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Plenarprotokoll 14/32

Deutscher

Stenographischer Bericht

32. Sitzung

Bonn, Donnerstag, den 15. April 1999

I n h a l t :

Eintritt der Abgeordneten Gudrun Roos in Rezzo Schlauch BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 2632 C den Deutschen Bundestag...... 2619 A Dr. PDS...... 2634 D Nachträgliche Glückwünsche zum Geburts- Joseph Fischer, Bundesminister AA...... 2638 B, 2641 D tag der AbgeordnetenCarl-Dieter Spran- ger, Dr. , Hans-Eberhard Ur- Dr. Gregor Gysi PDS...... 2641 B baniak ...... 2619 B Dr. Edmund Stoiber, Ministerpräsident (Bay- Tagesordnungspunkt 1: ern)...... 2642 B Eidesleistung des Bundesministers der , Bundesminister BMVg...... 2645 C Finanzen...... 2619 B Heidi Lippmann PDS...... 2648 C Präsident ...... 2619 C CDU/CSU...... 2649 A , Bundesminister BMF...... 2619 D SPD...... 2650 D Dank an den ausgeschiedenen Bundesminister Annelie Buntenbach BÜNDNIS 90/DIE der Finanzen, ...... 2619 D GRÜNEN ...... 2653 A Tagesordnungspunkt 2: Christian Schmidt (Fürth) CDU/CSU...... 2654 A Abgabe einer Regierungserklärung des Dr. SPD ...... 2654 D Bundeskanzlers , Bundesminister BMI ...... 2656 B, 2658 D Aktuelle Lage im Kosovo...... 2620 A Hans-Peter Repnik CDU/CSU...... 2658 B Gerhard Schröder, Bundeskanzler ...... 2620 A Dr. Wolfgang Schäuble CDU/CSU ...... 2623 D Nächste Sitzung ...... 2659 C Dr. Peter Struck SPD ...... 2627 B Anlage Dr. F.D.P...... 2629 C Liste der entschuldigten Abgeordneten ...... 2661 A Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 32. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. April 1999 2619

(A) (C)

32. Sitzung

Bonn, Donnerstag, den 15. April 1999

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident Wolfgang Thierse: Guten Morgen, liebe auf Vorschlag des Herrn Bundeskanzlers Herrn Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet. Hans Eichel zum Bundesminister der Finanzen er- nannt. Die heutige Sitzung habe ich auf Grund eines Antra- ges der Fraktion der SPD und im Einvernehmen mit den Nach Art. 64 Abs. 2 des Grundgesetzes leistet ein übrigen Fraktionen gemäß Art. 39 Abs. 3 Satz 3 desBundesminister bei der Amtsübernahme den in Art. 56 Grundgesetzes in Verbindung mit § 21 Abs. 2 vorgesehenen der Eid. Herr Bundesminister Hans Eichel, Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages einbe-ich darf Sie zur Eidesleistung zu mir bitten. rufen. (Die Abgeordneten erheben sich) Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, gebe ich bekannt, daß nach der Mandatsniederlegung des frühe- Herr Bundesminister, ich bitte Sie, den Eid zu spre- ren Kollegen Oskar Lafontaine, die am 16. März er-chen. folgte, die Abgeordnete Gudrun Roos als Nachfolgerin (B) am 29. März die Mitgliedschaft im Deutschen Bundes- (D) tag erworben hat. Ich begrüße die neue Kollegin sehr Hans Eichel, Bundesminister der Finanzen: Ich herzlich. schwöre, daß ich meine Kraft dem Wohle des deutschen (Beifall) Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bun- Sodann möchte ich einigen Kollegen, die in den zu- des wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissen- rückliegenden Tagen einen runden Geburtstag feiernhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben konnten, gratulieren. Ihren 60. Geburtstag feierten der werde. So wahr mir Gott helfe. Kollege Carl-Dieter Spranger am 28. März und der Kollege Dr. Martin Pfaff am 31. März. Seinen 70. Ge- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ burtstag konnte der Kollege Hans-Eberhard Urbaniak DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der am 9. April begehen. Ich spreche den Kollegen im Na- CDU/CSU, der F.D.P. und der PDS) men des Hauses nachträglich die besten Glückwünsche aus. (Beifall) Präsident Wolfgang Thierse: Meine Damen und Herren, Herr Bundesminister Hans Eichel hat den vom Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 auf: Grundgesetz vorgeschriebenen Eid geleistet. Ich darf Ih- nen im Namen des Hauses für Ihr Amt die besten Wün- Eidesleistung des Bundesministers der Finanzen sche aussprechen. Der Herr Bundespräsident hat mir mit Schreiben vom (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ 18. März 1999 folgendes mitgeteilt: DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Gemäß Artikel 64 Absatz 1 des Grundgesetzes für CDU/CSU, der F.D.P. und der PDS) die Bundesrepublik Deutschland habe ich heute auf Zugleich danke ich dem ausgeschiedenen Bundes- Vorschlag des Herrn Bundeskanzlers den Bundes- minister Oskar Lafontaine für seine Tätigkeit als minister der Finanzen, Oskar Lafontaine, aus sei- Mitglied der Bundesregierung und als Mitglied des nem Amt als Bundesminister entlassen. Hauses. Für seine weitere Zukunft wünsche ich ihm al- Weiterhin hat mir der Herr Bundespräsident mitles Gute. Schreiben vom 12. April 1999 mitgeteilt: (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Gemäß Artikel 64 Abs. 1 des Grundgesetzes für des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der die Bundesrepublik Deutschland habe ich heute CDU/CSU, der F.D.P. und der PDS) 2620 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 32. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. April 1999

Präsident Wolfgang Thierse (A) Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 2 auf: In den Wochen und Monaten vor Beginn der Luft-(C) schläge hat die internationale Gemeinschaft nichts un- Abgabe einer Regierungserklärung des Bundes- versucht gelassen, um eine politische Lösung des Kon- kanzlers fliktes zu erreichen. Demjenigen, der versucht, in direk- Aktuelle Lage im Kosovo ten Gesprächen oder durch welche Instrumente auch immer, eine Lösung zu erreichen, sei gesagt: Milosevic Es liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion derist es gewesen, der jegliche Lösung, die möglich gewe- PDS vor. sen wäre, verhindert hat – und zwar deshalb verhindert Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für hat, weil dieser verbrecherische Präsident sein eigenes die Aussprache im Anschluß an die Regierungserklä-Volk, die albanische Bevölkerungsmehrheit im Kosovo rung drei Stunden vorgesehen. – Ich höre keinen Wider- und die Staatengemeinschaft, die nun wirklich bereit spruch. Dann ist so beschlossen. war, auch mit ihm zu verhandeln und eine politische Lö- sung des Konfliktes zu suchen, ein ums andere Mal Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat hintergangen, ja betrogen hat. Das ist die traurige Wahr- der Herr Bundeskanzler, Gerhard Schröder. heit, mit der man sich auseinanderzusetzen hat. Monatelang haben der EU-Sonderbeauftragte Petritsch Gerhard Schröder, Bundeskanzler: Herr Präsident! und sein amerikanischer Kollege Hill, dann auch ge- Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auf dem in- meinsam mit dem russischen Unterhändler Majorski, mit formellen Treffen des Europäischen Rates gestern in den Konfliktparteien Gespräche geführt und dabei den Brüssel, an der auf meine Initiative auch der Generalse- Boden für ein wirklich faires Abkommen bereitet. kretär der Vereinten Nationen, Kofi Annan, teilnahm, haben die Staats- und Regierungschefs der EU ihre Ent- In Rambouillet ist mehrere Wochen lang hartnäckig schlossenheit bekräftigt, das Morden und die Deporta- verhandelt worden. Das dort vorgelegte Abkommen tionen im Kosovo nicht hinzunehmen. Sie haben eben- sollte die Menschenrechte der albanischen Bevölke- falls deutlich gemacht, daß hierzu der Einsatz militäri- rungsmehrheit im Kosovo, aber auch – das gilt es zu scher Mittel nach wie vor notwendig und moralisch und unterstreichen – die territoriale Integrität Jugoslawiens politisch auch gerechtfertigt ist. Das Besondere liegt nun gewährleisten. Diesem Abkommen hätten beide Parteien darin, daß im Europäischen Rat ja nicht nur die Staats- – nicht zuletzt wegen der zuletzt genannten Passage – und Regierungschefs jener Mitgliedsländer der EU ver- zustimmen können und nach meiner festen Überzeugung treten sind, die zugleich Mitglieder der NATO sind,auch zustimmen müssen. sondern auch jener, die als neutrale Länder diese Positi- Wir haben eine weitere Frist von zwei Wochen einge- on unterstützt haben. Das macht einmal mehr deutlich, räumt, um die Bedenken der Konfliktparteien zu zer- (B) wie sehr in dieser entscheidenden, wichtigen Frage die (D) streuen. Nach Ablauf dieser Frist haben wir uns erneut westliche Staatengemeinschaft ohne Ausnahme zusam- in Paris zu Verhandlungen getroffen. Die Kosovo- mensteht, weil der Anlaß für dieses Zusammenstehen Albaner – das ist ein Stück Zeitgeschichte – haben dem die Werte und die Grundorientierungen der Europäer, Abkommen schließlich zugestimmt. des europäischen Zivilisationsmodells berührt. Wir wa- ren uns auf diesem informellen Rat einig darüber, wie Der Bundesaußenminister als EU-Ratspräsident, der wir gemeinsam mit unseren Partnern zu einer politischen russische Außenminister Iwanow, der OSZE-Vorsit- Lösung kommen können, wenn – das ist dick zu unter- zende Vollebaek und schließlich Richard Holbrooke als streichen – die Voraussetzungen dafür geschaffen wer- Sondergesandter der Vereinigten Staaten haben Milose- den. Ich werde auf das Ergebnis dieses Treffens im ein- vic bis zuletzt in Belgrad zur Annahme des Abkommens zelnen später noch zurückkommen. gedrängt. Die Belgrader Führung aber hat alle, wirklich Meine sehr verehrten Damen und Herren, immeralle politischen Vermittlungsversuche scheitern lassen. noch und immer wieder hören wir die Frage, warum die- Während sie vorgab, über den Frieden zu verhandeln, ser militärische Einsatz sein mußte. Wir hören diesehat sie jene Mord- und Vertreibungskampagne fortge- Frage nicht zuletzt deshalb, weil noch keine Bundesre- setzt, die sie in den vergangenen Wochen systematisch gierung vor diese schwere Entscheidung gestellt worden verschärft hat. ist, deutsche Soldaten – mit allem, was damit an Gefähr- Die jugoslawische Regierung hat von Anfang an an dungen für unsere Soldaten verbunden ist – zu einemden Feldzug der ethnischen Säuberung geglaubt und militärischen Kampfeinsatz gemeinsam mit unserenihn geplant, einen Feldzug, dessen Zeuge wir heute sind. Partnern innerhalb der NATO zu entsenden. Mir liegtDas, meine Damen und Herren, kostete bis jetzt Tausen- daran, auch hier vor dem Hohen Hause noch einmal zu de von Menschen im Kosovo das Leben. erläutern, warum wir letztlich um diesen schweren Schritt, um diese grundlegende Entscheidung, die sich Meine sehr verehrten Damen und Herren, wie alle wirklich niemand in der Bundesregierung und sicherDeutschen sind wir hier im Deutschen Bundestag, bin auch hier im Hohen Hause leichtgemacht hat, nicht her- ich über die täglichen Bilder vom Flüchtlingselend er- umgekommen sind und warum wir uns zu diesemschüttert. Wir haben die Bilder von gesprengten Häusern Schritt haben entschließen müssen. Der gelegentlich ge- gesehen, und deportierte Augenzeugen haben uns äußerte Einwand, daß man zuwenig auf die Möglich-Schreckliches berichtet. Wer vor diesem Hintergrund keiten der Diplomatie und zu schnell und zu stark aufUrsache und Wirkung verwechselt und meint, er müßte die Möglichkeiten des Militärs gesetzt habe, geht fehl. der NATO, der westlichen Staatengemeinschaft, vorwer- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 32. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. April 1999 2621

Bundeskanzler Gerhard Schröder (A) fen, sie habe zu dem Elend beigetragen, der begeht einen neuernannten russischen Jugoslawien-Beauftragten(C) schrecklichen Irrtum oder eine bewußte Verleumdung. Tschernomyrdin sehr bald zusammenzutreffen und mit ihm zusammen auszuloten, was unter Beteiligung Ruß- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE lands geht und was nicht. Ich setze darauf, daß sich GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P.) Moskau noch stärker in die internationalen Bemühungen Dies alles ist das Werk jugoslawischer Militär- und um eine friedliche Lösung einschaltet. Dies gilt gerade Polizeikräfte. Gleichgültig, wen man trifft oder in wel- auch für den Beitrag Moskaus im Rahmen der Vereinten chen Interviews man versucht, es zu bestreiten, es ändert Nationen, also für die Initiative, die der Generalsekretär nichts an den Tatsachen: Vertreibung und Mord waren der UN ergriffen hat. Wir sind uns gewiß alle einig: Die längst im Gange, als die NATO ihre Militäraktion be-Krise auf dem Balkan darf die guten Beziehungen zwi- gann, und sie hat sie nur begonnen, um der Deportation, schen Europa und Rußland und zwischen Deutschland der Vertreibung ein Ende setzen zu können. und Rußland nicht, aber auch wirklich nicht beeinträch- tigen. (Widerspruch bei der PDS) (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE – Sie müssen aufpassen, daß Sie sich nicht langsam den GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P.) Vorwurf einhandeln, von der fünften Kolonne Moskaus zur fünften Kolonne Belgrads zu werden. Rußland ist ein wichtiger Faktor der Stabilität und der (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der Sicherheit auf unserem Kontinent. Wir wollen deshalb F.D.P. sowie bei Abgeordneten des BÜND- auch den von der russischen Führung eingeschlagenen NISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Theodor Reformweg nach Kräften weiter unterstützen. Waigel [CDU/CSU]: Das gilt auch in Meck- In diesem Zusammenhang ist in diesem Hohen Hause lenburg!) auch klarzustellen: Eine Politik, wie ich sie gekenn- Ich sage hier ohne Wenn und Aber: Diesem Verbre- zeichnet habe, funktioniert nur auf der Basis der festen chen zuzusehen wäre zynisch und verantwortungslosEinbindung in die westliche Staatengemeinschaft, in die gewesen. Die NATO mußte auf die Eskalation der Ge- NATO. Kroatien, Bosnien und walt reagieren. Wir wissen seit Es bleibt unser Ziel, so schnell wie möglich die Vor- Herzegowina mit über 200 000 Kriegsopfern, daß sich aussetzungen dafür zu schaffen, daß die Flüchtlinge und Europa mit Zuwarten erneut schuldig gemacht hätte. Vertriebenen sicher in ihre Heimat zurückkehren kön- Die NATO ist eine Wertegemeinschaft. Gemeinsam nen. Solange dies noch nicht der Fall ist, sollten die mit unseren Partnern kämpfen wir im Kosovo für unsere Menschen vorrangig in der Region versorgt werden. Das ist aus humanen Erwägungen gerechtfertigt und aus (B) Werte: für Menschenrechte, für Freiheit und für Demo- (D) kratie. Bei unserem Engagement geht es auch darum,politischen Gründen notwendig; denn Milosevic darf wie das Europa des nächsten Jahrhunderts aussehen soll. nicht der Triumph gegönnt werden, seine Politik der Wollen wir Europäer es nach den Erfahrungen mit zwei ethnischen Säuberungen auf indirektem Wege zu reali- schrecklichen Weltkriegen in diesem Jahrhundert wirk- sieren. lich zulassen, daß Diktatoren unbehelligt mitten in Eu- ropa wüten können? (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P.) Die Bundesregierung hat klare Vorstellungen, die sie gemeinsam mit ihren Partnern verfolgt. Wir wollen die Das ist aber auch deshalb wichtig, weil die Menschen humanitäre Katastrophe und die schweren und systema- dort kulturell eingebunden sind, dort im wahrsten Sinne tischen Menschenrechtsverletzungen möglichst schnell des Wortes ihre Heimat haben und ihre Heimat behalten beenden. Wir wollen eine friedliche politische Lösung wollen. Jede andere Politik würde uns zum faktischen für den Kosovo erreichen. Erfüllungsgehilfen der Belgrader Vertreibungspolitik machen. Klar bleibt dabei: Die Bundesregierung wird auch weiterhin mit ihren Partnern in der NATO und in der EU Albanien und Mazedonien, zwei kleine und wahr- fest zusammenstehen und Gewalt gegen unschuldigelich arme Länder, tragen derzeit die überwiegenden Fol- Menschen nicht hinnehmen. Es ist uns klar, daß wir da- gen der skrupellosen Politik Milosevics. Auch das bei nicht allein auf militärische Lösungen setzen dürfen; scheint Teil seines Planes zu sein: die Destabilisierung das wollen wir auch nicht. Es ist uns klar, daß wir mitdieser beiden Länder, ja die Destabilisierung der ge- unseren Bemühungen um eine politische Lösung dessamten Region. Wir können die Anrainerstaaten mit Konfliktes nicht nachlassen dürfen. dem Problem nicht allein lassen. Eine solidarische An- strengung der internationalen Gemeinschaft gegenüber Genauso klar ist jedem von uns – Gott sei Dank be- diesen Ländern ist unabdingbar. Auch dies war Gegen- steht darüber in diesem Hohen Hause auch kein Streit –: stand der gestrigen Beratungen in Brüssel und wird er- Bei einer solchen Lösung sollte Rußland eine wichtige neut Gegenstand der Beratungen im Rat der Innenmi- Rolle spielen. nister und im Allgemeinen Rat, also im Rat der Außen- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE minister, sein. GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P.) Gestatten Sie mir in diesem Zusammenhang ein Wort Die Bundesregierung steht in engem Kontakt mit derder Anerkennung und des Dankes an die vielen Mitbür- russischen Führung. Wir sind auch gern bereit, mit dem gerinnen und Mitbürger, die in dieser Notlage durch 2622 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 32. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. April 1999

