen Unternehmen in den fünf werden. In logischer Konsequenz heißt das im Grunde neuen Bundesländern trotz aller Widrigkeiten deutlich genommen nichts anderes, als dass durch die ausblei- verbessert hat. Die Unternehmen sind heute breiter und bende Einspeisung von 5 Milliarden Euro Fördergeldern wirtschaftlich robuster aufgestellt. Sie sind innovativ im Zeitraum von 2007 bis 2013 in den neuen Bundeslän- und für die Zukunft gut gewappnet. dern 125 000 Arbeitsplätze nicht geschaffen werden Es gibt aber ein altes Problem – und ein neues Pro- können. Auch vor diesem Hintergrund ist die Investi- blem ist hinzugekommen –: Nach wie vor ist die mittel- tionszulage als wirtschaftliches Förderinstrument für die ständische Landschaft in den neuen Bundesländern von kleinen und mittelständischen Unternehmen wichtig. Klein- und Kleinstunternehmen geprägt. Die Unterneh- Aus diesem Grunde stimmen wir diesem Gesetzentwurf men sind kurz nach der Wende gegründet worden. Die zu. Zeit des Aufschwunges haben sie genutzt, um ihre Exis- Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. tenzgründungsdarlehen zurückzuführen. Rücklagen konnten meist nicht gebildet werden. Dann kam ein lan- (Beifall bei der FDP) ger wirtschaftlicher Abschwung. In dieser Zeit mussten Rücklagen, die dennoch gebildet werden konnten, für Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: das wirtschaftliche Überleben eingesetzt werden. Ergibt Das Wort hat nun für die Unionsfraktion der Kollege sich nach dieser Situation eine neue wirtschaftliche Ent- Manfred Kolbe. wicklung, so fehlt gerade für Ersatz- und Erweiterungs- investitionen das entsprechende Kapital, weil die Unter- (Beifall bei der CDU/CSU) nehmen aufgrund der kurzen Tradition, die sie haben, mit einer zu geringen Eigenkapitaldecke ausgestattet Manfred Kolbe (CDU/CSU): sind. Genau dort setzt die Investitionsförderung an, die Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! zumindest die Rentabilität dieser Unternehmen über eine Im Koalitionsvertrag haben sich CDU, CSU und SPD direkte Förderung verbessern kann. verpflichtet, den Aufbau Ost fortzusetzen und alles zu Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006 2963

Manfred Kolbe (A) tun, damit wir auch im Osten Deutschlands einen sich Begünstigte Investitionen sind Erstinvestitionen, die (C) selbst tragenden Aufschwung erreichen. Die Reduzie- mindestens fünf Jahre zum Anlagevermögen eines Be- rung der Arbeitslosigkeit ist das zentrale Ziel des Auf- triebes des verarbeitenden Gewerbes, der produktionsna- baus Ost. Deshalb wollen wir die Investitionsförderung hen Dienstleistungen oder des Beherbergungsgewerbes überall dort fortsetzen, wo es darum geht, bestehende gehören. Erstinvestitionen oder Erstinvestitionsvorhaben Arbeitsplätze zu sichern und neue zu schaffen. – das ist der neue zentrale Begriff der Leitlinien der EU 2007 – 2013 – sind die Errichtung einer neuen Betriebs- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- stätte, die Erweiterung einer bestehenden Betriebsstätte, neten der SPD) die Diversifizierung der Produktion und die Vornahme Diesem Ziel dient auch das heutige Gesetzesvorha- einer grundlegenden Änderung des gesamten Produk- ben. Das Investitionszulagengesetz 2005 läuft Ende die- tionsverfahrens. Bei kleinen Betrieben – das sage ich ses Jahres aus. Im Koalitionsvertrag haben wir uns des- hier ausdrücklich – kann ein Erstinvestitionsvorhaben halb zur auch die Herstellung oder Anschaffung lediglich eines einzigen Wirtschaftsgutes sein. Die Investition muss Fortführung der Investitionszulage und ihrer Kon- dann fünf Jahre im Betrieb verbleiben, womit dem zentration auf wachstumsrelevante und arbeits- Nachhaltigkeitsfaktor Rechnung getragen ist. platzschaffende Investitionen Begünstigte Wirtschaftszweige sind wie bisher das bekannt. Deshalb bringen wir heute den Entwurf eines verarbeitende Gewerbe, die produktionsnahen Dienst- Investitionszulagengesetzes 2007 ein. leistungen und neu hinzugekommen das Beherbergungs- Herr Kollege Hettlich, an dieser Stelle können auch gewerbe. Nicht mehr begünstigt sind Leasingunternehmen. Sie klatschen; denn die Unternehmer in unserem Wahl- Das Wirtschaftsgut muss jetzt im eigenen förderfähigen kreis Torgau-Oschatz warten auf diese Investitionszu- Betrieb verwendet werden. Das ist sicherlich eine rich- lage. Ich bitte um heftigen Applaus! tige Einschränkung gegenüber dem alten Investitionszu- lagengesetz. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Peter Hettlich [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Investitionszeitraum ist die Zeit nach dem Tage der Warten Sie einmal ab! Sie werden noch etwas Verkündung des vorliegenden Gesetzes – voraussichtlich von mir hören! Lassen Sie sich einmal überra- wird das, wenn wir uns alle beeilen, Mitte Juli dieses schen!) Jahres sein – bis zum 31. Dezember 2009, also ungefähr dreieinhalb Jahre. Allerdings sind Erstinvestitionen, mit Die Investitionszulage ist ausdrücklich zu begrüßen. denen vor dem Tag der Verkündung begonnen wurde, Die wirtschaftliche Entwicklung in den östlichen auch dann förderfähig, wenn hierfür eine Genehmi- (B) (D) Ländern – das ist schon teilweise angeklungen – hat gungsentscheidung der EU-Kommission vorliegt. viele Erfolge gezeitigt, verlief in den letzten Jahren aber teilweise enttäuschend. Der Fördersatz beträgt nach wie vor grundsätzlich 12,5 Prozent der Bemessungsgrundlage, in Randgebie- Die Wachstumsraten liegen seit 1998 unterhalb des ten 15 Prozent und bei kleinen und mittleren Unterneh- gesamtdeutschen Durchschnitts. Das wird, folgt man den men 25 bzw. 27,5 Prozent. jetzigen Prognosen, 2006 bedauerlicherweise nicht an- ders sein. Die Zahl der Erwerbstätigen ging seit 1998 Das Finanzvolumen ist beachtlich. Die gesamten In- von knapp 6 Millionen auf knapp 5,6 Millionen zurück. vestitionszulagen sollen im Jahr 2008 350 Millionen Die Arbeitslosenquote ist im Schnitt im Osten Deutsch- Euro, 2009 580 Millionen Euro, 2010 ebenfalls 580 Mil- lands leider immer noch doppelt so hoch wie im Westen lionen Euro und 2011 noch 230 Millionen Euro betra- Deutschlands. Die Abwanderung ist nach wie vor unser gen. Da der durchschnittliche Fördersatz bei ungefähr größtes Sorgenkind. Jedes Jahr verlieren die östlichen 20 Prozent liegt, heißt das, dass wir damit Investitionen Bundesländer im Saldo rund 50 000, zumeist junge im Osten Deutschlands im Gesamtvolumen von insge- Menschen. Handeln tut Not! samt 10 Milliarden Euro anstoßen. Das ist keine Kleinig- keit. Deshalb bringen wir diesen Entwurf eines Investitions- Lassen Sie mich abschließend auf die Förderlücke zulagengesetzes 2007 ein. Da nach Art. 87 des EG-Ver- eingehen, die auch von einer Vorrednerin angesprochen trages staatliche Beihilfen an Unternehmen mit dem Ge- wurde. Förderlücken liegen in der Natur unserer Inves- meinsamen Markt nur ausnahmsweise vereinbar sind, titionszulagengesetze, da diese periodisch für einen be- muss sich das Investitionszulagengesetz 2007 strikt am stimmten Förderzeitraum gelten. Natürlich können dann europarechtlichen Rahmen orientieren. Dieser Rah- an den Schnittstellen Förderlücken auftreten. Wir müs- men steht seit dem 4. März dieses Jahres fest. Es sind die sen aber, um die Unternehmen nicht zu verunsichern, „Leitlinien für staatliche Beihilfen mit regionaler Ziel- ganz genau hinschauen, wo eine Förderlücke besteht und setzung 2007 bis 2013“. Das Bundesfinanzministerium wo nicht. hat rasch gehandelt und eine Formulierungshilfe vorge- legt. Wir bringen heute einen Gesetzentwurf ein. Lassen Drei Konstellationen sind zu unterscheiden: Sie mich ihn kurz skizzieren. Erstens. Unternehmer, die ihr Investitionsvorhaben Fördergebiet sind nach wie vor die Länder Branden- noch in diesem Jahr beginnen, können alle bis zum Ende burg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-An- dieses Jahres beendeten Einzelinvestitionen noch nach halt, Thüringen und mit Einschränkungen Berlin. dem Investitionszulagengesetz 2005 geltend machen. 2964 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006

Manfred Kolbe (A) Für sie tritt also keine Förderlücke ein. Allerdings trifft Roland Claus (DIE LINKE): (C) das nicht für das Beherbergungsgewerbe zu, weil es nur Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und im neuen Investitionszulagengesetz 2007 begünstigt ist. Herren! Ich will mich an einen Grundsatz der alten grie- chischen Rednerschulen halten, der da heißt: Lobend Zweitens. Unternehmer, die ihr Investitionsvorhaben beginnen, kritisch ausführen, optimistisch enden. Es ist nach dem Tag der Verkündung des neuen Investitionszu- bereits darauf hingewiesen worden, dass das Investi- lagengesetzes 2007 beginnen – ich sagte schon, dass das tionszulagengesetz die Fortsetzung der Investitionsför- etwa Mitte 2006 sein wird –, können alle noch in 2006 derungen ab dem Jahre 2007 regelt. Das nützt vorrangig beendeten Investitionen nach dem Investitionszulagen- den neuen Bundesländern. An meinen Vorredner ge- gesetz 2005 und alle ab 2007 beendeten Investitionen wandt, kann ich für meine Fraktion ganz ausdrücklich nach dem Investitionszulagengesetz 2007 geltend ma- eine zügige Behandlung dieses Gesetzentwurfes zusa- chen. Also auch in diesem Fall besteht keine Förder- gen. In ihm werden neue EU-Vorgaben berücksichtigt. lücke. Das geschieht vor dem Hintergrund – auch das dürfen Drittens. Eine Förderlücke besteht nur dann, wenn ein wir, wie ich finde, nicht ausblenden –, dass die wichtigs- Unternehmer jetzt, noch vor dem Tag der Verkündung ten wirtschaftspolitischen Indikatoren verdeutlichen, des Investitionszulagengesetzes 2007, mit dem Investiti- dass die Schere zwischen Ost und West seit dem onsvorhaben und den ersten Einzelinvestitionen beginnt Jahre 1997 leider wieder auseinander geht. und weitere Einzelinvestitionen erst im Jahre 2007 been- Anerkennenswert, lobenswert und gut finden wir Fol- det. Dann sind diese weiteren Einzelinvestitionen im gendes: Zunächst einmal wird in diesem Gesetz der För- Jahr 2007 nicht förderfähig, es sei denn, eine Genehmi- derbedarf im Osten anerkannt. Das ist nicht unwichtig. gungsentscheidung der EU liegt vor. Hier gilt der „um- Ich habe schon ein bisschen über den Kollegen von der gekehrte Gorbatschow“: Wer zu früh investiert, den be- FDP gestaunt, der das Vorhaben unterstützt hat. Ich straft das Investitionszulagengesetz! Dies trifft komme nämlich gerade aus den Beratungen des Haus- allerdings nur auf diesen einen besonderen Fall zu. Da- haltsausschusses. Dort stellt Ihre Fraktion, verehrter rauf ist sorgfältig zu achten, um keine Verunsicherung zu Kollege, pausenlos Anträge auf Kürzung der Wirt- schaffen. schaftsförderung Ost. Das können wir Ihnen nicht durch- gehen lassen. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Konnte man das nicht besser machen?) (Beifall bei der LINKEN) – Dazu sind wir als nationaler Gesetzgeber allein nicht in Das Gesetz zielt – auch das ist unterstützenswert – auf der Lage, verehrter Herr Kollege. die Schaffung neuer Arbeitsplätze und die Erhaltung (B) vorhandener Arbeitsplätze. Dabei geht es insbeson- (D) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- dere um die Förderung kleiner und mittlerer Unterneh- neten der SPD) men. Dabei handelt es sich um einen Rechtsanspruch Aber Sie können uns dabei behilflich sein, den Nachteil und nicht um einen Bewilligungstatbestand. Das ist ge- einzugrenzen, indem Sie dazu beitragen, dass wir diesen rade für kleine Unternehmen, die sich im Förderdschun- Gesetzentwurf möglichst schnell verabschieden können; gel oft nicht zurechtfinden, ein wichtiger Schritt. Zudem ist der Verwaltungsaufwand als relativ gering einge- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- schätzt worden. neten der SPD) Bemerkenswert finden wir die Aufnahme der – ich denn die Förderlücke wird umso geringer sein, je zügi- sage das verkürzt – Tourismusförderung. Die rot-rote ger wir diesen Gesetzentwurf verabschieden. Landesregierung in Mecklenburg-Vorpommern hat das ausdrücklich begrüßt und zum Teil als Erfolg ihres Be- Unser Zeitplan sieht vor, dass die Behandlung im mühens um die Förderung dieses Bereichs verstanden. Ausschuss noch im Mai dieses Jahres stattfindet. Die Darüber hinaus sind wir der Auffassung, dass Sie den zweite und dritte Lesung des Gesetzentwurfs könnte am EU-Rechtsrahmen ziemlich weit ausgeschöpft haben. 1. Juni durchgeführt werden. Der Bundesrat könnte dann Das ist, wenn man das optimal machen will, ziemlich am 7. Juli entscheiden. Die Verkündung des Gesetzes schwierig, wie wir alle wissen. Hier endet das Lob der wäre Mitte Juli 2006 möglich. Wir alle sollten daran mit- Opposition. wirken, dass das gelingt. Wenn auch die Oppositions- fraktionen ihren Beitrag dazu leisten, ist das umso bes- Nun zu unserer Kritik: Sie bleiben bei der Pflicht ste- ser. hen und wagen sich nicht an die Kür. Ihre Pflicht ist es deshalb, weil Sie sich im Koalitionsvertrag dazu ver- Vielen Dank. pflichtet haben. Sie kamen also nicht darum herum, hier aktiv zu werden, zumal Sie das den Ost-Ministerpräsi- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) denten auf der letzten Ost-Ministerpräsidentenkonferenz in Halle an der Saale auch versprochen haben. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Gelegentlich ist es nötig, daran zu erinnern, dass För- Ich erteile nun das Wort dem Kollegen Roland Claus dermittel nicht von den Bezügen der Minister abgespart, für die Fraktion Die Linke. sondern nach wie vor aus Steuergeldern gezahlt werden. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006 2965

Roland Claus (A) Von denjenigen, die Fördersätze von 12 oder 15 Prozent Fehler und werden den Gesetzentwurf in dieser Form ab- (C) – zum Teil sind sie noch höher – in Anspruch nehmen lehnen. Um der Legendenbildung vorzubeugen – der wollen, wird noch immer ein recht hohes Maß an Eigen- Kollege Kolbe hat ja schon angedroht, mich in meinem kapital vorausgesetzt, das, wie wir wissen, gerade in den Landkreis Torgau-Oschatz anzuschwärzen –: Wir sind neuen Bundesländern nur selten vorhanden ist. nicht gegen die Förderung von Investitionen in Ost- deutschland; aber wir sind für eine effiziente und vor al- Mit diesem Gesetz führen Sie einen Passus neu ein, lem Fehlallokationen vermeidende Investitionsförde- der da heißt, dass auch solche Unternehmen gefördert rung. werden, die mit Unternehmen verbunden sind, die im Fördergebiet ansässig sind. Da wird mir um meinen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Wahlkreis Naumburg/Weißenfels nicht bange, weil jeder Abg. Manfred Kolbe [CDU/CSU] meldet sich die Story von Rotkäppchen und Mumm kennt. Aber zu einer Zwischenfrage) wenn man sich den Regelfall vor Augen führt, muss man – Manfred, machen wir es später; lass mich erst einmal an dieser Stelle einige Bedenken anmelden. Ich will aus- anfangen. drücklich sagen: Auch wenn wir uns vehement für die weitere Förderung der Interessen der neuen Bundeslän- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: der einsetzen – Mitnahmeeffekte bei der Verlagerung Heißt das, dass Sie die Zwischenfrage jetzt nicht ge- von Betrieben aus den westlichen in die östlichen Bun- nehmigen? desländer unter Vernichtung von Arbeitsplätzen in west- lichen Bundesländern stehen nicht auf unserer politi- schen Agenda und werden von uns kritisiert. Peter Hettlich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich habe fünf Minuten Redezeit; das ist wirklich sehr (Beifall bei der LINKEN) knapp. Wir finden, dass die Industrieforschung fehlt. Wir Das Ziel, das ich eben definiert habe, werden Sie, wie Sie in den Haushaltsberatungen sehen (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Wie wollen werden, weiter mit unserem Vorschlag behelligen, eine Sie das denn erreichen, Herr Kollege?) kommunale Investitionspauschale in Höhe von 1,5 Milliarden Euro einzuführen; das ist nicht mit die- wird mit der Investitionszulage nach dem Investitionszu- sem Gesetz zu lösen. Wir finden es bedauerlich, dass un- lagengesetz verfehlt; das ist ganz klar. Deshalb können längst im Ältestenrat unserem Antrag nicht gefolgt wir dem Gesetzentwurf in dieser Form nicht zustimmen. wurde, einen Bundestagsausschuss für die Angelegen- Ich weiß mich damit auf der sicheren Seite, was die heiten der neuen Länder und für strukturschwache Ge- Fachleute angeht. Schauen Sie sich an, was die wirt- (B) biete in westlichen Bundesländern einzusetzen. Wir schaftswissenschaftlichen Institute erklären, schauen Sie (D) möchten Sie daran erinnern, dass Sie sich in Ihrem Ko- sich die Fortschrittsberichte an, zum Beispiel das Jahres- alitionsvertrag unter dem Stichpunkt „Aufbau Ost“ ver- gutachten 2004/05 des Sachverständigenrates – ich zi- pflichtet haben, Mitte des Jahres 2006 neue Kreditbedin- tiere –: gungen für Risiko- bzw. Wagniskapital zu schaffen, die Der Sachverständigenrat hat sich wiederholt für ein den Unternehmen zugute kommen sollen. Auslaufen des Investitionszulagengesetzes ausge- Bei aller Anerkennung dieses Gesetzentwurfes muss sprochen … Problematisch ist insbesondere, dass ich sagen: Was die Koalition gut und richtig macht, das auf diese Zulage ein Rechtsanspruch besteht und macht sie notgedrungen und halbherzig – was Koalition vergleichsweise hohe Mitnahmeeffekte ausgelöst und Regierung schlecht machen, wie die Erhöhung der werden. Sinnvoll wäre demgegenüber eine einzel- fallbezogene und regionalpolitischen Zielen ent- Mehrwertsteuer und die Privatisierung der Bahn, das sprechende Investitionsförderung. macht sie mit sehr viel mehr Power. Wir würden nicht in Ehrfurcht erstarren, wenn das umgekehrt wäre; aber Dem muss ich nichts hinzufügen. schon ein Schritt in die richtige Richtung wäre gut. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vielen Dank. Dennoch heißt es in der Begründung des Gesetzent- (Beifall bei der LINKEN – Norbert Schindler wurfs – ich zitiere –: [CDU/CSU]: Das war der Optimismus der Mit der Investitionszulage sollen die Unternehmen griechischen Rhetorik!) gezielt unterstützt werden, um in Ostdeutschland neue Investitionen zu tätigen, die dazu beitragen, Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: die Wirtschaftskraft zu stärken und Arbeitsplätze zu Das Wort hat nun der Kollege Peter Hettlich für die schaffen, um der Abwanderung und der hohen Ar- Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen. beitslosigkeit entgegenzuwirken. Jetzt frage ich mich: Haben Sie die Gutachten nicht Peter Hettlich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): gelesen? Haben Sie sie nicht zur Kenntnis genommen? Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Oder sagen Sie wider besseres Wissen etwas anderes? Kollegen! Meine Damen und Herren! Ich habe schon vor Warum soll man über die I-Zulage Unternehmen geziel- einigen Wochen in der Debatte zum Stand der deutschen ter fördern können? Das lässt sich für mich nicht nach- Einheit gesagt: Wir halten die Verlängerung der Gel- vollziehen, auch nicht anhand der Begründung in Ihrem tungsdauer des Investitionszulagengesetzes für einen Gesetzentwurf. 2966 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006

Peter Hettlich (A) Wir sagen ganz deutlich – ich habe es immer wieder wir einmal überdenken. Das hat sehr viel Charme; denn (C) gesagt –: Die Gemeinschaftsaufgabe Ost, „Verbesserung dann müssten wir nur den Haushaltstitel entsprechend der regionalen Wirtschaftsstruktur“, ist das bessere In- erhöhen, brauchten kein Gesetz zu verabschieden und strument; das bestätigen uns alle wissenschaftlichen In- hätten das Problem des EU-Beihilferechts bei der Gele- stitute. Es ist gezielter, es ist eine regional abgestimmte genheit auch noch umgangen. Wirtschaftsförderung, es schafft nachweislich mehr Ar- Ich will noch auf einen weiteren Aspekt zu sprechen beitsplätze – schauen Sie sich die Berichte an – und es kommen – auch diesen hat der Kollege Claus schon ge- ist vor allen Dingen unproblematisch, was das Beihilfe- nannt: Es gibt keine Initiativen zu der Frage der Unter- recht der EU angeht, weil es in diesem Korsett bereits nehmensfinanzierung, zu der Frage, wie wir Start-ups in abgesegnet ist. Die Gemeinschaftsaufgabe Ost – das hat Ostdeutschland finanzieren, oder zu der Frage, wie es der Kollege Claus eben wieder gesagt – ist jedoch lau- mit dem Risikokapital weitergeht. Das Problem in Ost- fend bedroht: Jedes Jahr, in schöner Regelmäßigkeit, deutschland ist, dass viele Unternehmer gar keine Inves- wird darüber diskutiert, wie wir diese Mittel weiter kür- titionszulage in Anspruch nehmen können, weil sie es zen können; auch dieses Jahr drohte dies wieder am Ho- nicht schaffen, die Gründungsphase zu überstehen. rizont. In letzter Minute hat man noch einmal die Kurve gekriegt. Ich kenne jetzt nicht den letzten Stand des Ich kann abschließend nur sagen: Sie haben verspro- Haushaltsausschusses; aber ich hoffe, dass es zumindest chen, gezielter zu fördern. Was haben Sie gemacht? Sie bei den zugesagten Mitteln bleibt. Die Gemeinschafts- haben aus dem Keller die Gießkanne hervorgeholt. Ich aufgabe Ost, dieses erfolgreiche Instrument, ist immer fordere Sie auf: Räumen Sie diese schnell wieder weg. wieder bedroht. Wir sollten uns an unsere eigene Nase Noch ist es nicht zu spät. Wir haben bis zum Sommer fassen und sollten uns an dieser Stelle zu diesem erfolg- Zeit. Vielleicht sehen Sie es ein und arbeiten gemeinsam reichen Instrument bekennen. mit uns an der Initiative weiter, die Gemeinschaftsauf- gabe zu stärken. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Danke schön für Ihre Aufmerksamkeit. Ich weiß auch, warum das so ist; das wurde eben (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) schon von einem Vorredner gesagt. Hierbei spielt die Kofinanzierung durch die Länder eine entscheidende Rolle. Über die Kofinanzierung müssten wir eigentlich Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: einmal eine gesonderte Debatte führen. Ich habe Minis- Das Wort hat nun der Kollege Garrelt Duin für die terpräsident Böhmer vor sechs oder sieben Wochen ge- SPD-Fraktion. sagt: Bei der Frage, woher die Mittel kommen, bin ich (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (B) zu vielen Schandtaten bereit. Aber nur mit der Begrün- (D) dung, man müsse kofinanzieren, ein Gesetz voranzubrin- gen, das aus meiner Sicht wirklich schlechtere Effekte Garrelt Duin (SPD): hat, halte ich nicht für vertretbar und halte ich für unver- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! antwortlich, gerade auch, weil wir Steuergelder effizient Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich zu Beginn verwenden müssen. folgende Bemerkung machen: Ich habe im „Kürschner“ nachgesehen, woher die Rednerinnen und Redner, die zu Zum Thema EU-Vorbehalte – dieser Punkt wurde diesem Tagesordnungspunkt sprechen, kommen. Mir ist schon vorhin angesprochen –: Ein Teil des Gesetzes tritt aufgefallen, dass ich der einzige Redner bin, der nicht erst dann in Kraft, wenn die EU die entsprechenden bei- aus einem der neuen Länder kommt. Lassen Sie uns die hilferechtlichen Aspekte überprüft hat. Ich als Verkehrs- Aufgabe Aufbau Ost bitte auch künftig als gesamtdeut- politiker, der ich ja auch bin, kann mich sehr gut daran sche Aufgabe begreifen. Sorgen wir dafür, dass dieses erinnern, dass wir uns im Zusammenhang mit der LKW- Thema nicht nur einem Teil Deutschlands überlassen Maut mit der Frage der Kompensation für die Logistik- wird und gesagt wird: Seht zu, wie ihr damit fertig wer- unternehmen beschäftigt haben. Bis heute haben wir det. – Es ist und bleibt eine Aufgabe für das gesamte hierzu im Prinzip keine Entscheidung getroffen. Das Haus und für die Vertreter aus allen Regionen. heißt, dass es, wenn wir dieses Gesetz jetzt mit den be- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten stehenden Vorbehalten verabschieden, durchaus sein der CDU/CSU, der FDP, der LINKEN und des kann, dass wir in den nächsten drei Jahren keine Ent- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) scheidung der EU-Kommission bekommen. Was ma- chen Sie dann mit diesem Teil des Gesetzes? Ich finde In den vergangenen 16 Jahren hat in den neuen Län- das unverantwortlich. Das ist nicht das, was ich unter In- dern ein umfassender Modernisierungsprozess stattge- vestitionssicherheit und vor allem unter Vertrauens- funden. Das konnten wir miterleben. Aber wir müssen schutz für die Unternehmen verstehe, die möglicher- feststellen, dass dort trotz aller Anstrengungen noch weise in den nächsten Jahren Investitionen in nicht eine solche Wirtschaftskraft erreicht wurde, die für Ostdeutschland tätigen werden. Das Gesetz ist auch in eine selbsttragende wirtschaftliche Entwicklung ausrei- diesem Punkt nicht der Weisheit letzter Schluss. chen würde. Die industrielle Basis ist nach wie vor zu schwach. Die Investitionsdynamik der ostdeutschen Wir fordern daher, dass die Mittel für die Gemein- Wirtschaft lässt nach; das ist von meinen Vorrednern schaftsaufgabe Ost um die Summe, die im Investitions- schon angesprochen worden. Der zentrale Punkt ist: zulagengesetz eingestellt ist, erhöht werden, also um Noch immer finden zu wenige Menschen Arbeit und zu etwa 250 Millionen bis 300 Millionen Euro. Das müssen viele Menschen haben keine Arbeit. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006 2967

Garrelt Duin (A) Nur durch weitere neue Investitionen kann dazu bei- Darüber hinaus gibt es eine Reihe von Fördermaßnah- (C) getragen werden, neue und sichere Arbeitsplätze zu men, die nicht investive Zwecke verfolgen, zum Beispiel schaffen und die Wirtschaft zu stärken. Investitionen die Innovationsförderung und die Förderung der Netz- sind deswegen enorm wichtig. Um es anders zu sagen: werkbildung. Auch diese helfen mit, die Wettbewerbsfä- Geld in die Hand zu nehmen, ist enorm wichtig. Das higkeit von Unternehmen und Regionen zu erhöhen. wollen wir als große Koalition machen. Die Ansiedlung Es ist schon davon gesprochen worden, dass es von neuer Unternehmen, der Bau von Technologiezentren größter Wichtigkeit ist, das Verfahren hier im Hause und und vieles andere mehr – der wirtschaftliche Auf- im Bundesrat jetzt so rasch wie möglich durchzuführen, schwung der neuen Bundesländer wäre ohne öffentliche damit möglichst zügig Rechtssicherheit für die Investo- Gelder so nicht möglich. ren geschaffen wird und keine zusätzliche Lücke die nö- Insbesondere die Gewährung von Investitionszu- tigen Investitionen in die Wirtschaft der neuen Länder schüssen durch Bund und Länder hat zahlreiche Unter- unterbricht. nehmensgründungen und damit die Schaffung neuer Ar- Nach dem Beitritt der relativ wirtschaftsschwachen beitsplätze erst möglich gemacht. Es geht darum, die zehn osteuropäischen Staaten zur EU sind die ostdeut- ostdeutschen Regionen entsprechend ihrem eigenen Pro- schen Bundesländer zudem in eine schwierige Lage ge- fil wirtschaftlich zu entwickeln. Regionalentwicklung ist raten. Es ist wichtig, dass Ostdeutschland in diesem Zu- nicht das Resultat, sondern Teil der wirtschaftlichen Ent- sammenhang nicht ins Hintertreffen gerät. Dies hat wicklung. Im Mittelpunkt der Politik müssen deshalb die Brüssel mit der Gewährung von Beihilfen anerkannt, regionalen Potenziale und Fähigkeiten stehen. Diese gilt trotz großer Widerstände. es auszubauen und die regionalen Stärken zu verbessern. Gerade im Vertrauen auf die eigenen Fähigkeiten kann Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, spre- sich regionales Selbstbewusstsein entwickeln. Hier muss chen Sie noch einmal mit Ihren Kolleginnen und Kolle- die Politik ansetzen. Jede Region hat Stärken, sei es in gen in Brüssel! Ich selber war dort fünf Jahre, bis zum der Erzeugung und Verarbeitung landwirtschaftlicher Herbst des vergangenen Jahres, Abgeordneter. Der Wi- Produkte, sei es im Maschinenbau, sei es in der umwelt- derstand, der dort insbesondere von der liberalen Frak- freundlichen Energieerzeugung, sei es im Tourismus, sei tion gegen jede Form von Beihilfe gezeigt wird, ist ge- es im Logistikbereich, sei es im traditionellen Hand- rade in diesem Punkt wirklich nicht hilfreich. Beim werk. Investitionszulagengesetz wäre eine Solidarität, wie wir sie hier durchaus in Ansätzen erkennen können, in be- Das geltende Investitionszulagengesetz läuft aus. Uns sonderem Maße notwendig. war aber bewusst: Die Förderung von betrieblichen In- (Beifall bei der SPD) (B) vestitionen in den ostdeutschen Ländern durch eine (D) Investitionszulage ist weiterhin dringend nötig. Sie ist Ich will abschließend grundsätzlich sagen, dass staat- eines der zentralen Instrumente zur Förderung des Auf- liche Beihilfe ein Schlüsselinstrument ist, das uns zur baus der ostdeutschen Wirtschaft. Die Fortsetzung der Förderung regionaler Entwicklung sowie echter Konver- Geltungsdauer der Investitionszulage haben wir im Ko- genz zwischen den Ländern zur Verfügung steht. Sie bie- alitionsvertrag vereinbart; darauf ist schon hingewiesen tet wichtige Anreize, wenn es darum geht, öffentliche In- worden. In Genshagen haben wir das konkretisiert. vestitionen und nachhaltige Wirtschaftsentwicklung zu Ganz im Sinne der Europäischen Kommission wird in fördern und im Übrigen auch dafür zu sorgen, dass in diesem Gesetzentwurf die Förderung von kleinen und den am stärksten benachteiligten Regionen öffentliche mittleren Betrieben im Fördergebiet intensiviert. Erstin- Dienstleistungen erbracht werden. Nur so kann sozialer vestitionen werden in den Bereichen unterstützt, die die und wirtschaftlicher Zusammenhalt in unserem Land Konjunktur- und Wachstumsmotoren in den neuen Län- verwirklicht werden. Deswegen wollen wir diesen Vor- dern darstellen. Wir sind froh darüber, dass auch der Be- schlag so einbringen. reich des Tourismus hier Eingang gefunden hat. Der Eine letzte Bemerkung. Auch das ist gerade schon an- Tourismus hat sich in vielen Regionen Ostdeutschlands gesprochen worden: Wir haben es in Europa mit zu einem starken und erfolgreichen Wirtschaftsfaktor Betriebsverlagerungen zu tun. Wir müssen einen Wett- entwickelt. Wir wollen mit der Aufnahme von Hotelle- lauf um die höchstmöglichen staatlichen Beihilfen ver- riebetrieben usw. dazu beitragen, das touristische Poten- hindern. Herr Staatssekretär Hintze, es ist weiteres Tun zial Ostdeutschlands weiter zu stärken. auf der europäischen Ebene notwendig, um den Wettlauf (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten um möglichst hohe staatliche Beihilfen in Europa einzu- der CDU/CSU) dämmen. Wir erleben, dass es bei vielen Unternehmens- verlagerungen um genau diese Frage geht. Die Men- Herr Hettlich, mit der Investitionszulage und den In- schen in Deutschland haben die Erwartung, dass auf vestitionszuschüssen im Rahmen der Gemeinschafts- europäischer Ebene eine entsprechende Antwort gefun- aufgabe steht ein insgesamt bewährtes Förderinstrumen- den wird. Wenn das nicht gelingt, werden wir bei dieser tarium zur Verfügung. Es geht nicht um ein Entweder- Frage unglaubwürdig. oder. Vielmehr brauchen wir einen Mix der verschiede- nen Instrumente und nicht nur eines. Die große Koalition macht mit diesem Gesetz deut- lich, dass die Wirtschaftsförderung in den neuen Bun- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der desländern eine gesamtdeutsche Aufgabe ist. Wir lassen CDU/CSU) die Menschen dort nicht alleine, sondern wollen mit 2968 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006

Garrelt Duin (A) einem handlungsfähigen Staat, der investiert und die Herr Kollege Hettlich, obwohl ich diese Argumente (C) Wirtschaft fördert, weiter zum Gelingen beitragen. ernst nehme, komme ich zu einem anderen Ergebnis als Sie. Beide Wirtschaftsfachgremien fordern nicht die er- Vielen Dank. satzlose Abschaffung der Investitionszulage; beide sa- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) gen, man solle dieses Instrument aufschlüsseln und der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Wirtschaftsstruktur“ zuschlagen. Unabhängig von diesen Als letzte Rednerin in dieser Debatte hat nun die Kol- Gutachten tun wir gut daran, die Effektivität erneut zu legin Antje Tillmann für die CDU/CSU-Fraktion das prüfen, bevor wir 1,74 Milliarden Euro Steuergelder aus- Wort. geben. Wegen des gesetzlichen Anspruchs fällt dies zu- gegebenermaßen bei der Investitionszulage nicht leicht. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Warum plädiere ich heute trotzdem für den vorliegen- den Antrag auf Verlängerung der Investitionszulage? Antje Tillmann (CDU/CSU): Warum halte ich die Auflösung der Gemeinschaftsauf- Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol- gabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ legen! Heute beginnt die parlamentarische Debatte über nicht für den richtigen Weg? Herr Kollege, Sie haben die die Verlängerung der Investitionszulage über den Diskussion über die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesse- 31. Dezember 2006 hinaus. Gott sei Dank ist es in den rung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ lange mit- Verhandlungen mit der Europäischen Union gelungen, verfolgt. Wer schon ein wenig länger im Deutschen neben den schon bisher geförderten Sektoren – verarbei- Bundestag ist, der kennt die Diskussion darüber im tendes Gewerbe und produktionsnahe Dienstleistungen – Haushaltsausschuss und weiß, dass die Mittel für die Ge- die Tourismusbranche in den förderungsfähigen Be- meinschaftsaufgabe immer wieder gekürzt worden sind, reich aufzunehmen. Das ist für die neuen Länder gut und und zwar um fast 30 Prozent in den letzten fünf Jahren. wichtig. Wer die Wachstumsquoten im Bereich Touris- mus in den letzten 15 Jahren betrachtet, der sieht hier In jedem Haushaltsjahr haben wir Probleme, die För- Chancen, in den neuen Ländern neue Arbeitsplätze und derung auf dem bisherigen Niveau zu halten. Zu diesen weiteres Wachstum zu generieren. Die Gutachten bestä- Haushaltsvorbehalten kommt hinzu, dass die Gemein- tigen immer wieder einen hohen Investitionsstau und ein schaftsaufgabe jeweils zur Hälfte vom Bund und von Fehlen qualitativer Voraussetzungen in den neuen Län- den Ländern zu tragen ist. Gerade wirtschaftsschwache dern. Wir hoffen, mit der Ausweitung der Investitionszu- Länder können aber häufig den Eigenanteil gar nicht er- lage in diesem Bereich eine Lücke zu schließen. bringen, sodass auch die Bundesmittel wegfallen. Ge- rade in diesen Ländern wäre eine Wirtschaftsförderung (B) (D) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) ausgesprochen wichtig. Die Verlängerung der Investitionszulage ist schon vor Die Förderung im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe dem heutigen Tag sehr lange diskutiert worden, sowohl kann nur unter Haushaltsvorbehalt gewährt werden. in der Wirtschaft als auch in der Politik und unter den Trotz der Verpflichtungsermächtigungen kommt es im- Sachverständigen, und zwar bei weitem nicht so ein- mer wieder zu der Situation, dass den Unternehmen ge- vernehmlich, wie es heute hier geschieht. Während sich sagt werden muss: Wenn die Gelder zur Verfügung ste- die Unternehmen in den neuen Ländern schnell einig hen, kann die Investition gefördert werden. So erhalten waren, dass auch über den 31. Dezember hinaus eine die Unternehmen keine hinreichende Sicherheit für ihre Förderung mit diesem Instrument erforderlich ist, plä- Investitionen. Deshalb sagt auch der Sachverständigen- dieren Wissenschaftler schon seit längerem für ein Aus- rat: Aus Sicht der ostdeutschen Länder rechnet sich die laufen und gegen eine Verlängerung. Herr Kollege Investitionszulage besser als jede andere Förderung. Hettlich, Sie haben völlig Recht: Wir müssen uns mit diesen Bedenken beschäftigen. Wir können nicht igno- Hier bin ich Thüringerin; das sage ich ganz offen. rieren, dass sich sowohl das Institut für Wirtschaftsfor- Als Thüringerin kann ich dem Stopp der Investitionszu- schung Halle als auch der Sachverständigenrat gegen lage erst dann zustimmen, wenn ich gewiss sein kann, eine Verlängerung ausgesprochen haben. dass wir mit einer ähnlichen Sicherheit die gleiche Summe Geldes für den investiven Zweck in den neuen Die Investitionszulage ist ein breit angelegtes Förder- Ländern bekommen. Diese Sicherheit ist im Moment instrument. Es besteht die Gefahr, dass wegen der ge- nicht gegeben. Ich plädiere mit Ihnen dafür, dass wir setzlichen Absicherung starke Mitnahmeeffekte entste- weiterhin versuchen sollten, diese Sicherheit zu errei- hen, dass in Unternehmen investiert wird, die sich chen. sowieso nicht am Markt halten können, und dass hier viel Geld für Investitionen, die durchaus auch ohne För- Ich bin auch gleichzeitig Mitglied der Föderalismus- dermittel möglich wären, ausgegeben wird. kommission und es ärgert mich natürlich schon, dass von 100 Euro Investitionszulage, die ein Unternehmen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) in meinem Bundesland erhält, genau 3 Euro thüringische Auch der Sachverständigenrat hat in seinen Jahresgut- Steuergelder sind. Die übrigen 97 Euro kommen über achten 2004 und 2005 ausdrücklich für ein Auslaufen den Länderfinanzausgleich und Bundessonderergän- der Investitionszulage plädiert und sich für eine einzel- zungszuweisungen. Das führt natürlich dazu, dass jeder fallbezogene und regionalpolitischen Zielen entspre- Thüringer auf gar keinen Fall dem Stopp der I-Zulage chende Förderung ausgesprochen. zustimmen kann, solange nicht die Zahlung der 97 Euro, Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006 2969

Antje Tillmann (A) die unter anderem über den Länderfinanzausgleich kom- gen! Bei dem Thema Stalking gibt es inzwischen einen (C) men, in ähnlicher Weise sichergestellt wird. breiten Konsens in Deutschland. Das liegt nicht zuletzt daran, dass diese Problematik durch viele Veröffentli- Ich plädiere dafür, dass wir heute die Zahlungsdauer chungen bekannter geworden ist und dass viele Nach- der Investitionszulage bis 2009 verlängern. Das gibt uns stellungen und Belästigungen, die es früher zwischen ge- Zeit, in der zweiten Runde der Föderalismusreform, die trennten Paaren wahrscheinlich auch gab und die nicht wir alle miteinander beschlossen haben und bei der wir als solche definiert waren, nun auf einmal einen Namen uns mit den Finanzbeziehungen beschäftigen werden, haben, und das liegt auch daran, dass sich inzwischen ein Förderinstrument zu finden, durch das die Effektivi- Forschungsgruppen dieses Themas angenommen haben. tät und die Treffsicherheit erhöht und den Ländern trotzdem die Sicherheit gegeben wird, dass dieses Geld In Darmstadt, meinem Wahlkreis, wurde eine Unter- tatsächlich bei ihnen ankommt. suchung vorgelegt, die zeigt, dass überwiegend Männer stalken, dass es also auch beim Stalking dasselbe Phäno- Ich bin gerne dabei und freue mich. Herr Hettlich, men wie ansonsten bei Gewaltdelikten im Strafrecht vielleicht haben wir hier ja ein gemeinsames Ziel. Ich gibt, und dass – das ist besonders bedrückend für die Op- bin froh, dass wir den Unternehmen erst einmal bis 2009 fer – Stalkinghandlungen in der Regel circa zwei Jahre eine Sicherheit geben können. Beim künftigen Gesetzge- dauern. Das heißt, es ist ein relativ langer Zeitraum, in bungsverfahren werde ich für meine Fraktion für diese dem man beeinträchtigt und belästigt wird und in dem in Verlängerung stimmen. einer Weise in das Leben eingegriffen wird, dass man Danke. gut verstehen kann, dass viele der Opfer sagen, sie müss- ten sich anschließend in psychiatrische Behandlung be- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) geben. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Die momentane Rechtslage ermöglicht es, etwas zu Ich schließe die Aussprache. tun. Sie ermöglicht es den Opfern, sich vom Zivilgericht eine speziell auf ihren Fall zugeschnittene Verfügung zu Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent- holen. Bei Verstoß gegen diese Verfügung begeht der wurfs auf Drucksache 16/1409 in die in der Tages- Täter eine Straftat, die mit einer Freiheitsstrafe bis zu ei- ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die nem Jahr bestraft wird. Das haben wir alle übereinstim- Vorlage soll abweichend von der Tagesordnung aus- mend als zu wenig erachtet. Bei allen Schwierigkeiten schließlich gemäß § 96 unserer Geschäftsordnung an im Hinblick auf die Ausgestaltung war deswegen immer den Haushaltsausschuss überwiesen werden. Gibt es klar: Der Strafrahmen muss angehoben werden, um die- dazu andere Vorschläge? – Ich sehe, das ist nicht der sen besonderen Unrechtsgehalt der Tat deutlich zu ma- (B) (D) Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. chen. Nun rufe ich die Tagesordnungspunkte 7 a und 7 b Wie man das ansonsten formuliert, ist beim Stalking auf: hinreichend schwierig; denn wir müssen genau bestim- a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- men, ob sich jemand rechtmäßig auf öffentlichem gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Strafbar- Grund und Boden aufhält. Wenn beispielsweise jemand keit beharrlicher Nachstellungen (… StrÄndG) jeden Morgen gegenüber der Wohnung des Opfers auf der Straße wartet, steht er auf öffentlichem Grund und – Drucksache 16/575 – Boden und darf das zunächst einmal. Wann ist die Überweisungsvorschlag: Grenze zur Belästigung, zum Nachstellen, zum so ge- Rechtsausschuss (f) nannten Stalking erreicht und wann wird dies strafrecht- Innenausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend lich relevant? b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Diese Abgrenzung war schwierig. Deswegen hat die Entwurfs eines Stalking-Bekämpfungsgesetzes Debatte lange gedauert. Bereits in der letzten Legislatur- periode haben wir die rechtspolitische Diskussion über – Drucksache 16/1030 – die Veränderung des Stalkingparagrafens begonnen. Wir Überweisungsvorschlag: konnten sie nicht mehr förmlich abschließen, weil die Rechtsausschuss (f) Legislaturperiode früher endete, als allgemein erwartet. Innenausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Die Zeit, die wir dadurch gewonnen haben, haben wir aber genutzt. Gesetzentwürfe der Bundesregierung und Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die des Bundesrates liegen vor. In den letzten Wochen haben Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre wir gemeinsam mit den Rechtspolitikern dieses Hauses dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. eine Formulierung gesucht, die sowohl vom Bundestag Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort für als auch vom Bundesrat getragen werden kann. die Bundesregierung der Bundesministerin für Justiz, Ich möchte mich an dieser Stelle sowohl bei den Län- Brigitte Zypries. dern, insbesondere bei Ihnen, Frau Kollegin Merk, als auch bei den Abgeordneten des Deutschen Bundestages, Brigitte Zypries, Bundesministerin der Justiz: die sehr engagiert mitdiskutiert haben, wie auch bei dem Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine sehr verehr- Parlamentarischen Staatssekretär, der in diese Diskus- ten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle- sionen involviert war, für diese sehr sachlichen, 2970 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006

Bundesministerin Brigitte Zypries (A) sachgerechten und konsensorientierten Gespräche herz- Beim Verlassen des Saales hat der Mann die Frau ersto- (C) lich bedanken. chen. Ich kann den Fall nicht beurteilen, weil ich die reale Situation nicht kenne. Aber wenn gewaltförmiges (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Handeln absehbar ist, dann könnte man künftig in sol- der CDU/CSU und der FDP) chen extremen Fällen nach § 112 a StPO die Täter kurz- Die Schwierigkeit war, das strafrechtlich Wünschbare fristig in Haft nehmen. und die eigenen Vorstellungen mit dem verfassungs- Ich halte die dazu erreichten Lösungen für einen ver- rechtlich Machbaren und Vertretbaren zu verbinden. Es nünftigen Kompromiss, der vor allem eine gesetzliche liegt in der Natur der Sache, dass kein Entwurf ohne aus- Regelung ermöglicht. Denn wir sind uns einig – das ha- legungsbedürftige Begriffe auskommt. Gleichwohl muss ben zahlreiche Gespräche mit Vertretern der Polizei be- eben den Anforderungen des Bestimmtheitsgebotes ge- stätigt –, dass eine Regelung im Strafgesetzbuch vonsei- nügt werden. ten der Polizei für ausgesprochen wichtig gehalten wird. Im Entwurf der Bundesregierung war vorgesehen: Das kann aber nicht der einzige Grund sein, weil er die Es gibt klar definierte Straftatbestände, die Handlungen Länder nicht davon enthebt, auch künftig zu berücksich- sind als Erfolgsdelikte konzipiert und eine Deeskala- tigen, dass für die praktische Bearbeitung dieser Fälle tionshaft ist nicht vorgesehen. Damit hätten wir unter sowohl bei der Polizei als auch bei den Staatsanwalt- verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten mit Sicherheit schaften Fortbildungen durchgeführt werden müssen. jede Problematik ausgeschlossen. Aber im Zuge eines Es kann nicht angehen, dass einem Stalking-Opfer, das Kompromisses mit den weiter gehenden Vorstellungen sich bei der Polizei meldet, gesagt wird: „Er liebt Sie aus dem Bundesrat haben wir Lösungen entwickelt, die doch. Was wollen Sie denn?“ den Wünschen des Bundesrates ein Stück weit entgegen- Ein positives Beispiel in diesem Zusammenhang ist kommen. Bremen, wo sowohl bei der Polizei als auch bei der Die vier sehr konkreten Handlungsalternativen, die Staatsanwaltschaft Schwerpunkteinheiten gebildet wur- wir in unserem Gesetzentwurf benannt haben, nämlich den, die Fortbildungen durchführen und psychologische Verfolgung mittels Telekommunikation, Auflauern und Betreuung anbieten. In Berlin wird das ebenfalls ge- Ähnliches, werden wir – das wollen wir wenigstens vor- macht. In diesen Ländern werden – abgesehen von den schlagen – um „andere vergleichbare Handlungen“ er- Opferhilfevereinen, die eine große Hilfe sind – Fach- gänzen. Damit stellen wir sicher, dass keine Strafbar- leute eingesetzt, die wissen, wie man mit einem Opfer keitslücken entstehen. Insbesondere stellen wir in redet. Aber wenn es um die Verfolgung einer Straftat Anbetracht der sich rasant entwickelnden Technik si- geht, ist völlig klar, dass möglichst zügig die Polizei ein- cher, dass durch die Weiterentwicklung durch Technik zuschalten ist, um Schlimmeres zu verhindern. Alle For- (B) (D) keine Lücken entstehen. Wer hätte vor einigen Jahren schungsergebnisse belegen, dass ein schnelles und kate- gedacht, dass es ein Stalking mittels SMS überhaupt ge- gorisches Nein, mit dem die Grenzen aufgezeigt werden, ben kann? das Beste ist, was in solchen Fällen getan werden kann. Durch diesen Auffangtatbestand meinen wir, dem Be- Ich würde mich freuen, wenn der Kompromiss, der stimmtheitsgebot zu genügen, weil wir die Handlungs- zwischen Bund und Ländern ausgehandelt wurde, in die- alternativen zuvor näher konkretisiert haben und da- sem Haus einen Konsens finden und das Gesetz mög- durch einen Bezug zu diesen konkreten Handlungen lichst bald verabschiedet würde, damit wir im Interesse herstellen. Die Rechtsprechung muss dann herausarbei- der Opfer zu einer besseren Rechtssituation kommen. ten, was im Einzelfall eine „vergleichbare Handlung“ ist. Besten Dank für die Aufmerksamkeit. Und: Wir knüpfen bei der Strafbarkeit nicht an eine potenzielle Gefährdung an. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP) Auf besonderen Wunsch der Länder und auch der Union, wenn ich richtig informiert bin, wird es künftig auch Qualifikationstatbestände mit einem höheren Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Strafrahmen für die Fälle geben, in denen der Tod eintritt Das Wort hat nun für die FDP-Fraktion der Kollege oder die Gefahr des Todes oder einer schweren Gesund- Jörg van Essen. heitsschädigung entweder beim Opfer oder bei Angehö- rigen des Opfers besteht. Ich hatte eben schon gesagt, Jörg van Essen (FDP): dass der Strafrahmen bisher bei einem Jahr lag. Künftig Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! sollen dies drei Jahre sein. Bei schwereren, bei Qualifi- Frau Ministerin, der Appell, den Sie zum Schluss an uns kationstatbeständen können dies künftig bis zu zehn gerichtet haben, zielt offenkundig in Richtung Opposi- Jahre werden. tion. Sie haben innerhalb der Koalition schon einen Kompromiss gefunden, an dem wohl auch die Länder Im strafprozessualen Bereich wollen wir eine Erwei- mitgewirkt haben. terung für die so genannte Deeskalationshaft erreichen. In einem Fall, der sich in Berlin zugetragen hat, hätte Ihre Problembeschreibung wird von uns geteilt. Wir überlegt werden müssen, ob nicht die Deeskalationshaft hatten uns nicht zum ersten Mal mit diesem Thema zu das sachgerechte Mittel gewesen wäre, um auf diese Art befassen, und zwar zu Recht, weil uns selber durch Zei- und Weise einen Mord zu verhindern. Es ging um einen tungslektüre immer wieder gravierende Fälle von Stal- Fall von Stalking, der vor Gericht verhandelt wurde. king vor Augen geführt werden und wir das Gefühl Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006 2971

Jörg van Essen (A) haben, dass wir als Gesetzgeber die Opfer, die zum Teil – Herr Kollege, ich habe mit Ihrer Aufgeregtheit gerech- (C) schrecklich leiden, nicht allein lassen dürfen. net. Wir haben zuerst einen eher zivilrechtlichen Ansatz (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Ich bin völlig gewählt, weil wir davon ausgegangen sind, dass die unaufgeregt! Sie kennen mich doch, wenn ich schwierigen Abgrenzungsprobleme, die auch Sie aufge- aufgeregt bin!) zeigt haben, in diesem Bereich leichter zu lösen sind. Ich will deshalb ergänzend hinzufügen, dass sich Aber auch in dem zivilrechtlichen Gewaltschutzgesetz, selbstverständlich auch die Medien in unserem Land an das dann verabschiedet worden ist, ist schon ein straf- die Gesetze zu halten haben. rechtlicher Teil enthalten gewesen. (Joachim Stünker [SPD]: Da passen wir schon Ich denke, dass inzwischen genug Zeit verstrichen ist, auf!) um eine Bilanz ziehen zu können. Wir müssen feststel- len, dass die bisherige Rechtslage dem notwendigen Aber wir haben die verfassungsrechtlich garantierten Schutz der Opfer offensichtlich nicht gerecht wird. Des- Rechte der Medien zu gewährleisten. Hier eine vernünf- halb begrüßen wir es, dass wir erneut über dieses Thema tige Abwägung vorzunehmen, damit sollten wir uns in sprechen und dass über die Notwendigkeit eines eigenen den Beratungen besonders beschäftigen. Alles das ist des Straftatbestands diskutiert wird. Schweißes der Edlen wert. Ich sage für die FDP-Bundestagsfraktion, dass wir Ich will nicht verhehlen, dass mir die vom Bundesrat uns konstruktiv einbringen werden. Wir sind offen für vorgeschlagene Lösung nicht zusagt. Das Gefährdungs- einen Straftatbestand. Wir sind sehr dafür, dass kein Ge- delikt gefällt mir nicht und die darauf gründende fährdungsstraftatbestand, sondern ein erfolgsorientierter Deeskalationshaft ist nach meiner Auffassung rechts- Straftatbestand geschaffen wird; denn mit Letzterem staatlich höchst bedenklich. lässt sich das Entstehen vieler Probleme verhindern. Ich (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- freue mich jedenfalls auf die Beratungen. Wir sind es NEN]: Richtig!) insbesondere den Stalkingopfern schuldig, schnell zu ei- ner rechtsstaatlich einwandfreien Lösung zu kommen. Deshalb begrüße ich es außerordentlich, dass die Ver- handlungen zwischen den Koalitionsfraktionen offen- Herzlichen Dank. sichtlich dazu geführt haben, davon Abstand zu nehmen. (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD) (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (B) NEN]: Da täuschen Sie sich, befürchte ich! (D) Die wollen das immer noch!) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Das Wort hat nun die Staatsministerin für Justiz des – Ich gehe davon aus, dass das so ist. Freistaats Bayern, Dr. Beate Merk. (Joachim Stünker [SPD]: Dieser Herr Montag! Dr. Beate Merk, Staatsministerin (Bayern): Immer dieser Meckerer! Immer misstrauisch, dieser Mensch!) Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Intensiv und mit großer Ernsthaftigkeit haben Denn wir haben eine Verpflichtung. Deshalb sollten wir wir uns des Themas Stalking angenommen. Ich freue auf der Grundlage des Gesetzentwurfs diskutieren, der mich sehr, dass wir auf der Grundlage der Gesetzent- jetzt von der Koalition vorgelegt worden ist. Ich hoffe würfe von Bundesrat und Bundestag einen Kompromiss sehr, dass wir sorgfältig beraten; denn es ist notwendig, gefunden haben. Wir wissen, dass es jeden treffen kann, dass wir Abgrenzungen zu sozial adäquatem Verhalten und doch wird das Delikt viel zu oft bagatellisiert. Fast vornehmen. jeder ist schon einmal verlassen worden. Wie oft passiert es, dass eine angebetete Frau oder ein bewunderter Ich möchte einen Gesichtspunkt ansprechen, den Sie, Mann nichts von ihrem Verehrer bzw. seiner Verehrerin Frau Ministerin, in Ihrer Rede nicht erwähnt haben. Sie wissen will! In einer solchen Situation hat man viele wissen, dass die Medien befürchten, Probleme durch Möglichkeiten. Man kann resignieren, verzweifeln oder den zu schaffenden Straftatbestand zu bekommen. Ich sich jemand anderen suchen. finde, wir sollten die von den Medien geäußerten Sorgen ernst nehmen. Frau Ministerin, ich habe Ihre Pressemit- Was aber tut jemand, der clever ist, der Ausdauer hat teilung gelesen. Sie sagen, dass das noch nicht einmal und der absolut davon überzeugt ist, dass dieser andere tatbestandlich sei. Wer sich aber die verschiedenen Re- Mensch einzig und allein für ihn geschaffen wurde? Er cherchemöglichkeiten der Presse anschaut, der weiß, wird handeln; er wird Stalker. Als Stalker ist man Jäger. dass man das nicht ganz ausschließen kann. Wir sollten Das Opfer ist Freiwild. Ein Stalker ist ein guter Jäger. Er daher in den Beratungen diesem Aspekt besondere Auf- sieht, er hört und er ist präsent. Er registriert alles; es merksamkeit widmen. Es darf nicht sein, dass die Presse entgeht ihm nichts. Seine Motive mögen irrational sein, in unserem Land Gefahr läuft, strafrechtlich verfolgt zu sein Handeln ist dafür umso rationaler. Die begehrte werden. Frau will ihren Alltag leben. Der Stalker wird ihn analy- sieren: Wann geht sie morgens aus dem Haus? Wie lange (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Doch! Ein Journa- muss man sie aufhalten, damit sie den Bus verpasst? In list, der Stalker ist, ist ein Stalker!) welche Schule geht ihr Kind? Wo kauft sie ein? Zu 2972 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006

Staatsministerin Dr. Beate Merk (Bayern) (A) welcher Bank, zu welchem Arzt oder in welches Fitness- Früher oder später gehört dazu physisches Handeln. Will (C) studio geht sie? In welcher Zeitung könnte man ihre To- man diese Bedrohungsspirale rechtzeitig durchbrechen, desanzeige aufgeben oder in welchem Blatt ein Inserat, muss man dazu auch physisch eingreifen dürfen. Es darf in dem sie Telefonsex anbietet? Welche Nachbarn besit- nicht länger Fälle geben, in denen die Strafverfolgungs- zen genügend Zeit und Neugier, um sich die Geschichte behörden quasi hilflos zusehen müssen, bis es zur Kata- einer enttäuschten Liebe anzuhören und sie dann weiter- strophe kommt. Umso mehr freut es mich, dass wir hier zuerzählen? auf einem guten Weg sind. Wir als Länder hätten uns si- cher noch mehr gewünscht. Aber alles deutet auf einen Als Stalker bringt man Disziplin in das Leben seines tragfähigen Kompromiss hin, auch zur Deeskalations- Opfers. Geht sie montagabends nicht gerne ins Freibad? haft. Man muss nur auch dort sein, dann wird das aufhören. Kauft sie nicht immer gerne in diesem Fachgeschäft ein? Mir ist bewusst, dass das ein schweres Geschütz ist. Man muss nur in ihrem Beisein mit der Verkäuferin re- Aber als Justizministerin eines Landes kenne ich unsere den und sie kommt nicht mehr. Hat sie nicht früher oft Richter und ich weiß, dass sie dieses Instrument mit Um- über ihren Chef geschimpft? Man sollte es ihm einmal sicht gebrauchen werden. Außerdem ist die Untersu- erzählen. Die betroffene Frau soll nicht ausgehen, nicht chungshaft wegen Wiederholungsgefahr keine neue lustig sein, nicht vergessen. Sie soll nur eines: an mich Erfindung, sondern sie ist schon lange in der Strafpro- denken. zessordnung enthalten. Unser Vorschlag passt in das vor- handene System. Stalking trägt die Wiederholungsgefahr Ich habe mit vielen Stalkingopfern gesprochen. Sie schon seiner Definition nach in sich. Das Gesetz sieht erwarten eine klare, adäquate Aussage der Politik. Ich diese Form der Haft bevorzugt für Sexualdelikte vor. weiß, wie sie fühlen. Aber um die ganze Dimension des Wir wissen alle, dass Stalking in aller Regel einen sexu- Geschehens zu begreifen, muss man sich in den Täter hi- ellen Hintergrund hat. Die Deeskalationshaft wird zu- neindenken. Er allein hat die Fäden in der Hand, nur er dem nur für die besonders schweren Fälle eröffnet, etwa stellt die Weichen. Er hat nicht nur Wut im Bauch, er hat wenn der Täter die Gesundheit seines Opfers schwer be- vor allen Dingen Konzept und System. Die Frau hat es droht oder wenn er es gar in Lebensgefahr bringt. Ge- eilig? Der Stalker hat Zeit. Die Frau scheut Peinlichkei- rade deshalb sind die Qualifikationstatbestände wich- ten? Der Stalker sucht sie geradezu. Die Frau kennt tig, die wir vorschlagen. Der neue Tatbestand soll nicht Freunde, Bekannte und Kollegen? Der Stalker kennt sie nur den Anfängen wehren, er soll auch eine Antwort für auch. Es ist wie bei Hase und Igel: Wohin auch immer massive Formen des Stalkings enthalten. sich das Opfer auf den Weg macht, der Stalker ist schon dort. Er ist der Schatten. Er hat keine eigenständige Exis- Mir ist bewusst, dass wir nicht jeden schrecklichen tenz. Ihm genügt diejenige des Opfers. Und mag das Op- Fall verhindern können. Absoluten Schutz kann kein Ge- (B) (D) fer einfach leben wollen – dem Stalker reicht das War- setz gewährleisten. Aber wir brauchen ausreichende ten. Man muss nicht erst an die tödlich endenden Fälle Rechtsgrundlagen. Mir ist auch bewusst, dass Strafrecht denken, um sich klar zu machen: Stalking ist ein massi- kein Allheilmittel ist. Es ist viel zu tun, um das Stalking ver Angriff auf einen Menschen in seiner Gesamtheit, in den Griff zu bekommen. Ich gebe Frau Kollegin auf seine körperliche und auf seine seelische Unversehrt- Zypries vollkommen Recht: Wir brauchen Fortbildung heit, auf sein ganzes soziales Dasein. Es kann, wie ge- für die Strafverfolger, wir brauchen Forschung durch die sagt, jeden treffen. Psychiatrie, auch Therapie der Täter mit ihren ganzen Besonderheiten. Aber wenn uns eine effektive Lösung Warum ist Stalking eine Aufgabe für die Politik? Weil im Strafrecht gelingt, dann kann die große Koalition das unsere Rechtsordnung bisher genau das tut, was dem Tä- Zeichen setzen: Wir lassen die Opfer nicht allein. Ich ter niemals einfiele: Unsere Gesetze lassen das Opfer al- bitte Sie, setzen Sie dieses Zeichen. lein. Wann können Polizei und Justiz eingreifen? Erst dann, wenn sich der Stalker aus der Deckung wagt, wenn Es stimmt: Unser Vorhaben ist diffizil. Wir haben es er offen und sichtbar agiert, wenn er beleidigt, wenn er uns damit aber auch wirklich nicht leicht gemacht. Des- schlägt. Aber wer allein darauf reagiert, der kuriert nur wegen sollten wir anfangen, es den Tätern schwer zu Symptome und nicht die Krankheit. Deshalb ist es essen- machen. ziell wichtig, dass wir einen Tatbestand bekommen, der Herzlichen Dank. das Stalking als solches zum Ziel hat, der beharrlichem Nachstellen eigenen Unrechtsgehalt verleiht, und es (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie muss ein Straftatbestand sein, damit der Staatsanwalt bei Abgeordneten der LINKEN) für das Opfer aktiv werden kann. Das Gewaltschutzgesetz – Frau Kollegin Zypries hat Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: es angesprochen – war ein wichtiger Schritt, das Kon- Das Wort hat nun die Kollegin Sevim Dagdelen von taktverbot eine richtige Idee. Aber wer ein Leben zwi- der Fraktion Die Linke. schen Furcht und Scham führt, der tut sich mit dem (Beifall bei der LINKEN) Gang vor ein öffentliches Gericht sehr hart. Besonders wichtig ist mir die von uns in die Diskus- Sevim Dagdelen (DIE LINKE): sion gebrachte Deeskalationshaft; denn Stalking bedeu- Frau Präsidentin! Frau Ministerin! Verehrte Kollegin- tet Steigerung. Es lebt von der Intensivierung. Der Täter nen und Kollegen! In einem sind wir uns alle einig: Der muss die Schraube anziehen, die Kreise enger drehen. Schutz von Opfern beharrlicher Nachstellungen, des so Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006 2973

Sevim Dagdelen (A) genannten Stalkings, muss verbessert werden. Ich be- die vorliegende Fassung dieses Gesetzentwurfs nicht ge- (C) grüße es hier ausdrücklich, dass wir über den Bundes- recht. Ich hoffe, wir werden bei den Beratungen im Aus- ratsgesetzentwurf anscheinend nicht mehr zu sprechen schuss darauf hinwirken können, dass die Regelung zu brauchen, da die inhaltlichen Mängel dieses Gesetzent- dem Zeitpunkt, wo die Opfer die Hilfe benötigen, greift. wurfs meines Erachtens so groß sind, dass man darüber Ich danke Ihnen. überhaupt nicht zu diskutieren braucht. (Beifall bei der LINKEN) Kommen wir also zum Entwurf der Bundesregierung. Dieser hat zwar den Vorteil, dass er wahrscheinlich nicht verfassungswidrig wäre; dafür weist er aber andere Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Schwächen auf. Im Gegensatz zum Bundesratsgesetz- Nun hat das Wort der Kollege Jerzy Montag von der entwurf beschreibt der vorgesehene neue Straftatbestand Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen. § 241 b StGB abschließend besonders häufig auftretende Verhaltensweisen von Stalkern und stellt dieselben unter Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Strafe. Die Strafbarkeit soll dabei – das ist hier oft zum Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol- Ausdruck gekommen – vom Erfolg der kausalen schwer- legen! Sehr geehrte Frau Ministerin, wir reden heute wiegenden und unzumutbaren Beeinträchtigung der Le- über eine mögliche neue Strafvorschrift gegen beharrli- bensgestaltung abhängen. ches Nachstellen, Stalking genannt. Frau Justizministe- Fraglich ist hier allerdings, ob das Ziel der Gesetzesini- rin Merk aus Bayern hat in ihrem Redebeitrag die Viel- tiative so überhaupt erreicht wird. Das Ziel ist der Opfer- falt der möglichen Lebensgestaltungen geschildert und schutz, und zwar vor allem die bessere Betreuung durch uns klar gemacht, welch eine unglaubliche Belastung die Strafverfolgungsbehörden zu einem Zeitpunkt, da das dies für die Opfer jeweils darstellt. Opfer sich dem Psychoterror noch nicht durch Einschrän- Es ist richtig: Stalking ist eine ganz erhebliche Be- kung der Lebensumstände gebeugt hat. Ein Ansetzen zu schneidung der Freiheit der Lebensführung von Men- diesem Zeitpunkt wird durch den Gesetzentwurf jedoch schen. Stalking ist ein Verhalten von Tätern, das den Op- nicht geregelt. Das Opfer soll erst schwerwiegend und un- fern nicht nur psychisch, sondern auch physisch zumutbar beeinträchtigt sein, bevor die Schwelle zur erhebliche Schäden zufügt. Trotzdem sollten wir uns Strafbarkeit überschritten wird. Den Bedürfnissen der Be- noch einmal klar machen, dass eine neue Strafvorschrift troffenen wird er somit nicht gerecht. Diese sind primär im Strafgesetzbuch kein Allheilmittel gegen diesen Zu- nicht am repressiven Handeln des Staates interessiert, son- stand ist. dern an der präventiven Tätigkeit der Behörden und an Unterstützung. (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Das hat Frau (B) Merk auch gesagt!) (D) (Beifall bei der LINKEN) Die Untersuchung, die der Weiße Ring hat durchfüh- Erforderlich sind daher unseres Erachtens eine Sensibili- ren lassen und auf die die Bundesjustizministerin zu sierung der Strafverfolgungsbehörden und eine konse- sprechen gekommen ist, hat ergeben, dass in 70 Prozent quente Unterstützung der Opfer durch geschulte Kräfte. der Fälle die Polizei überhaupt nicht begriffen hat, was die Opfer ihr sagen wollten; in 80 Prozent der Fälle ha- Was die Opfer wollen, ist auch eine Unterbrechung ben die Opfer erklärt, dass sie sich durch das Verhalten der Gewaltspirale des Täters, um bereits jetzt strafbare der Polizei überhaupt nicht geschützt gefühlt haben. Handlungen wie Körperverletzung zu verhindern. Eine aus Sicht der Opfer vielleicht wünschenswerte vorbeu- Das liegt nicht daran, dass es zurzeit keinen eigenen gende Haft ist in einem demokratischen Rechtsstaat we- Straftatbestand des Stalkings gibt. In der gleichen Studie gen der schweren Form des Eingriffs in die Handlungs- wird gesagt, dass es in 40 Prozent aller Fälle zu Körper- freiheit und in die Freiheit der Person nur unter verletzungen gekommen ist, in weiteren 20 Prozent zu restriktiven Bedingungen möglich; vergleichen Sie dazu gefährlichen und schweren Körperverletzungen, dazu zu § 112 a StPO. Der vorliegende Gesetzentwurf der Bun- Beleidigungen, Bedrohungen und auch noch anderen ge- desregierung würde im Gegensatz zum Entwurf des fährlichen Straftaten. Trotzdem reagiert die Polizei in Bundesrats hieran zu Recht nichts ändern. der Regel immer noch nicht. Das hat damit zu tun, dass die Polizei – und auch die Justiz – auf dieses Phänomen Stellt sich somit die Frage, ob eine Ergänzung des Ge- des Stalkings immer noch nicht genügend vorbereitet waltschutzgesetzes um bisher nicht erfasste, nach wis- und nicht entsprechend geschult ist. Deswegen ist es senschaftlichen Untersuchungen aber verbreitete Verhal- Aufgabe der Länder, da noch viel zu tun. tensweisen nicht hilfreicher wäre. Zudem sollte unseres Erachtens der Normverletzung nach § 4 Gewaltschutz- Unter dem Strich sage ich für uns Grüne: Wir sind der gesetz der Anschein eines Bagatelldelikts genommen Auffassung, dass es eines neuen Straftatbestandes gegen werden. Die Polizeikräfte sollten darüber hinaus dazu das Stalking bedarf. Wir sollten uns jetzt in der ersten angehalten werden, die Opfer von Straftaten allgemein Lesung den Entwürfen nähern, die es dazu heute gibt. und die Opfer von Stalking ernst zu nehmen und entspre- Die große Koalition hat heute – wie gestern zum chend zu betreuen. Steuerchaos – ein bisschen zum Rechtsstaatschaos bei- Dem grundsätzlichen Anliegen, eine bessere Verfolg- getragen. Wir reden heute nämlich über einen Gesetzent- barkeit der Stalker durch die Strafbewehrung zu errei- wurf des Bundesrates, den es offensichtlich nicht mehr chen und damit den Opfern zu helfen, wird man durch gibt, und über einen Gesetzentwurf der Bundesregie- 2974 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006

Jerzy Montag (A) rung, den es offensichtlich auch nicht mehr gibt. In der Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und (C) Öffentlichkeit wird über einen Gesetzentwurf von Bay- Geschäftsordnung Rechtsausschuss ern diskutiert, der nie eingebracht worden ist. Meine Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Vorrednerinnen und Vorredner haben über irgendeine Ei- nigung geredet, die wir nicht kennen, jedenfalls nicht in b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jürgen Form einer Gesetzesvorlage hier. Aber wir sind ja in der Koppelin, Dr. Max Stadler, Jens Ackermann, ersten Lesung des Gesetzes. weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Es ist kein guter Stil, dass wir heute um halb drei eine Verhaltenskodex für ausscheidende Regie- Presseerklärung des Bundesjustizministeriums be- rungsmitglieder kommen haben, in der erstens steht, dass der Bundestag – Drucksache 16/677 – heute in erster Lesung über zwei Gesetzesvorschläge be- Überweisungsvorschlag: raten hat – jetzt ist es halb fünf! –, und in der uns zwei- Innenausschuss (f) tens ein völlig neuer Gesetzentwurf mit neuen Fallge- Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und staltungen vorgelegt wird, den wir so nicht kennen. Geschäftsordnung Rechtsausschuss (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das Ausschuss für Wirtschaft und Technologie war vorhersehbar!) c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker Ich habe keine Zeit, im Rahmen meines jetzigen Bei- Beck (Köln), Monika Lazar, Jerzy Montag, Silke trags zur Debatte zu den einzelnen Punkten des nicht Stokar von Neuforn und der Fraktion des BÜND- vorhandenen Gesetzentwurfs Stellung zu nehmen. Aber NISSES 90/DIE GRÜNEN wir sichern Ihnen zu, dass wir uns im Gesetzgebungsver- Berufstätigkeit von ausgeschiedenen Mitglie- fahren mit Ihrem Vorschlag einer Deeskalationshaft und dern der Bundesregierung regeln mit vielen anderen Vorschlägen befassen werden, mit Vorschlägen, von denen das Bundesjustizministerium – Drucksache 16/948 – bisher behauptet hat, sie seien verfassungswidrig, wäh- Überweisungsvorschlag: rend es nun der Meinung ist, das sei hinnehmbar. Ein Innenausschuss (f) solches Verhalten ist nicht hinnehmbar. Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Dem werden wir im parlamentarischen Verfahrensgang noch nachspüren. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die (B) Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre (D) Danke schön. dazu keinen Widerspruch. Dann ist auch dies so be- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – schlossen. Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Das habe ich Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin nicht verstanden! – Michael Grosse-Brömer Dr. Gesine Lötzsch von der Fraktion Die Linke das [CDU/CSU]: Es war aber schwer, was zu fin- Wort. den, oder?) (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE): Ich schließe die Aussprache. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Vor kur- Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzent- zem haben wir hier in einer Aktuellen Stunde über den würfe auf den Drucksachen 16/575 und 16/1030 an die Wechsel ehemaliger Bundesminister und Staatssekretäre in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- in die Wirtschaft gesprochen. Dabei ging es nicht um schlagen. Gibt es dazu andere Vorschläge? – Das ist Einzelfälle, sondern um eine bisher ungekannte Massen- nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen. flucht des politischen Personals in die Wirtschaft. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a bis 8 c auf: ( [SPD]: Das hat doch nichts mit Flucht zu tun!) a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine, Dr. Gesine Zwei Beispiele zur Erinnerung: Altkanzler Gerhard Lötzsch und der Fraktion der LINKEN Schröder ging nach seiner Abwahl in den Aktionärsaus- schuss der Nordeuropäischen Gaspipelinegesellschaft. Gesetzliche Regelung für frühere Mitglieder Jahreseinkommen 250 000 Euro. Noch zum Ende seiner der Bundesregierung und Staatssekretäre zur Amtszeit wurde von der Bundesregierung über eine ge- Untersagung von Tätigkeiten in der Privat- waltige Kreditbürgschaft für Gasprom entschieden. Herr wirtschaft, die mit ihrer ehemaligen Tätigkeit Schröder will angeblich nichts davon gewusst haben. für die Bundesregierung im Zusammenhang stehen (Dr. Uwe Küster [SPD]: Gar nichts!) – Drucksache 16/846 – Anderes Beispiel: Exfinanzstaatssekretär Cajo Koch- Überweisungsvorschlag: Weser geht als Vice Chairman zur Deutschen Bank. Vor- Innenausschuss (f) her war er in der Bundesregierung für die Bankenauf- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006 2975