Bundeskanzler Gerhard Schröder (A) Spenden und anderweitige Hilfe ein Zeichen der Solida- re Arbeit, für ihren Einsatz und für das, was sie aushal- (C) rität mit den Unterdrückten gesetzt haben. ten müssen, herzlich danken. (Beifall im ganzen Hause) (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P. so- Das zeigt deutlich, daß es vielleicht doch nicht richtig wie der Abg. Angela Marquardt [PDS]) ist, wenn bezogen auf die Befindlichkeit der Deutschen allzuviel von Materialismus und zuwenig von Solidari- Sie sollen wissen – sie spüren es an Ihrem Beifall –, daß tät, von der Fähigkeit zum Mitleiden und zum Helfendieses Hohe Haus ihren Einsatz für die Menschlichkeit die Rede ist. und einen dauerhaften Frieden wohl zu würdigen weiß. Die Bundesregierung hat ihrerseits erhebliche Mittel Der Bundesregierung und allen NATO-Partnern ist für die Versorgung der Flüchtlinge und der Vertriebenen natürlich bewußt, daß die jetzige Krisenbewältigung im bereitgestellt. Auch die Europäische Union hat Sonder- Kosovo eine längerfristigeStabilisierungspolitik für mittel zur Verfügung gestellt, um das Flüchtlingselend Südosteuropa nicht ersetzen kann. Unsere Politik richtet zu mildern und eine Destabilisierung der Nachbarländer sich nicht gegen die Menschen in Jugoslawien. Wir zu verhindern. Über eine Luftbrücke fliegt die Bundes- wollen ihnen vielmehr eine Perspektive und die Zuver- wehr nach wie vor Nahrungsmittel, Zelte, Decken und sicht geben, daß sie zu Europa gehören. Ärzte in die Region. Der Balkan – das ist klar – braucht europäische Hilfe. Wir haben erklärt, daß wir bereit sind – darüber gibt Jugoslawien braucht, wie Deutschland 1945, Demokrati- es zwischen den entscheidenden politischen Kräften in sierung, wirtschaftliche Entwicklung und den Aufbau diesem Haus und im Bundesrat keine Differenzen –,einer wahrlich zivilen Gesellschaft. Umfassende Maß- eine angemessene Anzahl von Flüchtlingen vorüberge- nahmen zur langfristigen Stabilisierung, zu Sicherheit, hend, bis zu einer Lösung der Krise dort, in Deutschland zu Demokratisierung und zu wirtschaftlicher Gesundung aufzunehmen. Das ist bereits sichtbar geschehen. Auch der Region sind notwendig. Eine Art Marshallplan für das ist ein Zeichen der Solidarität der Deutschen mit de- den Balkan muß her. Mir ist bewußt, daß ein solcher nen, die unter Vertreibung und Krieg zu leiden haben.Plan nicht zum Nulltarif zu haben sein wird. Europa Vor dem Hintergrund dessen, was wir leisten, erwarten kann und darf sich dieser Aufgabe aber nicht entziehen. wir allerdings von unseren Partnern in Europa und in der Wenn von Kosten die Rede ist, dann gilt allemal Allianz, daß auch sie einen angemessenen Teil der La- mehr und allemal wieder, daß diejenigen Ressourcen, sten zu tragen bereit sind. die wir für die ökonomische und die soziale Entwick- Wir sind sehr besorgt über die Lage inMontenegro. lung, für die Entwicklung der Infrastruktur in dieser Re- Wir unterstützen die demokratisch gewählte Führunggion zur Verfügung stellen, besser eingesetzt sind als (B) (D) dieser jugoslawischen Teilrepublik unter Präsident Dju- diejenigen Kosten, die wir für leider notwendige militä- kanovic. Ich möchte an dieser Stelle die Belgrader Füh- rische Interventionen zur Verfügung stellen müssen. rung ausdrücklich davor warnen, die Lage in Montene- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gro zu destabilisieren. Eine solche Politik müßte weitere DIE GRÜNEN) ernsthafte Folgen für die jugoslawische Regierung ha- ben. Es muß jedem klar sein: Einen dauerhaften Frieden wird es in dieser Region nur geben, wenn wir den Staa- Ich bin fest davon überzeugt, daß nur die Geschlos- ten der Region klarmachen, daß sie ein Recht auf Annä- senheit der gesamten internationalen Gemeinschaft Mi- herung an Europa haben und daß wir ihre ökonomische losevic zum Einlenken bewegen wird. Vor dem Hinter- und soziale Entwicklung nach vorne bringen wollen. grund unserer deutschen Geschichte darf es an unserer Wir wollen sie für das europäische Modell gewinnen Verläßlichkeit, an unserer Entschlossenheit und an unse- und der Demokratie auf dem Balkan und damit dem rer Festigkeit keine Zweifel geben. Die Einbindung Frieden endgültig zum Durchbruch verhelfen. Das ist Deutschlands in die westliche Staatengemeinschaft ist der Grund, warum die deutsche EU-Präsidentschaft in Teil der deutschen Staatsräson. Einen Sonderweg kann der vergangenen Woche einenStabilitätspakt für den und wird es mit uns nicht geben. Balkan vorgeschlagen hat, einen Pakt, an dem die Part- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten nerländer mitarbeiten wollen. Es geht der Bundesregie- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) rung um eine echte Alternative zum fanatischen Natio- nalismus, der die Region nach all den bitteren Erfahrun- So schwer es dem einen oder anderen auch fällt: Wir gen dieses Jahrhunderts erneut ins Unglück gestürzt hat. müssen erkennen, daß sich Deutschlands Rolle nach dem Zusammenbruch des Staatssozialismus, vor allen Lassen Sie mich, meine Damen und Herren, zum Dingen nach der Erlangung der staatlichen Einheit ver- Schluß auf das gestrige Treffen der Staats- und Regie- ändert hat. Wir können uns unserer Verantwortung nicht rungschefs der Europäischen Union im einzelnen zu- entziehen. Das ist der Grund, warum deutsche Soldaten rückkommen. Wir haben eine intensive und von großem zum erstenmal seit dem zweiten Weltkrieg in einemErnst getragene Diskussion mit dem Generalsekretär der Kampfeinsatz stehen. Sie erfüllen eine schwierige und Vereinten Nationen geführt und in vielen Punkten Über- gefährliche Mission mit Gefahren für Leib und Leben, einstimmung festgestellt. Ich halte es für außerordentlich die wir nicht ausschließen können. Ich möchte daherwichtig, daß nicht nur die NATO und die neutralen auch vor diesem Hohen Hause noch einmal den Solda- Staaten der Europäischen Union, sondern die Staaten- ten, aber auch ihren Familien, die um sie bangen, für ih- gemeinschaft insgesamt in dieser so grundlegenden und Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 32. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. April 1999 2623

Bundeskanzler Gerhard Schröder (A) wichtigen Frage mit einer Stimme spricht. Wir warenren Wahlen und um die Stationierung internationaler(C) uns einig in unserer Entschlossenheit, das Morden und Sicherheitskräfte, die für den Schutz aller Bevölke- die Deportationen im Kosovo nicht hinzunehmen. Wir rungsgruppen im Kosovo sorgen sollen. sind uns einig, daß der Einsatz schärfster Maßnahmen Bei dem Treffen bestand Einigkeit über die große einschließlich militärischer Aktionen nach wie vor not- Bedeutung einer engen Zusammenarbeit mit der Russi- wendig und gerechtfertigt ist. schen Föderation und über deren Beitrag für eine Lö- Wir wollen miteinander einen multiethnischen undsung des Kosovo-Problems. Diesen Beitrag halten wir demokratischen Kosovo, in dem alle Menschen in Frie- für eminent wichtig. den und Sicherheit leben können. Die jugoslawischen Bekräftigt wurden die Beschlüsse des Allgemeinen Behörden müssen wissen, daß wir sie für die Sicherheit Rats vom 8. April 1999 über die humanitäre Hilfe für und das Wohlbefinden der Vertriebenen im Kosovo ver- Flüchtlinge und Vertriebene und über die Unterstützung antwortlich machen. Die Staats- und Regierungschefs für die Nachbarstaaten der Bundesrepublik Jugoslawien. unterstützen deshalb die Initiative des Generalsekretärs Diese können sich – ich sage das noch einmal – der So- der UN vom 9. April 1999, die die Forderungen der in- lidarität der europäischen Mitgliedstaaten sicher sein. ternationalen Gemeinschaft zusammenfaßt, und haben klargestellt, daß von diesen Forderungen, die Ihnen be- Schließlich waren wir uns darüber einig, daß die Eu- kannt sind und die ich hier nicht weiter erläutern muß, ropäische Union zu einerKonferenz über Südeuropa nicht abgegangen werden kann und nicht abgegangenund Südosteuropa einladen wird, um weitere umfas- werden wird. Die Forderungen lauten in der Substanz: sende Maßnahmen zur langfristigen Stabilisierung, Si- sofortige Beendigung aller Gewaltakte, Rückzug aller cherheit, Demokratisierung und vor allen Dingen zur militärischen Kräfte – auch der Sonderpolizei – undwirtschaftlichen Gesundung dieser Region zu beschlie- Stationierung internationaler militärischer Kräfte sowie ßen. Alle Staaten der Region sollen nach unseren Be- die Rückkehr aller Flüchtlinge und Vertriebenen. schlüssen das Recht haben, eine Perspektive auf Annä- herung an die Europäische Union zu entwickeln. Die Die Staats- und Regierungschefs stimmen in der Auf- Europäische Union ist dazu bereit. fassung überein, daß es jetzt an den jugoslawischen Be- hörden liegt, die internationalen Forderungen ohne Ab- Das heißt, die Vertreter der Europäischen Union, der striche anzunehmen und umgehend mit ihrer Umsetzung NATO und der Generalsekretär der Vereinten Nationen zu beginnen. Dies – nur dies und nur in dieser Reihen- sind sich in der Bewertung der Sachlage und der Vorge- folge – würde eine Suspendierung der militärischenhensweise einig. An diesem Kurs, an dem die Bundesre- Maßnahmen der NATO erlauben und den Weg für eine gierung, an dem der Bundesaußenminister mitgewirkt politische Lösung öffnen. Dies und nur dies ist auch Ge- hat, wird die Bundesregierung ohne Abstriche und ent- (B) genstand der Vorschläge, die der deutsche Außenmi-schlossen festhalten. (D) nister entworfen, gemacht und eingebracht hat. Für diese Initiative schulden wir ihm alle Dank. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Volker Rühe DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der [CDU/CSU]) CDU/CSU) Wir werden uns für die Verabschiedung dieser Prinzipi- en in einer Resolution des Sicherheitsrats der Vereinten Präsident Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Nationen unter Kapitel VII einsetzen. der Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion, Kollege Wolf- gang Schäuble. Die Staats- und Regierungschefs haben ihre Unter- stützung für ein politisches Abkommen über den Koso- vo erneuert, das auf dem aufbaut, was in Rambouillet Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU): Herr Präsi- bereits erreicht war. Sie verständigten sich auf Eck-dent! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die punkte einer Übergangsordnung im Kosovo, die unmit- CDU/CSU-Bundestagsfraktion unterstützt die deutsche telbar nach dem Ende des Konflikts hergestellt werden Beteiligung an den NATO-Aktionen im Kosovo. Ver- soll. Insbesondere soll die Einrichtung einerinternatio- treibung, ethnische Säuberung und Völkermord dürfen nalen Übergangsverwaltung vorgesehen werden; dabei nicht geduldet werden, schon gar nicht in Europa. Es haben die Staats- und Regierungschefs deutlich ge-wäre fatal, wenn die zynische Rechnung von Milosevic macht, daß das Europa der 15 bereit ist, diese Über-aufginge. gangsverwaltung unter die Obhut der Europäischen Wir danken den Soldaten der Bundeswehr genauso Union zu nehmen. Auch das macht deutlich, daß Europa wie den Soldaten der Streitkräfte unserer Verbündeten in außen- und sicherheitspolitischen Fragen mehr undfür ihren entschlossenen und zugleich beherrschten Ein- mehr mit einer Stimme spricht. Das ist eine Vorausset- satz. zung, um im Konzert der internationalen Staatengemein- schaft noch ernster genommen zu werden, als es bislang (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, dem BÜND- der Fall war. NIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.) Es geht um den Aufbau einer Polizei im Kosovo, die Die Soldaten und ihre Familien können sich auf unsere die dortige Bevölkerung repräsentiert und nicht kujo-Solidarität verlassen. Wir wissen um unsere Verant- niert. Es geht um die Durchführung von freien und fai- wortung. 2624 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 32. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. April 1999

Dr. Wolfgang Schäuble (A) Wir begrüßen und unterstützen die Hilfe für Flücht- Bei einigermaßen gutem Willen zum Konsens ist der(C) linge und Vertriebene vor Ort. Die heimatnahe Versor- Unterschied zwischen den beiden Gesetzentwürfen, die gung muß Vorrang haben, damit eine rasche Rückkehr im Hause beraten werden, nicht mehr so groß, daß man, der Flüchtlinge möglich ist und damit wir nicht am Ende wenn man einen Konsens will, ihn nicht auch finden Milosevics Vertreibungspolitik noch unterstützen. Na- kann. Wir sind dazu bereit. Ich appelliere an Sie. türlich ist es selbstverständlich, daß auch bei uns in be- (Beifall bei der CDU/CSU) grenzter Zahl Flüchtlinge und Vertriebene vorüberge- hend Aufnahme finden müssen. Auch dies unterstützen Ich habe, Herr Präsident, verehrte Kolleginnen und wir. Kollegen, in der vergangenen Woche diese Regierungs- erklärung, die wir begrüßen, und diese Debatte angeregt, Ich finde übrigens, wir sollten darauf achten, daß die weil die Regierung bei aller grundsätzlichen Einigkeit in Auswahl derjenigen, Herr Bundeskanzler, die für eine einer die Menschen zu Recht so aufwühlenden Frage vor vorübergehende Unterbringung nach Deutschland oder dem Parlament als dem Forum der Nation immer wieder überhaupt nach West- und Mitteleuropa kommen, nicht Rechenschaft ablegen muß, damit im Pro und Kontra der so zufällig und willkürlich erscheint, sondern daß dieje- Argumente Transparenz hergestellt werden kann und nigen hierhergebracht werden, denen vor allen Dingen damit die Legitimation und die Akzeptanz dieses Einsat- medizinische Hilfe geleistet werden muß. Das machtzes unter deutscher Beteiligung möglich bleiben. viel mehr Sinn, als wenn durch das Zufallsprinzip der Auswahl noch mehr Familien auseinandergerissen wer- Die militärischen Aktionen der NATO dauern inzwi- den. schen schon über drei Wochen. Wir haben vor drei Wo- chen, als wir hier das letzte Mal darüber geredet haben, Im übrigen muß in diesem Zusammenhang klar sein, vermutlich die Hoffnung und die Erwartung gehabt, daß daß sich europäische Solidarität auch darin verwirkli-diese Aktionen nicht drei Wochen dauern würden. Milo- chen muß, daß die Europäische Union bei der vorüber- sevic hat die Entschlossenheit und die Geschlossenheit gehenden Aufnahme von Flüchtlingen und Vertriebenen der freien Völkergemeinschaft offensichtlich unter- als Ganzes in der Solidaritätspflicht steht und daß wir schätzt, aber, meine Damen und Herren, wir wohl auch deshalb auf eine faire und gerechte Lastenverteilungseine Hartnäckigkeit, seinem eigenen Volk Schaden zu- unter allen Mitgliedsländern der Europäischen Unionzufügen. Auch das muß gesagt werden. Wert legen. Die atlantische Gemeinschaft ist stark und entschlos- Die Spenden- und Hilfsbereitschaft unserer Bevölke- sen genug, sich von Milosevic nicht das Gesetz des rung ist groß. Dem Dank, den der Bundeskanzler dafür Handelns aufzwingen zu lassen. Aber wohl kann ange- ausgesprochen hat, schließen wir uns ausdrücklich an. sichts der Entwicklung auf dem Balkan niemandem sein. Wir danken auch für die Bereitschaft, den geschundenen (B) Die Fernsehbilder von Flucht und Vertreibung und von (D) Menschen durch vorübergehende Aufnahme Schutz und täglichen Bombardements wecken bei den Menschen Zuflucht zu geben. nicht nur Betroffenheit, Hilfs- und Spendenbereitschaft; Ich finde übrigens, Herr Bundeskanzler: Weil diees wird auch die bange Frage laut, ob die NATO Krieg Spenden- und Hilfsbereitschaft und auch die Bereit-führt oder ob wir dabei sind, in einen Krieg hineinzu- schaft, in so schwieriger Zeit durch Aufnahme Hilfe und schlittern. Zuflucht zu gewähren, in unserer Bevölkerung so groß Vor allem die älteren unserer Mitbürger erinnern sich sind, sollten wir vielleicht doch darüber nachdenken – an die Grauen zweier Weltkriege und sind tief beunru- ich habe es Ihnen diese Woche schon einmal vorge-higt. Ich sage ausdrücklich: Solche Parallelen sind un- schlagen –, ob wir angesichts dieser neuen Situation den zutreffend. Nicht die NATO führt Krieg. Wenn Krieg Streit, der mit der Neuregelung unseresStaatsangehö- geführt wird, dann führt ihn Milosevic gegen seine eige- rigkeitsrechts bisher notwendig verbunden war, wirk- ne Bevölkerung. Die Staatengemeinschaft hat sich lich fortsetzen sollen. schwer genug getan und eher zu spät als zu früh ent- (Beifall bei der CDU/CSU) schließen müssen, militärische Mittel einzusetzen, um dem Grauen und den Verbrechen Einhalt zu gebieten. Wäre es in dieser Lage nicht wirklich besser, sich für Beratung und Verabschiedung dieses Gesetzes mehr (Beifall bei der CDU/CSU) Zeit zu nehmen, als bisher vorgesehen? Es geht auch nicht – das unterscheidet diese Lage von (Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Damit Sie früheren Zeiten, auch vom Beginn dieses Jahrhunderts – noch mehr hetzen können!) um eine Veränderung von Einflußzonen auf dem Balkan wie am Beginn des ersten Weltkriegs, sondern einzig Ich appelliere an die Koalitionsfraktionen, auf denund allein darum, daß die internationale Gemeinschaft nicht zu begründenden Zeitdruck zu verzichten und ge- Mord und Vertreibung nicht wieder tatenlos hinnimmt. meinsam einen Weg zu suchen, wie wir Integration ausländischer Mitbürger und Integrationsbereitschaft der (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- deutschstämmigen Bevölkerung in einem breiten Kon- ordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE sens verbessern können. Wenn Ihnen das nicht genug GRÜNEN und der F.D.P.) ist, dann verweise ich auf die Erklärung, die der Bremer Das Ziel aller Operationen ist und muß bleiben, den Bürgermeister Scherf und sein Stellvertreter Perschau in Frieden in der Region wiederherzustellen und die Rück- diesen Tagen abgegeben haben. Darin haben sie genau kehr aller Vertriebenen in ihre Heimat und in gesicherte dafür plädiert und im übrigen auch darauf hingewiesen: Verhältnisse zu gewährleisten. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 32. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. April 1999 2625

Dr. Wolfgang Schäuble (A) Auch das bewahrt uns vor der Gefahr von Parallelen Daraus folgt: Weil wir die Lehren dieses Jahrhunderts (C) zu früheren Zeiten: Wir handeln nicht allein, sondernnicht vergessen und niemals mehr wegsehen wollen leisten unseren Beitrag zu internationaler Integration– wie oft haben wir dies versprochen und uns geschwo- und Verantwortung, nicht mehr und nicht weniger. So- ren –, weil wir um die Unteilbarkeit von Frieden, Frei- lange eine weltweit verbindliche Rechtsordnung mit ei- heit und Menschenrechten wissen, darf die Völkerge- ner ihre Durchsetzung ermöglichenden Gerichtsbarkeit meinschaft nicht jedes Verbrechen im Zweifel aus nur und mit einem entsprechend legitimierten Gewaltmono- formalen Gründen hinnehmen. Hier erwächst geradezu pol, solange ein solcher Zustand noch ein Traum bleibt, eine Pflicht zum Eingreifen. Dieses Handeln hat eigent- sind wir zur Wahrung von Frieden und grundlegenden lich mit Krieg nichts zu tun, sondern mit der Durchset- Menschenrechten darauf angewiesen, militärische Ge- zung fundamentaler Menschenrechtsprinzipien. walt notfalls, aber nur als Ultima ratio, einzusetzen. Ge- Ich sage es noch einmal: Wir werden nicht in einen gen zur Anwendung aller Mittel entschlossene Diktato- Krieg hineinschlittern, weil es auf dem Balkan nicht um ren und Verbrecher kann auch am Ende dieses Jahrhun- die Verschiebung von Einflußsphären geht und weil sich derts darauf nicht verzichtet werden. die atlantische Gemeinschaft von Milosevic das Gesetz Aber die Ultima ratio der Gewaltanwendung nimmt des Handelns nicht aufzwingen läßt, nicht aufzwingen heute keiner mehr für sich allein in Anspruch. Vielmehr lassen darf und auch nicht aufzwingen lassen wird. Aber handelt die europäische, die atlantische, die internatio- genau deshalb – auch diesen Punkt füge ich mit allem nale Völkergemeinschaft gemeinsam und integriert. Sie Nachdruck hinzu – müssen wir eine militärische Eska- handelt nur dann, wenn sie und soweit sie gemeinsamlation vermeiden. Wir jedenfalls wollen sie nicht. und integriert handelt. Das ist der eigentliche Friedens-, Sicherheits-, ja Zivilisationsgewinn am Ende dieses Aus diesem Grunde dürfen wir beim Einsatz, vor al- Jahrhunderts. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ge- lem beim Einsatz unserer deutschen Soldaten, unter gar nau dies würden wir verspielen, wenn wir unseren Bei- keinen Umständen das Entstehen von Grauzonen zulas- trag dazu verweigern würden. Auch dessen muß sich je- sen. Es muß immer und in jedem Stadium der Entwick- der bewußt sein. lung glasklar sein, wofür sie eingesetzt werden. Eine schleichende Ausweitung ihres Auftrags darf es nicht (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- geben und würde auf unseren entschiedenen Widerstand ordneten der F.D.P.) stoßen. Wenn selbst der Generalsekretär der Vereinten Na- Deshalb erwarte ich von der Bundesregierung gerade tionen von Völkermord im Kosovo spricht, dann, finde im Zusammenhang mit der Entsendung weiterer Solda- ich, kann die Rechtsgrundlage der NATO-Aktionen ein- ten nach Albanien, daß sie weiterhin jederzeit sorgfältig schließlich der Beteiligung der Bundeswehr nicht wirk- prüft, ob eine Erweiterung desEinsatzmandates durch (B) lich in Zweifel gezogen werden. Wer die Beschlüsse des den Deutschen Bundestag erforderlich wird. Selbst ein(D) Sicherheitsrats der Vereinten Nationen dennoch nicht rein humanitärer Einsatz kann ja auf Grund der Unüber- für ausreichend und deshalb die Aktionen der NATOsichtlichkeit der Verhältnisse im Kosovo schneller, als nicht für mandatiert halten will, der kann seine rechtli- uns lieb ist, zur Grauzone hinsichtlich des Einsatzes chen Bedenken letztlich nur aus dem klassischenInter- werden, der dann durch das von uns erteilte Mandat ventionsverbot ableiten. Aber darf denn angesichts der nicht mehr gedeckt wird. Wir, die CDU/CSU- Universalität unseres Menschenrechtsverständnisses ei- Bundestagsfraktion, werden sehr genau darauf achten, ne solche Interpretation des klassischen Interventions- daß keine Automatismen entstehen. Das sind wir alle verbots am Ende zum Freibrief für Diktatoren werden, gemeinsam den Soldaten, ihren Familienangehörigen ihre eigene Bevölkerung hinzumorden und zu vertrei-und der Öffentlichkeit, aber auch unseren Rechten und ben, zum Elend der „ethnischen Säuberungen“ am Ende Pflichten als Abgeordnete des Deutschen Bundestages dieses Jahrhunderts zurückzukehren? schuldig. Wie dünn die Argumentation aus dem Interventions- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- verbot letztlich ist, kann man doch auch daran erkennen: ordneten der F.D.P.) Mit der Anerkennung einer Unabhängigkeit des Kosovo würden alle diesbezüglichen rechtlichen Argumentati- Demokratisch verfaßte Staaten – auch das erleben wir onsketten aufgelöst. Im übrigen: Was heißt eigentlichin diesen Wochen – tun sich mit der Anwendung militä- Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten amrischer Gewalt schwer. Das ist gut so und muß so blei- Ende dieses Jahrhunderts? Sind das wirklich nur innere ben. Deshalb ist Öffentlichkeitsarbeit durch die NATO Angelegenheiten der Jugoslawischen Föderation oderund durch die Bundesregierung notwendig. Wenn aber des Kosovo? Ich finde, nicht nur die Flüchtlingsströme die Bundesregierung selbst schon einen Grund sieht, die beweisen doch, daß Völkermord und Vertreibung längst Öffentlichkeitsarbeit der NATO zu kritisieren, dann muß über jedes betroffene Land hinauswirken. Auch diealles daran gesetzt werden, daß diese Arbeit verbessert Fernsehbilder lassen uns doch Tag für Tag spüren, daß wird. Ich füge noch die Bemerkung hinzu: Auch in der auf dieser einen Welt Völkermord und Vertreibung nicht Öffentlichkeitsarbeit besteht natürlich ein grundlegender mehr innere Angelegenheit eines Landes sind, sondern Unterschied zwischen einer Demokratie und einer Dik- wirklich uns alle angehen und betreffen. tatur. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. so- Aber auch in diesem Bereich sollten wir selbstbewußt wie bei Abgeordneten der SPD und des sein und das nicht als Nachteil empfinden, sondern uns BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) dazu bekennen. Die NATO kann eben Auskünfte nur 2626 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 32. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. April 1999