Dr. Gesine Lötzsch (A) sicht zuständig. Er war an der Abwicklung eines Schul- – Einigkeit der Opposition in dem Fall, verehrter Kol- (C) dendeals beteiligt, in den auch die Deutsche Bank lege Niebel, wäre ja nicht schlecht. Aber ob Ihr Vor- involviert war. schlag wirklich besser ist, werden wir in den Ausschüs- sen sorgfältig beraten. Es geht darum, die Mehrheit des Wissen Sie, ich habe gar kein Problem, wenn zum Hauses einzubeziehen. Beispiel der ehemalige Staatssekretär Rezzo Schlauch von den Grünen die Seiten wechselt und jetzt Kernkraft- Sie sollten also nicht auf die Vergesslichkeit der Wäh- werksbetreiber EnBW berät, wie man den von SPD und lerinnen und Wähler hoffen. Das wäre der falsche Weg. Grünen beschlossenen Atomausstieg wieder rückgängig Sie werden Sie am nächsten Wahltag daran erinnern. machen kann. In der Diskussion vor einigen Wochen im Vielen Dank. Bundestag wurde deutlich, dass niemand etwas dagegen hat, wenn Politiker so in die Wirtschaft wechseln, wie es (Beifall bei der LINKEN) Herr Schlauch gemacht hat. Er muss das nur mit seiner Partei und, wenn vorhanden, mit seinem Gewissen ver- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: einbaren. Es ist aber ein unhaltbarer Zustand, wenn Poli- Nun erteile ich dem Kollegen Helmut Brandt für die tiker in ihrer Amtszeit Entscheidungen treffen, die Un- CDU/CSU-Fraktion das Wort. ternehmen begünstigen, zu denen sie dann später wechseln wollen, und das noch gut dotiert. Helmut Brandt (CDU/CSU): (Beifall bei der LINKEN) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine verehrten Kol- leginnen und Kollegen! Auf Verlangen der Fraktion des Das ist noch nicht strafbar. Für mich ist das eine Form Bündnisses 90/Die Grünen fand am 16. Februar 2006 der nachgelagerten Bestechung nach dem Motto „Erst eine Aktuelle Stunde unter dem Titel „Übernahme ehe- liefern, später zahlen“. Diese Praxis muss gesetzlich aus- maliger Regierungsmitglieder in Vorstände und Auf- geschlossen werden. sichtsräte deutscher Energiekonzerne“ statt. Ausgangs- punkt für diese Aktuelle Stunde war der in der (Beifall bei der LINKEN) Öffentlichkeit vielfach negativ diskutierte Wechsel des Leider hatten wir den Eindruck, dass die Bundesre- früheren Bundeskanzlers Gerhard Schröder in den Auf- gierung denkt, wenn sich die erste Aufregung gelegt sichtsrat des deutsch-russischen Konsortiums Nordeuro- habe, gebe es keinen Handlungsbedarf mehr. Da haben päische Gaspipeline. In der Diskussion wurde bereits da- Sie aber die Rechnung ohne die Wählerinnen und Wäh- mals zu Recht darauf hingewiesen, dass es bei dieser ler gemacht. Auch wir werden das nicht akzeptieren. Da- Frage eben nicht um ein energiepolitisches Thema gehe, sondern dass über das Thema unter grundsätzlichen Ge- (B) rum haben wir Ihnen den heute in Rede stehenden An- (D) trag vorgelegt. sichtspunkten zu diskutieren sei. Nunmehr diskutieren wir über drei Anträge der Lin- Wir fordern die Bundesregierung darin auf, eine ge- ken, der FDP und des Bündnisses 90/Die Grünen. Diese setzliche Regelung auszuarbeiten, die eine Karenzzeit Anträge haben eines gemeinsam: In ihnen wird ein Ver- von fünf Jahren für ehemalige Regierungsmitglieder haltenskodex bzw. eine gesetzliche Regelung gefordert, vorsieht. ohne aber zu präzisieren, wie eine solche Regelung in- (Beifall bei der LINKEN) haltlich ausgestaltet sein soll. Aber genau hierin liegt das Problem. Jeder Regierungsbeamte muss vor einem Wechsel in ein Unternehmen die Genehmigung seines Dienstherrn ein- Die drei Anträge unterscheiden sich im Wesentlichen holen. Das gilt noch fünf Jahre nach dem Ausscheiden darin, dass die Linke eine fünfjährige Karenzzeit fordert, aus dem Staatsdienst. Laut Beamtengesetz muss der während die FDP eine solche von zwei Jahren für ausrei- Dienstherr die Beschäftigung untersagen, wenn die Ge- chend hält. Bündnis 90/Die Grünen fordert ohne Festle- fahr besteht, dass dadurch dienstliche Interessen beein- gung auf eine Karenzzeit von der Bundesregierung, eine trächtigt werden. Warum, frage ich Sie, soll diese Rege- verfassungsfeste Lösung zu präsentieren. lung, die für Staatsbedienstete schon lange gilt, nicht (Dirk Niebel [FDP]: Wir machen es unterge- auch für ehemalige Regierungsmitglieder gelten? Das setzlich!) Motto „Erst regieren, dann kassieren“ darf nicht weiter Schule machen. – Ich komme noch auf diesen Punkt, Herr Kollege Niebel. – So weit zum Ausgangspunkt der heutigen De- (Beifall bei der LINKEN) batte. Ich finde, meine Damen und Herren, es ist nicht gut Es erscheint mir wesentlich, über dieses schwierige für unser Land und für die Demokratie, wenn der Ein- Thema mit großer Sensibilität und Sachlichkeit zu disku- druck erweckt wird, dass bestimmte Herren ihren Eid tieren. Alles andere würde nur dazu führen, dass in der auf das Grundgesetz bei ihrer Entlassung an der Garde- Öffentlichkeit der falsche Eindruck entsteht, dass bei robe des Bundespräsidenten abgeben. Darum bitte ich Politikern nach dem Ausscheiden aus ihrem Amt ein di- Sie, unseren Vorschlag zu übernehmen oder, wenn Sie rekter Wechsel in die Wirtschaft an der Tagesordnung einen besseren haben, diesen vorzulegen. ist. Ein solcher Eindruck würde nur zu weiterer Politik- verdrossenheit führen. Wir haben heute schon an anderer (Dirk Niebel [FDP]: Haben wir doch schon!) Stelle über diese Problematik diskutiert. 2976 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006

Helmut Brandt (A) Tatsächlich muss zunächst einmal festgestellt werden, verhältnis zum Bund stehen und keine Beamte im staats- (C) dass wir in der Bundesrepublik Deutschland von 1949 rechtlichen Sinne sind. Die Amtszeit eines Mitgliedes bis heute, also immerhin mehr als 56 Jahre, ohne eine der Bundesregierung ist zeitlich begrenzt und nicht wie solche Regelung ausgekommen sind. Es stellt sich daher das Dienstverhältnis eines Beamten auf Lebenszeit aus- schon die Frage, ob man aufgrund bestimmter Einzel- gerichtet. fälle, die sicherlich fragwürdig und kritikwürdig sind, auf die Notwendigkeit einer generellen Regelung schlie- Darüber hinaus finden sich im Strafgesetzbuch Vor- ßen muss. Außerdem muss man sich darüber im Klaren schriften wie § 331, die Vorteilsannahme, und § 353 b, sein, dass eine solch konkrete Regelung nur äußerst die Verletzung von Dienstgeheimnissen. Diese Vor- schwer generalisiert werden kann. Dafür spricht schon, schriften haben Auswirkungen nicht nur während der dass es in sämtlichen Anträgen der drei eben genannten Mitgliedschaft in der Bundesregierung, sondern nach Fraktionen ganz offensichtlich bewusst unterlassen Auffassung der Rechtswissenschaft auch noch danach, wurde, einen bestimmten Text vorzugeben. wenn nämlich die Aufnahme einer Tätigkeit und die da- mit verbundene Vorteilsannahme in unmittelbarem Zu- Betritt man Neuland, so empfiehlt es sich immer, über sammenhang mit der früheren Tätigkeit als Mitglied der den Tellerrand hinauszuschauen. Dabei stellt man sehr Regierung stehen sollten. Man kann deshalb nicht sagen, schnell fest, dass es höchst unterschiedliche Regelungen dass es in diesem Bereich keine Regelungen gibt. und Auffassungen zu dem hier diskutierten Thema gibt. Beispiel USA: Hier gibt es eine Wartezeit von einem bis Fasst man alles zusammen, so ist sicherlich die Frage zwei Jahren, wobei dort auf den Einzelfall abgestellt berechtigt, ob überhaupt eine Regelungslücke besteht. wird. Das Gleiche gilt in etwa auch in Großbritannien. In Jedenfalls kann man nach meiner Meinung aus dem Vor- Frankreich demgegenüber ist ein schneller Wechsel in hergesagten sicherlich den Schluss ziehen, dass es einer die Wirtschaft völlig üblich und gilt dort nicht als ehren- zusätzlichen gesetzlichen Regelung nicht zwingend be- rührig. Auf europäischer Ebene gilt seit dem Jahr 2000 darf. eine Karenzzeit von einem Jahr. Das ist die so genannte (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Lex Bangemann. In unseren Bundesländern gibt es nach neten der SPD) meinem Wissen nur im Land Nordrhein-Westfalen eine Regelung, die sich an die Regelung für Beamte anlehnt. Reden wir mithin über einen Verhaltenskodex, dem sich jedes Regierungsmitglied einschließlich der Parla- Diese Beispiele zeigen, dass eine wie auch immer ge- mentarischen Staatssekretäre zu unterwerfen hätte. Unter artete gesetzliche Regelung nicht per se als notwendig Kodex versteht man zunächst ungeschriebene Verhal- angesehen werden kann. tensregeln. In der Formulierung solcher Regeln, will (B) Immer wieder werden zu Recht die Forderung und man sie schriftlich fixieren, liegt das Problem. Will man (D) auch der Wunsch geäußert, dass wir mehr Politiker mit mithin den Wechsel von der beruflichen Tätigkeit aus Berufserfahrung außerhalb der Politik benötigen und es der Wirtschaft in die Politik und umgekehrt nicht unnö- nicht erstrebenswert sein kann, künftig nur noch Berufs- tig behindern, sondern im Gegenteil grundsätzlich för- politiker zu beschäftigen. Wenn man diese Forderung dern, so müssen Regeln gefunden werden, die auf die ernst nimmt, so muss man sowohl den Wechsel von ei- Besonderheit der Tätigkeit eines Staatssekretärs, Minis- ner beruflichen Tätigkeit in eine politische Tätigkeit er- ters, eines Bundeskanzlers oder einer Bundeskanzlerin möglichen wie auch umgekehrt nach Beendigung des Rücksicht nehmen. Denn nur wenn die Gefahr besteht Mandates bzw. nach Ausscheiden aus dem Amt den und der äußere Anschein erweckt wird, dass die beruf- Wechsel in eine wirtschaftliche Betätigung ermöglichen. lich übernommene Tätigkeit in einem nachträglichen Dies sollte ohne Diskriminierung geschehen. Im Übri- Zusammenhang mit der früheren Tätigkeit und mit be- gen würde das Verbot einer Tätigkeit, wenn es rigoros stimmten aus dieser Tätigkeit sich ergebenden Entschei- gelten würde, eindeutig gegen Art. 12 Abs. 1 des Grund- dungen in Zusammenhang steht, ist die Selbstbeschrän- gesetzes verstoßen. kung geboten und dann allerdings auch zu fordern. Was ist die rechtliche Situation heute? Da muss man Eine weitere Schwierigkeit bietet aber auch die Frage, zunächst auf Art. 66 des Grundgesetzes verweisen. Hier wem es dann obliegt, die Einhaltung einer solchen Rege- wird den Mitgliedern der Bundesregierung eine gleich- lung zu überprüfen, und welche Sanktionen damit ver- zeitige Erwerbstätigkeit praktisch untersagt. Näher aus- bunden sein könnten. Es kommt hinzu: Fasst man die gestaltet ist dieses Verbot im Bundesministergesetz. Verhaltensregeln zu weit, so wäre die zwangsläufige Wenn das Grundgesetz diese Betätigungs- und Zugehö- Folge, dass man zu grundgesetzwidrigen Berufsverboten rigkeitsverbote nur aktiven Mitgliedern der Bundesre- gelangen würde. Fasst man die Formulierung zu eng, so gierung auferlegt, so kann man hieraus sicherlich auch ist nicht auszuschließen, dass ein Wechsel zwischen den Schluss ziehen, dass eine gewisse Grundentschei- Politik und Wirtschaft in zulässiger Weise erfolgt, wobei dung des Grundgesetzgebers dahin gehend vorliegt, dass dann ein fader Beigeschmack bleibt oder das Ganze vor und nach einem Regierungsamt eine sonstige beruf- – wie die Schwaben sagen – ein Geschmäckle hat. liche Tätigkeit möglich sein soll. Mir scheint, dass die Vielzahl möglicher Interessen- Dabei ist auch zu beachten, dass die Anlehnung an kollisionen kaum abstrakt zufriedenstellend geregelt das Beamtenrecht, wie es von einigen gefordert wird, werden kann. Dennoch sollten wir alles tun, um künftig schon deshalb problematisch ist, weil die Mitglieder der einen möglichen Schaden für das Ansehen der Bundes- Bundesregierung in einem öffentlich-rechtlichen Amts- republik Deutschland und der Politik insgesamt zu ver- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006 2977

Helmut Brandt (A) meiden. Schön und nach meiner Auffassung die beste mehr auf der Regierungsbank! Die Regie- (C) Lösung wäre es, wenn die betroffenen Regierungsmit- rungsbank ist ganz !) glieder sich selbst eine Art freiwillige Beschränkung – Herr Beck, lassen Sie den Kinderkram doch bitte ein- auferlegen würden. Solange dies nicht der Fall ist, bedarf mal außen vor und bleiben Sie einigermaßen ernsthaft! es weiterer Diskussionen, um zu einem für alle befriedi- Ich merke ja, dass Sie sich wahnsinnig amüsieren. Das genden Ergebnis zu gelangen. kann man sich ja wünschen. Ich freue mich in diesem Sinne auf eine unpolemische Wir wollen eine geordnete Debatte führen. Wir waren und nicht populistische Diskussion im zuständigen Fach- mitten in der Debatte. Jetzt unterbrechen Sie die Debatte ausschuss. und versuchen eine Abstimmung über eine Sache, die Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ich für absolut überflüssig halte, herbeizuführen. Bei dieser Gelegenheit muss ich sagen: Ein bisschen mehr (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Ernsthaftigkeit kann nicht schaden. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Herr Kollege Brandt, nach meinen Informationen war NEN]: Wir sind aber sehr ernsthaft! – Dirk das Ihre erste Rede in diesem Haus. Niebel [FDP]: Das dauert aber lange, bis der Kollege Küster zum Punkt kommt!) (Helmut Brandt [CDU/CSU]: Sie sind richtig informiert!) Sie werden erleben, dass Sie jetzt und bei jeder folgen- den Gelegenheit den Kürzeren ziehen. Ich gratuliere Ihnen dazu sehr herzlich und wünsche Ih- nen für die weitere Arbeit alles erdenklich Gute. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (Beifall) Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Koschyk. Nun erteile ich das Wort zur Geschäftsordnung dem Kollegen Beck. Hartmut Koschyk (CDU/CSU): Verehrter Kollege Beck, bitte nehmen Sie zur Kennt- Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): nis, dass der Parlamentarische Staatssekretär beim Bun- Das ist eine wichtige Frage, die vor allen Dingen die deswirtschaftsminister im Plenum anwesend ist. Bundesminister interessieren muss. Es schmerzt mich (Dirk Niebel [FDP]: Das ist nur der Abgeord- schon sehr, dass bei dieser Debatte kein Minister anwe- nete Hintze!) send ist. (B) – Sie haben die Nichtanwesenheit eines Vertreters des (D) (Widerspruch bei der CDU/CSU und der SPD) Bundeswirtschaftsministeriums angemahnt. Ein Vertre- – Lediglich einer, Herr Seehofer. – Ich meine, der Wirt- ter ist aber anwesend. schaftsminister sollte angesichts der Tatsache, dass es in (Dirk Niebel [FDP]: Ich sehe aber keinen!) seinem Haus einen aktuellen Fall zu dem in Rede stehen- den Thema gibt, anwesend sein. Deswegen beantragen Der Herr Bundesminister hat wichtige andere Ter- wir die Herbeizitierung des Ministers Glos. mine. (Klaus Uwe Benneter [SPD]: Der wichtigste (Dirk Niebel [FDP]: Was kann wichtiger sein Minister ist da!) als das Parlament?) Er war heute den ganzen Morgen im Plenum anwesend. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Herr Kollege Beck, wir haben uns im Kreise der Par- Herr Küster, bitte sehr. lamentarischen Geschäftsführer und im Ältestenrat oft- mals ernsthaft darüber unterhalten, was im Umgang mit- Dr. Uwe Küster (SPD): einander geboten ist. Sie sollten Ihren Antrag Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! zurückziehen. Ich appelliere an Sie, mit dem Instrument Hoch geehrter Herr Kollege Beck, man kann natürlich der Herbeizitierung von Ministern nicht leichtfertig um- immer wieder versuchen, durch solche Anträge ein biss- zugehen, insbesondere wenn der Parlamentarische chen Wirbel in das Plenum hineinzubringen und für ein Staatssekretär beim Bundesminister für Wirtschaft und bisschen Aufhellung zu sorgen. Ich halte das für absolut Technologie anwesend ist. überflüssig. Erstens haben Sie Herrn Minister Seehofer übersehen. (Volker Beck [Köln) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Regierungsbank ist leer! – (Bundesminister Horst Seehofer und Parl. Dirk Niebel [FDP]: Ich sehe keinen Staats- Staatssekretär begeben sich auf sekretär!) ihren Abgeordnetensitz) Zweitens war die Staatsministerin da. Auch zwei Staats- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: sekretäre sind anwesend. Ich sehe keine weiteren Wortmeldungen. (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE Herr Kollege Beck, erhalten Sie Ihren Antrag auf- GRÜNEN]: Jetzt haben wir gar niemanden recht, auch wenn der Herr Parlamentarische Staatssekre- 2978 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt (A) tär beim Bundesminister für Wirtschaft und Technologie Daher kommen wir zur Abstimmung über den Ge- (C) anwesend ist? schäftsordnungsantrag des Kollegen Beck und der Frak- tion des Bündnisses 90/Die Grünen durch Auszählung (Dirk Niebel [FDP]: Aber auf der Regierungs- der Stimmen. bank sitzt doch gar keiner, Frau Präsidentin!) (Vorsitz: Vizepräsidentin Petra Pau) – Herr Kollege Niebel, Sie haben gesehen, dass er zuerst auf der Regierungsbank saß und immer noch im Plenar- saal ist. Vizepräsidentin Petra Pau: Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie, jetzt Noch einmal zur Geschäftsordnung, Herr Küster. den Saal zu verlassen, und ich bitte, die Türen zu schlie- ßen. (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn er keinen Antrag stellt, ist Die Abstimmung ist eröffnet. das unzulässig!) Ich schließe die Abstimmung.

Dr. Uwe Küster (SPD): Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie, Platz zu nehmen. Wir erwarten das Ergebnis der Auszählung Herr Beck, Sie kennen die Geschäftsordnung genauso durch die Schriftführerinnen und Schriftführer. gut wie ich. Also werden Sie nicht erwarten, dass ich noch einmal in die bereits abgeschlossene Debatte über Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie, Platz diesen Punkt einsteige. Ich stelle den Antrag, dass wir in zu nehmen, damit ich das Ergebnis der Abstimmung be- dem üblichen Verfahren, also durch Auszählen, über die kannt geben kann. Frage, um die es hier geht, abstimmen. Das heißt, wir Mit Ja haben 102 Kolleginnen und Kollegen ge- machen jetzt einen schönen Hammelsprung. stimmt, (Lachen bei der FDP – Dirk Niebel [FDP]: (Dr. Uwe Küster [SPD]: So wenige!) Erst einmal müssen wir abstimmen! Herr Küster, lesen Sie doch einmal in der Ge- mit Nein haben 254 Kolleginnen und Kollegen ge- schäftsordnung nach!) stimmt, Dann schauen wir einmal, ob der Antrag von Herrn Beck (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) eine Mehrheit findet. kein Kollege und keine Kollegin hat sich enthalten. (Zurufe: Oh!) (B) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (D) Der Antrag steht. In unserer Geschäftsordnung ist das Damit ist der Antrag abgelehnt. Procedere klar geregelt. Wir fahren in der Debatte fort. Das Wort erhält der Zunächst einmal wird ohne Auszählung der Stimmen Kollege Niebel. über den Antrag abgestimmt. Ich bitte diejenigen, die (Beifall bei der FDP) dem Antrag des Kollegen Beck auf Herbeizitierung des Wirtschaftsministers zustimmen wollen, um das Hand- zeichen. – Dirk Niebel (FDP): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und (Dirk Niebel [FDP]: Ich sehe Herrn Glos so Herren! Nachdem der Kollege Beck mir ein ausreichen- gern!) des Publikum besorgt hat, freue ich mich, dass wir die Debatte fortsetzen können. Es ist nämlich eine wichtige Wer ist dagegen? – Debatte. Denn es geht um das Ansehen der Politiker und (Dr. Uwe Küster [SPD]: Eindeutig die Mehr- das Vertrauen in die Unabhängigkeit staatlichen Han- heit! – Lachen bei der FDP) delns in der Bundesrepublik Deutschland. Wir sind uns im Präsidium nicht einig. Deshalb müssen (Unruhe) wir noch einmal abstimmen. Wir alle – auch diejenigen, die da herumstehen und (Hellmut Königshaus [FDP]: Da lachen ja die reden – müssen zur Kenntnis nehmen, dass die Schamlo- Hühner!) sen und die Ungenierten nicht nur ihren eigenen Ruf rui- nieren, sondern – wie es im wirklichen Leben bei allen Ich bitte diejenigen, die dem Antrag zustimmen wollen, gesellschaftlichen Gruppen der Fall ist – auch diejeni- um das Handzeichen. – Wer lehnt den Antrag ab? – gen, die ihre Arbeit ernst nehmen, mit einem schlechten (Klaus Uwe Benneter [SPD]: Eindeutig die Ruf überziehen. Deswegen haben wir gesagt: Wir brau- Mehrheit! – Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: chen einen Verhaltenskodex für das berufliche Engage- Eindeutig die Mehrheit!) ment von ehemaligen Regierungsmitgliedern. (Beifall bei der FDP) Wir im Präsidium sind der Meinung, dass das Ergeb- nis unterschiedlich interpretiert werden kann. Der Sit- Wir sind ganz ausdrücklich gegen ein gesetzliches zungsvorstand ist sich über das Ergebnis der Abstim- Berufsverbot, weil unser Bild vom hauptamtlichen Poli- mung auch nach der Gegenprobe nicht einig. tiker nicht das eines berufslosen Politikers ist. Vielmehr Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006 2979

Dirk Niebel (A) ist es das von gestandenen Persönlichkeiten, die Lebens- ran in den Vorstand der Deutschen Bahn wechselt, dann (C) erfahrung haben, die wissen, wie man sich im wirklichen darf man schon hellhörig werden. Leben durchschlägt, und die ihre Erfahrungen in die (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Richtig!) politische Tätigkeit einbringen. Das Gleiche gilt für einen ehemaligen Staatssekretär (Beifall bei der FDP) im Finanzministerium, der nicht nur ein Schuldenge- Deswegen haben wir schon 2003 gefordert, einen ent- schäft eingefädelt hat, sondern auch für die Bankenauf- sprechenden Verhaltenskodex einzuführen, wie ihn auch sicht zuständig war und offenkundig an der Gewährung die Europäische Union hat. Glauben Sie mir: Es waren einer relativ großen Bürgschaft mit beteiligt war, von der leidvolle Erfahrungen, bis die Europäische Union dahin in der letzten Regierung offenkundig keiner gewusst hat, gekommen ist. Es ist jetzt wieder notwendig, dieses und der dann in ein Unternehmen geht, das von all die- Thema auf die Tagesordnung zu setzen; denn gerade bei sen Geschäften profitiert hat. Spätestens dann muss die der abgewählten rot-grünen Bundesregierung gibt es Hellhörigkeit doch noch etwas präziser werden. eine deutliche Häufung von Fällen, die zumindest ein (Beifall bei der FDP) Geschmäckle haben. Es schlägt dem Fass den Boden aus, wenn ein Altbun- (Unruhe) deskanzler zum Gasmann wird, also faktisch auf einen Posten wechselt, den es ohne sein politisches Handeln Vizepräsidentin Petra Pau: niemals gegeben hätte. Kollege Niebel, entschuldigen Sie, dass ich Sie unter- Ich habe drei Kinder. Ich versuche ihnen deutlich zu breche. machen, dass es bestimmte Dinge gibt, von denen man weiß: Die tut man nicht. Es gibt auch bestimmte Dinge, Dirk Niebel (FDP): die sich nicht wegprozessieren lassen. Es ist eine Frage Solange Sie die Zeit anhalten, jederzeit. von Ethik und Moral, von Anstand und Common Sense, über die wir hier diskutieren. Ich bin der festen Überzeu- gung: Wenn sich Menschen in einem öffentlichen Amt Vizepräsidentin Petra Pau: engagieren, haben sie auch nach dem Ausscheiden ein Ja. – Ich möchte Ihre Redebedingungen verbessern. Stück weit Sorge dafür zu tragen, dass dieses Amt und Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn Sie an dieser alle Nachfolgerinnen und Nachfolger in diesem Amt Debatte nicht teilhaben wollen, bitte ich Sie, die dringen- nicht beschädigt werden. Gerade von einem Altkanzler, den Gespräche doch vor der Türe fortzusetzen, sodass der – wie ich finde, zu Recht – sein Leben lang mit öf- die Kollegen, die sich hier mit dem Kollegen Niebel aus- fentlichen Aufgaben betraut wird und auch deswegen (B) richtigerweise in einem ausreichenden Maße alimentiert (D) tauschen wollen, die Chance dazu haben. wird, hat man eine größere Sensibilität zu erwarten als (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten von einem ehemaligen grünen Wirtschaftsstaatssekretär, der CDU/CSU und der LINKEN sowie des der zu einem der größten Atomenergieerzeuger in Abg. Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE Deutschland geht – obwohl er doch eigentlich gegen die GRÜNEN]) Atomenergie ist. Ich glaube, es ist richtig, dass wir uns mit der Frage Dirk Niebel (FDP): auseinander setzen, was man tut und was man nicht tut. Vielen Dank, Frau Präsidentin. Ich warne bloß davor, Einen gewissen inneren Kompass für das zu haben, was dass dann hier wieder nur zehn Abgeordnete der Regie- anständig ist, steht einem Parlament durchaus gut an. rungsfraktionen sitzen. – Ein bisschen disziplinierter Deswegen fordern wir kein gesetzliches Berufsverbot müssen Sie schon sein, wenn Sie groß sein wollen. – Staatssekretäre und Minister sind keine Beamten und Soldaten, es gilt nicht das Lebenszeitprinzip –, aber ei- (Beifall des Abg. Hans-Michael Goldmann nen Verhaltenskodex. Wir selbst sollten uns Gedanken [FDP]) darüber machen, welches Ansehen wir in der Öffentlich- In der abgewählten Regierung gibt es eine gewisse keit genießen, dass Fehlverhalten Misstrauen in die Un- Häufung von Fällen, von denen man sagen könnte, dass abhängigkeit politischer Entscheidungen wecken kann. sie ein Geschmäckle haben. Eine Interessenvermischung Die Bürgerinnen und Bürger können von uns erwarten, dass wir wenigstens so weit gehen, uns diese Gedanken ist zumindest möglich. zu machen. Deswegen lade ich Sie alle ein, unseren Weg Wenn der ehemalige Wirtschaftsminister Müller, der zu gehen: kein gesetzliches Berufsverbot, aber ein Stück aus der Energiewirtschaft kam und als Parteiloser ein weit mehr Sensibilität für das, was sich gehört, und das, Ministeramt übernommen hat, in die Energiewirtschaft was man nicht tut. zurückgeht, mag noch ein gewisses Maß an Toleranz ge- Vielen herzlichen Dank. übt werden. Wenn aber ein Staatssekretär, der für diesen Minister eine Ministerentscheidung durchgesetzt hat, (Beifall bei der FDP) ebenfalls in den Vorstand eines der begünstigten Ener- gieunternehmen geht, dann wird es schon kritisch. Wenn Vizepräsidentin Petra Pau: ein ehemaliger bayerischer Wirtschaftsminister erst die Das Wort hat der Kollege Martin Gerster. Verhandlungen dieser vermeintlich großen Koalition im Verkehrsbereich führt und unmittelbar im Anschluss da- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) 2980 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006

(A) Martin Gerster (SPD): Deswegen bin ich auch dankbar für die Denkanstöße, (C) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und die aus den drei Fraktionen gekommen sind. Entschuldi- Kollegen! Die Aktuelle Stunde im Februar dieses Jahres, gung, aber mehr als Denkanstöße sind es aus meiner die Bundestagsdebatte im Dezember, aber auch die heu- Sicht an dieser Stelle leider nicht. Wenn Ihre Anträge tigen Beiträge zeigen: In der Tat gibt es immer wieder wirklich so ernst gemeint sind, dann hätte ich eigentlich Fragen und Unklarheiten, wenn ehemalige Angehörige schon erwartet, dass sie nach all den erhitzten Diskussio- der Bundesregierung sehr schnell in die Wirtschaft nen in den letzten paar Monaten fundierter und auch ge- wechseln. Oft wird über Nacht – ruck, zuck! – der Vor- nauer ausgearbeitet sind. wurf der Vorteilsnahme erhoben, auch wenn das Verhal- (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE ten rechtlich einwandfrei ist. Medien und Opposition GRÜNEN]: Sie haben Ihre Hausaufgaben spielen dabei einander in die Hände, skandalisieren vor- nicht gemacht! Deshalb müssen Sie sich hier schnell die Vorgänge. Es geht oft nur um Theater, wie es nicht so oberlehrerhaft aufführen!) auch der heutige Vorgang, der von den Grünen initiiert wurde, zeigt. Mir liegt viel daran, dass sich die Bundesregierung tatsächlich auf den Weg macht, eine Selbstverpflich- (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- tung einzugehen und sie vielleicht auch öffentlich zu NEN]: Was? – Ute Kumpf [SPD]: Ein schlech- präsentieren. Herr Niebel, ich glaube aber, dass sie in der tes Theater! – Volker Beck [Köln] [BÜND- Tat kein Patentrezept bzw. Allheilmittel ist und erst recht NIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn von Ihnen mal kein wirksamer Schutz davor, dass ein Wechsel aus der ein paar da wären!) Regierung in Spitzenpositionen der Wirtschaft womög- Hauptsache, das Image der Politiker, das Ansehen der lich ein Geschmäckle nach sich zieht. Hier also so zu Entscheidungsträger ist schnell ruiniert. Ich glaube, am tun, als ob das die Patentlösung sei, ist sicher verfehlt. Ende nehmen unsere Demokratie und unsere Gesell- (Dirk Niebel [FDP]: Nicht alles, was legal ist, schaftsordnung Schaden, wenn wir vorschnell ein Urteil ist legitim!) über andere fällen, die sich viele Jahre in der Sache ver- dient gemacht haben. Herr Brandt hat schon auf die Frage hingewiesen, wer letztendlich über Verstöße urteilen soll. Wer soll über- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) haupt Sanktionen verhängen? Welche Sanktionen sollen Ich glaube, dass eine Versachlichung der Debatte not- an dieser Stelle überhaupt greifen? Ehrlich gesagt: Von wendig ist. Es stünde uns allen gut an, gerade in diesem einem solchen Ehrenkodex verspreche ich mir nicht Zusammenhang auf Polemik und Fingerzeige zu ver- allzu viel. zichten. Art. 66 Grundgesetz verbietet Ministern eine (B) Interessant ist auch der Beitrag des Präsidenten des (D) anderweitige Tätigkeit, allerdings nur, solange sie im Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, der in Amt sind. Das Bundesministergesetz beinhaltet viel zu der „Leipziger Volkszeitung“ im Dezember gesagt hat den Rechten und Pflichten ehemaliger Bundesminister, – ich zitiere –: kennt aber kein Berufsverbot. Von dem Erlass eines normativen Regelwerks in (Dirk Niebel [FDP]: Das wollen wir auch Fragen des politischen Anstands rate ich ab. Das nicht!) Meiste sollte sich von selbst verstehen. Ich sage: Das ist auch gut so. Für jeden denkbaren Einzelfall lasse sich ohnehin keine (Beifall bei der SPD) Vorabregelung treffen. Weiter sagte er: Kollege Brandt hat schon vor einer halben Stunde darauf Jeder muss sich für seine Entscheidungen vor sich hingewiesen. Aus meiner Sicht brauchen wir in der Poli- selbst und vor der Öffentlichkeit rechtfertigen. tik mehr Quereinsteiger aus der Wirtschaft und aus der Kurzum, Herr Niebel: Ein Ehrenkodex ist gut gemeint, Wissenschaft. Das ist meines Wissens eine Forderung, aber gut gemeint ist eben meistens nicht gut gemacht. die von allen Parteien aufgestellt wird. Wer dies fordert, muss im Umkehrschluss natürlich auch sagen, dass wir (Beifall bei der SPD – Dirk Niebel [FDP]: Was für den Fall, dass jemand aus der Politik wieder in die heißt das denn für den Gaskanzler? – Wirtschaft oder in die Wissenschaft möchte, den Wech- Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sel dorthin weiterhin ermöglichen müssen. NEN]: Also soll alles so bleiben, wie es ist?) (Beifall bei der SPD) – Herr Niebel, wir haben auch in diesem Hause in der Vergangenheit reichlich über diese Fälle diskutiert. Ich Zweifelhaft wird der Wechsel aus meiner Sicht aller- denke, irgendwann muss man auch einmal mit Blick in dings dann, wenn ein Mitglied der Bundesregierung po- die Zukunft diskutieren. Ansonsten können wir noch litische Entscheidungen offensichtlich nicht zum Wohle einmal von vorne beginnen und alle Fälle, angefangen des Volkes trifft, sondern um sich damit für die Zeit nach bei Herrn Bangemann, noch einmal durchdiskutieren. der Regierungsverantwortung womöglich einen Posten in einem Unternehmen zu sichern. Es ist aus meiner (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE Sicht nicht nur legitim, sondern auch dringend notwen- GRÜNEN]: Deshalb haben wir ja Anträge ge- dig, hierüber zu diskutieren. Ich finde es auch gut, dass stellt! – Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/ diese Debatte hier heute erneut stattfindet. DIE GRÜNEN]: Was schlagen Sie denn vor?) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006 2981

Martin Gerster (A) Ich komme jetzt zu den einzelnen Anträgen, die hier (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dirk (C) auf dem Tisch liegen. Niebel [FDP]: Das zeigt das große Vertrauen in diese Regierung vonseiten der Grünen!) (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Sie haben alle Anträge für unzurei- Ich fasse zusammen: Ich gestehe Ihnen zu, dass Ihre chend erklärt! Wir wollen hören, was Sie vor- Initiativen aus meiner Sicht wichtige Beiträge für eine schlagen!) absolut notwendige Debatte sind. Aber der Königsweg ist ganz sicher nicht dabei. Mein Wunsch an die Fraktion – Ich komme auch zu Ihrem Antrag. Um diese geht es von Bündnis 90/Die Grünen ist: weniger Polemik und heute hier in unserer Debatte ja. – Zum Antrag der Frak- mehr Sachlichkeit. Das würde uns allen gut tun und uns tion Die Linke. Es soll eine Regelung geschaffen wer- in der Sache einen großen Schritt voranbringen. den, die es – so wörtlich – früheren Mitgliedern der Bundesregierung und ih- Herzlichen Dank. ren Staatssekretären untersagt, in den ersten fünf (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Jahren nach ihrer Tätigkeit in Regierungsverant- der CDU/CSU) wortung eine Tätigkeit in der Privatwirtschaft auf- zunehmen, die im Zusammenhang mit ihrer Tätig- keit in Regierungsverantwortung steht. Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat der Kollege Volker Beck. Ich sage Ihnen ganz ehrlich, dass ich zwei Probleme damit habe: Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Erstens. Beamtete Staatssekretäre können Sie entge- Herr Kollege Gerster, ich habe nicht verstanden, wel- gen Ihrem Wortlaut ja wohl nicht meinen; denn dafür ches die Position der SPD-Fraktion ist. Wollen Sie nun, gibt es ja bereits eine Regelung, nämlich eine beamten- dass etwas getan wird, oder wollen Sie alles so lassen, rechtliche. Deswegen sage ich: Ihr Antrag ist handwerk- wie es ist? Das wird immer wieder zu solchen Debatten lich einfach nicht gut zusammengeschustert worden. wie nach dem Wechsel von Herrn Schröder zu Gasprom Zweitens. Ich halte es auch für sehr schwierig – hier führen. Ich will gar nicht sagen, dass seine frühere Posi- teile ich die Ansicht vom Kollegen Niebel –, ein teilwei- tion in einem direkten Zusammenhang zu seiner jetzigen ses Berufsverbot für fünf Jahre zu verhängen, während Tätigkeit steht. Aber es gibt kein Verfahren, in dem ge- das Übergangsgeld keinesfalls länger als drei Jahre be- prüft wird, ob dieser Zusammenhang besteht und ob zogen werden kann. Sie haben hierbei nämlich offenbar diese Tätigkeit zulässig ist. Das schadet nicht nur der (B) vergessen, dass laut Arbeitsrecht Konkurrenzverbote nur Wirtschaft, sondern auch den Betroffenen. Deshalb brau- (D) dann wirksam sind, wenn eine entsprechende Entschädi- chen wir klare Regelungen. gung gewährt werden kann. Dies ist hier nicht der Fall. Deswegen muss Ihr Antrag leider schon allein aus hand- Lieber Herr Kollege, in der Europäischen Union gibt werklicher Sicht zurückgewiesen werden. es eine Regelung, die nach dem Fall Bangemann, dem früheren EU-Kommissar der FDP, eingeführt wurde, als (Beifall bei der SPD – Wolfgang Wieland er unmittelbar nach seinem Ausscheiden aus der Kom- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Arbeitsrecht mission, wo er für das Telekommunikationsgeschäft zu- gilt hier nicht!) ständig war, zu einem Telekommunikationsunternehmen gewechselt ist. Das hatte genau wie jetzt bei Herrn – Jetzt komme ich zu Ihnen, Herr Wieland. Warten Sie es Schröder ein Geschmäckle, der in diesem Sinne sozusa- doch ruhig ab. Ich glaube, weniger Aufgeregtheit tut uns gen der Bangemann der SPD ist. allen gut. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Ich habe mir auch das Papier vom Bündnis 90/Die Zurufe von der SPD) Grünen angeschaut. Sie fordern eine verfassungsfeste Lösung, die die Bundesregierung hier vorlegen soll. Leider gibt es dazu eine Reihe von Diskussionen. Es (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- schadet dem Ansehen der parlamentarischen Demokra- NEN]: Das muss man immer dazu sagen! – tie, der Bundesregierung und der politischen Klasse, Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- wenn wir das nicht in Ordnung bringen. Einige Bei- NEN]: Das wäre mal was Neues bei Ihnen!) spiele: Herr Müller ist zur RAG gewechselt, Herr Tacke arbeitet inzwischen für die STEAG und Herr Koch- Dabei ist ganz interessant, dass Sie in Ihrem Antrag auf Weser ist nun für die Deutsche Bank tätig. Herr Wiesheu § 69 a des Bundesbeamtengesetzes verweisen und dies verhandelt erst in der Koalition über die Bahn und die gleich mit dem Hinweis versehen, dass es dabei ja ver- Verkehrspolitik – so hört man – und entschwindet dann fassungsrechtliche Probleme gibt. Ich frage Sie: Wie zur Deutschen Bahn AG, nachdem er lange Zeit Ver- passt das zusammen? Auf der einen Seite fordern Sie kehrsminister in Bayern war. Das hat einen komischen von der Bundesregierung, eine verfassungsfeste Lösung Beigeschmack. Wenn dann auch noch die Deutsche vorzulegen. Auf der anderen Seite weisen Sie in Ihrem Bahn erklärt, gerade wegen seiner Beteiligung an den eigenen Antrag auf verfassungsrechtliche Probleme hin. Bahnreformen habe sie Herrn Wiesheu angeheuert, dann Irgendwie – Entschuldigung – passt das überhaupt nicht muss man sagen: Man weiß nicht, wie die Zusammen- zusammen. hänge sind, aber man hat ein ungutes Gefühl. 2982 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006

Volker Beck (Köln) (A) Auch in der Öffentlichkeit entsteht der Verdacht – dem Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der Ver- (C) will ich entgegentreten –, Regierungsmitglieder fällten in braucherinformation ihrem Amt Entscheidungen, die sich hinterher für sie di- rekt oder indirekt auszahlten, weil sie sich Unternehmen – Drucksache 16/1408 – gewogen gemacht hätten. Diesen Verdacht müssen wir Überweisungsvorschlag: ausräumen, indem wir klare und transparente Regelungen Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (f) festlegen. Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Zur Lösung dieses Problems gibt es zwei Ansätze. Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Der eine Ansatz orientiert sich an § 69 a des Bundesbe- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union amtengesetzes, der für Beamte gilt. Dabei werden muta- tis mutandis die versorgungsrechtlichen und die status- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die rechtlichen Verhältnisse von Bundesministern und Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre Staatssekretären angepasst. Der andere Ansatz ist der dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Verhaltenskodex der Europäischen Union für ehema- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege lige Kommissionsmitglieder. Horst Seehofer für die Bundesregierung. Ich bin dafür, dass wir uns zusammensetzen, um zu (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- klären: Was können wir aus diesen beiden Regelungen neten der SPD – Hartmut Koschyk [CDU/ lernen, um so zu einer Lösung zu kommen? Ein Vor- CSU]: Bravo! Den braucht ihr nicht erst her- schlag: In einem festgelegten Verfahren meldet das aus- beizuzitieren! Er ist schon hier!) geschiedene Mitglied die Tätigkeit an. Danach untersucht ein Ethikrat oder ein Gremium, ob es einen Konflikt zur Horst Seehofer, Bundesminister für Ernährung, früheren Tätigkeit gibt. Dann wird entschieden, ob die Landwirtschaft und Verbraucherschutz: Tätigkeit innerhalb der Karenzzeit aufgenommen werden Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und darf oder ob bis zum Ende der Karenzzeit gewartet wer- Herren! Heute wird zum dritten Mal innerhalb der letzten den muss. fünf Jahre versucht, ein bundeseinheitliches Verbraucher- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) informationsgesetz mit einem Recht der Verbraucher auf Zugang zu Behördeninformationen durchzusetzen. Diese Dieses Verfahren ist klar und transparent. Es dient dazu, Koalition wird den dritten Versuch zum Erfolg führen. das Ansehen der politischen Klasse zu stärken, und ver- meidet jeden Anschein von Korruption und Makeleien (Mechthild Rawert [SPD]: Jawohl!) anderer Art. (B) Ich glaube, nach einem langen Anlauf wird das Ge- (D) Ich bitte Sie wirklich, liebe Kolleginnen und Kollegen setz zu einem Meilenstein für die Verbraucherrechte in von der großen Koalition: Überlegen Sie noch einmal, der Bundesrepublik Deutschland, der gut in unsere Zeit ob Sie nicht mit uns, den Oppositionsparteien, zusam- passt, men zu einer Regelung kommen wollen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Wir wollten Ihnen eigentlich den Vortritt lassen. Wir neten der SPD) hatten ursprünglich in einer Geschäftsführerrunde ver- einbart, etwas zu warten, bis sich die Bundesregierung weil nach unserer modernen Verbraucherpolitik ausrei- entscheidet, ob sie aus eigener Kraft etwas vorlegen will. chende Verbraucherinformationen zum Bild des mündi- Ich hätte das besser gefunden, weil es mir kein Anliegen gen Verbrauchers gehören. Wir machen eine moderne ist, uns bei solchen Themen als Oppositionspartei zu Verbraucherpolitik, die – das kann man nicht oft genug profilieren. Aber ich finde, dass wir in diesem Bereich betonen – der Schlüssel für eine erfolgreiche Wirt- für Klarheit sorgen müssen. Das erwarten die Bürgerin- schaftspolitik ist. Beides gehört zusammen. nen und Bürger draußen im Lande von uns und das soll- (Beifall bei der CDU/CSU) ten wir uns als Demokratinnen und Demokraten auch selber schuldig sein. Deshalb ist dieses Gesetz jetzt notwendig. Es steht auch in Einklang mit dem anderen großen politischen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ziel dieser Regierung, unser Land zu entschlacken und unbürokratischer zu gestalten. Vizepräsidentin Petra Pau: (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Sehr richtig!) Ich schließe die Aussprache. Denn nicht jeder Paragraf bedeutet Bürokratie. Beim Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen Verbraucherinformationsgesetz geht es vielmehr darum, auf den Drucksachen 16/846, 16/677 und 16/948 an die den Bürgern eine Dienstleistung anzubieten. Die Bürger in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- bekommen vor allem ein Recht auf Zugang zu Informa- schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der tionen, die ohnehin bei den Behörden vorhanden sind. Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Deshalb trägt dieses Gesetz nicht zu zusätzlicher Büro- Ich rufe den Zusatzpunkt 6 auf: kratie bei; vielmehr schafft es eine zusätzliche Dienst- leistung der öffentlichen Hand zugunsten der Menschen. Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines (Beifall bei der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006 2983

Bundesminister Horst Seehofer (A) Das Gesetz insgesamt ist äußerst schlank. den Behörden Unterstützung bekommen können. Die (C) Behörden können nun öffentlich vor den entsprechenden (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das stimmt! Produkten warnen und Hinweise ins Internet einstellen. Abgemagert!) Das ist ein wichtiger Fortschritt, eine Konsequenz aus Ich habe wenige Gesetze mitbeschlossen, die so über- den letzten Monaten. sichtlich, klar lesbar und hinsichtlich ihres Volumens so Der vierte und zentrale Punkt ist: Erstmals in der bun- kompakt waren wie das Verbraucherinformationsgesetz, desdeutschen Geschichte wird den Bürgern ein An- sodass wir mit Fug und Recht davon reden können, dass spruch auf Behördeninformationen eingeräumt. Wenn dieses Gesetz schlank und unbürokratisch ist und des- die Bürger diesen wahrnehmen, müssen sie für die ent- halb nicht im Widerspruch zu unseren Entbürokratisie- sprechende Dienst- bzw. Serviceleistung Gebühren zah- rungsbemühungen in Deutschland steht. len und Auslagen ersetzen, wenn beispielsweise um- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. fangreiche Studien kopiert werden müssen. Aber es ist Manfred Zöllmer [SPD]) ein Meilenstein, ein verbraucherpolitischer Durchbruch, dass die Bürger unseres Landes gegenüber den Behörden Das Gesetz umfasst drei wesentliche Inhalte: Der erstmals einen Anspruch auf Information über die Zu- erste Punkt ist eine Konsequenz aus den Fleischskanda- sammensetzung und die Gefahren von Lebens- und Fut- len des letzten Jahres, Stichwort „Gammelfleisch“ bzw. termitteln sowie Bedarfsgegenständen haben. Sie kön- „Ekelfleisch“. Das geltende Recht hat zu der eigenarti- nen nun beispielsweise erfahren, wie hoch die gen Situation geführt, dass der Name einer Firma nicht Pestizidbelastung von Erdbeeren oder bestimmten Ge- mehr öffentlich genannt werden durfte, wenn ein verdor- müsesorten ist. benes Produkt bereits verkauft und im Regelfall schon verzehrt war, dass aber dann, wenn das Produkt noch auf Wenn wir landauf, landab vom mündigen Bürger re- dem Markt war, der Name genannt werden durfte. Sie den – das tun fast alle Politikerinnen und Politiker –, können keinem logisch denkenden Menschen erklären, dann gehört es dazu, dass der mündige Bürger das Recht warum der Hersteller eines Produkts, das aufgrund der erhält, dass ihm die Behörden im Falle des Falles die oh- besonderen Energie seitens des Herstellers bereits ver- nehin vorhandenen Informationen mitteilen; das ist ein kauft wurde und nicht mehr auf dem Markt ist, nicht na- großer Fortschritt. Darüber bin ich sehr glücklich. mentlich genannt werden darf, während der schläfrige (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Produzent, der noch nicht alles verhökert hat, genannt werden darf. Es ist dringend notwendig, diese Gesetzes- Nun ist es gerade in Deutschland objektiv unmöglich lücke zu schließen. – hier mache ich mir keine Illusionen –, politische Ent- scheidungen zu treffen, ohne dass man dafür kritisiert (B) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) (D) wird. Das gehört sicherlich zu einer lebendigen Demo- Denn die Namensnennung ist eine sehr wichtige Präven- kratie. Aber die Kritik sollte sich zumindest an der tionsmaßnahme. Ich glaube, dass die Nennung des Na- Wahrheit orientieren, insbesondere bei denjenigen, deren mens desjenigen, der gegen das Lebensmittelrecht ver- Existenz durch Steuergelder mitfinanziert wird. Auf ei- stoßen hat, mehr präventive Wirkung hat als das ner heute stattfindenden Demonstration wird ein Flug- Ordnungswidrigkeiten- oder das Strafrecht. Es geht blatt verteilt, in dem es heißt: Das Gesetz hat gravie- schließlich immer um die wirtschaftliche Existenz einer rende Lücken. Es fehlen klare Regeln, die verhindern, Firma. dass Gesetzesverstöße weiter als Betriebsgeheimnisse unter Verschluss bleiben. Der zweite Punkt ist ebenfalls schwer zu erklären. Aber es war und ist Realität, dass die eine Ebene des (Kristina Köhler [Wiesbaden] [CDU/CSU]: Staates, die Strafverfolgungsbehörden, zwar Ermitt- Das ist doch gelogen!) lungen wegen Verstößen gegen das Lebensmittelrecht durchführt, aber die andere Ebene des Staates, die für Dazu kann ich nur sagen: Das hat mit der Realität nichts Lebensmittelüberwachung zuständigen Behörden, zu tun; denn nach unserem Gesetzentwurf sollen Geset- nicht unterrichtet. Die eine Ebene des Staates hat also zesverstöße ausdrücklich nicht unter den Schutz von Be- Erkenntnisse und die andere Ebene des Staates hält sich triebsgeheimnissen fallen. unwissend. Dies hat gerade im Süden der Republik kon- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) krete Auswirkungen gehabt. Deshalb ist ein zentrales Element des Gesetzentwurfs die Verpflichtung der Straf- Auf Deutsch: Niemand kann sich auf den Schutz von verfolgungsbehörden, die für Lebensmittelüberwachung Betriebsgeheimnissen berufen, wenn Rechtsverstöße be- zuständigen Behörden über Ermittlungsverfahren zu un- gangen wurden. Nichtsdestotrotz werden unwahre Kri- terrichten. tikpunkte in der Öffentlichkeit verbreitet, obwohl sie mit der Absicht des Gesetzgebers nicht in Einklang stehen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Ich habe nichts gegen Diskussionen. Aber sie sollten fair neten der SPD – Klaus Uwe Benneter [SPD]: und an der Wahrheit orientiert geführt werden. Damit es auch in Bayern funktioniert!) Natürlich kann man über die Ausgestaltung eines Ge- Ein dritter wichtiger Punkt ist, dass Firmen, die selber setzes endlos diskutieren. Aber dafür gibt es ein parla- feststellen, dass ihre Produkte nicht in Ordnung sind, mentarisches Verfahren. Wir werden in den Experten- und die Öffentlichkeit informieren wollen, nicht länger hearings völlig offen gegenüber der technischen nur auf Eigeninitiative angewiesen sind, sondern von Ausgestaltung des Gesetzes sein. Das ist ja der Sinn des 2984 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006

Bundesminister Horst Seehofer (A) parlamentarischen Verfahrens. Das oberste Ziel muss Zu diesem Gesetz muss man sagen: Sie betreiben Eti- (C) bleiben, dass wir nach fünfjährigen Bemühungen um kettenschwindel. Ihr Gesetz ist unübersichtlich, es reihen eine verbesserte Verbraucherinformation in der Bundes- sich zahlreiche unüberschaubare Ausnahmetatbestände republik Deutschland die Vorschläge, die wir heute vor- aneinander, es wird von vornherein ein viel zu enger An- legen, nicht mit der Folge zerreden, dass am Ende nichts wendungsbereich angelegt und die Kostenregelung zu- kommt. Wir sollten vielmehr das, was möglich ist, jetzt lasten des Verbrauchers führt dazu, dass Sie den Ver- verabschieden. Dann sollten wir einen zweijährigen brauchern Informationsrechte rauben. Da helfen auch Praxistest machen. Nach Ende dieser zweijährigen keine Presseerklärungen der Kolleginnen Heinen und Periode, die wir in der Koalition vereinbart haben, soll- Klöckner oder des Kollegen Bleser, die von einer Stär- ten wir uns ansehen, wie das Gesetz in der Praxis ge- kung der Verbraucherrechte sprechen. wirkt hat. Geben wir dem Gesetz in der Praxis eine Chance! Machen wir es nicht umgekehrt, nämlich so, Ich habe den Eindruck, dass bei Ihnen ein hohes Maß dass es vor lauter Theoriediskussion nicht zur Anwen- an Verwirrung herrscht. dung in der Praxis kommt. (Julia Klöckner [CDU/CSU]: Ach nein!) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Im Gesetz wollen Sie Betriebs- und Geschäftsgeheim- Wir werden nicht zulassen, dass der Erfolg von vornhe- nisse grundsätzlich schützen. Verwirrung schaffen Sie rein klein geredet wird. Ich möchte zum Schluss ein aber schon durch die problematische Formulierung, schönes Sprichwort bringen: Wir sind niemals am Ziel, „wettbewerbsrelevante Informationen, die in ihrer Be- sondern immer auf dem Weg dorthin. deutung für den Betrieb mit einem Betriebs- und Ge- schäftsgeheimnis vergleichbar sind“, sollten ebenfalls Machen wir uns also auf zum Ziel! geschützt werden. Was sind denn wettbewerbsrelevante (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Informationen? Wer hat denn das zu klären? Soll das eine Behörde entscheiden oder soll das möglicherweise Vizepräsidentin Petra Pau: sogar ein Beamter entscheiden? Nein, es gehört Klarheit Das Wort hat der Kollege Hans-Michael Goldmann in das Gesetz und diese Klarheit fehlt dem Gesetz ganz für die FDP-Fraktion. eindeutig. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Hans-Michael Goldmann (FDP): Eine andere Frage ist, wie es sich mit dem direkten Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Informationsanspruch gegenüber einem Unterneh- (B) Kollegen! Zum Schluss haben Sie, Herr Minister, gesagt, men verhält. Sie wissen, dass gerade kleine und mittel- (D) dass Sie auf einem Weg sind. Dieser Weg ist für uns ständische Unternehmen mit diesem Anspruch, der zum nicht erkennbar. Dieses Gesetz ist nicht schlank, Teil von Verbraucherorganisationen erhoben wird, er- hebliche Probleme haben. Ich hatte in der letzten Zeit ( [CDU/CSU]: Sechs Paragrafen!) während Beratungen mit Kollegen der CDU/CSU, zum sondern es ist schlicht und ergreifend inhaltsarm. Dieses Beispiel im Vermittlungsausschuss, den Eindruck, dass Gesetz hat keine Substanz und es wird zusätzlich da- wir uns in dieser Frage einig sind. durch verwässert – da sollten wir sehr ehrlich miteinan- (Peter Bleser [CDU/CSU]: Sind wir auch!) der umgehen, Herr Seehofer; Sie nehmen die Worte Wahrheit und Klarheit häufig in den Mund –, dass es ein – Wenn das so ist, warum bringen Sie dann zusammen interessantes parlamentarisches Verfahren gibt. Auf der mit der SPD einen Entschließungsantrag in das Verfah- einen Seite gibt es den Gesetzentwurf, auf der anderen ren, mit dem Sie durch die Hintertür gerade diesen nach Seite gibt es einen, wenn auch heute noch nicht im Parla- unserer Auffassung ungerechtfertigten Anspruch des ment zu behandelnden, aber immerhin im Verfahren ste- Verbrauchers gegen Unternehmen einführen? Denn Sie ckenden Entschließungsantrag. Wenn man den Gesetz- wollen auf europäischer Ebene eine Initiative entwi- entwurf mit dem Entschließungsantrag vergleicht, dann ckeln, um diese Verbraucherrechte über die europäische ist man schon sehr darüber überrascht, dass auf der einen Ebene auf nationaler Ebene zur Geltung zu bringen. Das Seite im Gesetzentwurf Versprechen gemacht werden, finde ich unfair und unaufrichtig. Das ist eigentlich eine die auf der anderen Seite im Entschließungsantrag zum Politik nach dem Motto: Wasch mir den Pelz, aber mach großen Teil rückgängig gemacht werden. Insofern ist mich nicht nass! dieser Koalitionskompromiss, der hier auf dem Tisch liegt, schwach und er ist in Sachen Klarheit als absolut (Beifall bei der FDP – Peter Bleser [CDU/ minderwertig zu beurteilen. CSU]: Das steht nicht im Gesetz!) (Beifall bei der FDP – Widerspruch bei der Sehr geehrter Herr Minister Seehofer, liebe Kollegin- SPD) nen und Kollegen von der CDU, ich meine, Sie sollten in diesem Punkt Farbe bekennen. Was sollen diese europäi- Es gibt auch die Qualifizierung „bedingt tauglich“, aber schen Initiativen? Wenn Sie der Meinung sind, dass es dieser Gesetzentwurf ist minderwertig, das heißt im einen Verbraucherinformationsanspruch nicht nur ge- Nahrungs- und Genusswert erheblich herabgesetzt. genüber der Behörde, sondern auch gegenüber dem Un- (Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Nicht ternehmen geben soll, warum schaffen Sie dann keine richtig gelesen!) entsprechende Regelung in Ihrem Gesetz? Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006 2985

Hans-Michael Goldmann (A) Ich will noch einen anderen Punkt ansprechen, der Ich will aber auch erklären, dass für uns, die SPD- (C) mich sehr beunruhigt: Es geht um die Selbstverpflich- Fraktion, dies erst der Auftakt ist. Die vorgesehenen tung der Unternehmen zu mehr Verbraucherinforma- Maßnahmen sind erste Schritte auf dem Weg zu einem tionen. Das ist dasselbe Verfahren: Sie sagen, Sie wollen transparenteren Markt, denen weitere Schritte folgen zunächst einmal mit den Betrieben ins Gespräch kom- müssen. Mit diesem Gesetzentwurf wollen wir die Mög- men; aber wenn die Betriebe dann nicht so spuren, wie lichkeiten und Pflichten der Behörden zur Information Sie sich das vorstellen, dann entwickeln Sie europäische der Öffentlichkeit über Missstände im Lebensmittel-, Initiativen, die wiederum dazu beitragen, dass die euro- Futtermittel- und Bedarfsgegenständebereich auswei- päische Ebene das regelt, was Sie aufrichtigerweise ins ten. Außerdem sollen sich Verbraucherinnen und Ver- nationale Verbraucherinformationsgesetz hineinzubrin- braucher künftig selbst bei den Behörden informieren gen nicht bereit sind. können, auch wenn keine Rechtsverstöße vorliegen. Ich frage mich wirklich: Welche Haltung haben Sie Aber schon der Dichter Friedrich von Logau formu- gegenüber Unternehmen, wenn Sie von Selbstverpflich- lierte: „Anfang, der nicht Fortgang hat, ist ein Wagen tung sprechen? Kennen Sie die vielfältigen Aktivitäten ohne Rad.“ deutscher Unternehmen nicht, die gerade darauf abzie- Wir wollen dafür sorgen, dass dieser Wagen namens len, die Verbraucherinformationen, die Verbraucherbil- Verbraucherinformation Räder bekommt, damit er fah- dung zu verbessern? Kennen Sie nicht das Mitwirken der ren kann. Verbraucher und Verbraucherinnen müssen deutschen Lebensmittelwirtschaft zum Beispiel in der Zugang zu allen Informationen haben, die ihnen eine be- Plattform für Ernährung und Bewegung? Wenn Sie das wusste Auswahl von Produkten und Dienstleistungen er- alles kennen, dann wundere ich mich sehr darüber, dass möglichen und eine eigenverantwortliche Marktteil- wir hier diesen Doppelweg gehen: auf der einen Seite ein nahme gewährleisten. – Sie sagen: schlankes, ich sage: inhaltsarmes – Verbrau- cherinformationsgesetz und auf der anderen Seite euro- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Auch ge- päische Initiativen, die das regeln, was in Ihrem Gesetz genüber Unternehmen?) nicht verankert ist. Hier ist auch die Wirtschaft gefordert, Herr Kollege Dieses Gesetz muss im Rahmen der Anhörung und im Goldmann: Die Unternehmen müssen ihrer Verantwor- Rahmen der Ausschussberatungen deutlich verbessert tung gegenüber ihren Abnehmern nachkommen und sie werden; sonst wird es unseren gemeinsamen Ansprü- über ihre Produkte und Dienstleistungen informieren. chen an Verbraucherinformationen und an Verbraucher- Verbraucherpolitik ist Wirtschaftspolitik von der Nach- bildung nicht gerecht. frageseite. (B) Herzlichen Dank. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Auch von (D) der Angebotsseite, Frau Kollegin!) (Beifall bei der FDP) Nur dann, wenn die Konsumenten und Konsumentinnen über die Qualität der Produkte informiert sind, kann Vizepräsidentin Petra Pau: Qualität nachgefragt werden und sich am Markt durch- Das Wort hat die Kollegin Drobinski-Weiß für die setzen. Diesen Wettbewerbsvorteil gilt es zu nutzen; SPD-Fraktion. denn die Stärke der deutschen Wirtschaft liegt in der Qualitätsproduktion. Elvira Drobinski-Weiß (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Richtig!) Sehr verehrte Damen und Herren! Wir bringen heute den – Vielen Dank, Herr Goldmann. Entwurf eines Verbraucherinformationsgesetzes ein. Erstmals wird damit dem Anspruch der Verbraucherin- Wir werden deshalb im Laufe des Verfahrens einen nen und Verbraucher auf Informationen in einem eigen- Antrag zum Gesetzentwurf einbringen, der – der Herr ständigen Gesetz Rechnung getragen und den Verbrau- Minister hat es schon angedeutet – die Überprüfung cherinteressen der Stellenwert eingeräumt, der ihnen der Erfahrungen mit dem Verbraucherinformationsge- gebührt und den wir als SPD-Fraktion bereits mehrfach setz vorsieht und weitere Maßnahmen für mehr Markt- eingefordert haben. transparenz aufzeigt. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Warum CDU/CSU) bringen Sie das nicht ins Gesetz?) Wir müssen auswerten, wie sich die neuen Regelungen Vor dem Hintergrund des Gammelfleischskandals ist in der Praxis bewähren. Bewegung in die festgefahrene Diskussion um ein Ver- braucherinformationsgesetz gekommen. Wir konnten (Zuruf) uns mit unserem Koalitionspartner auf den heute vorlie- genden Entwurf einigen. Er sieht deutliche Verbesserun- – Ich finde das gar nicht lächerlich. – Wir wollen wissen, gen für die Verbraucherinnen und Verbraucher vor und ob und, wenn ja, wie oft und aus welchen Gründen Infor- verleiht ihren Interessen mehr Gewicht. mationen verweigert wurden. Damit kann nachvollzogen werden, ob und gegebenenfalls welche Ausschluss- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der gründe den Informationsanspruch der Verbraucherinnen CDU/CSU) und Verbraucher zu stark einschränken. 2986 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006

Elvira Drobinski-Weiß (A) (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das können von Minister Seehofer und den Koalitionsfraktionen (C) Sie doch alles ins Gesetz schreiben! Schreiben lustlos und wenig ambitioniert, Sie es doch ins Gesetz!) (Widerspruch bei der CDU/CSU – Julia Auch die Bearbeitungszeit für die Auskunftsanliegen Klöckner [CDU/CSU]: Wir hatten viel Spaß und die Kosten für die Anfragenden sollen dokumentiert dabei!) werden, damit wir bei Fehlentwicklungen gegensteuern können. vielleicht deshalb, weil das Ergebnis des Kreißens nicht einmal eine Maus werden sollte, sondern nur ein schwa- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das ist doch ches Mäuschen, das hoffentlich keinen Ärger macht. selbstverständlich!) Dabei ist die Aufgabenstellung übersichtlich: Verbrau- cherinnen und Verbraucher sollen so mit Informations- Ich sage von hier aus noch einmal ganz deutlich: Wir rechten und Informationszugängen ausgestattet werden, erwarten von der Wirtschaft Vorschläge dazu, wie der dass sie sich im Spannungsfeld von Verbraucher- und Zugang der Verbraucherinnen und Verbraucher zu den Wirtschaftsinteressen souverän behaupten können; denn bei den Unternehmen vorhandenen Informationen er- natürlich müssen Gesetze die Interessen der Schwäche- möglicht werden kann. ren gegenüber denen der Stärkeren schützen. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Prost!) (Beifall bei der LINKEN) Da werden wir nicht lockerlassen; denn die Unterneh- Das ist, meine ich, alles andere als wirtschaftsfeindlich. men sind die wichtigste Informationsquelle für die Ver- Im Gegenteil: Dort, wo es ein Vertrauensverhältnis zwi- braucherinnen und Verbraucher. Informationen sind die schen Wirtschaft und Verbraucherinnen und Verbrau- beste Werbung für Qualitätsprodukte. Kommt hier nichts chern gibt, profitieren beide Seiten. Vertrauen lässt sich zustande, werden wir auf gesetzliche Regelungen drän- nur mit Transparenz und Offenheit herstellen. gen. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Sehr (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Für wie richtig!) blöd halten Sie denn die Unternehmen? Das ist abenteuerlich!) Diesem Anspruch wird der vorliegende Gesetzent- wurf leider nicht gerecht. Meine Fraktion hat elf Kritik- Sehr geehrte Damen und Herren, mit unserem Gesetz- punkte formuliert. Ich werde mich auf die wichtigsten entwurf machen wir uns endlich auf den Weg zu einem konzentrieren. transparenteren Markt. Auf diesem Markt mit Qualitäts- produkten ist Transparenz ein Wettbewerbsvorteil. Des- Erstens. Informationszugänge müssen kostenfrei an- (B) halb lade ich Sie ein, uns auf diesem Weg zu begleiten. geboten werden, damit die Möglichkeit ihrer Nutzung (D) nicht vom sozialen Status abhängig ist. Vielen Dank. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Nun hat Herr Minister Seehofer aber erst kürzlich öffent- Vizepräsidentin Petra Pau: lich erklärt, dass kostendeckende Gebühren erhoben Das Wort hat die Kollegin Tackmann für die Fraktion werden sollen. Wir halten das für falsch; denn für die im- Die Linke. mer größer werdende Zahl sozial benachteiligter Men- schen stehen oft schon andere Informationsquellen wie (Beifall bei der LINKEN) Zeitungen nicht mehr zur Verfügung. Das zusammenge- kürzte Netz von Verbraucherberatungsstellen wird für Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): sie immer schwerer erreichbar. Wir werden überall dort Sehr geehrte Frau Präsidentin, es ist mir eine große Widerstand leisten, wo Armut auch noch rechtlos macht. Ehre, während Ihrer ersten Sitzungsleitung reden zu dür- (Beifall bei der LINKEN) fen. Zweitens. Wir fordern einen Informationsanspruch (Beifall bei der LINKEN) gegenüber privaten Unternehmen. Für uns ist es ein fata- – Das muss sein. les Zeichen, dass diese Diskussion unterschwellig von dem Gedanken durchzogen wird, Informationsrechte Liebe Kolleginnen und Kollegen! Werte Gäste! Mit seien grundsätzlich und vorsätzlich gegen die Wirtschaft dem Verbraucherinformationsgesetz ist es ein bisschen gerichtet. Es kann aber doch nicht Anliegen dieses Ge- wie bei dem bekannten Sprichwort: Der Berg kreißte setzes sein, die Wirtschaft vor den Verbrauchern und und er gebar ein Mäuschen. Verbraucherinnen zu schützen. Was spricht eigentlich (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Da hast du gegen diesen Informationsanspruch? Glauben Sie wirk- Recht!) lich, dass dann jeder morgens beim Bäcker die Rezeptur seiner Brötchen verlangt? Am Ende weiß man nicht, ob man froh darüber sein soll, dass es wenigstens ein Mäuschen geworden ist. Drittens. Wir wollen die Behörden, entsprechend dem Umweltinformationsgesetz, deutlich stärker in die Entgegen allen wortreichen Bekenntnissen zum Ver- Pflicht nehmen. Das heißt zum Beispiel, die Behörden braucherschutz wirkt das erste große Gesetzesvorhaben sollen zur aktiven Information der Öffentlichkeit sowie Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006 2987

Dr. Kirsten Tackmann (A) zur Hilfe bei der Informationsbeschaffung verpflichtet lang und die schwarzen Schafe – ich glaube, denen sind (C) werden. Dass nur die bereits vorliegenden Informationen Sie heute schon begegnet – werden weiter geschützt. offen gelegt werden, reicht uns nicht. Die Bezeichnung „Verbraucherinformationsgesetz“ Viertens. Wir fordern die Erweiterung des Geltungs- ist insgesamt völlig irreführend, weil Sie die Verbrau- bereichs des Verbraucherinformationsgesetzes. Herr cherinformation auf das Lebensmittel- und Futtermittel- Goldmann hat schon darauf hingewiesen. Für uns ist es recht reduziert haben. Das kann es ja wohl nicht sein. nicht vermittelbar, dass nur der Bereich der Erzeugnisse (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) im Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuch geregelt werden soll, Nun liegt ein Konzept für einen Entschließungs- antrag der Koalitionsfraktionen vor. Das ist ein merk- (Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Warten Sie würdiger Vorgang: Erst legen die Koalitionsfraktionen doch ab, Frau Kollegin!) einen Gesetzentwurf vor, nun wollen die Abgeordneten aber beispielsweise nicht die berühmten Sicherheitshin- einen eigenen Entschließungsantrag vorlegen. Das ist weise bei Elektrogeräten. ein sehr interessantes Verfahren. Fünftens. Wir fordern eine deutliche Reduzierung der (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Abenteuer- jetzt sehr umfangreichen und weitgehenden Informa- lich! Koalitionssuppe ist das, ganz fade Koali- tionsverbote. Das bedeutet, der Verweis auf Betriebs- tionssuppe! – Waltraud Wolff [Wolmirstedt] und Geschäftsgeheimnisse darf nicht zum Freibrief für [SPD]: Das ist nichts Neues! Auch unter Rot- Informationsverweigerung werden. Grün haben wir so was praktiziert!) (Beifall bei der LINKEN) Im Herzen bin ich bei diesem Entschließungsantrag. Ich bin natürlich auch sehr interessiert, zu beobachten, wie Sechstens. Wir fordern deutlich kürzere Bearbei- sich dieses Kind entwickelt. tungszeiten. Aber ganz klar ist: Hätten Sie sich an unserem Ge- Letztlich wird aber auch ein noch so gutes Verbrau- setzentwurf orientiert, den wir damals eingebracht cherinformationsgesetz das eigentliche Problem nicht lö- haben, dann hätten Sie ein wirklich effektives Verbrau- sen: die strukturellen Ursachen der Lebensmittelskan- cherinformationsgesetz bereits im ersten Durchgang vor- dale. Wo Sozial- und Umweltdumping stattfindet, ist es legen können. oft auch mit der Lebensmittelsicherheit nicht weit her. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Vielen Dank. sowie bei Abgeordneten der FDP) (B) (D) (Beifall bei der LINKEN) Stattdessen sind die Regelungen nahezu gleich inhalts- leer geblieben: keine Informationsherausgabe und Na- Vizepräsidentin Petra Pau: mensnennung bei bestimmten Schadstoffen, zum Bei- Das Wort hat die Kollegin Ulrike Höfken für die Grü- spiel der Druckchemikalie ITX oder Acrylamid. nen. (Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Das stimmt nicht, Uli!) Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): – Doch, das stimmt. – Acrylamid – das darf ich einmal Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und den Kollegen von der CDU/CSU sagen – hat doch in der Kollegen! Das ist jetzt der dritte Versuch eines Verbrau- vergangenen Legislaturperiode noch eine Bedrohung der cherinformationsgesetzes. Sie hätten noch dazusagen Menschheit dargestellt. sollen, Herr Minister, dass die ersten beiden Versuche hauptsächlich an Ihnen von der CDU/CSU gescheitert (Widerspruch bei der CDU/CSU) sind. Hier muss man also eine deutliche Lücke feststellen. (Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Aber Eine Information über diesen Schadstoff – das können Uli, du musst jetzt dankbar sein!) Sie gerne nachprüfen; wir möchten bei der Wahrheit bleiben und werden dies weiter überprüfen – werden Sie Sie haben gesagt, die Nennung des Namens zur klaren nicht bekommen, ebenfalls nicht bezüglich Mehrfach- Information habe mehr Wirkung hinsichtlich der Be- pestizidbelastungen von Obst und Gemüse. kämpfung von Wirtschaftskriminalität als alle anderen Strafgesetzregelungen. Das ist richtig. Aber dann fragen (Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Das stimmt wir uns natürlich, warum die Latte beim Verbraucher- auch nicht! – Julia Klöckner [CDU/CSU]: informationsgesetz diesmal wieder gerissen wird. Hast du den aktuellen Entwurf?) Denn wie wir sehen, setzen Sie sich über die vielfache Sie haben auch keinen Informationsanspruch und Kritik von Verbraucher- und Umweltverbänden, von keine Informationspflicht durch die Behörden bei wirt- Wirtschaft und Journalistenverbänden hinweg. Es ist ein schaftlicher Täuschung, zum Beispiel bei Verschleierung Gesetz voller Anwendungslöcher und bürokratischer der Herkunft von Produkten – Frau Tackmann hat das Hürden, das Sie jetzt durch den Bundestag peitschen. schon erwähnt – oder bei Umetikettierung von ach so be- Die Ausschlussgründe sind zu vielfältig, der Anwen- liebten importierten Billigsportartikeln oder Medika- dungsbereich ist zu klein, die Antwortfristen sind viel zu menten, vorgesehen. Kein Informationsanspruch besteht 2988 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006

Ulrike Höfken (A) auch bei Produkten und Dienstleistungen, zum Beispiel sprochen – der importierten Sportartikel. Eine Informa- (C) bei Finanzdienstleistungen. Es gibt auch keinen Infor- tion darüber bekommen Sie trotz aller Nachfragen nicht. mationsanspruch gegenüber Unternehmen sowie im Dieses Gesetz enttäuscht also die Erwartungen. Ich Hinblick auf wirtschaftlich relevante Informationen. nehme Sie beim Wort, Herr Minister. Sie haben zuge- Dies gilt beispielsweise für den Fall, dass Unternehmen sagt, dieses Gesetz einer Überprüfung unterziehen zu Kapitalanleger bewusst geschädigt hatten. lassen. Also ein neuer Sprung; die Latte wird neu aufge- Der Gesetzentwurf baut durch unklare Formulierun- legt. Wir werden im Gesetzgebungsverfahren weiter da- gen – das ist vielleicht das Hauptproblem –, mangelnde rüber diskutieren. Transparenz, Kosten, bürokratische Vorschriften und zu Danke schön. lange Antwortfristen einen Schutzwall gegen die Ver- braucher. Das finden wir nicht akzeptabel. Die Verbrau- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) cher und auch die Presse werden daran gehindert, ihre Rechte wahrzunehmen. Unternehmen verstecken sich Vizepräsidentin Petra Pau: hinter Betriebsgeheimnissen. Es ist für uns selbstver- Ich erteile das Wort der Kollegin Mechthild Rawert ständlich, dass diese gewahrt bleiben. von der SPD-Fraktion. (Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Frau Höfken, Sie wissen, dass Sie die Unwahrheit Mechthild Rawert (SPD): sagen!) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin- nen und Kollegen! Werte Gäste! Wir haben schon ge- Dieses Gesetz enttäuscht also die Erwartungen. hört: Aus Kindern werden Leute; noch kein Mäuschen ist klein geblieben. Infolgedessen gilt: Aller guten Dinge Vizepräsidentin Petra Pau: sind drei. Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist eigentlich zu Ende. Aber Sie können noch auf eine Zwischenfrage der Kolle- Verbraucherschutz ist ein aktiver und bedeutender gin Klöckner antworten. Teil unserer Bürgergesellschaft. Jede Bürgerin und jeder Bürger ist als Verbraucher davon betroffen. Verbraucher- schutz betrifft uns alle. Wir wollen, dass ein umfangrei- Julia Klöckner (CDU/CSU): cher Verbraucherschutz der Gesundheit, dem Schutz der Ich habe eine Frage, Frau Kollegin Höfken. Sie haben wirtschaftlichen Interessen, der Wiedergutmachung er- eben gesagt, der Verbraucher habe keinen Anspruch da- littenen Schadens wie auch der Unterrichtung und Auf- rauf, etwas über Herkunft und Kennzeichnung zu erfah- klärung über Waren und Dienstleistungen sowie die da- (B) ren. Ich weiß nicht, ob Ihnen die aktuelle Version des mit verbundenen Gefahren und Missbräuche dient. (D) Gesetzes vorliegt. Mir liegt sie als Drucksache vor. In § 1 Abs. 1 heißt es: Wir sind uns doch alle einig: Der unappetitliche Gam- melfleischskandal hat uns gezeigt, dass Gesundheitsrisi- Jeder hat nach Maßgabe dieses Gesetzes Anspruch ken für Verbraucherinnen und Verbraucher durch unsi- auf freien Zugang zu allen Daten über … chere Produkte frühzeitig ermittelt und wirksam 3. die Kennzeichnung, Herkunft, Beschaffenheit, bekämpft werden müssen. Zuverlässige Kontrollen, Verwendung sowie das Herstellen oder das Behan- transparente Qualitätssicherungssysteme, sichere Pro- deln von Erzeugnissen sowie über Abweichungen gnosemethode sowie – darum geht es heute – unabhän- von Rechtsvorschriften über diese Merkmale und gige und objektive Informationen sind dabei die wich- Tätigkeiten … tigsten Instrumente. Haben Sie vorhin gemeint, dass das nicht möglich ist? Grundsätzlich stehen beim Verbraucherrecht wirt- schaftliche und finanzielle Aspekte im Mittelpunkt. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Sie müssen Wir wollen Verbraucherinnen und Verbraucher dabei un- noch die Ausnahmetatbestände vorlesen! Aber terstützen, solche Waren und Dienstleistungen auszu- das dauert zu lange!) wählen, die ihnen sowohl qualitativ als auch finanziell den größten Nutzen versprechen. Wir wollen die Bürge- Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): rinnen und Bürger befähigen, dem Marktgeschehen nicht Wir haben lange Zeit darauf verwendet, die einzelnen wehrlos gegenüberzustehen, sondern als sachkundige Paragrafen dieses Gesetzes zu prüfen und zu bewerten. und selbstbewusste Akteurinnen und Akteure zu agieren. Darum sagen wir, dass es eher ein Verbraucherinforma- tionsverhinderungsgesetz ist. Denn normalen Menschen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten wird es aufgrund dieses Gesetzes nicht möglich sein, der CDU/CSU) eine Auskunft zu bekommen. Denn eines ist richtig: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. (Peter Bleser [CDU/CSU]: Es ist doch ganz klar formuliert!) (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Richtig!) Frau Klöckner, Sie vergessen den Anwendungs- Dies hat eigentlich jede und jeder von uns schon einmal bereich des Gesetzes. Dieses Gesetz ist auf das Lebens- gesagt. Für beides, für Vertrauen und sachkundige Kon- mittel- und Futtermittelrecht reduziert. Aber es gibt auch trolle, sind Transparenz und eine umfassende Informa- den Bereich – Frau Tackmann hat ebenfalls darüber ge- tion die Voraussetzung. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006 2989

Mechthild Rawert (A) (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das steht Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNIS- (C) aber nicht im Gesetz!) SES 90/DIE GRÜNEN Mit dem von der Regierungskoalition vorgelegten Bei gentechnisch veränderten Pflanzen natio- Gesetz ermöglichen wir es den Verbraucherinnen und nales Recht auf Einfuhrverbote und Schutz- Verbrauchern erstmalig, Auskunft von Behörden zu er- maßnahmen nutzen halten. Wir wollen die Verbraucherinnen und Verbrau- – Drucksache 16/1176 – cher dazu befähigen, sich über eklatante Verstöße zu in- Überweisungsvorschlag: formieren, bevor sie ihre Wirkung entfalten können. Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (f) Eines ist sicher: Wir betrachten dies als einen ersten Ausschuss für Gesundheit Schritt in Richtung eines verbesserten, modernen Ver- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit braucherschutzes. Ich sage bewusst: Dies ist ein erster Ausschuss für Bildung, Forschung und Schritt. Auch meine Kollegin Elvira Drobinski-Weiß hat Technikfolgenabschätzung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union von einem Stein gesprochen, der ins Rollen gekommen ist. Weitere Schritte müssen also folgen. Wir, die SPD- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Bundestagsfraktion, wollen einen transparenten Markt, Aussprache wiederum eine halbe Stunde vorgesehen. – der den Verbraucherinnen und Verbrauchern durch Infor- Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist auch dies so mation und Beratung die Möglichkeit bietet, gleichbe- beschlossen. rechtigte Partnerinnen und Partner der Wirtschaft zu Als erste Rednerin in dieser Debatte hat die Kollegin werden. Ulrike Höfken von den Grünen das Wort. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Richtig!) Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Verbraucherschutz kann sich dauerhaft nicht nur auf Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin- Lebens- und Futtermittel beschränken. nen und Kollegen! Unser Antrag widmet sich dem Thema „Zulassung gentechnisch veränderter Pflanzen (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Richtig!) und Produkte“. Wir greifen in der aktuellen Gentechnik- Verbraucherschutz durch Verbraucherinformationen debatte ein Thema auf, über das sowohl auf der europäi- muss in unser aller Interesse langfristig für alle Produkte schen Ebene wie auch bei uns auf nationaler Ebene und und Dienstleistungen gelten. Selbstverständlich wollen in anderen Mitgliedstaaten intensiv diskutiert wird. wir die Verbraucherin und den Verbraucher vor mangel- Auf der EU-Konferenz Anfang April in Wien ist deut- (B) hafter Ware schützen. Effektiver Verbraucherschutz be- lich geworden, dass die Bedenken im Hinblick auf öko- (D) deutet daher auch, die Wirtschaft vor ruinösen Wettbe- logische und gesundheitliche Risiken, die sich in den Er- werbsbedingungen, vor einer sowohl qualitativen als gebnissen zahlreicher Studien widerspiegeln, inzwischen auch preislichen Spirale nach unten zu bewahren. Denn von vielen Mitgliedstaaten und der EU-Kommission ge- die Mentalität „Geiz ist geil“ schadet uns allen und nutzt teilt werden. Wir sind froh darüber, dass die EU-Kom- niemandem. Dagegen ist anzugehen. mission eine Verbesserung der Zulassungsverfahren in Moderner Verbraucherschutz sei die Grundlage einer Aussicht gestellt hat. Wir werden diesen Prozess mit erfolgreichen Wirtschaftspolitik, hat Herr Seehofer ge- Nachdruck begleiten. sagt. Ich stimme ihm ausdrücklich zu; dies ist richtig. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Aus diesem Grunde werden wir die Wirtschaft weiterhin sowie der Abg. Dr. Kirsten Tackmann [DIE sehr genau beobachten. Wir wollen einen ersten Schritt LINKE]) in Richtung eines transparenten Marktes gehen und das Leitbild der mündigen Verbraucherin bzw. des mündigen Ich will auf einen sehr interessanten Punkt unseres Verbrauchers stärken. Machen Sie mit! Stimmen Sie zu! Antrages zu sprechen kommen. Zu der gentechnisch ver- änderten Maislinie MON 810, die von Minister Seehofer (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) – es war eine seiner ersten Amtshandlungen – Ende letz- ten Jahres zugelassen wurde, haben wir heute ein Rechtsgutachten vorgestellt, welches erneut belegt, dass Vizepräsidentin Petra Pau: das Inverkehrbringen der in Deutschland verwendeten Weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor. Ich Maislinie MON 810 ungeachtet der Zulassung durch schließe die Aussprache. Minister Seehofer nicht erlaubt ist. Wir fordern Minister Seehofer daher auf, den gerade gestarteten Anbau von Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent- MON 810 sofort zu stoppen und die Sortenzulassung zu- wurfes auf Drucksache 16/1408 an die in der Tagesord- rückzunehmen. nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Dann ist die Überweisung so beschlossen. sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf: Die Bundesbehörden, die für die Kontrolle und das In- verkehrbringen zuständig sind, fordern wir auf, ihre Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike Pflicht wahrzunehmen und den gestarteten Anbau zu Höfken, Cornelia Behm, Bärbel Höhn, weiterer stoppen. 2990 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006

Ulrike Höfken (A) Der Anbau findet zu fast 99 Prozent in den neuen sowie Einfuhrverbote auf EU-Ebene zu unterstützen. (C) Bundesländern statt. Wir finden es nicht in Ordnung, Aktuelle Überprüfungen der im Antrag vorgebrachten dass die Menschen dort zu Versuchskaninchen gemacht Begründungen – denen Sie, Frau Höfken, eine andere werden. Die Bedenken, die in dem heute vorgelegten aktuelle Information entgegensetzen – ergaben folgen- Rechtsgutachten noch einmal zum Ausdruck gebracht des Ergebnis: werden, müssen ihren Niederschlag finden: Der weitere Anbau der Maissorte MON 810 muss sofort gestoppt Feststellung Nr. 1. Die Voraussetzungen für die Erteilung werden. der Sortenzulassung für GV-Mais der Linie MON 810 lagen und – jedenfalls nach meinem gestrigen Informations- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN stand – liegen weiterhin vor. Eine erneute Bewertung der sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Rechtslage im Gesamtzusammenhang des europäischen In dieser Zulassung sehe ich auch insofern einen poli- Genehmigungsrechtes stützt nicht die angesprochenen tischen Skandal, als wir vorher deutlich genug darauf Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Zulassung. Die Euro- hingewiesen haben, dass eine Zulassung dieser Mais- päische Behörde für Lebensmittelsicherheit steht derzeit sorte in Deutschland nicht rechtskonform ist. Trotzdem uneingeschränkt zu diesen bisherigen Zulassungen. wurde der Anbau durchgedrückt. Herr Minister Feststellung Nr. 2. Gegen die Inverkehrbringungsge- Seehofer, Sie haben die Betroffenen in eine äußerst nehmigung für MON 863 liegen ebenfalls nach aktuel- schwierige Situation gebracht, und zwar sowohl diejeni- lem Stand der Sicherheitsbeurteilung keine neuen wissen- gen, die gentechnikfrei produzieren wollen, als auch die- schaftlichen Erkenntnisse von rechtlicher Bedeutung vor. jenigen, die einen Anbau des gentechnisch veränderten Maises betreiben wollten bzw. dazu gebracht wurden. Feststellung Nr. 3. Die Kommission geht davon aus, Sie befinden sich jetzt in einer rechtlich außerordentlich dass alle bisher in der EU zugelassenen GVO auch in ih- schwierigen Situation. Sie müssen sich an die Hersteller, ren ökologischen Langzeitwirkungen sicher sind. Die Händler und Behörden wenden, um zu klären, wie die Kommission wird auch – so die Aussage – im Rahmen rechtliche Situation aussieht. Ich finde, diese Situation der strengen Gesetzgebung für weitere Zulassungen ein- ist politisch nicht tragbar. Wir fordern Sie daher noch treten. Sie weist ausdrücklich darauf hin, dass nationale einmal auf, die Zulassung für den Anbau dieses Produk- Alleingänge und Verbote nach einer Zulassung vermie- tes sofort zurückzuziehen. den werden sollen. Bemerkenswert in diesem Zusam- menhang ist, dass Deutschland bei den Abstimmungen Danke. im Umweltrat am 24. Juni 2005 und im Landwirtschafts- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) rat am 25. Oktober 2005 – beide Male vertreten durch Jürgen Trittin, im Juni als Umweltminister und im Okto- ber als geschäftsführender Landwirtschaftsminister – (B) Vizepräsidentin Petra Pau: (D) Das Wort hat der Kollege Dr. Lehmer für die CDU/ (Peter Bleser [CDU/CSU]: So ist es!) CSU-Fraktion. dem Vorschlag der Kommission auf Zulassung zuge- (Beifall bei der CDU/CSU) stimmt hat. (Horst Seehofer [CDU/CSU]: Gut zuhören!) Dr. Max Lehmer (CDU/CSU): Verehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kolle- Deutschland hat dabei ausdrücklich festgestellt, dass aus gen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau seiner Sicht keine schädlichen Auswirkungen von Höfken, den in Ihrem Antrag gemachten Feststellungen MON 863 auf Mensch oder Umwelt zu erwarten seien. zu den Zielen des deutschen Gentechnikrechtes, nämlich (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- dem Schutz von Mensch, Tier und Umwelt – das ist die neten der FDP) oberste Priorität –, der Wahlfreiheit der Verbraucher und Landwirte sowie der Koexistenz verschiedener Land- wirtschaftsformen, stimmen wir uneingeschränkt zu. Vizepräsidentin Petra Pau: Herr Kollege, lassen Sie eine Zwischenfrage der Kol- (Beifall bei der CDU/CSU) legin Höfken zu? Wir begrüßen es ausdrücklich, dass hinsichtlich der na- tionalen Gestaltungsspielräume bezüglich dieser wichti- Dr. Max Lehmer (CDU/CSU): gen Zielsetzungen entsprechende Freiräume bestehen. Ich möchte in meinem Konzept weitermachen. Es ist unserer Meinung nach erfreulich, dass es hierzu (Horst Seehofer [CDU/CSU]: Ich finde, das vonseiten der EU keine einheitlichen und zwingenden war eindeutig!) Vorgaben gibt. Wie mehrfach angekündigt, wird die Re- gierungskoalition in den nächsten Monaten entspre- Feststellung Nr. 4. Im Zusammenhang mit der aktuel- chende nationale Regelungen zu den genannten Berei- len Diskussion über eine Überarbeitung der EU-Zulas- chen ausarbeiten und zur Abstimmung bringen. sungsregeln – Sie haben sie angesprochen – regt die Kommission an, bei vorhandenen Zweifeln seitens der Im vorliegenden Antrag der Fraktion des Bündnis- ses 90/Die Grünen wird verlangt, Mitgliedstaaten diese schon während des laufenden Zu- lassungsverfahrens einbringen zu können. Diese angebo- erteilte Sortenzulassungen von GVO-Maissorten zu tene engere Kooperation mit den nationalen wissen- widerrufen und keine weiteren Sortenzulassungen schaftlichen Institutionen bereits in der Phase der zu erteilen Risikoanalyse selbst ist ausdrücklich zu begrüßen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006 2991

Dr. Max Lehmer (A) Feststellung Nr. 5. Bundesminister Seehofer hat in bei auch in Zukunft der öffentlichen wissenschaftlichen (C) diesen Tagen ein Schreiben an die Kommissare für Ge- Forschung zugewiesen werden. sundheit und Verbraucherschutz sowie für Umwelt ge- sendet und fordert diese zur Klärung auf, welche Konse- Ein wichtiger Hinweis: Freilandversuche müssen quenzen aus der Ankündigung der Kommission zu ohne Behinderung möglich sein. Sie bilden die Basis für Änderungen der Entscheidungsprozesse über GVO zu anbau- und ökologierelevante Fragestellungen. erwarten sind. (Beifall bei der CDU/CSU) (Horst Seehofer [CDU/CSU]: Sehr gutes Leider mussten wir in dieser Beziehung in manchen Re- Schreiben!) gionen gegenteilige Erfahrungen machen. Außerdem wurde das Bundesamt für Verbraucherschutz Zum Abbau vorhandener Bedenken unserer Bürger und Lebensmittelsicherheit um Prüfung gebeten, ob aus gegenüber der Grünen Gentechnik müssen alle Ergeb- einer aktuellen Sicherheitsbewertung heraus Anlass für nisse im Rahmen der rechtlichen Möglichkeiten transpa- zulassungsrelevante Entscheidungen besteht. In diese rent gemacht werden. Alle möglichen Maßnahmen für Prüfung sollen das Bundesamt für Naturschutz, das eine sach- und fachgerechte Information sind zu nutzen. Robert-Koch-Institut, das Bundesinstitut für Risikobe- Es geht vor allem darum, eine offene und wissenschaft- wertung und die Biologische Bundesanstalt für Land- lich fundierte Chancen-Risiko-Abschätzung vorzuneh- und Forstwirtschaft eingeschaltet werden. Das Ergebnis men. Dazu ist es erforderlich, sich die sich in raschem dieser Prüfung ist abzuwarten. Tempo entwickelnden Möglichkeiten gentechnisch ver- änderter Produkte und ihren Nutzen für den Verbraucher Feststellung Nr. 6. Nationale Einfuhrverbote können insbesondere in den Bereichen Lebensmittelqualität, nur im Einzelfall ausgesprochen werden – so lautet EU- Energienutzung von Pflanzen und Umweltschutz be- Recht –, und zwar nur dann, wenn neue oder zusätzliche wusst zu machen. wissenschaftliche Erkenntnisse zeigen, dass eine Gefahr für die menschliche Gesundheit oder die Umwelt be- Wir wollen niemandem eine Technologie aufdrängen – steht. keineswegs. Wir wollen aber sicherstellen, dass die Chancen der Grünen Gentechnik nach verantwortungs- Feststellung Nr. 7. Es ist ausdrücklich zu begrüßen, voller Abwägung aller Vorteile und Risiken auch in dass zwischen der Kommission und den Mitgliedstaaten Deutschland genutzt werden können, und zwar von den Einigkeit darin besteht, dass im Hinblick auf die Koexis- Verbrauchern, den Landwirten und der Wirtschaft. Dazu tenz die zwischenstaatliche Zusammenarbeit verstärkt sind die Regeln so auszugestalten, dass der Markt, also werden soll. Danach sollen die verfügbaren Informatio- der Verbraucher durch sein Konsumverhalten, entschei- (B) nen allen Mitgliedstaaten zugänglich gemacht werden den kann, wie es auch bei allen anderen Technologien (D) sowie Forschungstätigkeiten unterstützt werden. Einig- der Fall war und ist. keit besteht auch darin, dass die Kommission so bald wie möglich einen Vorschlag für gemeinschaftliche Schwel- (Beifall bei der CDU/CSU) lenwerte für GV-Bestandteile im Saatgut vorlegen soll, Wir werden in Ruhe, ohne Zeitdruck und – das betone bei deren Überschreitung das Saatgut folgerichtig als ge- ich – in vollem Verantwortungsbewusstsein vorgehen. netisch verändert gekennzeichnet werden soll. Jedenfalls Alle Aktivitäten, die vornherein die Verhinderung einer ist zu vermeiden, dass durch unterschiedliche Koexis- modernen Technologie verfolgen, werden wir sehr kri- tenzregelungen der Mitgliedstaaten Wettbewerbsverzer- tisch begleiten. rungen entstehen. Ich bedanke mich. Feststellung Nr. 8. Ein Anbaumoratorium bis zum Erlass von EU-weiten Harmonisierungsmaßnahmen, wie (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Sie es vorschlagen, halten wir für nicht erforderlich. Hans-Michael Goldmann [FDP]) Aus all den genannten Gründen lehnen wir den An- trag vom Bündnis 90/Die Grünen ab. Wir halten die ge- Vizepräsidentin Petra Pau: stellten Forderungen für nicht zielführend. Vielmehr Das Wort zu einer Kurzintervention hat die Kollegin bleiben wir bei der geplanten Vorgehensweise. Nach der Höfken. erfolgten Umsetzung der Freisetzungsrichtlinie im Fe- bruar dieses Jahres erfolgt nun nach einer von Minister Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Seehofer breit angelegten Anhörung aller Interessens- Herzlichen Dank. – Da mich der Kollege gerade an- gruppen die Ausarbeitung der noch offenen, in nationa- gesprochen hat, möchte ich seine Auffassung zur Zulas- ler Zuständigkeit zu regelnden wichtigen Sachfragen zu sung der Maislinie MON 810 richtig stellen: Die in den Bereichen – ich wiederhole –: Koexistenz aller An- Deutschland verwendeten Sorten verfügen nicht über bauverfahren, die Haftungsregel, die Ausgestaltung der die erforderliche gentechnikrechtliche Genehmigung. guten landwirtschaftlichen Praxis und – das ist ein wich- MON 810 hat zwar auf Grundlage der so genannten tiger Punkt – die Sicherung der Wahlfreiheit für die Ver- EU-Freisetzungsrichtlinie aus dem Jahr 1990 ein Zulas- braucher. Im Mittelpunkt steht auch künftig die sungsverfahren durchlaufen. Aber die Entscheidung der Forschung zur weiteren Aufklärung und Auffindung re- EU-Kommission über diesen Antrag bedeutet keines- levanter Erkenntnisse für die Bereiche Sicherheit und falls – das wird auch in der Fachöffentlichkeit manch- Anwendungsregelungen. Ein hoher Stellenwert muss da- mal falsch dargestellt –, dass MON 810 genehmigt ist. 2992 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006

Ulrike Höfken (A) Es oblag den französischen Behörden, für die in Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): (C) Frankreich angebauten Sorten eine Genehmigung zu er- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! teilen. Das haben sie auch getan. Dabei ging es aber Zuvor ein Wort zu dem aktuellen Streit: Ich wundere nicht um die Sorten, die vor kurzem in Deutschland zu- mich sehr, dass die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grü- gelassen worden sind und hierzulande angebaut werden. nen jetzt ein Rechtsgutachten zu diesem Thema einge- Von daher besteht für die in Deutschland verwendeten holt hat. Warum ist der rechtliche Dissens im Hinblick Sorten seit 1998 eine gentechnikrechtliche Zulassungs- auf die Zulassung dieser Sorte nicht thematisiert worden, lücke. als Frau Künast Ministerin war? Sie alle wissen, dass das Gentechnikrecht bzw. das (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Ja!) Zulassungsrecht nach dem Moratorium EU-weit deutlich Warum ist eigentlich Abteilungsleiter Schlagheck aus verschärft worden ist. Seit 2003 dürfen gentechnisch dem Amt vertrieben worden und warum sind die Sitzun- veränderte Organismen, die für Lebensmittel prinzipiell gen des Sortenausschusses abgesagt worden, sodass verwendet werden dürfen, nur nach einer umfassenden keine Entscheidung getroffen werden konnte? Dies alles Lebensmittelsicherheitsprüfung zugelassen werden. hätte man vermeiden können, wenn es einen rechtlichen MON 810 ist im Rahmen eines solchen Verfahrens und Grund gegeben hätte, die Sorte nicht zuzulassen. anhand der aktuellen Vorschriften bisher überhaupt nicht geprüft worden. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Zudem sind genehmigte Erzeugnisse nach altem Recht nur für eine Übergangsfrist bis Ende 2006 zuge- Ich bitte Sie, das Rechtsgutachten zur Verfügung zu stel- lassen, und dies auch nur dann, wenn eine ordnungsge- len, damit wir uns selbst eine Meinung darüber bilden mäße Meldung in Brüssel erfolgt ist. Diese Meldung ist, können. Ich denke, wir alle – auch der Kollege Lehmer – was MON 810 betrifft, aber nicht erfolgt. Dass es plötz- sind uns darüber einig, dass die Zulassung rechtlich kor- lich eine Meldung in dem entsprechenden Register gege- rekt zu verlaufen hat. Aber ich habe große Zweifel, dass ben hat, ändert daran übrigens gar nichts. Das ist näm- Ihr Rechtsgutachten standhalten wird. lich etwas anderes. Man kann nicht einfach ein Erzeugnis in ein Register eintragen lassen und dann be- Vizepräsidentin Petra Pau: haupten, das entspreche einer Zulassung. Das geht nicht. Kollegin Happach-Kasan, möchten Sie auf Zwischen- fragen der Kollegin Höfken antworten? Aus diesem Grunde darf das Saatgut MON 810 in Deutschland nicht mehr vertrieben und auch nicht mehr Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): (B) angebaut werden. Diese Erkenntnis haben wir aus dem Ja, gerne. (D) entsprechenden Rechtsgutachten gewonnen. Deswegen sind wir der Auffassung, dass auch Sie die Konsequen- zen aus diesem Rechtsgutachten ziehen müssen. Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich möchte dazu sagen, dass diese Rechtsauffassung Danke. schon damals bestand und auch belegt worden ist. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Wann?) Vizepräsidentin Petra Pau: Genau deswegen hat Frau Künast die Zulassung nicht er- Herr Dr. Lehmer, Sie haben das Wort zu einer Erwi- teilt. Allerdings haben wir jetzt in einem neuen, von der derung. Fraktion in Auftrag gegebenen Gutachten noch andere Aspekte herausarbeiten können. Ich stelle dieses Gut- Dr. Max Lehmer (CDU/CSU): achten gerne zur Verfügung. Frau Kollegin Höfken, ich habe mich über den recht- lichen Hintergrund der Zulassung von MON 810 infor- Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): miert. Meine Informationen – Stand: gestern – stehen im Frau Kollegin Höfken, diese Äußerung wundert mich Widerspruch zu Ihren Aussagen. Ich kann diesen Wider- sehr; denn meines Wissens – Sie wissen, dass ich in der spruch nicht auflösen. Ich kenne das Rechtsgutachten letzten Legislaturperiode ebenfalls Mitglied des Bundes- nicht, auf das Sie sich beziehen. Mir liegen andere Infor- tages gewesen bin – hat Frau Künast dies nicht öffentlich mationen vor. gemacht. Sie hat verhindert, dass der Sortenausschuss ta- gen und damit die Zulassung aussprechen konnte. Ich (Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- wundere mich, warum ein solcher, an der Legalität vor- NEN]: Ich lasse es Ihnen gerne zukommen! – beigehender Weg gewählt worden ist, wenn die Sorte ei- Gegenruf des Abg. Dr. Max Lehmer [CDU/ nem Rechtsgutachten nach eindeutig nicht zugelassen CSU]: Gerne!) werden konnte. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Ja!) Vizepräsidentin Petra Pau: Das ist für mich ein rechtsstaatlich sehr undurchsichtiges Ich erteile das Wort für die FDP-Fraktion der Kolle- Verfahren. gin Dr. Happach-Kasan. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Beifall bei Abgeordneten der FDP) der CDU/CSU – Ulrike Höfken [BÜND- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006 2993

Dr. Christel Happach-Kasan (A) NIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich könnte das jetzt – Oh, entschuldigen Sie, Herr Minister, ich nehme zur (C) erklären; aber vielleicht machen wir das im Kenntnis: Sie sind da. Ich freue mich, dass Sie mir zuhö- Ausschuss!) ren. – Herr Minister, wir werden Sie daran messen, ob Sie nur ankündigen oder ob Sie auch handeln. Erst hieß es, im Mai gebe es einen Gesetzentwurf. Jetzt sollen im Vizepräsidentin Petra Pau: Juni Eckpunkte vorgelegt werden. Herr Lehmer hat ge- Ich würde auch vorschlagen, dass Sie diesen interes- sagt, der Gesetzentwurf komme in mehreren Monaten. santen Meinungsaustausch zunächst in den Ausschuss- Wir wollen möglichst bald ein Gesetz. Wir wollen nicht, beratungen fortsetzen und das Ganze nicht weiter als dass weiter Nebelkerzen geworfen werden. Zwischenfrage tarnen. (Beifall bei der FDP) Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): Wir werden den Gesetzentwurf daran messen, ob Danke schön, Frau Präsidentin. durch ihn praktikable Haftungsregelungen geschaffen werden, ob das Inverkehrbringen neu definiert wird und Ich möchte an den Anfangspunkt meiner Rede zu- ob schikanierende Bürokratielasten abgebaut werden. rückkehren: Es geht nicht nur um MON 810, vielmehr Sie, Herr Minister, haben mit der Zulassung fünf trans- müssen wir den Antrag der Grünen in den Gesamtzu- gener Maissorten, deren Wertprüfung schon lange abge- sammenhang stellen: Wir wissen, dass der Anbau von schlossen ist – damit komme ich auf dieses Thema zu- Kulturpflanzen, die unter Anwendung gentechnischer rück –, den Weg rechtsstaatlichen Handelns beschritten. Methoden gezüchtet wurden, weltweit eine Erfolgsstory Das will ich ausdrücklich anerkennen. Jetzt brauchen ist. wir eine Novelle des Gentechnikgesetzes, die in (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der Deutschland einen Innovationsschub bewirken wird. CDU/CSU) Liebe Kollegin Höfken, der Antrag der Grünen weist Jedes Jahr vergrößert sich die Fläche – inzwischen sind in die falsche Richtung; das habe ich beim Thema es über 90 Millionen Hektar –, auf der solche Pflanzen MON 810 bereits gesagt. Ich will noch hinzufügen: Es angebaut werden. Es gibt eine Studie von Professor mag sein, dass wir eine neue Freisetzungsrichtlinie ha- Qaim von der Universität Hohenheim. Er hat herausge- ben, aber es gilt: Das Abitur bleibt gültig, auch wenn die funden, dass gerade die Bauern in den Entwicklungslän- Prüfungsordnung verändert wurde. So ist es auch bei den Sorten der Maislinie MON 810. dern davon profitieren. (Beifall des Abg. Hans-Michael Goldmann Die Studien zu den Sorten der Linie MON 863 sind von der EFSA umfassend geprüft worden. Sie kommt zu [FDP]) (B) dem Schluss, dass der Mais dieser Linie gut ist. Ich (D) Mehrere Millionen Tonnen gentechnisch veränderte meine, wir können politisch nicht etwas entscheiden, Soja werden jedes Jahr eingeführt. 95 Prozent der Soja, was von der EFSA bereits richtig entschieden worden die in Deutschland verbraucht werden, sind gentech- ist. nisch verändert; die Aufschrift „gentechnisch verändert“ (Beifall bei der FDP) ist inzwischen die Regel. Deutschland hinkt bei der Nut- zung der Grünen Gentechnik in der EU hinterher. Wir Wir sind wie Sie der Auffassung, dass Studien von haben keine Wahlfreiheit, weil die Verbraucherinnen und unabhängigen Experten geprüft werden müssen. Doch Verbraucher nicht zwischen Produkten, die aus gentech- wer sind unabhängige Experten? Wissenschaftler des nisch veränderten Pflanzen hergestellt sind, und solchen, Ökoinstituts, die der Regierung geraten haben, die gute die dies nicht sind, wählen können. Das wollen wir än- fachliche Praxis beim Maisanbau an einer russischen dern. Wir haben im März die Freisetzungsrichtlinie der Studie aus dem Jahre 1940 auszurichten? Sind das unab- EU umgesetzt und damit eine Altlast von Rot-Grün aus hängige Experten? Oder ist das der Umweltverband, der dem Weg geräumt und drohende Strafzahlungen vermie- mit seiner Genmilchkampagne versucht hat, Verbrauche- den. Die EU hat mit dem im Mai 2004 beendeten sechs- rinnen und Verbraucher zu verunsichern und der ein Un- jährigen Moratorium für die Einfuhr gentechnisch verän- ternehmen diskreditiert hat, das hervorragende Produkte derter Lebensmittel gegen internationale Handelsregeln auf den Markt bringt? Ich glaube, das sind keine unab- verstoßen; dies hat das Schiedsgericht der WTO gerade hängigen Experten. bestätigt. Das gilt auch für die von Deutschland ausge- Die Anwendung Grüner Gentechnik zur Verbesse- sprochenen Handelsverbote. Wir als FDP wollen einen rung der Sorten ist eine sehr gute Strategie, von der rechtlich sicheren Weg gehen und nicht gegen internatio- keine der Energiepflanzen von vornherein ausgeschlos- nale Handelsbestimmungen verstoßen. sen werden sollte, auch der Raps nicht. Es ist gut, dass es (Beifall des Abg. Hans-Michael Goldmann dazu Initiativen in Mecklenburg-Vorpommern gibt. Erst [FDP]) gestern haben wir gemeinsam für eine andere Politik der Bundesregierung bei Biokraftstoffen protestiert. Wir Die von der Bundesregierung in dem im März verab- sind uns einig, dass Biokraftstoffe in Deutschland eine schiedeten Gentechnikgesetz angekündigte weitere No- Zukunft haben müssen. Dazu brauchen wir die entspre- vellierung ist dringend erforderlich. Minister Seehofer chenden steuerlichen Regelungen, aber auch mehr Effi- ist inzwischen leider nicht mehr da. zienz auf dem Acker. Dabei hilft die Grüne Gentechnik. (Widerspruch bei der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP) 2994 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006

Dr. Christel Happach-Kasan (A) Die Grünen haben Erfahrung darin, mit Verboten auf (Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Ja- (C) neue Entwicklungen zu reagieren. Die Petflasche ist da- wohl!) für ein Beispiel, ich nenne aber auch ihre Haltung zum Handy oder zum PC. Nun soll es die Terminatortech- Einige der angesprochenen Punkte sollten ernsthaft nologie sein, wissenschaftlich GURT. Es gibt dazu kei- diskutiert werden. Wir sind uns sicher, dass alle in die- nerlei Anwendungserfahrung. Jetzt ein Verbot zu for- sem Haus sich darin einig sind, dass wir die in Brüssel in dern, ist Symbolpolitik, nicht mehr. Das gilt im Übrigen Gang gekommene Diskussion um mehr Transparenz für den gesamten Antrag. von Entscheidungen über gentechnisch veränderte Or- ganismen und um eine Stärkung des Einflusses der ein- zelnen Mitgliedstaaten dazu nutzen sollten, alle Mög- Vizepräsidentin Petra Pau: lichkeiten auszuschöpfen, die Interessen der Menschen Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Schluss kom- in diesem Land zu vertreten. men. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Ulrike (Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: So ist Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) es!) Neue Entwicklungen in der EU veranlassen uns, uns mit einigen der im Antrag aufgeworfenen Fragen ausei- Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): nander zu setzen. So hat die EU-Kommission gegenüber Ich komme zum Schluss. – Herr Minister Seehofer, der WTO das Zulassungsmoratorium, welches zwi- Sie haben betont, dass Sie das Gentechnikgesetz im schen 1998 und 2004 für GVO-Pflanzen in der EU be- Konsens novellieren wollen. Ich finde, das ist ein guter stand, unter anderem damit gerechtfertigt, dass es ein be- Ansatz. Aber ich möchte Sie nur an folgenden Vorfall er- gründeter und rechtmäßiger Standpunkt sei, innern: Im April ist in Bayern ein Versuchsfeld durch schädlingsresistente GVO-Pflanzen nicht anzubauen, Ausbringen von Mineralöl zerstört worden. Für mich ist bevor alle Auswirkungen auf den Boden bekannt sind. das Umweltkriminalität. Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei den in der EU zu- (Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Frau gelassenen GVO-Pflanzen geht es um solche Schäd- Happach-Kasan, Sie sollten aufhören!) lingsresistenzen, nämlich um mithilfe eines Bodenbakte- riums erreichte Maiszünslerresistenzen. Wie wollen Sie mit Menschen, die die biologische Si- cherheitsforschung mit kriminellen und umweltgefähr- Außerdem zitiert die Presse aus dem EU-Kommis- denden Handlungen sabotieren, im Konsens ein für die sionspapier, dass bei der Zulassung von Biotechproduk- deutsche Forschung und Landwirtschaft wichtiges Ge- ten die wissenschaftliche und technische Kenntnis oft (B) setz novellieren? unvollständig sei, zumal GVO-Produkte sehr neu sind. (D) Dies bietet nach meiner Ansicht durchaus Anlass, die kritisierten Zulassungen und Genehmigungen zu über- Vizepräsidentin Petra Pau: prüfen. Den Medien habe ich entnommen, dass Minister Die Antwort auf diese Frage müssen Sie leider in den Seehofer den Umweltverbänden dies für den Monsanto- weiteren Beratungen suchen bzw. in der zweiten und Mais 810 zugesichert hat. Das begrüßen wir ausdrück- dritten Lesung. Sie haben Ihre Redezeit wirklich weit lich. Herr Minister, da haben Sie unsere volle Unterstüt- überschritten. zung. (Beifall der Abg. Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/ Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): DIE GRÜNEN]) Ich bitte Sie: Haben Sie mehr Mut, Herr Minister! Weiter ist zu lesen, dass die EU-Kommission Unsi- Danke schön. cherheit über den Gentransfer zu wild wachsenden Ver- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten wandten der gentechnisch veränderten Pflanze einräumt. der CDU/CSU) In unseren Breiten hat der Raps solche wild wachsenden Verwandten. Laut Studien ist Raps nicht koexistenzfä- hig. Daraus sollten wir Konsequenzen ziehen. Gentech- Vizepräsidentin Petra Pau: nisch veränderter Raps sollte nicht zum Anbau zugelas- Das Wort hat die Kollegin Drobinski-Weiß von der sen werden. SPD-Fraktion. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dr. Christel Happach-Kasan Elvira Drobinski-Weiß (SPD): [FDP]: Schlecht begründet!) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Der Antrag von Sehr zu begrüßen sind die Vorschläge der EU-Kom- Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Bei gentechnisch mission, die wissenschaftliche Kohärenz und Transpa- veränderten Pflanzen nationales Recht auf Einfuhrver- renz von Entscheidungen über gentechnisch veränderte bote und Schutzmaßnahmen nutzen“ hat vor dem Hinter- Organismen zu verbessern und einen Konsens zwischen grund derzeitiger Entwicklungen auf EU-Ebene an Ak- allen Beteiligten herbeizuführen. So sollen die nationa- tualität gewonnen. Deshalb sollten wir die Debatte nicht len wissenschaftlichen Einrichtungen demnächst stärker auf einen Schlagabtausch zwischen Opposition und Re- einbezogen werden und die Stellungnahmen der einzel- gierungsfraktionen reduzieren. nen Mitgliedstaaten mehr Gewicht im Entscheidungs- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006 2995

Elvira Drobinski-Weiß (A) prozess erhalten. Auch sollen potenzielle Langzeitwir- attestiert, sind nur durch Erkenntnisse aus der Forschung (C) kungen und Fragen der biologischen Vielfalt stärker auszuräumen. Natürlich muss auch die Forschung dem berücksichtigt werden. Vorsorgeprinzip und der Nachhaltigkeit verpflichtet sein. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen sehr ge- Die Forderung von Bündnis 90/Die Grünen nach ei- nau prüfen, welcher Handlungsbedarf und welche Mög- nem weiteren Zulassungsmoratorium für GVO-Pflanzen lichkeiten sich aus diesen Bewegungen auf der EU- bis zum Erlass EU-weiter Koexistenzregelungen kön- Ebene für uns auf der nationalen Ebene ergeben. Der nen wir nicht unterstützen. Die EU-Kommission hat im Schutz von Mensch und Umwelt gemäß dem Vorsorge- März beschlossen, sich gegenwärtig nicht mit der Schaf- prinzip ist unser oberstes Ziel. Das haben wir im Koali- fung harmonisierter Koexistenzregelungen zu befassen. tionsvertrag vereinbart. Mit der Grünen Gentechnik Zwar wollen auch wir EU-weit geltende Koexistenzre- muss vorsichtig und verantwortungsvoll umgegangen gelungen; das Fehlen solcher Regelungen können wir je- werden, zum einen weil es noch immer wissenschaftli- doch nicht dazu nutzen, ein neues, rechtlich wackeliges che Unsicherheiten gibt, wie die EU-Kommission selbst Moratorium zu fordern. gegenüber der WTO angibt, zum anderen weil wir wol- len, dass hier auch weiterhin gentechnikfrei angebaut Auch wir hätten gern ein weltweites Verbot der und produziert werden kann. Das verlangen 80 Prozent GURT, auch bekannt als Terminatortechnologie, haben der Verbraucherinnen und Verbraucher von uns; das ver- aber gesehen, wie schwierig es war, die Verlängerung langen aber auch die deutsche Landwirtschaft und Le- des Moratoriums für die GURT zu erreichen. Deshalb bensmittelwirtschaft von uns, für die die Produktion halte ich ein weltweites Verbot für derzeit nicht durch- gentechnikfreier Rohstoffe und Lebensmittel ein Markt- setzbar. vorteil ist. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der grünen Das polnische Parlament hat Ende April ein Gesetz Fraktion, einige Forderungen in Ihrem Antrag lehnen verabschiedet, das den Vertrieb von GVO-Saatgut ver- wir ab, über einige andere Forderungen sollte vor dem bietet. Das Gesetz ist noch nicht vom Präsidenten unter- Hintergrund neuer Entwicklungen in Brüssel diskutiert zeichnet. Es sprengt voraussichtlich den EU-rechtlichen werden. Ich hoffe, wir alle werden das in den Ausschüs- Rahmen und dürfte in Brüssel für helle Aufregung sor- sen – fruchtbar und jenseits politischer Grabenkämpfe – gen. Von den 16 polnischen Provinzregierungen haben miteinander angehen. sich mindestens 14 – ich denke, das ist die aktuelle Zahl – Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. zu gentechnikfreien Regionen erklärt. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Ulrike (B) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) (D)

Ich erwähne das deshalb, weil die Hoffnung auf Wettbe- Vizepräsidentin Petra Pau: werbsvorteile bei diesen Initiativen mit Sicherheit eine Rolle gespielt hat. So haben diese Regionen eine Erklä- Das Wort zu einer Kurzintervention erhält die Kolle- rung verfasst, in der sie unter anderem die Befürchtung gin Happach-Kasan. äußern, der Anbau von GVO schade dem öffentlichen Ansehen der gesamten polnischen Landwirtschaft, die Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): für ihre nachhaltige und hochwertige Wirtschaftsweise Liebe Kollegin Drobinski-Weiß, Sie brauchten gar bekannt sei. nicht so angstvoll das Rednerpult zu verlassen. Ich hätte (Zuruf von der LINKEN: Sehr gut!) Ihnen wirklich gern die Frage gestellt, ob Ihnen bekannt ist, dass in Polen nicht nur ein Verbot von 16 GVO-Sor- Ein nationales Verbot von 16 GVO-Maissorten in Po- ten, sondern außerdem von 700 konventionell gezüchte- len ist Anfang der Woche von der EU-Kommission ge- ten Sorten beantragt wurde. Sicherlich haben Sie doch nehmigt worden. Es gibt also durchaus Spielräume, die im Protokoll der ESA gelesen, dass das Verbot der zur Wahrung nationaler Interessen genutzt werden kön- 16 GVO-Sorten und der 700 konventionell gezüchteten nen. Sorten damit begründet wird, dass diese Sorten unter den klimatischen Bedingungen in Polen nicht mehr reif wer- Vizepräsidentin Petra Pau: den. Das heißt, die Begründung ist nicht, dass man gen- Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der technikfrei anbauen möchte, sondern dass die Sorten Kollegin Happach-Kasan? nicht reifen. Ich teile Ihre Einschätzung, dass man das nicht verbieten muss, weil Landwirte sicherlich keine Sorten anbauen, die nicht reif werden. Wir sollten kon- Elvira Drobinski-Weiß (SPD): kret darauf hinweisen, dass es um 716 Sorten geht, und Nein, vielen Dank. Frau Happach-Kasan, wir disku- uns fragen, ob das insgesamt mit den Interessen des eu- tieren das im Ausschuss immer rauf und runter. ropäischen Binnenmarktes und unserer Pflanzenzüchter Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Wir übereinstimmt. haben uns in der Koalitionsvereinbarung verpflichtet, Danke schön. die Forschung im Bereich Biotechnologie zu fördern. Daran halten wir fest. Die wissenschaftlichen Unsicher- (Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- heiten in diesem Bereich, welche die EU-Kommission NEN]: Der Weg ist das Ziel!) 2996 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006

(A) Vizepräsidentin Petra Pau: niemand ernsthaft den Straßenverkehr infrage stellen. (C) Frau Drobinski-Weiß, Sie haben die Möglichkeit zu Wenn zum potenziellen Risiko aber auch noch ein sehr einer Erwiderung. – Sie verzichten. fraglicher Nutzen kommt, dann ist das einfach zuviel. Ich erteile Frau Dr. Tackmann das Wort. Die Menschen haben deswegen die völlig berechtigte Erwartung an die politischen Entscheidungsträger, dass (Beifall bei der LINKEN) die ökologischen und die gesundheitlichen Risiken des Anbaus gentechnisch veränderter Pflanzen mit Ab- Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): schluss eines Zulassungsverfahrens objektiv geklärt Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und sein müssen. Es macht mich daher sehr nachdenklich, Kollegen! Liebe Gäste! Wer würde den Maiszünsler dass sich die EU-Kommission jetzt zu tief greifenden kennen, wenn es nicht die intensive Diskussion über die Änderungen des Zulassungsverfahrens veranlasst sieht. Grüne Gentechnik und ihr Für und Wider gäbe? Das Dabei sind die von den EU-Kommissaren für Verbrau- zeigt uns, dass manche politische Debatte durchaus Bil- cherschutz, Markos Kyprianou, und für Umwelt, Stavros dungswert hat. Zur Erinnerung: Der Maiszünsler ist ein Dima, vorgeschlagenen Korrekturen alles anderes als Schädling, der in allen Maisanbaugebieten heimisch ist. nur Schönheitsreparaturen. Es geht unter anderem um Deswegen ist die Frage: Ergreifen wir Gegenmaßnah- den Umgang mit divergierenden wissenschaftlichen men? Wenn ja, welche? Gutachten, die Ablehnung wissenschaftlich fundierter Wie einige wissen, komme ich aus der schönen Prig- Einwände und die Klärung spezifischer Protokolle zum nitz im Nordwesten . Die dortige SPD/ Sicherheitsnachweis. CDU-Landesregierung hat meiner Kollegin Carolin Dieser Vorgang stellt aus unserer Sicht alle bisher er- Steinmetzer im November 2005 auf eine Kleine Anfrage folgten Zulassungen ganz grundsätzlich infrage – übri- geantwortet, dass es insbesondere in den östlichen Lan- gens auch über die von den Grünen in ihrem Antrag vor- desteilen Befallsschwerpunkte mit Befallshäufigkeiten gebrachten Argumente hinaus. von zum Teil mehr als 50 Prozent gebe. Die Landesre- gierung kommt dann zum Schluss, dass ein genereller Vizepräsidentin Petra Pau: Einsatz von Bt-Mais – also Gen-Mais – auf allen Be- Frau Kollegin Tackmann, lassen Sie eine Zwischen- fallsstandorten als nicht erforderlich angesehen wird. frage der Kollegin Höfken zu? Man könne nämlich … mit den zur Verfügung stehenden ackerbaulichen Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): Maßnahmen … das Auftreten dieses Schaderregers Ja. (D) (B) unter der wirtschaftlichen Schadensschwelle … halten. Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Beifall der Abg. Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/ Ich habe mich aus wirklich sachlichem Grund gemel- DIE GRÜNEN]) det. Fast alle Ihre Ausführungen kann ich begrüßen. Es besteht also berechtigterweise die Frage: Müssen Ich war gestern in Güstrow in Mecklenburg-Vorpom- wir überhaupt die Risiken des Anbaus von Genmais ein- mern und frage mich, ob Sie als Beteiligte in der SPD/ gehen, um dem Maiszünsler den Garaus zu machen? PDS-Landesregierung bereit sind, diese Auffassung Eine ganze Reihe Brandenburger Landwirte hat unter- auch durchzusetzen; denn ich muss wirklich sagen: Die dessen, vielleicht gerade weil diese Frage im Raum Versuche, die dort von der Uni Rostock gemacht werden, steht, ihre Anbauanmeldungen für dieses Jahr zurückge- gehen an die Grenzen dessen, was man mit der Freiheit zogen. Die Skepsis ist berechtigt, denn die Grüne Gen- der Forschung im Hinblick auf die Rechte der Menschen technik ist eine Risikotechnologie; durch sie eingetre- im Umfeld dieser Forschungseinrichtungen – Recht auf tene Schäden sind nicht oder kaum zu beheben. Eigentum, Recht auf freie Berufsausübung und Ähnli- ches – wirklich noch verantworten kann. Dort wird näm- (Beifall bei der LINKEN) lich gentechnisch veränderter Raps getestet und es wer- Diskussionen auf der Ebene der Totschlagargumente den zudem noch sehr umstrittene Versuche mit einer Technologiefeindlichkeit versus blinder Fortschritts- Medikamentenkartoffel zum Zwecke der Impfstoffher- glaube bringen uns aber nicht weiter. Neben ethischen stellung mithilfe von Choleragenen durchgeführt. Aspekten und der Abhängigkeit von den Saatgutmultis Meine Frage an Sie lautet: Sind Sie bereit, dafür zu gehört vor allem die Bewertung der Risiken – auch in sorgen, dass in diesem Land eine andere Haltung zur Abwägung möglicher Nutzen – in das Zentrum dieser Agro-Gentechnik eingenommen wird? Debatte. Die anfängliche Euphorie bei der Agro-Gentechnik Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): wird ohnehin zunehmend von nüchterner Skepsis abge- Vielen Dank, Frau Höfken. – Sie kennen sicherlich löst. So konnte zum Beispiel in den neuesten Genmais- die Meinung von Professor Methling zu diesen Fragen, studien im Oderbruch wie auch schon in den USA kein der hier ganz dezidiert anderer Meinung ist als beispiels- positiver Ertragseffekt nachgewiesen werden. Prinzipiell weise der Landwirtschaftsminister Till Backhaus. Sie ist unsere Gesellschaft bereit, Risiken im Kontext des kennen auch die Zwänge, in die man in Koalitionen teil- Lebensalltags einzugehen. Trotz der Verkehrstoten wird weise gerät. Sie können sich sicher sein, dass wir ganz Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006 2997

Dr. Kirsten Tackmann (A) bestimmt versuchen, Einfluss darauf zu nehmen, dass Nina Hauer (SPD): (C) auch in Mecklenburg-Vorpommern Vernunft in diesen Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle- Dingen einkehrt. gen! Es war ein langer Weg von der alten Regelung des Baseler Ausschusses für Bankenaufsicht aus dem (Beifall bei der LINKEN – Leo Dautzenberg Jahr 1988, dem so genannten Basel I, bis heute. Nach [CDU/CSU]: Forschungsfreies Land oder der alten Regelung müssen die Banken 8 Prozent der wie?) Anrechnungswerte für Kreditrisiken in Eigenkapital vor- Im Übrigen ist natürlich klar, dass Daten, auf deren halten. Das wurde aber nicht nach Bonität entschieden, Grundlage die Risikobewertung erfolgt, öffentlich zu- sondern es ging danach, welcher Gruppe die Kunden an- gänglich sein müssen. Das ist selbstverständlich. Auch gehört haben. Das Ergebnis war – das wissen Sie –, dass die Tatsache, dass in neun Fällen EU-Mitgliedstaaten na- vor allem eine schlechte Bonität, die zu höheren Zinsen tionale Schutzmaßnahmen nach § 23 der EU-Freiset- führte, für die Banken besonders attraktiv war. zungsrichtlinie erlassen haben, zeigt die Brisanz der Zu- Das ist nicht nur für die Banken, sondern auch für die lassungssituation. Volkswirtschaft verheerend, weil Unternehmen mit Die Risiken sind also nicht wegzudiskutieren. Des- schlechter Bonität aus marktwirtschaftlichen Gründen halb greifen Landwirte inzwischen zur Selbsthilfe und bevorzugt werden, während Unternehmen mit guter Bo- schaffen gentechnikfreie Zonen. Auch der Wahlkreis nität außen vor bleiben. Diese und andere Defizite waren von Minister Seehofer gehört dazu, wie die Zeitungen der Grund dafür, dass seit 1999 der Baseler Ausschuss schreiben. Unbeirrt davon hält Herr Seehofer aber an an der Weiterentwicklung seines Regelwerkes gearbeitet seiner abenteuerlichen Haltung fest, man müsse gentech- hat. Die Vereinbarung, die uns jetzt vorliegt, ist das Er- nisch veränderte Pflanzen anbauen, damit das Risiko be- gebnis dieser Verhandlungen. wertet werden kann. Ich halte ein solches politisches (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Abenteuer – Freilandversuche mit 88 Millionen Men- Kastner) schen und mit einer unwiederbringlichen Natur – ange- sichts der vorliegenden bedenklichen Daten für unver- Ziel der Regelung über die Bankenaufsicht sind die antwortlich. Stabilität der Banken selber und die Solidität unseres Finanzmarktes. Natürlich ist das auch für unser Wachs- Vielen Dank. tum von Bedeutung. Wem die wirtschaftlichen Begrün- (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. dungen nicht ausreichen, dem nenne ich eine politische Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Begründung: Es darf nicht sein, dass die Banken ihre NEN]) Gewinne privatisieren, wohingegen die damit verbunde- (B) nen Risiken im Falle einer Instabilität von der öffentli- (D) chen Hand gegenfinanziert werden müssen. Vizepräsidentin Petra Pau: Weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor. – Ich (Beifall des Abg. [SPD]) schließe die Aussprache. Wir wollen ein Regelwerk, das für unser Bankensys- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf tem gut ist, aber auch die Interessen der kleinen und Drucksache 16/1176 an die in der Tagesordnung aufge- mittleren Unternehmen berücksichtigt. Dabei muss ins- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- besondere die Situation im deutschen Mittelstand be- verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung trachtet werden. Ich danke der alten Bundesregierung so beschlossen. dafür, dass sie mit dem Verhandlungsführer Jochen Sanio das, was wir im Deutschen Bundestag mit unseren Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf: zwei Entschließungen aus den vergangenen Jahren auf Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- den Weg gebracht haben, erfolgreich umgesetzt hat. Vor gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umset- allen Dingen die Bedenken und Wünsche in Bezug auf zung der neu gefassten Bankenrichtlinie und die Situation mittelständischer Unternehmen wurden der neu gefassten Kapitaladäquanzrichtlinie aufgenommen. Wir haben damals die Sorge gehabt, dass das Basel-II-Abkommen zu einer Gefahr für die kleine- – Drucksache 16/1335 – ren und mittelgroßen Unternehmen bei der Kreditver- Überweisungsvorschlag: gabe wird. Mittlerweile ist diese Gefahr dank der guten Finanzausschuss (f) Ergebnisse dieser Verhandlungen gebannt. Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Die hohe Abhängigkeit von Krediten unserer Wirt- Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und schaft hat ihre Vor- und Nachteile. Aber sie darf insge- Verbraucherschutz samt nicht dazu führen, dass Unternehmen Schwierig- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die keiten haben, in Deutschland Kapital zu bekommen. Das Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es dazu gilt für die bestehenden Unternehmen genauso wie für Widerspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist auch dies neue Unternehmen mit innovativen Ideen, die Kapital so beschlossen. brauchen, um diese Ideen umzusetzen. Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin in die- Aus dem Baseler Regelwerk ist eine EU-Richtlinie ser Debatte hat die Kollegin Nina Hauer für die SPD- geworden. Diese EU-Richtlinie müssen wir nun durch Fraktion das Wort. ein Gesetz in nationales Recht umsetzen. Die neuen 2998 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006

Nina Hauer (A) Regelungen sollen die Banken dazu verpflichten, dass turabhängigkeit großer Unternehmen weitaus größer ist (C) Risiken, die bei der Kreditvergabe entstehen, stärker dif- als die von kleinen, aber auch, weil besser auf die Situa- ferenziert und genauer bestimmt werden. Das entlastet tion von Unternehmen eingegangen werden kann. Da- vor allem die kleineren Banken von zu hohen Eigenkapi- durch werden wir konjunkturunabhängig die Kredit- talanforderungen und bedeutet für die Unternehmen die situation nicht nur für die großen Unternehmen, sondern Chance, bei ihrer Kreditaufnahme danach zu differenzie- besonders für unsere kleinen und mittleren Unternehmen ren, ob der Kredit für eine Expansion benötigt wird, zum verbessern, einfach weil wir besser auf Konjunktur- Beispiel für einen Grundstückskauf, oder ob der Kredit schwankungen – auf die wir reagieren müssen, weil uns für Investitionen in die Produktentwicklung oder in die der Weltmarkt dazu zwingt – eingehen können. Dienstleistung gebraucht wird. Das hilft, Kredite ziel- und passgenauer aufzunehmen, und führt dazu, dass sich Insgesamt sind die vorliegenden Regelungen ein Er- Unternehmen besser entwickeln können. folg. Die Bundesregierung hat von den verschiedenen Wahlrechten Gebrauch gemacht, die wir als unsere na- Basel II sieht vor, dass Kredite an kleinere oder mitt- tionalen Interessen ausüben können. Ich denke, uns liegt lere Unternehmen bis zu 1 Million Euro mit einem um ein gutes Paket vor, das sowohl den unterschiedlichen 25 Prozent niedrigeren Risikogewicht belegt werden sol- Interessen unserer Kreditinstitute – der Sparkassen auf len. Das bedeutet für den Mittelstand, dass er bessere der einen Seite und der Privatbanken auf der anderen – Kreditbedingungen vorfindet, als das jetzt – nach Basel I – gerecht wird als auch den Unternehmen entgegen- der Fall ist. Wir als Abgeordnete kennen die vielen Be- kommt, die Kapital auf dem Finanzmarkt aufnehmen. richte von Unternehmen aus unseren Wahlkreisen, die Das Gesetz wird insgesamt ein Erfolg werden. Ich be- darüber klagen, dass sie keinen Kredit mehr bekommen, danke mich für die gute Vorlage, mit der wir jetzt weiter- was von der Bank mit Basel II begründet werde. Das ist arbeiten werden, damit sie zügig und erfolgreich umge- erstens sachlich nicht richtig und zweitens wird sich das setzt werden kann. ändern, wenn wir die Richtlinie in nationales Recht um- gesetzt haben, weil dann gerade die kleinen und mittle- Vielen Dank. ren Unternehmen bessere Bewertungen als bisher be- kommen werden – sie werden, wie gesagt, mit einem um (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) 25 Prozent niedrigeren Risikogewicht belegt – und Risi- ken stärker differenzieren können. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Nächster Redner ist der Kollege Frank Schäffler, Insofern ist das Vorhaben ein Erfolg. Die Gefahren, FDP-Fraktion. die damit einhergehen konnten, sind gebannt. Zu diesem (B) Erfolg haben wir als Deutscher Bundestag gemeinsam (Beifall bei der FDP) (D) beigetragen. Durch die Neuregelung ändern sich auch die Anfor- Frank Schäffler (FDP): derungen an die Banken. Wer Kunden berät, muss dem- Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und nächst stärker auf die wirtschaftliche Situation des Un- Herren! Die Basel-II-Umsetzung ist eine Herausforde- ternehmens bzw. auf das Risikomanagement im rung für die Unternehmen und die Kreditwirtschaft in eigenen Unternehmen eingehen. Das bedeutet auch, da- Deutschland. Mit der Novellierung des KWG vollziehen für zu sorgen, dass Mittelständler mit dem Risikoma- wir den ersten Schritt der Umsetzung. Der zweite Schritt nagement umgehen können, statt wertvolle Zeit zu ver- mit der Anpassung der Solvabilitäts- sowie der Groß- lieren und gute Ideen zu verschenken, weil sie sich mit und Millionenkreditverordnung wird in diesem Jahr fol- Aufgaben beschäftigen müssen, die letztlich dazu füh- gen. ren, dass sie keinen Kredit erhalten und ihr Unternehmen Basel II stellt einen Paradigmenwechsel bei der Beur- nicht weiterentwickeln können. teilung und Klassifizierung von Kreditrisiken für Ban- Die Banken sind demnächst dazu verpflichtet, ihr Ri- ken dar. Wir begrüßen, dass sich damit die Eigenkapital- sikoprofil transparenter zu machen. Auch das wird dazu unterlegung der Banken an deren tatsächlichen führen, dass Banken verantwortungsvoller mit den be- Kreditrisiken orientiert. Dies verhindert nationale, aber stehenden Risiken umgehen. Für die Genehmigung von vor allem auch internationale Wettbewerbsverzerrungen technischen Modellen durch die nationale Aufsicht vom auf den Kreditmärkten. Gerade als große Volkswirtschaft Ratingverfahren bis zur Umsetzung ist, was die Risiko- müssen wir für freie Märkte mit gleichen Spielregeln gewichtung in der Bank und im Unternehmen selber an- eintreten. geht, für grenzüberschreitend tätige Unternehmen eine (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten stärkere Zusammenarbeit der jeweiligen Finanzaufsich- der CDU/CSU) ten notwendig. Ich denke, dass eine stärkere Notwendig- keit zur Zusammenarbeit unserer europäischen Finanz- Ziel der Basel-II-Vereinbarung sind stabile Finanz- aufsicht in einem wachsenden Markt insgesamt nur gut märkte. In Deutschland, aber nun auch mit zweijähriger tun kann. Verzögerung in den USA, führte die Diskussion über Basel II zu heftigen Auseinandersetzungen. Beide Sei- Eine stärkere Differenzierung bei Risiken der Kre- ten, Europa und die USA, müssen jedoch ein großes In- ditvergabe macht immun gegen konjunkturverstärkende teresse an einer möglichst zeitgleichen Umsetzung ha- Effekte – insbesondere nach unten –, weil die Konjunk- ben. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006 2999

Frank Schäffler (A) Im deutschen Mittelstand gab es Befürchtungen, Es ist nun Aufgabe der BaFin, zu prüfen, ob die Haf- (C) dass sich Kredite nun verteuern würden, da ein höheres tungsverbünde, in Deutschland insbesondere die Spar- Risiko des Kreditnehmers zu einer höheren Eigenkapi- kassen und die Landesbanken, die Voraussetzungen für talanforderung führt. Dass nunmehr die Ausfallwahr- eine Nullgewichtung von Intergruppenforderungen er- scheinlichkeit bei Großunternehmen sowie bei kleinen füllen. Ich erwarte von der BaFin eine unvoreingenom- und mittleren Unternehmen untersucht wurde, begrüßen mene Prüfung. Es darf keine Vorabzusagen geben. Im- wir. Das Ergebnis der Untersuchung ist gerade für kleine merhin wird in diesem Bereich ein Volumen von und mittlere Unternehmen positiv; denn während die 8 Milliarden Euro bewegt. Ausfälle bei Großunternehmen besonders stark in dem Vielen Dank. Konjunkturverlauf entsprechenden Wellen auftreten, sind kleine und mittlere Unternehmen diesem Teil des (Beifall bei der FDP) Kreditrisikos weniger ausgesetzt. Voraussichtlich kön- nen die Eigenkapitalanforderungen an mittelständische Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Unternehmen um 17 Prozent verringert werden. Nächster Redner ist der Kollege Leo Dautzenberg, Die FDP-Bundestagsfraktion ist dem Mittelstand wie CDU/CSU-Fraktion. keine andere Fraktion hier im Haus verbunden. (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. (Beifall bei der FDP) Nina Hauer [SPD])

Deshalb begrüßen wir im Einzelnen, dass Kredite bis Leo Dautzenberg (CDU/CSU): 1 Million Euro wie Retail-Kredite behandelt werden Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit der können. Banken können darüber hinaus für Unterneh- heute zur ersten Lesung anstehenden Umsetzung der neu men mit einem jährlichen Umsatz von weniger als gefassten Bankenrichtlinie und der neu gefassten Kapi- 50 Millionen Euro ein Segment für kleine und mittlere taladäquanzrichtlinie beraten wir über den Abschluss ei- Unternehmen bilden. Auch dies führt zu einer Entlas- nes Prozesses, den wir alle besser unter dem Stichwort tung des Mittelstandes, da hier geringere Eigenkapi- „Basel II“ kennen. Basel II wird den Basel-I-Akkord aus talanforderungen bestehen. dem Jahre 1988 ablösen. Eine zentrale Neuerung von Unterm Strich wird die Kreditvergabe für den Mittel- Basel II besteht darin, dass die Risiken einer Bank bei stand durch die geringere Eigenkapitalunterlegung der der Kreditvergabe und der damit verbundenen Bemes- Banken verbessert. Damit werden rund 90 Prozent aller sung ihrer Eigenkapitalausstattung und -unterlegung ge- deutschen Unternehmen Nutznießer dieser Regelung nauer und differenzierter berücksichtigt werden. Das (B) sein. Dennoch sind Bankkredite für die Finanzierung heißt, künftig muss nicht mehr wie bisher jeder Kredit (D) von Unternehmen nur ein Baustein. Deshalb sollten wir pauschal mit einer Eigenkapitalquote von 8 Prozent der auch andere Formen der Kapitalbeschaffung von Unter- Aktiva unterlegt werden. nehmen fördern. Wir sollten die Private-Equity- Zeitgleich beraten die amerikanischen Parlamentarier Branche einladen, zu uns nach Deutschland zu kom- erst die Auswirkungen von Basel II, wohingegen wir uns men. Vergleiche von Investoren mit Tieren nutzen dem in diesen Prozess schon viel früher eingeschaltet haben. Standort Deutschland dabei nicht. Wir werden deshalb das Einführungsdatum einhalten können, was immer unser Ziel war. Wir haben unsere (Beifall bei der FDP) Hausaufgaben gemacht und erreichen mit dem nunmehr Es passt nicht zusammen, wenn Sie von der SPD Inves- vorliegenden Umsetzungsgesetz die Zielgerade von toren beschimpfen und dann den Einstieg eines Private- Basel II. Mit den heute beginnenden Beratungen stellen Equity-Fonds bzw. eines Hedgefonds – je nachdem, wie wir sicher, dass Basel II rechtzeitig und mit genügend man das bezeichnen will – bei der Deutschen Telekom Vorlauf zum 1. Januar 2007, dem von Europa vorgesehe- einfädeln. nen Einführungsdatum, verabschiedet werden wird. Da- durch erhält die Kreditwirtschaft die Zeit, die sie für die Unser Augenmerk gilt bei der Basel-II-Umsetzung Implementierung braucht. auch dem deutschen Bankensektor. Gerade gestern hat der Chef der BaFin, Jochen Sanio, auf der Jahrespresse- Dass der Basel-II-Prozess in Deutschland so weit und konferenz die schlechte Ertragslage der deutschen Ban- positiv fortgeschritten ist, ist das Ergebnis jahrelanger ken dargestellt. Unter Renditegesichtspunkten haben die konsequenter und hartnäckiger Arbeit auf internationa- deutschen Banken weiterhin die rote Laterne. Wichtig ler, europäischer und schließlich nationaler Ebene. Da- ist, dass der Gesetzgeber den Wettbewerb in der deut- bei waren mit Basel II auch und gerade bei uns in schen Kreditwirtschaft nicht verzerrt. Bei der Basel-II- Deutschland anfänglich viele Sorgen und Ängste ver- Umsetzung stellt sich das Problem der Nullgewichtung bunden. Der Mittelstand befürchtete, dass Kredite unbe- von Intergruppenforderungen. Die FDP hat dazu eine zahlbar würden oder überhaupt nicht mehr an eine be- Kleine Anfrage hier im Parlament gestellt. stimmte Klientel vergeben würden. Die Kreditwirtschaft sorgte sich wegen des hohen administrativen Aufwands (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Die war aber und gravierender Kosten. sehr gut beantwortet!) Dass die Implementierung von Basel II Geld kostet – Das meinen Sie. – Die Bundesregierung hat in ihrer und aufwendig ist, ist auch heute noch unbestritten. Be- Antwort leider kein Problembewusstsein gezeigt. züglich der anderen Sorgen, die in den vergangenen 3000 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006

Leo Dautzenberg (A) Jahren mit Basel II verbunden waren, vor allem hinsicht- für die Institute so gering wie möglich gehalten und so (C) lich der befürchteten Finanzierungslücken im Mittel- einfach wie möglich gestaltet werden. stand, können wir mit dem heute vorliegenden Gesetz- Die deutsche Verhandlungsführung hat diese Forde- entwurf Entwarnung geben. Vielmehr ist es an der Zeit, rungen in die internationalen Gremien eingebracht und die positiven Aspekte von Basel II deutlich zu machen: sie hat – wenn auch nach anfänglichem Zögern bei den Erstens. Basel II trägt zu einer größeren Stabilität im Verhandlungsführern; das muss in Erinnerung gerufen Bankensektor weltweit bei. Zweitens. Basel II wirkt werden – hart verhandelt. Zugute kam ihr dabei, dass sie konjunkturellen Übertreibungen bei der Kreditvergabe stets auf eine breite Rückendeckung hier im Parlament entgegen und stabilisiert somit die Kreditverfügbarkeit verweisen konnte. So hat der Baseler Ausschuss dank in allen Stadien des Wirtschaftszyklus. Drittens. Basel II der deutschen Einbringung im Juli 2002 diverse Ele- ist in seiner aktuellen Fassung mittelstandsfreundlich, da mente beschlossen, die vor allem, wie schon betont, für Mittelstandskredite besonders behandelt werden. Vier- den Mittelstand von großer und vor allen Dingen positi- tens. Basel II führt mittelfristig gerade bei den kleinen ver Bedeutung sind. Kreditinstituten zu erheblichen Entlastungen bei den Aufwendungen von und für Eigenkapital. Beispielhaft möchte ich hier nur die Einführung eines einfachen, auf bankinternen Ratings gestützten Stan- Diese positiven Aspekte von Basel II waren, wie wir dardansatzes anführen ebenso wie die so genannten alle wissen, keinesfalls von Anfang an absehbar. Sie sind Retail-Portfolios. Hinter diesen Portfolios verbergen vielmehr das Ergebnis eines langen Verhandlungspro- sich Kredite an kleine und mittlere Firmenkunden mit ei- zesses, der bereits vor sieben Jahren begann. Erlauben nem Gesamtvolumen von weniger als 1 Million Euro. Sie mir einen kurzen Blick zurück auf diesen Prozess, Diese Kredite können nunmehr von dem Kreditinstitut in der sehr deutlich macht, dass wir den heutigen Gesetz- einem Portfolio zusammengefasst und mit einer geringe- entwurf zu Basel II als einen Erfolg für den Finanzstand- ren Eigenkapitalsumme als bisher unterlegt werden. Wie ort Deutschland bezeichnen können. Sein erstes Konsul- schon mehrmals betont worden ist, dürften davon in tationspapier zu Basel II veröffentlichte der Baseler Deutschland rund 90 Prozent aller Kreditforderungen an Ausschuss im Jahre 1999. Vor Augen hatte der Aus- mittelständische Unternehmen profitieren. schuss damals dabei vor allem die 1997er-Finanzkrise in Darüber hinaus wurden – wiederum zugunsten des Südostasien, als einige größere Banken kollabierten, Mittelstands – die Methoden zur Minderung des nachdem sich riskante und leichtfertig vergebene Kre- Kreditrisikos erweitert. So werden nunmehr auch ganz dite als Totalausfälle erwiesen hatten. Mit neuen Eigen- spezifische und mittelstandstypische Sicherheiten aner- kapitalregeln, welche die Risiken besser erfassen und die kannt, beispielsweise Sicherungsübereignung und Ab- die Eigenkapitalvorsorge der Kreditinstitute risikoge- (B) tretung von Forderungen aus Lieferungen und Leistun- (D) rechter ausgestalten, sollte, so die Intention des Baseler gen. Das war zuvor so nicht der Fall. Ausschusses, Krisen wie in Asien besser vorgebeugt werden. Insgesamt sollte die Stabilität in der internatio- Der Bundestag hat Basel II nicht nur auf internationa- nalen Finanzstruktur verbessert werden. Vor diesem Hin- ler Ebene begleitet, sondern er hat auch – das war für uns tergrund war Basel von Anfang an ein internationales besonders wichtig – die europäische Umsetzung aktiv Projekt. flankiert. Dabei hat uns auch das große Engagement un- serer Kollegen im Europäischen Parlament geholfen, die Der Deutsche Bundestag hat die Zielsetzung des Ba- sich für eine möglichst schlanke Richtlinie und diverse seler Ausschusses, mehr Stabilität in der internationalen Wahlrechte stark gemacht haben. Finanzstruktur zu schaffen, von Beginn an fraktions- übergreifend unterstützt. Fraktionsübergreifend waren Seit Februar dieses Jahres liegt nun die nationale Um- wir uns von Beginn an auch einig, dass die zunächst vom setzung von Basel II in Form des heute zur ersten Baseler Ausschuss vorgeschlagene Umsetzung nicht Lesung anstehenden Gesetzentwurfs vor. Neben Ände- sachgerecht war und eine Gefährdung der gewachsenen rungen im Kreditwesengesetz sind zudem zwei Verord- Finanzstrukturen insbesondere in Deutschland bedeutet nungen notwendig, welche die technischen Details von hätte. Diese fraktionsübergreifende Einigkeit sowie un- Basel II umsetzen. ser sehr frühzeitiges gemeinsames Engagement in dem Der Gesetzentwurf – das ist eine für mich sehr wich- zunächst internationalen, später europäischen Prozess tige Botschaft in dieser ersten Lesung – setzt die EU- haben – da bin ich sicher – wesentlich zu positiven Er- Richtlinien zu Basel II, wie wir es im Koalitionsvertrag gebnissen bei Basel II beigetragen. vorgesehen haben, im Grundsatz eins zu eins um. Wir satteln keine neuen oder weiter gehende Regeln und Re- Bereits im Juni 2000 haben alle Fraktionen gemein- gulierungen auf die EU-Richtlinie drauf sam einen Entschließungsantrag zu Basel II eingebracht, in dem wir Folgendes deutlich gemacht haben: Erstens. (Beifall bei der CDU/CSU) Die gewachsenen Finanzstrukturen in Deutschland müs- und sorgen damit für gleiche Wettbewerbsbedingungen sen im Basel-II-Prozess berücksichtigt werden. wie in den anderen EU-Mitgliedstaaten. Zweitens. Basel II darf nicht zu einer unangemesse- Ebenso – das ist genauso wichtig – kommt der Ge- nen Verteuerung der Finanzierungskonditionen des Mit- setzentwurf einem zweiten Auftrag des Koalitionsvertra- telstands führen. Drittens. Der regulierungsbedingte ges nach: Er nutzt die von der EU eröffneten Wahl- Mehraufwand soll für alle beteiligten Kreditnehmer und rechte zugunsten des deutschen Standorts. Beispielhaft Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006 3001

Leo Dautzenberg (A) seien hier die Wahlrechte angeführt, die der besonderen kung: Dieses Pachten des Eintretens für die kleinen und (C) deutschen Drei-Säulen-Bankenstruktur Rechnung tragen mittleren Unternehmen durch eine Partei ist da wenig und bei Haftungsverbünden unter ganz bestimmten Vo- hilfreich. Es ist gut, dass wir gemeinsam daran arbeiten. raussetzungen eine Nullgewichtung von Intergruppen- Auch auf die Grünen kann der deutsche Mittelstand, forderungen vorsehen. können die kleinen und mittleren Unternehmen auf jeden Fall zählen. Das haben wir gerade bei dem Thema ge- Sie sehen, dass wir dies konsequent umgesetzt haben. zeigt. Der jetzt vorliegende Gesetzentwurf ist sicherlich noch nicht in sämtlichen technischen und redaktionellen Ein- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – zelheiten perfekt. Die nun anstehenden Beratungen wer- Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Bei der Gen- den wir dazu nutzen, auch diese Details zu klären. Im technik haben wir das gerade gesehen! – Ge- Grundsatz lässt sich aber glücklicherweise schon heute genruf des Abg. Frank Schäffler [FDP]: Ge- sagen: Die kontinuierliche Arbeit bei Basel II, auch die nau!) parlamentarische, hat sich für Deutschland gelohnt. Die Details zu der Frage, in welchen Bereichen der Vielen Dank. Mittelstand in den Verhandlungen gestärkt worden ist, sind schon genannt worden; darauf will ich jetzt nicht (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) noch einmal eingehen. Wir können im Endeffekt sagen, dass es wirklich gelungen ist, das einzulösen, was der Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Verhandlungsführer Sanio gesagt hat: In Basel gilt es, Der Kollege Axel Troost, Fraktion Die Linke, hat ein Zeichen für den deutschen Mittelstand zu setzen. seine Rede zu Protokoll gegeben.1) Ich will noch auf zwei, drei Aspekte eingehen, die in Als Letzter spricht in dieser Debatte Dr. Gerhard der bisherigen Debatte noch nicht genannt worden sind. Schick, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Neben den Mindestkapitalanforderungen, der einen Säule, die im Zentrum der Diskussion stand, geht es na- Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): türlich auch darum, dass wir die Bankenaufsicht hin- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Ge- sichtlich des Risikomanagements insgesamt deutlich schichte der Verhandlungen über Basel II zeigt sehr modernisieren und effektiver machen. Wir mussten deutlich, welch immense Bedeutung die Bankenregulie- Druck ausüben, damit überall im Bankensystem ein mo- rung für die wirtschaftliche Entwicklung hat. Ein wichti- dernes Risikomanagement Einzug hält. Außerdem geht ger Impuls für die Verhandlungen in Basel war die es mit neuen Offenlegungspflichten und neuen Hand- Asienkrise. Man hat gesehen, dass eine schwache Ban- lungsmöglichkeiten für die BaFin ein Stück voran auf (B) kenregulierung dramatische Auswirkungen für die Real- dem Weg zu einer guten Bankenaufsicht. (D) wirtschaft haben kann, die sich weit über das jeweilige Wenn wir jetzt in die Beratungen gehen, wird das Land hinaus erstrecken können. Die Umsetzung in einer Thema Intergruppenforderungen eine Rolle spielen. Von internationalen Vereinbarung ist deswegen richtig. Da- unserer Seite aus werden auch die Themen Datenschutz rüber hinaus haben wir in dem Diskussionsprozess zu und Verbraucherschutz eingebracht werden. Es geht Basel II gemerkt, dass es dann, wenn an ein paar Stellen um Fragen wie: Wie werden die Daten übermittelt? Gibt zu rigoros, zu dogmatisch geschraubt wird, große Pro- es im Hinblick auf das Scoring – das durch Basel II nicht bleme für die Finanzierung der Unternehmen geben neu eingeführt wird, aber dadurch eine größere Bedeu- kann. Deswegen die große Diskussion: Was tut Basel II tung erhält – eine Möglichkeit, Auskunft über das eigene für den Mittelstand? Scoring zu erhalten? Gibt es die Möglichkeit, da noch Wenn wir uns heute anschauen, was vorliegt, wie also einmal nachzufragen, damit das nicht nur ein Automatis- die Vorschläge der Koalition zur Umsetzung der Ban- mus ist? kenrichtlinie und der Kapitaladäquanzrichtlinie sind, Ich möchte zum Schluss noch sagen: Wenn man sich können wir vom Bündnis 90/Die Grünen sagen, dass wir den Gang der Verhandlungen anschaut, erkennt man, da mitgehen können; wir haben das auch bisher schon dass es sich lohnt, wenn wir uns frühzeitig bei internatio- zusammen getragen. nalen Verhandlungen einklinken. Wir finden es richtig, dass zum 1. Januar 2007 mit der (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: So ist das!) zweistufigen Umsetzung begonnen wird, obwohl in den USA nicht gleichgezogen wird. In Deutschland haben So konnten wir als Parlament für die deutsche Wirt- sich schon alle, die Banken, aber auch die Unternehmen, schaft, für die typischen deutschen Strukturen – jedes darauf eingestellt. Von daher wäre es falsch, jetzt einen Wirtschaftssystem ist ein bisschen anders strukturiert – Rückzieher zu machen. auch international wirklich etwas herausholen. Diese po- sitive Erfahrung sollten wir uns für die nächsten Projekte Wir sind mit der Mittelstandskomponente sehr zufrie- merken, zumal wir bei Solvency II das Ganze für die den. Wir von der rot-grünen Seite haben uns schon in der Versicherungswirtschaft noch einmal in ähnlicher Weise letzten und der vorletzten Legislaturperiode sehr dafür durchdeklinieren werden. eingesetzt, dass eine starke Mittelstandskomponente hi- neinkommt. Erlauben Sie mir an der Stelle eine Bemer- Vielen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 1) Anlage 2 und bei der CDU/CSU) 3002 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006