Dr. Wolfgang Schäuble (A) geben, wenn sie sicher ist, daß sie zutreffen. Wir würden zu suchen, ist das andere. Beide Ziele müssen uneinge- (C) die Bundesregierung kritisieren, wenn sie um des propa- schränkt vorhanden bleiben, und beide gehören im übri- gandistischen Erfolgs willen vorschnell Erklärungen ab- gen untrennbar zusammen. geben würde, die sich hinterher als falsch herausstellten. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Der Diktator kann mit seiner Propaganda anders han- ordneten der F.D.P.) deln. Wir sollten jeden Tag an Medien und Öffentlich- keit appellieren, die Unterschiede zwischen verfälschen- Deshalb sind neue politische Initiativen unverzichtbar. der Propaganda und den Versuch, möglichst klar undPolitische Lösungen werden ohne Beteiligung der Ver- schonungslos zu informieren, im Bewußtsein einer offe- einten Nationen und damit auch Rußlands kaum zu er- nen Informationspolitik niemals zu verwischen – auch reichen sein. nicht in den Medien. Das Treffen der amerikanischen Außenministerin Al- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. so- bright mit ihrem russischen Kollegen Iwanow in Oslo in wie bei Abgeordneten der SPD und des dieser Woche hat gezeigt, daß die Diplomatie noch nicht BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) abgedankt hat, auch wenn viele Fragen offenbleiben mußten. Die Teilnahme des UN-Generalsekretärs am Bei aller Notwendigkeit von Öffentlichkeitsarbeit fü- Sondergipfel der EU gibt ebenfalls zu der Hoffnung ge ich folgende Bemerkung hinzu: Wir sollten alle dar- Anlaß, daß es einen Weg gibt, Milosevic nicht nur mit auf achten, daß wir uns nicht in ein Übermaß an zuspit- militärischer Gewalt zum Einlenken zu bringen. Je mehr zender Rhetorik hineinsteigern. militärische Gewalt mit der Einsicht verbunden ist, daß (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- die serbische Führung wirklich überall in der Welt iso- ordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE liert ist, um so größer wird die Chance sein, daß er eher GRÜNEN und der F.D.P.) früher als später zum Einlenken gebracht wird. Politische Lösungen könnten dadurch noch schwerer Ich begrüße auch ausdrücklich, daß sich die Bundes- werden, als sie es ohnedies sind. regierung in ihrer Funktion als amtierende Ratspräsi- dentschaft verstärkt über eine politische Lösung dieses Die Empörung über die entsetzlichen Verbrechen, die Konflikts Gedanken macht. Aber ich warne vor der nai- Milosevic zu verantworten hat, ist gerechtfertigt. Nichts ven Annahme, Milosevic könnte mit einer Art Vertrau- darf verschwiegen oder bemäntelt werden. Aber jederensvorschuß dazu bewegt werden, seine verbrecherische durch politische oder militärische Verantwortungsträger Politik ethnischer Säuberungen aufzugeben. Er hat angedeutete Vergleich mit Hitler ist nicht nur historisch schon zu viele Ultimaten höhnisch verstreichen lassen. schief, sondern auch gefährlich. Wer eine politische Lösung erreichen will, die auch (B) (D) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) nur einigermaßen nachhaltig ist, darf keine Situation Auch das Entsetzen über Mord und Vertreibung auf dem entstehen lassen, die Zweifel an der Ent- und Geschlos- Kosovo darf Unvergleichbares nicht angleichen, weilsenheit des Westens erlauben könnte. Diese Ent- und sonst aus einem moralischen Argument die sich selbst Geschlossenheit ist vielmehr Voraussetzung dafür, zu- rechtfertigende Konsequenz einer nicht mehr sammen be- mit den Vereinten Nationen und Rußland zu ei- herrschbaren Eskalation militärischer Gewalt begründet ner Lösung zu kommen. Je früher das Ziel einer gesi- werden könnte. Totaler Krieg und die Forderung nachcherten Rückkehr der Kosovaren in ihre Heimat durch bedingungsloser Kapitulation hängen enger zusammen, militärische Entschlossenheit und politische Bemühun- als mir angesichts solcher Reden gelegentlich bedacht zu gen erreicht werden kann, um so besser ist es. sein scheint. Ich halte im übrigen wenig davon, jetzt öffentlich über den künftigen Status des Kosovo zu spekulieren, Ich wiederhole: Die Ziele der NATO und der Völker- auch wenn ich hinzufüge, daß ich mir nur schwer vor- gemeinschaft sind klar, und das ist die Grundlage für die stellen kann, daß eine Realisierung desRambouillet- Teilnahme der Bundeswehr an diesen Aktionen. Wir Abkommens noch möglich ist. Aber eines scheint mir wollen, daß der Friede in der Region wiederhergestellt unabhängig davon unverzichtbar: Für den Fall, daß die und die Rückkehr aller Vertriebenen in ihre Heimat im vertriebenen Menschen zurückkehren sollen und kön- Rahmen gesicherter Verhältnisse gewährleistet wird. nen, ist es – neben der militärischen Absicherung einer Aber es reicht für die öffentliche Akzeptanz dieses mi- Perspektive des Lebens im Kosovo in Sicherheit – vor- litärischen Einsatzes – je länger er dauert, um so weni- rangige Pflicht der Europäischen Union, diese Rückkehr ger – nicht aus, diese Ziele nur zu proklamieren. Eine auch durch ein umfassendes und wirksames Hilfspro- solche Akzeptanz setzt vielmehr voraus, daß auch die gramm zum Wiederaufbau des Kosovo zu begleiten, zu Erreichbarkeit unserer Ziele plausibel vermittelt wird. unterstützen, ja überhaupt erst möglich zu machen. Wir Sonst wächst die Sorge der Menschen, man habe etwas fordern die Bundesregierung auf, auch in dieser Rich- angefangen, ohne das Ende zu kennen. Auch darüber tung ihre Bemühungen zu verstärken. müssen wir sprechen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Es muß auch drei Wochen nach Beginn der NATO- ordneten der F.D.P.) Aktionen klar sein, daß die militärische Entschlossenheit und Geschlossenheit in der Unterstützung dieser Maß- Ich will noch einmal zusammenfassen: Die nahmen das eine ist. Die Bereitschaft aber, zu jedemCDU/CSU unterstützt die deutsche Beteiligung an den Zeitpunkt eine politische Lösung im Sinne unserer Ziele NATO-Aktionen auf der Grundlage der Beschlüsse des Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 32. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. April 1999 2627

Dr. Wolfgang Schäuble (A) Sicherheitsrates der Vereinten Nationen und der Be- Ich möchte hier allerdings – der Kollege ist zwar ge- (C) schlüsse des Deutschen Bundestages. Wir danken den rade nicht anwesend – für meine Fraktion deutlich aus- Soldaten der Bundeswehr und der Streitkräfte unsererdrücken, wie peinlich ich den Vorgang des Besuches Verbündeten für ihren Einsatz und sichern ihnen sowie von Herrn Gysi in Belgrad und seine Begegnung mit ihren Familien unsere Solidarität zu. Wir unterstützenHerrn Milosevic finde, und begrüßen die Hilfe für Flüchtlinge und Vertriebene (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE vor Ort und sind bereit, bei gerechter europäischer La- stenverteilung vorübergehend auch bei uns vor allem GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P.) kranken Flüchtlingen und Kindern in begrenzter Zahlund darauf hinweisen, daß mir hier eine Zeitung vor- Aufnahme und Zuflucht zu gewähren. Wir wollen keine liegt, herausgegeben von der PDS im Deutschen Bun- militärische Eskalation. Deshalb werden wir sorgfältig destag, in der der Bundesminister der Verteidigung, Herr darauf achten, daß der Einsatz der deutschen Soldaten Kollege Rudolf Scharping, als „Kriegsminister“ diskre- stets klar definiert und durch das Mandat des Deutschen ditiert wird. Bundestags abgedeckt ist. Es dürfen keine Grauzonen entstehen. (Zuruf von der CDU/CSU: Pfui!) Ich weise diese Unerhörtheit deutlich zurück. Ziel aller Operationen muß sein, den Frieden in der Region wiederherzustellen und die Rückkehr aller Ver- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE triebenen in ihre Heimat und in gesicherte Verhältnisse GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P.) zu gewährleisten. Dabei geht es nicht um eine Verände- rung von Einflußsphären auf dem Balkan. Um bald-Ich nehme das zum Anlaß, an dieser Stelle gerade auch möglichst das Leiden und Sterben im Kosovo zu been- Herrn Verteidigungsminister Scharping für sein sehr be- den, sind neue politische Initiativen unter Beteiligungsonnenes Auftreten in der Kosovo-Krise zu danken. der Vereinten Nationen und damit unter Einschluß (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Rußlands unverzichtbar. Gleichzeitig muß die Europäi- GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P.) sche Union ein umfassendes und wirksames Hilfs- programm zum Wiederaufbau des Kosovo entwickeln. Seit unserer letzten Debatte haben sich die Ereignisse im Kosovo dramatisch zugespitzt. Wir alle mußten mit Verehrte Kolleginnen und Kollegen, 50 Jahre nachansehen, wie das Morden, Zerstören und Vertreiben der ihrer Gründung, die zugleich 50 Jahre gesicherten Frie- albanischen Bevölkerung im Kosovo durch die serbische dens in Freiheit waren, steht die NATO heute vor einer Soldateska eine kaum für möglich gehaltene Dimension neuen, einer schicksalhaften Herausforderung. Vertrei- angenommen hat. Fast die Hälfte der albanischen Be- bung, ethnische Säuberung und Völkermord mitten invölkerung wurde in die Nachbarstaaten vertrieben und (B) Europa haben die NATO erstmals in ihrer Geschichtedeportiert. Schätzungsweise 300 000 Kosovaren befin-(D) zum militärischen Handeln gezwungen. Wir führen kei- den sich im Kosovo auf der Flucht vor der serbischen nen Krieg, und unsere Aktionen richten sich nicht gegen Gewaltmaschine. Tag für Tag ein nicht enden wollender das serbische Volk. Aber das Morden und die Vertrei- Strom zutiefst traumatisierter Menschen, die die Lan- bungen dürfen wir nicht hinnehmen, als gingen sie uns desgrenzen überqueren: verletzt, gedemütigt, beraubt, in nichts an. Trauer um ermordete Verwandte, Freunde und Nach- barn, in Sorge um verschleppte Söhne und Ehemänner. Für uns Deutsche ist die Beteiligung an den NATO- Aktionen einer der schwersten Schritte, die wir seit dem Am Ende dieses an Schrecken reichen Jahrhunderts Zweiten Weltkrieg gegangen sind. Aber wir schuldenversucht noch einmal ein wahnwitziger, machtbesesse- ihn nicht zuletzt unserer Verantwortung vor der Ge-ner Diktator, eine ganze Volksgruppe zu vertreiben oder schichte. Wir schulden ihn unserer Solidarität mit unse- auszulöschen und seinem rassistischen Ziel eines „eth- ren Verbündeten. Aber vor allen Dingen schulden wirnisch reinen“ Serbiens näherzukommen. ihn unserer Zukunft, damit Mord und Vertreibung keine Diese Beschreibung der Lage wird von allen Mitglie- Chance mehr, Menschenrechte, Frieden und Freiheit dern meiner Fraktion geteilt. In der Beurteilung der hingegen alle Chancen haben. Konsequenzen und der zu ergreifenden Schritte gibt es (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) in meiner Fraktion und auch in meiner Partei jedoch ein- zelne Mitglieder, die das, was ich dazu ausführe, nicht teilen und eine andere Auffassung vertreten. Ich halte Präsident Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort dies nicht nur für legitim, sondern bekunde ihnen ge- dem Fraktionsvorsitzenden der SPD, Peter Struck. genüber meinen Respekt. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Dr. Peter Struck (SPD): Herr Präsident! Meine Da- Der NATO ist es bisher nicht gelungen,Milosevic men und Herren! Es ist gut, Herr Kollege Schäuble und von diesen Greueltaten im Kosovo abzuhalten. Dies al- liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU- lerdings zur Begründung für eine Feuerpause oder einen Fraktion und von der F.D.P.-Fraktion, daß wir uns in Waffenstillstand anzuführen bedeutet, Ursache und dieser für unser Land sehr wichtigen Frage einig sind. Wirkung für die entstandene Lage zu verwechseln. Seit (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten 1989 verfolgt Milosevic seine chauvinistische Idee eines des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) „ethnisch reinen“ Großserbiens. Er hat dafür bisher 2628 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 32. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. April 1999

Dr. Peter Struck (A) Kriege gegen Slowenien, Kroatien und Bosnien-den Hilfsorganisationen ein ungehinderter Zugang zu(C) Herzegowina geführt. den Opfern gewährt wird und daß der Versuch eines politischen Rahmenabkommens für das Kosovo auf der Ich will an dieser Stelle sagen: Ich empfinde es alsBasis der Abmachungen von Rambouillet unternommen einen großen Mangel unserer Politik, daß wir ihm nicht wird. Ein überprüfbares Angehen dieser Punkte würde früher, Herr Kollege Schäuble, in Sachen Bosnien-unmittelbar zu einer Aussetzung bzw. Beendigung der Herzegowina in den Arm gefallen sind. Wir müssen jetzt NATO-Luftschläge führen. die Konsequenzen aus diesem Verhalten ziehen. Wie wir mit großer Genugtuung verfolgen, Herr (Beifall bei der SPD) Bundeskanzler, hat die Bundesregierung eine Reihe von Seit Frühjahr 1998 führt Milosevic in großem Stildiplomatischen Aktivitäten in Gang gesetzt, um die Um- Vertreibungsaktionen und Dorfzerstörungen im Kosovo setzung dieser politischen Ziele zu erreichen. Ihre In- durch. Nach und während des Holbrooke-Milosevic-itiative, den Generalsekretär zum Sondergipfel einzula- Abkommens ist der Vertreibungsplan „Hufeisen“ ent- den, und Ihre Bemühungen, Herr Außenminister Fi- worfen und in die Tat umgesetzt worden, währendscher, Rußland über eine G-8-Initiative wieder zur Mit- Milosevic seine Leute am Verhandlungstisch sitzen ließ. wirkung am politischen Gestaltungsprozeß für das Ko- Dieser Plan sieht die Entvölkerung des Kosovo vonsovo zu bewegen, begrüßen wir ausdrücklich. Sie haben Albanern vor. Dies darf nicht zugelassen werden. unsere volle Unterstützung. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Die NATO-Luftangriffe setzten ein, als alle Versu- Ich glaube, daß wir alle in diesem Haus uns einig che der friedlichen Konfliktbeilegung an der fortdauern- sind, daß eine tragende RolleRußlands und eine ent- den Gewaltpolitik der serbischen Führung gescheitertsprechende Beschlußlage des Sicherheitsrats der Ver- waren. Sie jetzt auszusetzen bedeutet, Milosevic freieeinten Nationen die Aussichten für eine dauerhafte Frie- Hand zu geben, ihn ungestört sein Werk zu Ende brin- densregelung für das Kosovo verbessern, wenn nicht gar gen zu lassen. Wenn wir Europa als Kontinent des Frie- erst ermöglichen werden. Dies vor allem deshalb, weil dens, der Freiheit und der Demokratie bewahren wollen, wir eine Lösung anstreben müssen, die die Interessen dann dürfen wir völkische Gewaltpolitik auf seinem Bo- und Rechte der albanischen Bevölkerungsmehrheit im den nicht zulassen. Kosovo mit den Stabilitätsanforderungen der Region und ganz Südosteuropas verbindet. Das schließt bis auf (Beifall bei der SPD) weiteres eine Eigenstaatlichkeit und Teilung des Kosovo ebenso aus wie seine Unterordnung unter die serbische (B) Milosevic muß sich darüber im klaren sein: Er wird (D) seine politischen Ziele nicht erreichen. Wir lassen seine Staatsautorität. barbarischen Verbrechen nicht ungestraft geschehen. Je Daher teile ich die Überlegungen der Bundesregie- länger er daran festhält, um so höher wird der Preis, den rung hinsichtlich ihres Friedensplanes, für einen länge- er bezahlen muß. Ein Ende der Gewalt- und Vertrei-ren Zeitraum eine von den Vereinten Nationen autori- bungspolitik liegt auch im Interesse des serbischen Vol- sierte Übergangsverwaltung einzurichten, deren Autori- kes. Es bezahlt seit vielen Jahren für die Machtbeses-tät durch entsprechend mandatierte Friedenstruppen si- senheit seines Präsidenten mit wirtschaftlicher Armut, chergestellt werden muß. Ich stimme Ihnen zu, Herr geringem Lebensstandard sowie politischer Unterdrük- Kollege Schäuble, daß man nicht zu sehr auf die Details kung und Bevormundung. eingehen sollte, was die künftige Regelung angeht. Die Wir – ebenso wie die NATO – führen keinen Krieg Zielrichtung aber ist klar, und in der Zielrichtung sind gegen das serbische Volk. Unser Ziel ist einzig und al- wir uns einig. lein die Beseitigung des Schreckensregimes der serbi- Ich will an dieser Stelle betonen, meine Damen und schen Regierung im Kosovo. Herren, daß wir nicht nur die Leistungen der mazedoni- Daher ist es richtig, daß die NATO die Luftangriffe schen Regierung, sondern vor allen Dingen dermaze- verstärkt und der Druck auf Milosevic erhöht wird. Es donischen Bevölkerung mit großem Respekt zur geht uns nicht um die Kapitulation Serbiens, sondern um Kenntnis nehmen sollten, die die Flüchtlinge bei sich zu die Schaffung von Voraussetzungen für einepolitische Hause aufgenommen hat. Lösung. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der Daher unterstützt die sozialdemokratische Bundes- F.D.P. und des Abg. Dr. Wolfgang Schäuble tagsfraktion die Bemühungen der Bundesregierung, in [CDU/CSU]) Übereinstimmung mit der Europäischen Union, der NATO und dem Generalsekretär Kofi Annan, Belgrad Wir wissen, wie schwer es gerade für dieses Land ist, zu Abmachungen zu bewegen, die beinhalten, daß alle diese zusätzlichen Lasten zu tragen. Daß sich daraus für Kampfhandlungen sofort und überprüfbar eingestelltuns eine politische und auch finanzielle Verantwortung werden, alle militärischen und paramilitärischen Kräfte ergibt, muß uns allen klar sein. sowie die Sonderpolizei nachprüfbar aus dem Kosovo (Beifall bei Abgeordneten der SPD) abgezogen werden, der Stationierung internationaler Si- cherheitskräfte im Kosovo zugestimmt wird, die Rück- Meine Damen und Herren, es ist richtig, daß im Au- kehr aller Deportierten bedingungslos ermöglicht sowie genblick alle Kräfte auf eine Rückkehr zu einer friedli- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 32. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. April 1999 2629