(A) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: verschwenden. Es geht doch wohl weniger darum, dass (C) Ich schließe die Aussprache. wir Geld ausgeben, dass wir Mittel abfließen lassen, son- dern vielmehr darum, dass bei den Partnerländern mög- Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- lichst viel und natürlich vor allem Nutzbringendes an- wurfs auf Drucksache 16/1335 an die in der Tagesord- kommt. nung aufgeführten Ausschüsse sowie an den Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (Beifall bei der FDP) vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Nicht die Quantität, sondern vor allem die Qualität muss Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so be- stimmen. Darüber sagen Quoten gar nichts. schlossen. (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf: NEN]: Entwicklungshilfe ist wohl auch eine Beratung des Antrags der Abgeordneten Hellmut Frage der Quantität!) Königshaus, Dr. Karl Addicks, Christian Aber ich will mich hier vor allem auf diejenigen Vor- Ahrendt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion schläge der OECD konzentrieren, Herr Kollege, die uns der FDP wirklich weiterführen. Da will ich nicht verhehlen, dass Aus dem Peer-Review der OECD lernen – die auch wir Liberalen nicht alle Kritikpunkte des Peer- Empfehlungen zur Umgestaltung der Ent- Review teilen. Es gibt in dem Bericht aber doch sehr be- wicklungszusammenarbeit umsetzen rechtigte Kritik, und das nicht zu knapp. Diese Punkte will ich hier einmal kurz zusammenfassen. – Drucksache 16/963 – Überweisungsvorschlag: Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit sei, so Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und die OECD, zersplittert, nicht kohärent und oftmals nicht Entwicklung (f) an den Bedürfnissen der Empfängerländer orientiert. Auswärtiger Ausschuss Schlimmer noch: In Teilen sei sie ineffektiv. Vernichten- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die der, meine Damen und Herren, kann das Urteil über eine Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre Politik, bei der so viel Geld umgesetzt wird, so viel Steu- keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. ergelder eingesetzt werden, eigentlich nicht ausfallen. Erster Redner in dieser Debatte ist der Kollege Sie fragen natürlich, wenn wir das so nachdrücklich Hellmut Königshaus, FDP. kritisieren, was wir, die Liberalen, denn vorschlagen. (Beifall bei der FDP) (Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (B) Genau!) (D) Hellmut Königshaus (FDP): Wir müssen – das ist unsere Antwort – zunächst einmal Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die die Entwicklungszusammenarbeit auf ihre Zielgenauig- Bundesregierung hat einen Peer-Review erhalten. Das keit und Effizienz hin überprüfen. Das heißt konkret, wir bedeutet, dass die Wirksamkeit ihrer Politik in einem müssen vor allem das Verhältnis zwischen technischer Teilbereich, in diesem Fall der Entwicklungszusammen- Zusammenarbeit und finanzieller Zusammenarbeit über- arbeit, von der OECD untersucht und bewertet wurde. prüfen, mit dem Ziel, die unnötige, teure, lähmende Bü- Sie, Frau Ministerin, haben dies für die Bundesregierung rokratie zu verringern. als ein nachdrückliches Lob empfunden und so darge- (Beifall bei der FDP) stellt. Es ist zu befürchten, dass Sie das auch wirklich glauben. Davon kann aus unserer Sicht aber keine Rede Wir müssen die Hilfe besser bündeln, auf weniger sein. Partnerländer fokussieren. Dabei müssen die Kriterien Good Governance, Reformbereitschaft und Koopera- Gelobt wurde einiges; das ist wahr; das wollen wir tionswilligkeit, aber auch Bedürftigkeit im Vordergrund auch einräumen. Aber es waren Teile dabei, die wir je- stehen. denfalls nicht für richtig halten. Außerdem müssen wir das Ankerländerkonzept zu- Es ging zum Beispiel darum, dass ein eigenes Minis- mindest in seiner gegenwärtigen Ausprägung aufgeben. terium existiere. Das hat, neben einigen Vorteilen, vor Das bedeutet nicht Rückzug, sondern verstärkte Mobili- allem Nachteile. Das Nebeneinander mehrerer Ämter sierung von finanziellen Eigenmitteln der Empfänger- und Ministerien hat notwendigerweise Reibungsverluste länder. Wir waren gerade in China und haben die starke und Kompetenzgerangel zur Folge. Das können wir auch Wirtschaftskraft besonders in den Küstenstädten erlebt. hier in einigen Bereichen beobachten. Damit stellt es ei- Was wir dort gesehen haben, waren keine potemkin- gentlich eher, anders als Sie es darlegen, einen Teil des schen Dörfer, meine Damen und Herren. China ist kein Problems dar, das der Peer-Review im Weiteren übrigens Disneyland. Die Hochhäuser in Schanghai, Hongkong heftig kritisiert, und nicht einen Teil der Lösung. und den anderen Küstenstädten drücken echte wirt- schaftliche Leistungsfähigkeit aus. Diese müssen wir ak- Auch die Fokussierung auf die so genannte ODA- tivieren; wir müssen sie den Chinesen abverlangen. Das Quote, die der Peer-Review in der Tat behandelt, ist zu leisten sind die Chinesen auch bereit. Für die anderen nach unserer Überzeugung falsch; denn sie macht den Schwellenländer gilt nichts anderes. Mittelabfluss, das heißt das Geldausgeben an sich, zum Erfolgskriterium und animiert damit letztlich zum Geld- (Beifall bei der FDP) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006 3003

Hellmut Königshaus (A) Wir müssen die bisherige Praxis der Schuldenerlasse (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (C) überprüfen. Es muss sichergestellt sein, dass, wenn wir neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE einen Schuldenerlass in Betracht ziehen, die Mittel dann GRÜNEN) tatsächlich in geeignete Kanäle fließen, dass sie wirklich für die weitere Entwicklung eingesetzt werden. Wir dür- Ein weiterer Punkt. Es wurde ausdrücklich die hohe fen nicht ungeeigneten Partnern, die anschließend inner- Qualität unserer Entwicklungsinstitutionen in diesem halb kürzester Zeit wieder neue Schulden in ungeahnter Bericht erwähnt. Ich erinnere in diesem Zusammenhang Höhe aufbauen, Zusagen machen. Ein Schuldenerlass, an die Diskussion mit Herrn Manning und auch an die weil die Länder dann, ohne Cash zu haben, die ODA- hohe Qualität der GTZ beispielsweise im Bereich des Quote auffüllen können, ist einfach Unfug. Capacity-Buildings, also im Bereich des Aufbaus, der Staatsverwaltung, der Forschung und anderen Punkten. (Beifall bei der FDP) Auch in Bezug auf die ODA-Quote ist das Lob im Nicht zuletzt – Frau Präsidentin, ich komme zum DAC-Peer-Review gerechtfertigt. Wir haben unser Wort Schluss – müssen wir das Verhältnis zwischen bilatera- gegeben und werden es auch einhalten, dass wir diese ler und multilateraler Zusammenarbeit überprüfen. Quote erfüllen. Die Probleme mit dem Europäischen Entwicklungs- Sie haben natürlich Recht: Bei einer modern aufge- fonds, auch durch mangelnde parlamentarische Kon- stellten Entwicklungsarbeit geht es vor allem um die trolle, haben wir hier schon mehrfach erörtert. Ich will Verbesserung der Qualität. Aber bei den gigantischen das hier aber nicht weiter vertiefen. Aufgaben, die nach unserer Meinung die Entwicklungs- Wir müssen all diese Punkte in Betracht ziehen. Der politik erfüllen muss, geht es natürlich auch um Quanti- OECD-Bericht gibt uns an einigen Stellen wertvolle tät. Deswegen ist die Koordination zwischen Verbes- Hinweise. Wir sollten – damit haben wir schon begon- serung und Erhöhung des Potenzials der nen – weiter intensiv darüber reden. Die Liberalen sind Entwicklungspolitik richtig. Diese Position vertreten dazu bereit, um die Ziele, die wir teilen, zu erreichen. beide Koalitionspartner. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) (Beifall bei der FDP) Wir nehmen natürlich auch die Mahnungen ernst. Herr Königshaus, die Mahnungen decken sich mit dem, Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: was wir im Koalitionsvertrag vereinbart haben. Ich Nächster Redner ist der Kollege Dr. Christian Ruck, kann Ihnen die einzelnen Punkte Schritt für Schritt he- (B) CDU/CSU-Fraktion. runterbeten. Im Koalitionsvertrag sind die Ausrichtung (D) der strategischen Entwicklungspolitik, die Erhöhung der (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Effizienz und auch die Reform der Durchführungsorga- neten der SPD) nisationen enthalten. Auch wir sind trotz des guten Ru- fes, den unsere Organisationen haben, der Meinung, dass Dr. Christian Ruck (CDU/CSU): die Notwendigkeit zur Verbesserung, zur Erhöhung der Effizienz, zur Straffung und zur Hebung von Synergien Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und besteht. Auch das steht im Koalitionsvertrag. Also keine Herren! Auch ich glaube, dass der DAC-Peer-Review Aufregung! eine gute Einrichtung ist. Wenn uns Kollegen aus be- freundeten Ländern ein wenig auf die Finger schauen, (Dr. Karl Addicks [FDP]: Von AIDS und Ge- befreit uns das von der Nabelschau, die wir oft betreiben. sundheit steht aber nichts drin!) Ich danke daher den französischen, kanadischen und den holländischen Kollegen herzlich. Ich bin dafür, dass wir diesen Weg gehen, dass wir das Gutachten einer hervorragenden Institution abwarten Der DAC-Peer-Review fällt in eine Zeit, in der die und dass wir diesen Prozess transparent gestalten und Probleme der Entwicklungsländer auch zunehmend un- ohne Tricks im Parlament begleiten. Darauf legen auch sere eigenen Probleme werden und in der die Entwick- wir Wert. Dann können wir erneut diskutieren, ob die ge- lungszusammenarbeit und die Entwicklungspolitik unter machten Vorschläge sinnvoll sind. Erfolgsdruck und auch Legitimationsdruck stehen. Wir Ich möchte, dass wir in diesem Zusammenhang auch Entwicklungspolitiker sind schon von Natur aus selbst- an das BMZ und nicht nur an die Durchführungsorgani- kritisch und nehmen deshalb die Ratschläge im DAC- sationen denken. Das gesamte System der entwicklungs- Peer-Review dankend zur Kenntnis. In dem Peer- politischen Instrumente muss auf den Prüfstand. Ich Review ist auch viel Lob für unsere Entwicklungspolitik glaube, dass das ein wichtiger Punkt ist. enthalten. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und An die Adresse meines Vorredners gerichtet muss ich der FDP) sagen: Die Eigenständigkeit des BMZ war schon in der letzten Legislaturperiode ein Streitpunkt zwischen uns. Was wird im Peer-Review noch angemahnt? Die Aus- Wir sind der Meinung, dass wir eine stärkere Stellung richtung auf die Millennium-Development-Ziele – auch des BMZ brauchen und dass die Entwicklungspolitik im dies steht im Koalitionsvertrag. Die Steigerung der Kabinett vertreten sein muss. Dabei bleibt es. Kohärenz und die Konzentration auf sowohl sektorale 3004 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006

Dr. Christian Ruck (A) als auch regionale Schwerpunkte haben wir ebenso im lung ganzer Landesteile in einen bedrohlichen Zustand (C) Koalitionsvertrag festgehalten. Ich gebe zu: Der Bericht versetzt werde könnte, der zu schweren Rückschlägen wurde natürlich im Wesentlichen vor den Koalitionsver- mit ungeahnten Folgen auch für unser eigenes Land füh- handlungen geschrieben. Aber auch diese Punkte haben ren könnte? Müssen wir nicht auch auf unsere Partner, wir abgehakt. zum Beispiel auf die Kirchen, hören, die sagen, dass es für sie weiterhin eine Verpflichtung ist, sich um die Ar- Wir müssen eine ganz sorgfältige Diskussion darüber men in China und in Indien zu kümmern? Das alles sind führen, wer in Zukunft unsere Schwerpunktpartner- Dinge, die wir gut überlegen und über die wir diskutie- länder sein sollen. Dies muss unter dem Gesichtspunkt ren sollten. Da komme ich zu anderen Schlüssen als Sie erfolgen, in welchem Land wir am meisten bewegen von der FDP. können und müssen und wie wir am meisten erreichen. Auch das ist eine Diskussion, der wir uns laut Koaliti- Ich möchte diesen Bericht – das sage ich ganz ehrlich – onsvertrag stellen müssen. nicht wie eine Monstranz vor mir hertragen. In der Dis- kussion mit Manning haben wir Widersprüche festge- Genauso halten wir für ganz entscheidend: Es geht stellt. Wir haben gesagt, dass wir in einigen Punkten nicht nur um die nationale Arbeitsteilung, sondern vor nicht einer Meinung mit ihm sind. Aber wir nehmen den allem auch – das ist ebenso ein ganz wichtiger Punkt in Bericht ernst. Wir sagen: Wir haben schon im Koaliti- unserem Koalitionsvertrag – um eine Verbesserung der onsvertrag die entsprechenden Weichen gestellt. Diese internationalen Arbeitsteilung, die auch Good Gover- werden wir jetzt abarbeiten. nance einfordert. Gerade das, was Manning angespro- Insofern kann ich nur sagen: Der Antrag der FDP ist chen hat, Good Governance, ist ein schwarz-roter Faden, überflüssig. Ihm können wir deswegen nicht zustimmen. der sich durch den Koalitionsvertrag zieht. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Das heißt: Hier anfangen, bevor man Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: bei den anderen predigt!) Nächster Redner ist der Kollege Hüseyin Aydin, Auch in diesem Punkt ist der Peer-Review abgehakt. Fraktion Die Linke. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der LINKEN)

Nun zur Frage der Entschuldung. Ich gebe Ihnen Hüseyin-Kenan Aydin (DIE LINKE): vollkommen Recht: Die Entschuldung darf kein Trick Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und werden, der es erlaubt, die ODA-Quote zu erhöhen. Ich Herren! Die FDP fordert in ihrem Antrag mehr Ziel- (B) kann mich gut an meine eigenen Worte erinnern – ich genauigkeit und Effektivität in der deutschen Entwick- (D) lasse mich auch gerne daran erinnern –, was den Irak an- lungshilfe. belangt. Wir sind der Meinung – wir haben im Obleute- gespräch eine Anhörung zu diesem Thema vereinbart; (Dr. Karl Addicks [FDP]: Das ist doch gut!) sie ist schon terminiert –, dass wir eine Entschuldung – Wer würde dem widersprechen? Sie haben Recht. Nie- wollen, die nicht dazu führt, dass die Katze wieder auf mand ist gegen mehr Effizienz. die alten Füße fällt, sondern die wirklich zu einem Ent- Sie wollen jedoch den Eindruck vermitteln, als behin- wicklungsschritt führt. Das müssen wir natürlich sicher- dere allein die mangelnde Effizienz die Umsetzung der stellen. Da geht es um Konditionalität. Wir müssen Millenniumsentwicklungsziele. Das ist Unsinn. Die Mil- gemeinsam dafür sorgen, dass unsere Entschuldungspro- lenniumsentwicklungsziele sehen die Halbierung der gramme zu besseren Ergebnissen führen als bisher. Zahl der weltweit Hungernden und extrem Armen bis Auch die bilateralen und multilateralen Instru- zum Jahr 2015 vor. Um dieses Ziel zu erreichen, müssen mente – dies steht ebenso im Koalitionsvertrag – wollen zunächst einmal mehr finanzielle Mittel bereitgestellt wir angehen. Nur, wir haben in den Haushaltsverhand- werden. Dazu sagt die FDP aber keinen Ton. lungen gesehen: Wenn wir damit ernst machen, dann Die Bundesregierung hat sich im Rahmen der EU auf geht es ans Eingemachte. Dies muss man dann trotz Zäh- einen Stufenplan zur Erhöhung der Entwicklungshilfe neknirschen und Wehklagen der Betroffenen durchset- auf 0,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts bis 2015 ver- zen. Irgendeine Gruppe ist immer betroffen. Ich bitte in pflichtet. Die Bundesregierung behauptet heute, der erste diesem Zusammenhang um Tapferkeit und Mut auch sei- Schritt sei getan. Mit 0,35 Prozent sei das Etappenziel in tens der FDP. diesem Jahr sogar übertroffen worden. Das ist Augenwi- scherei. Ein wichtiger Punkt ist natürlich die Diskussion um Schwellenländer und Ankerländer. Das ist ein ent- (Dr. Sascha Raabe [SPD]: Rechnen muss man scheidender Punkt, der auch in unserer eigenen Fraktion schon können!) eine Rolle spielt. Ich glaube, dass wir diese Diskussion Kollege Raabe, in Wirklichkeit wurde diese scheinbare vor dem Hintergrund folgender Fragen führen müssen: Erhöhung nur dadurch erreicht, dass dem Irak und Nige- Was ist für uns eine moderne Politik der Zusammenar- ria Schulden erlassen wurden. Darauf hat Herr Ruck hin- beit und Entwicklung? Ist es überhaupt möglich, ganze gewiesen. Erdteile, die eine rasante Entwicklung durchmachen, auszuklammern? Ist es nicht so, dass China durch seine (Dr. Sascha Raabe [SPD]: Sind es Entwicklung und die gigantische Auseinanderentwick- 0,35 Prozent oder nicht?) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006 3005

Hüseyin-Kenan Aydin (A) Dieser Erlass wurde auf die öffentlich geleistete Ent- (Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/ (C) wicklungshilfe angerechnet. DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Sascha Raabe [SPD]) Die OECD hat festgestellt, dass die deutsche Ent- wicklungshilfe, bereinigt um die Mittel des Schuldener- Leider ist die deutsche Entwicklungspolitik in ihrer lasses und der Wechselkurseinflüsse, zwischen 2004 und Gesamtheit aber alles andere als optimal aufgestellt. Der 2005 um fast 10 Prozent abgenommen hat. Ich wieder- Anteil der armutsrelevanten Kernbereiche Bildung, Ge- hole: minus 10 Prozent. Das ist nicht meine Berechnung. sundheit und Wasserversorgung betrug 2005 zusammen- Nicht, dass Sie mich falsch verstehen: Wir von der genommen deutlich weniger als 25 Prozent der Mittel Linksfraktion sind für die umfassende Entschuldung von für die bilaterale Entwicklungszusammenarbeit. Drittweltländern. Die FDP kommt mit ihrem Antrag kritisch daher. Sie (Beifall bei der LINKEN) fordert die Überprüfung des Verhältnisses „zwischen technischer und finanzieller Zusammenarbeit“ um „be- Viele afrikanische Staaten werden von einer Schulden- lastende ... Bürokratie zu verringern“. Wer ist schon für last erdrückt. Entschuldung ist die Voraussetzung für belastende Bürokratie? Selbst die Linke nicht. Wenn die Entwicklung. FDP die Verschlankung des Staates fordert, dann ist der (Dr. Sascha Raabe [SPD]: Deshalb ist auch die Stellenabbau nicht weit. ODA-Anrechnung richtig!) (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Kollege Raabe, nehmen wir das Beispiel Mosambik. Wir sagen: Effizient ist das, was den Armen in der Drit- Der deutliche Anstieg der Einschulungsrate in Mosam- ten Welt hilft. Wenn eine Fusion von technischer und fi- bik steht in einem engen Zusammenhang mit der Ent- nanzieller Zusammenarbeit in der deutschen Entwick- schuldung des Landes. lungshilfe dem Kampf gegen Hunger, dem Kampf gegen Aids und dem Bau neuer Abwassersysteme dient, dann (Dr. Sascha Raabe [SPD]: Richtig!) unterstützen wir das. Doch ohne den Bau neuer Schulen, ohne Mittel für die Ausbildung von Lehrern wird die Entschuldung nicht Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: greifen. Entschuldung kann die Bereitstellung echter, fri- Herr Kollege, ich muss Sie an Ihre Redezeit erinnern. scher Mittel in der Entwicklungszusammenarbeit nicht ersetzen. Hüseyin-Kenan Aydin (DIE LINKE): Bundesministerin Wieczorek-Zeul hat offenbar ver- (B) Ich komme zum letzten Absatz. (D) gessen, dass sie diesem Punkt bis vor kurzem zustimmte. Im März 2002 hat sich die Bundesregierung im mexika- Der OECD-Bericht merkt kritisch an, Deutschland nischen Monterrey darauf eingelassen, Schuldenerlasse möge über Möglichkeiten zur Freisetzung zusätzlicher nicht auf die ODA-Quote anzurechnen. öffentlicher Haushaltsmittel für die Entwicklungsarbeit nachdenken, sprich: nicht nur auf dem Papier, sondern (Beifall des Abg. Dr. Ilja Seifert [DIE real die Entwicklungshilfe steigern. LINKE]) Leider hält sich die Bundesregierung heute nicht mehr Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: daran. Sie erklärt das sogar zu einem großen Fortschritt Herr Kollege! auf dem Weg zur Erfüllung der gesteckten Entwick- lungsziele. Frau Ministerin, ich frage Sie: Ist das der Hüseyin-Kenan Aydin (DIE LINKE): Preis, den Sie für die große Koalition zahlen müssen? Doch diese Kritik hat die FDP in ihrem Antrag gern Der OECD-Bericht kritisiert den mangelnden strate- übersehen. Zu einem Antrag, der von Effektivität redet, gischen Ansatz der deutschen Entwicklungspolitik. Es aber Abbau der Entwicklungshilfe meint, können wir geht um die Effektivierung der Armutsbekämpfung. Es nur Nein sagen. gibt einzelne Länder, vor allem in der Sahelzone, wo die (Beifall bei der LINKEN) deutsche Entwicklungszusammenarbeit durch ein um- fassendes und zusammenhängendes Konzept zur Ar- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: mutsbekämpfung überzeugt. Die Frauen und Männer von der GTZ leisten in einem Land wie Burkina Faso Das Wort hat der Kollege Sascha Raabe, SPD-Frak- hervorragende Arbeit. Dort trägt das Programm „Land- tion. wirtschaftliche Entwicklung“ zur Sicherung der Ernäh- rungsgrundlagen bei. Hier werden die Folgen der Armut, Dr. Sascha Raabe (SPD): die eine unsoziale und ungerechte Weltwirtschaftsord- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen nung immer von neuem erzeugt, unmittelbar bekämpft. und Kollegen! Ich empfinde es als angebracht, an dieser Stelle – ich Deutschland verdient Anerkennung für sein En- hoffe, ich spreche im Namen aller Abgeordneten im gagement in einer Reihe von Bereichen, die von an- Deutschen Bundestag – den Entwicklungshelfern für ih- deren Gebern eher weniger finanziell unterstützt ren Einsatz Anerkennung und Dank auszusprechen. werden … 3006 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006

Dr. Sascha Raabe (A) Dieser Satz stammt nicht von mir, sondern er ist ein Zitat Dr. Sascha Raabe (SPD): (C) aus eben jenem DAC-Prüfbericht, von dem die Opposi- Das ist wieder typisch. Sie stellen eine Behauptung in tion meint, er sei so schlecht ausgefallen. Sie tut sich nun den Raum. Der DAC-Prüfbericht hat ja nicht nur die Ar- erkennbar schwer damit, zu begründen, warum das, was beit der Regierung geprüft – Herr Manning hat ja nicht eigentlich gut ist, schlecht sein soll. Diese von mir zi- nur die Frau Ministerin in ihrem Wirken geprüft –, son- tierte Stelle ist nur eine von vielen, an denen der Bericht dern er hat geprüft, wie effizient, wie gut Entwicklungs- die deutsche Entwicklungszusammenarbeit ausdrücklich zusammenarbeit vor Ort ist. Sie wird nicht in Berlin am lobt. grünen Tisch gemacht, sondern vor Ort bei den Men- schen. Wenn Sie wahrheitswidrig behaupten, dass der (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten DAC-Prüfbericht ein vernichtendes Urteil über die deut- der CDU/CSU) sche Entwicklungszusammenarbeit ausspricht, dann sollten sie wirklich einmal mit den Menschen reden, die In weiten Teilen fällt der Bericht überaus positiv aus vor Ort arbeiten, und auch mit denen, denen geholfen und erkennt an, dass „die Bundesregierung beträchtliche wird. Sie würden Ihnen sagen, was auch im Prüfbericht Fortschritte bei der Anpassung ihrer Politiken und An- steht: Das ist eine gute Arbeit, die Menschen hier ma- sätze erzielt“. Ich jedenfalls fühle mich durch den Be- chen eine gute Arbeit. – Das sollte man anerkennen. richt ermutigt und bin durchaus stolz auf das, was deut- sche Entwicklungszusammenarbeit in den letzten Jahren (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten für die Menschen in der ganzen Welt geleistet hat. Denn, der CDU/CSU) meine Kolleginnen und Kollegen von der FDP, Ihnen muss bewusst sein, wenn Sie in Ihrem Antrag und, Herr Wir sind auch der Meinung, dass es des Antrags nicht Königshaus, in Ihren Redebeiträgen davon sprechen, bedurft hätte – da stimme ich mit meinem Kollegen dass das eine vernichtende Kritik an der deutschen Ent- Ruck überein –, weil wir die Lehren aus dem Bericht wicklungszusammenarbeit sei, dass das nicht zuletzt schon gezogen haben. Wir halten es eher mit Aristoteles: eben jene vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter „Was man lernen muss, um es zu tun, das lernt man, in- vor Ort trifft, die sich unter schwierigsten Bedingungen dem man es tut.“ Deswegen haben wir uns die Mühe ge- für die ärmsten Menschen auf dieser Welt einsetzen. Wir macht, im Koalitionsvertrag viele Dinge aufzugreifen, werden nicht zulassen, dass Sie denen vors Schienbein die durchaus mutig sind, weil sie in gewissen Bereichen treten. erst einmal auf Widerstand stoßen. Das ist zum Beispiel dann der Fall, wenn man sagt, dass man die finanzielle (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten und die technische Zusammenarbeit enger verzahnen, der CDU/CSU) also die Arbeit zweier guter Durchführungsorganisatio- (B) nen noch weiter verbessern möchte. All das ist angegan- (D) Es ist nicht so, dass wir für konstruktive Kritik nicht gen worden. offen wären. Der DAC-Bericht liefert sicher sinnvolle Hinweise, in welchen Punkten wir unsere Bemühungen Wie Herr Ruck erwähnt hat, haben wir auch ein Gut- noch forcieren müssen. achten erstellen lassen.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herr Kollege, gestatten Sie eine weitere Zwischen- Kollegen Königshaus? frage des Kollegen Trittin?

Dr. Sascha Raabe (SPD): Dr. Sascha Raabe (SPD): Gerne. Herr Trittin läuft ja immer mit mir zusammen Es gibt zwar Dinge, die mehr Vergnügen bereiten, von UdL 50 bis zum Reichstag. aber gerne. (Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: ( [SPD]: Da hat er Recht! – Dann könnt ihr das doch dann besprechen! – Dirk Niebel [FDP]: Ich finde nichts vergnügli- Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU) cher, als Herrn Königshaus zuzuhören!) Davon soll er auch etwas haben. – Sie können gerne noch den Abend im Biergarten mit ihm verbringen. Das steht Ihnen frei, Herr Kollege. Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Raabe, da Sie gesagt haben, dass man Gutes Hellmut Königshaus (FDP): lernt, indem man Gutes tut, frage ich Sie: Wie stehen Sie Herr Kollege, sind Sie bereit, einzuräumen, dass die zu dem Vorschlag – er ist wohl von einer Beratungsorga- Kritik an der Politik der großen Koalition und der Bun- nisation des BMZ entwickelt worden –, die erfolgreiche desregierung nicht identisch ist mit der Kritik, die Sie Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit, die GTZ, uns unterstellen, nämlich Kritik an denen, die unter die- künftig einer Bank, der KfW, zu unterstellen, und welche ser schlechten Politik leiden – sie müssen diese Politik Folgen erwarten Sie insbesondere vor dem Hintergrund umsetzen, obwohl sie sie nicht gut finden –, und Ihre des erfolgreichen Wirkens der GTZ im Rahmen der tech- Unterstellung somit völlig daneben ist? nischen Zusammenarbeit? Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006 3007

(A) Dr. Sascha Raabe (SPD): wollen, dass wir weiterhin mit Ländern zusammenarbei- (C) Herr Trittin, Sie behaupten, bereits einige Auszüge ten, in denen die Regierungsführung nicht gut ist. aus dem Gutachten zu kennen. Ich kenne diese Auszüge (Dirk Niebel [FDP]: Dann dürften wir ja gar nicht nicht, weil das Gutachten noch nicht vorliegt. Darin wer- mehr mit uns selbst zusammenarbeiten!) den sicherlich viele Gedankenspiele gemacht. Erinnern Sie sich einmal an Ihre Zeit als Minister. Damals haben Dazu sage ich: Natürlich werden wir keinen Despoten auch Sie sich nicht immer gefreut, wenn alles, was in Ih- unkontrolliert deutsche Steuergelder anvertrauen; das rem Ministerium angedacht wurde, an die Öffentlichkeit haben wir noch nie getan. Dennoch wollen wir in Län- gelangte; meistens haben Sie dann gesagt, dass diese dern mit schlechter Regierungsführung die Zivilgesell- Ideen ganz gewiss nicht von Ihnen kommen. Daran wird schaft stärken, für Demokratisierung sorgen und insbe- deutlich: Es gibt immer viele gute Ideen, die gesammelt sondere durch die Entwicklungszusammenarbeit dazu werden müssen, und es gibt keine Denkverbote. beitragen, dass man im Interesse der Menschen zu einer guten Regierungsführung übergeht. Deswegen können (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- wir uns hier nicht einfach zurückziehen, wie Sie es vor- NEN]: Was denken Sie denn?) schlagen. Uns Parlamentariern werden dann, wenn das Gutach- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ten vorliegt, mehrere Optionen vorgeschlagen. der CDU/CSU) (Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: An einem Punkt haben Sie den Bericht allerdings Herr Trittin hat Sie nach Ihrer Meinung ge- nicht richtig verstanden – das ist zwar nicht nur an dieser fragt!) einen Stelle der Fall; hier wird es aber besonders deut- lich –: Dann werden wir uns dazu äußern. Aber Sie werden ver- stehen, dass ich zu einem angeblichen Zitat aus einem (Hellmut Königshaus [FDP]: Na, na! Jetzt geht Gutachten, das noch nicht vorliegt, nicht Stellung neh- es aber langsam los!) men werde. Sie haben in Ihrem Antrag ein Zitat aus dem DAC-Prüf- (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE bericht angeführt und dann gesagt, dass das Ankerlän- GRÜNEN]: Kommen Sie jetzt doch endlich derkonzept darin kritisiert würde. Das Ankerländerkon- mal zur Beantwortung der Frage!) zept wird aber nicht kritisiert, sondern lediglich beschrieben. Herr Kollege, Sie können aber versichert sein, dass wir uns darüber noch ausführlich unterhalten und dann die Es wäre falsch, dieses Konzept aufzugeben. Wer das (B) beste Lösung finden werden. tut, verkennt, dass Ankerländer für die Entwicklungszu- (D) sammenarbeit eine strategische Bedeutung haben. Ihnen Wie ich bereits sagte, werden auch andere Punkte, die kommt bei der Bekämpfung der Armut im Rahmen einer im DAC-Peer-Review angeregt werden, bereits von uns nachhaltigen globalen Entwicklung, bei der Sicherung bearbeitet. Dabei geht es zum Beispiel um die Konzen- von Frieden und Stabilität und beim Schutz öffentlicher tration auf weniger Partnerländer, also um die zukünf- Güter eine Schlüsselrolle zu. Die Mehrzahl der Armen tige Beschränkung der bilateralen staatlichen Zusam- lebt in Anker- und Schwellenländern. Oft wird aller- menarbeit auf 60 Länder. Das lassen wir im Augenblick dings so getan, als würden die Menschen dort schon in mit wissenschaftlicher Begleitung prüfen. Hier spielen Saus und Braus leben. Man muss sich nur einmal verge- verschiedene Kriterien eine Rolle, zum Beispiel die Be- genwärtigen, dass allein in Indien mehr hungernde Kin- dürftigkeit und die Bedeutung für den Schutz globaler der als in ganz Afrika leben. Wir dürfen also nicht so Umweltgüter. Auch Good Governance, gute Regierungs- tun, als wäre in diesen Anker- und Schwellenländern führung, ist für die Mittelvergabe mit Sicherheit ein schon alles geregelt und als ob wir uns aus der Entwick- wichtiger Aspekt. lungszusammenarbeit mit diesen Ländern zurückziehen könnten. Wir wollen dort Maßnahmen ergreifen, die die Ich sage aber auch: Wir dürfen die Menschen, die soziale Kohäsion nach vorne bringen und die globalen nicht das Glück haben, in einem Staat mit guter Regie- Umweltgüter schützen. Wir wollen das wirtschaftliche rungsführung zu leben, nicht im Stich lassen. Gewicht und den Einfluss dieser Länder in der Region (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten dahin gehend steuern, dass auch andere Länder davon der CDU/CSU – Dr. Karl Addicks [FDP]: Das profitieren können. ist ja wohl auch nicht die Alternative!) Ein gutes Beispiel in diesem Zusammenhang ist – Doch. China. Herr Königshaus, Sie sind selbst dort gewesen – die Kollegin Kofler auch – und haben in Ihrem Bericht (Dr. Karl Addicks [FDP]: Nein!) vor dem Ausschuss erklärt, dass es Sinn macht, mit China eine vernünftige Entwicklungszusammenarbeit zu Denn in Ihrem Antrag, Herr Addicks, heißt es, dass wir pflegen. Denn China hat eine so große Bevölkerung, uns bei der Länderauswahl, wenn es also um die Kon- dass sich die Millenniumsziele ohne eine Zusammen- zentration auf weniger Partnerländer geht, daran orien- arbeit mit China überhaupt nicht erreichen ließen. tieren sollten, ob dort gute Regierungsführung geleistet wird oder nicht. Das steht wörtlich so in Ihrem Antrag. Wir wollen nicht wieder eine Entwicklungspolitik Das bedeutet im Umkehrschluss, dass Sie nicht mehr nach dem Motto „Der gute Onkel gibt den armen 3008 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006

Dr. Sascha Raabe (A) Menschen etwas Milchpulver und Reis als Entwick- Nigeria Teil des Entschuldungsprogramms der Bundes- (C) lungshilfe“, sondern wir haben ein modernes Verständ- regierung geworden ist. nis von Entwicklungszusammenarbeit. Deswegen geht Ihre Kritik daran, dass wir den ärmsten Menschen die Dr. Sascha Raabe (SPD): Schulden erlassen, völlig am Thema vorbei – als ob wir Entschuldungsprozesse haben immer einen langen in der Vergangenheit Schulden ungeprüft erlassen hätten. Vorlauf: Da wird überprüft, und wenn die Kriterien nicht Nein, anders als es in Ihrem Antrag heißt, ist es so, dass mehr erfüllt sind, dann reagieren wir als Parlamentarier wir auch in der Vergangenheit nur solchen Ländern ei- und als Regierung entsprechend. Wir Entwicklungspoli- nen Schuldenerlass gewährt haben, die nachweislich tiker sind nicht blind, wenn in einem Land Rohstoffe Fortschritte bei der Armutsbekämpfung gemacht haben, vorhanden sind und wir das Gefühl haben, dass die ent- die strukturelle Reformen vorgenommen haben. Wir sprechenden Einnahmen nicht so verwandt werden, wie werden weiterhin Ländern, in denen diese Voraussetzun- wir es wollen. Das ärgert uns; das möchte ich ganz offen gen gegeben sind, die Schulden erlassen. Dadurch be- sagen. Sicherlich gibt es in Nigeria wie in einigen afrika- kommen sie Mittel für die Armutsbekämpfung, die sie nischen Ländern in dieser Hinsicht Probleme; wir haben sonst für Zinsen und Tilgung ausgeben müssten. ja im Ausschuss eine Anhörung zu diesem Thema. Sie (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten rennen bei mir offene Türen ein, wenn Sie sagen, dass der CDU/CSU) man Ländern, die mit ihren eigenen Einnahmen nicht verantwortungsvoll umgehen, an den Stellen, wo wir Herr Kollege Aydin, Sie haben am Beispiel von Mo- normalerweise helfen, sagen muss: So nicht. Aber die bi- sambik zu Recht aufgezeigt, wie ein Land in die Lage laterale Entwicklungszusammenarbeit mit Nichtregie- versetzt wurde, sich eigenständig zu entwickeln und rungsorganisationen und anderen Stellen sollte man na- Hunger und Armut zu bekämpfen. Warum Sie versu- türlich weiterführen; wir wollen ja nicht die Menschen in chen, die ODA-Quote mit dem Hinweis, ein Schulden- diesen Ländern bestrafen. Ganz wichtig, Herr Kollege erlass sollte nicht einfließen, klein zu rechnen, kann ich Addicks, ist es auch, dass ein Land wie Nigeria gerechte nicht nachvollziehen. Man hat sich international zu Handelsbedingungen bekommt. Das ist der Kern. Es darf Recht darauf geeinigt, dass auch ein Schuldenerlass ein nicht nur um Schuldenerlass gehen, die Entwicklungs- wichtiger Bestandteil von Entwicklungszusammenar- länder müssen auch gerechte Handelsbedingungen be- beit ist. Das lobt auch der DAC-Bericht, insbesondere kommen. Im Bereich globaler Strukturpolitik hat sich lobt er den Aufwuchs unserer Mittel in diesem Bereich unsere Ministerin dafür seit 1998 sehr stark eingesetzt. von 0,28 Prozent in 2004 auf 0,35 Prozent unseres BIP. Ich kann ja verstehen, dass man es als Opposition ange- Der DAC-Bericht lobt die Bemühungen Deutschlands in diesem Bereich ausdrücklich. Dort ist zu lesen: (B) sichts eines solchen Anstiegs, wie es ihn in den letzten (D) zehn, zwanzig Jahren in dieser Größenordnung nicht ge- Zur Förderung der Politikkohärenz im Bereich der geben hat, in der Debatte schwer hat und seltsamste internationalen Handelsagenda hat sich Deutsch- Arithmetik bemühen muss, um das schlecht zu rechnen. land 2004 für die Reform der europäischen Baum- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten wollmarktordnung sowie für die Baumwoll-Initia- der CDU/CSU) tive in der WTO eingesetzt und zu einer baldigen Reform der europäischen Zuckermarktordnung auf- Aber nehmen Sie einfach einen Taschenrechner zur gerufen. Hand und tippen Sie die Zahlen ein; wir brauchen dazu nicht viel zu erklären. Das wollte ich gerne noch loswerden. Es ist schön, dass Sie mir das durch Ihre Zwischenfrage ermöglicht haben. Zum Abschluss möchte ich erwähnen, dass im DAC- Bericht besonders der Kohärenzcharakter der deut- (Heiterkeit bei allen Fraktionen) schen Entwicklungszusammenarbeit gelobt wird. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Herr Kollege, der Herr Kollege Addicks möchte eine Zwischenfrage stellen. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Dr. Sascha Raabe (SPD): Das Wort hat die Kollegin Ute Koczy, Bündnis 90/ Die Grünen. Gerne; aber die Uhr muss gestoppt werden.

Ute Koczy (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Die Uhr habe ich schon immer gestoppt, bei jeder Kollegen! Wir führen auf internationaler Ebene seit ge- Zwischenfrage, Herr Kollege. raumer Zeit eine Debatte über die Aufstockung der Mit- tel für die Entwicklungszusammenarbeit und darüber, Dr. Karl Addicks (FDP): wie man bessere Ergebnisse in der Entwicklungszusam- Herr Kollege Raabe, ich gebe Ihnen gerne Gelegen- menarbeit erreichen kann. Dazu gibt es einige wichtige heit, Ihre Redezeit etwas zu verlängern, wenn Sie mir die Stichworte, die ich Ihnen in Erinnerung rufen möchte: Frage beantworten, wieso ausgerechnet ein Land wie Qualität der Entwicklungszusammenarbeit, bessere Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006 3009

Ute Koczy (A) Abstimmung der Geber und – das betone ich besonders – In der Debatte müssen wir aber auch die Institutio- (C) nachvollziehbare, klare Ergebnisse. Das wird im Jargon nenlandschaft der deutschen EZ betrachten. Es kommt Geberharmonisierung und Ergebnisorientierung ge- natürlich darauf an, wie, wo und mit welchen Institutio- nannt. nen die Mittel verwendet werden sollen. Die Tatsache, dass das deutsche System einmalig ist, lässt sich histo- Die OECD-Länder haben letztes Jahr mit der Parisde- risch begründen, ist aber für die Entwicklung in der Zu- klaration eine Vereinbarung zur Verbesserung der Wirk- kunft nicht sehr aussagekräftig. Wir brauchen – das ist samkeit ihrer Entwicklungszusammenarbeit getroffen. wichtig – Kohärenz zwischen BMZ, Auswärtigem Amt Kofi Annan hat gerade ein Beratergremium, ein High und anderen Ministerien in der Entwicklungszusammen- Level Panel, eingesetzt, das bis zum Sommer einen Vor- arbeit, wenn wir gute Entwicklungszusammenarbeit leis- schlag zur Reorganisation der Entwicklungszusammen- ten wollen. arbeit auf UN-Ebene erarbeiten soll. Die multilateralen und regionalen Entwicklungsbanken stehen unter (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Druck, die Effektivität ihrer Arbeit zu beweisen und zu- künftig zu erhöhen. Das BMZ muss seine Fähigkeit beweisen, die Durchfüh- rungsorganisationen zu steuern. Es muss daran arbeiten, Jetzt liegt der DAC-Peer-Review vor, der eine umfas- das zu verbessern, die strategische Gestaltung der In- sende Reform der EZ anmahnt, ich denke, zur richtigen halte in den Vordergrund zu stellen und über die Diskus- Zeit. Es ist wichtig, in dieser Debatte zwei Dinge dazu sion der Budgetfinanzierung hinaus Innovationen zu er- klarzustellen: Zum einen müssen die Mittel für die Ent- möglichen. wicklungszusammenarbeit erhöht werden, zum anderen brauchen wir eine höhere Effizienz in der Entwicklungs- Die Frage „KfW oder GTZ?“ wird jetzt vorrangig in zusammenarbeit. den Medien gestellt. Dieser Frage müssen wir uns offen- siv stellen. Ich bin der Meinung, es handelt sich um zwei (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Institutionen mit unterschiedlichen Kulturen. Wir müs- sen sehr sorgfältig prüfen, was wir in diesem Zusam- Beides ist wichtig, wenn wir in Zukunft die Eigenstän- menhang für zukunftsfähig halten. digkeit der Entwicklungszusammenarbeit erhalten wol- len. Ich danke für die Aufmerksamkeit. Bei einer solchen Qualitätsverbesserung geht es nicht (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN allein um eine Reform der Durchführungsinstitutionen. sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- Es müssen auch andere Elemente stimmen, damit wir KEN) (B) tatsächlich eine größtmögliche Effizienz erreichen: (D) Die Empfängerländer müssen ihre Regierungsfüh- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: rung verbessern – ich nenne das Stichwort Good Gover- Ich schließe die Aussprache. nance –, damit die von außen kommenden Gelder eben Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf nicht auf den Konten von korrupten Beamten und Politi- Drucksache 16/963 an die in der Tagesordnung aufge- kerinnen und Politikern versickern. führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- Die Eigenverantwortung der Empfänger muss geför- verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung dert werden. Dazu müssen die Geber eine größere so beschlossen. Planungssicherheit gewährleisten. Sie müssen die Be- Ich rufe den Zusatzpunkt 7 auf: rechenbarkeit ihrer Mittel verbessern und zu Mehrjah- reszusagen bereit sein. Das bedeutet, dass auch wir eini- Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ ges verändern müssen. CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Fortentwicklung der Grundsi- Die Geber müssen versuchen, eine größere Überein- cherung für Arbeitsuchende stimmung ihrer Mittelvergabe mit der Politik des Landes herzustellen, zum Beispiel im Sinne eines Beitrags zur – Drucksache 16/1410 – Umsetzung der nationalen Strategien zur Armuts- Überweisungsvorschlag: minderung. Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Innenausschuss Nun zum DAC-Peer-Review. Der Bericht stellt Rechtsausschuss Deutschland eigentlich ein gutes Zeugnis aus. Aber wie Finanzausschuss es sich für einen guten Bericht gehört, wird in ihm auch Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Verteidigungsausschuss Kritik an der deutschen Entwicklungszusammenarbeit Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend geübt: Das deutsche EZ-System sei zu unübersichtlich, Ausschuss für Gesundheit es benötige zu viel interne Koordinierung, es überfor- Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung dere durch seine Aufwendigkeit schlicht und einfach die Ausschuss für Bildung, Forschung und Strukturen der Empfängerländer. Insgesamt wird aber Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuss herausgestellt, dass die deutsche EZ gut ist, die techni- sche Zusammenarbeit wird als vorteilhaft beschrieben. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Die EZ erzielt in verschiedensten Evaluierungen ver- Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre gleichsweise gute Ergebnisse. keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. 3010 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner (A) Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege eher ab- als aufgebaut. Die Sparorgie der schwarz-gel- (C) Rolf Stöckel, SPD-Fraktion. ben Landesregierung in Nordrhein-Westfalen ist ein be- sonders unrühmliches Beispiel dafür. Wir Sozialdemo- Rolf Stöckel (SPD): kraten werden gemeinsam mit den Betroffenen dagegen Sturm laufen. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir So- zialdemokraten bekennen uns bei aller unberechtigten, (Beifall bei der SPD) aber auch berechtigten Kritik und Diskussion im Detail zu den von uns eingeleiteten Reformen der Arbeits- Wir werden uns aber auch nicht damit abfinden, dass marktpolitik und zu dem notwendigen Umbau unserer es sozialdemokratische Bürgermeister gibt, deren Haupt- sozialen Grundsicherungssysteme. anliegen nicht die effiziente Betreuung der Betroffenen oder die Schaffung ganztägiger Kinderbetreuung, son- Es bleibt menschenunwürdig, wenn Langzeitarbeits- dern das Abwälzen von Personal- und Unterkunfts- lose zwar ausreichende staatliche Transferleistungen er- kosten auf den Bund ist. halten, aber ohne Chance auf Qualifizierung und auf In- Wir sind nicht einverstanden, wenn die Geschäftsstra- tegration in den Arbeitsmarkt sind und damit vom tegie der Verantwortlichen der BA vorsieht, möglichst gesellschaftlichen Leben ausgegrenzt bleiben. Es bleibt schnell die so genannten Betreuungskunden – schwer richtig, dass wir das ganze Ausmaß der versteckten vermittelbare und unqualifizierte Betroffene – aus ihrem Langzeitarbeitslosigkeit und der betroffenen Familien Verantwortungsbereich loszuwerden. ans Licht gebracht haben, obwohl wir Prügel für die ge- stiegene Arbeitslosenstatistik bekommen haben. Es (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Markus bleibt auch richtig, dass die Bekämpfung der Langzeitar- Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) beitslosigkeit eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist, für die alle Akteure in der Wirtschaft – also Kapitaleig- Es ist wahr, dass es durch organisatorische Mängel ner, Arbeitgeber und Gewerkschaften – sowie Bera- nicht nur infolge der gestiegenen Bedürftigkeit, die wir tungsstellen, Verbände und die ausführenden Bürokra- auch konstatieren müssen, sondern auch infolge legaler tien der Arbeitsagenturen und der Sozialverwaltungen in Mitnahmen Leistungsausweitungen gab. Sie haben die den Kommunen verantwortlich sind und bleiben. Kosten für den Bund in die Höhe getrieben, während der zielgenaue Einsatz der Mittel und die Umsetzung von Wir als Gesetzgeber haben den gesetzlichen Rahmen Sanktionsmöglichkeiten bis heute mangelhaft sind. Die- dafür weiterzuentwickeln, damit diese Aufgabe fort- jenigen, die aufgrund dieser Anfangsprobleme gravie- schreitend besser umgesetzt werden kann. Nennen Sie es rende Leistungskürzungen fordern, etwa Herr Sinn vom Nachbessern oder lernende Gesetzgebung! Das liegt in Ifo-Institut für Wirtschaftsforschung, sind auf dem Holz- (B) der Natur der Sache und einer modernen Politik. Das ist weg. (D) sogar der gesetzliche Auftrag des SGB II, den diese große Koalition ernst nimmt und den wir im Koalitions- Die Unterschreitung des menschenwürdigen Exis- vertrag verankert haben. tenzminimums löst keine Probleme, sondern schafft neue, die der Gesellschaft teuer zu stehen kommen. Niemand von uns hatte damals die Vorstellung, dass (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LIN- die neue Grundsicherung für Arbeitsuchende alle struk- KEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- turellen Probleme mit einem Schlag auflöse, die über NEN) Jahrzehnte gewachsen sind und mit der deutschen Ein- heit, die international ohne Beispiel ist, verschärft wur- Nur das aktive Fördern sowie die möglichst schnelle und den, zumal vor dem Hintergrund einer weltweit schlech- intensive persönliche Betreuung hilft den Betroffenen, ten Wirtschaftsentwicklung nach dem 11. September verhindert missbräuchlichen Leistungsbezug, den es 2001. Da hilft auch kein populistisches Wunschdenken; nach allen Erfahrungen auch gibt, der aber mit Sicher- da helfen keine Parolen. Vor allem den Betroffenen hilft heit nicht dazu führen kann – das wäre völlig falsch und das keinen Schritt weiter. zynisch –, alle Betroffenen unter Generalverdacht zu stellen. Ich rate Herrn Sinn und all denen, die so denken Es ist unbestritten, dass es Defizite und Unvermögen wie er, sich mit den Einnahmeausfällen aufgrund von in der Organisation gibt, etwa beim Datenabgleich und Mitnahmen bei den Steuern bzw. mit Steuerbetrug zu insbesondere bei der Schnelligkeit und Qualität der per- beschäftigen. sönlichen Betreuung und Integration, also beim Fördern durch die örtlichen Arbeitsgemeinschaften oder auch in (Beifall bei der SPD) den so genannten Optionskommunen. Die Eingliede- Bei allen verständlichen Debatten dürfen wir eines rungsmittel sind bis heute etwa zur Hälfte in Angebote nicht übersehen: umgesetzt worden, von einer bedarfsgerechten ganztägi- gen Kinderbetreuung in den Kommunen ganz zu schwei- (Dirk Niebel [FDP]: Den Jubel bei der Union!) gen. Alle vergleichbaren Staaten, in denen entsprechende Re- Im Gerangel der Leistungsträger, die in alter, gewohn- formen früher eingeführt worden sind und die teilweise ter Manier versuchen, Kosten und Verantwortung auf an- bessere Ausgangsbedingungen hatten, hatten ähnliche dere abzuwälzen, am liebsten auf den Bund, werden be- Anfangsschwierigkeiten; sie brauchten ebenfalls drei währte Unterstützungsangebote, zum Beispiel in der bis fünf Jahre, um eine annähernd optimale Praxis zu Jugendhilfe, der Drogen- und der Schuldnerberatung, entwickeln. Umso mehr geht es uns darum, Kurs zu hal- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006 3011

Rolf Stöckel (A) ten, einen langen Atem zu haben und sich nicht durch (Dirk Niebel [FDP]: Wissen das schon die (C) fundamentale Opposition oder Störmanöver von Vertre- Kollegen von der Union?) tern durchsichtiger Einzelinteressen von dieser Verant- – Ja. wortung ablenken zu lassen. Ich kann Ihnen nicht alle Einzelheiten und Details des (Beifall bei der SPD) Gesetzes vortragen. Wir werden sicherlich an dem einen Es gibt bei der CDU/CSU auf der einen Seite und bei oder anderen Punkt in der Debatte darauf zurückkom- der SPD auf der anderen Seite verschiedene Schlussfol- men. Wir legen einen Gesetzentwurf vor, der die Grund- gerungen aus den Praxiserfahrungen. Wir freuen uns sicherung für Arbeitsuchende fortentwickelt. Wir haben nicht über alles, was in diesem Gesetzentwurf steht. Wie uns redlich bemüht, die Vorschläge der verschiedensten könnte es anders sein? Akteure in der Praxis einzuarbeiten (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Über was freuen Sie sich denn? GRÜNEN]: Die Sozialdemokratie hat sich Erzählen Sie doch mal!) stets bemüht!) und wir werden gemeinsam eine ausführliche Anhörung Der Entwurf eines Gesetzes zur Fortentwicklung der dazu durchführen. Grundsicherung für Arbeitsuchende ist aber keinesfalls, wie vielfach behauptet wird, nur ein Spargesetz. Er ist auch viel besser als ein schlechter Kompromiss. Ich Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: möchte gleich ein paar Beispiele dafür nennen. Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Möller? In der Tat sollen in den kommenden Jahren Einspa- rungen, die sich aus der Verbesserung der Verwal- Rolf Stöckel (SPD): tungsabläufe und aus der Bekämpfung von Leistungs- Ja, selbstverständlich. missbrauch ergeben, erzielt werden. Beispiele sind etwa die Einführung eines flächendeckenden Außendienstes oder aber das Sofortangebot an Antragsteller ohne vor- Kornelia Möller (DIE LINKE): herigen Leistungsbezug. In 2006 geht es um einen Be- Herr Kollege, ist Ihnen bekannt, dass das Papier von trag von 500 Millionen Euro, in 2007 und 2008 um ei- Herrn Clement zum so genannten Leistungsmissbrauch nen Betrag von jeweils 1,48 Milliarden Euro. keinen wissenschaftlichen Hintergrund hat, sondern dass nur ausgewählte Einzelfälle zur pointierten Darstellung Ein vorrangiges Anliegen des Gesetzentwurfes ist je- für dieses Papier herangezogen wurden? (B) doch eine verbesserte Betreuung der tatsächlich hilfe- (D) berechtigten Arbeitsuchenden aus einer Hand. Die Ich vermute, dass Ihnen das bekannt ist. Deshalb Arbeits- und Ausbildungsstellenvermittlung wird ein- frage ich: Warum haben Sie in diesem SGB-II-Fortent- heitlich als Pflichtaufgabe der Arbeitsgemeinschaften wicklungsgesetz einen flächendeckenden Schnüffel- und der zugelassenen kommunalen Träger festgelegt. dienst eingeführt? Können Sie sich vorstellen, was es für Weitere vorrangige Anliegen sind die Beseitigung von Menschen mit ALG II bedeutet, wenn sie keine Privat- Schnittstellen, die klare Regelung der Zuständigkeit für sphäre mehr haben und unter ihre Bettdecke geschaut wird? Personen, die Arbeitslosengeld I und aufstockend Ar- beitslosengeld II erhalten, und die Erhöhung des Schon- (Beifall bei der LINKEN – Leo Dautzenberg vermögens für die Alterssicherung bei gleichzeitiger Ab- [CDU/CSU]: Das hat die PDS überhaupt nie senkung des freien Vermögens. getan! Das ist natürlich richtig!) Aus unserer Sicht müssen aber auch – das sage ich den Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU hier Rolf Stöckel (SPD): ganz deutlich – die Belange der jüngeren Langzeitar- Kollegin Möller, mir ist nicht nur dieses Papier be- beitslosen ausreichend beachtet werden. Die Union han- kannt, mir sind viele Papiere von Herrn Clement delt meines Erachtens widersprüchlich, wenn sie den bekannt. Unabhängig von wissenschaftlichen Unter- Ausbau des geschützten Altersvermögens fordert und suchungen kann ich Ihnen aus 15-jähriger Sozialarbei- gleichzeitig das Arbeitslosengeld II absenken möchte. terpraxis in einem Sozialamt, in dem ich Klienteninte- Sie ignoriert die aktuellen Erfordernisse bei der Mobili- ressen zu vertreten hatte, sagen, dass das, was dort tät und Flexibilität junger Arbeitnehmerinnen und Ar- beschrieben ist, sicherlich Einzelfälle sind. Wenn man beitnehmer. Wir sind der Meinung, dass die Stärkung des aber die gesamte Praxis der Sozialhilfe seit dem Beste- Förderns, zum Beispiel die Weiterfinanzierung einer hen des Gesetzes betrachtet, also seit ungefähr Eingliederungsmaßnahme bei Wegfall der Hilfebedürf- 45 Jahren, dann sieht man auch, dass es immer auch tigkeit und die schnellere Aktivierung der Arbeitsuchen- Leistungsmissbrauch gab. den, eine bessere Lösung darstellt. Das gilt auch für die Wir beziehen uns in unserer Debatte im Wesentlichen Unterstützung junger Menschen, zum Beispiel durch auf legale Mitnahmen von sicherlich von irgendeiner Vollfinanzierung der Aktivierungshilfen für erwerbsfä- Notlage Betroffenen, um die es beim SGB II aber mit Si- hige hilfebedürftige Jugendliche, und für die bedarfsge- cherheit nicht geht. rechte Ausgestaltung der Leistungen durch einen Zu- schuss zu den Wohnkosten für die Bezieher von BAföG (Dirk Niebel [FDP]: Dann braucht man keinen oder Berufsausbildungsbeihilfe. Außendienst!) 3012 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006

Rolf Stöckel (A) Zur Ausweitung der Bedarfsgemeinschaften kam es ja man ein Gesetz erst einmal fortschreibt, bevor man ein (C) nicht etwa aufgrund des betrügerischen Missbrauchs, vorhandenes Gesetz, das Fehler aufweist, optimiert. sondern aufgrund legaler Mitnahmen durch Lücken im Gesetz, also durch Defizite, die damals im Vermittlungs- Vielleicht ist auch die späte Stunde, zu der die De- verfahren nicht berücksichtigt werden konnten. batte über dieses Gesetz stattfindet, das sehr viele Men- schen in diesem Lande interessiert, ein Fingerzeig dafür, Alle Kolleginnen und Kollegen in der Praxis werden wie die Regierung miteinander umgeht. Ihnen sagen, dass es, egal welches Gesetz wir in diesem Hause verabschieden, immer den Versuch geben wird, (Beifall bei der FDP und der LINKEN) einen eigenen Nutzen daraus zu ziehen. Ich glaube, dass Auch die Stimmung bei den Koalitionspartnern, die man wir gut daran tun – natürlich gemeinsam mit den Prakti- jetzt gesehen hat bzw. nicht hören konnte, zeigt ja, dass kern –, in einer Fortentwicklung dieses Gesetzes diese es hier intern durchaus unterschiedliche Betrachtungs- Möglichkeiten zu begrenzen, weil die Mittel, die wir als weisen gibt. Steuerzahler alle gemeinsam dafür einsetzen, möglichst effektiv denen zukommen sollten, die tatsächlich betrof- (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Die gibt es in fen sind. der FDP natürlich nicht!) Wir Sozialdemokraten sind der Meinung, dass das für Bei der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und die Solidargemeinschaft auch kontrollierbar und transpa- Sozialhilfe, die ich nach wie vor für richtig halte, weil es rent sein muss. Das ist richtig. unwürdig war, dass zwei steuerfinanzierte Transfersys- teme teilweise für den gleichen Personenkreis parallel (Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Sehr existiert haben, sind Fehler gemacht worden. Man hat richtig! – Dirk Niebel [FDP]: So lang war die richtigerweise mit der Zusammenlegung dieser beiden Frage doch gar nicht!) Leistungen für den gleichen Lebenssachverhalt, dass man seinen Unterhalt eben nicht mit der eigenen Hände Wenn wir die Beweislast bei der Frage umkehren, ob es Arbeit verdienen kann, versucht, Verwaltung zu verein- sich um Lebenswirtschaftsgemeinschaften handelt oder fachen, Kosten zu minimieren, die Betreuung von Ar- nicht, dann bedeutet das aus meiner Praxiserfahrung im beitsuchenden zu verbessern und die Würde der Betrof- Sozialamt heraus eher weniger Schnüffelstaat, weniger fenen dadurch zu schonen, dass sie ihre intimsten Kontrolle und ein geringeres Herumschnüffeln in den wirtschaftlichen Daten nicht vor zwei wildfremden Be- Schlafzimmern als bei der bisherigen Praxis zumindest amten offen legen müssen. in der Sozialhilfe. Bisher gibt es diesen entwickelten Au- ßendienst ja überhaupt nicht. Insofern weiß ich gar nicht, Aber die Situation der Arbeitsuchenden ist nicht ver- (B) auf welche Erfahrung Sie sich hier berufen. bessert worden, weil in der Grundanlage dieses Gesetzes (D) entscheidende Fehler gemacht worden sind. Die Union (Beifall bei der SPD – Stefan Müller [Erlan- war übrigens im Vermittlungsverfahren, an dem auch ich gen] [CDU/CSU]: Sie versteht das doch gar teilnehmen durfte, mit mir der Meinung, dass man keine nicht!) doppelten Vermittlungsstrukturen aufbauen sollte, Ich sage noch einmal: Wir werden gemeinsam eine weil der Verlust des Arbeitsplatzes bei dem Personen- ausführliche Anhörung dazu durchführen. Ich denke, kreis der Langzeitarbeitslosen oftmals nur ein Problem dass die Ausführungen der Experten und Praktiker dort von ganz vielen darstellt und andere Probleme wie Woh- für uns sicherlich wichtige Aufschlüsse bringen werden. nungsverlust, Überschuldung und Suchtprobleme hinzu- Wir alle kennen das strucksche Gesetz. Ich persönlich kommen. Für all diese Punkte sind die Mitarbeiterinnen würde sagen: Nichts ist so gut, dass es nicht noch ver- und Mitarbeiter der Bundesagentur für Arbeit, ohne ih- bessert werden kann. – Sie sind herzlich eingeladen nen Böses zu wollen, nicht ausreichend kompetent und – auch Sie, Frau Möller –, eigene konstruktive und re- überhaupt nicht qualifiziert. Deswegen waren wir der alistische Vorschläge zu machen. Ansicht, man müsse die kommunale Trägerschaft prä- ferieren. Sie haben das noch im Wahlkampf gefordert. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. Sie sind noch nicht einmal so weit gegangen, die Kom- munen, die das möchten, in die Lage zu versetzen, sich (Beifall bei der SPD) um diesen Personenkreis zu kümmern. Das ist ein großer Fehler. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Nächster Redner ist der Kollege Dirk Niebel, FDP- (Beifall bei der FDP) Fraktion. Im Vermittlungsverfahren habe ich gefordert: Wer sich bei der Bundesagentur für Arbeit meldet, muss so- (Beifall bei der FDP) fort ein Angebot zu einer Qualifizierung, einer gemein- nützigen Tätigkeit oder einer Zeitarbeit bekommen. Ein Dirk Niebel (FDP): solches Angebot verdeutlicht, dass erstens die Arbeits- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und bereitschaft vorhanden ist, und führt zweitens dazu, dass Herren! Das hier in erster Lesung zu beratende Gesetz die Arbeitslosigkeit möglichst zügig wieder beendet nennt sich Fortentwicklungsgesetz. Im Vorfeld sprach werden kann. Das ist aus ideologischen Gründen von ei- die Regierungskoalition immer noch von einem Opti- ner Seite dieses Hauses abgelehnt worden. Jetzt steuern mierungsgesetz. Ich denke, es ist bemerkenswert, dass Sie nach; das finde ich gut und richtig. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006 3013

Dirk Niebel (A) Es geht hier – Herr Stöckel, Sie sind, wie ich gelesen res Status bei den Arbeitsgemeinschaften haben durch- (C) habe, Vorsitzender der Arbeitsgruppe Verteilungsgerech- führen lassen. tigkeit Ihrer Fraktion – um die Erwirtschaftungsgerech- tigkeit; denn die Mittel für das Arbeitslosengeld II wer- Lassen Sie uns die Arbeitsgemeinschaften verpflich- den durch die Steuergelder der Arbeitnehmerinnen und ten, bei den Telefonbefragungen mitzumachen. Lassen Arbeitnehmer finanziert. Ohne einen Generalverdacht Sie uns die Telefonbefragungen bei den Arbeitsuchen- aussprechen zu wollen: Es ist Aufgabe des Gesetzge- den verpflichtend machen. Das spart Verwaltung und bers, dafür zu sorgen, dass Möglichkeiten zum Miss- auch das Geld anderer Leute, nämlich derjenigen Steuer- brauch in diesem System verhindert werden. Das hätten zahlerinnen und Steuerzahler, die es zu finanzieren ha- wir viel früher haben können. Es ist gut, dass dies jetzt ben. endlich passiert. Dann lassen Sie es uns aber auch richtig Vielen Dank. machen. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP) Lassen Sie uns dafür sorgen, dass eine Arbeitslosen- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: polizei nicht flächendeckend eingeführt werden muss, Das Wort hat der Kollege Dr. Ralf Brauksiepe, CDU/ sondern dass die Arbeitsgemeinschaften und die Op- CSU-Fraktion. tionskommunen vor Ort, die es möchten und es für not- wendig erachten, einen Außendienst einführen können. (Beifall bei der CDU/CSU) Lassen Sie uns dort, wo es vielleicht sinnvoller ist, Stel- lenakquise zu betreiben, weil der Arbeitsmarkt wie in Dr. Ralf Brauksiepe (CDU/CSU): Baden-Württemberg ordentlich funktioniert, die Mitar- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle- beiter für die Stellenakquise einsetzen, damit die Ar- gen! Es ist wahr, Kollege Niebel: Wir debattieren dieses beitslosigkeit beendet werden kann. wichtige Thema zu einem sehr späten Zeitpunkt. Den Schuh müssen wir uns anziehen. Ich kann Ihnen aber Lassen Sie uns das aber ohne eine weitere Aufblä- den Grund dafür nennen: Eine vergleichsweise kleine hung des Personalapparates machen. Der Effizienzgrad Partei veranstaltet morgen ihren Bundesparteitag und hat der Bundesagentur mit 90 000 Mitarbeitern und einer darum gebeten, dass der morgige Tag sitzungsfrei ist und Vermittlungsquote von ungefähr 18 Prozent schreit zum wir die anstehenden Themen heute beraten. Ich verrate Himmel. Das ist auch einer der Gründe dafür, weshalb nicht, wie die Partei heißt. Es sei nur so viel gesagt: Sie wir über das Thema der Verwaltung der Arbeitslosigkeit sind der Generalsekretär der Partei, auf die wir bei der in der Zukunft noch werden sprechen müssen. Sie wis- Planung Rücksicht genommen haben. (B) sen, wir sind der Überzeugung: Die Agentur ist in dieser (D) Form nicht reformierbar. Wir wollen die kommunale (Dr. [DIE LINKE]: Das Trägerschaft. Frau Engelen-Kefer hat gerade diese Wo- hätten Sie nie gemacht!) che in einer Pressekonferenz erklärt, es sei ein Fehler, doppelte Vermittlungsstrukturen aufzubauen. In dieser Sonst hätten wir das Thema morgen zu einer besseren Frage hat Frau Engelen-Kefer Recht. Aber man sollte Sendezeit beraten können. die Aufgabe, sich um die Arbeitslosen zu kümmern, (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Ach nicht dem Moloch in Nürnberg überlassen. Vielmehr wo!) müssen die Menschen dort, wo sie sind und wo auch die Arbeitsplätze sind, betreut werden, nämlich vor Ort. Da- Aber aus dem genannten Grund steht es heute so spät auf für kommt nur die kommunale Trägerschaft infrage. der Tagesordnung. (Beifall bei der FDP) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Es macht überhaupt keinen Sinn, dass Sie die Durch- Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des führung der Ordnungswidrigkeitenverfahren in Kom- Kollegen Niebel? munen erst ab dem 1. Januar 2007 zulassen wollen. Das kann man sofort machen, weil das effizient und sinnvoll Dr. Ralf Brauksiepe (CDU/CSU): ist. Wir unterstützen Sie darin ausdrücklich. Deswegen Nein. Da an dem Umstand, den ich bisher geschildert glaube ich, dass wir im Verfahren der parlamentarischen habe, in politischer Hinsicht nichts streitig ist, erübrigt Beratung noch weiterkommen. sich eine Zwischenfrage dazu. Der letzte Punkt sind die Telefonbefragungen. Die (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Ergebnisse, die uns zwischenzeitlich aus den Berichten der SPD) bekannt geworden sind, zeigen, dass die Telefonbefra- gungen ein adäquates Mittel sind, Missbrauch aufzude- Die große Koalition hat sich im Koalitionsvertrag cken und zu beenden, und zwar auf eine Art und Weise, umfangreiche Maßnahmen vorgenommen, um Fehlent- bei der keiner unter irgendeine Bettdecke schauen muss, wicklungen im Zusammenhang mit Hartz IV zu korri- liebe Frau Kollegin Möller. Dies geschieht einfach da- gieren. Wir haben uns Einsparungen in Höhe von durch, dass allein ungefähr ein Drittel von denjenigen, 3,8 Milliarden Euro bezogen auf ein Jahr vorgenommen, die mit der Information angeschrieben worden sind, sie die zum wesentlichen Teil bereits durch das SGB-II-Än- würden angerufen werden, eine freiwillige Änderung ih- derungsgesetz auf den Weg gebracht worden sind. 3014 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006

Dr. Ralf Brauksiepe (A) Wir legen nun einen weiteren Gesetzentwurf zur Kor- Wir werden die Beweislastumkehr bei eheähnlichen (C) rektur von Fehlentwicklungen im Zusammenhang mit Gemeinschaften einführen. Es ist eine pure Selbstver- Hartz IV vor, mit dem wir die anderen umfangreichen ständlichkeit, dass Menschen, die im Leben füreinander Maßnahmen, die wir uns vorgenommen haben, in Geset- einstehen, auch bei Hilfebedürftigkeit als solche behan- zesform bringen. Wir können dann sicherlich in relativ delt werden. Das hat nichts mit Bespitzelung zu tun. kurzer Zeit feststellen, dass wir die Fehlentwicklungen Vielmehr werden wir den Gesetzentwurf im Interesse in diesem Bereich korrigiert haben. Denn bei allem, was derjenigen umsetzen, die auf Hilfe angewiesen sind. hinsichtlich der Vermarktung schlecht gelaufen ist, war Diese Hilfe werden wir ihnen auch zukommen lassen. die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe grundsätzlich richtig. Im Gegensatz zu dem oft in der (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Öffentlichkeit vermittelten Eindruck ist für die Men- schen, um die es geht – nämlich die früheren Bezieher Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: von Arbeitslosen- oder Sozialhilfe –, nie so viel ausge- Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des geben worden wie seit dem In-Kraft-Treten von Kollegen Maurer? Hartz IV. Das ist die Wahrheit – nicht das Zerrbild von Verarmung, das von manchen gezeichnet wird. Dr. Ralf Brauksiepe (CDU/CSU): (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Nein. neten der SPD) (Dirk Niebel [FDP]: Herr Maurer, er traut sich Das ändert nichts daran, dass der Regelsatz von nicht, zu antworten! Das wissen Sie doch!) 345 Euro für das Arbeitslosengeld nicht sehr hoch ist. – Jetzt mal ganz ruhig mit der Koalition in der Opposi- Aber wie jeder weiß, kommen Leistungen für Unter- tion! Ich möchte lieber die einzelnen Punkte im Zusam- kunft und Heizung hinzu. Das Verfahren ist unbürokrati- menhang vortragen. scher als früher. Die Wohngeldregelungen und die Leis- tungen für Familien tragen mit dazu bei, dass für eine (Beifall bei der CDU/CSU) mehrköpfige Familie insgesamt ein so hoher Anspruch Es geht darum, Fördern und Fordern in Einklang zu besteht, dass es nicht einfach ist, durch Erwerbstätigkeit bringen. Deswegen machen wir mit dem Gesetz den ein Nettoeinkommen in vergleichbarer Höhe zu erzielen. Menschen, die erstmalig Leistungen nach dem SGB II Auch das gehört zu den Realitäten, die wir zur Kenntnis beziehen, ein Sofortangebot zur Integration auf dem Ar- nehmen müssen. beitsmarkt. Es geht darüber hinaus um Maßnahmen zur Damit wir denjenigen helfen können, die sozial Verbesserung der Verwaltungspraxis. Dabei müssen wir (B) schwach sind und der Hilfe bedürfen, bleibt es auch über uns eingestehen: Es wird immer Schnittstellenprobleme (D) das vorliegende Gesetzesvorhaben hinaus eine Dauer- insbesondere bei den Arbeitsgemeinschaften geben. Die aufgabe, das zu verhindern, worauf die Bundeskanzlerin Argen tragen alle Züge eines politischen Kompromisses. schon in ihrer Regierungserklärung hingewiesen hat, Hier findet eine Zusammenarbeit statt, wie es sie vorher nämlich dass sich Starke als Schwache verkleiden. nie gegeben hat. Wir haben uns in den Gesprächen zur Erarbeitung des vorliegenden Gesetzentwurfs mit jeder (Beifall bei der CDU/CSU) Schnittstellenproblematik beschäftigt und sind zu dem Ergebnis gekommen, dass es nicht in jedem Falle befrie- Wir haben uns mit dem Gesetzentwurf wesentliche digende Lösungen geben kann. Aber wir müssen die Einsparungen sowohl beim Bund als auch bei den Kom- Grundlagen dafür schaffen, dass alle, die Verantwortung munen vorgenommen. Vorgesehen sind die Erweiterung tragen, verstärkt zusammenarbeiten, damit die Betroffe- des automatisierten Datenabgleichs und die Überprüfung nen nicht von Pontius zu Pilatus geschickt werden. Alle, von Daten in Verdachtsfällen. Das ist völlig richtig und die als Träger zuständig und kompetent sind, müssen legitim. Des Weiteren geht es um die Einrichtung von verantwortlich handeln und den Betroffenen die Hilfe Außendiensten in allen Arbeitsgemeinschaften, um die zukommen zu lassen, die sie brauchen. Einführung regelmäßiger Telefonabfragen und auch um Sanktionen. Selbstverständlich sind gegenüber denjeni- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) gen, die sich nicht an die Regeln halten, spürbare Sankti- Selbstverständlich sind bei einem solchen Gesetz, von onen notwendig. Das liegt im Interesse der Menschen, dem wir uns Einsparungen in einem Volumen von etwa die täglich frühmorgens aufstehen, zur Arbeit gehen und 1,2 Milliarden Euro allein beim Bund und mehreren mit ihren Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen die Hundert Millionen Euro bei den Bundesländern verspre- Leistungen finanzieren, die die bekommen sollen, die in chen, verschiedene Dinge abzuwägen. Deswegen neh- diesem Land der Hilfe bedürfen. men wir keine Kürzungen nach dem Rasenmäherprinzip (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – vor. Vielmehr ist es immer unser Prinzip gewesen, dass Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Also es selbst dann, wenn generell gekürzt werden muss, die doch Sanktionen!) Möglichkeit geben muss, an Stellen – es geht hier nicht nur um ein oder zwei –, an denen es sachlich gerechtfer- Deswegen verstecken wir das nicht. Wir bekennen uns tigt ist, zu einem Aufwuchs zu kommen. Die Abgeord- vielmehr dazu, dass diejenigen, die sich nicht an die neten der Koalitionsfraktionen, die an den vorbereiten- Spielregeln halten, Sanktionen zu spüren bekommen den Gesprächen über diesen Gesetzentwurf müssen. teilgenommen haben, wissen, dass wir an rund einem Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006 3015

Dr. Ralf Brauksiepe (A) Dutzend Stellen zu höheren Leistungen, zu einem Auf- dass der Grund dafür der ordentliche Parteitag der FDP (C) wuchs gekommen sind, obwohl wir unterm Strich am kommenden Wochenende sei. 1,2 Milliarden Euro einsparen wollen. (Klaus Brandner [SPD]: Wollen Sie widerspre- So wollen wir – das ist für uns ein wichtiger Punkt – chen? Das trifft doch zu!) das Schonvermögen erhöhen, das der Altersvorsorge dient; denn wir müssen denjenigen etwas anbieten, die Das ist eindeutig falsch. Noch auf der vorläufigen Tages- über Jahrzehnte Beiträge und Steuern gezahlt haben, die ordnung für die heutige Sitzung war die Debatte über dann unverschuldet arbeitslos geworden sind und die diesen Gesetzentwurf aufgesetzt. Dann wurde dieser Ta- aufgrund ihres Alters nicht die Möglichkeit hatten, die gesordnungspunkt abgesetzt und erst am Montag dieser Riester-Förderung – diese bleibt geschützt – in Anspruch Woche wieder aufgesetzt. Der Absetzungsgrund be- zu nehmen. Es kann nicht sein, dass Menschen, die jahr- stand, wie wir gehört haben, in Differenzen zwischen zehntelang fleißig gearbeitet haben, nach kurzer Zeit so den Regierungsfraktionen. gestellt werden wie diejenigen, die noch nie gearbeitet (Klaus Brandner [SPD]: Da haben Sie falsch haben. Deswegen wird es hier zu einem Aufwuchs kom- gehört!) men. Im Übrigen hat der Kollege Brauksiepe offenkundig (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- nicht verstanden, dass in der Geschichte der Bundesre- neten der SPD) publik Deutschland die Sitzungswochen immer so fest- Hier gibt es auch keine Widersprüche. Wir sollten uns gesetzt wurden, dass die Parteien – das galt für alle Par- die Freiheit nehmen, zu sagen: Es tut uns Leid, aber wir teien – ihre ordentlichen Parteitage durchführen müssen sparen. Niemand tut das gerne. Gleichzeitig konnten. müssen wir jedoch in der Lage sein, Prioritäten zu set- (Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Das hat niemand zen. Das werden wir tun. infrage gestellt!) (Zurufe von der Linken: Ja, ja!) Es wundert mich nicht, dass der Kollege Brauksiepe ein Wir werden mit den Bundesländern im Gespräch über gewisses Problem mit den Umgangsformen zwischen diesen Gesetzentwurf bleiben. Wir wissen, dass wir die den demokratischen Parteien hat. Zustimmung des Bundesrates brauchen. Die Sachver- (Klaus Brandner [SPD]: Sie müssen ein schlechtes ständigen werden ebenfalls ausführlich zu Wort kom- Gewissen haben, Kollege Niebel!) men; denn wir sind an einem breiten Konsens interes- siert. Klar ist: Wenn das Prinzip „Fördern und Fordern“ Das sage ich vor allem vor dem Hintergrund, dass die (B) funktionieren soll, brauchen wir in diesem Land mehr SPD aufgrund der Wirren im Zuge des Verlustes vieler (D) Arbeitsplätze. Hartz IV und das SGB II dienten immer Parteivorsitzender nicht in der Lage war, festzustellen, dazu, eine Grundsicherung für Hilfsbedürftige sicherzu- dass eine Partei einen ordentlichen Parteitag durchführt, stellen. Aber es ging nie darum, damit zusätzliche Ar- und im Gegensatz zu den Gepflogenheiten erstmals in beitsplätze zu schaffen. Vielmehr sollen Härten für die der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland einen Menschen abgefedert werden, die der Hilfe bedürfen. außerordentlichen Parteitag auf das Datum eines ordent- lichen Parteitages einer anderen Bundestagspartei gelegt Wir brauchen vor allem mehr Arbeitsplätze in hat. Das zeigt, dass die große Koalition nicht nur merk- Deutschland. Dafür ist eine bessere wirtschaftliche Ent- würdige Umgangsformen untereinander hat, sondern wicklung Voraussetzung. Diese hat offensichtlich einge- dass sie offenkundig bereit ist, sich dieses Land zur setzt. Beute zu machen. (Lachen bei der LINKEN) (Beifall bei der FDP – Zurufe von der SPD: Alle Daten deuten darauf hin, dass wir auf einem guten Oh! – Klaus Brandner [SPD]: So ein blödes Weg sind. Wenn die wirtschaftlichen Voraussetzungen Zeug habe ich selten gehört!) stimmen, wird dieses Gesetz den erwarteten Erfolg zeiti- gen. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Herzlichen Dank. Herr Kollege Brauksiepe, Sie können antworten. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Dr. Ralf Brauksiepe (CDU/CSU): Lieber Kollege Niebel, machen Sie sich um die große Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Koalition und deren Umgang miteinander keine Sorgen. Zu einer Kurzintervention gebe ich dem Kollegen Wir werden am Ende ein gutes Gesetz durch das Parla- Niebel das Wort. ment bringen. Wir haben selbstverständlich Rücksicht genommen. Wir waren es, die das kritisiert haben. Wir Dirk Niebel (FDP): haben mit Rücksicht auf Sie diese Zeit gewählt, damit Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Der Kollege wir heute die Tagesordnung abwickeln können. Brauksiepe hat mir zugestimmt, dass es bemerkenswert (Dirk Niebel [FDP]: Das haben Sie nicht!) ist, dass dieses wichtige Thema zu dieser späten Stunde regelrecht versteckt wird. Er hat allerdings suggeriert, Das ist in der Tat unter Demokraten selbstverständlich. 3016 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006

Dr. Ralf Brauksiepe (A) (Dirk Niebel [FDP]: Sie sind sich nicht einig Euro mehr als im alten System ausgegeben worden. Da- (C) geworden! Sie haben sich gestritten wie die von sind 1,4 Milliarden Euro auf die Erhöhung der Ren- Kesselflicker! Deshalb ist es zu so einer späten tenzahlung zurückzuführen. Im Klartext heißt das: Es Zeit auf die Tagesordnung gesetzt worden!) gibt keine Kostenexplosion durch Missbrauch. Das Ein- zige, was es gibt, ist eine Verschiebung der Zahlungen. Sie, auf die wir Rücksicht genommen haben, sollten un- Früher zahlte man Sozialhilfe, Wohngeld und Arbeitslo- sere Rücksichtnahme jetzt nicht kritisieren. senhilfe, heute zahlt man Kosten für Unterkunft und (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Arbeitslosengeld II. Ihre Unterstellung des Missbrauchs Klaus Brandner [SPD]: Ein typisches Eigentor ist nicht haltbar und nicht durch Zahlen belegt. war das!) (Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Für die zweite Sauerei Das Wort hat die Kollegin Katja Kipping, Fraktion (Rolf Stöckel [SPD]: Warum ist das eine Saue- Die Linke. rei?) (Beifall bei der LINKEN) sorgt der Außendienst, der die Lebenssituation von Ar- beitslosengeld-II-Empfängern untersuchen soll. Katja Kipping (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr (Dr. Karl Addicks [FDP]: Was ist das für eine Brauksiepe, man will Ihnen Ihre dicken Krokodilstränen, Ausdrucksweise? Bitte verschonen Sie uns da- die Sie darüber vergießen, dass es Ihnen schwer fällt, bei mit! Nicht zu fassen!) den Erwerbslosen zu kürzen, nicht so richtig abnehmen, Im Clement-Report wurde sehr anschaulich dargestellt, insbesondere wenn man daran denkt, dass Sie bereitwil- wie Sozialspitzel losgeschickt werden, um bei allein er- lig immer wieder in Missbrauchsdebatten einstimmen ziehenden Erwerbslosen nachzuschauen, ob sie nicht und Erwerbslose als Sozialschmarotzer darstellen. doch einen Freund haben, den man finanziell in Haft (Beifall bei der LINKEN) nehmen kann. Einige Sozialspitzel gingen sogar in die Schlafzimmer, um zu schauen, wie groß die Kuhle im Ganz unabhängig davon, wie man diesen Gesetzent- Bett ist, um nachzuweisen, dass man dort doch zu zweit wurf nennt, wollen wir eines festhalten: Das Einzige, geschlafen hat. was hier optimiert wird, ist die Diskriminierung von Er- werbslosen und die Verfolgungsbetreuung. (Dr. Karl Addicks [FDP]: Das haben sie von der gelernt!) (B) (Beifall bei der LINKEN) (D) Ich meine, im Schlafzimmer hat der Staat nichts zu su- Hier soll die zentrale These fortentwickelt werden – das chen. Das ist so und das soll so bleiben. ist das alte Trauerspiel –, dass Erwerbslose schuld an der Massenarbeitslosigkeit sind. Damit werden sie zu Sün- (Beifall bei der LINKEN – Stefan Müller [Er- denböcken gemacht. Wenn das nicht so verdammt trau- langen] [CDU/CSU]: Wie war das denn in der rig für die Betroffenen wäre, dann könnte man fast darü- DDR?) ber lachen. Diese Masche ist wirklich nicht neu. – Wir haben die Lehren aus der Vergangenheit gezogen. Zwar enthält der vorliegende Gesetzentwurf auch ei- (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU, der nige kleine Verbesserungen. Das ändert aber nichts da- SPD und der FDP) ran, dass es im Kern um die Verschärfung von Hartz IV geht. Von den vielen Sauereien dieses Gesetzes möchte Ich möchte Ihnen sagen: Alle Versuche, die Privat- ich auf drei zentrale Gemeinheiten eingehen. Im Kern und Intimsphäre von Menschen auszuspionieren, sollten geht es hier um nichts anderes als um die Fortführung ei- in Filmen wie „Das Leben der Anderen“ unternommen ner Verdächtigungskampagne gegenüber Erwerbslosen. werden. (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Es spricht im (Klaus Brandner [SPD]: Das ist aber beson- Original Rosa Luxemburg!) ders glaubwürdig, Frau Kipping! Das ist die Spitze an Glaubwürdigkeit!) In den letzten Tagen häufen sich die Meldungen, dass es zu Kostenexplosionen kommt. Das geht mit der Un- Mit moderner Sozialpolitik hat die Sozialspitzelei, die terstellung einher, die Ursache dafür sei Missbrauch. Sie jetzt praktizieren, nichts, aber auch gar nichts zu tun. Wir wollten diesen Meldungen auf den Grund gehen und (Beifall bei der LINKEN) haben beim zuständigen Bundesministerium nachge- fragt, wie hoch die Zahlungen im alten System für Er- Wir brauchen eben nicht mehr Sozialspitzel, sondern werbslose ausgefallen sind, wie viel man für Sozialhilfe, mehr sorgfältige Beratung und mehr Vermittlung von Er- Wohngeld und Arbeitslosenhilfe ausgegeben hat. Es gibt werbslosen. eine Berechnung aus Ihrem Haus, Herr Andres, die be- (Dr. Karl Addicks [FDP]: Wir brauchen aber sagt, dass dann, wenn man das alte System beibehalten auch keinen Neosozialismus!) hätte, im Jahr 2005 35,5 Milliarden Euro für Erwerbs- lose ausgegeben worden wären. Im letzten Jahr sind Die dritte zentrale Gemeinheit, die ich ansprechen nach dem neuen System gerade einmal 1,8 Milliarden möchte, ist die Beweislastumkehr bei den Bedarfsge- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006 3017

Katja Kipping (A) meinschaften. Hier setzen sie den Hebel am Rechtsstaat Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (C) an; hier werden rechtsstaatliche Grundsätze geopfert. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute gilt: Wer nur ein Jahr zusammen wohnt, der lebt Meine Damen und Herren von der großen Koalition, schon in einer Bedarfsgemeinschaft. Damit wird jede wenn man im privaten Leben oder auch als Gesetzgeber Wohngemeinschaft zu einer Bedarfsgemeinschaft. etwas optimieren möchte, was nicht so richtig funktio- niert, dann setzt man doch zuallererst an der schwächs- (Rolf Stöckel [SPD]: Gibt es ja gar nicht!) ten Stelle an. Das ist im Falle des Sozialgesetzbuchs II Beispielsweise in meiner WG leben vier Personen. Was immer noch die Komponente des Förderns und des Akti- ist, wenn jetzt einer meiner Mitbewohner arbeitslos vierens. Hier muss man ansetzen. wird? Heißt es dann, einer von uns muss ausziehen, da- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – mit er keiner Bedarfsgemeinschaft zugeordnet wird? Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Sehr richtig, (Dr. Karl Addicks [FDP]: Helfen Sie dem! Das das machen wir auch! Genau da setzen wir wäre echte Solidarität! – Dirk Niebel [FDP]: an!) Sie verdienen doch ordentlich! Helfen Sie ihm Genau an dieser Stelle weist Ihr Gesetz eine große Leer- doch!) stelle auf. Schlimmer noch: An manchen Stellen sind schwere Mängel und auch Mogelpackungen zu sehen. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen. Anstatt die lokale Handlungsfreiheit der Arbeitsge- meinschaften aufzuwerten und zu verbessern, schränken Sie sie ein. Sie müssen einmal mit den Praktikern in den Katja Kipping (DIE LINKE): Arbeitsgemeinschaften und in den Jobcentern reden. Heute hat ein CDU-Minister in NRW gesagt: Wenn zwei Personen zusammenleben, von denen eine erwerbs- (Klaus Brandner [SPD]: Jetzt müssen wir auf- los ist, dann müssen sie beweisen, dass sie kein Liebes- passen! Wenn das Geld nicht ausgegeben wird, paar sind. Ich frage Sie: Wie soll man das beweisen? dann hat die lokale Ebene versagt!) (Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Es ist so, dass der Zugriff der Bundesagentur für Arbeit Bei uns beiden wäre das klar!) sogar noch verschärft wird und dass die Spielräume ver- ringert werden. Es ist zum Beispiel so, dass Sie die so Müssen Erwerbslose in Zukunft Kameras in ihren genannten 1-Euro-Jobs-Arbeitsgelegenheiten jetzt den Schlafzimmern installieren? ABM und SAM gleichstellen. Die Begründung dafür im Gesetzentwurf lautet, dadurch werde einfach die Verän- (B) (D) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: derung in der Praxis nachvollzogen. Frau Kollegin, ich möchte Sie an Ihre Redezeit erin- Ich kann Ihnen sagen, was wir damals, als das SGB II nern. entworfen wurde, gedacht haben: Wir haben die so ge- nannten 1-Euro-Jobs ausdrücklich als Ultima Ratio, als Katja Kipping (DIE LINKE): letztes Mittel der Förderung an das Ende von § 16 Ich komme zum Ende. – Ich sage nur noch: Das hat SGB II gestellt. Wir haben die anderen Instrumente der nichts, aber auch gar nichts mit moderner Sozialpolitik Weiterbildung, die Eingliederung durch Zuschüsse und zu tun. Anstatt die Situation von Bedarfsgemeinschaften auch die sozialversicherungspflichtige Entgeltvariante zu verschärfen, brauchen wir eine soziale Sicherung, die deutlich priorisiert und daher vorangestellt. Sie sorgen konsequent vom Einzelnen ausgeht. jetzt für eine Gleichsetzung. Das ist der falsche Weg; das ist kein Fördern. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Frau Kollegin, das wäre ein gutes Ende gewesen. Wenn Sie sich mit großem Getöse hier hinstellen und sagen, wir brauchen jetzt Sofortangebote, dann muss Katja Kipping (DIE LINKE): ich fragen: War denn das vorher nicht möglich? Nie- Diesem Gesetzentwurf muss man Widerstand im Par- mand in den Jobcentern ist doch davon abgehalten wor- lament und außerhalb des Parlaments entgegensetzen. den, ein Sofortangebot einzurichten. Was schreiben Sie Deswegen können wir allen nur empfehlen, am 3. Juni denn für eine platte Tautologie in das Gesetz? zur Demonstration nach Berlin zu kommen, um – – Angesichts der Meldung in der „Welt“ von heute, (Beifall bei der LINKEN) dass bislang erst knapp 1 Milliarde Euro aus dem Ein- gliederungstitel beim SGB II ausgegeben wurde, wird Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: dieses Reden vom Sofortangebot vollends zur Farce. Be- Frau Kollegin, was Sie im Augenblick machen, finde schleunigen wir doch das Ausgeben der zur Verfügung ich nicht in Ordnung. gestellten Mittel zur Eingliederung! (Dr. Karl Addicks [FDP]: Ja, wir auch nicht!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Klaus Brandner [SPD]: Das spricht doch ge- Nächster Redner ist der Kollege Markus Kurth, Bünd- rade dafür, dass die BA die Kompetenz be- nis 90/Die Grünen. kommt, das auch zu tun!) 3018 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006

Markus Kurth (A) Anstatt das Fördern zu verstärken, werden – das hat nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Vor- (C) auch Frau Kipping beschrieben – auf der Leistungsseite lage soll abweichend von der Tagesordnung zusätzlich Einschränkungen gemacht, die zum Teil mehr als frag- an den Haushaltsausschuss gemäß § 96 unserer Ge- würdig sind. schäftsordnung überwiesen werden. Gibt es dazu ander- weitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die (Rolf Stöckel [SPD]: Wo denn?) Überweisung so beschlossen. Die Einkommensanrechnung in Wohngemeinschaften Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf: – dabei soll das Zusammenleben für länger als ein Jahr bereits ausreichen, um eine so genannte Bedarfs- Beratung des Antrags der Abgeordneten gemeinschaft zu begründen – Dr. Barbara Höll, Frank Spieth, Dr. Ilja Seifert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LIN- (Klaus Brandner [SPD]: Das stimmt nicht! KEN Das ist inhaltlich nicht richtig!) Ermäßigung des Mehrwertsteuersatzes für ist aus meiner Sicht rechtlich überhaupt nicht haltbar. apothekenpflichtige Arzneimittel auf 7 Pro- Das Verfassungsgericht hat sehr strenge Maßstäbe an so zent genannte Einstehensgemeinschaften angelegt. – Drucksache 16/732 – (Klaus Brandner [SPD]: Ja, da ist genau die Begründung!) Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) Das Bundessozialgericht hat geurteilt, dass ein Zusam- Ausschuss für Gesundheit menleben von mindestens drei Jahren vorliegen muss, Haushaltsausschuss bevor man vermuten kann, dass es sich um eine Bedarfs- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die gemeinschaft handelt. Sie machen einfach „ein Jahr“ Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre daraus und führen noch zusätzlich eine Beweislastum- keinen Widerspruch. kehr ein, die so in der Tat kaum zu leisten sein dürfte. Das ist ein unzulässiger Eingriff in die Lebenssphäre von Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle- Menschen, die in Form von Wohngemeinschaften – das gin Dr. Barbara Höll, Fraktion Die Linke. ist eine mittlerweile durchaus verbreitete Wohnform – (Beifall bei der LINKEN) zusammen wohnen, und ist aus diesem Grunde abzuleh- nen. Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Rolf Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (B) Stöckel [SPD]: Das ist doch Unsinn!) Diejenigen, die sich gerade die Debatte zu Hartz IV an- (D) gehört haben, sollten ruhig noch sitzen bleiben; denn – Ich will damit an der Stelle schließen. auch das jetzige Thema hat viel damit zu tun. Auch Ihre Regelungen zum so genannten Alters- Wir müssen einfach konstatieren, dass bereits im ver- schonvermögen und zu seiner vermeintlichen Auswei- gangenen Jahr viele Menschen nicht mehr zum Arzt ge- tung sind eine Mogelpackung, weil Sie im gleichen Ver- gangen sind, weil ihnen die 10 Euro für die Praxisgebühr hältnis das zulässige so genannte freie Vermögen kürzen. zu viel waren. Jeder Hartz-IV-Empfänger und jede Selbst Ihr Sozialminister in Nordrhein-Westfalen, Herr Hartz-IV-Empfängerin muss diese 10 Euro zahlen. Laumann, hat diese Regelung als unzulänglich bezeich- net und ein Altersvorsorgevermögen von 700 Euro pro (Rolf Stöckel [SPD]: Eben nicht! Das ist nicht Lebensjahr gefordert. In diese Richtung hätten Sie gehen wahr!) sollen. Sie müssen bei den Arzneimitteln Zuzahlungen leisten. (Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Ach!) Das sind Belastungen, die dazu führen, dass medizini- sche Versorgung nicht mehr in dem Umfang in Anspruch Als Roland Koch in Hessen das so genannte EEG gegen genommen wird, wie es notwendig wäre. das Sozialgesetzbuch II in Anschlag gebracht hat, haben Sie in noch viel schärferem Maße das zulässige Alters- Wir haben Ihnen einen kurzen Antrag vorgelegt, der vorsorgevermögen kürzen wollen. Anstatt in dieser Art in dieser Richtung zumindest eine kleine Hilfe geben und Weise Dinge vermeintlich zu tun und zu täuschen, würde. Wir möchten, dass der Katalog der Waren des le- sollten Sie an das herangehen, was man wirklich machen bensnotwendigen täglichen Bedarfs, die nur mit dem er- muss und in das man Energie stecken muss, nämlich an mäßigten Mehrwertsteuersatz von 7 Prozent belegt wer- das Fördern. den, erweitert wird. Es ist recht und billig, dass neben Brot, Butter und anderen Dingen wie Hundefutter, Vielen Dank. Schnittblumen und Tiermedikamenten (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Und Möhren!)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: auch die apothekenpflichtigen Medikamente für Men- schen dem ermäßigten Mehrwertsteuersatz unterliegen; Ich schließe die Aussprache. denn es ist steuersystematisch wohl kaum begründbar, Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- warum Antibiotika für Hunde nur mit 7 Prozent Mehr- wurfs auf Drucksache 16/1410 an die in der Tagesord- wertsteuer belegt werden, während Antibiotika für Kin- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006 3019

Dr. Barbara Höll (A) der, für ältere Menschen, für jüngere Menschen, für je- (Beifall bei der LINKEN) (C) den, der es braucht, mit 16 Prozent belegt werden. (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Nächster Redner ist der Kollege Manfred Kolbe, Dieses Thema ist nicht neu. Bereits in der CDU/CSU-Fraktion. 222. Sitzung des Deutschen Bundestages am 5. März 1998, damals noch in Bonn, habe ich einen entsprechen- (Beifall bei der CDU/CSU) den Antrag in den Bundestag eingebracht, den Sie mit den damaligen Mehrheiten am 7. Mai desselben Jahres Manfred Kolbe (CDU/CSU): abgelehnt haben. Es freut mich, inzwischen konstatieren Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! zu können, dass auch die Bundesgesundheitsministerin Der Antrag, über den wir jetzt zu später Stunde diskutie- Ende vergangenen Jahres öffentlich darüber nachge- ren, ist einer der klassischen PDS-Schauanträge, die man dacht und gesagt hat, dass sie Handlungsbedarf sehe und Woche für Woche erlebt. Auf der einen Seite erleben wir sich dem Thema widmen werde. immer wieder eine maßlose Überforderung des Sozial- Wir liegen mit unserer Regelung im europäischen staats. Ich denke da zum Beispiel an den vorhergehen- Spitzenfeld; Deutschland hat den vierthöchsten Mehr- den Tagesordnungspunkt. Sie fordern teilweise eine wertsteuersatz für Medikamente. Viele andere europäi- Grundsicherung oder Mindestlöhne von bis zu sche Staaten nutzen die Möglichkeit eines ermäßigten 1 400 Euro monatlich, worüber selbst in Ihren eigenen Mehrwertsteuersatzes bzw. erheben überhaupt keine Reihen Diskussionen entstanden sind. Als wir beim vor- Mehrwertsteuer auf Medikamente. herigen Tagesordnungspunkt dann aber über eine maß- volle Missbrauchskontrolle diskutiert haben, hat Ihre Die Regelung, die wir Ihnen vorschlagen, würde zu Rednerin, Frau Kipping, von „Sauereien“, „Gemeinhei- einer kurzfristigen Entlastung des Systems der Kran- ten“ und „Sozialspitzeln“ gesprochen. kenversicherungen führen. Die Krankenkassen und die Bürgerinnen und Bürger könnten im nächsten Jahr un- (Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Recht hat mittelbar um 2,6 Milliarden Euro entlastet werden. Das sie!) wäre möglich, wenn es uns als Politikerinnen und Politi- ker gelingt, sicherzustellen, dass die Senkung des Mehr- Ich zitiere nur; das sind nicht meine eigenen Worte. Auf wertsteuersatzes tatsächlich an die Krankenkassen und der anderen Seite nehmen Sie dem Staat die notwendige die Bürgerinnen und Bürger weitergegeben und damit Einnahmebasis weg. Das funktioniert nicht. auch eine Senkung des Beitragssatzes, die Sie ja immer Ich komme selbst aus einem Wahlkreis, Frau Höll, wo anstreben, um 0,2 Prozentpunkte ermöglicht wird. So (B) noch zu viele Bürgerinnen und Bürger PDS wählen. (D) sagt es der Vorsitzende des Apothekerverbandes Nord- rhein. Wir haben hier also eine Möglichkeit, kurzfristig (Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Die wählen Druck aus dem System zu nehmen und im Interesse der die richtige Partei!) Bürgerinnen und Bürger zu handeln. Das verfängt aber auch in Ihrer Wählerschaft immer we- Wir meinen, das ist auf diesem Feld notwendig; denn niger. Das erlebe ich jede Woche in Bürgersprechstun- das wäre zumindest ein Schritt in die richtige Richtung, den. Die Bürgerinnen und Bürger kommen zu uns, weil den Sie nutzen könnten, um ruhiger und gelassener sach- sie bei Ihnen ohnehin nichts erreichen; sie wissen, dass lich darüber zu diskutieren, wie die Probleme im Kran- Sie alles versprechen, aber nichts halten können. Das kenversicherungssystem gelöst werden können. Wir funktioniert nicht. werden nicht umhinkönnen, weiter über die Notwen- digkeit einer Stärkung der Beitragsseite auch der (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Krankenversicherung und über die Aufhebung der Bei- Jörg-Otto Spiller [SPD]) tragsbemessungsgrenze zu diskutieren. Wir müssen die Es fehlt nur noch Mallorca und Freibier für alle und zah- Krankenversicherung insgesamt gerechter gestalten, so- len soll der liebe Gott. dass die, die sehr viel verdienen, sich nicht privat versi- chern müssen, sondern in das System der gesetzlichen Frau Höll, nachdem Sie eine ganze Reihe von Jahren Krankenversicherung einbezogen werden können. im Haushaltsausschuss verbracht haben, sind Sie jetzt Finanzpolitikerin und wie ich Mitglied des Finanzaus- Aber der ermäßigte Mehrwertsteuersatz auf apothe- schusses. Ich hätte von Ihnen als Finanzpolitikerin zu- kenpflichtige Medikamente wäre ein erster kleiner mindest ein Wort darüber erwartet, woher die Schritt, den wir machen könnten und der umso notwen- 3 Milliarden Euro kommen sollen, die uns durch die von diger ist, als Sie angedroht haben, die Mehrwertsteuer im Ihnen vorgeschlagene Maßnahme verloren gehen. Eine nächsten Jahr um 3 Prozentpunkte zu erhöhen. Das Antwort darauf sind Sie schuldig geblieben. Das ist op- würde im Klartext bedeuten: Haushaltssanierung des portunistisch und leichtfertig und keine seriöse Politik. Bundes auf Kosten der Kranken. Denn je kränker die Bevölkerung ist, umso höher sind die Zahlungen, die die (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Kranken über die Mehrwertsteuer leisten müssen. Das neten der SPD – Widerspruch der Abg. ist inhuman und kann nicht das sein, was wir als Politi- Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]) kerinnen und Politiker erstreben. Das macht Sie selbst bei Anträgen wie dem vorliegen- Ich danke Ihnen. den, über den man durchaus diskutieren kann, unglaub- 3020 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006

Manfred Kolbe (A) würdig. Denn von Ihrer Seite werden keine seriösen Vor- halb perfekt in das Bild der großen Koalition der kleinen (C) schläge zur Finanzierung gemacht. Schritte. Sie erhöhen die Mehrwertsteuer, schaffen es aber nicht, das System zu reformieren. Dabei wäre das (Vorsitz: Vizepräsidentin Katrin Göring- bitter nötig. Eckardt) Wir lehnen, auch wenn man darüber – wie gesagt – Wie nötig das ist, hat die Bundesregierung jüngst in durchaus diskutieren kann, Ihren Antrag aus folgenden einer Antwort auf eine Kleine Anfrage der FDP-Bundes- Gründen ab: tagsfraktion bestätigt. Ich frage Sie: Warum werden Trüffel subventioniert? Warum gelten für Basilikum und Erstens. Unsere Arzneimittelpreise liegen trotz des Rosmarin der volle, für Dill oder Majoran der ermäßigte vollen Mehrwertsteuersatzes im europäischen Mittel- Steuersatz? Worin besteht der Zweck, Schlachtnebener- feld. Alle seriösen Studien haben ergeben, dass in unse- zeugnisse von Bibern, Walen, Schildkröten und Frö- ren Nachbarländern wie etwa in den Niederlanden, in schen mit einem ermäßigten Umsatzsteuersatz zu sub- Dänemark, in der Schweiz, in Irland und in Finnland die ventionieren? Arzneimittelpreise wesentlich höher liegen. Auf unsere Anfrage nach circa 20 Produktgruppen, Zweitens. Eine ganze Reihe von Staaten erheben den für die ein ermäßigter Umsatzsteuersatz gilt – die also vollen Mehrwertsteuersatz; wir sind nicht die Einzigen. subventioniert werden –, konnte die Bundesregierung Dänemark mit 25 Prozent und Österreich mit 20 Prozent nicht in einem einzigen Fall eine schlüssige Begründung liegen dabei an der Spitze. vorlegen. Deutlicher kann man die Absurdität des Sys- (Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Und dann tems kaum vorführen. kommen aber gleich wir!) (Beifall bei der FDP) Drittens. Die ermäßigten Mehrwertsteuersätze brin- Es ist bezeichnend für die Qualität der politischen Ar- gen das Problem der Abgrenzung mit sich. Schauen Sie beit von CDU/CSU und SPD, dass sie nur Steuern erhö- sich einmal die fast 30 Seiten Papier an, die für die Be- hen, sich eine Reform der Systeme aber überhaupt nicht schreibung der Abgrenzung zu den ermäßigten Mehr- vornehmen. 140 Seiten benötigt die Bundesregierung, wertsteuersätzen nötig sind. Diese Bürokratie bedeutet um wenigstens einen teilweisen Überblick darüber zu einen Mehraufwand für die Verwaltung. Sie fordern ja geben, für welche Produkte der ermäßigte und für wel- für apothekenpflichtige Arzneimittel einen ermäßigten che der volle Umsatzsteuersatz erhoben wird. Trotz die- Mehrwertsteuersatz. Das wirft gravierende Abgren- ses Kompendiums leiden Verwaltung und Wirtschaft zungsprobleme auf, die anzusprechen Sie nicht für nötig nach wie vor darunter, dass oftmals nicht ersichtlich ist, gehalten haben. (B) welcher Steuersatz denn nun angewendet werden soll. (D) Viertens. Wir können diese Maßnahme im Augen- Seit fünf Jahren müssen sich jeden Tag mindestens blick nicht finanzieren. Sie wissen, wir haben im Bun- fünf Unternehmen bei den Zolltechnischen Prüfungs- deshaushalt ein strukturelles Defizit in Höhe von und Lehranstalten erkundigen, wie ihre Produkte besteu- 50 Milliarden Euro jährlich. Dieses Defizit müssen wir ert werden. Sind Sie sich eigentlich darüber im Klaren, eingrenzen, um wieder einen verfassungsmäßigen Haus- welche Bürokratiekosten dieser Umsatzsteuerwahn mitt- halt verabschieden zu können. lerweile verursacht? Aber CDU/CSU und SPD können Fünftens. Eine entscheidende Frage wäre, wie man nur eines: Steuern erhöhen. Allein in der Bundesfinanz- die Kostensenkung durch die reduzierte Mehrwertsteuer verwaltung beschäftigen sich 500 Mitarbeiterinnen und an die Verbraucher weitergibt. Sie sind eine Antwort Mitarbeiter mit Fragen der Umsatzbesteuerung. Die darauf schuldig geblieben, wie Sie das – es ist in der Tat Bundesregierung erhöht lieber die Steuern, anstatt sich ein schwieriges Unterfangen – bewerkstelligen wollen. darum zu kümmern, wie man das Problem im System in Angriff nehmen kann. Es wäre an der Zeit, das System Wir sind bereit, über die reduzierten Mehrwertsteuer- für die Bürgerinnen und Bürger, aber auch für die Fi- sätze zu diskutieren. Ihren Einzelantrag lehnen wir aber nanzverwaltung selbst wieder verständlich zu machen. heute ab, weil uns nur eine Gesamtlösung weiterbringt. Aber Sie machen nichts. Sie erhöhen lieber die Mehr- Danke. wertsteuer und beenden dann die Debatte. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Selbst die Bundesregierung kann nicht sagen, wer in neten der SPD) unserem Land eine verbindliche Auskunft darüber ertei- len kann, ob für ein Produkt der ermäßigte oder der volle Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Umsatzsteuersatz fällig ist. Auf eine entsprechende An- Das Wort hat der Kollege Dr. Volker Wissing, FDP- frage antwortet das Bundesfinanzministerium – ich Fraktion. zitiere jetzt aus der Antwort auf die Anfrage –: Bestehen Zweifel, haben die Lieferer und Abnehmer die Möglich- (Beifall bei der FDP) keit, bei der zuständigen Stelle eine unverbindliche Zoll- tarifauskunft einzuholen. Dr. Volker Wissing (FDP): (Heiterkeit bei der LINKEN) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Mehrwertsteuer zu erhöhen, ist einfach; das Mehr- Außerdem können unverbindliche Zolltarifauskünfte wertsteuersystem zu reformieren, nicht. Es passt des- auch bei den Landesfinanzbehörden beantragt werden. – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006 3021

Dr. Volker Wissing (A) Die Auskunft ist unverbindlich. Ich frage mich, wer in Lydia Westrich (SPD): (C) diesem Land eigentlich eine verbindliche Auskunft ertei- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen zu len kann. Dazu sagt die Bundesregierung nichts, weil sie später Stunde! Liebe Frau Kollegin Höll, es ist keines- es offensichtlich auch nicht weiß. Ihr fehlt der Durch- wegs vergnügungssteuerpflichtig, zu addieren, wie viele blick beim Umgang mit den eigenen Steuergesetzen. Das Anträge von Ihrer Fraktion – Herr Kolbe hat es schon zeigt, wie dringend hier reformiert werden muss. angesprochen –, die in hohem Maße kostenrelevant sind und die wir als verantwortungsbewusste Koalition natür- (Beifall bei der FDP) lich ablehnen mussten, in den letzten Monaten in den Bundestag eingebracht wurden. Sie würden den jungen Sie sollten anfangen, unsinnig gewordene Ausnahme- Menschen, unseren Kindern Milliardenbeträge als Rie- tatbestände zu streichen. senhypothek hinterlassen, falls Ihre Anträge durchkom- (Zuruf von der SPD: Welche zum Beispiel?) men würden. – Frau Kollegin, zum Beispiel die Subventionierung von Sie haben in der Aktuellen Stunde gestern Ihr Steuer- Trüffeln und Gänsestopfleber. konzept erwähnt. Ich bin von Beruf Steuerbeamtin. Ich habe die Vermögensteuer bearbeitet. Wenn ich denke, (Beifall bei der FDP) welcher Verwaltungsaufwand für die paar Kröten not- wendig ist! Es kommt noch nicht einmal ein Bruchteil Was halten Sie davon? Diese Produkte werden nämlich der Summe zusammen, die Sie für die Umsetzung allein in Deutschland mit einem verminderten Umsatzsteuer- einer Ihrer Anträge brauchen würden. satz subventioniert. Auch das wäre übrigens ein Thema gewesen, das die Linkspartei hätte aufgreifen können. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Das ist doch (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Dagegen sind jetzt wider besseres Wissen!) aber die Trüffelschweine!) – Das ist wahr. Wenn Sie sich mit der Praxis näher be- Ihr Antrag hilft nicht weiter. Hier wird nur ein Aspekt schäftigen, stellen Sie fest, dass das eine ganz logische herausgepickt. Sie betreiben finanzpolitische Flick- Geschichte ist. schusterei. Es geht nicht darum, einen ermäßigten Steu- (Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Sie hatten ersatz für Medikamente zu fordern. Die Frage ist: Wie doch nie 7 Milliarden Kosten für die Erhe- bekommen wir das bei der Umsatzsteuer bestehende bung!) Strukturproblem in den Griff? Fehlanzeige bei der SPD und Fehlanzeige bei der CDU/CSU! Sie machen eine Politik des reinen Populismus nach (B) dem Motto: Nach mir die Sintflut. (D) (Jörg-Otto Spiller [SPD]: Und die Erleuchtung (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) ist bei der FDP!) Als gewählte Parlamentarierinnen und Parlamentarier – Herr Spiller, Sie haben eine breite Mehrheit und wol- haben auch Sie für die Zukunft unseres Landes Verant- len eine große Koalition sein. Sie haben eine historische wortung übernommen. Mehrheit (Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE]: Eben (Jörg-Otto Spiller [SPD]: Die Erleuchtung ist deshalb!) doch unabhängig von der Mehrheit!) Ihre Politik wird aber anscheinend immer noch vom und bekommen nichts zustande. Ihre Regierung weiß Ewiggestrigen bestimmt. nicht einmal, welche Umsatzsteuersätze wann anwend- bar sind. Dann wollen Sie Lösungen von der Opposition. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Auch so kann man sich, wenn man solche Mehrheiten Frau Kollegin, möchten Sie eine Zwischenfrage der auf sich vereint, aus der Verantwortung stehlen. Kollegin Barbara Höll zulassen? Die Steuererhöhungspolitik hilft den Bürgerinnen und Bürgern in Deutschland nicht weiter. Das ist kein Lö- Lydia Westrich (SPD): sungsansatz. Wenn wir über die Mehrwertsteuer reden, Da es schon so spät ist, würde ich normalerweise sollte die Strukturfrage im Vordergrund stehen und nicht Nein sagen. Aber, okay. die Erhöhung. Diese braucht Deutschland nicht. Deutschland braucht auch keine finanzpolitische Flick- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: schusterei der Linkspartei. Dann Frau Dr. Höll, bitte.

Vielen Dank. Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): (Beifall bei der FDP) Liebe Kollegin Westrich, ich finde, wir sollten uns auf ein uns zustehendes Diskussionsniveau begeben. Es ist doch wohl klar, dass der Verwaltungsaufwand für die Er- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: hebung der Vermögensteuer – er mag vielleicht 10 bis Als Nächste hat das Wort die Kollegin Lydia 15 Prozent betragen haben – zu keinem Zeitpunkt höher Westrich, SPD-Fraktion. war als die Einnahmen. Diesen Anschein haben Sie eben 3022 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006

Dr. Barbara Höll (A) erweckt. Sie werden mir sicher zustimmen, dass wir als schen Komponente zu fördern versuchen. Ein Gegenfi- (C) Gesetzgeber die Vermögensbesteuerung durchaus so ge- nanzierungsvorschlag taucht mit keiner Silbe auf. stalten können, dass auch tatsächlich Geld in die Kassen Ich kenne diese Forderung nach dem ermäßigten hineinkommt. Sie wissen genauso gut wie ich, dass wir Mehrwertsteuersatz für Medikamente aus Schreiben der – das ist der Knackpunkt – vor dem Hintergrund der zu pharmazeutischen Industrie, aus Gesprächen mit Apo- erwartenden Entscheidung des Bundesverfassungsge- thekern und Großhändlern. Manche Kollegen der FDP richts zur Erbschaftsbesteuerung sowieso gezwungen bringen sie vor. Auch einige Verbraucherschützer aus sein werden, eine Neubewertung der Immobilien vorzu- meiner Fraktion führen sie immer wieder an. Sie haben nehmen. Da diese Aufgabe sowieso ansteht, sollten wir aber nicht die bitteren Erfahrungen mit Steuersenkungen sie zeitnah angehen. gemacht wie wir Steuerpolitiker. Wir haben das an ande- Zur Erhebung ist zweifelsfrei eine Anschubfinanzie- rer Stelle bereits erlebt. rung erforderlich. Stimmen Sie mir zu, dass diese Auf- In den letzten Jahren haben wir doch sehr deutlich er- gabe erstens ansteht – sie muss sowieso erledigt werden – fahren, dass Steuersenkungen, die wir als Vorleistung er- und es zweitens sehr wohl möglich ist, auf diesem Wege bracht haben, nicht automatisch eine Preissenkung für Geld einzunehmen? Die Erwartungen bezüglich der Ein- die Verbraucherinnen und Verbraucher nach sich gezo- nahmen schwanken. Die Schätzungen – es gibt entspre- gen haben. Sie können auch in diesem Fall nicht sicher- chende Berechnungen – reichen von 15 Milliarden Euro stellen, dass die Umsatzsteuerersparnis in Milliarden- bis zu 50, 60 Milliarden Euro. Diese sehr hohen Schät- höhe durch die Anwendung des ermäßigten zungen würde ich persönlich nicht vertreten. Eine so Mehrwertsteuersatzes tatsächlich an die Krankenkassen hohe Besteuerung möchte ich nicht. Dazu liegen aber se- und Patienten weitergegeben wird. riöse Berechnungen vor. Daher kann man das nicht so einfach zur Seite schieben. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Das habe ich (Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der auch gar nicht gesagt!) SPD: Wo ist denn die Frage? – Gegenruf des Dieser Antrag würde lediglich ein Loch in Milliar- Abg. [CDU/CSU]: Das war ein denhöhe produzieren, das auf andere Weise wieder ge- Beitrag!) stopft werden müsste. Die sozialpolitische Komponente erreicht nicht diejenigen, für die sie gedacht ist. Sie he- Lydia Westrich (SPD): gen doch die gleichen Zweifel. Das machen Sie in Ihrem Liebe Frau Kollegin, dem kann ich nicht zustimmen. Antrag deutlich. Sie fordern nämlich gleichzeitig die Senkung der Zuzahlungspauschale für apothekenpflich- (B) Selbst bei penibelster Bewertung aller Goldmünzen- und (D) Briefmarkensammlungen, aller Gemälde, Teppiche oder tige Arzneimittel. Was ist denn das für eine Milchmäd- dergleichen ist eine derart hohe Einnahme nicht zu er- chenrechnung? Die Senkung der jeweiligen Zuzahlungs- warten. In den Jahren, in denen die Vermögensteuer zu- pauschalen um den durch die Mehrwertsteuerersparnis letzt erhoben wurde – das muss ich ehrlich sagen –, wur- erzielten Einsparbetrag, also mehrere Milliarden Euro, den kaum mehr als 1 oder 2 Milliarden Euro ist eine Mindereinnahme bei den Krankenkassen, die eingenommen. Der dafür notwendige Verwaltungsauf- teilweise durch die Hoffnung aufgefangen werden soll, wand betrug circa 20 Prozent dieser Summe. Der Auf- dass Medikamente tatsächlich billiger werden könnten, wand, der erforderlich wäre, um die notwendigen Ver- wenn der Staat auf seine Einnahmen verzichtet. Aber wir waltungsstrukturen wieder aufzubauen, wäre viel zu haben das Geld nicht mehr. Statt eines Gegenfinanzie- hoch. Dies ist im Übrigen nur ein Aspekt. rungsvorschlags, wie sich das gehören würde, legen Sie also noch Milliardenabgaben für die Versicherten oben Ich erinnere an die Vielzahl derartiger Anträge von drauf. Ich halte das für eine unverantwortliche Politik. Ihnen, die wir in diesem Haus schon behandelt haben. Die von Ihnen gewünschte sozialpolitische Komponente Das hat mit seriöser Politik überhaupt nichts zu tun. Ir- wird einfach der nächsten Generation in die Schuhe ge- gendwann werden wir uns mit Ihrem Steuerkonzept aus- schoben. einander setzen müssen. Ich kann aber gleich sagen, dass (Zuruf der Abg. Dr. Barbara Höll [DIE es etwas realitätsnäher sein müsste als das, was Sie jetzt LINKE]) vorgelegt haben. So einfach ist das für Sie. Das hat mit sozialer Gerech- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) tigkeit überhaupt nichts zu tun. Ihr heute vorliegender Antrag auf Ermäßigung des (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Mehrwertsteuersatzes für apothekenpflichtige Arznei- Wir, Herr Wissing, haben vor drei Jahren einen sehr mittel hätte einen Ausfall an Steuergeldern in Höhe von schmerzhaften Diskurs mit vielen Betroffenen geführt, jährlich sage und schreibe 3 Milliarden Euro zur Folge. und zwar mit dem umgekehrten Ziel, nämlich die beste- Sie bezeichnen das als überfällige sozialpolitische Kom- henden Mehrwertsteuerermäßigungen auf Lebensmittel ponente im Umsatzsteuerrecht. Sie wissen genau – das – da wäre die Gänsestopfleber dabei; darüber müssen können Sie auch nachlesen –, dass ein ermäßigter wir uns noch einmal gesondert unterhalten – Umsatzsteuersatz als Instrument der Verteilungspolitik völlig ungeeignet ist. Das ist äußerst zielungenau und er- (Dr. Volker Wissing [FDP]: Das ist eine sehr reicht selten die Gruppen, die Sie mit dieser sozialpoliti- gute Idee!) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006 3023

Lydia Westrich (A) und Kultur- und Druckerzeugnisse zu beschränken und Erhöhung der Mehrwertsteuer nicht leichten Herzens be- (C) die anderen auf den Normalsatz anzuheben. Das war schlossen worden ist. eine sehr schmerzhafte Diskussion und Ihre Partei hat (Dr. Volker Wissing [FDP]: Dann sagen Sie es gut daran mitgewirkt, dass sie so schmerzhaft abgelau- doch!) fen ist. Das Vorhaben ist, wie Sie wissen, im Bundesrat gescheitert. Trotzdem halte ich diesen Weg, die Steuer- Wir haben uns dazu durchgerungen, um die Tragfähig- basis für die öffentlichen Ausgaben besser zu sichern, keit der öffentlichen Finanzen sicherzustellen. Das mag immer noch für den richtigen. Wenn Sie dabei mithelfen, Ihnen, Herr Wissing, vielleicht nicht so wichtig sein. können wir gemeinsam einiges bewegen. Uns ist es aber wichtig, weil wir eingesehen haben, dass selbst ein moderater Ausgabenkurs nicht ausreicht, um (Dr. Volker Wissing [FDP]: Wenn Sie etwas die Lücken der öffentlichen Haushalte zu schließen. Die- Gescheites machen, machen wir immer mit! ser Verantwortung für die Zukunft stellen wir uns in der Das wissen Sie!) Koalition. Wenn Sie sich, Herr Wissing, davon aus- – Das ist schön. schließen, dann muss ich ehrlich sagen, dass ich daran zweifle, dass Sie den richtigen Beruf gewählt haben. 1968 wurde die Gesamtkonzeption für die Besteue- rung der Umsätze im Gesundheitswesen mit Einfüh- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten rung der Mehrwertsteuer entwickelt. Dem gingen lang- der CDU/CSU – Zuruf des Abg. Dr. Volker wierige Beratungen voraus und insgesamt hat sich dieses Wissing [FDP]) Konzept bewährt. Sie wissen, dass es umfassende um- Die Leichtigkeit, mit der Sie von der Fraktion Die satzsteuerliche Begünstigungen gibt, die Sozialversiche- Linke in Ihren Anträgen zusätzliche Milliarden Euro rungsträgern und Bürgerinnen und Bürgern gleicherma- verteilen wollen, können und wollen wir uns als Koali- ßen zugute kommen. Die Heilberufe und die tion wirklich nicht leisten, also auch nicht die ermäßigte Krankenhäuser sind von der Umsatzsteuer befreit. Wir Umsatzsteuerbelastung für Arzneimittel mit eventuellen haben einen ermäßigten Steuersatz für orthopädische Milliardengeschenken für Arzneimittelhersteller, wie Sie Hilfs- und Fortbewegungsmittel sowie für zahn- und kie- von der Linken es wollen. ferorthopädische Leistungen. Die einheitliche Besteue- rung der Arzneimittelumsätze zum allgemeinen Umsatz- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) steuersatz ist schon zum damaligen Zeitpunkt eingeführt Wir lehnen Ihren Antrag auf jeden Fall ab. Ausgeben worden und hat sich seit Jahren eingespielt. ist immer leichter als reales Sparen. Aber ich wäre froh, Die zurzeit weit überdurchschnittlichen jährlichen wenn wir zusammenarbeiten könnten, um in Brüssel Ausgabenzuwächse bei den gesetzlichen und privaten – hier haben Sie Recht, Herr Wissing – ein besseres Um- (B) (D) Krankenkassen für die Arzneimittelversorgung haben satzsteuerkonzept durchsetzen zu können. Das wäre eine mit der Umsatzbesteuerung überhaupt nichts zu tun. große Aufgabe, der wir uns alle stellen sollten. (Zuruf der Abg. Dr. Barbara Höll [DIE Danke schön. LINKE]) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Uns allen ist klar, dass wir diese Ausgabenzuwächse wirksam und langfristig begrenzen müssen. Das kann Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: aber nicht heißen, dass die öffentlichen Kassen von Das Wort hat der Kollege Harald Terpe, Bündnis 90/ Bund, Ländern und Gemeinden auf Milliarden von Euro Die Grünen. verzichten, nur in der Hoffnung, dass dann die Medika- mente ein bisschen billiger werden könnten. Denn ga- Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): rantieren können Sie das nicht. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Die Fehlentwicklung der immensen Ausgabenzu- Herren! Wir führen diese Diskussion vor dem Hinter- wächse müssen wir durch Gesetzesänderungen im Be- grund der durch die große Koalition organisierten neuer- reich des Gesundheitsministeriums angehen. Sie selbst lichen Defizite bei der Finanzierung des Gesundheits- mahnen ja in Ihrem Antrag eine grundsätzliche, dauer- wesens zulasten der Bürgerinnen und Bürger. Ich hafte Reform des Gesundheitswesens an. Wir in der verweise auf die beabsichtigte Mehrwertsteuererhöhung Koalition werden sie in Kürze nach intensiven Beratun- und auf die dadurch forcierte Steigerung der Arzneimit- gen durchführen. Sie sind gerne eingeladen, Ihre Vor- telausgaben. Sie sollten auf die Mehrwertsteuererhöhung schläge dazu einzubringen, allerdings ohne vorher groß- verzichten, meine Damen und Herren von der großen zügige Steuergeschenke an alle zu verteilen und unsere Koalition. finanziellen Möglichkeiten schon im Voraus auszu- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) schöpfen. Sie wissen, dass wir große Aufgaben zu be- wältigen haben. Sie wissen, dass an einer Haushaltskon- Des Weiteren nenne ich die Beseitigung des Steuerzu- solidierung überhaupt kein Weg vorbeiführt. schusses für versicherungsfremde Leistungen in Höhe von 4,2 Milliarden Euro zulasten der GKV. Das ist ein (Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Sozial ge- deutlicher Rückschritt auf dem Weg zur Steuerfinanzie- recht! Darauf warten wir noch!) rung, ganz zu schweigen von der Tatsache, dass Ihr Ich glaube, dass ich für die meisten Mitglieder der großkoalitionäres Konklave zur Gesundheitsreform nur Koalition in Anspruch nehmen kann, dass die geplante schwarzen Rauch produziert. 3024 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006

Dr. Harald Terpe (A) Vor diesem Hintergrund kommt der vorliegende An- Alles in allem bedeutet der Antrag der Linksfraktion (C) trag der Linken scheinbar sympathisch daher. Er sugge- eine potenzielle Umverteilung von Steuergeldern zu- riert uns eine wirksame Lösung. Aber wie so oft liegt der gunsten der Pharmaindustrie und gut Verdienender; we- Teufel im Detail und damit bei Ihnen, meine Damen und gen dieser Ungerechtigkeit kann er von der Fraktion des Herren von der Linksfraktion. Bündnisses 90/Die Grünen nur abgelehnt werden. Lassen Sie mich das kurz begründen: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Erstens. Eine gravierende Umsatzsteuersenkung in ei- nem Land wie Deutschland mit freier Preisbildung Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: schafft Spielräume für Preiserhöhungen bei Arzneimit- Herr Kollege Terpe, das war Ihre erste Rede im Deut- teln durch die Pharmaindustrie, wovor auch das AVWG schen Bundestag. Dazu gratuliert Ihnen das ganze Haus allenfalls zwei Jahre lang teilweise schützt, insbesondere und wir wünschen Ihnen viel Erfolg. deshalb, weil Sie es auf apothekenpflichtige Arzneimit- tel ausgedehnt haben. Deswegen wundert es mich per- (Beifall) sönlich gar nicht, dass ich vonseiten der Pharmaindustrie Ich schließe die Aussprache. und der Apothekerverbände Ihrem Antrag gegenüber in den vergangenen Tagen nur Wohlwollen vernommen Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf habe. Drucksache 16/732 an die in der Tagesordnung aufge- (Dr. Volker Wissing [FDP]: Was soll das denn führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie sind damit ein- heißen? Mögen Sie die etwa nicht?) verstanden? – Dann ist die Überweisung so beschlossen. Das Phänomen der Preissteigerungen lässt sich in den Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf: in der Begründung Ihres Antrags genannten Ländern Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- – Ländern mit niedrigen Umsatzsteuern – nachweisen. gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- In Großbritannien zum Beispiel ist zu beobachten, dass rung des Wohnungseigentumsgesetzes und an- die Einkaufspreise von Arzneimitteln wesentlich höher derer Gesetze sind als in Deutschland, dass also der Gewinn der Phar- mafirmen wesentlich größer ist als hierzulande. – Drucksache 16/887 – Zweitens. Vielleicht unbedacht, vielleicht aber auch, Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) um zu verschleiern, dass Ihr Antrag krankenkassenzen- Finanzausschuss (B) triert ist – wenn man berücksichtigt, wer diesen Antrag Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und (D) eingebracht hat, wäre auch das nicht verwunderlich –, Verbraucherschutz behaupten Sie, die erhofften Einsparungen in voller Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Höhe an die Kranken weiterzugeben. Dabei übersehen Hierfür wäre eigentlich eine Redezeit von einer hal- Sie aber zweierlei: zum einen, dass von dem Einsparbe- ben Stunde vorgesehen. Zu Protokoll gegeben haben ihre trag, den Sie genannt haben, gerade die Bezieher höherer Reden der Kollege Norbert Geis, CDU/CSU-Fraktion, Einkommen profitieren, zum anderen, dass die durch die der Kollege Dirk Manzewski, SPD-Fraktion, Kollegin Einsparbeträge reduzierten Einnahmen der Krankenkas- Mechthild Dyckmans, FDP-Fraktion, der Kollege sen von allen aufgebracht werden müssen, egal ob arm Dr. Ilja Seifert, Die Linke, der Kollege Peter Hettlich, oder nicht arm. Bündnis 90/Die Grünen, und für die Bundesregierung Drittens. Ihr Antrag würde zu Steuerausfällen in Mil- der Parlamentarische Staatssekretär Alfred Hartenbach1). liardenhöhe führen, ohne dass Sie einen konkreten Vor- Damit schließe ich die Aussprache. schlag zur Gegenfinanzierung unterbreiten. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwur- Nun nehme ich noch den Gedanken meiner Vorredne- fes auf Drucksache 16/887 an die in der Tagesordnung rin von der SPD auf: Es ist eher zu fragen, ob man Steu- aufgeführten Ausschüsse sowie an den Ausschuss für ersenkungstatbestände abschafft. Das habe ich jetzt al- Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz vor- lerdings nicht einfach nachgeplappert. Die Fraktion der geschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Grünen im Schleswig-Holsteinischen hat da- Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so be- rüber bereits Ende letzten Jahres diskutiert und einen schlossen. entsprechenden Antrag erarbeitet. Es ist also an der Ta- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf: gesordnung, darüber nachzudenken, ob reduzierte Steu- ersätze beispielsweise für Schnittblumen und Hunde- Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- und Katzenfutter sinnvoll sind. richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zu- sammenarbeit und Entwicklung (19. Ausschuss) (Dr. Volker Wissing [FDP]: Sie sind also auch für Steuererhöhungen! Aha!) – zu dem Antrag der Abgeordneten Thilo Hoppe, Ute Koczy, Hans-Josef Fell, weiterer Außerdem sei dahingestellt, ob das Ihre Genossen in den ostdeutschen Ländern, in denen Sie parlamentarisch ver- treten sind oder mit regieren, erfreuen würde. 1) Anlage 3 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006 3025

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (A) Abgeordneter und der Fraktion des BÜND- cosur“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – (C) NISSES 90/DIE GRÜNEN Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Diese Beschluss- empfehlung ist angenommen mit den Stimmen der Ko- Mit der strategischen Partnerschaft zwi- alition und der FDP bei Gegenstimmen der Linksfrak- schen der Europäischen Union und Latein- tion und Enthaltung der Fraktion des Bündnisses 90/Die amerika Ernst machen und deutsches En- Grünen. gagement ausbauen Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf: – zu dem Antrag der Abgeordneten Heike Hänsel, Dr. Diether Dehm, Wolfgang Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Gehrcke, weiterer Abgeordneter und der gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Pfän- Fraktion der LINKEN dungsschutz der Altersvorsorge und zur An- passung des Rechts der Insolvenzanfechtung Die Beziehungen zwischen EU und Latein- amerika solidarisch gestalten – Kein Frei- – Drucksache 16/886 – handelsabkommen EU-Mercosur Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) – Drucksachen 16/941, 16/1126, 16/1441 – Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Berichterstattung: Ausschuss für Arbeit und Soziales Abgeordnete Thilo Hoppe Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Anette Hübinger Hierfür war ebenfalls eine Aussprache von einer hal- Dr. Sascha Raabe ben Stunde vorgesehen. Zu Protokoll gegeben haben ihre Dr. Karl Addicks Reden der Kollege Dr. Günter Krings, CDU/CSU-Frak- Heike Hänsel tion, der Kollege Dirk Manzewski, SPD-Fraktion, die Hierfür war ebenfalls eine Aussprache von einer hal- Kollegin Mechthild Dyckmans, FDP-Fraktion, der Kol- ben Stunde vorgesehen. Zu Protokoll gegeben haben ihre lege Wolfgang Nešković, Fraktion Die Linke, der Kol- Reden die Kollegin Anette Hübinger, CDU/CSU-Frak- lege Jerzy Montag, Bündnis 90/Die Grünen, und für die tion, die Kollegen Lothar Mark und Sascha Raabe, SPD- Bundesregierung der Parlamentarische Staatssekretär Fraktion, der Kollege Karl Addicks, FDP-Fraktion, der Alfred Hartenbach2). Kollege Wolfgang Gehrcke, Fraktion Die Linke, und der Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- Kollege Thilo Hoppe, Bündnis 90/Die Grünen1). wurfs auf Drucksache 16/886 an die in der Tagesord- Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Dazu (B) schusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent- gibt es offensichtlich keine anderen Vorschläge. Dann ist (D) wicklung auf Drucksache 16/1441 zu dem Antrag der die Überweisung so beschlossen. Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen mit dem Titel Ich rufe Tagesordnungspunkt 18 auf: „Mit der strategischen Partnerschaft zwischen der Euro- päischen Union und Lateinamerika Ernst machen und Beratung des Antrags der Abgeordneten Harald deutsches Engagement ausbauen“. Der Ausschuss emp- Leibrecht, Dr. Karl Addicks, Jens Ackermann, fiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung, den An- weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP trag auf Drucksache 16/941 abzulehnen. Wer stimmt für Für einen Beobachterstatus Taiwans bei der diese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Ent- Weltgesundheitsversammlung haltungen? – Damit ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, der – Drucksache 16/968 – FDP und der Linksfraktion gegen die Stimmen von Überweisungsvorschlag: Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Auswärtiger Ausschuss (f) Ausschuss für Gesundheit (Widerspruch bei Abgeordneten des BÜND- Hier wäre ebenfalls eine halbe Stunde Aussprache NISSES 90/DIE GRÜNEN – Leo Dautzenberg vorgesehen. Zu Protokoll gegeben haben ihre Reden der [CDU/CSU]: Es war die Beschlussempfeh- Kollege Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg, CDU/ lung, ihr habt dafür gestimmt!) CSU-Fraktion, der Kollege Detlef Dzembritzki, SPD- – Sie haben für den Antrag gestimmt, aber gegen die Be- Fraktion, der Kollege Harald Leibrecht, FDP-Fraktion, schlussempfehlung; es ist schon alles richtig. Alles ist die Kollegin Monika Knoche, Fraktion Die Linke, und richtig, alles wird gut. der Kollege Jürgen Trittin, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.3) (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt Drucksache 16/968 an die in der Tagesordnung aufge- der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Damit sind Sie Die Linke auf Drucksache 16/1126 mit dem Titel „Die ebenfalls einverstanden. Die Überweisung ist damit so Beziehungen zwischen EU und Lateinamerika solida- beschlossen. risch gestalten – Kein Freihandelsabkommen EU-Mer-

2) Anlage 5 1) Anlage 4 3) Anlage 6 3026 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (A) Ich rufe Zusatzpunkt 8 auf: auch dann nicht, wenn alle anderen ihre Reden zu die- (C) sem Punkt zu Protokoll gegeben haben. Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Er- Wenn man sich in den Zeitungen und auf der Internet- richtung einer Bundesanstalt für den Digital- seite des Umweltbundesamtes die Werte für die Fein- funk der Behörden und Organisationen mit staubbelastung ansieht, dann muss man feststellen, dass Sicherheitsaufgaben (BDBOS-Gesetz – in der Bundesrepublik in zahlreichen Städten – nicht nur BDBOSG) in Großstädten –, in Ballungsräumen und überall dort, wo viel Verkehr ist, vermutlich schon zur ersten Jahres- – Drucksache 16/1364 – hälfte die Grenzwerte erreicht sein werden, die höchs- Überweisungsvorschlag: tens am Ende des Jahres hätten erreicht werden dürfen. Innenausschuss (f) Wir erleben in Deutschland also, dass deutsches und eu- Rechtsausschuss ropäisches Recht nicht eingehalten werden. Das kann so Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung nicht weitergehen, zumal wir alle wissen – das wissen Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO Sie von der SPD-Fraktion genauso wie Sie von der Hier wäre wiederum eine halbe Stunde Aussprache CDU/CSU-Fraktion –, dass die Belastung mit Feinstaub vorgesehen. Zu Protokoll gegeben haben ihre Reden der viel zu hoch ist und ein hohes Risiko für die Gesundheit Kollege Ralf Göbel, CDU/CSU-Fraktion, der Kollege darstellt. Wir müssen alles tun, um diese Werte zu sen- Gerold Reichenbach, SPD-Fraktion, Hartfrid Wolff, ken. FDP-Fraktion, Ulla Jelpke, Fraktion Die Linke, und (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Silke Stokar, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.1) Lange waren die Länder und die Kommunen untätig. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- Das hat sich inzwischen geändert. Überall werden wurfs auf Drucksache 16/1364 an die in der Tagesord- Anstrengungen unternommen, zum Teil werden Stra- nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Auch ßen komplett, zum Teil werden Ortsdurchfahrten auch hierzu gibt es keine weiteren Vorschläge. Dann ist die nur für LKW gesperrt. Die Kommunen bemühen sich. Überweisung so beschlossen. Trotzdem sinken die Werte nicht. Warum ist das so? Ins- Ich rufe Tagesordnungspunkt 20 auf: gesamt ist die Belastung in Ballungsräumen aufgrund des hohen Verkehrsaufkommens und aufgrund der vielen Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried Dieselfahrzeuge ohne Filter zu hoch. Es ist also ange- Hermann, Peter Hettlich, Dr. Anton Hofreiter, sagt, dringend zu handeln und nicht abzuwarten. weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Ich will kurz daran erinnern, wie lange wir uns schon (B) damit beschäftigen: Dieses Parlament hat 2002 beschlos- (D) Fördergesetz für Dieselrußpartikelfilter bald- sen, die neuen Grenzwerte einzuführen. Diese gelten seit möglichst vorlegen 2005. Wir haben seit 2004 einen Bundestagsbeschluss, hier etwas zu tun. 2005 hat das Kabinett beschlossen, ein – Drucksache 16/946 – Fördergesetz zur Einführung des Dieselrußfilters vorzu- Überweisungsvorschlag: legen. Inzwischen ist die große Koalition im achten Mo- Finanzausschuss (f) nat und noch nicht einmal schwanger mit einem solchen Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) Gesetz. Es ist wirklich zum Mäusemelken. Es ist nicht Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung nachzuvollziehen, dass nichts geschieht, obwohl alle Ausschuss für Gesundheit Haushaltsausschuss wissen, dass bei der Nachrüstung von Dieselfahrzeu- Federführung strittig gen, vor allem von Euro-3- und Euro-4-Fahrzeugen, die für die Masse der Belastung verantwortlich sind, etwas Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die getan werden muss. Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Neufahrzeuge werden – das wissen wir – inzwischen aufgrund von Konsumentenverantwortung überwiegend Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort dem mit Filtern gekauft. Aber bei den Altfahrzeugen brau- Kollegen Winfried Hermann, Bündnis 90/Die Grünen. chen wir dringend einen Schub. Wir haben dazu einen Vorschlag gemacht. Er ist in unserem Antrag skizziert. Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich will ihn angesichts der späten Stunde nur knapp um- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und reißen. Herren! Ich habe soeben erfahren, dass ich der einzige Wir wollen, dass rasch, nämlich noch in diesem Jahr, Redner zu diesem Tagesordnungspunkt bin. So habe ich zum 1. Juli, ein Fördergesetz eingeführt wird. Vor allen die Chance, Sie gnadenlos zu beschimpfen; denn Sie Dingen sollen Fahrzeuge mit Vollfilter gefördert werden, können sich nicht mehr dagegen wehren. Vielen Dank. und zwar mit 600 Euro. Eine Teilfilterlösung soll nur mit 250 Euro gefördert werden. Warum? Es macht keinen (Heiterkeit) Sinn, Dieselrußfilter, die nur eine Wirksamkeit von – Natürlich wird es nicht ganz so schlimm für Sie wer- 30 bis 40 Prozent haben, so stark wie voll wirksame, ge- den, aber ich kann dieses Thema nicht totschweigen, regelte Filter zu fördern. Die Experten werden dem zu- stimmen.

1) Anlage 7 (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006 3027

Winfried Hermann (A) Ich weiß, dass man im Umweltministerium brütet. Ich Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 21 auf: (C) weiß, dass man es im Finanzministerium aufhält. Erste Beratung des von den Abgeordneten Bärbel (, Parl. Staatssekretär: Nein! Höhn, Dr. Anton Hofreiter, Ulrike Höfken, weite- Falsch!) ren Abgeordneten und der Fraktion des BÜND- NISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent- Aber Sie werden das Thema nicht aufhalten können. Sie wurfs eines Gesetzes zur Stärkung der müssen eine Lösung finden. Sie sollten eine differen- Fahrgastrechte zierte Lösung finden, die gute Filter stärker fördert als weniger gute Filter. – Drucksache 16/1146 – Überweisungsvorschlag: Wir meinen, dass die Regelung durchaus aufkom- Rechtsausschuss (f) mensneutral sein sollte. Wer zukünftig mit einem Diesel- Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und fahrzeug ohne Rußfilter fährt, der soll mehr Steuern zah- Verbraucherschutz (f) len. Damit kann die Förderung mitfinanziert werden. Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Federführung strittig (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Hier ist interfraktionell eine halbe Stunde Aussprache Meine Damen und Herren von der großen Koalition, vorgesehen. – Dazu höre ich keinen Widerspruch. es ist an der Zeit, zu handeln, jetzt und hier einen Ge- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege setzentwurf zur Förderung der Nachrüstung von Diesel- Dr. Anton Hofreiter, Bündnis 90/Die Grünen. fahrzeugen vorzulegen. Warten Sie nicht noch länger! Sonst bestätigen Sie endgültig das Urteil, dass große Ko- (Zurufe von der CDU/CSU und der FDP: Ach alitionen nicht nur wenig hervorbringen, sondern dass nein! – Gegenruf der Abg. Bärbel Höhn das Wenige auch noch ziemlich langsam daherkommt. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir sind alle betroffen! Jeder fährt mit der Bahn! Hört ein- Vielen Dank. mal zu!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Ihre Reden zu Protokoll gegeben haben der Kollege Kollegen! Fahrgäste wollen sicher und pünktlich beför- Jens Koeppen, CDU/CSU-Fraktion, der Kollege Mi- dert und vernünftig informiert werden. chael Kauch, FDP-Fraktion, die Kollegin Gabriele Fre- (B) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (D) chen, SPD-Fraktion, und der Kollege Lutz Heilmann, Fraktion Die Linke.1) Nahezu 50 Prozent der Bevölkerung haben keinen regel- mäßigen Zugang zu einem PKW. Sie sind auf öffentliche Damit schließe ich die Aussprache. Verkehrsmittel angewiesen. Was geschieht, wenn diese Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Unternehmen, aus welchen Gründen auch immer, kein Drucksache 16/946 an die in der Tagesordnung aufge- vernünftiges Produkt anbieten, das heißt den Fahrgast führten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist nicht pünktlich befördern und unter Umständen nicht allerdings strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und der einmal vernünftig über die Verzögerung informieren? SPD wünschen Federführung beim Finanzausschuss, In nahezu allen Fällen hat man als Kunde bestimmte hingegen die Fraktionen der FDP, der Linken und des Rechte. Wenn man eine Waschmaschine kauft, wenn Bündnisses 90/Die Grünen beim Ausschuss für Umwelt, man irgendeine Dienstleistung in Anspruch nimmt und Naturschutz und Reaktorsicherheit. dann irgendetwas schief geht, hat man Rechte. Nur der Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der Fahrgast hat bei Verspätungen keinerlei Rechte. Dies Oppositionsfraktionen abstimmen: Federführung beim wollen wir ändern. Deshalb haben wir diesen Gesetzent- wurf eingebracht. Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- heit. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Dagegen? – Enthaltungen? – Dieser Überweisungsvor- schlag ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Wir wollen die Regeln des Bürgerlichen Gesetzbu- Stimmen der Opposition abgelehnt. ches – eigentlich eine Selbstverständlichkeit – auch für Fahrgäste in Kraft setzen. Gleiche Kundenrechte für Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der alle! Wir erreichen damit, dass die Unternehmen pünktli- Fraktionen der CDU/CSU und der SPD abstimmen: Fe- cher werden, dass die Fahrgäste informiert und, falls et- derführung beim Finanzausschuss. Wer stimmt für die- was schief geht, entschädigt werden. sen Überweisungsvorschlag? – Gegenstimmen? – Ent- Die DB AG schreit immer herum, die Fahrpreise haltungen? – Dieser Vorschlag ist mit den Stimmen der würden gigantisch ansteigen, wenn es zu einer solchen Koalition gegen die Stimmen der Opposition angenom- Regelung käme; all das bringe nichts und führe eher zu men. Nachteilen für die Kunden. Die Erfahrungen aus dem Ausland, zum Beispiel aus den Niederlanden, mit ent- 1) Anlage 8 sprechenden Maßnahmen haben ganz klar gezeigt: 3028 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006

Dr. Anton Hofreiter (A) Weder steigen die Fahrpreise erheblich an noch kommt derführung beim Rechtsausschuss. Die Fraktionen Die (C) es zu anderen Problemen. Im Gegenteil: In Holland Linke und Bündnis 90/Die Grünen hingegen möchten zeigte sich, dass die Bahnen sogar pünktlicher wurden. die Federführung beim Ausschuss für Ernährung, Land- Das heißt: Fahrgastrechte sind ein Gewinn für alle, für wirtschaft und Verbraucherschutz sehen. die Fahrgäste, aber auch für die Unternehmen; denn zu- friedene Kunden kommen wieder. Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) abstimmen, der eine Federführung beim Verbraucher- schutzausschuss vorsieht. Wer stimmt für diesen Über- Wir alle kennen die Probleme, die es immer wieder weisungsvorschlag? – Dagegen? – Enthaltungen? – Damit mit der DB AG und anderen Unternehmen gibt. Deshalb ist der Überweisungsvorschlag mit den Stimmen der Ko- kann ich nur dazu auffordern, nach den Beratungen un- alition gegen die Stimmen der Opposition abgelehnt. serem Gesetzentwurf zuzustimmen. Er ist ein Gewinn für alle, für Unternehmer und Kunden. Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD und der FDP, der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) eine Federführung beim Rechtsausschuss vorsieht, ab- stimmen. Wer stimmt für diesen Überweisungsvor- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: schlag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Damit Ihre Reden zu Protokoll gegeben haben der Kollege ist dieser Überweisungsvorschlag mit den Stimmen der Marco Wanderwitz, CDU/CSU-Fraktion, der Kollege Koalition gegen die Stimmen der Opposition angenom- Hans-Michael Goldmann, FDP-Fraktion, Marianne men. Schieder, SPD-Fraktion, Heidrun Bluhm, Fraktion Die Linke, und die Kollegin Rita Schwarzelühr-Sutter, SPD- Wir sind damit am Schluss der heutigen Tagesord- Fraktion.1) Damit schließe ich die Aussprache. nung. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- wurfs auf Drucksache 16/1146 an die in der Tagesord- destages auf Freitag, den 19. Mai 2006, 8 Uhr, ein. nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Hierbei Genießen Sie die gewonnenen Einsichten! Haben Sie ist die Federführung ebenfalls strittig. Die Fraktionen einen schönen Abend! der CDU/CSU, der SPD und der FDP wünschen die Fe- Die Sitzung ist geschlossen. 1) Anlage 9 (Schluss: 21.43 Uhr) (B) (D) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006 3029

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1 Anlage 2 Liste der entschuldigten Abgeordneten Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur entschuldigt bis Umsetzung der neu gefassten Bankenrichtlinie Abgeordnete(r) einschließlich und der neu gefassten Kapitaladäquanzricht- linie (Tagesordnungspunkt 11) Dzembritzki, Detlef SPD 11.05.2006* Axel Troost (DIE LINKE): Ich weiß nicht – viel- Ernst, Klaus DIE LINKE 11.05.2006 leicht geht es einigen von Ihnen wie mir: Nach Diskus- sionen zum Thema „Basel II“ bin ich immer etwas rat- ** Fuchtel, Hans-Joachim CDU/CSU 11.05.2006 los. Einerseits: In den jahrelangen Diskussionen über Gabriel, Sigmar SPD 11.05.2006 „Basel II“ wurden tatsächlich Verbesserungen in unse- rem Sinne durchgesetzt, zum Beispiel für Kredite an Griefahn, Monika SPD 11.05.2006** kleine und mittelständische Unternehmen, zum Beispiel für Sparkassen und Genossenschaftsbanken. Ohne Zwei- Dr. Hendricks, Barbara SPD 11.05.2006 fel: Im Vergleich mit dem, was uns in der 14. Legislatur- periode vorlag, ist der aktuelle Gesetzentwurf eine Ver- * Heynemann, Bernd CDU/CSU 11.05.2006 besserung. Nicht zuletzt ein Erfolg der Zusammenarbeit Hilsberg, Stephan SPD 11.05.2006 damals zwischen allen Fraktionen in diesem Hause, möchte ich anfügen. Jung (Konstanz), CDU/CSU 11.05.2006 Andererseits aber: Aus vielen Gesprächen mit kleinen Andreas und mittelständischen Unternehmen – ich arbeite ja auch Kelber, Ulrich SPD 11.05.2006 als Berater für Betriebsräte in diesem Bereich – weiß ich, dass dort immer noch Klagen kommen: Mein Kredit Krüger-Leißner, SPD 11.05.2006** wird teurer, wegen „Basel II“, sagt meine Bank. Oder: Angelika Ich kriege gar keinen Kredit mehr, wegen „Basel II“, sagt meine Bank. (B) Lafontaine, Oskar DIE LINKE 11.05.2006 (D) Wie passt das zusammen? Laurischk, Sibylle FDP 11.05.2006 Die erste Möglichkeit: Ich persönlich werde den Ver- Lintner, Eduard CDU/CSU 11.05.2006* dacht nicht los: Einige Banken nehmen „Basel II“ schlicht und einfach als Vorwand, um ihre Margen zu er- Dr. Lippold, Klaus W. CDU/CSU 11.05.2006 höhen. Ich sage bewusst: einige Banken, nicht alle. Aber das, was einige Banken machen, wäre dann schon ein Menzner, Dorothee DIE LINKE 11.05.2006 „unfreundlicher Akt“. Nahles, Andrea SPD 11.05.2006 Wir hier im Parlament arbeiten kiloweise Papier durch (allein über 2 Kilo „Solvabilitätsverordnung“ in- Otto (), Hans- FDP 11.05.2006 klusive Anhängen, ich habe es nachgewogen). Wir ler- Joachim nen, was eine „Risikogewichtungsfunktion“ ist und was sich hinter einem „Expected Loss“ verbirgt. Wir haben Raidel, Hans CDU/CSU 11.05.2006** – in der 14. Legislatur – seitenweise interfraktionelle Ramelow, Bodo DIE LINKE 11.05.2006** Anträge geschrieben. Und am Ende haben wir sogar tat- sächlich Verbesserungen durchgesetzt – aber nun müs- Schily, Otto SPD 11.05.2006 sen wir feststellen: Die kommen einfach nicht bei den Unternehmen an, zumindest nicht eins zu eins. Schmidt (Nürnberg), SPD 11.05.2006 Renate Wenn das so ist, dann müssen wir das auch so sagen. Dann müssen wir den Bürgerinnen und Bürgern sagen: Stiegler, Ludwig SPD 11.05.2006 Nicht „die Politik“ hat mal wieder Unsinn beschlossen, nein. Was wir beschlossen haben, geht in die richtige Thönnes, Franz SPD 11.05.2006 Richtung. Wir scheitern aber an der Marktmacht einiger Dr. Wiefelspütz, Dieter SPD 11.05.2006 Banken. Wir haben die Rechnung ohne den Wirt ge- macht. Das ist dann die Wahrheit und das sollten wir auch so sagen. * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versamm- lung des Europarates Die zweite Möglichkeit, wie das zusammenpasst: ** für die Teilnahme an der 114. Jahreskonferenz der Interparlamenta- Kleine und mittelständische Unternehmen haben zum rischen Union Teil tatsächlich so wenig Eigenkapital, dass Banken aus 3030 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006

(A) internen Risikokalkülen – aus völlig nachvollziehbaren mieren. Inzwischen liegt der Gesetzentwurf vor. Zu (C) internen Risikokalkülen – ihnen keine Kredite oder nur Anfang werden die drei wichtigsten Ziele des Reform- sehr teure Kredite geben. Dann aber haben die Klagen vorhabens aufgezählt: Die Willensbildung der Woh- der Unternehmen nichts – oder wenig – mit „Basel II“ zu nungseigentümer soll erleichtert werden, die Verfahrens- tun, sondern mit ich sage noch einmal: völlig nachvoll- ordnung und der Instanzenzug sollen geändert und die ziehbaren – Risikokalkülen der Banken. Wenn das so ist, Stellung der Wohnungseigentümer gegenüber den Kre- dann muss die Politik hier handeln. Dann müssen wir die ditinstituten bei der Geltendmachung von Hausgeldfor- Instrumente der staatlichen Förderbanken auch darauf derungen im Zwangsversteigerungsverfahren soll ver- ausrichten, dass dieses Problem angegangen wird. Und bessert werden. genau dies ist ja im Koalitionsvertrag auch versprochen worden. Zunächst ist jedoch ein Blick auf die Bedeutung des Wohnungseigentums in unserem gesellschaftlichen und Solche angebotsorientierten Maßnahmen machen al- wirtschaftlichen Leben zu richten; dies vor allem auch lerdings nur dann Sinn, wenn Sie endlich auf eine expan- deshalb, weil die Rechtspolitik eine Querschnittsaufgabe sive Finanzpolitik zur Stärkung der Binnennachfrage hat. Es ist immer auch notwendig, sich den Rahmen zu umschalten würden. Aber dies ist ja leider nicht zu er- vergegenwärtigen, in welchem wir versuchen, eine be- warten. stimmte gesetzliche Regelung zu treffen. Lassen Sie mich zu einem anderen Aspekt kommen. „Basel II“ ist ja nicht nur für kleine und mittelständische Für junge Familien und für die ganz überwiegende Unternehmen relevant. „Basel II“ ist wichtiger Baustein Mehrheit derer, die zur Miete wohnen, ist der Erwerb ei- zur Regulierung der internationalen Finanzmärkte. Und ner Eigentumswohnung oder gar der Bau eines Hauses damit zeigt „Basel II“ auch: Internationale Finanzmärkte der größte Wunsch und zugleich auch die größte Investi- sind grundsätzlich regulierbar. Auch auf den internatio- tion in ihrem Leben. Gerade für junge Familien ist die nalen Finanzmärkten gibt es Akteure, denen Staaten eigene Wohnung oder das eigene Haus von unschätzba- Spielregeln vorschreiben können. Es muss nur der politi- rem Wert. In diesen Wochen wird uns im Zusammen- sche Wille da sein. Und: Die wirtschaftlich mächtigsten hang mit der Einführung des Elterngeldes die drohende Staaten müssen gemeinsam handeln. Also: Das Gerede Bevölkerungskatastrophe vor Augen geführt. Trotz El- von den internationalen Finanzmärkten, denen wir alle terngeldes aber werden wir nicht zu Familien mit mehr hoffnungslos ausgeliefert sind, kann so nicht ganz stim- Kindern kommen, wenn wir nicht auch für ausreichen- men. den Wohnraum sorgen. In einer Dreizimmerwohnung mit noch so guter Ausstattung lässt sich auf Dauer gese- Natürlich: Wir müssen genau hinschauen. Wir müs- hen kein Vier- oder Fünfpersonenhaushalt unterbringen. (B) sen fragen: Wie soll da eigentlich was geregelt werden? Die Förderung von Wohneigentum hat deshalb vor allem (D) Wie will „Basel II“ das Ziel erreichen, Finanzkrisen zu auch eine große familienpolitische Bedeutung. vermeiden? Wurde dafür wirklich alles getan? Und da habe ich im Detail doch noch Zweifel. Für den Kauf einer Eigentumswohnung oder für den „Basel II“ wäre die Möglichkeit gewesen, bestimmte Bau eines Eigenheimes ist viel Geld notwendig. Die Geschäfte für Banken teurer zu machen. Und ich sage: Mittel vor allem junger Familien reichen dafür meist vielleicht auch so teuer zu machen, dass sie sich einfach nicht aus. Deshalb geht es auch um die finanzielle Unter- nicht mehr lohnen. Was ist zum Beispiel mit Krediten, stützung durch den Staat. Die Koalition will aus diesem die Spekulation finanzieren? Oder was ist mit Derivaten, Grund KfW-Mittel locker machen. Ob dies in dem nöti- die kein realwirtschaftliches Geschäft absichern? Das gen Umfang gelingt, ist noch offen. Die Eigenheimzu- sind doch die Geschäfte, die systemweite Bankenkrisen lage und das Baukindergeld waren jedenfalls sehr gute auslösen. Und genau diese Geschäfte hätte „Basel II“ Instrumente, um Wohnungseigentum zu fördern. Die teurer machen können. Und zwar viel teurer. Und zwar Streichung dieser Mittel war ein schwerer Fehler. weltweit. Das selbst genutzte Wohnungseigentum hat jedoch Natürlich: „Basel II“ bringt in einigen Bereichen der auch im Alter große Bedeutung. Wohnungseigentum Bankenaufsicht Verbesserungen. Aber: Es wäre mehr schützt vor Mieterhöhungen, vor Kündigungen und sons- drin gewesen – wenn der politische Wille stark genug tigen Entscheidungen Dritter. Es gehört zu den sichersten gewesen wäre. Formen der Altersvorsorge. Sind die Hypotheken bezahlt, wirkt kostenfreies Wohnen wie eine Rentenerhöhung. Die Statistik zeigt, dass Wohnungseigentümer über 800 Euro Anlage 3 mehr im Monat verfügen können als Miethaushalte in der gleichen Situation. Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gestzes zur Zugleich bedeutet das Wohnungseigentum auch eine Änderung des Wohnungseigentumgesetzes und sichere Vermögensanlage. anderer Gesetze (Tagesordnungspunkt 17) Außerdem kurbelt die Nachfrage nach Wohnungs- eigentum die Bautätigkeit und damit eine der wichtigs- Norbert Geis (CDU/CSU): Die Koalition hat sich in ten Schlüsselindustrien unseres Binnenmarktes an. So ihrem umfangreichen Koalitionsvertrag unter anderem könnten die so dringend notwendigen Arbeitsplätze ge- vorgenommen, das Wohnungseigentumsgesetz zu refor- schaffen werden. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006 3031