Dr. Peter Struck (A) chen Konfliktbeilegung im Kosovo konzentriert werden. Präsident Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun(C) Es ist richtig, daß wir versuchen wollen, die friedenstif- Kollege Wolfgang Gerhardt, Vorsitzender der F.D.P.- tenden Wirkungen der europäischen Integration mit den Fraktion. vertrauensbildenden Erfahrungen aus der Entspan- nungspolitik zu verbinden. Wir müssen den Völkern und Staaten in Südosteuropa eine europäische Perspektive Dr. Wolfgang Gerhardt (F.D.P.): Herr Präsident! bieten, sie nachhaltig in den euro-atlantischen Strukturen Meine Damen und Herren! Der Kollege Struck hat, per- verankern. Davon darf kein Staat ausgeschlossen wer- sönlich verständlich und zu Recht, die Frage ausge- den. drückt, warum Demokratien eigentlich so lange ge- braucht haben, um einem Tyrann in den Arm zu fallen. Kofi Annan hat in seiner Rede vom 7. April in Genf unter Bezugnahme auf die ethnischen Säuberungen im Das führt mich zurück auf die Feststellung, daß, wie Kosovo darauf hingewiesen, daß eine internationalewir alle wissen, Europa selbst lange Zeit hat verstreichen Rechtsnorm in der Entwicklung begriffen sei, die daslassen, bis es die tatsächliche Lage so bewertet hat, wie Verbot von gewaltsamer Unterdrückung von Minder-sie bewertet werden mußte. Wir erinnern uns an viele heiten höher einstuft als Belange der Staatssouveränität. Debatten, die eher über die alten Bündnispartnerschaften Herr Bundeskanzler und Herr Bundesaußenminister, ich des zweiten Weltkrieges, die heutigen Verbündeten in wünsche mir, daß die Bundesregierung und die Europäi- den westlichen Demokratien, ausgetragen wurden als sche Union diese Einlassungen des Generalsekretärs der mit Blick auf die tatsächliche Lagebeurteilung. Vereinten Nationen aufgreifen und durch eine eigene (Dr. [CDU/CSU]: Ja!) Initiative verstärken. Wir müssen eine Völkerrechts- situation erreichen, die zukünftig verhindert, daß sichIch erinnere auch an viele Fehleinschätzungen der Ver- Völkermörder und völkische Gewaltverbrecher hintereinigten Staaten von Nordamerika, die uns immer gerne dem Schutzschild nationaler Souveränität versteckenRatschläge erteilen, wie wir das in Europa handhaben können, wie Kofi Annan es treffend ausgeführt hat. müssen, aber damals mit einem Fernglas auf Jugoslawi- en gesehen haben, ohne einmal die Lupe zur Hand zu (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten nehmen, um zu untersuchen, was sich dort wirklich des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der vollzieht. CDU/CSU und der F.D.P.) Der Gang, den Kollege Struck erwähnt hat – über Dies entspricht nicht nur unseren Auffassungen, die wir Slowenien, Kroatien und Bosnien-Herzegowina –, war den Entscheidungen für den NATO-Einsatz im Kosovo ja erkennbar. Die Unverträglichkeit und der Haß breite- zugrunde gelegt haben, sondern würde auch dem Kampf ten sich ja geradezu mit täglicher Steigerung aus – im (B) um den Schutz der Freiheit und der Würde des Men-übrigen nicht nur bei Milosevic, sondern auch bei ande- (D) schen ein neues historisches Kapitel hinzufügen. ren Erben des früheren Jugoslawien, aber bei Milosevic in ihrer brutalsten Form. Dies hat Europa lange ver- Meine Damen und Herren, zusammenfassend kanndrängt, in der Kette von Slowenien über Kroatien bis ich – sicherlich für die überwältigende Mehrheit imBosnien-Herzegowina. Das gilt auch für führende Per- Haus – festhalten, daß der Deutsche Bundestag fest hin- sönlichkeiten, die unsere Verbündeten sind. ter der Bundesregierung und der NATO steht, daß wir die von der Bundesregierung angeregten diplomatischen Deshalb kann nicht darauf verzichtet werden, sich an Bemühungen um eine politische Lösung außerordentlich Debatten, die wir 1995 in diesem Hause über Bosnien begrüßen und hoffen, daß sie möglichst bald zu einem geführt haben, zu erinnern. Da war für diejenigen, die Ende der Gewalt im Kosovo führen. nicht blind waren, schon klar, was sich dort vollzieht. Trotzdem war die politische Bereitschaft, ein Mandat für (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Friedenserhaltung zu schaffen, auch in diesem Hause des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der nur bei Teilen ausgeprägt. Ich erlebte damals, daß sich CDU/CSU) der jetzige Außenminister nach meiner Rede komplett Unser Dank gilt den selbstlosen Helfern desTechni- gegenteilig aussprach. Das ist kein Vorwurf; denn sol- schen Hilfswerks und der Nicht-Regierungsorganisa- che Skrupel gehören zu den Wesensmerkmalen einer tionen, die vor Ort den Menschen tatkräftig zur SeiteDemokratie. Aber manche, die heute auf der Regie- stehen. rungsbank sitzen, haben in den damaligen Debatten kei- ne Lorbeeren geerntet. Das muß eindeutig gesagt wer- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten den. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Ich spreche sicherlich in unser aller Namen, wenn ich Es ist zum Teil auch von daher verständlich, weil sich abschließend besonders unserenSoldaten danke, die die Deutschen immer international klar geordnete Ver- durch ihren großen Einsatz zu einem unersetzlichenhältnisse wünschen. Nur leider will sich die Wirklichkeit Faktor der humanitären Hilfe für die vertriebenen und– das lernen wir ja jetzt wohl kennen – diesen Wünschen geschundenen Kosovaren geworden sind. nach Ordnung, die von netten Leuten gehegt werden, nicht immer so beugen, wie das ordentlichen Leuten (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten wünschenswert erscheint. Als dann urplötzlich die Zei- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der ten, in denen sich andere – Deutschland war geteilt; es CDU/CSU und der F.D.P.) gab die Vier-Mächte-Verantwortung – um die Probleme 2630 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 32. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. April 1999

Dr. Wolfgang Gerhardt (A) der Welt kümmerten, vorbei waren, da wurden die Fra- Die alte Rolle kann Rußland nicht mehr spielen. Es (C) gen für uns sehr drängend, und sie stellten sich sehr klar. kann nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion keine falsche Selbstvergewisserung mehr betreiben. Das so- Jetzt erleben wir – das muß man doch ungeschminkt zialistische System ist ja wie ein Gletscher gewesen, der sagen –, daß die Reaktion der westlichen Staatenge-sich über alles gelegt hat. Nachdem nun das Eis des meinschaft am Ende einer Kette von vielen Verdrängun- Gletschers weg ist, suchen manche nach europäischer gen, von zeitweiligem Wegschauen steht. Es sind in ei- Orientierung, manche noch nicht. Manche betreiben eine ner Demokratie wichtige Sperren, wenn man Skrupelfalsche ethnische Selbstvergewisserung. Wir müssen hat; sie gehören sogar zum Wesensmerkmal einer De- den Kräften helfen, die eine europäische Orientierung mokratie. Aber die Frage ist schon richtig, warum wir suchen. denn alles bis zur Neige durchleben müssen, bevor wir Entscheidungen treffen können. So ist die gesamte (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- Nachkriegsgeschichte westlicher Demokratien abgelau- ten der CDU/CSU) fen; so stellt sich ihre Fähigkeit zur Reaktion auf Tyran- Wir müssen sogar ein massives Interesse daran haben, nen und Despoten dar. Wie in einem Brennglas kann daß sie sie finden, und wir müssen sogar alles dafür tun, man darin auch die Geschichte der Reaktion auf das damit unser großer Nachbar Rußland im übertragenen Auseinanderfallen des früheren Jugoslawien sehen. Sinne die Chance bekommt, auf dem Wege dorthin Er- Jetzt befinden wir uns in einer Situation, die man klar folgserlebnisse zu haben. Das muß die Haltung deut- beschreiben muß, wie immer auch diese Beschreibung scher Politik sein. ausfällt. Wir befinden uns in der Situation, daß dort ein (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- Krieg stattfindet, in den wir zum erstenmal deutsche ten der SPD und der CDU/CSU) Soldaten – legitimiert, mandatiert – entsandt haben. Wir müssen eigentlich unserer deutschen Gesellschaft einDiese müssen wir ausstrahlen; die müssen wir Rußland großes Kompliment dafür machen, daß sie in einer der- auch mitteilen. Es genügt nicht, wenn wir darüber nur artigen Klugheit, Vielfalt und Eindringlichkeit dieseim Bundestag debattieren. Jeder von uns muß bei allen dramatische Situation diskutiert. Man sollte sich nicht Begegnungen – keine Reise dorthin darf uns jetzt eine öfter solchen Proben unterwerfen. Ich bewundere schon Reise zuviel sein – den russischen Politikern das auch den Reifegrad vieler Diskussionen in einer stabilensagen. Wir müssen ihnen sagen: Wir brauchen euch; wir deutschen Demokratie. brauchen Rußland. Das müssen wir Rußland sagen. Oh- ne Rußland wird es zu keiner Lösung dieses Problems (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- kommen. Das ist ausgeschlossen. ten der CDU/CSU) (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- (B) (D) Es gibt kontroverse Meinungen in der Sache, aber der ten der SPD, der CDU/CSU und des BÜND- Vorgang ist doch bemerkenswert. Hierbei handelt es NISSES 90/DIE GRÜNEN) sich ja nicht um eine der üblichen Debatten, die wir in Situationen des Streits über innenpolitische VorgängeWer das weiß, muß dann entsprechend reagieren. oder auch über andere große Themen führen. Hierbei Meine Damen und Herren, militärisch wird entschei- handelt es sich zum erstenmal um eine Debatte, die auch dend sein, ob Milosevic im Kosovo alsbald die Hände zur Folge haben kann, daß sie Mitbürgerinnen und Mit- gebunden werden können. Meine größte Ungeduld gilt bürgern, sprich: die deutschen Soldaten bei einem Ein- nahezu täglich der Frage, wann endlich die paramilitäri- satz, das Leben kosten könnte. Daß dies nicht geschehen schen Organisationen, das jugoslawische Militär auf ist, darüber freuen wir uns. Aber daß das Risiko hoch ist, dem Boden des Kosovo gestoppt werden können. Ich das ist doch jedem bei diesem Thema bewußt. Deshalb warte mit Ungeduld auf all das, was bisher angekündigt muß der Deutsche Bundestag – da stimme ich mit Kol- worden ist. Denn der Kosovo ist ein besonderes Pro- legen Schäuble völlig überein; die deutsche Öffentlich- blem: Milosevic standen in allen Teilen Jugoslawiens keit tut es ja auch – immer den Druck dahin gehend auf- bisher Strohmänner für den Einsatz von Gewalt zur Ver- rechterhalten, daß neben strategischen Luftoperationen fügung, während er jetzt selbst ganz klar der Verant- auch politische Lösungen angestrebt werden. Es gehtwortliche für das Vorgehen, und zwar nicht nur für die nur in einer Mixtur, in einer Zwei-Wege-Strategie. Repressionen, für die Plünderungen und Vertreibungen, Ganz entscheidend wird sein, ob die Kräfte Rußlands für die Vergewaltigungen, sondern auch für den ausreichen – oder ob man Rußland die Kraft dazu ver- schlichten Mord, ist. Er ist kein Staatschef, er ist ein schaffen kann –, einen Weg zu finden, der bewirkenKriegsverbrecher. Das ist ganz eindeutig und kein über- kann, daß man sich in diesem großen Land nicht nurhöhter Ausdruck. ausschließlich damit beschäftigt, den Zusammenbruch (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- der früheren Sowjetunion zu verarbeiten. Die Binnenori- ten der SPD und der CDU/CSU) entierung und die Fragmentierung der russischen Politik müssen überwunden werden. Man fragt heute ja so neu- Ich sage deshalb für die Freien Demokraten: Es gibt deutsch, ob dieses Land die Kraft hat, die eigene Demo- keine Alternative zu der Strategie der NATO, zu dem kratie zu stabilisieren und andernorts in der Welt mit uns militärischen Einsatz. Wir dürfen auch nicht zögern. Der zusammen alles dafür zu tun, daß freiheitliche Gesell- Einsatz muß fortgesetzt werden, und er kann, solange schaften sozusagen implementiert werden. Diese ernst- dieser Tyrann wütet und politisch nicht einlenkt, keinen hafte Frage stellt sich. Tag ausgesetzt werden. Wir sind in einer Situation – so Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 32. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. April 1999 2631