(A) Aus all diesen Gründen ist die Förderung des Eigen- können so eher den tatsächlichen Verhältnissen ange- (C) heimes nach wie vor eine wichtige Aufgabe der Politik. passt werden. Das eigene Haus wie auch die Eigentumswohnung schaffen Sicherheit im Alter und geeigneten Wohnraum Ferner ist vorgesehen, dass die jetzt notwendige Zu- für junge Familien. Deutschland braucht mehr Woh- stimmung dinglich Berechtigter zu von der Eigentümer- nungseigentum. Mit 41 Prozent haben wir den niedrigs- gemeinschaft getroffenen Vereinbarungen künftig in ten Stand in Europa. weitem Umfang entbehrlich ist. Dies ist in groben Skizzen der Rahmen, in dem der Insgesamt ist die Förderung von Mehrheitsentschei- vorliegende Gesetzentwurf zu sehen ist. Der Entwurf dungen der Wohnungseigentümer sachgerecht, da hier- versucht dem Anliegen, Wohnungseigentum zu fördern, durch praktikable Lösungen für viele inzwischen in die gerecht zu werden. Jahre gekommene Wohnungseigentumsanlagen ermög- licht werden, bei denen bislang Modernisierungsgegner Es wird deutlich, dass durch die Novellierung die notwendige Maßnahmen mit juristischen Mitteln verzö- Stellung des Wohnungseigentümers, insbesondere des gert oder gar unmöglich gemacht haben. Natürlich gibt Eigentümers, der sein Wohnungseigentum selbst nutzt, es gegen die Erweiterung der Mehrheitsentscheidung gestärkt werden soll. auch Bedenken. Alles in allem gesehen wird jedoch die Dies gilt für die Erleichterung der Willensbildung der Stellung der Eigentümer gestärkt. Die begrüßen wir. Eigentümergemeinschaft. Die grundlegenden Regelun- Eine weitere wesentliche Änderung des WEG sieht gen für das gemeinschaftliche Zusammenleben der der Entwurf insoweit vor, als das bisherige FGG-Verfah- Wohnungseigentümer werden durch Vereinbarungen ren aufgegeben und die Regelungen der ZPO eingeführt festgelegt, die meist schon in der so genannten „Gemein- werden sollen. Damit verbunden ist eine Änderung des schaftsordnung“ niedergelegt sind. Diese Vereinbarun- Instanzenzuges: Erstinstanzlich ist das Amtsgericht, in gen sind einstimmige Beschlüsse. Sie sind die Regel. zweiter Instanz das Oberlandesgericht und letztinstanz- Nur in Ausnahmefällen, wenn unter anderem das Gesetz lich ist der Bundesgerichtshof zuständig. Um den BGH es vorsieht, können Entscheidungen durch Mehrheitsbe- nicht zu sehr zu belasten, soll die Nichtzulassungsbe- schlüsse herbeigeführt werden. schwerde für eine Übergangszeit von fünf Jahren ausge- Dies ist in vielen Fällen ein untragbarer Zustand, dann schlossen sein. zum Beispiel, wenn wichtige Maßnahmen zu treffen Die Überführung der Wohnungseigentumsstreitigkei- sind, aber keine Einstimmigkeit zu erzielen ist. Deshalb ten aus der freiwilligen Gerichtsbarkeit in das Verfahren erweitert der Gesetzesentwurf die Möglichkeit, solche nach der ZPO findet die uneingeschränkte Zustimmung (B) Entscheidungen künftig auch ohne Einstimmigkeit, also der Länder. Kritisiert wird die Zuständigkeit der Ober- (D) mit Mehrheit, treffen zu können. landesgerichte für die zweite Instanz. Der Entwurf hat Dann können die Wohnungseigentümer auf diese die zweitinstanzliche Zuständigkeit des Oberlandesge- Weise unter bestimmten Voraussetzungen Modernisie- richtes deshalb gewählt, um schneller zu einer Verein- rungsmaßnahmen beschließen, auch wenn damit nicht heitlichung der Rechtsprechung zu kommen. Dies ist ein alle Eigentümer einverstanden sind – § 16 IV WEG. guter Vorschlag. Dies gilt auch für die nunmehr vorgesehene Möglich- Für die Wohnungseigentümer stellen der Wegfall des keit, Veräußerungsbeschränkungen durch Mehrheitsbe- FGG-Verfahrens und der damit verbundene Wegfall des schluss aufzuheben und die entsprechende Eintragung Amtsermittlungsgrundsatzes zweifellos eine Erschwer- im Grundbuch zu löschen. Dadurch ist es dem einzelnen nis dar, da sie jetzt gezwungen sind, ihre Rechte selbst Wohnungseigentümer eher möglich, sein dingliches Ei- zu verfolgen. Es darf jedoch nicht übersehen werden, gentum zu versilbern. dass jetzt unter anderem auch die Möglichkeit besteht, ein Versäumnisurteil zu erlassen. Das kann zu einer will- Durch Mehrheitsbeschluss kann künftig auch unter kommenen Beschleunigung des Verfahrens führen und bestimmten Voraussetzungen eine neue Verteilung der bedeutet deshalb eine Verbesserung der Stellung des Ei- Betriebskosten erfolgen. Bislang war dies nur mit Ein- gentümers bei der Verfolgung seiner Rechte. Das Für stimmigkeit zu erreichen. Auch dies ist zu begrüßen. und Wider ist aber genau zu bedenken und abzuwägen. Würde es in diesen Fällen bei der Notwendigkeit der Einstimmigkeit verbleiben, würde sich der, der durch die Auch die Detailregelungen, wie die Parteistellung im Neuverteilung belastet wird, immer dagegen wehren und Beschlussverfahren sinnvoll und wie die Beiladung zu es käme unter Umständen nicht zu einer gerechten Ver- gestalten ist, bedürfen noch der näheren Prüfung. teilung der Betriebskosten. Zu begrüßen ist auch die vorgesehene Einführung ei- In diesem Zusammenhang ist auch der im Entwurf ner Beschlusssammlung beim Verwalter. Wir halten es vorgesehene Anspruch des Einzelnen auf Anpassung ei- für richtig, dass die Wirksamkeit bestimmter Beschlüsse ner Vereinbarung zu sehen. Mit gerichtlicher Hilfe soll nicht von der Aufnahme in die Beschlusssammlung ab- er die Möglichkeit erhalten, eine Vereinbarung, durch hängig gemacht wird. Beschlüsse müssen also auch Gül- die er in besonderer Weise ungerecht belastet wird, an tigkeit haben, wenn der Verwalter es versäumt hat, sie in eine gerechte Lösung anzupassen. Mit diesem neu vor- die Beschlusssammlung aufzunehmen. Es wäre auch gesehenen Anpassungsanspruch können ungerechte Ver- falsch, das Grundbuch mit der Sammlung der Be- hältnisse beseitigt werden. Die rechtlichen Verhältnisse schlüsse zu belasten. 3032 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006

(A) Durch eine Öffnungsklausel haben die Länder künftig lang geltende Einstimmigkeitsprinzip hat in der Praxis (C) die Möglichkeit, den Aufteilungsplan und die Abge- sehr häufig dringend gebotene Entscheidungen verhin- schlossenheitsbescheinigung statt von der Baubehörde dert und Wohnungseigentum damit unattraktiv gemacht. auch von einem öffentlich bestellten und vereidigten Sachverständigen vornehmen zu lassen. Dies bedeutet Wir werden allerdings in den nächsten Wochen im eine Erleichterung für die Eigentümer. Darüber hinaus Detail zu diskutieren haben, inwieweit bei den einzelnen gibt es sogar den Vorschlag, auf die Abgeschlossenheits- vorgeschlagenen konkreten Änderungen zwischen den bescheinigung gänzlich zu verzichten. In der Ausschuss- Individualinteressen einerseits und den Mehrheitsinte- beratung werden wir darüber zu befinden haben. ressen andererseits sachgerecht abgewogen worden ist. Schließlich ist die Stärkung der Wohnungseigentümer Gut finde ich, dass künftig zwingend eine aktuelle gegenüber Kreditinstituten bei der Geltendmachung von Beschlusssammlung geführt werden soll. Dies ermög- Hausgeldforderungen in der Zwangsversteigerung zu be- licht zum einen einem potenziellen Erwerber, sich über grüßen. Durch die Änderung der Rangklassen des § 10 die vergangenen Beschlüsse der Gemeinschaft umfas- ZVG sollen die Wohnungseigentümer ein, wenngleich send zu informieren, um besser einschätzen zu können, auch eng begrenztes, Vorrecht für Hausgeldforderungen was auf ihn zukommt. Zum anderen hilft dies natürlich vor den dinglich abgesicherten Ansprüchen der Kre- auch der Gemeinschaft selbst, da hierdurch besser ge- ditinstitute erhalten. Auf diese Weise können Hausgeld- währleistet ist, dass bei Beschlüssen bereits einmal ge- ansprüche gegen zahlungsunwillige Miteigentümer, die fasste Beschlüsse und/oder ergangene gerichtliche Ent- bisher regelmäßig nicht eingetrieben werden konnten scheidungen in gleicher Sache nicht übersehen werden. und deshalb von den übrigen Miteigentümern übernom- Für nur folgerichtig halte ich es als Konsequenz aus men werden mussten, eher geltend gemacht werden. der Entscheidung des BGH, die Wohnungseigentümer Diese Stärkung der Wohnungseigentümer gegenüber den nun nicht mehr für Verbindlichkeiten der Gemeinschaft Kreditinstituten ist daher sehr zu begrüßen. gesamtschuldnerisch haften zu lassen. Zwar soll auch weiterhin die Möglichkeit bestehen, neben der Gemein- Wir werden den vorgelegten Gesetzentwurf in den schaft auch unmittelbar gegen den einzelnen Wohnungs- Ausschussberatungen eingehend prüfen. Insbesondere eigentümer vorzugehen. Dessen Haftung soll sich nun- werden wir die Vorschläge aus der Wirtschaft und den mehr aber auf seinen Anteil am Gemeinschaftseigentum Wohnungsverbänden bedenken. Schon jetzt sehen wir beschränken. zusätzlichen Reformbedarf bei der Regelung des Ver- hältnisses von Miteigentümer und Verwalter. Da der Verwalter zukünftig sowohl als Organ der Ge- meinschaft als auch in der davon zu unterscheidenden (B) Dirk Manzewski (SPD): Am heutigen Tag debattie- Funktion als Vertreter der Wohnungseigentümer auftritt, (D) ren wir hier in erster Lesung den Entwurf der Bundesre- stimme ich zudem mit der Bundesregierung darin über- gierung zur Änderung des Wohnungseigentumsgesetzes. ein, die Vorschriften über die Befugnisse und Aufgaben des Verwalters sowie seiner Vertretungsmacht neu zu So sehr sich das WEG in der Vergangenheit auch fassen. grundsätzlich bewährt hat, im Laufe der Zeit hat sich hier ein zunehmender Bedarf nach praktikableren Re- Für gut erachte ich zudem die beabsichtigte Verlage- geln gezeigt. Dies hat nicht zuletzt auch der bereits ange- rung der Wohnungseigentumsverfahren vom FGG zur sprochene Beschluss des Bundesgerichtshofs vom ZPO. Abgesehen davon, dass schon jetzt zum Teil Juni 2005 gezeigt. Mit diesem hat der BGH unter ande- Grundsätze der ZPO auch in Wohnungseigentumsver- rem zum ersten Mal auch klargestellt, dass die Woh- fahren anzuwenden sind, bietet die ZPO einfach die nungseigentümergemeinschaft im Rahmen der Verwal- Möglichkeit einer effizienteren und stringenteren Ver- tung des gemeinschaftlichen Eigentums selbst fahrensführung. rechtsfähig ist. Die hieraus resultierenden weitreichen- Ich finde, dass uns die Bundesregierung hier einen den Konsequenzen sind folgerichtig vom Gesetzentwurf guten Vorschlag für eine Reform des WEG vorgelegt aufgegriffen und dementsprechend die Rechte und hat. Ich bin jedenfalls gespannt auf die inhaltliche Dis- Pflichten sowie das Verwaltungsvermögen der Gemein- kussion mit Ihnen hierüber in den kommenden Wochen schaft der Wohnungseigentümer ebenso wie die Stellung und würde mich freuen, wenn Sie sich an dieser rege be- ihres Verwalters neu definiert worden. teiligen würden. Auch die rechtlichen Folgen einer Insolvenz der Ge- meinschaft – dies ist als logische Folge der Entscheidung Mechthild Dyckmanns (FDP): Das seit 1951 beste- des BGH nun möglich – sind den Besonderheiten des hende Gesetz über das Wohnungseigentum hat sich Wohnungseigentumsrechts angepasst und zudem ist der grundsätzlich bewährt. Rund 5 Millionen Eigentums- Schutz der Gläubiger der Gemeinschaft verbessert wor- wohnungen und die nach wie vor anhaltende Nachfrage den. nach dieser besonderen Rechtsform des Wohnens ma- chen deutlich, dass das Wohnungseigentum einen festen Soweit in Teilbereichen eine Beschlusskompetenz Bestandteil der Wohnungsversorgung in unserem Land und damit das Mehrheitsprinzip statt der bisher erforder- bildet. lichen Einstimmigkeit für Entscheidungen der Woh- nungseigentümer eingeführt werden soll, halte ich dies Seit In-Kraft-Treten des Wohnungseigentumsgesetzes vom Grundsatz her für richtig und notwendig. Das bis- haben sich jedoch die wirtschaftlichen, sozialen, gesell- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006 3033

(A) schaftlichen und politischen Rahmenbedingungen verän- solvenz aller übrigen Miteigentümer für die Schulden (C) dert mit der Folge, dass auch die Gesetze, die diese Rah- der Gemeinschaft mit seinem gesamten Privatvermögen, menbedingungen regeln, der Entwicklung angepasst was letztlich auch zu seinem eigenen wirtschaftlichen werden müssen. Die letzte umfassende Novellierung des Ruin führen kann. Nachdem der Bundesgerichtshof mit Wohnungseigentumsgesetzes erfolgte im Jahre 1973. seiner Entscheidung zur Teilrechtsfähigkeit bereits eine Seither eingeleitete Änderungen kamen über das Diskus- gesamtschuldnerische Haftung des einzelnen Woh- sionsstadium nicht hinaus. Handlungsbedarf zeigte sich nungseigentümers gegenüber Dritten ausgeschlossen erneut und vordringlich nach der „Jahrhundertentschei- hatte, geht die Bundesregierung jetzt noch einen Schritt dung“ des Bundesgerichtshofs vom 20. September 2000 weiter und begrenzt die Einzelhaftung auch im Verhält- zum so genannten Zitterbeschluss. nis der Wohnungseigentümer untereinander auf die Die FDP begrüßt, dass die Bundesregierung mit dem Höhe des jeweiligen Miteigentumsanteils. Das ist zu be- jetzt vorgelegten Gesetzentwurf den Versuch unter- grüßen. nimmt, eine schon länger als drei Jahrzehnte andau- Der jetzt vorgelegte Entwurf gibt Anlass zu der Hoff- ernde, aber mangels Einigkeit unter den Betroffenen und nung, dass die Novellierung des Wohnungseigentumsge- Beteiligten bislang ergebnislose Diskussion zu einem setzes ohne größeren politischen Streit über die Bühne guten Ende zu bringen. gehen kann. Die FDP ist bereit, hierzu ihren Beitrag zu Im Mittelpunkt des Gesetzentwurfs steht eine Erwei- leisten. Wir legen aber Wert auf eine sorgfältige Bera- terung der so genannten Beschlusskompetenzen. Der tung. Die hierfür erforderliche Zeit sollen und müssen Entwurf lässt verstärkt Mehrheitsentscheidungen der wir uns nehmen, damit das novellierte Wohnungseigen- Wohnungseigentümer zu. Er lockert das starre Einstim- tumsgesetz geeignet ist, dass Wohnungseigentum auch migkeitsprinzip bei der Verteilung der Betriebs-, Ver- in Zukunft attraktiv bleibt, auch und nicht zuletzt als waltungs- und Instandsetzungskosten zugunsten einer eine immer stärker genutzte Form der Altersvorsorge. mehrheitlichen Entscheidung. Auch Maßnahmen zur Modernisierung oder zur Energieeinsparung werden Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE): Ein Spruch sagt: Wer nach dem vorliegenden Entwurf zukünftig leichter zu klug ist, wohnt zur Miete. Natürlich in einer Wohnung realisieren sein. Das ist zu begrüßen. Hierdurch wird die nach Wunsch, in guter Lage, pflegeleicht und wartungs- Handlungsfreiheit der Wohnungseigentümer gestärkt arm, mit netter Nachbarschaft und für einen akzeptablen und die Willensbildung der Eigentümergemeinschaften Preis. Service inklusive, denn dafür wird Miete gezahlt. erleichtert. Besondere Bedeutung wird dies insbesondere für mittlere und größere Wohnanlagen haben. Hier war Trotzdem entscheiden sich Menschen für Wohneigen- (B) in der Vergangenheit die erforderliche Einstimmigkeit tum. Und dagegen ist auch nichts einzuwenden. Die (D) für Instandhaltungs- oder Modernisierungsmaßnahmen Fraktion DIE LINKE, steht für das gleichberechtigte Ne- nicht oder nur schwer zu erreichen. Dadurch ist es in vie- beneinander von selbst genutztem Wohneigentum, Woh- len Fällen zu einem Renovierungsstau gekommen. Die nen zur Miete oder in einer Genossenschaft. neue Regelung kann dazu beitragen, diesen abzubauen. Viele, meines Erachtens zu viele Menschen erwerben Ob es zu einem Investitionsschub kommen wird, Wohnimmobilien als Teil einer Wohneigentumsanlage bleibt im Hinblick auf das Erfordernis einer Mehrheit – zur Selbstnutzung oder als Kapitalanlage –, ohne zu von mehr als drei Vierteln aller stimmberechtigten Ei- wissen, was auf sie zukommt. Neben den nicht unerheb- gentümer und mehr als der Hälfte der Miteigentumsan- lichen Pflichten für das „Sondereigentum“ kommt die teile abzuwarten. Im Gesetzgebungsverfahren wird da- Verantwortung als Miteigentümer am „Gemeinschafts- her zu erörtern sein, ob dieses Mehrheitserfordernis eigentum“. Bewährtes Instrument für die Verwaltung, praktikabel ist oder möglicherweise eine zu hohe Hürde den Erhalt, die Pflege und Erneuerung dieses Gemein- darstellt. schaftseigentums ist das Wohneigentumsgesetz. In jedem Fall zu begrüßen ist die vorgesehene Be- Ich kenne sehr unterschiedliche Wohneigentumsge- schlusssammlung. Auf diese Weise können sich Woh- meinschaften: Manche bestehen aus wenigen selbst nut- nungseigentümer und insbesondere Erwerber besser zenden Haus- bzw. Wohnungseigentümern, manche aus Klarheit darüber verschaffen, welche Rechte und Pflich- Eigentümern, die ihre Wohnung weit ab vom eigenen ten auf sie zukommen. Wohnort als Kapitalanlage laufen lassen, es gibt Mehrfa- Weiterer Erörterung bedarf die Entscheidung, wonach milienhäuser mit einer Mischung aus Selbstnutzern und sich Verfahren in Wohnungseigentumssachen zukünftig Kapitalanlegern bis hin zu Großwohnanlagen mit mehre- nach der Zivilprozessordnung und nicht mehr wie bisher ren hundert Wohnungen. Erfahrungen besagen, dass die nach dem Gesetz über die freiwillige Gerichtsbarkeit Rechte des einzelnen Eigentümers mit der Zahl der Mit- richten sollen. Hiermit verbinden sich Vorteile, aber glieder einer Eigentumsgemeinschaft schrumpfen und auch Nachteile, die die Durchrührung einer Anhörung die Zahl der Interessenskonflikte steigt. angezeigt erscheinen lassen. Viele Entscheidungen, die in einer Eigentümerge- Grundsätzlich positiv zu bewerten ist die in Aussicht meinschaft getroffen werden (müssen), haben oft nicht genommene Beschränkung der Haftung des einzelnen unerhebliche finanzielle Folgen oder können den Cha- Eigentümers. Nach der noch geltenden gesetzlichen Re- rakter der Wohnanlage und die Nutzung erheblich verän- gelung haftet der einzelne Wohnungseigentümer bei In- dern. Da jeder einzelne Eigentümer direkt betroffen sein 3034 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006

(A) kann, sind nach geltendem Recht einstimmige Entschei- und Weise – die Einbeziehung der Wohnimmobilien in (C) dungen Grundlage für existenzielle Veränderungen. Dies die geförderte Altersvorsorge befürworten, müssen wir schützt den Einzelnen vor Entscheidungen, zum Beispiel uns konsequenterweise mit den Problemen beschäftigen, über größere Investitionen, die ihn finanziell überfordern die die Wohnungseigentümergemeinschaften und rund und zum Verlust des Wohneigentums führen. Anderer- 15 Millionen Eigentümer seit vielen Jahren bewegen. seits kann ein Einzelner gewollte und gegebenenfalls er- forderliche Entscheidungen von deutlichen Mehrheiten Die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen begrüßt blockieren. diese Gesetzesänderung. Wir haben schon in der letzten Legislaturperiode eine Gesetzesänderung gefordert und Mit der Novellierung sollen auch schwerwiegende unterstützt. Ein entsprechender Gesetzentwurf wurde Entscheidungen durch eine verhältnismäßige Mehrheit noch unter der rot-grünen Koalition am 25. Mai 2005 im zugelassen werden. Dies muss in den Ausschussberatun- Kabinett beschlossen. gen noch einmal genau abgewägt werden – vor allem hinsichtlich des Vertrauensschutzes bei bestehenden Für uns war und ist es wichtig, für bestimmte Fälle Wohneigentümern –, auch wenn die Bundesregierung in das Einstimmigkeitsprinzip durch einen qualifizierten der Begründung beteuert, dass ihre Vorschläge ausgewo- Mehrheitsbeschluss abzulösen. Das Einstimmigkeits- gen und rechtlich zulässig sind. prinzip ermöglichte bisher einzelnen Miteigentümern die Blockade zum Beispiel von sinnvollen Modernisierungs- Die Einführung der Pflicht einer Beschlusssammlung maßnahmen und führte letztlich zu Ersatzvereinbarun- scheint sinnvoll, erhöht aber wie auch einige andere Än- gen, den so genannten Zitterbeschlüssen, die nach derungen den bürokratischen Aufwand und die Reg- Rechtsprechung des BGH auch ohne gerichtliche An- lungsdichte. fechtung von Anfang an unwirksam waren. In dem vor- liegenden Gesetzentwurf wird das Quorum für be- Die beabsichtigte Überführung der gerichtlichen Zu- stimmte Fälle auf drei Viertel der Eigentümerstimmen ständigkeit aus der freiwilligen Gerichtsbarkeit in die Zi- und 50 Prozent der Eigentumsanteile abgesenkt. Das ist vilprozessordnung halten wir für problematisch. immer noch eine hohe, aber nicht unüberwindliche Zu begrüßen ist die vorgeschlagene Änderung der Hürde. Sie erschwert aber auf jeden Fall die Blockaden, Rangklassen bei Zwangsversteigerungen zugunsten von sie erleichtert die Willensbildung und stärkt die Hand- Hausgeldansprüchen und zulasten der Banken. lungsfähigkeit von Wohnungseigentümergemeinschaf- ten. Hervorheben möchte ich das Recht jedes Eigentümers auf Baumaßnahmen zur Schaffung eines barrierefreien Diese Neuregelung betrifft nach § 22 WEG (2) Ent- (B) Zugangs zum Wohneigentum für behinderte Wohneigen- scheidungen zu baulichen Veränderungen, insbesondere (D) tümer oder Wohneigentümer, die ihr Eigentum an Men- bei Maßnahmen zur Modernisierung, die der nachhalti- schen mit Behinderungen vermieten (§ 22 WEG). Wir gen Erhöhung des Gebrauchswertes, der dauerhaften sollten bei der Beratung des Gesetzentwurfes in den Verbesserung der Wohnverhältnisse oder der Einsparung Ausschüssen prüfen, ob das noch genügt. Ein barriere- von Wasser und Energie dienen. Gerade in Zeiten stei- freier Zugang zu Wohnungen dient schließlich nicht nur gender Energiekosten müssen alle Maßnahmen unter- dem behinderten Eigentümer oder Mieter, sondern auch stützt werden, die die Belastungen der Eigentümer und Menschen mit Behinderungen, die Selbstnutzer oder Mieter und der Umwelt durch die Ausschöpfung von Ef- Mieter besuchen wollen. Barrierefreie Häuser und Woh- fizienzpotenzialen nachhaltig verringern können. nungen sollten grundsätzlich zum „Stand der Technik“ gehören. Das nutzt allen und trägt auch dem Art. 3 GG, § 22 WEG (1) stellt klar, dass die Schaffung eines dem Bundesbehindertengleichstellungsgesetz und dem barrierefreien Zugangs für behinderte Wohnungseigen- künftigen Antidiskriminierungsgesetz Rechnung. Inso- tümer oder Mieter im Regelfall auch ohne die Einholung fern sollte generell bei Verlangen eines Wohnungseigen- einer Zustimmung der Wohnungseigentümergemein- tümers auf Schaffung eines barrierefreien Zugangs zum schaft gewährleistet ist. Wohneigentum die Zustimmung nicht erforderlich sein. Nach § 16 WEG (4) besteht künftig die Möglichkeit, den Verteilungsschlüssel einer Kostenregelung im Ein- Peter Hettlich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der zelfall – mit dem vorgenannten Quorum – abweichend deutsche Wohnimmobilienmarkt ist in den letzten Jahren zu gestalten, wenn zum Beispiel durch Baumaßnahmen in Bewegung geraten; ja man könnte sogar sagen, er nur eines von mehreren Gebäuden betroffen ist. Auch steht vor einem großen Umbruch. Auch wenn zum Bei- dies wird zu einer deutlichen Erleichterung im Verfahren spiel die Frage der Einbeziehung oder Nichteinbezie- führen. Und mit dem § 16 WEG (3) wird die Erfassung hung von Wohnimmobilien in REITs noch heftig um- und Abrechnung von Betriebs- und Verwaltungskosten stritten ist, so gibt es genügend Gründe, ungelöste erleichtert und den Eigentümergemeinschaften die not- Probleme des Wohneigentums jetzt anzugehen. wendige Flexibilität für die Immobilienverwaltung gege- ben. Privatisierung heißt nicht automatisch, dass große kommunale Wohnungsbestände – wie zuletzt in Dres- Ebenfalls unsere Zustimmung findet die Erweiterung den – an internationale Investoren verkauft werden, son- des § 12 um den Abs. 4, der eine Aufhebung von Veräu- dern bedeutet auch, dass Wohnungen an Mieter verkauft ßerungsbeschränkungen mit Stimmenmehrheit ermög- werden. Und da wir alle – auf die eine oder andere Art licht. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006 3035

(A) Wir begrüßen die verbindliche Einführung einer Be- nicht lähmen und in einem geordneten Verfahren gelöst (C) schlusssammlung, die aus unserer Sicht zu einer besse- werden. ren Informationsmöglichkeit von potenziellen Erwer- bern von Wohnungseigentum beitragen dürfte und Mit der Novelle des Wohnungseigentumsrechts ver- deutlich unbürokratischer als die geforderte Einführung folgen wir vier Ziele: eines Zentralgrundbuchs ist. Erstens. Wir wollen die Willensbildung innerhalb der Die Stellung von Wohnungseigentümern gegenüber Gemeinschaft erleichtern und das Wohnungseigentums- Banken wird bei der Geltendmachung von Hausgeldfor- recht entbürokratisieren. Nach heutigem Recht kann derungen in der Zwangsversteigerung gestärkt. Und die häufig ein einziger Wohnungseigentümer eine Maß- Position von Wohnungseigentümern gegenüber zah- nahme verhindern, die alle anderen für gut und richtig lungsunfähigen oder -unwilligen Eigentümern wird halten. Es gilt der Grundsatz, dass die Wohnungseigen- durch ein begrenztes Vorrecht vor Grundpfandrechten tümer ihre Angelegenheiten durch Vereinbarung und da- verbessert. mit einstimmig regeln. Mehrheitsbeschlüsse sind nur ausnahmsweise zulässig. Wir wollen das Prinzip der Und die künftige Behandlung von Gerichtsverfahren Einstimmigkeit dort, wo ein praktisches Bedürfnis dafür in Wohnungseigentumsangelegenheiten nach der ZPO wird auch aus unserer Sicht zu einer Aufwandsverringe- besteht, durch das Mehrheitsprinzip ersetzen. Das be- rung gegenüber der bisher üblichen freiwilligen Ge- trifft zum Beispiel Modernisierungsmaßnahmen oder die richtsbarkeit (FGG) führen und trägt einer Harmonisie- Verteilung von Betriebs- und Verwaltungskosten. rung mit anderen bürgerlich-rechtlichen Streitigkeiten Zweitens wollen wir die rechtlichen Verhältnisse zwi- Rechnung. schen Eigentümergemeinschaft, Wohnungseigentümern Im Großen und Ganzen stimmen wir dem Gesetzent- und Gläubigern der Eigentümergemeinschaft klarer re- wurf zu, allerdings haben wir auch noch Ergänzungs- geln. Nach der neuesten Rechtsprechung des Bundesge- bedarf anzukündigen. Wir sehen insbesondere bei der richtshofs ist die Gemeinschaft der Wohnungseigentü- Einsicht der Wohnungseigentümer in sämtliche Abrech- mer rechtsfähig. Diese Rechtsprechung hat in manchem nungs- und Verwaltungsunterlagen die Notwendigkeit Punkt Klarheit geschaffen und einiges vereinfacht, aber einer gesetzlichen Regelung. Des Weiteren sehen wir auch eine Vielzahl von Folgeproblemen entstehen las- Änderungsbedarf bei der Verwalterbestellung. Bei neu sen. Die Praxis ist daher verunsichert und wünscht eine errichteten Eigentumsanlagen wird der erste Verwalter Klärung durch den Gesetzgeber. Unser Entwurf spricht meist vom Bauträger bestimmt, für einen Zeitraum von sich dafür aus, die Entscheidung des Bundesgerichtshofs (B) fünf Jahren. Dies kann insbesondere bei der Geltendma- zu akzeptieren, und gibt der Praxis gleichzeitig die nö- (D) chung von Mängeln innerhalb einer Fünfjahresfrist zu tige Klarheit. Das betrifft vor allem die Frage der Haf- erheblichen Problemen führen. tung der einzelnen Wohnungseigentümer für Forderun- gen gegen die Gemeinschaft. Im vorliegenden Gesetzentwurf finden sich viele un- serer Vorstellungen wieder und daher wird er auch un- Drittens. Wir wollen die Gerichtsverfahren in Woh- sere Zustimmung bekommen. nungseigentumssachen mit den anderen bürgerlich- rechtlichen Streitigkeiten in Einklang bringen. Deshalb Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär bei der soll sich das Verfahren in Wohnungseigentumssachen Bundesministerin der Justiz: Der Bundestag behandelt zukünftig nach der Zivilprozessordnung und nicht mehr heute einen Gesetzentwurf, der Millionen von Menschen wie bisher nach dem Gesetz über die freiwillige Ge- in Deutschland betrifft: die Novelle des Wohnungseigen- richtsbarkeit richten. Das schont die Ressourcen der Jus- tumsgesetzes, kurz: WEG. tiz und gibt den Gerichten bessere Möglichkeiten der Konzentration und Beschleunigung. Ich möchte vorwegschicken: Die Geschichte des WEG ist eine Erfolgsgeschichte. Geschaffen im Jahre Viertens. Wir wollen den Wohnungseigentümern eine 1951, hat es in Deutschland erstmals echtes Eigentum an bessere Handhabe gegen solche Miteigentümer ver- Teilen eines Gebäudes ermöglicht. Viele Menschen er- schaffen, die ihre Hausgelder nicht mehr zahlen – sei es, hielten so erst die Chance, in den eigenen vier Wänden weil sie zahlungsunwillig oder zahlungsunfähig sind. zu wohnen. Das Gesetz ist bei den Bürgern angekom- Künftig sollen die Wohnungseigentümer mit einem be- men und hat sich bewährt. grenzten Vorrang vor Grundpfandrechten – die sich vor Wer eine Eigentumswohnung hat, weiß aber auch, allem Banken zur Sicherung ihrer Kredite eintragen las- dass es nicht immer harmonisch zugeht. Für viele Men- sen – die Zwangsversteigerung oder die Zwangsverwal- schen ist die eigene Wohnung das wertvollste, was sie tung betreiben können. besitzen. Da ist es einem nicht gleichgültig, wie eine Nach allem handelt es sich also um Änderungen, die Wohnanlage verwaltet wird. das Wohnungseigentum gerechter und praktikabler ma- Kein Gesetz wird deshalb Meinungsverschiedenhei- chen. Sie kommen den Bürgerinnen und Bürgern unmit- ten unter Wohnungseigentümern verhindern können. telbar zugute und entlasten gleichzeitig die Justiz. Dies Aber der Gesetzgeber muss Instrumentarien bereitstel- wird die Attraktivität des Wohnungseigentums auch für len, damit Meinungsverschiedenheiten die Wohnanlage die Zukunft sichern. 3036 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006

(A) Anlage 4 Regime befürworten würden, wenn dadurch ihre wirt- (C) schaftliche Lage verbessert würde. Zu Protokoll gegebene Reden Die Problemlösungsfähigkeiten der politischen Mo- zur Beratung der Anträge: delle stehen heute in Lateinamerika auf dem Prüfstand. Aufgrund der tiefen Krise, in der sich die Parteiensys- – Mit der strategischen Partnerschaft zwi- teme vieler lateinamerikanischer Länder gegenwärtig schen der Europäischen Union und Latein- befinden, kommt der bildungspolitischen Arbeit der amerike Ernst machen und deutsches Enga- deutschen Stiftungen vor Ort eine wichtige Rolle zu. gement ausbauen Denn Demokratie muss erlernt werden, um dauerhaft be- – Die Beziehungen zwischen EU und Latein- stehen zu können. Daher wollen wir politische Stiftun- amerike solidarisch gestalten – Kein Frei- gen, Kirchen, Gewerkschaften und Kulturorganisationen handelsabkommen EU-Mercosur in dieser Vermittlungsaufgabe unterstützen. (Tagesordnungspunkt 16) Das gesamte Ökosystem Lateinamerikas mit seinen immensen natürlichen Ressourcen und seiner außerge- wöhnlichen biologischen Vielfalt, ist von großem globa- Anette Hübinger (CDU/CSU): Angesichts des be- lem Interesse. Ergänzend zu den Tropenwaldschutzpro- vorstehenden EU-Lateinamerika-Gipfels in Wien befas- grammen sollte aber auch der indigenen Bevölkerung sen wir uns heute mit den Anträgen der Fraktion von beim Aufbau einer nachhaltigen Holzwirtschaft als Le- Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion der Linken. bensgrundlage geholfen werden. Bislang standen die Länder Lateinamerikas und der Ein Schwerpunkt der deutschen Entwicklungshilfe Karibik nicht mehr im Mittelpunkt des Interesses. Deut- liegt im Umwelt- und Ressourcenschutz. Die Vorreiter- sche entwicklungspolitische Aufgaben in Lateinamerika rolle deutscher Unternehmen im Bereich erneuerbarer und in der Karibik haben Kürzungen hinnehmen müs- Energien in Lateinamerika sollte ausgenutzt werden. sen, deutsche Direktinvestitionen stagnieren. In Anbe- Die EU-Staaten sind führender Direktinvestor in La- tracht dieser Situation vermisst die CDU/CSU-Fraktion teinamerika sowie ein bedeutender Investor in den Kari- in beiden Anträgen den nötigen breiten Ansatz, um die bikstaaten. Die Investitionen aus dem Subkontinent nach kulturell-historisch gewachsenen Beziehungen zwischen Europa sind jedoch gering. In dieser Situation sollte die Lateinamerika und Europa so zu intensivieren und aus- EU einen intensiveren Beitrag zur demokratischen Kon- zubauen, dass eine zukunftsfähige strategische Partner- solidierung, zu Wirtschaftswachstum und Entwicklung schaft entsteht. leisten. (B) (D) Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen enthält wich- Der Gipfel in Wien bietet die Gelegenheit, die 1999 in tige Punkte, die eine Unterstützung verdienen. Er ist je- Rio de Janeiro beschlossene strategische Partnerschaft doch nach unserer Auffassung abzulehnen, da Lösungs- mit dieser Region konsequent fortzusetzen. Deshalb set- vorschläge fehlen, um eine stabile wirtschaftliche zen wir uns auch für den erfolgreichen Abschluss des Partnerschaft weiterzuentwickeln. Assoziationsabkommens zwischen der EU und dem Für die CDU/CSU-Fraktion ist die Armutsbekämp- Mercosur ein. Günstige Rahmenbedingungen für die fung eines der zentralen Themen in Lateinamerika und Wirtschaftbeziehungen zwischen beiden Regionen müs- sen aber in beide Richtungen gehen, damit eine tragfä- in der Karibik. Gerade im Hinblick auf die Millenniums- hige Partnerschaft entstehen kann. entwicklungsziele, die Armut auf der Welt bis 2015 zu halbieren, sind in Lateinamerika größere Fortschritte als Die Fraktion Die Linke wirft in ihrem Antrag der EU bisher erforderlich. Lateinamerika ist weltweit die Re- vor, die EU würde Lateinamerika scheinparlamentari- gion mit den größten Einkommensunterschieden. Wir sche Strukturen überstülpen wollen und die Länder der müssen daher einen diversifizierten Entwicklungsansatz Karibik und Lateinamerikas bevormunden. Zugleich wählen. verlangt sie, dass wir unsere gelebten Erfahrungen in ei- nem demokratischen Rechtsstaat der Bevölkerung in den Bei der Armutsbekämpfung ist es für uns wichtig, die Ländern Südamerikas nicht vermitteln sollen. bedeutsame Rolle der Bildungs- und Ausbildungsmög- lichkeiten in den Vordergrund zu rücken, weil erst da- Das ist ideologische Bevormundung, einem Teil der durch ein langfristiges Entkommen aus der Armut mög- Weltbevölkerung unsere Erfahrungen mit Demokratie lich ist. und Rechtsstaatlichkeit vorzuenthalten. Die Fraktion Die Linke verkennt aus ihrer verblendeten ideologischen Die Armutsbekämpfung hat auch höchste Priorität, Sicht hierbei, dass eine Partnerschaft immer eine eigene um der Gefahr eines wieder erstarkenden Populismus zu Entscheidung beinhaltet. Diese Entscheidung können begegnen. Daher müssen die Entwicklungen in Vene- und wollen wir den Staaten Lateinamerikas und der Ka- zuela unter Präsident Chavez von uns weiterhin kritisch ribik nicht abnehmen. Schon allein aufgrund dieser Ar- beobachtet werden. gumentation ist ihr Antrag abzulehnen. In diesem Zusammenhang muss uns die Veröffentli- Die Koalition wird ihrerseits wegen der Wichtigkeit chung des Entwicklungsprogramms der Vereinten Natio- der Debatte in Kürze einen eigenen Antrag vorlegen, der nen zu denken geben, das viele Menschen von der De- sich in detaillierter Form mit der Partnerschaft zu Latein- mokratie enttäuscht sind und deshalb wieder autoritäre amerika und der Karibik auseinander setzen wird. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006 3037

(A) Sascha Raabe (SPD): Beginnen möchte ich meinen Entwicklungen in der Region Rechnung tragen möchte, (C) Redebeitrag zu der EU-Lateinamerika-Debatte heute mit findet derzeit eine Überprüfung und Neujustierung der einem viel zitierten Buchtitel aus den 70er-Jahren: „Die Partnerländer statt. Das Lateinamerika-Konzept des offenen Adern Lateinamerikas“. Ich greife den Titel auf, BMZ von 2000, welches als politische Leitlinie in der weil ich denke, dass die Adern Lateinamerikas heutzu- entwicklungspolitischen Zusammenarbeit dient, wird tage noch an vielen Stellen offen sind. Lateinamerika derzeit überarbeitet und entsprechend den neuen Gege- liegt vielleicht nicht mehr auf der Intensivstation kolo- benheiten aktualisiert. nialer oder diktatorischer Despoten, dafür sind die Adern der Armut noch offen. 40 Prozent der Menschen in La- Komplementär zur deutschen bilateralen Entwick- teinamerika leben in Armut – mit weniger als 2 US-Dol- lungszusammenarbeit ist die Europäische Union in La- lar pro Tag – und die Einkommensungleichheiten sind in teinamerika als wichtigster Geber tätig. Durch ihre keinem anderen Kontinent größer. Alleine wird es für jüngst verabschiedete gemeinsame entwicklungspoliti- die Bürgerinnen und Bürger aus Südamerika fast sche Erklärung, den „Europäischen Konsens“, stellt die unmöglich sein, ihre Wunden zu heilen. Daher ist von EU ihr Engagement auch hier deutlich unter Beweis. europäischer Seite Hilfe geboten. Nach der Wahl mehrerer linksorientierter Regierungen besteht ein enormer Erwartungsdruck an die Regierun- Ich freue mich, dass sich heute und morgen über gen, Erfolge im Kampf gegen die soziale Misere vor- 60 Staats- und Regierungschefs aus Lateinamerika und zuweisen. An dieser Stelle begrüße ich die nationalen Europa in Wien versammeln, um ihre Beziehung weiter Armutsbekämpfungsstrategien und möchte diese unter- auszubauen und gemeinsam Lösungen für offene Fragen stützen. zu finden – so viele waren seit dem Wiener Kongress nicht mehr in Wien versammelt. Dies zeigt – entgegen Einen großen Armut reduzierenden Beitrag können vieler anderer Meinungen –, dass die Partnerschaft zwi- wir aber natürlich auch in anderen Bereichen leisten, wie schen Europa und dem lateinamerikanischen Kontinent beispielsweise mit unserer Handelspolitik. Die EU hat durchaus eine große Bedeutung hat. Letzte Woche hat als wichtiger Handelspartner für Lateinamerika ein gro- sich unser Außenminister Frank-Walter Steinmeier ßes Interesse daran, die Handelsbeziehungen zu harmo- schon einmal vor Ort ein Bild gemacht und die Bedeu- nisieren. Ich möchte das Gipfeltreffen in Wien nicht auf tung dieses Kontinentes verdeutlicht. Auch unsere Ent- das ins Stocken geratene Assoziationsabkommen zwi- wicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul reiste schen der EU und dem Wirtschaftsblock Mercosur redu- jüngst nach Bolivien und Chile. zieren. Dennoch ist es mir sehr wichtig, die Gründe für das bisherige Scheitern eines Assoziationsabkommens Neben dem Stellenwert Lateinamerikas erscheint es zwischen diesen beiden Wirtschaftsblöcken mit aller (B) mir überaus wichtig, dafür zu plädieren, dass der stattfin- Deutlichkeit hervorzuheben. Die Mercosur-Länder wer- (D) denden politischen Polarisierung ein Ende bereitet wird. fen zu Recht der Europäischen Union Agrarprotektionis- Diese Kategorisierung in links und rechts ist für eine mus vor und fordern berechtigterweise sowohl die Öff- strategische Partnerschaft nicht fruchtbar. Im Gegenteil, nung der Märkte für ihre Agrarprodukte als auch die sie schürt Feindbilder und verhindert eine sachliche so- Abschaffung aller handelsverzerrenden Agrarsubventio- wie zielorientierte Auseinandersetzung mit den brennen- nen. Zwar konnte beim letzten WTO-Gipfel in Hong- den Problemen Lateinamerikas. Und diese stehen derzeit kong immerhin ein Enddatum für das Auslaufen der Ex- auf der Tagesordnung in Wien. So stehen im Mittelpunkt portsubventionen vereinbart werden, aber es gab keine der Diskussion der internationale Handel mit der ent- Annäherung bei den internen handelsverzerrenden Stüt- sprechenden offenen Agrarfrage, die Bestrebungen ein- zungen und dem Marktzugang. zelner Staaten zur Verstaatlichung ihrer Rohstoffsekto- ren sowie Maßnahmen internationaler und nationaler Wir, die Koalitionsfraktion SPD und CDU/CSU, leh- Armutsbekämpfung. nen die zur Debatte vorliegenden Anträge ab. Ich kann zwar mit den meisten Punkte des Antrages der Grünen Ein wichtiger Bestandteil der strategischen Partner- übereinstimmen, möchte aber darauf hinweisen, dass wir schaft zwischen Europa und Lateinamerika ist und bleibt – die SPD- und CDU/CSU-Fraktion – derzeit an einem die Armutsbekämpfung. Obwohl Erfolge zu verzeichnen eigenen umfassenderen Antrag arbeiten, der der ganzen sind, steht die deutsche bilaterale sowie europäische Ent- Komplexität gerecht wird sowie die Ergebnisse und wicklungszusammenarbeit weiterhin vor großen Heraus- Empfehlungen des Gipfels aufgreift. Der Antrag der forderungen. Auch der Zwischenbericht der Vereinten Fraktion Die Linke ist fast nicht der Rede wert, da er un- Nationen zur Erreichung der Milleniumsentwicklungs- zeitgemäß und weltfremd ist. So wird beispielsweise an ziele weist auf Schwierigkeiten hin und warnt vor einem einer Stelle gefordert, dass die Agrarproduktion eines Versagen. Entwicklungslandes sich auf den Eigenbedarf beschrän- ken sollte. Doch gerade der Agrarbereich ist für die In der deutschen Entwicklungszusammenarbeit mit meisten Entwicklungsländer eine Haupteinnahmequelle Lateinamerika sind der Umwelt- und Ressourcenschutz, im Export. Gerade wir als Exportweltmeister dürfen den die Staatsmodernisierung bzw. Konsolidierung der De- Entwicklungsländern die Teilhabe am Welthandel nicht mokratie sowie die Armutsbekämpfung die drei Schwer- verbauen. punktbereiche. Derzeit sind in der Region fünf Länder als Schwerpunktpartnerländer und acht als Partnerländer In Wien wird nicht nur zwischen den Regierungs- klassifiziert. Da das Bundesministerium für wirtschaftli- vertretern an einer Partnerschaft gefeilt. Nein, die che Zusammenarbeit und Entwicklung den aktuellen Partnerschaft umfasst Millionen Lateinamerikaner und 3038 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006

(A) europäische Bürger. Das nächste Treffen wird in zwei Schließlich ist es sehr simpel, aus der Opposition he- (C) Jahren turnusgemäß in einer lateinamerikanischen Stadt raus einen höheren Mittelansatz im Bundeshaushalt zu stattfinden. Ich würde mir sehr wünschen, dass wir als fordern. Dies ist durchgängiges Element des PDS-Dis- europäische Gäste mehr anzubieten haben werden, als kurses. Dagegen müssen Sie in den Landesregierungen, wir es derzeit in Wien haben. Ein Nichtstun können wir in denen die Linkspartei PDS Verantwortung trägt, er- uns nicht leisten. Es wäre so, als ob man Salz in die offe- kennen, dass es in der Realität ganz anders aussieht. nen Wunden streuen würde, anstatt die offenen Adern Langer Rede kurzer Sinn: Ihr Antrag ist realitätsfern, Lateinamerikas zu schließen. eindimensional und daher unverantwortlich. Eine solch blauäugige Herangehensweise an die Kooperation mit Lothar Mark (SPD): Beide vorliegenden Anträge Lateinamerika kann nicht die Zustimmung der SPD- finden nicht die Zustimmung meiner Fraktion. Die Bundestagsfraktion finden. Koalitionsfraktionen haben sich vorgenommen, als Der vorliegende Antrag der Bündnisgrünen scheint Nachlese zum vierten biregionalen Gipfeltreffen der uns dagegen in der Tendenz richtig. Sie wissen aus den Staats- und Regierungschefs Lateinamerikas, der Kari- vergangenen sieben Jahren um die Schwierigkeiten, der bik und der EU einen gemeinsamen Lateinamerika- Region LAK ein höheres Profil in der deutschen Außen- Grundsatzantrag einzubringen. Dieser ist bereits vorbe- politik zu geben. Die weltpolitischen Veränderungen im reitet; wir warten nur noch auf die Schlussfolgerungen Zuge von Mauerfall und EU-Erweiterung sowie die des Wiener Gipfels. haushälterischen Sachzwänge seit der Wiedervereini- Lassen Sie mich zunächst auf den Antrag der Links- gung müssten Ihnen nur zu gut bekannt sein. Deswegen fraktion eingehen. Es muss jeden Außenpolitiker – ins- bin ich froh, dass Minister Steinmeier in den ersten Mo- besondere aber unsere lateinamerikanischen und karibi- naten seiner Amtsführung eine Reise in die Region schen Partner – wundern, wenn nicht gar vor den Kopf durchgeführt hat. Dieses Zeichen ist bei unseren dorti- stoßen, von welchem Realitätsverständnis Sie in Ihrem gen Partnern auch so aufgenommen worden. Antrag ausgehen. Ausschlaggebend für unsere Ablehnung sind fol- Durchgängig ist von Neoimperialismus, „Bevormun- gende Gründe: Der vorliegende Antrag ist zu sehr auf dungsversuchen“ oder „Preisgabe souveräner Staatlich- das EZ-Handeln Deutschlands und der EU konzentriert. keit“ die Rede. Vielleicht ist Ihnen entgangen, dass die Im bald einzubringenden Koalitionsantrag kommt dage- Region kein fürsorgebedürftiges Opfer, sondern ein gen die Absicht zum Ausdruck, umfassender auf politi- selbstbewußter Verhandlungspartner ist. Insbesondere sche Dimensionen der strategischen Partnerschaft einzu- Brasilien leistet zunehmend Beiträge zur globalen Struk- gehen. Ansatz der SPD-Fraktion ist es, den politischen Dialog auf Augenhöhe mit den Ländern der Region zu (B) turpolitik und ist auf dem Wege zum Global Player. Des (D) Weiteren kann ich nicht sehen, dass die EU demokra- würdigen und zu akzentuieren. In diesem Zusammen- tisch gewählte Regierungen in LAK stürzen will, wie Sie hang soll der Koalitionsantrag, wie bereits erwähnt, in Ihrem Antrag behaupten. Die Entscheidung des dama- Schlussfolgerungen aus dem Wiener Gipfel aufnehmen ligen spanischen Ministerpräsidenten Aznar, die und aktuell auf die jüngsten Ereignisse in Bolivien, die Carmona-Regierung in Venezuela anzuerkennen, reiht anstehenden Wahlen in der Region sowie auf die letzten sich ein in eine Serie von groben Fehleinschätzungen Entwicklungen bezüglich der Integrationsmechanismen desselben und wurde glücklicherweise von den übrigen Andengemeinschaft und Mercosur eingehen. europäischen Regierungschefs nicht mitgetragen. Ich Auch für Ihren Antrag gilt: Den Haushaltsansatz für sehe weiterhin nicht, dass die EU den US-Plan Colombia die EZ mit LAK zu erhöhen, ist eine wünschenswerte, in Kolumbien auch nur mit einem Cent unterstützt oder aber vor dem Hintergrund der angespannten Haushalts- gar von ihrem Primat der Kooperation zur friedlichen situation zurzeit nicht vertretbare Forderung. Konfliktlösung abgeht. Insgesamt nimmt die SPD-Fraktion eine positivere Wenn es zwischen unseren Regionen große Überein- Beurteilung der Entwicklung der strategischen Partner- stimmungen gibt, dann in diesem Bereich. Europa sucht schaft vor. Bei allen Schwächen des Gipfelprozesses eine enge Kooperation mit LAK, das im Übrigen bereits sollte nicht vergessen werden, dass hieran mit Rumänien eine atomwaffenfreie Zone ist, im Bereich der Global und Bulgarien mittlerweile 60 Länder beteiligt sind. Es Governance. Diese umfasst gerade auch Themen wie die handelt sich also um das größte biregionale Forum, wel- Nichtverbreitung von atomaren und Massenvernich- ches rund ein Drittel der VN-Staaten repräsentiert. Der tungswaffen. intensivierte politische Dialog in diesem Rahmen stellt einen Wert an sich dar und birgt ein enormes Gestal- Es überrascht nicht, dass in Ihrem Antrag keine kriti- tungspotenzial. Diese Tatsache sollte nicht klein geredet sche Auseinandersetzung mit dem aktuellen Zustand der werden. politischen Systeme in der Region stattfindet. Wie Sie sich vorstellen können, sieht die SPD-Bundestagsfrak- Gestatten Sie mir noch einige Anmerkungen aus aktu- tion Probleme in Bezug auf die Konsolidierung der De- ellem Anlass: Beide Seiten kommen beim heutigen Gip- mokratien, insbesondere in der Andenregion, welche un- fel nicht in bester Verfassung an den Verhandlungstisch. mittelbar mit der Verschärfung von sozialer Ungleichheit Für LAK ist zu beobachten, dass zentrifugale Kräfte in- und Armut zusammenhängen. Ihre einfachen Analysen nerhalb der Integrationsblöcke die Verhandlungen in und Rezepte helfen in der globalisierten Welt von heute Blöcken immer schwieriger werden lassen. Die EU muss aber weder dies- noch jenseits des Atlantiks. in diesem Zusammenhang ihr Konzept des offenen Re- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006 3039

(A) gionalismus überdenken. Unsere Regierungen stehen Sollte ein Scheitern der Doharunde eintreten und soll- (C) vor der gleichen Herausforderung, wie unter den Bedin- ten auch die Verhandlungen über ein Assoziierungsab- gungen globaler Märkte ein geeigneter Mix aus Markt kommen mit Mercosur, der Andengemeinschaft und und Staat zum Nutzen breiter gesellschaftlicher Schich- Zentralamerika nicht zustande kommen, so muss die EU ten gefunden werden kann. Nach dem Scheitern der neo- Alternativen suchen, finden und diese auch verfolgen. liberalen Strukturanpassungen hat LAK darauf verschie- Denn wir müssen uns der Rolle der EU in Lateinamerika dene Antworten entwickelt. bewusst sein. Sie ist in der Entwicklungszusammen- arbeit der größte Geldgeber und nach den USA der Der viel beschriebene „Linksruck“ in Lateinamerika wichtigste Handelspartner in Lateinamerika. Den natio- muss unter diesem Gesichtspunkt differenziert betrachtet nalistischen und populistischen Forderungen einzelner werden. Es nützt nichts, einzelne Regierungen zu dämo- südamerikanischer Regierungen, die eine Destabilisie- nisieren. Die SPD-Bundestagsfraktion setzt hier auf ver- rung der lateinamerikanischen Regionalbündnisse errei- stärkten Dialog und Einbindung. Hoffnungsträger in chen wollen, muss eine klare Absage erteilt werden. Der diesem Zusammenhang bleiben Brasilien und der Mer- Gipfel in Wien muss die nötigen Signale aussenden, um cosur, dem es gelingen muss, seine schwache institutio- ein weiteres Auseinanderdriften der Regionalbündnisse nelle Basis zu vertiefen. zu verhindern. Dabei müssen insbesondere die Bestre- bungen der OAS, der Organisation der amerikanischen LAK benötigt unser eindeutiges Bekenntnis zur stra- Staaten, die ein solches Auseinanderdriften zu verhin- tegischen Partnerschaft, kein Lippenbekenntnis, sondern dern sucht, unterstützt werden. spürbare Verbesserungen in konkreten Streitfragen wie der Handelsmaterie. Dies gilt insbesondere hinsichtlich Wichtig ist uns der gleichberechtigte Dialog unter des für LAK wichtigen Agrarsektors. Ich nenne hier Partnern. Trotz der wichtigen Rohstoffvorkommen fin- großzügigere Quotenregelungen, Abbau aller handels- den wir in Lateinamerika auch enorme Einkommensun- verzerrenden Exportsubventionen und Abschaffung der terschiede und einige Länder gehören zu den höchstver- Zolleskalation. Vom Wiener Gipfel muss ein deutliches schuldeten der Welt. Nehmen wir einmal Bolivien als Signal für eine Einigung in diesen strittigen Fragen aus- Beispiel. Hier ist doch fraglich, ob die stattgefundenen gehen, um den baldigen Abschluss des EU-Mercosur- Entschuldungsmaßnahmen – nominal wurden Bolivien im internationalen Rahmen insgesamt 1,3 Milliarden Assoziierungsabkommens zu ermöglichen. Euro erlassen – im Sinne der Nachhaltigkeit und Wirk- samkeit das richtige Mittel zur Armutsursachenbekämp- Dr. Karl Addicks (FDP): Seit 1999 – also nunmehr fung darstellen. Eine gemeinsame Freihandelszone und sieben Jahre lang – wird über die zukünftige Gestalt der die Unterstützung und Förderung des Kleingewerbes so- (B) europäisch-lateinamerikanischen Zusammenarbeit ge- wie des Handwerks in den Staaten von Lateinamerika (D) sprochen. Eben auch vor sieben Jahren haben sich beide und der Karibik sind unserer Meinung nach die besseren Seiten zu einer strategischen Partnerschaft bekannt, al- Mittel. lein die Ergebnisse fehlen. Lassen Sie mich nun zu den vorgelegten Anträgen Nun beginnt am Freitag, also morgen der 4. EU-La- kommen. Der Antrag von der Fraktion des Bündnis- teinamerika-Gipfel unter dem Motto „Stärkung der bi- ses 90/Die Grünen hat durchaus unterstützenswerte Ele- regionalen strategischen Assoziation“. Der Titel klingt mente: die Forderung nach einem Abschluss der Ver- gut und soll eine Vertiefung der Wirtschaftsbeziehungen handlungen EU-Mercosur, die Aufnahme der Verhand- durch interregionale Kooperations- und Assoziierungs- lungen mit der Andengemeinschaft und Zentralamerika abkommen zur Folge haben. Eine gemeinsame Freihan- sowie der Erhalt und die Schaffung funktionierender De- delszone EU-Lateinamerika muss das Ziel all dieser Ver- mokratien und starker Zivilgesellschaften. Dem kann man nichts entgegenhalten. Trotzdem können wir den handlungen, Dialoge und Diskussionen sein. Gespräche Antrag hier nur ablehnen. In Anbetracht unserer derzeiti- mit den Regionalbündnissen Mercosur, der Andenge- gen Haushaltslage ist eine Forderung nach mehr Haus- meinschaft und dem zentralamerikanischen Integra- haltsmitteln im Einzelplan 23 unmöglich. Stattdessen tionssystem gehen jedoch leider nur schleppend oder gar sollte Good Governance an oberster Stelle stehen und nicht voran. Machen wir uns nichts vor: Die strategische bei der Mittelvergabe berücksichtigt werden. Die Mittel Partnerschaft ist wünschenswert, jedoch noch nicht müssen eben effizient eingesetzt werden. Zudem ist uns wirklich in Sicht. Der Wille ist da, nur das Fleisch ist Ihr Antrag zu sehr auf den Umweltschutz fokussiert, der schwach. So lassen sich die Verhandlungen der letzten ohne Zweifel sehr wichtig ist; das ist keine Frage. Aber Jahre eher umschreiben. lassen Sie uns doch zunächst grundlegende Rahmenbe- Sicherlich hat die veränderte politische Landschaft in dingungen schaffen, bevor wir ins Detail gehen. Lateinamerika und der EU das Ihre dazu getan. Dies und Der Antrag der Fraktion Die Linke spiegelt die ge- der Zustand der lateinamerikanischen Regionalbünd- samte Palette linker Träumereien wider: beginnend bei nisse machen derzeit keine große Hoffnung auf einen er- der neoliberalen Wirtschaftspolitik, die als Wurzel allen folgreichen multilateralen Abschluss. Jedoch möchte ich Übels betrachtet wird und endend bei antieuropäischen nicht im Voraus die Flinte ins Korn werfen und Pessi- und antiamerikanischen Parolen. Die Ablehnung der mismus verbreiten. Ein Plan B in der Tasche ist aller- Freihandels-Assoziierungsabkommen, speziell mit dem dings immer von Vorteil. Nach dem Gipfel in Wien wird Mercosur, ist ein immenser Rückschritt. Ihr Antrag be- sich zeigen, ob eine neue Strategie vonnöten sein wird. gibt sich mit neosozialistischen Rezepten auf einen 3040 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006

(A) gefährlichen Weg. Lassen Sie uns die Ergebnisse des möglich. Die Verträge mit Lateinamerika müssen sozial- (C) Gipfels in Wien abwarten und sehen, wie die Bereit- staatlich gebunden sein und auf Armutsbekämpfung zie- schaft der lateinamerikanischen Staaten in den Verhand- len. Lateinamerika als „Markt“ für Demokratie und So- lungen einzuschätzen ist. Erst dann wissen wir, ob wir ziales und nicht als Markt für Waffen, dahin sollte sich uns auf die Suche nach neuen Wegen und Strategien be- die EU orientieren. geben müssen. Es muss endlich Widerstand aufgebaut werden: Mensch, Tiere und Pflanzen dürfen nicht länger Objekte Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE): Die Entschei- der Genpatentierung, kapitalistischer Verwertungsbedin- dung des bolivianischen Präsidenten Evo Morales, die gungen sein. Zu einer neuen Lateinamerikapolitik gehört Erdgasfelder seines Landes zu verstaatlichen, hat eine auch eine neue Kubapolitik, die mit einer Absage an US- Tatsache auf den Punkt gebracht: Der politische Wind in Embargos und Boykotte dazu beiträgt, dass Freiräume Lateinamerika hat sich gedreht. Eine Tatsache, die offen- für Bürgerinnen und Bürger wachsen, dass soziale und sichtlich gewöhnungsbedürftig ist. Nur so kann ich die politische Rechte zusammenfinden. Erklärung des deutschen Außenministers, dass er in Sorge sei, erklären. Worüber er besorgt ist, darüber ließ Wenn die Zusammenarbeit EU-Lateinamerika eine uns der Herr Außenminister im Unklaren. Wenn seine neue Qualität erreichen soll, muss sich auch die EU ver- Sorge die geschichtliche Erfahrung reflektiert, dass eine ändern. Um zu meinem Ausgangspunkt zurückzukehren: solche mutige Entscheidung in der Vergangenheit oft- Wenn ein Staat seine Ressourcen in das Eigentum der mals zu einem von der USA unterstützten Militärputsch Bürgerinnen und Bürger zurückholt, sollte er aus führte, kann ich sie verstehen; wenn allerdings der Ein- Deutschland nichts von Sorgen hören, sondern Unter- griff in die Macht und den Einfluss multinationaler Kon- stützung erfahren. Ein „Bravo“ vom Außenminister zerne die Grundlage ist, will ich widersprechen. Ich habe wäre auch eine Antwort auf Morales gewesen. auch zur Kenntnis genommen, dass die Erklärung der Entwicklungsministerin einen anderen Tenor hatte. Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Ankündigung des bolivianischen Präsidenten Evo An Lateinamerika wird besonders deutlich, dass der Morales, die Gas- und Ölförderung in Bolivien zu ver- Neoliberalismus seinen Zenit überschritten hat, seine staatlichen, hat nicht nur dieses ärmste Land Südameri- Akzeptanz in den Bevölkerungen zu bröckeln beginnt. kas auf die Titelseiten der internationalen Presse ge- Schwer wird es sein, die Zerstörungen, die drei Jahr- bracht. Die Maßnahme hat auch bewirkt, dass die Politik zehnte Marktradikalismus hinterlassen, im Sinne von des ganzen Subkontinents unter den starken Verdacht Solidität, Solidarität und Gerechtigkeit, von Ausgleich von Populismus, Sozialismus und Dirigismus geraten ist. und Sozialstaatlichkeit aufzuarbeiten. Genau vor dieser (B) Lateinamerika auf Linkskurs, zurück in die Vergangen- (D) Aufgabe stehen Politikerinnen und Politiker, die heute heit, in die Arme des Revolutionsopas Fidel Castro? Wie das neue Lateinamerika verkörpern. Ich denke dabei an verhalten wir uns? Chávez in Venezuela, Kirchner in Argentinien, Lula in Brasilien, Morales in Bolivien und viele mehr. Ich denke Nehmen wir uns zunächst ein Beispiel an den Regie- aber auch an die Opfer der Militärdiktaturen und Putsche rungen Spaniens und Brasiliens, die durch die ange- in Chile, Guatemala, El Salvador, Uruguay und vielen drohte Verstaatlichung als Investoren bzw. in ihrer Gas- anderen Staaten. Für sie alle steht ein Name, der hier versorgungssicherheit am meisten betroffen sind. Sie genannt werden muss: Salvador Allende. Er ist den setzen auf Verhandlungen und Kooperation. Spaniens Golgathaweg von Befreiung und Gerechtigkeit bis zum Regierungsführer Zapatero trifft sich beim EU-Latein- bitteren Ende gegangen. Ganz in diesem Sinne sollten amerika-Gipfel in Wien mit Morales. Repressalien wie wir noch einmal deutlich machen, dass deutsche Politik die etwaige Einstellung der Entwicklungshilfe hat er be- sich nachhaltig für die Einhaltung der Friedensverträge reits im Vorfeld ausgeschlossen. und der Menschenrechte in Guatemala und El Salvador einsetzt und dass wir zum Beispiel für Demokratie, so- Wie sieht es mit unserer und der europäischen Hal- zialen Ausgleich und für ein Ende des Bürgerkrieges in tung zum „Linksruck“ in Lateinamerika aus? Die politi- Kolumbien eintreten. schen Veränderungen, die sich in den Wahlergebnissen seit dem letzten Jahr abzeichnen, bedeuten in der Tat ei- Zur neuen Politik in Lateinamerika gehört, dass die nen Richtungswechsel. Dabei sind aber weder die ge- Länder Schritt für Schritt zu mehr Zusammenarbeit fin- wählten Präsidenten Sozialisten noch gehen die Wähler den und sich aus der Dominanz und Vorherrschaft der mit dem marxistischen Manifest unterm Arm zu den USA lösen. Deshalb ist der Bush-Vorschlag für eine Wahlurnen. Was die neuen Führer und ihr Wahlvolk zu- Freihandelszone nach den Interessen der USA geschei- einander bringt, ist das Verlangen nach einer anderen tert. Die lateinamerikanische Zusammenarbeit, eine La- Politik, vor allem nach mehr sozialer und ethnischer Ge- teinamerika-Union, wächst von unten und wird auch rechtigkeit. keine Kopie der EU werden. Für die Menschen in Lateinamerika ist die neoliberale Deshalb sollte der Gipfel EU-Lateinamerika nicht pri- Politik, die den Diktaturen der 70er-Jahre folgte, ge- mär ein Wirtschaftsgipfel sein. Europa kann zu einem scheitert. Den Gürtel enger zu schnallen, die Staatsbe- wichtigen Partner Lateinamerikas werden. Das aber nur, triebe an ausländische Investoren zu verschleudern, die wenn Europa keine Kopie der USA ist und wird, sondern Märkte für Handel und Finanzen weit zu öffnen – es hat wenn Europa alternativ ist, und ein anderes Europa ist nicht die versprochenen Ergebnisse gebracht Obwohl Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006 3041

(A) Argentinien und Bolivien Musterschüler dieser von denlast zu entschärfen, die seit den frühen 80er-Jahren (C) Washington verordneten Politik waren, können die Men- zu periodischen schmerzhaften Krisen führt. Viele Län- schen nicht erkennen, dass es ihnen nach 20 Jahren der müssen 20, 30 und mehr Prozent ihrer staatlichen Marktreformen besser geht. Ökonomisch und politisch Ausgaben für Zinszahlungen aufwenden, Geld, das für ist der Washington Consensus gescheitert. Aus diesem Investitionen in Gesundheit und Bildung fehlt. Die la- Grund werden heute in Lateinamerika vor allem diejeni- teinamerikanischen Länder müssen selbstverständlich gen gewählt, die über das „Imperium“, die USA und ihre aber auch selbst dazu beitragen, dass ihre Finanzkraft für Erfüllungsgehilfen – den IWF und die Weltbank – her- soziale Investitionen steigt und die Einkommen gerech- ziehen. Mag diese Politik auch noch so holzschnittartig ter verteilt werden. Ein effizientes Steuersystem, das sein, sie trifft die lateinamerikanische Volksseele. auch die reichen Grundbesitzer und die Bezieher von Kapitaleinkommen in die Pflicht nimmt, ist eine Voraus- Dadurch entstehen Gefahren, aber auch Möglichkei- setzung dafür. ten. Gefährlich sind Manipulationen von Demagogen und Populisten immer. Hugo Chávez verkörpert viel von Angesichts der aktuellen Entwicklungen bei Klima- dem, was den klassischen Populismus ausmacht: messia- veränderungen und Energiemärkten wird eine zukunfts- nische Führerschaft, antiamerikanische Rhetorik, pater- weisende umwelt- und energiepolitische Zusammenar- nalistische Geldgeschenke und staatlich organisierte beit immer vordringlicher. Bei der Energiepolitik gibt es Volksmobilisierung. Gefährlich sind die überhöhten Er- nur einen zukunftstauglichen Weg: Weg vom Öl und hin wartungen in die neuen Führer, die meistens schnell zur zu alternativen Energien. Wir haben 2004 erreicht, dass Enttäuschung führen. Gefährlich ist schließlich die poli- im Einvernehmen mit der brasilianischen Regierung tische Isolierung, die mögliche Einmauerung in einer Verhandlungen über die Beendigung des deutsch-brasi- castroschen Revolutionsburg. Diese Gefahren mögen für lianischen Atomabkommens von 1975 und dessen Ersatz einige Länder und Führungspersönlichkeiten bestehen, durch einen neuen, nicht atomaren Energievertrag aufge- haben aber für das Gros Lateinamerikas keine Bedeu- nommen wurden. Im Zentrum dieses neuen Vertrages tung, weil ihre Präsidenten weder Populisten sind noch sollen, so die Willenserklärung beider Seiten, erneuer- von Kuba gesteuert werden. bare Energien, die Verbesserung der Energieeffizienz, Positiv ist das in den deutlichen Wahlsiegen zum Aus- Energieeinsparungen und Emissionsminderungen ste- druck gebrachte Verlangen nach sozialen Reformen und hen. Bedauerlicherweise konnte die Bundesregierung nach einer Einbeziehung der bisher rechtlosen indigenen bisher keinen Entwurf für einen neuen Energievertrag Bevölkerung. Positiv ist auch der Wunsch nach einer vorlegen. Wir sehen eine große Chance, durch einen sol- deutlichen Differenzierung in den Außenbeziehungen chen Vertrag mit Brasilien eine strategische Energiepart- sowie der ausgesprochene Wille zur regionalen Integra- nerschaft im nicht atomaren und nicht fossilen Bereich (B) (D) tion. aufzubauen, die im Geiste des Klimaschutzes und einer nachhaltigen Energiepolitik steht. Die EU sollte diese positiven Ansätze nutzen, um eine echte strategische Partnerschaft mit Lateinamerika auf- Die aktuellen Turbulenzen auf den Energiemärkten zubauen. Inhaltlich soll sich die enge Kooperation auf zeigen, dass auch Biokraftstoffe große Entwick- die politische und wirtschaftliche Unterstützung der re- lungschancen bieten. Brasilien ist Marktführer in Bio- gionalen Integration á la Mercosur, eine enge umweit- ethanol und arbeitet an einem ambitionierten Programm und energiepolitische Zusammenarbeit, die Förderung zur Gewinnung von Biodiesel, das die soziale Integra- der demokratischen Konsolidierung und der Menschen- tion von Kleinproduzenten im Nordosten des Landes ins rechte sowie der Kooperation im Hochschulbereich kon- Zentrum stellt. Biotreibstoffe haben ein großes Poten- zentrieren. Um in diesen Bereichen deutlich Flagge zu zial. Dabei muss aber darauf geachtet werden, dass Min- zeigen, gilt es auch die Mittel aufzustocken, auf EU- deststandards bezüglich der Nachhaltigkeit des Anbaus Ebene und bilateral. Das heißt konkret, auch im der Pflanzen sowie der Kraftstofferzeugung eingehalten Einzelplan 23 für die Haushaltsjahre ab 2006 entspre- werden. chende Verpflichtungsermächtigungen und Barmittel zur Es gibt viel zu tun. Wenn wir die strategische Partner- Verfügung zu stellen. schaft wollen, dann sollten wir uns auf dem mittlerweile Seit 1999 reden wir nun von strategischer Partner- schon 4. EU-Lateinamerika-Gipfel dafür entscheiden. schaft zwischen der EU und Lateinamerika. Seit Jahren sehen wir jedoch ein strategisches Auf-der-Stelle-Treten. Die antagonistischen Positionen in den multilateralen Anlage 5 und biregionalen Handelsverhandiungen sprechen für Zu Protokoll gegebene Reden sich. Europa ist nicht bereit, sich für wichtige Exporte aus Lateinamerika zu öffnen. Gerade dies wäre jedoch zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zum ausschlaggebend, um die regionale Integration a la Pfändungsschutz der Altersvorsorge und zur Mercosur, ein Modell, das sich eng an die europäische Anpassung des Rechts der Insolvenzanfechtung Integration anlehnt, politisch und wirtschaftlich zu stär- (Tagesordnungspunkt 19) ken. Von europäischer Seite fehlt auch ein entschiedenes Dr. Günter Krings (CDU/CSU): Eigentlich diskutie- Eintreten in den internationalen Finanzinstitutionen, um ren wir heute über zwei Gesetzentwürfe; denn thema- die weiterhin erdrückende und verhängnisvolle Schul- tisch haben der Pfändungsschutz für die Altersvorsorge 3042 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006