Dr. Wolfgang Gerhardt (A) paradox das auch klingt –, in der für die Öffentlichkeit, Die deutschen Soldaten wie auch die Soldaten der(C) für die Weltgemeinschaft, für die Menschen dort dieVerbündeten und ihre Familien haben unseren Rückhalt. Menschenwürde nicht anders als mit militärischen Mit- Wir danken ihnen und ihren Angehörigen. Wir bedan- teln durchgesetzt werden kann. Alles andere ist in dieser ken uns bei denHilfsorganisationen für ihre vielen Diskussion keine brauchbare Alternative. humanitären Bemühungen. Wir sind – so hat es der Bundeskanzler gesagt – dankbar für die großeSpen- Meine Damen und Herren, für eine Lösung des Pro- denbereitschaft in Deutschland. blems wird es natürlich nicht reichen, die Flüchtlinge zurückzuführen. Für eine Lösung des Problems sehen Herr Bundeskanzler, die Bundesregierung hat die wir heute schon weit über Rambouillet hinaus, daß für Unterstützung der F.D.P. für den unumgänglichen Ein- die gesamte Region ein Stück ökonomische Stabilitätsatz militärischer Mittel im Bündnis. Wir sind in einem und Lebensperspektiven für die Menschen geschaffenselbstbewußten Parlament, das alle Mittel der parla- werden müssen. Das ist seit Bestehen der Europäischen mentarischen Kontrolle hat, das Mandatierungen nach Union ihre größte Bewährungsprobe. Lageeinschätzung begrenzt, erneuert oder verändert. Es bleibt aber ständiger Auftrag für das Primat des Politi- Das ist eine schwierige Situation, aber es ist für die schen: Es gibt keinen Automatismus des Militärischen, Europäische Union und für uns als Politiker in und es kann ihn nicht geben. Es kann streckenweise Ein- Deutschland gleichzeitig eine Chance, deutlich zu ma- sätze von militärischen Mitteln geben, um politische chen, daß sich die Europäische Union in unserem Ver- Ziele durchsetzungsfähig zu machen; am Ende müssen ständnis nicht in den Themenbereichen Milchseen, But- es aber politische Ziele sein. Das heißt – an die Adresse terberge, Struktur- und Kohäsionsfonds, ja nicht einmal der Bundesregierung gesagt –: Dieser policy mix aus im deutschen Nettozahlerbeitrag erschöpft, sondern auch strategischen Luftoperationen der NATO, zugleich aber zu einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik fä- täglichen Versuchen politischer Initiativen ist die Regie- hig ist; denn sonst wird sie an Respekt und Ansehen rungskunst, die jetzt erforderlich ist. Am Ende darf Mi- verlieren. Ich sage trotz aller Bemühungen der Bundes- losevic nicht siegen. Ich füge sogar persönlich hinzu: regierung: Die Stimme der Europäischen Union muß in Am Ende kann er auch nicht wieder Verhandlungspart- dieser Situation kräftiger werden. Sie muß deutlich ma- ner werden, nach all dem, was er getan hat. chen, daß sie auf Krisen glaubwürdig reagieren kann. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- ten der CDU/CSU) ten der SPD) Der frühere Außenminister Hans-Dietrich Genscher Herr Bundeskanzler, die politischen Ziele, die not- hat einmal gesagt, die Europäische Gemeinschaft sei die wendige Haltung und die Bündnisfähigkeit, über die Sie (B) moralische Konsequenz aus der Geschichte europäischer vorgetragen haben, werden von der Opposition – ich er- (D) Bruderkriege. Er hat hinzugefügt, wenn sie nichts ande- kläre das jedenfalls für meine Kolleginnen und Kollegen res bewirkt hätten, als daß Kriege unter ihren Mitglie-aus der Bundestagsfraktion der Freien Demokratischen dern niemals mehr möglich sein werden, dann hätte sich Partei – voll unterstützt. Ich habe manchmal sogar das schon deshalb ihre Existenz gelohnt. Gefühl, daß unsere Unterstützung viel stärker und klarer ist als die Unterstützung aus den Reihen der Koalitions- Deshalb will ich die junge Generation in Deutschland partei, die Sie gewählt haben. und uns alle daran erinnern, daß es nicht ausreicht, kleinliche Kritik an der Brüsseler Bürokratie zu üben. (Beifall bei der F.D.P.) Die Europäische Union ist entstanden, weil es Menschen Darüber müssen Sie sich keine Sorgen machen; da kön- gab, die nicht nur aus den Geschichtsbüchern Kenntnis- nen Sie sich in Ihrer Arbeit entlasten. Die Politik der se über Hitler und Stalin hatten und nie mehr wollten,Bundesregierung im Bündnis ist so stabil, weil die Op- daß auf diesem Kontinent die alten Dämonen wiederposition in diesem Hause so stabil ist. aufwachen und sich Zutritt verschaffen. In einer solchen Situation leben wir. Wir haben es nicht für möglich ge- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- halten, daß am Ende dieses Jahrhunderts wieder Phäno- ten der CDU/CSU) mene zur Erscheinung kommen, die den Beginn dieses Jahrhunderts so dramatisch gestaltet haben. Eine solche Haltung hätte sich die frühere Bundesregie- rung von manchen Kolleginnen und Kollegen, die jetzt Niemand darf in Europa mit Haltungen, wie Milose- in der Verantwortung sind, gewünscht, als es ebenfalls vic sie prägt, am Ausgang dieses Jahrhunderts Men-um ernsthafte Fragen ging. schen bedrohen, und wenn es geschieht, darf die Völ- kergemeinschaft nicht tatenlos zusehen. Wenn es vorbei (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) ist, muß den Gesellschaften geholfen werden, die sich so Skrupel haben auch wir. Krieg mögen auch wir nicht. verblenden ließen. Auch dazu gibt es keine Alternative, Deshalb sind die Einfachheit und Schlichtheit, die Herr wie wir Deutschen am eigenen Leib nach 1945 erfahren Kollege Gysi in seiner Argumentation immer verwendet, haben. so absurd. Hier sitzen sich doch nicht Lager in den Al- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- ternativen Krieg oder nicht Krieg gegenüber. ten der SPD und der CDU/CSU) Wahr ist aber auch, was Brzezinski, der Sicherheits- Wir wissen, was dort getan werden muß, wenn auch das berater des früheren amerikanischen Präsidenten Carter, serbische Volk wieder eine Chance erhalten soll. in einer großen deutschen Tageszeitung einfach, klar, 2632 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 32. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. April 1999

Dr. Wolfgang Gerhardt (A) streitig, aber wahrheitsgemäß, ausgeführt hat – ich zitie- befinden. Aber ich bin überzeugt, daß wir uns auf der(C) re ihn –: menschlich sicheren Seite befinden. Darum geht es bei diesem Einsatz. Unzweideutig steht mittlerweile mehr auf dem Spiel als das Schicksal des Kosovo. Die Vorausset- Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. zungen haben sich an dem Tag dramatisch verän- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) dert, an dem das Bombardement begann. Ohne zu übertreiben ist festzustellen, daß ein Scheitern der NATO das Ende ihrer Glaubwürdigkeit wäre und Präsident Wolfgang Thierse: Das Wort für die gleichzeitig die globale Führungsrolle der Verei-Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat Kollege Rezzo nigten Staaten in Mitleidenschaft geriete. Die Fol- Schlauch. gen wären verheerend für die globale Stabilität.

Ich sage diese drastischen Worte ganz klar: WirRezzo Schlauch (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): müssen dort gewinnen – und zwar militärisch wie poli- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als am tisch –, um überhaupt Verantwortung in einer Welt, die Dienstag vergangener Woche die Meldung „Milosevic auf freiheitliche Gesellschaften zugeht, wahrnehmen zu bietet einseitige Waffenruhe an“ über die Ticker lief, können. Der Tyrann darf nicht siegen – weder militä-habe ich – genauso wie wahrscheinlich viele andere – risch noch politisch. Hoffnung geschöpft. Ich habe Hoffnung darauf ge- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- schöpft, daß die Vertreibung der Kosovo-Albaner und ten der CDU/CSU) das ihnen von Milosevic zugefügte Leid und Leiden endlich ein Ende haben und die NATO ihre militäri- Uns, allen Abgeordneten meiner Fraktion, ist das klar. schen Einsätze beenden kann. Deshalb bleibt – mit der Begründung unserer Haltung Es war auch die Hoffnung darauf, daß sich die tag- zur Unterstützung der Bundesregierung – am Ende üb- tägliche Abwägung nicht mehr stellt, ob mit militäri- rig, Ihnen, Herr Bundeskanzler, weiterhin viel Erfolg bei scher Gewalt den hunderttausendfachen Menschen- der Überzeugungsarbeit in Ihren eigenen Reihen, bei Ih- rechtsverletzungen an den Kosovo-Albanern Einhalt ge- ren Koalitionsparteien, zu wünschen. Die F.D.P. hat, wie boten werden muß. Weil diese Abwägung Tag für Tag alle Demokraten, lange gezögert und sich nicht leicht- neu getroffen werden muß, ist es wichtig, daß wir uns in getan mit den Entscheidungen, wie wir sie dann treffen dieser Sitzung mit diesem Thema beschäftigen. Dies ge- mußten. Der frühere Bundesaußenminister Kinkel und schieht auch in Verantwortung gegenüber den Soldaten der frühere Bundeskanzler Kohl haben in ihrer Verant- und ihren Familien. Wir schulden den Soldaten für jeden wortung Abwägungsprozesse unternommen, die in der (B) Tag ihrer gefährlichen Einsätze Dank, den ich von hier (D) Qualität in nichts den Abwägungsprozessen nachstehen, aus zum Ausdruck bringen möchte. die Sie heute bewältigen müssen und die immer positi- ves Kennzeichen von Demokratien sind. Aber sie und (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auch wir haben in dieser Zeit genau gewußt, daß Demo- und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der kratien nicht nur Sonnenscheinveranstaltungen sind, CDU/CSU) sondern irgendwann – weil in manchen Völkergemein- Drei Wochen nach Beginn der Bombardierungen schaften menschliche Charaktere das Licht der Welt er- durch den NATO-Einsatz gilt es allerdings auch, poli- blicken, die politisch nicht so denken, wie es ordentli- tisch darüber zu beraten, was bislang diplomatisch und chen Menschen wünschenswert erscheint – notfalls auch militärisch erreicht werden konnte, was nicht erreicht zu letzten Mitteln greifen müssen, um denjenigen Ein- werden konnte und was noch erreicht werden muß. In halt zu gebieten, die plündern, vergewaltigen und mor- der Gesellschaft, aber natürlich auch innerhalb der den. Fraktionen gibt es Kritik, Sorgen und Ängste. Diese Ich kann mich nur begrenzt in einer Diskussion auf- müssen wir immer wieder von neuem ernst nehmen, halten, in der feinsinnig bedauert wird, daß die alteaufgreifen und auch immer wieder auf den Prüfstand Nachkriegsweltordnung nicht mehr möglich ist, weilstellen. Wir müssen immer wieder begründen, warum dieser Einsatz vom Sicherheitsrat nicht in der klassi-wir trotzdem so handeln, wie wir es tun. schen Form mandatiert worden sei. Das kann ich keinem Viele Menschen sehen das Risiko einer Ausweitung Menschen vermitteln, der mit einem Gewehr bedroht des Konfliktes, fürchten eine Eskalation der militäri- wird, dem mit dem Messer die Kehle durchgeschnitten schen Gewalt und fragen sich, wie die Waffen endlich wird, der auf einen Traktor gesetzt wird, fünf Minuten wieder schweigen können. Zeit hat, sein Haus zu verlassen – beim Verlassen des Dorfes sieht er noch, daß es angezündet wird –, und der Wir alle fragen uns, ob es eine Alternative gibt. Wir die Demokratien fragt, ob sie denn bei aller Freiheitlich- alle sehen jeden Abend die geschundenen, vertriebenen keit am Ende wehrlos gegenüber solchen Staatsmännern Menschen im Kosovo und müssen feststellen, daß es in Form von Terroristen sind. Diese Frage kann ich nur nicht gelungen ist, die von Milosevic systematisch orga- so wie Wolfgang Schäuble beantworten. nisierte Deportation einer ganzen Bevölkerungsgruppe zu stoppen. Annähernd 1 Million Menschen sind auf der (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Flucht; sie werden aus ihrer Heimat vertrieben und be- Diese Frage ist natürlich schwierig. Man kann unsraubt; ihre Häuser werden zerstört und die Dörfer dem vorhalten, daß wir uns nicht auf rechtlich sicherer Seite Erdboden gleichgemacht. Uns alle treibt die Frage um: Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 32. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. April 1999 2633

Rezzo Schlauch (A) Wie können wir das verhindern? Wie kann dieseBar- Nicht die NATO hat den Krieg begonnen, sondern die(C) barei Milosevics gestoppt werden? Wie können wir die NATO will diesen Krieg zu Ende bringen. Voraussetzungen dafür schaffen, daß die Menschen in ihre Heimat zurückkehren können? Ich bin, meine Damen und Herren, jedesmal beein- druckt, wenn ich abends Stimmen aus den Flüchtlings- Jeder Vorschlag muß aufgenommen, geprüft undkreisen höre, die, in ihrem tiefsten Elend befragt, uniso- dann verworfen oder auch umgesetzt werden. Ich re-no sagen: Wir sind dankbar, daß die NATO bombar- spektiere die Motive derjenigen, die nach ernsthafterdiert. Wir begrüßen die NATO. Abwägung vorschlagen, die NATO-Angriffe teilweise oder zeitweise auszusetzen, aber ich teile sie nicht. Für (Zurufe von der PDS) mich verkehrt sich diese Forderung nach einem einsei- Dies müssen Sie bei Ihrer Abwägung mindestens genau- tigen Waffenstillstand durch die zynische Logik Milo- so mit einbeziehen sevics in ihr Gegenteil. Ein einseitiger Waffenstillstand durch die NATO würde nur dazu führen, daß Milosevic (Zuruf von der PDS: Zynisch ist das!) das Brandschatzen, das Morden und den von langer wie die Frage, welche Schäden in Serbien und in Bel- Hand vorbereiteten Plan der Vertreibung der Kosovo- grad entstehen. Albaner ungestört und vor allem unsanktioniert fortset- zen könnte. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und gelernt: Dies ist nicht aus der Luft gegriffen. So hat er es bei der SPD – Widerspruch bei der PDS) in Bosnien gemacht, indem er Feuerpausen und Entge- genkommen ohne Bedingungen immer ausgenutzt hat, Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß die Verbre- um militärische und strategische Vorteile aufzubauen. chen von Milosevic gegen die Menschlichkeit von lan- ger Hand geplant waren. Wir wissen, daß im Oktober Krieg ist immer schrecklich. Wir müssen aber genau letzten Jahres bereits 300 000 Menschen vertrieben wor- hinsehen, wer im Kosovo Krieg gegen wen führt undden waren – diese Situation hat dann zum Grundlagen- wie die Zielsetzungen dieses Krieges aussehen. Milose- beschluß des Deutschen Bundestages geführt –, in den vic führt Krieg gegen die eigene Bevölkerung. Sein Ziel Wäldern des Kosovo auf der Flucht waren und dort aus- sind die Zivilisten. Das Objekt der NATO-Einsätze ist geharrt haben. Noch während sich die Völkergemein- das Militär, die militärische Unterdrückungsmaschinerie schaft im Februar dieses Jahres intensiv um eine diplo- von Milosevic. Meine Damen und Herren, gerade von matische Lösung bemühte, hat Milosevic gezielt militä- links, ich glaube, das ist der gravierende Unterschied,rische Streitkräfte in großem Umfang in den Kosovo den Sie in Ihre Analysen nicht einbeziehen und auch im verlegt. vorgelegten Entschließungsantrag nicht berücksichtigen Milosevic ist jemand, auf den man sich nicht verlas- (B) bzw. so verwischen, daß Täter zu Opfern werden und (D) Opfer zu Tätern. sen kann. Das hat die Geschichte gezeigt. Das Abkom- men zwischen Milosevic und Jelzin ist sofort gebrochen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN worden. Das Friedensabkommen zwischen Holbrooke und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der und Milosevic ist auch sofort gebrochen worden. CDU/CSU und der F.D.P. – Zuruf von der PDS: Quatsch!) (Dr. Gregor Gysi [PDS]: Das stimmt nicht!) Natürlich ist jede Rakete und jede Bombe, die ihr Ziel Daran kann man erkennen, daß Milosevic auch die Zei- verfehlt und unschuldige Zivilisten trifft, schrecklich,ten, in denen man sich um eine friedliche und politische aber dies ist auf tragisches technisches oder menschli- Lösung bemüht hat, nur genutzt hat, um seine ethnische ches Versagen zurückzuführen. Bei Milosevic ist es aber Kriegsführung vorzubereiten und durchzuführen. Des- Prinzip, die Zivilbevölkerung treffen und vernichten zu halb können für eine Beendigung der NATO-Einsätze wollen. Dieses menschenverachtende und menschen-von Milosevic nicht mehr Worte, sondern nur noch Ta- rechtsverletzende Prinzip muß durchbrochen werden.ten zählen. Diese Taten bestehen in der sofortigen Ein- Deshalb sehen wir in der Mehrheit so lange keine über- stellung der kriegerischen Handlungen und im soforti- zeugende Alternative zu den militärischen NATO-gen Rückzug aller militärischen Kräfte aus dem Kosovo. Einsätzen, bis es zu einer politischen Lösung kommt. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES SES 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD sowie bei 90/DIE GRÜNEN und der SPD) Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.) Es gibt auch Stimmen, die sagen, NATO-Einsätze Der jetzt von der Bundesregierung vorgelegteFrie- hätten das Leid der Kosovaren verschlimmert. densplan bietet noch einmal die Chance zu einer friedli- (Wolfgang Gehrcke [PDS]: Sehr richtig!) chen Lösung. Dabei ist es im Interesse der Kosovo- Einige wenige sprechen sogar davon, sie hätten es her- Albaner unverzichtbar, daß Milosevic mit dem Abzug vorgerufen. der militärischen Kräfte verifizierbar beginnen muß, be- vor eine befristete Unterbrechung der NATO-Angriffe (Dr. Gregor Gysi [PDS]: Das ist nicht wahr!) erfolgen kann. Ich kann nur davor warnen, Ursache und Wirkung zu Diese Initiative zeigt auch, daß von seiten der Bun- verwechseln. Es ist nicht die NATO, vor der die Men- desregierung nichts, aber auch gar nichts unversucht schen fliehen. Es ist die Soldateska von Milosevic. gelassen wurde und wird, um im Vorfeld, aber auch (Dr. Peter Struck [SPD]: Richtig!) während der militärischen Auseinandersetzung eine 2634 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 32. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. April 1999

Rezzo Schlauch (A) politische Lösung zu erreichen. Aber eine politische Lö- eine Perspektive zu geben. Wir wissen, daß nur eine(C) sung setzt den glaubhaften Willen zur Politik auf seiten politische Lösung eine dauerhafte Lösung sein kann, Milosevics voraus. Solange dieser Wille nicht zu erken- und müssen doch feststellen, daß Milosevic alle politi- nen ist, sieht die überwiegende Mehrheit meiner Frakti- schen Initiativen bisher nur dazu genutzt hat, seine on keine andere Möglichkeit, als Milosevic mit militäri- Kriegsführung zu perfektionieren. schen Mitteln die Fähigkeit zur ethnischen Kriegsfüh- Wir haben die Forderung „Nie wieder Krieg“ immer rung zu nehmen. vertreten und damit natürlich auch gemeint: Nie wieder Ich glaube, daß es an dieser Stelle notwendig ist – das Völkermord. Milosevic zerreißt mit seinem verbrecheri- haben auch alle meine Vorredner getan –, den Mitarbei- schen Handeln die Identität dieser beiden Forderungen. terinnen und Mitarbeitern der deutschenHilfsorganisa- Wir müssen erkennen, daß sich die Durchsetzung der tionen, die in den Regionen, in die die Menschen flie- Forderung „Nie wieder Völkermord“ in diesem Fall lei- hen, einen unermüdlichen Einsatz leisten, und auch den der nur mit militärischen Mitteln erreichen läßt. Soldaten in Mazedonien, die ja humanitäre Hilfe leisten (Zuruf von der PDS: Mit Krieg!) und damit das Leid der gepeinigten Menschen lindern, herzlich zu danken. Meine Damen und Herren Kollegen von der PDS, wenn ich lese, daß Ihr Vorsitzender eine Pressekonfe- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN renz unter dem Titel „Zur aktuellen Lage im Kosovo und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der und die Mitgliederentwicklung der PDS“ abhält, dann CDU/CSU und der F.D.P.) muß ich sagen: Durch diesen Titel werden Ihre Meinung Wir müssen alles tun, um die Länder zu unterstützen, und Ihre Haltung zu diesem Konflikt klarer als durch in denen die Menschen Zuflucht suchen. Milosevicsviele Reden. teuflischer Plan, durch Vertreibung auch die Nachbar- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN länder zu destabilisieren, darf nicht aufgehen. Um das zu und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der verhindern, werden auch finanzielle Hilfen nicht ausrei- CDU/CSU und der F.D.P. – Widerspruch bei chen. Die Europäische Union ist aus unserer Sicht noch der PDS) zu viel größeren Anstrengungen aufgefordert. Sie ist aufgefordert, einen geringen Teil – er ist winzig im Ver- Der von Außenminister Fischer vorgelegte Plan weist gleich zum gesamten Flüchtlingselend – der Flüchtlinge einen Weg zum Frieden. Solange Milosevic keinen vorübergehend aufzunehmen, bis sie wieder in ihreernsthaften Willen zum Frieden zeigt, bleibt keine ande- Heimat zurückkehren können. Die Zusage unseres Lan- re Wahl, als diesem brutalen Diktator militärisch die des, 10 000 Menschen aufzunehmen, ist ein ersterMöglichkeit zur Fortsetzung seiner ethnischen Kriegs- Schritt. Ich glaube, er wird nicht ausreichen. führung zu nehmen. (B) (D) Auch und gerade in unserem Land gibt es eine große Ich bin gerne bereit, meine Meinung zu revidieren, Welle der Hilfsbereitschaft. Menschen spenden Millio- wenn mir jemand eine überzeugende Alternative nennen nenbeträge. Viele sind bereit, Flüchtlinge bei sich auf- kann. Die Mehrheit unserer Fraktion sieht sie zum jetzi- zunehmen. Das zeigt, daß Deutschland mit seiner Zusa- gen Zeitpunkt nicht. ge, 10 000 Flüchtlinge aufzunehmen, noch nicht am En- Danke schön. de seiner Hilfsbereitschaft angelangt ist. Wir dürfen und wir sollten die Hilfsbereitschaft der Menschen nicht ins (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Leere laufen lassen. und bei der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie des Abg. Hans- Präsident Wolfgang Thierse: Das Wort hat nun Michael Goldmann [F.D.P.]) der Fraktionsvorsitzende der PDS, Gregor Gysi. Meine Damen und Herren, insbesondere auch von der PDS, im Kosovo kämpft eine Staatengemeinschaft nicht Dr. Gregor Gysi (PDS): Herr Präsident! Meine Da- aus egoistischen oder chauvinistischen Motiven, sondern men und Herren! Herr Bundeskanzler, Sie haben ange- für die Menschenrechte und die Interessen einer unter- merkt, wir als PDS müßten aufpassen, nicht von der drückten Bevölkerungsgruppe. Die Staatengemeinschaft fünften Kolonne Moskaus zur fünften Kolonne Belgrads entscheidet nicht aus deutschem, aus amerikanischemzu werden. oder aus NATO-Interesse; sie entscheidet einzig und al- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der lein im Interesse der Menschen im Kosovo, der Kosovo- F.D.P. – Zurufe von der SPD und der Albaner und des seit Jahren unterdrückten Volkes. CDU/CSU: Wohl wahr! – Richtig! – Wo er Im Kosovo erleben wir auf unserem Kontinent nach recht hat, hat er recht!) Bosnien zum zweitenmal, was wir eigentlich längst für Ich erinnere mich noch gut an eine Zeit, als die Geschichte gehalten haben, nämlich das Aufbrechen von CDU/CSU der SPD vorwarf, die fünfte Kolonne Mos- Konflikten auf Grund eines hemmungslosenNationa- kaus zu sein. Das war im Rahmen der damaligen Ent- lismus. Europa, ein integriertes Europa, das ist zugleich spannungspolitik. die – wenn auch langfristige – Antwort auf die Frage, wie der Balkan dauerhaft zur Ruhe kommen kann. Um (Dr. Wolfgang Gerhardt [F.D.P.]: So ändern Frieden dauerhaft zu schaffen, wird es darauf ankom- sich die Zeiten!) men, den Ländern in enger Abstimmung mit RußlandIch frage mich, was ein solcher Vorwurf eigentlich soll. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 32. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. April 1999 2635

Dr. Gregor Gysi (A) Wenn ich mich heute auf eine Reise begeben, nach Es geht doch nur darum, den Weg für einenFrie- (C) Tirana fahren, dort mit politischen Vertretern sprechen, densprozeß zu öffnen. Der Krieg hat eben bisher nicht Flüchtlingslager besuchen und mit Flüchtlingen spre-zum Frieden geführt. Es ist ein Paradoxon, davon aus- chen würde: Wäre die PDS dann die fünfte Kolonne Al- zugehen, daß Krieg zum Frieden oder zurVerwirkli- baniens? Was soll das? chung von Menschenrechten führt. Das hat es in der Geschichte noch nie gegeben, Sie wissen, daß es in Italien eine Regierungspartei – wir sind eine Oppositionspartei – gibt, deren Regierung (Gernot Erler [SPD]: Im zweiten Weltkrieg den Krieg der NATO gegen Jugoslawien mit beschlos- auch nicht?) sen hat. Italien nimmt also teil. Der Vorsitzende dieser und das wird es auch in diesem Krieg nicht geben. zur Regierung gehörenden kommunistischen Partei heißt Cossuta. Er hat das kritisiert, ist dennoch in der Regie- Zum Beispiel hat der Bundeskanzler Milosevic davor rung und ist unmittelbar nach Beginn des Bombarde-gewarnt, die Situation in Montenegro zu destabilisieren. ments nach Jugoslawien gefahren und hat dort mit vie- Aber ich darf darauf hinweisen: Im Augenblick ist für len gesprochen, auch mit Milosevic. Trotz dieser großen Montenegro weniger Milosevic das Problem als die Differenzen innerhalb der Regierung käme dort niemand Bomben, die ja auch auf Montenegro geworfen werden auf die Idee, ihn deshalb zur fünften Kolonne zu erklä- und natürlich zu einer Stimmungsveränderung in Mon- ren oder sein Verhalten auch nur schädlich zu finden. Im tenegro führen. Wie kann man gleichzeitig Montenegro Gegenteil, es wurde begrüßt, und man hat über die Er- bombardieren und hier seine Solidarität mit Montenegro gebnisse diskutiert. Warum können wir nicht wenigstens zum Ausdruck bringen? soviel Kraft aufbringen? (Beifall bei der PDS) (Beifall bei der PDS – Zurufe von der Zum Beispiel gab es insofern ein interessantes Er- CDU/CSU und der F.D.P.) gebnis, als Milosevic gesagt hat, er sei bereit, im Beisein des UN-Generalsekretärs mit Rugova über die Situation – Sie haben im Laufe Ihrer Geschichte doch mit so vie- im Kosovo zu verhandeln. Wenn das passieren würde, len Diktatoren und übrigens auch mit so vielen Men- wüßten wir wenigstens, was an den Erklärungen von schenschlächtern gesprochen! Rugova wahr ist und was nicht wahr ist. Denn in Anwe- (Beifall bei der PDS) senheit des UN-Generalsekretärs sieht die Situation na- türlich ganz anders aus. Wer hat denn zum Beispiel ständig Botha empfangen, als er noch in Südafrika metzelte? Ich verurteile das (Bundesminister Joseph Fischer: Er soll ihn nicht einmal, weil ich sage: Nur über Gespräche, nur doch ausreisen lassen!) (B) über Politik und Diplomatie kommt man letztlich zu– Ja, natürlich, an einem anderen Ort. Das können Sie(D) Veränderungen, kann man Haltung und Verhalten indoch gerne machen. einer Gesellschaft ändern. (Dr. Wolfgang Gerhardt [F.D.P.]: Warum (Beifall bei der PDS) macht er es denn nicht?) Ich finde diesen Vorwurf auch deshalb völlig falsch, Herr Bundesaußenminister, Sie haben uns in der weil das Bemühen um Frieden, auch wenn es mit ande- Zeitung Zweckpazifismus vorgeworfen. Pazifismus ver- ren Ansätzen erfolgt, doch nicht diskreditiert und dis-folgt selbstverständlich einen Zweck. Aber ich bin gar kriminiert werden kann, wie es hier der Fall ist. kein Pazifist. (Zurufe von der SPD: Scheinheilig! – Gucken (Unruhe bei der SPD) Sie sich mal Ihre Zeitung an!) Das habe ich nie behauptet. Aber nur weil eine Partei – Das mache ich gerne. gegen diesen Krieg ist, darf man sie nicht diskreditieren. Ich glaube, Ihnen und auch Herrn Schlauch und Herrn (Zuruf von der SPD: Wer hat denn diese Zei- Struck geht es weniger um die PDS. Vielmehr versuchen tung geschrieben? – Ernst Schwanhold [SPD]: Sie, auf dem Rücken der PDS die Probleme, die Sie da- „Kriegsminister Scharping“! Die PDS im mit in Ihren eigenen Parteien haben, auszutragen. Das Bundestag!) können wir nicht hinnehmen. In einer solchen Zeit kann es nicht nach dem Motto (Beifall bei der PDS – Widerspruch bei Abge- gehen, man kenne keine Parteien mehr, nur noch Deut- ordneten der SPD) sche. Jedem, der sich gegen diesen Krieg stellt, wird Sie haben übrigens auch gesagt, daß wir gemeinsam dann vorgeworfen, sich gegen nationale Interessen zumit serbischen Nationalisten zu Kundgebungen und wenden. Sie, Herr Schlauch, haben gerade gesagt, es ge- Demonstrationen aufrufen. Das hat es in keinem einzi- he gar nicht um nationale Interessen, sondern um diegen Fall gegeben. Aber wenn wir zu einer Kundgebung Menschenrechte, um die Rechte der Kosovo-Albaner. aufrufen, Herr Bundesaußenminister, dann kommen na- Dann frage ich Sie: Wie kann der Seeheimer Kreis er- türlich alle, die kommen wollen. Wir werden nicht Ord- klären, daß ich allein mit einem Besuch nationale Inter- nungskräfte aufstellen und nach Gesinnung, Staatsbür- essen verrate? Das ist doch absurd, wenn wir dort gargerschaft und Nationalität prüfen, wer an der Kundge- keine nationalen Interessen verfolgen. bung teilnimmt. Das wollen Sie nicht, und das wollen (Beifall bei der PDS) wir nicht, und das werden wir auch nicht tun. 2636 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 32. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. April 1999