(A) und die Anpassung des Rechts zur Insolvenzanfechtung profitieren und andere Versicherungstypen zunächst au- (C) keine Berührungspunkte. Daher möchte ich zunächst auf ßen vor bleiben. die angestrebte Änderung zum Pfändungsschutz einge- hen. Es ist der Bundesregierung mit Sicherheit zuzugeste- hen, dass sich die Ausweitung auf andere Kapitalanlage- Kümmert sich ein Selbstständiger in Deutschland um formen nicht so einfach gestaltet wie bei den beiden eben seine Altersvorsorge, kann er dies immer nur unter Vor- gerade erwähnten, die auch zu den verbreitesten gehören. behalt tun. Denn letzte Sicherheit erlangt er nie, ob er an Daher unterstützten wir die Bundesregierung ausdrück- seinem Lebensabend auch tatsächlich auf die geplante lich in ihrer Haltung, die Einbeziehung weiterer Alters- Alterssicherung zurückgreifen kann. Im Zweifel hat er sicherungsanlagen in den Pfändungsschutz zu prüfen und nämlich die Rechnung ohne den Gerichtsvollzieher ge- dabei vor allen Dingen einen Blick über die nationalen macht. Die private Altersvorsorge der Selbstständigen Grenzen hinaus zu wagen. Durch eine rechtsverglei- genießt keinen Pfändungsschutz, sondern unterliegt im chende Untersuchung können sich neue Erkenntnisse schlechtesten Fall der Einzel- oder Gesamtvollstre- über alternative Kapitalanlagen für die Altersvorsorge er- ckung. Obwohl der Selbstständige eigentlich alles rich- geben, die im Moment noch nicht in unserem Blickfeld tig gemacht hat und private Vorsorge betrieben hat, um sind. im Alter nicht staatlich alimentiert zu werden, wird er für sein vorausschauendes Verhalten bestraft und steht Für mich stellt sich aber die Frage, ob man nicht besser ohne eigene Altersvorsorge dar. zunächst das derzeit erarbeitete rechtsvergleichende Gut- achten abwarten sollte, um einen umfassenden Katalog Ein derartiger Vorschlag würde bei der Diskussion um an Versicherungsprodukten für Selbstständige aufzu- eine stärkere private Alterssicherung von Arbeitnehmern stellen, aus dem sie die für sie beste Altersvorsorge neben der gesetzlichen Rentenversicherung allenfalls auswählen können. Ansonsten würde man ohne Not Ka- Verwunderung hervorrufen. Man könnte sich wohl kaum pitallebensversicherungen und privaten Rentenversiche- vorstellen, zu versuchen, den Menschen die Riesterrente rungen einen einseitigen Wettbewerbsvorteil verschaffen näher zu bringen, wenn man ihnen gleichzeitig eröffnen und letztlich den Versicherungswettbewerb verzerren. würde, dass die eingezahlten Beiträge komplett der Pfändung unterliegen und sie damit im Zweifel sogar Wenn ich die Wahl habe zwischen einer Versicherung, gänzlich leer ausgehen können. Dies bei Arbeitnehmern auf die Dritte nicht zugreifen können, und einer Versi- eben nicht zu tun, hat seinen Grund und dieser Grund cherung, die der Einzel- und Gesamtvollstreckung unter- muss auch bei den Selbstständigen gelten, gerade dann, liegt, dann dürfte meine Entscheidung ziemlich schnell wenn wir mehr Menschen zum Weg in die Selbstständig- für erstere ausfallen. Daher sollte man die Beratungen im Bundestag dazu nutzen, nochmals zu prüfen, ob man (B) keit ermutigen wollen. Zum Zeitpunkt des Abschlusses (D) einer privaten Versicherung sollen sie die Gewissheit ha- nicht schon jetzt einen Ansatz wählt, der über die Kapi- ben, dass sie nach dem Ausscheiden aus dem Erwerbsle- tallebensversicherung und die private Rentenversiche- ben über eine Alterssicherung verfügen können, die aus rung hinausgeht. einer eigenen Versicherungsleistung finanziert wurde. Wenn man Selbstständigen die Möglichkeit einer si- Daher begrüßen wir als CDU/CSU-Bundestagsfrak- cheren Altersvorsorge zugestehen will, darf man beste- tion außerordentlich diesen Gesetzentwurf der Bundes- hende Versicherungsverträge nicht einfach außen vor regierung, der die Alterssicherung der Selbstständigen lassen. Zwar haben die Selbstständigen bei Abschluss grundsätzlich von dem Damoklesschwert der Pfändung ihrer Altersverträge gewusst, dass sie im Zweifel ge- befreit. Dabei stellt der Regierungsentwurf nicht jede pfändet werden können, aber dies ändert nichts an dem Form der Alterssicherung unter den Pfändungsschutz, Umstand, dass sie Vorsorge für ihr Alter betrieben ha- sondern aus dem angesparten Vorsorgekapital muss sich ben. Auch die Altersverträge gehören daher unter den ein Anspruch auf eine laufende Leistung ergeben. Ent- Pfändungsschutz. Die gesetzlich vorgesehene Möglich- scheidend ist also, dass der Selbstständige auch tatsäch- keit der Umwandlung einer pfändbaren Altersversiche- lich eine Rentenzahlung am Ende seines Berufslebens rung in eine unpfändbare, so wie dies in § 173 VVG ge- erhält, die ihm die Existenz sichert und damit zugleich regelt wird, ist daher der richtige Weg. sicherstellt, dass er nicht zum Empfänger staatlicher So- zialtransfers werden muss. Mit diesem Gesetzentwurf beraten wir aber nicht nur über den Pfändungsschutz bei der Altersvorsorge von Daher ist es richtig, keine Vorsorgeprodukte zu schüt- Selbstständigen, sondern auch über Änderungen bei der zen, bei denen es zum Schluss zu einer Auszahlung von Insolvenzanfechtung. frei verfügbarem Kapital statt einer Rente kommt. Hier Im Gegensatz zu den Überlegungen zum Pfändungs- würde eine zu große Missbrauchsgefahr entstehen, so- schutz sehe ich hier noch einigen Beratungs- und Klä- wohl was die Absicherung im Alter als auch was die rungsbedarf während des parlamentarischen Gesetzge- Zahlung von Versicherungsbeiträgen während der Be- bungsverfahrens. rufszeit angeht. Mit der Verwendung des Wortes „Rente“ fällt der Gesetzestext indes keine Entscheidung für ein Ziel des Insolvenzverfahrens sollte es nicht in erster bestimmtes Versicherungsprodukt, sondern ist neutral Linie sein, eine Firma zu liquidieren, sondern ein Unter- formuliert. Die Bundesregierung hat aber selbst ange- nehmen, das in eine wirtschaftliche Notlage geraten ist, merkt, dass faktisch von dem Pfändungsschutz nur Kapi- für den Markt wieder fit zu machen. Sicherlich darf da- tallebensversicherung und private Rentenversicherungen bei die Sicht der Gläubiger nicht aus dem Auge verloren Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006 3043

(A) werden. Doch ein saniertes Unternehmen hilft letztend- Wir sollten daher an dieser Stelle sehr sensibel vorge- (C) lich auch den Gläubigern eher, als wenn sie komplett auf hen, denn die Änderung mag zwar dem Staat zunächst ihren Forderungen durch die Auflösung des Unterneh- bislang ausfallende Gelder in die Kasse spülen. Aber die mens sitzen bleiben oder nur zu einem ganz geringen 177 Millionen Euro fehlen nachher an anderer Stelle – Teil befriedigt werden. sprich: in der Insolvenzmasse und bei den privaten Gläu- bigern. Viele kleine und mittelständische Unternehmen Es sind aber nicht nur private Gläubiger, die das Opfer sind noch weniger als der Staat in der Lage, größere For- einer Unternehmensinsolvenz werden können, sondern derungsausfälle hinzunehmen. Sie drohen dann selbst zu auch die öffentliche Hand ist nicht vor Forderungsausfäl- einem Fall für den Insolvenzrichter zu werden. Daher len geschützt. Das bedauern nicht nur die Finanzminister. darf es nicht darauf hinauslaufen, dass Arbeitsplätze ge- Wenn es aber um die Frage geht, wer letztendlich auf sei- fährdet werden und der Staat Kosten an anderer Stelle nen Kosten sitzen bleibt, dann kann und darf es aus mei- aufbringen muss, die 177 Millionen Euro leicht über- ner Sicht keine Bevorzugung für öffentliche Gläubiger schreiten könnten. geben. Dem Handwerker, der einen Forderungsausfall zu beklagen hat, kann es um die Existenz gehen, und er hat Die konkreten Vorschläge zur Änderung der Insolvenz- zu Recht kein Verständnis dafür, dass der Staat im Falle anfechtung gehen in dieselbe Richtung und bedürfen da- einer Insolvenz besser gestellt wäre als er. her auch noch einer eingehenden Prüfung. Exemplarisch möchte ich hier nur die Ergänzung des § 131 Abs. l InsO So nützt die geplante Änderung in § 14 Abs. 1 InsO nennen. Auch er läuft auf eine Besserstellung von Fiskus überwiegend den Sozialversicherungsträgern, denn zu- und Sozialversicherungsträger hinaus, die das Privileg künftig soll ein Antrag auf Eröffnung des Insolvenzver- genießen, Forderungen selbst titulieren und vollstrecken fahrens nicht allein schon dadurch unzulässig werden, zu können. Nach dem Gesetzentwurf der Bundesregie- dass der Schuldner nach der Antragstellung die Forde- rung sollen zukünftig durch Zwangsvollstreckung reali- rung erfüllt. Zwar mag man hier dem Sozialversiche- sierte Forderungszahlungen nicht mehr unter die Insol- rungsträger die Besonderheit zugeben, dass sie die Ver- venzanfechtung fallen, obwohl die Behörden durch die bindung zum Schuldner nicht einseitig aufkündigen Vornahme der Zwangsvollstreckung Bedenken hinsicht- können. Aber ich frage mich, wie es der Sozialversiche- lich der Solvenz des Schuldners deutlich zum Ausdruck rungsträger denn in der Praxis feststellen will, wann bringt. So lobenswert die Absicht der Bundesregierung neue Verbindlichkeiten auf absehbare Zeit entstehen ist, Forderungsausfälle für den Staat durch Insolvenzen werden, die eine Aufrechterhaltung des Antrags recht- so gering wie möglich zu halten, darf auch hier wie- fertigen würde. derum nicht vergessen werden, dass es neben dem Staat auch noch andere Gläubiger gibt, die ihre Ansprüche nicht mehr realisieren können. (B) Dem Regierungsentwurf ist ohne weiteres zuzugeste- (D) hen, dass er mit der Besserstellung von Gläubigern aus Die Intention der Änderungsvorschläge im Insolvenz- Dauerschuldverhältnissen einer besonderen Problemlage recht verstehen und teilen wir. Einnahmeausfälle in drei- im Rahmen des Insolvenzrechts Rechnung tragen will. stelliger Millionenhöhe schmerzen in Zeiten knapper Der Antrag für ein Insolvenzverfahren setzt aber aus gu- Staatsfinanzen in besonderem Maße. Da wir aber Verant- tem Grund nach geltendem Recht ein rechtliches Inte- wortung tragen nicht nur für die Finanzen des Staates, resse voraus. Diese Voraussetzung wird aber faktisch sondern auch für eine Chancengleichheit aller Gläubiger aufgehoben, wenn ein Insolvenzantrag unabhängig von im Insolvenzverfahren, werden wir uns nach dieser ers- einer ausstehenden Forderung weiterverfolgt werden ten Lesung einer intensiven Diskussion stellen müssen, kann. Worin soll denn aber das rechtliche Interesse be- die das Ziel verfolgen muss, eine gleichmäßige Risiko- stehen, wenn es keine konkrete und fällige Forderung verteilung unter den Gläubigern zu erzielen. Ob eine be- gibt? sondere Behandlung von Dauerschuldverhältnissen dann sinnvoll, problematisch und notwendig ist, werden wir Es ist selbstverständlich ärgerlich, dass der Fiskus al- daher sorgfältig analysieren. lein im letzten Jahr Umsatzsteuerausfälle in Höhe von 177 Millionen Euro hinnehmen musste. Aber die Lösung dieses Problems kann nicht darin liegen, Steuer- und Ab- Dirk Manzewski (SPD): Wir debattieren hier heute gabeforderungen des Staates gegenüber anderen Forde- über einen Gesetzentwurf der Bundesregierung, der zwei rungen aus Dauerschuldverhältnissen von Vermietern Aspekte beinhaltet. oder Pächtern zu privilegieren. Die Aufwertung von Zum einen geht es um den Pfändungsschutz der Al- Steuer- und Abgabeforderungen zur Masseverbindlich- tersvorsorge insbesondere von Selbstständigen. Hier ha- keit schmälert die Insolvenzmasse, die letztendlich wie- ben wir nämlich das Problem, dass diese in der Regel derum den privaten Gläubiger trifft, der auf seinen zum Aufbau ihrer Altersvorsorge eine Alterssicherung Forderungen sitzen bleibt. Der vermeintliche Verbesse- wählen, die im vollen Umfang der Pfändung unterliegt. rungsvorschlag der Bundesregierung in ihrer Gegenäu- Dies hat im Falle einer Pfändung nicht selten zur Folge, ßerung gegenüber der Stellungnahme des Bundesrates dass der Staat im Alter mit Steuermitteln aushelfen stellt daher keine Alternative dar, sondern verwandelt muss, obwohl der Selbstständige eigentlich fürs Alter eine zumindest in ihrer Intention nachvollziehbare Hilfe privat vorgesorgt hatte. für Gläubiger von Dauerschuldverhältnissen in eine platte Selbstprivilegierung des Staates. Diese Gegen- Es kann aber nicht sein, dass die extensive Anwen- äußerung lässt, offen gestanden, das ganze Projekt nach- dung einer Vollstreckung dazu führt, dass jemand, der ei- träglich in einem verdächtigten Licht erscheinen. gentlich privat hinreichend Vorsorge betrieben hat, nur 3044 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006

(A) hierdurch von öffentlicher Fürsorge abhängig würde. Ich tungsrecht tatsächlich noch den Gläubigern dient bzw. (C) teile daher die Auffassung der Bundesregierung, dass in- der Fortführung von Betrieben und damit dem Erhalt soweit ein wirksamer Pfändungsschutz notwendig ist, von Arbeitsplätzen. Insbesondere an Letzterem muss um Sozialbedürftigkeit aufgrund von Zwangsvollstre- sich der vorliegende Gesetzentwurf aber messen lassen. ckungen zu verhindern. Die Bundesregierung weist meiner Auffassung nach auch zu Recht darauf hin, dass Mechthild Dyckmans (FDP): Der heute zu bera- hierdurch dem Gesichtspunkt der Gleichbehandlung ent- sprochen werden würde, da die öffentlich-rechtlichen tende Gesetzentwurf der Bundesregierung enthält Licht Rentenleistungen dem Pfändungszugriff so nicht unter- und Schatten. Die vorgeschlagenen Regelungen zur liegen. Schaffung eines Pfändungsschutzes für die Altersversor- gung und Altersvorsorge von Selbstständigen und die Hinzu kommt – auch diese Einschätzung halte ich für damit verbundenen Änderungen des Versicherungsver- richtig –, dass hierdurch ein weiterer Anreiz für eine pri- tragsgesetzes erscheinen insgesamt schlüssig. vate Altersvorsorge geschaffen wird, und zwar nicht nur für Selbstständige, sondern auch für die Bezieher gesetz- Mit diesen Neuregelungen sollen selbstständige Un- licher Renten als weitere Säule. Die politische Forde- ternehmer besser als bisher abgesichert werden. Bislang rung nach privater Vorsorge würde dieses Gesetz damit sind Vermögenswerte, die Selbstständige für ihre Alters- tatkräftig unterstützen. vorsorge vorgesehen haben, ohne ausreichenden Pfän- dungsschutz dem Gläubigerzugriff ausgesetzt. Selbst- Natürlich darf es nicht sein, dass der neu eingeführte ständige sind damit gegenüber abhängig Beschäftigten, Pfändungsschutz nun dazu ausgenutzt wird, Vermögens- deren Rentenansprüche nur wie Arbeitseinkommen ge- werte rechtsmissbräuchlich dem Gläubigerzugriff zu pfändet werden können, benachteiligt. Diese Ungleich- entziehen. Völlig zu Recht wird im Gesetzentwurf des- behandlung ist nicht gerechtfertigt. Sie ist ungerecht und halb deutlich gemacht, dass der Pfändungsschutz selbst- passt nicht zur Kultur der Selbstständigkeit, die es zu verständlich nur auf das Vorsorgekapital beschränkt fördern gilt. wird, das unwiderruflich der Altersvorsorge gewidmet ist. Richtig ist deshalb auch, dass gewährleistet sein Die Schaffung eines solchen Pfändungsschutzes liegt muss, dass die Leistung erst mit Eintritt des Rentenfalls aber nicht nur im Interesse der Selbstständigen, sie liegt bzw. nicht vor Vollendung des 60. Lebensjahrs oder bei auch im Interesse der anderenfalls eintrittspflichtigen Berufsunfähigkeit erbracht wird und nicht den Bestim- Allgemeinheit und entlastet diese von Sozialleistungen. mungen eines Dritten, außer für den Todesfall, unterlie- Der Gesetzentwurf sieht vor, die in Deutschland am gen darf. Außerdem wird der Pfändungsschutz auf einen weitesten verbreitete Form der Alterssicherung, die Le- Bedarf begrenzt, der für die Existenzsicherung im Alter (B) bensversicherung, vor einem schrankenlosen Pfändungs- (D) notwendig ist. zugriff zu schützen. Dies kann aber nur ein erster Schritt Während ich die Intention dieses Teils des Gesetzes sein. Ziel muss es sein, zukünftig alle Anlageformen der für sinnvoll halte, sehe ich, soweit mit diesem Gesetz Altersvorsorge gleichermaßen zu schützen. Dies ist auch zum anderen eine so genannte Anpassung der Insolvenz- ein Gebot der Wettbewerbsneutralität. Die Bundesregie- anfechtung begehrt wird, noch Beratungsbedarf. Die rung sollte sich daher verpflichten, zeitnah über die mit Bundesregierung weist darauf hin, dass den Sozialkas- dem Pfändungsschutz der Lebensversicherungen ge- sen jährlich mehrere 100 Millionen Euro an Beitragsauf- machten Erfahrungen zu berichten. kommen im Wege der Insolvenzanfechtung durch Insol- Wo Licht ist, da ist auch Schatten. Das zeigt der Ge- venzverwalter entzogen werden. Ich kann deshalb aus setzentwurf ganz deutlich. Die in Art. 2 des Entwurfs Sicht der Bundesregierung durchaus nachvollziehen, vorgeschlagenen Änderungen der Insolvenzordnung wenn man insbesondere mit Blick auf die Sozialversi- sind nicht gelungen und so für die FDP nicht zustim- cherungsträger das Anfechtungsrecht einschränken mungsfähig. Diese Änderungen zielen vor allem darauf, möchte. Die Sozialversicherungsträger haben zugegebe- öffentlich-rechtlichen Gläubigern eine bessere Stellung nermaßen das Problem, stets zur Leistung verpflichtet zu im Rahmen der Insolvenz einzuräumen. Damit kehren bleiben, da das Sozialversicherungsverhältnis kraft Ge- sie einige grundlegende Ansätze der Reform des Insol- setzes entsteht. venzrechts in ihr Gegenteil um. Das Ziel, die Vermö- Ich teile allerdings nicht die feste Überzeugung der gensmasse zusammenzuhalten, um den Betrieb weiter- Bundesregierung, dass man mit dem Gesetz dem so ge- führen und Arbeitsplätze erhalten zu können, gerät aus nannten Grundsatz der Gläubigergleichbehandlung un- dem Blick. Der Grundsatz der Gleichbehandlung aller problematisch Genüge geleistet hat, und habe so meine Gläubiger gerät unter die Räder fiskalpolitischer Interes- Bedenken, ob hier nicht die Sozialversicherungsträger sen. Die Insolvenzordnung sollte ursprünglich gerade gegenüber anderen Gläubigern unangemessen privile- durch Abschaffung der Fiskalvorrechte die Insolvenz- giert worden sind. Dies werden wir klären müssen. masse erhöhen, was nunmehr, offensichtlich aufgrund Ebenso ist zu prüfen, ob wir es nicht doch dabei belassen der konkreten Haushaltslage der betroffenen Gläubiger, sollten, dass bei Zahlungen aller Verbindlichkeiten ein wieder beseitigt wird. Antrag unzulässig wird. Im Einzelnen ist auf Folgendes hinzuweisen: Die Be- Damit wir uns nicht falsch verstehen: Ich bin schon stimmung, dass ein Insolvenzantrag nicht alleine dadurch seit langem der Auffassung, dass wir einmal intensiv unzulässig werde, dass der Schuldner nach Antragstellung darüber diskutieren müssen, ob das geltende Anfech- die Forderung erfüllt, Art. 2 des Gesetzentwurfes – § 14 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006 3045

(A) Abs. l Satz 2 Insolvenzordnung –, erweist sich bei Lichte den Verlust von Arbeitsplätzen und einer Verschlechte- (C) betrachtet als Schutzvorschrift für Sozialversicherungs- rung der Sanierungschancen für die Unternehmen. träger und damit als gesetzgeberische Berücksichtigung Nun liegt uns dieser Entwurf in unveränderter Form von Partikularinteressen. Es besteht zudem die Gefahr, vor. Unverändert geblieben ist nicht nur der Text des Ge- dass der Eröffnungsantrag noch mehr als bisher als setzentwurfes. Weitgehend unverändert blieb auch des- Druckmittel gegen den Schuldner eingesetzt wird. Die sen Begründungsteil. Dort suchen wir nämlich verge- Fortführung und Sanierung nur vorübergehend zah- bens nach einer echten Auseinandersetzung mit der lungsschwacher Betriebe würde hierdurch erheblich ge- soeben erwähnten allseitigen Kritik an dem Vorhaben. fährdet. Dafür finden wir offenherzige Ausführungen zum Pfän- Auch gegen die beabsichtigte Änderung des § 55 dungsschutz der Altersvorsorge gegen den – für sich be- Abs. 2 Insolvenzordnung bestehen Bedenken. Die Auf- trachtet – wohl niemand im Haus Einwände erheben wertung der im Eröffnungsverfahren begründeten Ver- möchte. Was geht hier vor sich? bindlichkeiten aus Dauerschuldverhältnissen zu Masse- Das will ich Ihnen sagen: Man hat uns einen Berliner verbindlichkeiten vereitelt Sanierungschancen und läuft Pfandkuchen zum Anbeißen offeriert, der freilich zu un- damit einem wesentlichen Ziel der Insolvenzrechtsre- serer Überraschung nicht mit zuckersüßer Marmelade, form zuwider. Zu Recht weist der Bundesrat darauf hin, sondern mit sehr scharfem Senf gefüllt ist. Der Senf im dass hierdurch die mit der Insolvenzordnung angestrebte Inneren ist die Wiedereinführung des Fiskusprivileges Trendwende vom Zerschlagungsprinzip hin zur Sanie- im Insolvenzverfahren, das mit dem richtigen und wich- rung von Unternehmen infrage gestellt wird. Erfreulich tigen Ziel des Pfändungsschutzes der Altersvorsorge ist, dass sich die Bundesregierung ausweislich ihrer Ge- nicht mehr als eine Drucksachennummer gemein hat. genäußerung in diesem Punkt gesprächsbereit zeigt. Der Senf ist jene unscheinbare Formulierung unter Gänzlich misslungen ist und bleibt die Neuregelung Art. 2 im Entwurf des § 131 Insolvenzordnung, wo es des Anfechtungsrechts. Die vorgeschlagene Gesetzesän- sprachlich seltsam heißt: Eine Rechtshandlung wird derung ist und bleibt eine systemwidrige Bevorzugung nicht allein dadurch zu einer solchen nach Satz 1, dass der Sozialkassen. Diese Privilegierung öffentlich-rechtli- der Gläubiger die Sicherung oder Befriedigung durch cher Gläubiger führt zwangsläufig zu einer Diskriminie- Zwangsvollstreckung erlangt. rung privater Gläubiger. Die FDP ist gegen jede Form Potentester Zwangsvollstrecker unter den Gläubigern von Diskriminierung und wird sie auch an dieser Stelle aber ist nun einmal die öffentliche Hand, die sich stets entschieden bekämpfen. selbst, schnell und exklusiv mit einem Titel „bewaffnen“ kann. (B) Hier ist es auch nicht mit der zaghaften Prüfbitte des (D) Bundesrates getan, im weiteren Verlauf des Gesetzge- So soll – durch die Hintertür und unter Vermeidung bungsverfahrens darüber nachzudenken, ob den Interes- einer bewussten Befassung durch dieses Parlament – ein sen öffentlich-rechtlicher Gläubiger in schonender Weise Zustand wieder hergestellt werden, der einmal zum Nie- Rechnung getragen werden könne. Hier ist ein klares dergang und zum völligen Bedeutungsverlust der Kon- Bekenntnis zum Grundsatz der Gleichbehandlung aller kursordnung geführt hatte und dem dieses Parlament im Gläubiger gefordert. Jahre 1994 bei der Schaffung der Insolvenzordnung aus gutem Grunde und sehr bewusst ein Ende bereitet hatte. Wenn sich die Bundesregierung in diesem Punkt nicht bewegt, sieht die FDP keine Möglichkeit, dem Gesetz- Die Selbstprivilegierung der öffentlichen Hand im In- entwurf zuzustimmen. solvenzverfahren ist nicht nur eine massive Verletzung des Grundsatzes der Gläubigergleichbehandlung, wie ihn der BGH weiterentwickelt und präzisiert hatte. Die Wolfgang Nešković (DIE LINKE): Als der vorlie- Bevorzugung der öffentlichen Hand wird auch weitge- gende Entwurf erstmals im Sommer der Agonie von hende soziale und ökonomische Folgen haben. Die Fach- Rot-Grün das Licht der Öffentlichkeit erblickte, gab es welt rechnet mit einer Verschlechterung der Sanierung- einen unvergleichlichen Sturm der Entrüstung und Ab- schancen für schätzungsweise 7 000 bis 10 000 klein- und lehnung aus der gesamten Fachöffentlichkeit, aus den mittelständische Unternehmen jährlich. Erwartet wird der Verbänden und seitens der Richter. Auch der Bundesrat Verlust von 50 000 bis 100 000 Arbeitsplätzen. Wir dür- meldete scharfen Widerspruch an. Das Wort von der fen uns einrichten auf ein Absinken der eh schon gerin- „staatlich legalisierten Ausplünderung“ Leipziger Volks- gen Insolvenzquoten. Und wir verlieren den sanierungs- zeitung vom 26. August 2005 von der „Bananenrepu- freundlichen Charakter der Insolvenzordnung, während blik“ Förster ZInsO 2005, 785 und von den „langen Fin- wir das „Windhundprinzip“ in der Krise der Unterneh- gern der Finanz- und Sozialämter“ Businessportal men wieder einführen. 24.com vom 17. August 2005 machte die Runde. Dieses Parlament hat vor mehr als zehn Jahren ge- Das Bundesministerium der Justiz – als Verfasser des meinsam mit dem Justizministerium und gegen massive Entwurfes – sah sich öffentlich und unwidersprochen Widerstände eine wahrlich große Insolvenzrechtsreform dem Vorwurf der Täuschung der Öffentlichkeit und der vollbracht, deren Kern es unter anderem gewesen ist, die Lüge bezüglich der rechtlichen und sachlichen Motive staatlichen Privilegien des 18. und 19. Jahrhunderts zu des Entwurfes ausgesetzt – Huber ZlnsO 2005, 786ff. – beseitigen Diese Reform ist – das belegen alle Statisti- und die Wirtschaftsverbände warnten vor einem drohen- ken – ein großer, auch internationaler Erfolg geworden 3046 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006

(A) und hat zur Rettung vieler tausend Unternehmen und Ar- nen Dritte – also vor allem Frauen von selbstständig (C) beitsplätze beigetragen, weil der Staat mit seinen An- Tätigen – bezugsberechtigt sind. Da aber bei der Bestim- sprüchen in der Krise der Unternehmen zurückgetreten mung der Pfändungsfreigrenze auch Unterhaltspflichten ist, um den bedrohten Unternehmen die Chance zur Er- zu berücksichtigen sind, erscheint ein hinreichender haltung und Erneuerung nicht zu verbauen. Der kluge Schutz zugunsten von Ehegatten oder -gattinnen bzw. Staat nämlich ist – gerade mit Blick auf die Liquidität Kindern gewährleistet. seiner sozialen Kassen – unbedingt an der Erhaltung der Unternehmen interessiert. Nach wie vor kritisch sehen wir jedoch die gesetzli- che Beschränkung des Schutzes auf Lebensversicherun- Es liegt an uns allen gemeinsam, ob wir ein geglück- gen, primär auf Rentenversicherungen. Auch wenn dies tes Stück Reformpolitik beibehalten wollen oder durch die am häufigsten gewählte Form privater Alterssiche- unsere Zustimmung zu diesem Entwurf einen insolvenz- rung sein mag, könnte die Regelung gleichwohl zu rechtlichen Salto Mortale zurück zur Konkursordnung Wettbewerbsverzerrungen zulasten anderer Altersvor- anstellen. sorgeprodukte, zum Beispiel Banksparpläne oder Fonds- sparpläne, führen. Werden also solche Wettbewerbsver- Wir sollten daher auf der Ebene der Obleute des zerrungen in erheblichem Unfang erkennbar – was wir Rechtsausschusses dringend Einigkeit über die Erforder- im Rechts-, aber auch den anderen Ausschüssen sehr ge- lichkeit einer Sachverständigenanhörung erzielen, um nau erörtern und prüfen wollen –, dann muss hier nach- überhaupt das Maß an Sachinformation erlangen zu kön- gebessert werden, zugunsten solcher Alterssicherungen, nen – das uns die Entwurfsersteller lieber vorenthalten bei denen in vergleichbarer Weise ein Missbrauch ausge- wollten –, das wir aber benötigen, um Richtiges von Fal- schlossen werden kann. Dann wird es nicht reichen, schem in diesem Entwurf zu scheiden. diese Entscheidung auf einen späteren Zeitpunkt zu ver- Ein abschließendes Wort zum Pfändungsschutz der schieben, wie es die Bundesregierung angedacht hat, Altersvorsorge: Obwohl es sich um einen richtigen An- wenn sie bei dem Gesetzentwurf von einem „ersten satz handelt, ist dieser weniger als die halbe Miete. Die Schritt“ spricht. Rücklagen für die Alterssicherung sind in unserem Land Lassen Sie mich nun zum zweiten Teil des Gesetz- natürlich erst dann wirklich umfassend und gerecht ge- entwurfes kommen, der darauf abzielt, die Insolvenz- schützt, wenn wir gleichzeitig die Freibeträge für Hartz- anfechtungen zu beschränken. Das Anfechtungsrecht IV-Empfänger für die Verwertung von Altersrücklagen des Insolvenzverwalters wegen vorsätzlicher Benachtei- vor Inanspruchnahme von Sozialleistungen anheben. ligung soll auf Fälle unlauteren Verhaltens beschränkt Hier bestehen nämlich unerträglich weit gehende Ver- werden. pflichtungen zur Abschmelzung privater Altersrückla- (B) gen, die – mit Blick auf den hier in Rede stehenden Pfän- Diese Neuregelung soll vor allem – was aber mit dem (D) dungsschutz – kaum dem Gleichheitsgebot genügen Gesetzentwurf mehr verdunkelt als laut ausgesprochen dürften. wird – die finanziellen Ausfälle beim Fiskus und den So- zialkassen deutlich verringern. In der öffentlichen Dis- kussion wurde an dieser Regelung zum Teil erhebliche Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der Kritik geäußert. Diese Kritik teilen wir. Meines Erach- erste Teil des Gesetzentwurfes, über den wir heute de- tens bedeutet diese Neuregelung, auch wenn das Justiz- battieren, zielt darauf ab, die private Altersvorsorge, vor ministerium beteuert, die Regelung würde für alle Gläu- allem von Selbstständigen, besser als bisher vor Pfän- biger gleichermaßen gelten, im Ergebnis gleichwohl eine dungen zu schützen. Dieses Ziel unterstützen wir Grüne Abkehr vom Grundsatz der Gläubigergleichbehandlung, ausdrücklich. also einer wesentlichen Errungenschaft der Insolvenzre- Ein Pfändungsschutz, wie er heute für Renten aus der form von 1999. Denn im Gegensatz zu privaten Gläubi- gesetzlichen Rentenversicherung bereits existiert, dient gern haben nur der Fiskus und die Sozialkassen die – auch, aber nicht nur – dem Schutz des Schuldners. Möglichkeit, ihre Forderungen selbst titulieren und voll- Sein Existenzminimum im Alter soll vor Gläubigerzu- strecken zu können. Sie sind also strukturell schneller als griffen gesichert werden. Daneben hat der Pfändungs- andere Gläubiger. Für letztere wird somit die verblei- schutz aber auch die Funktion, die staatliche Gemein- bende Massenquote drastisch sinken. Man kann es auch schaft von Sozialleistungen zu entlasten: Ohne den etwas deutlicher formulieren, sie werden „in die Röhre“ Pfändungsschutz wäre der Schuldner im Alter im Falle schauen. einer Pfändung seiner Altersversorgung auf öffentliche So berechtigt der Ansatz erscheint, dem Fiskus und Transferleistungen angewiesen. Indem der Gesetzent- den Sozialversicherungsträgern Einnahmen zu erhalten: wurf hier in begrenztem Rahmen die Interessen der Ge- Dies darf nicht zulasten sanierungsfähiger Unternehmen, meinschaft und des – zuvor als Selbstständiger tätigen – durch die Arbeitsplätze erhalten werden können, gehen. Schuldners über die Gläubigerinteressen stellt, fördert er Das Insolvenzrecht ist hierfür nicht der richtige Ort. Zu eine Kultur der Selbstständigkeit und verbessert den diesen rechts- wie wirtschaftspolitisch sehr tief greifen- Rahmen für Existenzgründungen. Dies findet unsere Zu- den Regelungen werden wir deshalb in den Ausschüssen stimmung. also noch sehr intensiv diskutieren müssen. „Ursprünglich, das will ich an dieser Stelle nicht ver- hehlen, hatten wir Grünen Bedenken, da der Gesetzent- Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär bei der wurf solche Versicherungsverträge nicht erfasst, bei de- Bundesministerin der Justiz: Bei diesem Gesetzentwurf Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006 3047

(A) geht es um zwei verschiedene Punkte: Erstens den Pfän- langjährigen Geschäftsbeziehungen – für sie möglich (C) dungsschutz für Kapitallebensversicherungen und pri- wäre. Und sie müssen dafür einstehen, dass den Arbeit- vate Rentenversicherungen und zweitens die Einschrän- nehmern später die Sozialleistungen, für die Beiträge be- kung der Insolvenzanfechtung. zahlt wurden, auch zur Verfügung stehen. Gleichzeitig sind die Sozialkassen besonders stark Insolvenzanfech- Der Pfändungsschutz der Altersvorsorge ist heute un- tungen ausgesetzt. zureichend. Renten aus der gesetzlichen Rentenversiche- rung genießen einen Pfändungsschutz. Dagegen sind die Die vorgesehene Regelung wird deshalb die von der Einkünfte Selbstständiger nicht in gleicher Weise vor Rechtsprechung sehr weitgehend ausgestaltete Insol- Pfändung geschützt. Auf Vermögenswerte, die ein venzanfechtung zurückführen, und zwar maßvoll und Selbstständiger für seine Altersvorsorge vorgesehen hat, ohne den gesetzlichen Grundsatz der Gläubigergleichbe- können Gläubiger also unbeschränkt zugreifen. Das geht handlung infrage zu stellen. Ich bin mir im Klaren da- nicht nur zulasten des einzelnen Unternehmers und sei- rüber, dass die vorgesehene Regelung in der Praxis vor ner Familie, sondern ist auch gesamtwirtschaftlich kein allem den Sozialkassen zugute kommen wird. Bei einer guter Zustand. Denn wenn alles gepfändet werden kann, Abwägung der widerstreitenden Interessen scheint mit ist der Unternehmer im Alter auf staatliche Transferleis- das aber hinnehmbar, wenn wir dem wirtschaftlichen tungen angewiesen. Die privaten Gläubiger bedienen Wachstum und der Schaffung neuer Arbeitsplätze Vor- sich bei dem Altersvorsorgevermögen des Unternehmers rang einräumen wollen. Das sollten wir tun. und die staatliche Solidargemeinschaft kann dann für die tatsächliche Versorgung im Alter aufkommen. Anlage 6 In einem ersten Schritt sieht der Gesetzentwurf des- halb vor, für die Lebensversicherung und die private Zu Protokoll gegebene Reden Rentenversicherung einen Pfändungsschutz zu schaffen. zur Beratung des Antrags: Für einen Beobach- Das sind die am weitesten verbreiteten Formen der Al- terstatus Taiwans bei der Weltgesundheitsver- terssicherung Selbstständiger. sammlung (Tagesordnungspunkt 18) Unser Ziel ist es, nicht nur die Rentenzahlungen zu schützen. Auch das anzusparende Vorsorgekapital soll Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg (CDU/ vor Pfändung geschützt sein, soweit das erforderlich ist, CSU): Die überwiegende Mehrheit der internationalen um im Alter eine existenzsichernde Rente zu erhalten. Gemeinschaft, darunter alle EU-Mitgliedstaaten und die Die Höhe des pfändungsgeschützten Vorsorgekapitals USA, vertreten eine „Ein-China-Politik“ und erkennen steigt progressiv mit dem Lebensalter. Das angesparte Taiwan nicht als selbstständigen Staat an. Die Bundesre- (D) (B) Kapital soll im Falle einer regelmäßigen Beitragszah- gierung wie die Europäische Union können den Antrag lung mit Vollendung des 65. Lebensjahres eine Rente er- Taiwans auf einen Beobachterstatus bei der Weltgesund- möglichen, die in etwa so hoch ist wie die Pfändungs- heitsorganisation daher nicht unterstützen. Auch die freigrenze. CDU/CSU lehnt den Antrag der FDP ab. Ich bin zuversichtlich, dass dieser Schutz auch dazu Regelmäßig tritt Taiwan für einen solchen Beobach- beitragen wird, den Menschen Mut zum Schritt in die terstatus anlässlich der jährlich im Mai stattfindenden Selbstständigkeit zu machen. Weltgesundheitsversammlung ein, die am 22. bis 27. dieses Monats stattfinden wird. Die Frage einer insti- Das zweite Ziel dieses Entwurfes ist eine gewisse Be- tutionalisierten taiwanesischen Mitarbeit in der WHO schränkung der Insolvenzanfechtung. Wir müssen zwei hat mittlerweile den Status einer politischen Prinzipien- Dinge in Einklang bringen: die Insolvenzanfechtung als frage zwischen der Volksrepublik China und der taiwa- Ausdruck des Grundsatzes der Gläubigergleichbehand- nesischen Seite vor dem Hintergrund erreicht, dass die lung und das zentrale sozial- und wirtschaftspolitische Volksrepublik eine Wiedervereinigung mit Taiwan an- Anliegen, für eine langfristige finanzielle Stabilität der strebt und, gleichzeitig, Taiwan seinen internationalen sozialen Sicherungssysteme zu sorgen. Nur wenn es ge- Spielraum und damit die entsprechende Anerkennung zu lingt, die Sicherungssysteme auf eine solide finanzielle erweitern sucht. Grundlage zu stellen, kann das Vertrauen der Bevölke- rung in den Sozialstaat auch in Zukunft bewahrt werden. Aus unserer Sicht ist die Frage des formalisierten Be- Die steigenden Kosten der sozialen Sicherung führen obachterstatus von der faktischen Einbindung Taiwans dazu, dass der Faktor Arbeit immer stärker belastet wird. in die Arbeit der WHO bzw. Weltgesundheitsversamm- Hohe lohnbezogene Sozialbeiträge behindern die Schaf- lung zu unterscheiden. Grundsätzlich steht einer fachli- fung von Arbeitsplätzen. Die Bundesregierung will des- chen Mitarbeit Taiwans bei der WHO und deren Förde- halb den Faktor Arbeit entlasten. Diesem Bemühen läuft rung und Vertiefung nichts im Wege. Auf pragmatische es jedoch zuwider, wenn jährlich mehrere 100 Millionen Art und Weise eine faktische Einbindung Taiwans zu er- Euro an Beitragsaufkommen den Sozialkassen im Wege reichen kann den Gründen, die im heute debattierten An- der Insolvenzanfechtung entzogen werden. trag für die zentrale Forderung der FDP benannt werden, allerdings auch ohne einen Beobachterstatus Taiwans Im Unterschied zu sonstigen Gläubigern müssen die Rechnung tragen. Sozialkassen jeden Schuldner akzeptieren, der Arbeitge- ber von sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten ist, Die EU, die Bundesregierung und auch die CDU/ ohne dass eine Auswahl – etwa nach Bonität oder nach CSU haben eine solche Einbindung Taiwans in die 3048 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006

(A) Arbeit der WHO stets befürwortet. Wir unterstützen – siehe das erwähnte Memorandum of Understanding – (C) nicht nur die Prinzipien der WHO-Verfassung, wonach hat sich China jedenfalls nicht in den Weg gestellt. die Teilhabe an höchstmöglichen Gesundheitsstandards zu den fundamentalen Rechten jedes Einzelnen zählt; Gerade aufgrund der in den letzten Jahren zunehmen- darüber hinaus sind wir an einer pragmatischen Lösung den Spannungen zwischen China und Taiwan muss auch der Anwendung der Internationalen Gesundheitsregeln der Deutsche Bundestag hier besonderes Fingerspitzen- – International Health Regulations – interessiert. Denn gefühl unter Beweis stellen. derart können Lücken, zum Beispiel bei der grenzüber- Dies hat das Hohe Haus in anderen Kontexten bereits schreitenden Seuchenbekämpfung, vermieden werden – getan. Ich darf daran erinnern, dass der Deutsche Bun- und dies muss auch im Interesse aller Beteiligten sein. destag mit großer Mehrheit die Aufhebung des EU-Waf- Diese Position der Bundesregierung hat auch die EU ge- fenembargos ebenfalls abgelehnt hat – damals in der De- genüber der chinesischen Regierung vorgetragen. batte auch seitens einiger eingedenk des dargestellten In der Tat findet – entgegen der Erläuterung des FDP- Verhältnisses China-Taiwan und des chinesischen Anti- Antrages – eine solche Einbindung bereits statt. sezessionsgesetzes. Hierüber haben die WHO und Volksrepublik China so- Rücksicht auf diese mit vielen Implikationen verbun- gar ein Memorandum of Understanding geschlossen. dene Spannungslage zu nehmen, bedeutet indes nicht, Zwischen der Weltgesundheitsorganisation und dem bei allen Themenkreisen in hehre Schweigsamkeit ver- Center for Disease Control in Taipeh gibt es eine regel- fallen zu müssen. Die Bundeskanzlerin fährt bekanntlich mäßige Kooperation. Die WHO arbeitet bereits beim Ende des Monats nach China. Ein Schelm wer den FDP- Ausbruch von schweren übertragbaren Krankheiten, die Antrag in diesen Zusammenhang stellen wollte. Ange- sich international ausbreiten können, mit den taiwanesi- sichts ihrer sehr gelungenen Auftritte in Moskau und schen Gesundheitsbehörden zusammen. Das ist etwa bei Washington begleitet die Bundeskanzlerin allerdings die SARS oder der Vogelgrippe geschehen. Demzufolge Erwartung, dass sie auch „schwierige“ Themen – zumal läuft ein nicht unwesentlicher Teil Ihrer Forderungen ins mit der erforderlichen Sensibilität – nicht aussparen Leere. wird. Selbst von offizieller taiwanesischer Seite – nament- Insgesamt muss unser überragendes Interesse sein, lich von Vizeminister Kao – war kürzlich anlässlich ei- dass der Konflikt zwischen Peking und Taipeh nicht wei- ner Reise nach Europa zu vernehmen, dass es Taiwan teren Eskalationsstufen zugeführt wird. weniger auf den Beobachterstatus als vielmehr auf eine Verbesserung und Intensivierung der Zusammenarbeit Detlef Dzembritzki (SPD): Wir haben Verständnis ankomme. Auf Initiative der Bundesregierung hat die (B) für den Wunsch Taiwans auf eine aktive Beteiligung an (D) EU-Präsidentschaft jüngst gegenüber der WHO zum der Arbeit der Weltgesundheitsorganisation. Die WHO Ausdruck gebracht, dass die EU die Vertiefung der Ein- ist eine global wirkende Institution, deren Einsatz keine bindung Taiwans in die Arbeit der Weltgesundheitsorga- regionale Ausnahme verträgt. nisation wünscht – nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Vogelgrippe. WHO-Generalsekretär Lee hat am 2. Mai Bei der politischen Unterstützung des Wunsches Tai- gegenüber der EU zugesagt, sich dafür einsetzen zu wol- wans kann jedoch Deutschland alleine wenig bewirken. len. Vielmehr sind die Mitgliedstaaten der EU der notwen- dige Adressat für eine solche Initiative. Anzustreben ist Dies sind vernünftige, durchaus pragmatische An- daher ein koordiniertes Vorgehen, um in Genf im nächs- sätze, die die Notwendigkeit der verbesserten Zusam- ten Jahr erfolgreich sein zu können. menarbeit nicht von Statusfragen und politischen Sensi- bilitäten in anderen Kontexten abhängig macht. Hier hat Wichtig ist, dass allgemeine Politik und Weltgesund- die Bundesregierung die volle Unterstützung der CDU/ heitsvorsorge in diesem Zusammenhang nicht vermischt CSU-Fraktion. werden. Hier geht es um die Abwehr von Gefahren für die Gesundheit weltweit, gerade aus der Region, in der Die FDP schießt mit ihrem Antrag hingegen über das sich Taiwan befindet. Viele Grippewellen, auch SARS Ziel hinaus. Begründet wird der Antrag damit, dass ge- oder aktuell die Vogelgrippe, haben in Südchina und der fährliche und sich rapide ausbreitende Seuchen, wie zum umgebenden Region ihren Ausgang genommen. Deswe- Beispiel die Vogelgrippe, nur effektiv bekämpft werden gen ist eine Beteiligung Taiwans an den Erkenntnissen, können, wenn alle Regionen der Welt zusammenarbeiten den Strategien und den Programmen der Weltgesund- und keine von dieser Zusammenarbeit ausgeschlossen heitsorganisation keine abstrakte Frage, sondern ein sehr bleibt. Das ist richtig. konkretes, aktuelles Erfordernis. Allerdings: Wie hier dargestellt, ist es für eine Verbes- Japan und die USA haben schon vor geraumer Zeit si- serung der Zusammenarbeit nicht zwingend erforderlich, gnalisiert, dass sie diese Sichtweise teilen. Deswegen Taiwan einen Beobachterstatus zu geben. Einen solchen muss jetzt die Zeit genutzt werden, um den notwendigen zu fordern, vermag für das eigentlich angestrebte Ziel Konsens herbeizuführen. sogar kontraproduktiv zu wirken: Die Wahrscheinlich- keit, dass somit nur weitere Spannungen zwischen Tai- Natürlich verbindet Taiwan mit seinem Anliegen die wan und der VR China provoziert würden ist schwerlich Hoffnung, seinen Status als Land in den internationalen auszuschließen, was dem eigentlichen Ziel einen Bären- Beziehungen zu verbessern. Daran ist im Grunde nichts dienst erweisen würde. Einer pragmatischen Lösung auszusetzen, und dennoch ist es aussichtsreicher, diese Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006 3049

(A) Fragen zu trennen und einer gesundheitspolitischen Ar- bindung Taiwans unmittelbar profitieren, denn Taiwan (C) gumentation zu folgen. hat beachtliche Erfolge im Gesundheitssektor vorzuwei- sen: Der Beobachterstatus, der beispielsweise Organisatio- nen wie dem Roten Kreuz bereits eingeräumt wurde, So wurde in Taiwan das erste umfassende Kranken- sollte es leichter machen, Taiwan Mitwirkungsmöglich- versicherungssystem in Asien aufgebaut; Taiwan hat keiten einzuräumen, ohne von unserer Position in der eine hohe Dichte an Ärzten vorzuweisen und zahlreiche Ein-China-Politik abzuweichen. übertragbare Krankheiten wie Tollwut, Malaria und Kin- derlähmung überwunden. Schon aus rationalen Erwägungen sollte uns an einer engeren Kooperation des WHO mit dem hoch entwickel- Den Grund, warum Taiwan dennoch seit Jahrzehnten ten taiwanesischen Gesundheitssystem und seinen medi- in Sachen WHO ausgeschlossen wird, kennen wir alle: zinischen Forschungseinrichtungen gelegen sein. Zu- weil es China nicht gefällt. gleich mache ich aus meiner Sympathie für die Die Volksrepublik protestiert lauthals: Taiwan weiter Entwicklung Taiwans von einem autoritären Regime hin in die WHO einzubeziehen würde gegen die Ein-China- zu einer durchaus funktionierenden Demokratie mit Politik verstoßen – würde eine „Staatlichkeit“ Taiwans freien Wahlen, Meinungsfreiheit und Achtung der Men- anerkennen und sei ohnehin unrechtmäßig, da Taiwan schenrechte keinen Hehl. kein Mitglied der Vereinten Nationen ist. Aber was wir Die Bundeskanzlerin sollte bei ihrem Besuch in der hier fordern, hat mit all dem nichts zu tun. Dies ist kein Volksrepublik China das Interesse Deutschlands an einer Antrag auf die Anerkennung Taiwans als unabhängiger engen und intensiven Zusammenarbeit in Fragen der Ge- Staat. Dies ist kein Rütteln an der Ein-China-Politik. sundheit mit der gesamten Region betonen und zugleich Und dies ist kein Verstoß gegen die UN- oder WHO-Sat- die Volksrepublik zu einer Verbesserung der Informa- zung. tionspolitik bei Seuchen und Epidemien auffordern, denn Dies bedeutet lediglich, dass wir auf der gesundheits- auch das gehört in diesem Zusammenhang erwähnt. politischen Landkarte keinen weißen Fleck dulden. Dass wir Taiwan – eine reifende Demokratie mit einem eta- Harald Leibrecht (FDP): Wir Liberale sind besorgt blierten Gesundheitswesen – nicht länger ausschließen über den derzeitigen Status der Zusammenarbeit zwi- wollen aus dem globalen Gesundheitsnetzwerk – sowohl schen der WHO und Taiwan. mit Blick auf die Gesundheit der taiwanesischen Bevöl- kerung als auch auf unsere eigene. Die Weltgesundheitsorganisation stellt die oberste und wichtigste Instanz dar, wenn es um effektive und ko- Im Übrigen sieht die Satzung der WHO für Nichtmit- (B) ordinierte Krankheitsbekämpfung und -vorbeugung glieder der UN eine Aufnahme auf der Grundlage eines (D) geht. einfachen Mehrheitsbeschlusses vor. Heute, in Zeiten von Krankheiten wie SARS und der Die Weltgesundheitsversammlung, WHA, das Vogelgrippe, ist es absolut notwendig, dass alle Regio- höchste Entscheidungsgremium der WHO, hat überdies nen der Welt umfassend in dieses globale Gesundheits- die Möglichkeit, internationale oder nichtstaatliche Or- netzwerk eingebunden werden. ganisationen einzuladen, an den Aktivitäten der WHO teilzunehmen. So haben in der Vergangenheit Palästina Die Bundesregierung selbst stellte vergangenen Fe- und Malta einen Beobachterstatus bei der WHA erhalten bruar in ihrem Bericht über „außen- und sicherheitspoli- und werden routinemäßig zu deren Treffen eingeladen. tische Implikationen und Auswirkungen von Seuchen am Beispiel der Vogelgrippe“ fest, dass in der globali- Eine direkte und geregelte Einbindung Taiwans in die sierten Welt eine effiziente internationale Zusammenar- Arbeit der WHO wäre schon mit einem Beobachterstatus beit „unverzichtbar“ ist, da Tierseuchen nicht an Gren- in der WHA erreichbar. zen Halt machen. Dem kann ich nur zustimmen. Denkbar wäre zum Beispiel in Anlehnung an Taiwans Dennoch bleibt Taiwan bis heute ein systematischer Mitgliedschaft in der WTO – gegen die ich im Übrigen und umfassender Zugang zur WHO verwehrt und kann aus diesem Hause auch keinen Protest gehört habe –, nur eingeschränkt an den Programmen und Treffen der Taiwan als „Gesundheitseinheit“ oder Ähnliches einzu- WHO teilnehmen. beziehen. Die Wichtigkeit und Notwendigkeit. Taiwan systema- Nächste Woche reist Bundeskanzlerin Merkel nach tisch in die WHO einzubinden sieht man derzeit ganz China. Dort wird sie wichtige Themen der Wirtschafts-, deutlich an der Problematik der Vogelgrippe. Taiwan ist Außen- und Sicherheitspolitik diskutieren. Ich hoffe, eine bedeutende Station auf der Route verschiedener dass auf der parallel tagenden Weltgesundheitsversamm- Zugvögel: Etwa 1,25 Millionen Zugvögel passieren jähr- lung in Genf die Gesundheitspolitik einen Schritt voran- lich Taiwan oder überwintern dort. Hinzu kommt, dass kommt und Taiwan einen Beobachterstatus bei der Taiwan einer der wichtigsten internationalen Verkehrs- WHA erhält – mit der Stimme der deutschen Vertreter. knotenpunkte im westlichen Pazifik ist. Schließen wir uns in dieser Sache dem Europaparla- Trotzdem ist Taiwan bis heute aus dem Seuchenbe- ment und unseren amerikanischen und japanischen Kol- kämpfungsnetz der WHO ausgeschlossen. Dabei würden legen an und beenden diesen gesundheitspolitischen Un- die WHO und wir, ihre Mitgliedsländer, von einer Ein- fug. 3050 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006

(A) Monika Knoche (DIE LINKE): Zu später Stunde be- ist eine Tatsache. Ebenso eine Tatsache ist, dass hierzu (C) schäftigen wir uns mit einem kleinen Problem, das – ich nicht nur Wirtschaftsbeziehungen und ihre sozialen Aus- sage es direkt – auch noch größer gemacht wurde mit wirkungen gehören, sondern auch eine ganze Reihe von diesem Antrag als es eigentlich ist. Mag sein, dass es den weiteren Effekten. Wenn Güter und Kapital reisen, rei- Freidemokraten entgangen ist – ich kann es mir jedoch sen auch Menschen. Dies ist auf der ganzen Welt so, und nicht so recht vorstellen – Tatsache ist aber: Taiwan ist es betrifft praktisch alle Länder. Besonders aber gilt dies seit Mai 2005 Gegenstand eines Memorandums of Un- dann, wenn starke Wirtschaften mit hohem Exportanteil derstanding mit China. Es handelt sich um eine Verein- vorhanden sind. barung zwischen der WHO und China, eine Vereinba- Zu diesen Ländern gehört schon seit Jahrzehnten auch rung auf der Grundlage der Ein-China-Politik, die es Taiwan, Die taiwanesische Wirtschaft gehört zu den ex- Taiwan erlaubt, unter bestimmten Bedingungen an portstärksten Asiens, sogar der Welt. Dieser Umstand ist WHO-Sitzungen teilzunehmen. deshalb von Bedeutung, weil er eine große Anzahl an Gesundheitspolitische Experten aus Taiwan haben im weltweiten Kontakten mit sich bringt. So begrüßenswert zurückliegenden Jahr achtmal Gebrauch von dieser Ver- oder auch nur normal dies ist, so hat es doch auch Kon- einbarung gemacht, und zwar genau zu den Themen, die sequenzen, die besondere Beachtung verdienen, Eine die FDP hier darstellt respektive heraushebt – wie die solche Konsequenz ist die einfache Erkenntnis, dass Vogelgrippe. Das Memorandum of Understanding er- menschliche Kontakte auch das Risiko der Übertragung streckt sich auf alle Fragen der Gesundheitsprävention, von Krankheiten bedeuten, und je mehr solcher Kon- die übertragbare Krankheiten betreffen, also auch HIV/ takte es gibt, umso größer wird die Wahrscheinlichkeit Aids, TBC etc. Zwar ist der Text des Memorandums einer Ansteckung. nicht öffentlich, wohl aber alle Informationen der WHO Zur Eindämmung dieses Risikos bzw. seiner unver- zu den angesprochenen Krankheiten. So sind alle Richt- meidlichen Folgen gibt es die Weltgesundheitsorganisa- linien der WHO zugänglich und über Internet alle fach- tion. Sie ist wesentlicher Bestandteil des weltweiten lichen Informationen zu erhalten. Von einem Informa- Netzwerks zur Gesundheitsvorsorge und -versorgung, tionsdefizit kann nicht die Rede sein, von einem sie bildet dessen institutionelle Struktur. Es scheint ba- Kooperationsdefizit der WHO mit Taiwan auch nicht. nal, auf deren Sinn und Notwendigkeit hinzuweisen, zu- Allerdings erlaubt es der konstitutionelle Rahmen der mal angesichts der immer enger werdenden Verflechtung WHO nicht, direkte diplomatische Beziehungen zu Tai- von Volkswirtschaften, des wissenschaftlichen, kulturel- wan aufzunehmen. Die FDP scheint dies mit dem Antrag len und touristischen Austauschs weltweit. Dennoch aber auch gar nicht zu wollen. Die darin vorgeschlage- scheint dieser Hinweis notwendig, denn bis heute wird nen Erweiterungen über das genannte Memorandum hi- einem Land wie Taiwan mit dem Verweis auf seine völ- (B) (D) naus bergen meines Erachtens zu viele Risiken auf au- kerrechtliche Nichtanerkennung der Zugang zur Weltge- ßenpolitischem Gebiet, als dass ich ihnen zustimmen sundheitsorganisation verwehrt. wollte. Meiner Ansicht nach ist diese Begründung ebenso Taiwan kann von sich sagen, dass es einen hohen me- kurzsichtig wie überflüssig, und das möchte ich erklären. dizinischen und gesundheitlichen Standard aufweist. Es Kurzsichtig wäre die Aufrechterhaltung des Aus- ist wahrlich kein Entwicklungsland, in dem gravierende schlusses Taiwans von der Mitarbeit in der WHO Defizite auf diesem Gebiet epidemiologisch die Warnsi- deshalb, weil die Überwachung, Eindämmung und Be- gnale aufleuchten ließe. kämpfung von Pandemien und Seuchen, von Infektions- Auch – so meine ich – ist die Vogelgrippe überschätzt krankheiten aller Art in unser aller Interesse ist. Dabei ist in ihrem Bedrohungspotenzial, als dass man deswegen der völkerrechtliche Status eines Gebietes unerheblich. von „außen- und sicherheitspolitischen Implikationen“ Krankheiten richten sich nicht danach, ob ein Land, in reden müsste. Insofern ist das Beispiel Vogelgrippe oh- dem sie vorkommen, als Staat anerkannt ist. Taiwan war nehin schlecht gewählt. Zur Frage, ob wir uns als Parla- und ist naturgemäß von allen weltweit sich verbreiten- ment mit dem Thema befassen sollen, neige ich zur Ab- den Infektionskrankheiten betroffen. Ich erinnere nur an lehnung. die gerade noch rechtzeitig eingedämmte SARS-Epide- mie im südchinesischen Raum vor einigen Jahren. Schon Taiwan ist vom Großteil der Staaten nicht als unab- damals sollte klar sein, dass eine Einbindung Taiwans in hängiger Staat anerkannt. Das hat seine guten Gründe das internationale Gesundheitssystem sinnvoll und not- und daran wollen Sie und wir nichts ändern. Die Aus- wendig ist. Heute ist die erkennbar gestiegene Gefahr grenzung Taiwans in sachlichen und fachlichen Fragen der Ausbreitung der Vogelgrippe eine Aufgabe auch der des Infektionsschutzes kann ich aufgrund unserer Re- WHO. Und auch hier ist offensichtlich, dass kein be- cherche nicht sehen. wohntes Gebiet der Erde vor dieser Krankheit und ihren Wir sind als Abgeordnete gut beraten, taiwanische In- Auswirkungen geschützt ist. teressen auf staatliche Souveränität nicht durch partielle Überflüssig ist der Ausschluss Taiwans von der Ein- und in der Bedeutung überhöhte Fragen eine Aufwer- beziehung in die Arbeit der WHO deshalb, weil diese tung zu geben. keinerlei völkerrechtliche Auswirkung hat. Die WHO ist eine Sonderorganisation der UN, die eine spezielle fach- Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die liche Aufgabe hat. Nichtmitglieder der UN können Mit- weltweite Verflechtung, meist Globalisierung genannt, glied der WHO sein oder Beobachterstatus genießen, je- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006 3051

(A) denfalls Zugang zu ihrer Arbeit haben. Dafür gibt es eine Die Verabschiedung des Bundeshaushaltes ist im Juni (C) Reihe von Beispielen: Nicht anerkannte staatsähnliche geplant. Um die organisatorischen Voraussetzungen für Gebiete wie Palästina gehören dazu oder auch internatio- Digitalfunk zu schaffen, hat das Bundesinnenministe- nale Organisationen wie das Rote Kreuz. Warum nicht rium den heute zur Debatte stehenden Gesetzentwurf Taiwan? Warum sollte, wer in der WTO mitarbeiten vorgelegt. Der Gesetzentwurf sieht vor, eine Bundesan- kann oder an Olympischen Spielen teilnehmen, nicht stalt für den Digitalfunk der Behörden und Organisatio- auch zur Aufrechterhaltung der Gesundheit bei sich und nen mit Sicherheitsaufgaben, BDBOS, zu errichten. weltweit beitragen dürfen? Der völkerrechtliche Status Diese neue Behörde soll die Aufgabe haben, den BOS- spielt dabei keine Rolle. Worum es geht, ist die Bedeu- Digitalfunk aufzubauen, zu betreiben und seine Funk- tung eines Landes für die Verbreitung von Infektions- tionsfähigkeit sicherzustellen. krankheiten, sein und der Schutz seiner Nachbarn vor deren Ausbreitung und nicht zuletzt sein möglicher Bei- Im Koalitionsvertrag haben die Regierungsparteien trag zur Eindämmung von Epidemien und Seuchen. klar zum Ausdruck gebracht, dass sie möglichst rasch den BOS-Digitalfunk einführen wollen. Notwendig ist Unter den mehr als 20 Millionen Einwohnern Tai- der BOS-Digitalfunk deshalb, weil die Kommunika- wans gibt es eine ganze Reihe hervorragender Wissen- tionsstrukturen der BOS nicht mehr heutigen Anforderun- schaftler und Ärzte. Die Insel hatte das erste flächende- gen genügen. Dies gilt besonders mit Blick auf mögliche ckende Krankenversicherungssystem Asiens und verfügt Terroranschläge und Katastrophenfälle. Die analogen über ein sehr gut ausgebautes Gesundheitssystem. Eine Funknetze, die seit den 70-Jahren genutzt werden, sind Einbeziehung Taiwans in die Arbeit der WHO wäre veraltet und nicht abhörsicher. Bei Großeinsätzen sind nicht nur gut für das Land, gut für die Chancen der welt- die analogen Netze schon häufig zusammengebrochen. weiten Bekämpfung von Epidemien, sondern auch gut Auch die Ersatzteilbeschaffung wird immer schwieriger für die Arbeit der WHO selbst, Taiwan kann mit seinen und kostenintensiver. Demgegenüber wird der Digital- Erfolgen in der Gesundheitspolitik zum Erfolg der WHO funk die Kommunikation der BOS verbessern. Sprach- beitragen. Zu wünschen wäre deshalb auch seine Mit- übertragung und Datenkommunikation werden innerhalb arbeit in den Lenkungsgremien der WHO und an ihren eines gemeinsamen Netzes ermöglicht. Dies erleichtert Arbeitsprogrammen. Dieser Ansicht sind mittlerweile den gemeinsamen, koordinierten Einsatz unterschiedli- nicht nur eine Reihe von Staaten, sondern auch von inter- cher Behörden und Einsatzkräfte. Der Informationsaus- nationalen medizinischen Fachorganisationen. Deutsch- tausch erfolgt verschlüsselt und ist deshalb abhörsicher – land sollte sich diesen Erkenntnissen nicht verschließen dies verbessert den Datenschutz und verhindert, dass und der praktischen Vernunft Genüge tun. Die Unterstüt- Straftäter den Funkverkehr abhören und dadurch polizei- zung eines Beobachterstatus Taiwans in der WHO würde lichen Maßnahmen entgehen können. (B) uns allen nützen. (D) Am Beginn des Gesetzgebungsverfahrens für das BDBOS-Gesetz stellt sich die Frage, inwiefern für das Anlage 7 digitale Funknetz eine eigene Organisation benötigt wird, und wenn ja, ob dazu eine Bundesanstalt gegründet Zu Protokoll gegebene Reden werden sollte. Ich bin der Auffassung, dass beide Fragen zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes über mit ja zu beantworten sind. Die Innenministerkonferenz die Errichtung einer Bundesanstalt für den hat bereits im März 2005 beschlossen, dass eine „BOS- Digitalfunk der Behörden und Organisationen Stelle“ eingerichtet werden soll. mit Sicherheitsaufgaben (BDBOS-Gesetz – Für eine eigene Organisation für den BOS-Digital- BDBOSG) (Zusatztagesordnungspunkt 8) funk spricht zunächst die große Komplexität des Projek- tes. Das deutsche BOS-Netz wird das größte digitale Ralf Göbel (CDU/CSU): Die große Koalition bringt Funknetz der Welt sein. Seine Einführung ist sehr zeit- die Einführung des neuen und digitalen Funksystems für aufwendig und wird sich bis Ende 2010 hinziehen. Das die Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufga- Netz wird von sehr unterschiedlichen Behörden und Or- ben, BOS, voran. Das Bundesinnenministerium ent- ganisationen genutzt werden – von der Polizei des Bun- scheidet Ende Juni über die Vergabe der Systemtechnik, des und der Länder, von den Feuerwehren und Rettungs- die Verhandlungen über den Betrieb des Funknetzes sind diensten, vom Technischen Hilfswerk und dem Zoll. Der auch auf gutem Wege. Noch in diesem Jahr soll mit dem Aufbau und Betrieb ist technisch anspruchsvoll und wir Aufbau des Funknetzes begonnen werden. wissen, welche Risiken technologische Großprojekte bergen. Nicht zuletzt ist auch wichtig, die Kosten für Er- Der Gesetzgeber steht nun vor der Aufgabe, die not- richtung und Betrieb unter Kontrolle zu haben. wendigen Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass die Vergabe des Digitalfunks zügig abgeschlossen und bald Das alles macht es erforderlich, eine Stelle zu schaf- mit dem Aufbau des Funknetzes begonnen werden kann. fen, in der der betriebswirtschaftliche, taktische und Folgendes ist dafür zu tun. Erstens müssen im Bundes- technische Sachverstand gebündelt wird. Es ist sinnvoll, haushalt 2006 die notwendigen Finanzmittel bereitge- die Interessen von Bund und Ländern zu koordinieren stellt werden. Zweitens bedarf es einer Organisation, die und einheitlich gegenüber dem Systemlieferanten und den Aufbau und Betrieb des Funknetzes steuert und die dem Betreiber des Funknetzes zu vertreten. Den Auftrag- unterschiedlichen Akteure von Bund und Ländern koor- nehmern sollten nicht 17 verschiedene, sondern eine Auf- diniert. traggeberorganisation gegenüberstehen. Dies vermindert 3052 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006

(A) das Risiko erheblich, dass der Betrieb eines bundesweit verstoßen und verfassungswidrig zu sein. Mittlerweile (C) einheitlichen Digitalfunks an technischen oder organisa- liegt ein Verwaltungsabkommen vor, in dem dieser ge- torischen Problemen scheitert. nannte Ausgleich enthalten ist. Ich danke dem Bundesin- nenminister, dass er mit seinem neuen Stil von Kollegia- Damit die gemeinsame Stelle von Bund und Ländern lität mit den Innenministern der Länder eine schnelle als Auftraggeberorganisation fungieren kann, ist es er- Lösung im Streit um das Verwaltungsabkommen gefun- forderlich, diese Stelle als eine eigenständige juristische den hat. Das Verwaltungsabkommen zwischen dem Person einzurichten. Dies wird erreicht, indem die ge- Bund und den Ländern wurde heute Mittag paraphiert. meinsame Stelle als rechtsfähige Anstalt des öffentli- chen Rechts errichtet wird. Diese Rechtsform stellt im Mit dem Verwaltungsabkommen regeln Bund und verfassungsrechtlich zulässigen Rahmen zudem sicher, Länder ihre Zusammenarbeit beim Aufbau und Betrieb dass die Länder – sie sind die Hauptnutzer des Funknet- des BOS-Digitalfunks. Das Abkommen trifft klare Re- zes und werden einen beträchtlichen Teil der Kosten tra- gelungen, beispielsweise über die Aufgaben des Verwal- gen – angemessen am Aufbau und Betrieb des Digital- tungsrates, der Stimmenzahl der einzelnen Länder im funks mitwirken können. Das wäre bei einer obersten Verwaltungsrat sowie über die jeweiligen Kostenanteile Bundesbehörde oder bei einer Bundesoberbehörde nicht von Bund und Ländern für die Realisierung der Netzab- möglich. schnitte. Anders als vor einem Jahr wissen die Länder, was auf sie zukommt, wenn die Bundesanstalt für den Für die Schaffung einer Bundesanstalt und damit ei- Digitalfunk gegründet wird. Deshalb ist der heutige Ge- ner Behörde sprechen auch Sicherheitsgründe. Dass das setzentwurf zustimmungsfähig. digitale Funknetz der Sicherheitsbehörden für die Si- cherheit der Bundesrepublik eine zentrale Rolle spielen Für den jetzt vorliegenden Gesetzentwurf spricht au- wird, liegt auf der Hand. Gerät das Funknetz in Gefahr, ßerdem, dass er gegenüber dem alten Entwurf der Vor- kann dies auch die Innere Sicherheit gefährden. In einem gängerregierung die Aufgaben des Verwaltungsrates we- solchen Fall ist eine Behörde notwendig, die Maßnah- sentlich erweitert: Die Satzung der Bundesanstalt wird men zur Gefahrenabwehr anordnen kann. Der Gesetz- nicht mehr durch den Präsidenten, sondern durch den entwurf sieht dazu eine Ermächtigung ausdrücklich vor, Verwaltungsrat erlassen. Es wird festgelegt, dass die beispielsweise soll sich die Bundesanstalt Zugang zu Entscheidung über die grundsätzlichen Angelegenheiten Computersystemen des Funknetzes verschaffen und die der Bundesanstalt dem Verwaltungsrat obliegt. Die Stär- Steuerung dieser Systeme übernehmen können. kung des Verwaltungsrats gegenüber dem früheren Ent- wurf ermöglicht es den Ländern, über dieses Gremium In diesem Zusammenhang ist auch von Bedeutung, ihre Interessen besser zu vertreten und in die Bundesan- dass die Bundesanstalt befugt werden soll, die Sicherheit stalt einzubringen. Der Grundsatz der Bundestreue wird (B) des Netzes und seiner Komponenten zu überprüfen, um (D) eingehalten. Gefahren vorab erkennen zu können. Die im Gesetzent- wurf vorgesehenen Regelungen zur Abwehr netzspezifi- Die Situation hat sich gegenüber der von vor einem scher Gefahren und zur Überwachung sind deshalb Jahr aufgrund des verbesserten – und vorab mit den Län- wichtig, weil private Unternehmen bei Errichtung und dern abgestimmten – Gesetzentwurfs und dem mittler- Betrieb des Funknetzes einbezogen sind. Das BOS-Netz weile vorliegenden Verwaltungsabkommen geändert. wird somit kein rein staatliches Netz sein – es bedarf ei- Das im Entwurf vorgelegte BDBOS-Gesetz sowie das ner Behörde, die das Funktionieren des Netzes über- Verwaltungsabkommen bilden eine gute Grundlage, die wacht und gewährleistet. von der Innenministerkonferenz beschlossene BOS- Stelle in Form einer Bundesanstalt für Digitalfunk zu Ein zweiter Sicherheitsaspekt ist nicht so offensicht- verwirklichen. lich: Die Funktionsfähigkeit der Bundesanstalt wird auch dadurch gewährleistet, dass der Bund als Zahlungs- Ich plädiere dafür, das Gesetzgebungsverfahren in träger die Zahlungsfähigkeit garantiert. Dementspre- Bundestag und Bundesrat zügig abzuschließen, damit chend ist auch laut Gesetzentwurf die Eröffnung des In- die Bundesanstalt für Digitalfunk bald gegründet und die solvenzverfahrens nicht zulässig. Voraussetzungen gegeben sind, mit dem Aufbau und Be- trieb des Digitalfunks so schnell wie möglich zu begin- Vor gut einem Jahr standen wir als Gesetzgeber be- nen. Dies wird die Arbeit unserer Sicherheitsbehörden reits schon einmal vor der Frage, ob eine Bundesanstalt verbessern und somit der Inneren Sicherheit in Deutsch- für den Digitalfunk eingerichtet werden soll. Das Ge- land zugute kommen. setzgebungsverfahren wurde nicht abgeschlossen – der Gesetzentwurf der rot-grünen Koalition fiel der Diskon- tinuität zum Opfer. Ich habe mich gegen den damaligen Gerold Reichenbach (SPD): Unter Fachleuten, Gesetzentwurf ausgesprochen. Die Unionsfraktion hat aber auch In der Politik ist seit mindestens einem halben gegen den Gesetzentwurf gestimmt. Jahrzehnt unumstritten, dass unser veraltetes analoges Funksystem für die Behörden und Organisationen im Si- Beim damaligen Stand des Verfahrens war nicht er- cherheitsbereich auf den modernen Digitalfunk umge- sichtlich, wie und in welchem Umfang der Ausgleich stellt werden muss. von Bundes- und Länderinteressen innerhalb der Bun- desanstalt erfolgen sollte. Deshalb wurde diesem Ge- Der Digitalfunk bietet gegenüber dem analogen Sys- setzentwurf in einer Anhörung attestiert, gegen den ver- tem vor allem die seit langem geforderte Abhörsicher- fassungsrechtlichen Grundsatz der Bundestreue zu heit. Der Digitalfunk bietet höheren Kommunikations- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006 3053

(A) komfort. Er bietet die Möglichkeit des Datentransports und den späteren Betrieb sowie den weiteren Ausbau des (C) und damit einer modernen Führung und Kommunika- Netzes eine Organisationsform gefunden werden muss, tion, er bietet die Möglichkeit der besseren Organisation die die Beteiligung der Länder gewährleistet, die nach und eines effektiveren Managements des Funkverkehrs unserer Verfassung ja für einen nicht unwesentlichen und, last but not least, er verfügt über viel höhere Kapa- Teil der Behörden und Organisationen im Sicherheitsbe- zitäten – in Bezug auf Katastrophen und Großschadens- reich zuständig sind oder die zuständigen kommunalen lagen ein ganz wesentlicher Punkt. Aufgabenträger vertreten. Mit der Einführung des Digitalfunks in Deutschland Und so debattieren wir heute erneut im Deutschen bewerkstelligen wir die Aufgabe, das größte europäische Bundestag über ein Gesetz zur Errichtung einer Bundes- Funknetz für die Behörden und Organisationen mit Si- anstalt für den Digitalfunk der Behörden und Organisa- cherheitsaufgaben mit einem Schlag in die neue Technik tionen mit Sicherheitsaufgaben. Wir erinnern uns, dass zu transformieren. Ich sage das ganz bewusst an die wir bereits vor knapp einem Jahr, am 30. Juni 2005, in Adresse all der Kritiker, die immer wieder moniert ha- diesem Hause mit der damaligen Regierungsmehrheit ben, dass Deutschland eines der letzten Länder ohne ein solches Gesetz beschlossen haben, das sich von dem diese neue Technik sei. Diese Transformation eines jetzt eingebrachten Gesetz lediglich in Details, aber komplett bestehenden Netzes ist keineswegs vergleich- nicht in der Substanz unterscheidet. Dieses Gesetz fiel bar mit dem, was in anderen europäischen Ländern in- – diese kritische Anmerkung sei mir gegenüber unserem zwischen an Neueinführungen, Pilotprojekten oder auch neuen Koalitionspartner erlaubt – sachlich unnötiger- Insellösungen realisiert wurde. Denn das, was in anderen weise, aber politisch motiviert der Diskontinuität an- europäischen Ländern zum Großteil erst mit der Einfüh- heim, weil die Zustimmung im Bundesrat verweigert rung des Digitalfunks realisiert wurde, existiert und wurde. Eigentlich könnte ich, was die inhaltliche Be- funktioniert in Deutschland bereits seit Jahrzehnten: ein gründung des hier vorliegenden Gesetzes betrifft, die einheitliches, integriertes Netz für alle Behörden und Or- Teile meiner damaligen Rede, die übrigens damals schon ganisationen im Sicherheitsbereich quer über alle Bun- zu Protokoll gegeben wurde, heute erneut zu Protokoll desländer. geben. Damit ist die Aufgabe, die wir uns vorgenommen ha- Die wesentlichen Punkte lassen sich kurz wie folgt ben, auch schwieriger. Aber sie lohnt die Anstrengung, zusammenfassen. Wir brauchen die Bundesanstalt für weil dadurch unsere Sicherheitsbehörden an Führungs- den Digitalfunk der Behörden und Organisationen mit und Kommunikationsfähigkeit und damit wir alle an Si- Sicherheitsaufgaben, weil wir den Sach- und Fachver- cherheit hinzugewinnen. Und weil dies eine schwierige stand bündeln und die abzuschließenden Verträge für (B) Aufgabe ist, weil wir bei dieser neuen Technik Bund, Planung, Aufbau und Betrieb des Digitalfunksnetzes op- (D) Länder und Gemeinden und ebenso Polizei, Feuerwehr timal managen wollen. Nur über die Bundesanstalt kann und Hilfsorganisationen gemeinsam mitnehmen müssen, der erforderliche technische und betriebswirtschaftliche gerade deshalb hatten und haben wir einen erheblichen Sachverstand optimal gebündelt und eine kontinuierliche Abstimmungsbedarf, nicht zuletzt bei der Finanzvertei- Qualitätssicherung gewährleistet werden. lung. Wir benötigen eine BOS-Stelle als einheitlichen Ich möchte an dieser Stelle unterstreichen: Dass wir Sachwalter der von Bund und Ländern eingebrachten In- heute mit dem vorliegenden Gesetz einen weiteren wich- teressen und Vermögenswerte. Wir folgen damit der zwi- tigen Schritt bei der Einführung des Digitalfunks ma- chen, ist dem ehemaligen Bundesinnenminister Otto schen Bundesinnenminister und Landesinnenministern Schily zu verdanken. Er hat mit seinem Angebot, dass im März 2004 geschlossenen Dachvereinbarung zur Zu- der Bund den Aufbau des Rumpfnetzes mit einer Flä- sammenarbeit beim Aufbau und Betrieb eines bundes- chenabdeckung von 50 Prozent für jedes Bundesland weit einheitlichen digitalen Sprech- und Datenfunksys- schultert, den gordischen Knoten der Finanzverteilungs- tems für alle Behörden und Organisationen mit frage zwischen Bund und Ländern durchschlagen. Damit Sicherheitsaufgaben und den dazugehörigen Beschlüs- gelang ihm der entscheidende Durchbruch zur Realisie- sen der Innenminister, die eine solche BOS-Stelle ver- rung des Projektes. Und gleichzeitig hat er dafür gesorgt, einbarten. dass wir in Zukunft einen Wettbewerb bei den Anbietern Auch die Wirtschaft benötigt einen einheitlichen und haben werden, indem er die Vergabe für den Betrieb des kompetenten Ansprechpartner. Dies kann der bisherige Netzes und die Systemlieferung trennte. Diese Frage ist 100-köpfige Lenkungsausschuss von Bund und Ländern gerade im Hinblick auf die Kosten, die bei den Endgerä- nicht leisten. ten auf die Gemeinden und Hilfsorganisationen zukom- men, und im Hinblick auf die Frage, wie die weitere Und wir brauchen eine Stelle, die mit hoheitlichen technische Entwicklung des Netzes aussehen wird, nicht Befugnissen ausgestattet, auch später die Eingriffsrechte unerheblich. besitzt, um den Betrieb des Netzes jederzeit überwachen oder notfalls per Ersatzvornahme sicherstellen zu kön- Für uns Sozialdemokraten war auch von Anfang an nen. klar, dass der Staat für die Einführung und den Betrieb eines solchen für die innere Sicherheit eminent wichti- Das Vergabeverfahren ist im Gange und die einzelnen gen Netzes die Eingriffs- und Kontrollbefugnisse behal- Schritte werden ohne Zeitverzögerung kontinuierlich ab- ten muss. Uns war auch klar, dass für die Einführung gearbeitet. Und bei allem, was da auch an öffentlichen 3054 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006

(A) Positionierungen der Konkurrenten bzw. jetzt ausge- für Digitalfunk. Es ist für uns nicht ersichtlich, warum (C) schiedenen Konkurrenten zu hören ist: Die absolute Kor- die im Gesetzentwurf der Bundesanstalt zugewiesenen rektheit der Vergabestelle und der Durchführung der bis- Aufgaben nicht ebenso von einem entsprechenden Stab herigen Verfahrensschritte hat niemand, auch nicht die im Bundesinnenministerium erledigt werden könnten. ausgeschiedenen Bieter, in Zweifel gezogen. Wir brauchen nicht eine Vielzahl neuer Dienstposten, sondern eine effiziente Ausgestaltung der Digitalfunk- Lassen Sie mich deshalb auch hier die Gelegenheit einführung. Die Kosten für eine Bundesanstalt von we- nutzen, den vielen Beamten im Bundesinnenmmiste- nigstens 3 Millionen Euro jährlich sind überflüssig. rium, bei den beteiligten Behörden der Länder, bei de- Auch teilen wir nicht den Optimismus, dass die zusätzli- nen, die in den Lenkungsausschüssen bei der Erstellung chen Personalkosten mit dem Wegfall von Planstellen im der gemeinsamen Anforderungen, bei der Vorbereitung BMI finanziert werden können. Die Erfahrung mit der und Durchführung der Ausschreibungs- und Vergabever- Gründung neuer Behörden spricht eindeutig dagegen. fahren unzählige Arbeitsstunden geleistet haben – nicht Die Steuerung der Digitalfunkeinführung kann sehr gut selten über die Wochenenden hinweg und in die Nacht- in Zusammenarbeit mit Privatunternehmen erfolgen – stunden hinein –, meinen ganz herzlichen Dank auszu- das ist besser als jede neue Behörde. Als Vergabestelle sprechen. ist die geplante Bundesanstalt für den Digitalfunk nur Wenn das Vergabeverfahren auch weiter ohne An- eine weitere Behörde, die sich mit der Beschaffung be- fechtung verlaufen kann, werden wir es noch vor der schäftigen soll. Gerade im Beschaffungswesen der Bun- Sommerpause im Rahmen des Zeitplanes abschließen desregierung sind noch erhebliche Effizienzpotenziale können. Wenn bis zu diesem Zeitpunkt das Parlament auszumachen. Allein das Beschaffungsamt des BMI ist seine Hausaufgaben gemacht und das Gesetzgebungs- mit 211,5 Stellen ausgestattet. Das sollte doch genügen. verfahren zur Errichtung einer Bundesanstalt abge- Es ist schon bezeichnend, wenn die Bundesregierung schlossen hat, dann bin ich optimistisch, dass noch in mitten in den Haushaltsplanberatungen in Zeiten knap- diesem Jahr die konkreten Beauftragungen durchgeführt per Kassen hier falsche Zeichen setzt. Die neue Bundes- werden können. Denn zeitgleich haben heute die Staats- regierung nimmt die dringend notwendige Einführung sekretärinnen und Staatssekretäre der Innenministerien der digitalen Funktechnik für die BOS zum Anlass, mit des Bundes und der Länder das Verwaltungsabkommen nachhaltiger Wirkung das Geld der Steuerzahler zum zur Errichtung des Digitalfunks für die Behörden und Fenster hinauszuwerfen. Organisationen mit Sicherheitsaufgaben paraphiert. Das Scheitern des ersten Anlaufs der rot-grünen Ko- An dieser Stelle sei mir noch eine Anmerkung, auch alition, eine solche Bundesanstalt einzurichten, hat zwar um der historischen Wahrheit willen, erlaubt: Wenn wir durchaus einen Lerneffekt gebracht. Die Verbesserungen (B) das so, wie wir es uns vorgenommen haben, umsetzen im Gesetzentwurf gegenüber dem aus der vergangenen (D) können, wird voraussichtlich noch in diesem Jahr Bun- Wahlperiode haben aber wenig Bedeutung angesichts desinnenminister Wolfgang Schäuble den Startschuss der grundsätzlichen Schieflage des ganzen Projektes. zum Aufbau des neuen digitalen Funknetzes geben kön- Aber auch im Detail ist der Gesetzentwurf so jedenfalls nen. Aber ohne die wichtigen Vorarbeiten seines Vorgän- nicht zustimmungsfähig. Das Herzstück des Gesetzes ist gers Otto Schily und ohne seinen mutigen Schritt nach das Verwaltungsabkommen von Bund und Ländern. Die- vorne wäre dies nicht möglich. Oder um in einem alten ses ist eben heute unterzeichnet worden. Wie wir Abge- Sinnbild zu bleiben: Der Künstler, der am Ende das ordneten darüber informiert worden sind, ist kein Zeug- Turmkreuz setzt, sollte den Baumeister nicht gering ach- nis von parlamentarischer Gesinnung. So wäre eine ten, der den Turm gebaut hat. Zustimmung zu dem Gesetz ein Blankoscheck für die Regierung. Alle Kolleginnen und Kollegen, die den Die neue Technik bereits zur diesjährigen WM zur Kontrollauftrag des Parlaments ernst nehmen, können Verfügung zu stellen, haben wir zwar nicht erreicht. einer solchen Blanko-Ermächtigung nicht zustimmen. Aber wenn wir das, was sich Bund und Länder gemein- sam vorgenommen haben, erreichen, nämlich die neue Die eigentümlichen Modalitäten der Ausschreibung Technik bis 2010 flächendeckend für alle Behörden und für die Einführung des Digitalfunks, die sinnigerweise Organisationen im Sicherheitsbereich einzuführen, dann zu einem einzigen verbleibenden Bieter geführt haben, werden wir zwar nicht die Ersten in Europa bei der Ein- sind – um es vorsichtig auszudrücken – dabei ähnlich führung eines digitalen Funknetzes gewesen sein, aber ungewöhnlich, wie die vorgesehene Bundesanstalt. Die wir werden das Land sein, das über das größte und am Finanzierung des gesamten Projekts für den Bund – bei weitesten integrierte Funknetz für alle Behörden und Or- einem Bieter ist die Auswahl ja eher gering –, aber auch ganisationen mit Sicherheitsaufgaben verfügt. die Finanzierungsbedingungen für jedes einzelne Bun- desland geraten so aus dem Blick. Haben denn der Bund Die SPD-Fraktion hat im Interesse der inneren Si- und vor allem die Länder schon jetzt einen klaren Über- cherheit diesen Weg immer konsequent verfolgt. Sie blick über die dauerhaften Folgekosten? Wer trägt zum wird es auch weiter tun. Beispiel die Kosten der Weiterentwicklung? Da nach all- dem, was man in der Öffentlichkeit erfährt, das Vergabe- Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP): Alter Wein in verfahren rechtlich – vorsichtig gesagt – bedenklich ist, neuen Schläuchen ist nicht besser. Auch in der neuen wächst mein Verständnis für die, die nach einem siche- Initiative der Bundesregierung bleibt die FDP bei ihrer ren Neustart für das Projekt rufen. Denn wir sollten Kritik an der geplanten Einrichtung der Bundesanstalt schnellstmöglich die beste Technik in Deutschland um- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006 3055

(A) setzen. Dies ist in Gefahr durch rechtliche und techni- schwerte Kommunikationsmöglichkeiten haben. Was im (C) sche Risiken, fehlende politische Grundlagen und Falle eines Ausfalls der verschiedenen Server, die für unübersehbare finanzielle Fragen. Eine neue Ausschrei- den Digitalfunk ermöglicht werden, passiert, ist ohnehin bung könnte bei größerer Technikoffenheit möglicher- klar: Absolute Funkstille im wahrsten Sinn des Wortes weise nicht nur die Kosten für den BOS-Digitalfunk wäre die Folge. Eine Panne, die beim bisherigen Analog- reduzieren, sondern die Einführung sogar noch be- funkverkehr ausgeschlossen ist. Der Polizeiexperte schleunigen. Es wäre eine Schande, wenn wir nun noch Stephan Stolle kam wegen all dieser Faktoren bereits vor länger auf die Einführung des Digitalfunks warten müss- drei Jahren in einem Artikel für die Zeitschrift CILIP zu ten. Wir haben schwerwiegende Bedenken gegen diesen dem Schluss, dass der Analogfunkverkehr alle notwen- Gesetzentwurf, den Umgang mit dem Parlament und vor digen Aufgaben bereits erfüllt und das Projekt Digital- allem die Art und Weise, wie die Bundesregierung die funk im Wesentlichen als gescheitert betrachtet werden schnellstmögliche Einführung des Digitalfunks durch muss. Anstatt nun also eine Behörde einzurichten, die mögliches Missmanagement insgesamt riskiert. eine Totgeburt meistern soll, wäre der Sicherheit mehr damit gedient, die Ausstattung beispielsweise der Feuer- Ulla Jelpke (DIE LINKE): Was die von der Bundes- wehr zu verbessern. regierung angestrebte Bundesanstalt regeln soll, ist ein Einen Punkt will ich noch ansprechen: § 15 des Ge- völlig überteuertes und unnötiges Projekt. Wie mittler- setzentwurfs sieht vor, die Anstalt dazu zu ermächtigen, weile üblich, wird der Öffentlichkeit auch die Einfüh- sich gewaltsamen Zutritt zu all solchen Unternehmen zu rung des Digitalfunks als absolut notwendige Maßnahme verschaffen, die für sicherheitsrelevant gehalten werden. zur Gewährleistung der Sicherheit verkauft. Ohne den Es ist bezeichnend, dass die Bundesregierung als Bei- angeblichen Antiterrorkampf zu beschwören, geht nach spiel für einen möglichen Einsatz ausgerechnet das Ge- Ansicht der Regierung offenbar gar nichts mehr. Das ist fährdungsmerkmal „rechtswidriger Streik“ anführt. in diesem Fall doppelt absurd: Erstens muss die Regie- rung auf Nachfrage jedes Mal zugeben, dass sie über- Die Bundesanstalt soll also ausdrücklich als Streik- haupt keine konkreten Erkenntnisse zu einer Gefährdung brecherin eingesetzt werden können. Und was heißt durch Terrorbanden hat. Zweitens ist das vorgeschlagene schon „rechtswidriger“ Streik: Die Zeit, um gerichtlich Mittel, also der digitale Funkverkehr, kein geeignetes die Zulässigkeit eines Streiks zu prüfen, soll sich die An- Mittel. stalt ja gar nicht nehmen. Es ist ausdrücklich nicht der Gang zu einem Gericht vorgesehen, sondern ein „verein- Einen dritten Grund, weswegen die Fraktion Die fachtes“ Verfahren. Linke den Gesetzentwurf der Regierung ablehnt, will ich hier auch gleich nennen: Das ganze Projekt ist schlicht Diesem überteuerten, unsinnigen und den Rechtsfrie- (B) (D) und einfach nicht realistisch finanzierbar. Die Kosten- den gefährdenden Projekt wird Die Linke deswegen schätzungen für die bundesweite Einführung des Digital- nicht zustimmen. funks, die beispielsweise von der Gewerkschaft der Polizei vorgenommen wurden, belaufen sich auf Ge- Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE samtkosten von über 7 Milliarden Euro. Und da frage ich GRÜNEN): Der Gesetzentwurf zur Einrichtung einer mich natürlich, wo dieses Geld herkommen soll. Bundesanstalt für den Digitalfunk wurde bereits von Hinzu kommt, dass die ursprüngliche Absicht, ein eu- Rot-Grün verabschiedet und anschließend leider im ropaweit abgestimmtes Digitalfunknetzwerk aufzu- Bundesrat blockiert. Ich begrüße, dass die CDU/CSU bauen, schon lange gescheitert ist. Der Wegfall der Bin- nunmehr ihre Bedenken zurückgestellt hat. Auch wenn nenkontrollen im Schengenraum sollte ja quasi ich bedauere, dass aus parteipolitischen und wahltakti- kompensiert werden durch eine Harmonisierung des Di- schen Gründen hier erneut fast ein Jahr verloren gegan- gitalfunkverkehrs möglichst aller europäischen Staaten. gen ist und die Einführung eines digitalen Funknetzes Weil das Projekt aber niemals richtig vorangekommen für Polizei, Feuerwehr, Katastrophen- und Rettungs- ist, sind einzelne Länder wie Frankreich mit Alleingän- dienste weiterhin nur im Schneckentempo vorankommt. gen vorgeprescht, und die Modellversuche, wie sie etwa Dass Deutschland nicht in der Lage war, zur Fußball- vor einigen Jahren im grenznahen Bereich statt- WM ein modernes digitales Funknetz einzuführen, ist gefunden haben, haben schlicht und einfach keine Zu- ein Armutszeugnis für die Sicherheitspolitik. Schuldzu- kunft. Die Harmonisierungsbemühungen, die jetzt noch weisungen kann man hier wechselseitig an den Bund von der Polizeiarbeitsgruppe des Rates der Innen- und und die Länder geben. Die Einführung bzw. die jahre- Justizminister angestrengt werden, sind im Wesentlichen lange Blockade der Einführung des digitalen Polizei- Makulatur. Es ist nicht ernsthaft zu erwarten, dass ein funks ist ein Beispiel dafür, wie gefährlich schwerfällig Land, das sich bereits für einen bestimmten Standard der Föderalismus sein kann. entschieden hat, nun wieder alles rückgängig macht, um doch noch eine gemeinsame Lösung zu finden. Das wäre Es ist erfreulich, dass Bund und Länder sich offen- erst recht nicht zu finanzieren. Ich habe sowieso den sichtlich auf ein Verwaltungsabkommen verständigt ha- Eindruck, dass die Schwachstellen des Systems bislang ben und dies bereits paraphiert ist. Die Einrichtung einer nicht richtig zur Kenntnis genommen werden. So ist Bundesanstalt als Bündelungs- und Koordinierungsbe- etwa die so genannte In-house-Versorgung nicht gewähr- hörde für die organisatorische Bewältigung der Aufga- leistet. Das bedeutet, dass Polizei- oder Feuerwehrange- ben zur Einführung eines digitalen Funknetzes habe ich hörige, die sich in Häusern befinden, keinen oder nur er- unter Rot-Grün begrüßt und meine Haltung hat sich auch 3056 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006

(A) jetzt in der Oppositionsrolle nicht geändert. Es ist erfor- Finanzierung durch die Länder für problemlos und sieht (C) derlich, dass die Interessen der Nutzer des Digitalfunks hier „keine unverhältnismäßige Belastung“. gebündelt wahrgenommen werden und das Zweckver- Als ich diesen Antrag las, wusste ich ehrlich gesagt mögen gemeinsam verwaltet wird. überhaupt nicht, welche Passage ich am schlechtesten Lassen Sie mich aber auch ein paar kritische Anmer- recherchiert fand. Ich möchte Ihnen einige ausgewählte kungen machen. Wir wollen ein Höchstmaß an Transpa- Punkte nennen, um zu begründen, warum meine Frak- renz im weiteren Verfahren. Ich lasse mich nicht in tion diesen, Ihren Antrag ablehnen wird. Haftung nehmen für den Vertrag, den der ehemalige Erstens. Die Belastung der Luft hat in den letzten Jah- Bundesinnenminister Otto Schily mit der Deutschen ren und Jahrzehnten insgesamt deutlich abgenommen. Bahn AG geschlossen hat. Die Bahntochter Telematik Die aktuelle Diskussion um die Feinstaubbelastung soll den Betrieb eines Rumpfnetzes übernehmen. Dieser wurde dadurch ausgelöst, dass die sehr anspruchsvollen Alleingang des damaligen Bundesinnenministers hat si- EU-Immissionsgrenzwerte in einigen Regionen über- cherlich nicht zu einem konstruktiven gemeinsamen schritten worden sind. Diese Grenzwerte haben das Ziel, Handeln von Bund und Ländern beigetragen. Das Parla- die Luftqualität kontinuierlich zu verbessern, um die ment ist über das ganze Vertragsverfahren mit der Deut- menschliche Gesundheit zu schützen. Dies ist ein ehren- schen Bahn nach wie vor nur sehr unzureichend infor- wertes und richtiges Anliegen. Nichtsdestoweniger halte miert. ich nichts davon, Hysterie und Panik zu verbreiten. Es ist Aus den Medien war zu entnehmen, das EADS einzig unzutreffend, zu glauben, dass bis zur 34. Überschreitung verbliebener Bewerber um die Auftragsvergabe für die des Tagesgrenzwertes die Luftqualität unbedenklich ist Systemtechnik ist. Auch hier gilt: Die Entscheidung im und bei der 35. Überschreitung die Situation lebensbe- Ausschreibungsverfahren ist für uns Abgeordnete nicht drohlich wird. Es hat auch nichts mit Verharmlosung zu transparent. Ausgeschiedene Anbieter haben bereits mit tun, diese Werte realistisch zu betrachten und nicht in einem gerichtlichen Klageverfahren gedroht. Wir wer- kurzfristigen Aktionismus zu verfallen, wie Sie es hier den im Zuge des Gesetzgebungsverfahrens im Innenaus- gerade wieder einmal tun. schuss einen ausführlichen Bericht der Bundesregierung Sie schreiben, dass „vor allem Partikelemissionen aus zu diesen Vertrags- und Ausschreibungsverfahren for- dem Straßenverkehr die Sterblichkeitsrate erhöhen“. Das dern. Schließlich geht es hier um Milliardenbeträge, für trifft schlichtweg nicht zu. Die Deutsche Gesellschaft für die das Parlament in den Haushalten die Verantwortung Pneumologie sagt ganz klar, dass die natürlichen Quel- übernehmen soll. len für Feinstaub wie Bodenerosion, Sandstürme, Vul- Bereits im ersten rot-grünen Gesetzesverfahren haben kane und Pollen quantitativ deutlich überwiegen. Auch (B) wir durch Änderungsanträge darauf hingewirkt, dass das Sie sollten sich daher Ihrer Verantwortung gegenüber der (D) Haushaltsrecht des Parlamentes und das Kontrollrecht Bevölkerung bewusst werden, wenn Sie solche Anträge des Bundesrechnungshofes gestärkt wurde. Ich begrüße, im Parlament einbringen bzw. derartige Aussagen tref- dass die große Koalition an diesen Beschlüssen festge- fen. halten hat. Zweitens. Schon heute besitzen über 60 Prozent aller Ich erwarte, dass Bundesinnenminister Schäuble nicht neu zugelassenen Dieselfahrzeuge einen Partikelfilter. nur den Ländern durch die Bundesanstalt Mitwirkungs- Die deutschen Automobilhersteller haben in einer rechte einräumt, sondern gleichermaßen das Parlament Selbstverpflichtung zugesagt, ab 2008 alle Diesel-PKWs an dem weiteren Verfahren beteiligt und für die erforder- serienmäßig mit dem Partikelfilter auszustatten. Jeder liche Transparenz sorgt. Bürger kann verfolgen, dass jetzt schon der Wiederver- kaufswert veralteter Dieselfahrzeuge sinkt, etwa durch die künftige Einrichtung von Umweltzonen oder aber Anlage 8 steuerliche Nachteile. Unterschätzen wir also nicht die Selbstregulation des Marktes! Neue Diesel-PKWs ohne Zu Protokoll gegebene Reden Filter sind kaum noch verkäuflich. Eine bessere Motiva- zur Beratung des Antrags: Fördergesetz für tion für die Autohersteller, ihre Fahrzeuge auf den neu- Dieselrußpartikelfilter baldmöglichst vorlegen esten Stand zu bringen, kann es doch wohl kaum geben. (Tagesordnungspunkt 20) Drittens. Sie behaupten, dass ein schnelles Förderpro- gramm für die Länder keine unverhältnismäßige Belas- Jens Koeppen (CDU/CSU): Wir beraten hier und tung darstellt. Auch das trifft nicht zu. Nicht umsonst hat heute über einen Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die der Bundesrat im vergangenen Jahr das Modell der da- Grünen mit folgendem Ziel: die Bundesregierung aufzu- maligen Bundesregierung abgelehnt. Dort waren keiner- fordern, ein Gesetz zur steuerlichen Förderung des Parti- lei Angaben zu einer Gegenfinanzierung enthalten und kelfilters vorzulegen, welches spätestens zum 1. Juli die Deckungslücke in den Landeshaushalten betrug weit 2006, also in anderthalb Monaten, in Kraft treten soll. mehr als 1 Milliarde Euro. Dabei lag der Fokus aus- Dies mit der Begründung, dass die Bundesregierung seit schließlich auf dem Feinstaub. Dieser ist aber nicht der der Neuwahl die Maßnahmen zur Reduktion der Parti- einzige Schadstoff, der in der Betrachtung alter Diesel- kelemissionen verzögert und – zusammen mit der deut- fahrzeuge eine Rolle spielt. Was passiert denn, wenn im schen Automobilindustrie – die Filtertechnologie blo- nächsten Jahr die Stickoxidbelastung in den Medien ckiert. Die Fraktion der Grünen hält darüber hinaus die herausgestellt wird und Sie wieder auf den Zug der Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006 3057

(A) allgemeinen Hysterie aufspringen? Wollen Sie dann das Wir brauchen aber nicht nur eine umweltpolitisch be- (C) nächste Fördermodell beantragen? Sollen wieder die friedigende Regelung. Sie muss zudem finanzierbar, so- Länder zur Kasse gebeten werden? Und werden dann die zial verträglich und nachhaltig sein. Wenn die Koalition Besitzer der für viel Geld nachgerüsteten Altfahrzeuge sich nicht in ständigen „Nachbesserungen“ und bürokra- immer noch auf der sicheren Seite sein? Was ich damit tischen Überregelungen verlieren will, sollte einer ge- ins Spiel bringen möchte, lässt sich unter dem Stichwort setzlichen Regelung eine sachbezogene, von ideologi- Folgenabschätzung zusammenfassen. schen Scheuklappen freie Diskussion vorangehen. In Ihrem Antrag kann ich einen solchen Ansatz wirklich Und dieser Gedanke führt mich auch gleich zu meinem nicht erkennen. vierten Punkt. Wenn es denn so einfach wäre, so unkom- pliziert und haushaltspolitisch unbedenklich, ein Förder- programm für Partikelfilter aufzusetzen, warum haben Gabriele Frechen (SPD): Die Feinstaubbelastung in Sie das in den vergangenen zwei Legislaturperioden denn deutschen Städten und Ballungsräumen hat zum Ende nicht getan? Sie werfen der Bundesregierung Verzöge- des Jahres 2005 weiter zugenommen. Laut Umweltbun- rungstaktik vor, einer Regierung, die seit einem halben desamt haben im abgelaufenen Jahr 30 Städte das EU- Jahr im Amt ist. Sie selbst haben aber in den sieben Jahren weit gültige Feinstaublimit überschritten. Das meldet die davor gar nichts auf den Weg gebracht, um – wie Sie sa- Zeitung „Die Welt“ am 3. Januar dieses Jahres. gen – die Gesundheit der Menschen in unserem Land zu schützen. Das ist die Situation. In und München wurden jeweils 107 Über- schreitungen gemessen, in Stuttgart nach Angaben des Die Umweltminister der Länder haben schon 2001 Regierungspräsidiums an der Messstelle Neckartor an und 2003 den Bund aufgefordert, ein Konzept für steuer- 173 Tagen. Erlaubt sind nach EU-Richtlinie Überschrei- liche Anreize für Partikelfilter vorzulegen und die Fein- tungen an maximal 35 Tagen. staubproblematik in den Griff zu bekommen. Die 64. Umweltministerkonferenz hat diese Forderung noch Als erste deutsche Großstadt hat Stuttgart zum Jahres- einmal bestätigt. Sie waren damals nicht in der Lage, ein beginn 2006 ein großflächiges Durchfahrtsverbot für tragfähiges und zielführendes Konzept zu erarbeiten und LKW ab 3,5 Tonnen zur Verringerung der Feinstaubbe- jetzt tun Sie wieder einmal so, als wären Sie in den letz- lastung eingeführt. Verstöße werden mit Bußgeldern ge- ten Jahren nicht in der Verantwortung gewesen. Das ist ahndet, nur der Lieferverkehr ist von dem Verbot ausge- ebenso geschickt wie unseriös. nommen. In einem zweiten Schritt soll es von Juli 2007 an für Autos ohne geregelten Filter mit hohem Schad- Schließlich sollten wir uns fünftens auch Gedanken stoffausstoß ein ganzjähriges Fahrverbot in der City ge- um die Aufwand-Nutzen-Rechnung machen. Es gibt ben. 2012 sollen Dieselfahrzeuge mit einem schlechte- (B) durchaus seriöse Erhebungen, nach denen Dieselmoto- ren Standard als Euro 3 und ohne Partikelfilter aus dem (D) ren nur für 5 Prozent der gesamten Feinstaubbelastung Stadtzentrum verbannt werden. verantwortlich sind. In anderen Worten: Selbst wenn alle Dieselfahrzeuge in Deutschland einen Partikelfilter hät- Warum interessiert uns das? Noch vor wenigen Jahren ten, würden die Grenzwerte überschritten. sind Autofahrer auf Dieselfahrzeuge umgestiegen, nicht nur deshalb, weil diese Fahrzeuge weniger und billige- Wir sollten dieses Thema also sachlich diskutieren ren Kraftstoff brauchen, sondern auch deshalb, weil sie und uns fragen, ob es wirklich Sinn macht, ein Pro- der Meinung waren, einen Beitrag zum Umweltschutz gramm im Schnellverfahren zu verabschieden, dessen zu leisten. „Ich fahre einen umweltfreundlichen Diesel“. Kosten den Nutzen kaum rechtfertigen würde. Von diesem Satz waren viele Dieselfahrer überzeugt. Mein sechster und letzter Gedanke betrifft ebendiese sachliche Diskussion. Im Koalitionsvertrag steht: „CDU/ Seit einigen Jahren wissen wir es besser. Nicht nur in- CSU und SPD haben es sich zum Ziel gesetzt, die Nach- teressierte Kreise befassen sich damit. Feinstaub ist in rüstung von Kraftfahrzeugen mit Partikelfiltern aufkom- den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses gerutscht. mensneutral steuerlich zu fördern und ab 2008 neue Völlig zu Recht: Nach dem Gesundheitsbericht 2002 der Kraftfahrzeuge ohne diesen Standard mit einem steuerli- Weltgesundheitsorganisation WHO verursachen urbane chen Malus zu belegen. Die Bundesregierung wird mit Partikelemissionen etwa 5 Prozent aller Krebserkran- einer möglichst einfachen Lösung die Fahrzeuge so kungen der oberen Atemwege und der Lunge. Die klei- kennzeichnen lassen, dass Fahrzeuge mit geringem neren und leichteren Rußpartikel, die die modernen Die- Schadstoffausstoß von Verkehrsbeschränkungen ausge- selmotoren ausstoßen, sind besonders lungengängig und nommen werden können und ein Anreiz zum Einsatz verursachen Lungen- und Herzerkrankungen. von Partikelfiltern gegeben wird.“ Es gibt – wie Sie ja in Ganz besonders betroffen von den Atemwegserkran- der Vergangenheit selbst erfahren durften – eine Vielzahl kungen sind Kinder. Das ist nicht verwunderlich, wenn von Faktoren, die in diesem laufenden Verfahren berück- man bedenkt, dass Kinder kleiner und damit näher an der sichtigt werden müssen. Ich habe Ihnen einige davon ge- höchsten Konzentration der Feinstäube im Straßenraum nannt. Nach Auffassung meiner Fraktion hat die ehema- sind und gleichzeitig die Immunabwehr weniger ausge- lige Bundesregierung mit ihrem Vorschlag zur Diesel- bildet ist. PKW-Förderung eine zu komplizierte und zu wenig durchdachte Regelung vorgeschlagen. Mit ihr wird zu- Das Aktionsbündnis „Kein Diesel ohne Filter“, ein dem nur ein Bruchteil der tatsächlichen Feinstaub- gesellschaftliches Bündnis von Umweltverbänden, Au- emissionen bekämpft. tomobil- und Verkehrsclubs, Gesundheitsexperten und 3058 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006

(A) Kinderschutzorganisationen, macht sich seit Jahren für zeugen mit hohem Partikelausstoß haben. Dass daher der (C) die schnelle Einführung von Partikelfiltern stark. Nachrüstung mit Rußpartikelfiltern eine entscheidende Rolle zukommt, steht außer Frage. Die Bekämpfung des Eine steuerliche Förderung kann die Einführung von Schadstoffausstoßes am Fahrzeug hat Priorität gegen- Dieselrußpartikelfiltern zum Schutz der Gesundheit be- über meist untauglichen und unverhältnismäßigen Stra- schleunigen. Innovative mittelständische Unternehmen ßensperrungen. Deshalb muss die Nachrüstung mit Par- in Deutschland haben schon lange die Technik entwi- tikelfiltern vorangetrieben werden. ckelt, die Schadstoffemission um bis zu 99,9 Prozent zu mindern. Die Entwicklung, die Herstellung, die Ausrüs- Gleichzeitig darf aber nicht der Fehler gemacht wer- tung von Neufahrzeugen und die Nachrüstung von Alt- den, sich bei der Ausgestaltung auf den derzeitigen Par- fahrzeugen zeigen beste, moderne Ingenieurleistung, tikelfilter zu beschränken und sie damit auf eine Techno- schaffen Arbeitsplätze und leisten einen erheblichen logie zu reduzieren. Zukünftige Technologien müssen Beitrag zum Umweltschutz. die gleiche Chance und den gleichen Anspruch auf För- Auch die Automobilindustrie selbst, die diese Ent- derung haben wie die aktuelle Filtertechnologie. Die wicklung nicht gesehen, falsch eingeschätzt oder einfach staatliche Förderung muss technikunabhängig ausgestal- nur verschlafen hat, versucht mittlerweile, verlorenes tet, ausschließlich an die Erreichung ökologischer Ziele Terrain zurückzugewinnen. Geht man auf die Internet- geknüpft und auf Regelungen zur Nachrüstung be- seiten von deutschen Automobilherstellern findet man schränkt sein. bei Dieselfahrzeugen zum Beispiel unter technische Da- Bündnis 90/Die Grünen fordern in ihrem Antrag, ten „Oxydationskatalysator, Abgasrückführung, war- Fahrzeuge ohne Partikelfilter bei der Kfz-Steuer deutlich tungsfreier Partikelfilter“ oder unter Ausstattungsmerk- zu belasten. Eine Steuererhöhung für alte, nicht nachge- malen: Dieselpartikelfilter. rüstete Fahrzeuge als Art finanzieller Bestrafung lehnt Wir haben bereits eine Reihe von Maßnahmen zur die FDP-Bundestagsfraktion dagegen eindeutig ab. Bekämpfung der großräumigen Belastung durch Fein- Durch die recht aufgeregte Debatte im letzten Jahr um staub initiiert. Dazu gehören die Novelle der Großfeue- die Feinstaubrichtlinie ist zwar das Bewusstsein für den rungsanlagenverordnung und der TA Luft, aber auch die Dieselrußpartikelfilter geschärft worden. Wir dürfen Einrichtung eines Förderschwerpunktprogramms für aber nicht vergessen, dass die Autofahrer in der Vergan- partikel- und stickstoffarme Nutzfahrzeuge im ERP-Um- genheit durch niedrige – steuerlich bedingte – Preise an weltprogramm. der Zapfsäule regelrecht zum Kauf eines Dieselfahrzeu- Warum es bisher noch kein Gesetz zur Förderung von ges gedrängt wurden. Genau das hat die Politik im Blick (B) Dieselrußpartikelfiltern gibt, haben die, Kolleginnen und auf niedrigere CO2-Emissionen gewollt. In der Mehrzahl (D) Kollegen von der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grü- waren dies allerdings Fahrzeuge ohne Filter. Die betrof- nen in ihrem Antrag aufgezeigt. Das ist aber auch das fenen Verbraucher verdienen daher auch jetzt staatlicher- einzige, was ich diesem Antrag zugute halten kann, denn seits Vertrauensschutz. Wenn die Politik die Bürgerinnen er war überflüssig. Nächste Woche stellt das Bundesum- und Bürger damals aus vorgeblich ökologischen Grün- weltministerium zusammen mit dem Bundesfinanzmi- den zu einem bestimmten Verbraucherverhalten geleitet nisterium der interessierten Öffentlichkeit das erarbeitete hat, darf die Politik sie heute nicht nachträglich durch Konzept vor. Gleichzeitig befindet sich das Ministerium höhere Steuern bestrafen. in den Detailabstimmungen mit den Bundesländern. Dass sich Bund und Länder einig in der Art und Weise Unabhängig davon, ob sich die Förderung über die der Förderung sind, kann doch nur in unserem Sinne Kfz-Steuer oder direkte Zuschüsse vollzieht, stellt sich sein, denn wie Sie richtig im Antrag schreiben, ist die die Frage der Finanzierung. Derzeit wollen weder der Kfz-Steuer eine Ländersteuer und der Bundesrat muss Bund noch die Länder die finanziellen Mittel bereitstel- dem Gesetz zustimmen. len. Es ist höchste Zeit, dass es zu einer gemeinsamen Lösung von Bund und Ländern kommt. Es ist bemer- Der SPD-Bundestagsfraktion ist es im Sinne der Ge- kenswert, dass die Koalition der Steuererhöhungsorgien sundheit und der Umwelt lieber, dass wir in ein paar Wo- angeblich keine Mittel hierfür aufbringen kann. Wenn chen ein Gesetz bekommen, das die Zustimmung des Sie schon die Biokraftstoffe besteuern wollen – was die Bundesrates findet, als das wir nächste Woche eines be- FDP ablehnt – warum verwenden Sie dann das Aufkom- kommen, das wieder vor dem Bundesrat scheitert. Si- men nicht wenigstens zur Förderung der Partikelfilter? cherheit vor Schnelligkeit, das sollte auch Ihr Wille sein. Aber die Wahrheit ist ja: Dieser Bundesregierung geht es Deshalb war Ihr Antrag eine gute chronologische finanzpolitisch nicht um sinnvolle ökologische Instru- Aufarbeitung der Vergangenheit, mehr aber auch nicht. mente, sondern um das Kassemachen zur Vermeidung von Reformen. Michael Kauch (FDP): Die vor allem im letzten Jahr Ohnehin hätte die neue Bundesregierung bei der Fein- öffentlich breit geführte Debatte über die Feinstaubbe- staubreduzierung längst zu Initiativen kommen können lastung hat deutlich gemacht, dass Dieselfahrzeuge ab- und müssen. Die Verlierer sind die Kommunen. Ein gasärmer werden müssen. Ab 2008 müssen Neufahr- schnelles Handeln ist erforderlich, damit die Städte und zeuge strengeren EU-Abgasnormen genügen, auch im Gemeinden bei der Bekämpfung der Feinstaubbelastung Blick auf Feinstaubemissionen von Diesel-PKW. Aber nicht länger allein gelassen werden. Eine Bekämpfung wir werden weiterhin einen großen Altbestand an Fahr- des Feinstaubes an der Quelle, dem Fahrzeug, ist wir- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006 3059

(A) kungsvoller als fragwürdige Fahrverbote oder eine lingen zu verhindern, sollte die Verpflichtung zum Ein- (C) Citymaut. bau von Rußfiltern in alle Neufahrzeuge spätestens ab 2008 gesetzlich vorgeschrieben werden. Lutz Heilmann (DIE LINKE): Auch die Fraktion Die Die dritte Schwachstelle Ihres Antrags ist, dass Sie Linke setzt sich dafür ein, dass die Feinstaubbelastung nicht nur Vollfilter, sondern auch so genannte Teilfilter wirksam und zügig gesenkt wird. Der Antrag der Grünen steuerlich fördern wollen. Noch schlimmer sind aller- enthält dazu zwar einige richtige Ansätze, aber auch er- dings die Regierungspläne, ausschließlich Teilfilter zu hebliche Schwächen. fördern. Zunächst einmal muss die Frage gestattet sein, warum Denn insbesondere beim Einsatz von Teilfiltern Sie dieses dringliche Anliegen nicht in Ihrer siebenjähri- kommt es zu einer Erhöhung der Emissionen von Stick- gen Regierungszeit umgesetzt haben? Oder anders ge- stoffdioxid, das ebenfalls erhebliche Gesundheitsbeein- fragt: Warum glauben Sie, dass Sie jetzt, wo Sie die Op- trächtigungen zur Folge hat. Hier sollte eine genaue Ab- positionsbank drücken, eine Mehrheit für dieses Anliegen wägung von Vor- und Nachteilen erfolgen, sodass der bekommen? Teufel nicht mit dem Beelzebub ausgetrieben wird. Statt Die Hauptschwäche Ihres Antrags ist, dass er sich einer pauschalen Förderung aller Rußfilter ungeachtet ausschließlich auf die Feinstaubbelastung bezieht. Noch ihrer sonstigen Emissionen ist eine Gesamtbetrachtung länger als über die steuerliche Förderung von Dieselruß- der Emissionen bei der Neuausrichtung der Kfz-Steuer filtern wird über die generelle Umstellung der Kfz- wesentlich sinnvoller und besser für Mensch und Um- Steuer auf Kohlendioxid als Bemessungsgrundlage ge- welt. sprochen. Das haben Sie allerdings ebenso wenig reali- Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. sieren können. Notwendig ist, die Kfz-Steuer grundlegend zu überar- beiten, anstatt sie alle halben Jahre zu novellieren. Die Anlage 9 Einführung einer steuerlichen Förderung für Dieselruß- Zu Protokoll gegebene Reden filter halten wir deshalb für den zweiten vor dem ersten Schritt. Ein aufkommensneutrales Gesamtkonzept für zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur die Kfz-Steuer sollte so ausgestaltet werden, dass der Stärkung der Fahrgastrechte (Tagesordnungs- CO2-Ausstoß als wesentliche Bemessungsgrundlage punkt 21) dient. (B) Zusätzlich dazu sind Zu-und Abschläge entsprechend Marco Wanderwitz (CDU/CSU): Der uns heute vor- (D) der Einhaltung der Abgasnormen vorzusehen. Wenn da- liegende Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Fahr- bei die Abstufung zwischen den verschiedenen Emis- gastrechte kommt bezeichnender Weise von der Fraktion sionsklassen groß genug ist, würde daraus ein erheblicher des Bündnisses 90/Die Grünen, also genau von der steuerlicher Anreiz entstehen, Fahrzeuge umzurüsten. Fraktion, die in der letzten Legislaturperiode in Regie- Ein zusätzlicher Anreiz entsteht bereits jetzt daraus, dass rungsverantwortung gestanden hat und die Schaffung der Wiederverkaufswert für Fahrzeuge ohne Rußfilter justiziabler Rahmenbedingungen zur Stärkung der Fahr- niedriger ist als bei Fahrzeugen mit Filter; Schätzungen gastrechte unterließ. gehen von bis zu 1 000 Euro Differenz aus. In der Plenardebatte am 24. Februar 2005, also vor Wenn man dann noch bedenkt, dass bei Verabschie- gut einem Jahr, wurden die Anträge der CDU/CSU-Bun- dung der Vignetten-Verordnung die Kommunen bald destagsfraktion zu dieser Thematik mit der Koalitions- Fahrverbote für die meisten Fahrzeuge ohne Rußfilter mehrheit von SPD und Grünen abgelehnt. Die Unions- verhängen können, stellt sich die Frage, ob wir eine zu- fraktion des 15. Deutschen Bundestages forderte damals, sätzliche steuerliche Förderung wirklich brauchen. Wir unter anderem mit den Anträgen „Mehr Rechte für Fahr- haben zwar nichts gegen die steuerliche Förderung von gäste im öffentlichen Personenverkehr“ auf Drucksache Innovationen im Umweltbereich, aber Steuergelder soll- 15/1236 und „Grünes Licht für gesetzlich normierte ten so eingesetzt werden, dass sie eine nachhaltige Poli- Fahrgastrechte“ auf Drucksache 15/4505, eine einheitli- tik befördern. Die Förderung würden wir deshalb insbe- che Rechtsgrundlage in der Personenbeförderung für die sondere unter dem Aspekt betrachten, dass finanzielle Benutzung von Eisenbahnen und anderen öffentlichen Einbußen oder Mehrbelastungen für einkommensschwa- Personenverkehrsmitteln wie Straßenbahnen, Omnibus- che Haushalte auszugleichen sind. sen und Kraftfahrzeugen zu schaffen und klare gesetzli- che Regelungen vorzulegen, die Entschädigungsansprü- Notwendig ist zweitens – da stimmen wir Ihnen zu –, che der Reisenden bei Verspätungen und Ausfällen bei dass alle Neuwagen bereits von den Herstellern mit Ruß- allen öffentlichen Verkehrsträgern verbindlich fest- filtern ausgestattet werden. Nach der Selbstverpflichtung schreiben. der Hersteller soll dies erst 2008 Realität werden. Ein Wort zum Instrument freiwilliger Selbstverpflichtungen Die Position der Union in der Frage der Fahrgast- der Automobilindustrie. Dem stehen wir sehr skeptisch rechte war und ist also eindeutig. Unumstritten bedürfen gegenüber. Ich denke, das absehbare Scheitern der die Fahrgastrechte für Bahnen, Busse sowie in der Luft- Selbstverpflichtung der europäischen Hersteller zur Sen- und Schifffahrt eines rechtlichen Rahmens für die ein- kung des CO2-Ausstoßes gibt uns Recht. Um ein Miss- heitliche Regelung von Schadenersatzansprüchen, wobei 3060 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006

(A) insbesondere die Kunden der Deutschen Bahn AG in ih- Betrachten wir die Details des vorliegenden Gesetz- (C) ren Rechten als Verbraucher gestärkt werden müssen. entwurfs der Grünen: Der Entwurf sieht eine Neurege- Die noch im letzten Jahr hoch angepriesene Kunden- lung des Haftungsrechts der Verkehrsunternehmen bei charta der Deutschen Bahn AG, die laut der Fraktions- Ausfall- und Verspätungsschäden vor, indem der § 17 chefin Künast, die ja bekanntlich Ministerin unter Rot- der Eisenbahnverordnung, der derzeit einen potenziellen Grün mit dem Fachbereich Verbraucherschutz war, „die Haftungsausschluss vorsieht, gestrichen werden soll. Zu- Bahnkundenrechte und das Preissystem der deutschen dem sollen mit dieser Neuregelung Verkehrsunterneh- Bahn AG verbessert hat“, war eine nette Geste, aber men unter das allgemeine zivilrechtliche Haftungssys- nicht mehr! Diese Selbstverpflichtungsinitiative der tem des BGB gestellt werden. Deutschen Bahn AG zur Entschädigung der Fahrgäste Dieses Ansinnen ist grundsätzlich löblich. Aber es ist bei Verspätung und Zugausfall ist in keinster Weise aus- in keinster Weise absehbar, mit welchen Auswirkungen reichend. diese Änderung einhergeht. Für die Verkehrsunterneh- Die Deutsche Bahn AG hat nunmehr vor zwei Tagen men ist dies trotz der Einführung von Begrenzungsmög- angekündigt, die Erweiterung der Kundenrechte nicht lichkeiten wie Bagatellgrenzen und Pauschalierungsstu- mehr nur im Fernverkehr anzubieten. Ab 28. Mai 2006 fen in den allgemeinen Geschäftsbedingungen der wird – zumindest in Schleswig-Holstein – ein Pilotpro- Verkehrsunternehmen nicht absehbar und kann poten- jekt starten, in dem die Kundencharta auch im Nahver- ziell eine wahre Flut von Entschädigungsansprüchen kehr Anwendung finden soll, sodass die Bahnkunden nach sich ziehen. nicht mehr nur im Fernverkehr, sondern nunmehr auch An dieser Stelle heißt es daher, gründlich zu prüfen auf Kurzstrecken das Recht haben, gute Leistung für ihr und sowohl für die Verbraucher- wie für die Anbieter- Geld zu erwarten. seite abzuwägen, welche Schritte die richtigen sind. In der Debatte 2005 wurden wir mehrfach vonseiten Schließlich müssen wir vor dem Hintergrund des heuti- gen Verkehrsmarktes Folgenutzen und -risiken abwägen. der damaligen rot-grünen Koalition auf das damals noch ausstehende Gutachten „Verbraucherschutz und Kun- Fazit: Der Gesetzentwurf der Grünen ist verfrüht. denrechte im öffentlichen Personenverkehr“ hingewie- Zurzeit prüft eine vom Bundesministerium der Justiz sen, das zur Klärung der Möglichkeiten der Stärkung der eingesetzte Bund-Länder-Arbeitsgruppe das Gutachten Fahrgastrechte von der Bundesregierung in Auftrag ge- und berät, ob und in welchem Umfang gesetzliche Rege- geben wurde. Mittlerweile liegt dieses Gutachten vor. lungen zur Verbesserung des zivilrechtlichen Verbrau- Aber natürlich müssen auch die neue Bundesregierung cherschutzes für Kunden des öffentlichen Personenver- und wir als Parlamentarier das Gutachten gründlich be- kehrs vorzuschlagen sind. Die Ergebnisse dieser (B) werten und die aufgezeigten Lösungsansätze analysie- Beratungen werden uns zum Sommer vorliegen und ent- (D) ren. Bisher war dazu die Zeit zu kurz. sprechend den Ergebnissen dieser Arbeitsgruppe wird die Ausgestaltung der Entschädigungsansprüche von Dass wir der Stärkung der Fahrgastrechte eine hohe Reisenden vorgenommen werden. Priorität beimessen, kann man auch daran ablesen, dass wir diese im Koalitionsvertrag ausdrücklich festge- Deshalb sage ich: Warten wir diese Bewertung des schrieben haben. Dort heißt es: „Die Entschädigungsan- Gutachtens, den anschließenden Bericht der Arbeits- sprüche der Reisenden bei Verspätungen, Ausfällen etc. gruppe und den daraus hervorgehenden Gesetzentwurf bei allen öffentlichen Verkehrsmitteln werden nach Aus- des BMJ ab. Denn erst auf dieser Grundlage kann ent- wertung des vorliegenden Gutachtens zum Verbraucher- schieden werden, ob und welche Änderungen des gelten- schutz verbindlich festgeschrieben.“ Das Gutachten, das den Personenbeförderungsrechts vorgeschlagen werden als Grundlage der Meinungsbildung über den gesetzge- können. Es werden Regelungen gefunden werden – da- berischen Bedarf bei der Festlegung von Art und Um- von bin ich überzeugt –, die dem Verbraucherschutz fang der Verbraucherrechte dient, befindet sich derzeit in Rechnung tragen, ohne dass die wirtschaftliche Betäti- dieser Bewertungsphase bei der Bundesregierung. gung der Verkehrsunternehmen mit eventuell negativen Folgen unangemessen beeinträchtigt oder die öffentliche Es ist schon reichlich dreist, dass genau die Fraktion, Hand über Gebühr belastet werden. Die Komplexität der die sieben Jahre in Regierungsverantwortung stand und Materie gebietet eine seriöse und in allen Konsequenzen die zuständige Ministerin stellte, nun nach einem gesetz- durchdachte Reform. geberischen Schnellschuss verlangt. Schließlich hat sie in ihrer eigenen Regierungszeit eine ausführliche Prü- Marianne Schieder (SPD): Das Grundanliegen des fung des Gutachtens argumentativ vornan gestellt, um Gesetzentwurfes, nämlich die Verbesserung der Fahr- die Forderungen der damaligen Opposition auf schnelle gastrechte im öffentlichen Personenverkehr, ist ein sehr Lösungen abzuwehren. Wieder zurück auf den harten wichtiges und ein sehr berechtigtes. Auch seitens der Bänken der Opposition entsinnt sich die Fraktion der Regierungskoalition und der tangierten Ministerien wird Grünen, wie es mein Kollege so schön zu diesem Themenbereich seit geraumer Zeit sehr inten- formulierte, wieder ihrer „alten Tugenden“ sich zu über- siv gearbeitet. schlagen, wenn es darum geht, Haftungsregelungen zu schaffen, die der jeweiligen Kundschaft – notfalls wider So ist dazu durch das Bundesministerium für Verkehr, jede Praktikabilität und ohne Rücksicht auf die Kosten – Bau und Stadtentwicklung in Erfüllung des Bundestags- maximalen Schutz verleihen sollen. beschlusses „Qualitätsoffensive im öffentlichen Perso- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006 3061

(A) nenverkehr“, Bundestagsdrucksache 14/9671, ein Gut- vom Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtent- (C) achten in Auftrag gegeben worden, das im Juli 2005 wicklung geprüft werden, einer AGB-Kontrolle am vorgelegt wurde. Ende standhalten, wird durch die Rechtsprechung zu klären sein. In Kürze werden dem Deutschen Bundestages die we- sentlichen Ergebnisse dieses Forschungsvorhaben zu- Insbesondere bleibt offen, ob etwa eine Haftung für sammen mit dem dazu erarbeiteten Bericht der Bundes- bestimmte Schadenersatzansprüche – wie bisher gesetz- regierung vorgestellt. Der Bericht wurde federführend lich vorgesehen – vollständig ausgeschlossen werden vom BMVBS vorbereitet und intensiv auf Fachebene kann. Ich halte es für wenig zielführend, gesetzliche Vor- mit BMJ, BMELV und BMF abgestimmt. Die im Gut- gaben in so unbestimmter Art und leise zu halten. Das, achten enthaltenen Lösungsvorschläge werden detailliert was, oberflächlich betrachtet, sich als einfach, kurz und problematisiert und bewertet. flexibel darstellt, wird sich bald als völlig unpraktikabel Gemäß einem Beschluss der Justizministerkonferenz herausstellen und mehr die Gerichte beschäftigen, als der Länder vom 30. Juni 2005 wurde vom BMJ eine dem Kunden dienen. Hier brauchen wir schon konkrete Bund-Länder-Arbeitsgruppe eingesetzt, die derzeit auf gesetzliche Vorgaben, sowohl was die Möglichkeiten ei- der Grundlage des Gutachtens prüft, ob und in welchem nes vollkommenen Haftungsausschlusses betrifft wie Umfang gesetzliche Regelungen zur Verbesserung des auch die Möglichkeiten einer teilweisen Haftungsbe- zivilrechtlichen Verbraucherschutzes für Kunden des öf- schränkung. Wir werden auch nicht darum herumkom- fentlichen Personenverkehrs vorgeschlagen werden soll- men, zwischen Nah- und Fernverkehr zu unterscheiden, ten. Ergebnisse sollen im Sommer vorliegen. auch wenn eine solche Unterscheidung nicht einfach zu treffen sein wird. Ansonsten entsteht zu viel Rechtsunsi- Sowohl das Ergebnis dieser Bund-Länder-Arbeits- cherheit und zu viel Unübersichtlichkeit, sowohl aufsei- gruppe als auch das Ergebnis der Befassung des Deut- ten der Beförderungsunternehmen als auch aufseiten der schen Bundestages mit dem Bericht der Bundesregie- Kunden. rung sollten sinnvollerweise abgewartet werden, bevor gesetzgeberische Schritte eingeleitet werden. Der Sach- Es fällt auf, dass die vorgesehene Neuregelung in verhalt, den es zu regeln gilt, ist doch wirklich sehr viel- § 310 BGB durch die schlichte Bezugnahme auf „Perso- schichtig. Es ist alles andere als einfach, praktikable Lö- nenbeförderungsverträge“ so weit gefasst ist, dass hie- sungen zu finden. Aufwand und Ertrag sind gar nicht so runter auch die Beförderung von Personen im Luftver- leicht in Einklang zu bringen. Daher waren und sind die kehr subsumiert werden könnte. geschichtlichen Vorarbeiten doch sehr nötig und sinn- voll. Nun sollten wir doch die Geduld haben, die Ergeb- Die Haftung des Luftfrachtführers bei verspäteter (B) nisse dieser Arbeit auch abzuwarten und diese Ergeb- Personenbeförderung ist aber in Art. 19 und 22 des Mon- (D) nisse mit in ein Gesetz einbringen zu können. Hier trealer Übereinkommens, MÜ, für internationale Luftbe- sollten wir auf alle Fälle nach dem Motto „Gründlichkeit förderungen und in § 46 LuftVG abschließend geregelt. vor Eile“ vorgehen. Hierin ist für Verspätungsschäden ein Haftungshöchstbe- trag von 4 150 Sonderziehungsrechten, circa 5 000 Euro, Aber nicht nur dieses zeitliche Argument macht für bestimmt, der bei vorsätzlicher und grob fahrlässiger uns eine Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf schwie- Verursachung durchbrochen wird. rig. Der Gesetzentwurf zeichnet sich zwar durch Kürze und gute Verständlichkeit aus, ist in der Sache allerdings Nach Art. 47 MÜ ist jede vertragliche Bestimmung, nicht unproblematisch. durch die die Haftung des vertraglichen Luftfrachtfüh- rers nach dem MÜ ausgeschlossen oder der maßgebende Der Entwurf lehnt sich eng an den von Nordrhein- Haftungshöchstbetrag herabgesetzt werden soll, nichtig. Westfalen im November 2004 vorgelegten Entwurf eines Eine vergleichbare Regelung findet sich im nationalen Gesetzes zur Stärkung der Fahrgastrechte an. Allerdings Recht in § 48 Abs. 1 LuftVG: Dieser Paragraf bestimmt, sieht er abweichend davon keine konkrete Einschrän- dass ein Anspruch auf Schadenersatz, auf welchem kung der Ansprüche von Reisenden vor, wie dem An- Rechtsgrund er auch beruht, gegen den Luftfrachtführer spruch auf Rückbeförderung oder Kostenerstattung für nur unter den Voraussetzungen und Beschränkungen gel- ein anderes Verkehrsmittel. Im Entwurf aus NRW war tend gemacht werden kann, die in dem betreffenden Un- festgeschrieben, dass es Schadenanspruch erst ab einer terabschnitt des LuftVG vorgesehen sind. drohenden Verspätung von 20 Minuten geben soll. Zu- dem wird nicht zwischen Nah- und Fernverkehr unter- Die als § 310 Abs. 5 BGB vorgeschlagene Regelung, schieden. wonach der Unternehmer für leicht fahrlässige Verspä- tungen oder Ausfälle des Verkehrsmittels seine Haftung Vielmehr wird die Haftung der Verkehrsunternehmen „in angemessenem Umfang begrenzen“ und im Übrigen für Ausfall- und Verspätungsschäden dem allgemeinen für bestimmte Fälle Pauschalierungen vornehmen kann, zivilrechtlichen Haftungssystem des BGB unterstellt. kollidiert mit diesen abschließenden Regelungen. Insbe- Allen Beförderern soll es gestattet werden, ihre Haf- sondere wäre jede in AGB vorgesehene Haftungsbe- tung in „angemessenem Umfang“ zu begrenzen. Alle schränkung für leicht fahrlässig verursachte Verspätungs- Unternehmen werden gezwungen sein, eigene Allge- schäden, die von der im Montrealer Übereinkommen und meine Geschäftsbedingungen (AGB) aufzustellen, in de- in § 46 Abs. 1 LuftVG vorgesehenen einheitlichen Haf- nen sie ihre Haftung begrenzen und ihren Informa- tungshöchstgrenze von 4 150 Sonderziehungsrechten ab- tionspflichten nachkommen. Inwieweit diese AGB, die weicht, unzulässig. 3062 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006

(A) Die Regelung des § 310 Abs. 5 BGB neu müsste da- Inlandszügen sind im Schienenpersonenverkehr gesetz- (C) her, um eine derartige Kollision mit dem Luftverkehrs- lich nicht geregelt. Die Deutsche Bahn AG entschädigt recht zu vermeiden, in jedem Fall ausdrücklich auf ihre Fahrgäste im Fernverkehr bei Verspätungen gemäß Personenbeförderungsverträge der Straßenbahnen, Om- ihrer Kundencharta. Allerdings gibt es keine Entschädi- nibusse und Kraftfahrzeuge, vergleiche Formulierung in gung für die Reisenden im Schienenpersonennahver- § 305 a Nr. 1 BGB, beschränkt werden. kehr. Obwohl wir uns also im Ziel einig sind und unstreitig Fahrgastrechte müssen gestärkt werden. Ich halte dies ist, dass die Kundenrechte von Fahrgästen neu geregelt aus drei Gründen für dringlich: und gestärkt werden müssen, kommt der vorgelegte Ge- Erstens. Die Rolle der Verbraucher im Verkehrsbe- setzentwurf der Grünen zu früh und ist zumindest in Tei- reich soll gestärkt werden. len wenig brauchbar. Darüber wird noch im Detail zu re- den sein, wenn der Gesetzentwurf in den einzelnen Zweitens. Die unterschiedlichen Verkehrsträger müs- Ausschüssen beraten wird. sen gleich behandelt werden. Drittens. Vernünftige Kundenrechte dienen der Quali- Rita Schwarzelühr-Sutter (SPD): Wir alle wün- tätsoffensive im öffentlichen Personenverkehr. schen uns pünktlichen und zuverlässigen Transport. Auch Bundestagsabgeordnete verlassen sich auf das Ver- Das Magazin „Stern“ berichtet in seiner neuen Aus- kehrsmittel, das sie zum Beispiel aus dem Wahlkreis gabe, dass jeder fünfte ICE oder IC sein Ziel mehr als nach Berlin bringen soll. fünf Minuten zu spät erreicht. Als Ursache werden Hun- derte von „Langsamfahrstellen“ ausgemacht. So viel zur Anfang dieser Woche erlebte ich Folgendes: Der Notwendigkeit von praktischem Verbraucherschutz zur Flug, den ich vorsorglich, um ganz pünktlich zu der ers- Qualitätsoffensive. ten Sitzung am Montag zu gelangen, bereits für Sonntag- abend gebucht hatte, wurde ohne große Erklärung ge- Als Basis für die Debatte sollte der Deutsche Bundes- cancelt. Eine vorzeitige Information darüber gab es tag den Bericht der Bundesregierung zum Gutachten nicht. Allerdings wurde eine Übernachtung im Hotel an- „Verbraucherschutz und Kundenrechte im öffentlichen geboten. Der ausgewiesene Ersatzflug am frühen Mon- Personenverkehr“ abwarten. Der Bericht ist für diesen tagmorgen startete mit 75 Minuten Verspätung. Meine Monat angekündigt. Geduld wurde ziemlich strapaziert. Zu der Besprechung Die Ergebnisse der Bund-Länder-Arbeitsgruppe, die kam ich natürlich zu spät. das Bundesministerium der Justiz eingesetzt hat, werden Nun sind aber die Kundenrechte im Flugverkehr um- im Sommer erwartet. (B) (D) fassend auf EU-Ebene geregelt. Seit 2005 müssen Flug- Ich freue mich schon jetzt auf eine konstruktive Dis- gäste Verspätungen, Annullierungen und Überbuchun- kussion auf solider Basis darüber, welche Kundenrechte gen nicht mehr klaglos hinnehmen. Die Europäische wie und wo geregelt werden sollen. Union hat die Fluggastrechte in der Verordnung 261/ 2005 verbessert und der Europäische Gerichtshof hat Den Antrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grü- diese im Februar 2006 bestätigt. Es macht keinen Unter- nen halte ich für einen Schnellschuss, der zum jetzigen schied, ob mit einem Billigflieger oder Linie geflogen Zeitpunkt nicht zum angestrebten Ziel führt. wird. Alle Passagiere können ihre Rechte geltend ma- chen. Hans-Michael Goldmann (FDP): Zu Beginn des Bei Nichtbeförderung muss die Fluggesellschaft eine vergangenen Jahres, als die Konstellationen hier im Entschädigung anbieten. Darüber hinaus ist sie ver- Hause noch etwas anders waren, wurde ein Antrag der pflichtet, zum einen den Ticketpreis zu erstatten oder FDP-Fraktion zur Beendigung der Haftungsprivilegie- eine anderweitige Beförderung zum Zielort zu gewähr- rung der Bahn und zur Anwendung der Grundsätze des leisten, zum anderen Mahlzeiten, Getränke, notfalls Ho- Bürgerlichen Gesetzbuchs vom Deutschen Bundestag telunterkunft sowie die Möglichkeit zur Telekommuni- abgelehnt. Umso mehr freue ich mich, dass inzwischen kation anzubieten. Hat der Flieger große Verspätung, die Grünen, die damals unseren Antrag als untauglich muss der gleiche Service zur Verfügung gestellt werden. abgelehnt haben, auch zu der Erkenntnis gekommen Beträgt die Verspätung fünf Stunden oder mehr, kann der sind, dass eine gesetzliche Regelung vonnöten ist. Es Reisende von der Fluggesellschaft auch eine Erstattung reicht eben nicht aus, sich auf die so genannte Kulanz des Flugpreises und gegebenenfalls den kostenlosen der Bahn zu verlassen, dass sie aufgrund des wachsen- Rückflug zum Abflugort verlangen. Kann ein Passagier den Drucks der Kunden und Verbraucherschützer in einen Schaden wegen einer Verspätung nachweisen, hat ihren Allgemeinen Geschäftsbedingungen Entschädi- er Anspruch auf Schadenersatz. gungsregelungen aufnehmen. Es ist notwendig, die un- gerechtfertigte Privilegierung der Bahn zu beenden. Der Schaden, der mir durch die halbe verpasste Sit- zung entstanden ist, ist wohl eher immaterieller Art, so- Fahrgäste im öffentlichen Personenverkehr sind dass ich getrost auf Schadenersatz verzichten kann. Marktteilnehmer wie die Kunden anderer Wirtschaftsun- ternehmen auch. Während in anderen Bereichen über- Für Bahnreisende im Nah- und Fernverkehr, für haupt kein Zweifel daran besteht, dass Unternehmen ge- ÖPNV-Nutzer oder Taxigäste sieht die Welt anders aus. genüber ihren Kunden haften müssen, sind die Fahrpreiserstattungen bei Ausfall und Verspätungen von Verbraucherrechte im Personenverkehr noch immer un- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006 3063

(A) zureichend. Dabei ist jedes Unternehmen in diesem hat ja im vergangenen Jahr schon einen Vorstoß unter- (C) Land für nicht oder mangelhaft erbrachte Leistungen nommen und einen entsprechenden Antrag eingebracht. selbstverständlich haftbar zu machen. So steht es im Bleiben Sie jetzt bei Ihrer Linie und setzen Sie um, was Bürgerlichen Gesetzbuch. Nur die Bahn ist hiervon mit- Sie richtigerweise gefordert haben. tels § 17 der Eisenbahn-Verkehrsordnung, EVO, aus- genommen. Da hilft auch die von der Bahn mit viel Heidrun Bluhm (DIE LINKE): Fahrgastrechte zu Eigenlob und unter dem Applaus der damaligen Ver- stärken ist ehrenwert, diese umzusetzen wesentlich braucherministerin, Renate Künast, verabschiedete Kun- schwieriger. Die Frage ist: Wie können wir den Verbrau- dencharta nichts. Denn es ist eigentlich die pure Selbst- cher zu mehr Vertrauen in die öffentlichen Verkehrsmit- verständlichkeit, die Kunden zu entschädigen. Mit tel und seiner Zufriedenheit mit ihnen verhelfen? Kulanz darf das nichts zu tun haben. Wenn die Kunden weiterhin auf Entgegenkommen angewiesen sind, so Doch führen die guten Absichten der Kollegen von zeigt dies ein Selbstverständnis der Bahn, das nur mit Bündnis 90/Die Grünen auch wirklich in die erhoffte der immer noch bestehenden Monopolstellung zu erklä- Richtung? Der Gesetzentwurf versucht, Schadenersatz- ren ist. ansprüche von Fahrgästen auf eine rechtliche Grundlage zu stellen. Die Haftung der Verkehrsunternehmen soll in Diese Sonderstellung der Bahn gilt es aber gerade das allgemeine Recht des Bürgerlichen Gesetzbuchs in- aufzubrechen, im Interesse der Fahrgäste, aber eben tegriert werden. Die dazu in Art. 3 des Gesetzentwurfs auch im Interesse des Monopolisten Bahn selbst. Nur vorgesehene Änderung ist allerdings nur eine Kann-Vor- eine Bahnpolitik, die sich am Interesse der Fahrgäste ori- schrift. Viel ändert sich damit für den Kunden nicht. entiert, gewinnt langfristig mehr Kunden und damit hö- here Marktanteile. Am Beispiel der Fahrgastrechte zeigt Zumeist haben Verspätungen oder Ausfälle von Bus sich überdeutlich, wie sich die Bahn durch ihre ungebro- oder Bahn andere Ursachen als solche, die vom Ver- chene Monopolstellung selbst im Wege steht. Durch die kehrsunternehmen selbst zu vertreten sind. Beispiels- jetzige Kundencharta wird die bisherige Kulanzregelung weise Störungen in der Schieneninfrastruktur, Unfälle schlicht und einfach nur fortgeschrieben. Dieses Verhal- oder deren schlimmste Variante, den so genannten Fahr- ten ist ja im Prinzip auch nur natürlich. So verfahren nun gastunfall. Es kann also schwierig sein, zwischen Selbst- einmal Staatsunternehmen, wie die Bahn de facto immer und Fremdverschulden bei den Verkehrsunternehmen zu noch eines ist, wenn sie eine so allumfassende Monopol- trennen. Außerdem ist zu fragen, ob die Praxis hinrei- stellung einnehmen. Aber im Sinne der Verbraucherin- chend in Betracht gezogen worden ist. nen und Verbraucher ist das nicht. Im Sinne der Rechts- Der Gesetzentwurf stellt allenfalls eine Teillösung klarheit ist es auch nicht. Es ist doch einfach keinem dar. Informationsprobleme, Regressansprüche müssen in (B) Verbraucher klar zu machen, warum die Bahn nicht für absehbarer Zeit durchgreifend zu regeln sein. Die Linke (D) Ausfälle und Verspätungen haften soll. Es ist insbeson- plädiert dafür, dass komplette Repertoire der Möglich- dere nicht zu begründen, wenn die Deutsche Bahn ein- keiten zunächst einer Praxiserprobung zu unterziehen, räumen muss, dass 95 Prozent der Verspätungen selbst statt ordnungspolitisch neue Unzulänglichkeiten zu pro- verschuldet sind. grammieren. Es ist auch gut, dass im vorliegenden Gesetzentwurf Genau genommen sind Regressansprüche der Fahr- der öffentliche Personenverkehr umfassend geregelt gäste nur die eine Seite der Medaille. Wichtiger ist es, werden soll. Denn eine Unterscheidung zwischen öffent- die Zahl an Störungen insgesamt gering zu halten. Dafür lichem Personennahverkehr und Personenfernverkehr ist brauchen wir nicht irgendwelche, sondern die richtigen den Menschen verständlicherweise nicht plausibel zu Maßnahmen. machen. Es kann doch für den Kunden keinen Unter- schied machen, ob ich von Hamburg nach München Ein Weg, dies zum Beispiel im Nahverkehr zu errei- fahre und dort pünktlich ankommen muss oder ob ich im chen, ist es, je nach Anteil der verspäteten an der Ge- Nahverkehr von einem Ort zum nächsten fahre und mich samtzahl der Fahrten, dem Aufgabenträger die Möglich- darauf verlasse, dass ich zur rechten Zeit ankomme. Die keit zu geben, Abschläge auf die Entgelte bei der Regelung, die nach dem vorliegenden Gesetzentwurf ins Bestellung der Verkehrsleistung auszuhandeln und Bürgerliche Gesetzbuch aufgenommen werden soll, durchzusetzen. Während einer Fahrplanperiode können schafft einen gerechten Ausgleich zwischen Kunden- dadurch stattliche Beträge zusammenkommen. Damit und Unternehmensinteressen. Die Möglichkeit für einen spart die öffentliche Hand und bei den Verkehrsunter- pauschalierten Schadenersatz schafft kalkulierbare Risi- nehmen steigt der Wille, zumindest die Folgen von Stö- ken für die Beförderungsunternehmen und gibt den Kun- rungen auf ein Mindestmaß zu reduzieren. den die Rechtssicherheit, im Schadenfall eine angemes- sene Entschädigung zu erhalten. Oberste Priorität dabei muss sein, dass sich durch diese zusätzliche Risikoabsicherung die Fahrpreise nicht Es wird endlich Zeit, in Deutschland bei der Beförde- erhöhen und die Benutzung der öffentlichen Verkehrs- rung im öffentlichen Personenverkehr den Anschluss an mittel gegenüber dem Individualverkehr, ebenfalls internationale Standards zu schaffen. Die Sonderrege- attraktiv bleibt. Entschädigungsregelungen werden dazu lungen sind nicht mehr zu vertreten und müssen führen, dass die Kosten auf alle Fahrgäste umgelegt wer- schnellstens abgeschafft werden. Meine Fraktion wird den und so die Fahrkarten verteuert werden. Ein über- dem Gesetzentwurf zustimmen. Ich hoffe, dass auch die trieben aufwendiges und teures Fahrgastrecht kann nicht Bundesregierung diesen Schritt gehen wird. Die Union im Sinne der Kunden sein. Der Trend, den Verbraucher 3064 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006

(A) und gerade den Geringverdiener immer mehr zu belas- gesehenen Regelung allerdings für nicht zweckmäßig (C) ten, darf nicht auch noch an dieser Stelle fortgeführt und administrativ nicht handhabbar. Vor diesem Hinter- werden. grund strebt der Bundesrat eine wirkungsgleiche Neufor- mulierung der entsprechenden Regelungen auf der Selbstverständlich bleibt es Aufgabe der Verkehrspo- Grundlage eines Vorschlags von Schleswig-Holstein an. litiker und der Verbraucherschützer, zu prüfen, ob sich Die Finanzministerinnen und Finanzminister der Länder diese in der Praxis bewährt, unbürokratisch, schnell und haben dazu eine Formulierung vorgelegt und einen Vor- einfach umgesetzt wird, und darauf zu drängen, dass schlag zum weiteren gesetzgeberischen Vorgehen ge- auch der Nahverkehr einbezogen wird. macht. Der Bundesrat hat in seiner 821. Sitzung am Ob die freiwillige Selbstverpflichtung zu einer Ent- 7. April 2006 beschlossen, dem nachstehenden Gesetz schädigungszahlung im Sinne der Bahnkunden funktio- gemäß Artikel 105 Abs. 3 des Grundgesetzes zuzustim- niert, kann nur eine kritische externe Praxisprüfung er- men: bringen. Auf dieser Grundlage ist dann zu diskutieren, ob es sinnvoll ist, den Fahrgästen einen gesetzlichen An- – Gesetz zur Eindämmung missbräuchlicher Steu- spruch auf Verspätungsentschädigung zu verschaffen. ergestaltungen Auch und gerade im Zuge des Börsengangs – darauf ha- Darüber hinaus hat er die nachstehenden Entschließun- ben wir immer hingewiesen – darf Effizienz und Rendite gen gefasst: 1. Der Bundesrat geht von der Bereitschaft der Bahn AG nicht der absolute Maßstab sein und damit des Bundes aus, den Ländern die aus einer Absenkung der zulasten der Kundenzufriedenheit und der Fahrpreise ge- Spielbankabgabe entstehenden Mindereinnahmen voll- hen. ständig auszugleichen. Nach vorläufigen Berechnungen der Länder handelt es sich dabei für das Jahr 2007 – dem ersten Jahr der vollen Wirksamkeit – um einen Betrag Anlage 10 von 75 Mio. Euro. 2. Der Bundesrat fordert die Bundes- Amtliche Mitteilungen regierung auf, zeitnah zum Inkrafttreten der Beschrän- kung der Anwendung der 1%-Regelung auf Fahrzeuge Der Bundesrat hat in seiner 821. Sitzung am 7. April des notwendigen Betriebsvermögens (§ 6 Abs. 1 Nr. 4 2006 beschlossen, den nachstehenden Gesetzen zuzu- EStG) Verwaltungsanweisungen für den Nachweis des stimmen, einen Antrag gemäß Artikel 77 Abs. 2 des betrieblichen Nutzungsanteils durch die Steuerpflichti- Grundgesetzes nicht zu stellen bzw. einen Einspruch ge- gen zu schaffen. Diese Regelungen sollten einerseits den mäß Artikel 77 Absatz 3 nicht einzulegen: bürokratischen Aufwand für die Steuerpflichtigen (Be- – Zweites Gesetz zur Änderung des Betriebsprä- folgungskosten) und andererseits den Verwaltungsauf- (B) miendurchführungsgesetzes wand für die Finanzverwaltung so weit wie möglich be- (D) grenzen. – Zweites Gesetz zur Änderung des Pflanzenschutz- gesetzes Begründung – Gesetz zur Förderung ganzjähriger Beschäfti- Mit der Änderung des § 6 Abs. 1 Nr. 4 Satz 2 EStG gung durch das Gesetz zur Eindämmung missbräuchli- cher Steuergestaltungen wird die Möglichkeit der – Siebentes Gesetz zur Änderung des Gemeinde- Anwendung der 1 %-Regelung für die Bewertung finanzreformgesetzes der privaten Nutzung auf Fahrzeuge des notwendi- – Gesetz zur Vereinfachung der abfallrechtlichen gen Betriebsvermögens beschränkt. In der Begrün- Überwachung dung des Gesetzes heißt es, dass der Steuerpflich- tige die betriebliche Nutzung von über 50 % im – Gesetz zu dem Protokoll vom 21. Mai 2003 über Rahmen allgemeiner Darlegungs- und Beweislast- die strategische Umweltprüfung zum Überein- regelungen nachzuweisen hat. Die Führung eines kommen über die Umweltverträglichkeitsprüfung Fahrtenbuches ist dazu nicht zwingend erforderlich. im grenzüberschreitenden Rahmen (Vertrags- gesetz zum SEA-Protokoll) Wie der Steuerpflichtige den Umfang der betriebli- – Gesetz zur Verbesserung der Wirtschaftlichkeit in chen Nutzung darzulegen bzw. nachzuweisen hat, der Arzneimittelversorgung sollte zeitnah zum Inkrafttreten des Gesetzes durch Verwaltungsanweisungen geregelt werden. Ziel der Der Bundesrat hat in seiner 821. Sitzung am 7. April Verwaltungsvorschriften sollte sein, den bürokrati- 2006 beschlossen, dem nachstehenden Gesetz gemäß schen Aufwand für die Steuerpflichtigen und den Artikel 105 Abs. 3 des Grundgesetzes zuzustimmen: administrativen Aufwand für die Finanzverwaltung – Gesetz zur steuerlichen Förderung von Wachs- so weit wie möglich zu begrenzen. Dabei sollten tum und Beschäftigung auch die Vorschläge der „Arbeitsgruppe zur Evalu- ation des administrativen Mehraufwandes der vor- Darüber hinaus hat er die nachstehende Entschlie- geschlagenen Änderung der 1%-Regelung des § 6 ßung gefasst: Der Bundesrat steht voll umfänglich hinter Abs. 1 Nr. 4 Satz 2 EStG“ zur Vereinfachung des dem mit dem Gesetz verfolgten Ziel, die Kinderbetreu- Nachweises hinsichtlich ihrer Umsetzbarkeit und ungskosten steuerlich stärker zu berücksichtigen. Der bezüglich der Auswirkungen für die Steuerpflichti- Bundesrat hält die steuertechnische Umsetzung der vor- gen geprüft und ggf. berücksichtigt werden. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 35. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Mai 2006 3065

(A) Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben Globale Umweltveränderungen (C) mitgeteilt, dass der Ausschuss gemäß § 80 Abs. 3 Satz 2 – Drucksachen 15/4155, 16/820 Nr. 48 – der Geschäftsordnung von einer Berichterstattung zu den nachstehenden Vorlagen absieht: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung

Innenausschuss – Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und Tech- nikfolgenabschätzung (17. Ausschuss) gemäß § 56a der – Unterrichtung durch die Bundesregierung Geschäftsordnung Bericht der Bundesregierung über den Stand der Ab- Technikfolgenabschätzung wicklung des Fonds für Wiedergutmachungsleistungen hier: Leichter-als-Luft-Technologie – Innovations- und an jüdische Verfolgte Anwendungspotenziale – Drucksachen 15/5965, 16/480 Nr. 1.20 – – Drucksache 15/5507 –

– Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und Tech- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und nikfolgenabschätzung (17. Ausschuss) gemäß § 56a der Reaktorsicherheit Geschäftsordnung Technikfolgenabschätzung – Unterrichtung durch die Bundesregierung Vierter Sachstandsbericht zum Monitoring „Technik- Bericht der Bundesregierung zum Jahresgutachten akzeptanz und Kontroversen über Technik“ 2003 Partizipative Verfahren der Technikfolgenabschätzung „Welt im Wandel – Energiewende zur Nachhaltigkeit“ und parlamentarische Politikberatung des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung – Drucksache 15/5652 –

(B) (D) Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co., Buch- und Offsetdruckerei, Bessemerstraße 83–91, 12103 Berlin Vertrieb: Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft mbH, Amsterdamer Str. 192, 50735 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Telefax (02 21) 97 66 83 44 ISSN 0722-7980