Dr. Gregor Gysi (A) Ich muß etwas zum Völkerrecht sagen. Der Frakti- Andere Nothilfefälle und andere Situationen, die einen (C) onsvorsitzende der CDU/CSU hat es letztlich als formal Einsatz gerechtfertigt erscheinen lassen könnten, sind bezeichnet. Ich glaube, das ist gefährlich. Wenn man das dort nicht erwähnt. Recht immer, wenn man es nicht auf seiner Seite hat, als formal abtut, aber es als schwergewichtig behandelt, Es ist also eine klare Beschränkung, die durch das wenn man in Übereinstimmung mit Recht handelt, dann Grundgesetz und durch die Charta der Vereinten Natio- verliert Recht seinen Zweck. Das gilt auch für das Völ- nen gegeben ist. Diese Bestimmungen haben Sie ver- kerrecht. Es ist doch nicht so, daß dieCharta der Ver- letzt. Es ist nämlich ganz eindeutig, daß der Art. 2 des einten Nationen keine Ausnahmen von Gewaltverbot Zwei-plus-Vier-Vertrages verletzt ist. Wer aber die äu- kennen würde. Nur: Die beiden Ausnahmen, wonachßeren Vertragsbedingungen, also die völkerrechtlich militärische Gewalt erlaubt ist, liegen nicht vor. Die eine eingegangenen Verpflichtungen im Zusammenhang mit Ausnahme ist durch Art. 51 in Kapitel VII der Chartader Einheit Deutschlands, verletzt, der stellt natürlich der Vereinten Nationen gegeben, der besagt, daß manalle äußeren Bedingungen dieser Einheit und damit den sich im Falle eines Angriffs, auch im Falle eines An-ganzen Vertrag in Frage. Das halte ich für einen höchst griffs auf einen Bündnispartner, verteidigen kann. Nur: gefährlichen Prozeß. Die Bundesrepublik Jugoslawien hat keinen NATO- (Beifall bei der PDS) Staat angegriffen. Ich habe schon über Glaubwürdigkeit gesprochen, die (Gernot Erler [SPD]: Sie hat die eigene Be- sich aus der Geschichte und auch aus der Gegenwart er- völkerung angegriffen! Das ist der Punkt!) gibt. Im Zusammenhang mit dem Nachdenken überBo- Die NATO hat vielmehr die Bundesrepublik Jugoslawi- dentruppen höre ich, daß jetzt auf Grund ihrer Erfah- en angegriffen. Deshalb ist es kein Verteidigungs-, son- rungen im Umgang mit serbischen Soldaten in der Ge- dern ein Angriffskrieg, der nach Art. 26 des Grundge- schichte insbesondere an dieTürkei gedacht wird. setzes verboten ist. Wenn es nicht so tragisch wäre, müßte man sagen: Es wäre doch ein Aberwitz der Geschichte, daß am Ende Es gibt eine zweite Ausnahme, die durch Art. 39dieses Jahrhunderts türkische Truppen in Jugoslawien ebenfalls in Kapitel VII der Charta der Vereinten Natio- für die Wiederherstellung von Menschenrechten einer nen gegeben ist. Dort wird gesagt: Wenn der Frieden ge- nationalen Minderheit eintreten, die selbst eine Minder- fährdet ist oder wenn er sogar gebrochen ist, dann kann heit im eigenen Land, nämlich die Kurden in der Türkei, der Weltsicherheitsrat notfalls militärische Maßnah- seit Jahren jagen und töten und die Dörfer brandschat- men zur Beseitigung der Gefahr oder zur Wiederher-zen, ohne daß jemals die NATO ernsthaft aktiv gewor- stellung des Friedens anordnen. Dieses Gewaltmonopol den wäre. des Weltsicherheitsrates ist ganz bewußt geschaffen (B) worden. Dieses Monopol hat die NATO aber eindeutig (Beifall bei der PDS) (D) verletzt, indem sie gesagt hat: Wir pfeifen auf den Welt- In dieser Zeit des Krieges ist es ganz besonders sicherheitsrat; wir sind der Ordnungshüter in Europa und schwer, zwischen Wahrheit, Gerücht und Unwahrheit zu entscheiden, wann militärische Gewalt angewendet wird unterscheiden. Das gilt eben nicht nur für eine Seite. Ich und wann nicht. – Diese Haltung soll ja sogar in dienenne Ihnen Beispiele: Es wurde gesagt, im Stadion von Strategie der NATO Ende April formal aufgenommen Pristina sei ein Konzentrationslager eingerichtet. Dann werden. wird ein Bild veröffentlicht, das zeigt, daß das Stadion Ich habe auch darauf hingewiesen, daß derNATO- leer ist. Gestern hören wir, daß ein Flüchtlingstreck ver- Vertrag selbst verletzt worden ist, weil er nämlich an sehentlich durch die NATO beschossen worden sei. die UN-Charta gebunden ist. In diesem Zusammenhang Dann wird gesagt, es seien die Serben gewesen. Jetzt wird immer gesagt, es gebe so etwas wie einen außerge- heißt es wieder, es sei doch die NATO gewesen. Man ist setzlichen Notstand, es gebe eine Nothilfesituation. Die völlig verunsichert in dem, was man eigentlich glauben Nothilfefälle sind in der Charta geregelt. Wenn sie nicht soll. Man hat keine Beweise. Es wird gesagt, daß es Bil- vorliegen, dann stützt das Völkerrecht das militärische der gibt, die aber nicht gezeigt werden. Warum werden Eingreifen und damit den Krieg eben nicht. diese Bilder nicht gezeigt, wenn sie doch die Notwen- digkeit des eigenen Handelns unterstreichen könnten? Ich will noch auf einen anderen Punkt hinweisen.Diese Tatsache spricht dafür, daß es sie nicht gibt. Die Selbst wenn es außerhalb der Charta der Vereinten Na- Situation ist ungeheuer kompliziert geworden. tionen eine solche Möglichkeit gäbe, dann, Herr Kinkel – das wissen Sie als ehemaliger Außenminister –, muß Es wird ein Hufeisen-Plan vorgelegt. Darf ich Ihnen man sagen, daß Deutschland bewußt auf eine solchesagen, was an diesem Plan merkwürdig ist? Der Gene- Möglichkeit verzichtet hat. Denn in Art. 2 desZwei- ralinspekteur der Bundeswehr hat die Originalüber- plus-Vier-Vertrages, der die äußeren Bedingungen der schrift dieses Planes vorgelesen. Diese Überschrift war Einheit regelt, heißt es am Ende: in Kroatisch und nicht in Serbisch verfaßt. Kann man sich ernsthaft vorstellen, daß das serbische Militär in Die Regierungen der Bundesrepublik Deutschland kroatischer Sprache einen solchen Plan verfaßt? Da sind und der Deutschen Demokratischen Republik erklä- doch Zweifel geboten. Man weiß einfach nicht mehr, ren, daß das vereinte Deutschland keine seinerwas man glauben und was man nicht glauben soll. Waffen jemals einsetzen wird, es sei denn in Über- einstimmung mit seiner Verfassung und der Charta Auch ich gehe davon aus, daß Schreckliches im Ko- der Vereinten Nationen. sovo passiert, auch wenn es eindeutige Belege und Be- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 32. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. April 1999 2637

Dr. Gregor Gysi (A) weise nicht gibt. Eine Frage konnte mir in diesem Zu- Für Milosevic wäre es doch viel schwerer gewesen, nein (C) sammenhang noch keiner beantworten: Warum berich- zur UNO als nein zur NATO zu sagen. Das heißt, Sie ten wir nicht auch über dieToten und Verletzten in haben nicht alles ausgeschöpft. Angesichts des militäri- Serbien? Warum kommen diese in Ihren Reden nicht schen Teils des Rambouillet-Abkommens, in dem steht, vor? Von Rezzo Schlauch sind sie wenigstens einmaldaß die NATO die gesamte Hoheit über Jugoslawien er- angesprochen worden, aber weder vom Bundeskanzler hält, und zwar zu Lande, zu Luft und im Wasser, kann noch von Herrn Schäuble, auch nicht von Ihnen, Herrman doch nicht von Ausschöpfen sprechen. Auch eine Fischer. demokratisch gesinntere Führung in Jugoslawien hätte so etwas niemals unterschreiben können. Deshalb sage Wir haben in Serbien bisher 3 000 Verletzte und 300 ich Ihnen: Die Möglichkeiten in Rambouillet sind eben Tote. Das sind überwiegend Zivilisten und bei Militär- nicht ausgeschöpft worden. angehörigen meistens Wehrpflichtige. Die haben gar keine andere Wahl. Ihnen droht nämlich schärfste Strafe, (Zuruf von der SPD: Das ist doch Unsinn!) wenn sie nicht zum Militär gehen. Eine wirklich schwierige Situation entstand mit der (Zuruf von der SPD: Das hätten Sie Milosevic Pause in Rambouillet, weil Milosevic schon wußte, daß sagen müssen und nicht uns!) er dieses Abkommen nicht unterschreiben wird, weil er Warum kann man nicht auch darüber sprechen? Warum auch wußte, daß er bombardiert wird. Daher galt für ihn kann man sie nicht genauso erwähnen wie andere Ver- das Abkommen mit Holbrooke nicht mehr, und dann ist letzte und Tote? Das müßte doch in einer Demokratieer – auch aus militärischen Gründen – wieder in das Ko- eine Selbstverständlichkeit sein! sovo vorgestoßen. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- (Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- SES 90/DIE GRÜNEN) NEN]: Das Abkommen ist doch schon vorher gewesen! Das war doch schon vor Rambouil- Auch andere Widersprüche sind mir aufgefallen: Auf let! – Weitere Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE militärischem Gebiet ist genügend Geld vorhanden. Da GRÜNEN und von der SPD) klappt alles; da klappt die Organisation. Aber wenn es um humanitäre Hilfe geht, dann herrscht erst einmal – Ich habe ja gerade gesagt: Das war in der Pause von ein großes Durcheinander. Dann berät man lange über Rambouillet. Aber er hat ja das Abkommen mit Hol- Quoten. Dann bleiben Hilfsgüter erst einmal aus. Dann brooke zunächst eingehalten. Auch Sie haben bestätigt, wird die Bevölkerung zu Spenden aufgerufen. – Ich be- daß er sich zunächst zurückgezogen hat. Deshalb müs- grüße die große Bereitschaft, zu spenden, genauso sehr sen wir zu Verhandlungen zurück und hin zu Ergebnis- wie Sie. Ich finde es toll, wieviel gespendet wird, umsen. (B) (D) leidenden Menschen zu helfen. – Hier wird deutlich: Für Wenn solche Vorschläge jetzt möglich sind – mehr humanitäre Hilfe reichen die Mittel der Regierung nicht; habe ich nicht festgestellt –, heißt das, daß sie auch da- da muß die Bevölkerung zahlen. Für das Militär reicht mals schon möglich gewesen wären, daß die Möglich- das Geld immer. Auf dem Gebiet der humanitären Hilfe keiten damals eben nicht ausgeschöpft worden sind. hätte die Regierung wesentlich mehr leisten können. (Beifall bei der PDS) (Beifall bei der PDS – Widerspruch bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich warne auch vor derVerwendung falscher Be- griffe. Die Verwendung der Begriffe „Auschwitz“ und Hinsichtlich des Hufeisen-Planes stelle ich weiterhin „Hitler“ ist falsch. Das alles sollte man nicht tun. Man fest: Herr Bundesaußenminister, wenn er echt ist undbagatellisiert damit deutsche Geschichte, nur um einen wenn er tatsächlich seit langer Zeit vorliegt, warum ha- eigenen Rechtfertigungsgrund zu haben. Vertreibungen ben Sie dies dann nicht vorher gesagt? Wenn es so ist, sind doch schlimm genug. Auch Morden und Töten sind daß Milosevic wirklich geplant hat, die Bombenangriffe schlimm genug. Warum muß man denn noch andere für Vertreibungen zu nutzen, dann hieße das ja – das wä- Vokabeln benutzen, nur um zu beweisen: Deutsche Ver- re ja noch absurder –, daß der NATO-Angriff in denbrechen sind nicht einmalig? Sie kommen auch bei an- Plan von Milosevic paßt. In diesem Falle hätten wir es deren vor. – Das ist falsch. Das ist unangemessen. mit einer fast absurden Konstruktion zu tun. Daher frage ich: Warum war man dann nicht auf diese Vertreibungen (Beifall bei der PDS) vorbereitet, und warum hat es so lange gedauert, bis man Juden, Sinti, Roma und andere sind eben nicht vertrie- Mazedonien und Albanien diesbezüglich Hilfe zuteilben worden, sondern nach Auschwitz gebracht worden. werden lassen konnte? So schlimm Vertreibung ist: Ich glaube, wenn sie in ein Sie sagen immer, alles sei ausgeschöpft worden, Sie anderes Land vertrieben worden wären, wäre das heute hätten alles mit Ihrem Gewissen in Einklang bringennicht mehr so ein Thema, wie es ein Thema ist, weil sie können. Sie sagen, es habe keine weiteren Möglichkei- in die Gaskammer geführt worden sind. Deshalb sage ten gegeben, es habe bombardiert werden müssen. Darf ich: Vergleiche mit den von mir genannten Begriffen ich Sie fragen: Wieso können Sie jetzt plötzlich einesind unzulässig und führen uns überhaupt nicht weiter. UN-Hoheit auch für Truppen fordern, wieso war dasSie wissen, daß man mit Übertreibungen politische Lö- in Rambouillet nicht möglich? Wie konnten Sie alsosungen nur erschwert und nicht herbeiführt. sagen, Sie hätten alles ausgeschöpft? (V o r s i t z : Vizepräsident Dr. Hermann (Beifall bei der PDS) Otto Solms) 2638 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 32. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. April 1999

Dr. Gregor Gysi (A) Vertreibungen – das wissen Sie ganz genau – haben Politik in Ihrem Kopf gezeigt, sondern auch eine Ver-(C) auch die Siegermächte in bezug auf Hitler beschlossen, wirrung der Werte, und zwar die USA, Frankreich, Großbritannien und die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Sowjetunion in bezug auf die Deutschen in den Ostge- bieten. Das war schlimm genug. Deshalb waren Vertrei- und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.) bungen bei den Faschisten keine einmalige Sache. Auch die Siegermächte haben damals leider – Sie wissen,auf denen dieses Europa seit 1945 Gott sei Dank steht. wieviel Leid das bedeutet hat – Vertreibungen beschlos- Wenn Sie sich hier als Friedenslogiker hinstellen – ge- sen. stern war mit Lukaschenko noch ein weiterer Friedens- logiker in Belgrad –,

Vizepräsident Dr. : Herr (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Der war Kollege Gysi, ich bitte Sie, zum Schluß zu kommen. auch schon in Hannover!) dann kann ich Ihnen nur sagen: Krieg, Herr Kollege Gy- si, ist eine furchtbare Sache. Dr. Gregor Gysi (PDS): Vertreibungen sind schlimm, und sie müssen im Kosovo beendet werden. Das Furchtbare am Krieg ist, daß er auch und vor al- len Dingen die Unschuldigen trifft. Aber vor dem Hin- Aber ich sage Ihnen auch: Wir müssen aus tergrund der der historischen Erfahrung, die unser Land ge- Kriegslogik heraus und hinein in die Friedenslogik. macht hat, daß es den furchtbarsten Krieg auf dem Kon- (Beifall bei der PDS) tinent, den furchtbarsten Krieg in der Geschichte zu ver- antworten hat, haben die Europäer nach 1945 durch eine Sie können eine Tatsache nicht leugnen: Noch keinewerteorientierte, an Demokratie, Frieden und der Herr- Bombe, die in Jugoslawien abgeworfen worden ist – ich schaft des Rechts orientierte Antwort für alle beteiligten habe mir Verletzte, zerstörte Fabriken und Gebäude so- europäischen Nationen in Westeuropa – und seit dem wie ein Heizwerk angesehen, das beschädigt worden ist, Ende des Kalten Krieges mittlerweile auch in Gesamt- so daß 200 000 Menschen einer Stadt frieren, weil keine europa – Erfolge erzielt. Diese Antwort ist die Grund- Heizung mehr funktioniert –, hat etwas genutzt. lage eines dauerhaften Friedens, der nicht auf Unterwer- fung und nicht auf einer menschenverachtenden Ideolo- (Zuruf von der SPD) gie beruht. – Nein, Sie haben den Einsatz von Bomben beschlossen. Was Sie gemacht haben, ist keine Friedenslogik. Bert Das nutzt keinem Kosovo-Albaner. – Brecht nennt dies das Geschäft des Weißwäschers. Das (B) möchte ich Ihnen klipp und klar sagen. (D) (Beifall bei der PDS) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Noch keine einzige Bombe, die auf Serbien oder auf das und bei der SPD) Kosovo gefallen ist, hat das Leid nur eines einzigen Al- baners gelindert. Darum geht es doch. Deshalb werden Wir sind am Ende einer Entwicklung angelangt, die wir in unseren Friedensbemühungen fortfahren. 1989 im Kosovo begonnen hat. (Widerspruch bei der PDS) (Beifall bei der PDS) Dort hat Milosevic das Autonomiestatut aufgehoben. Dort nahm die großserbische Ideologie ihren Anfang, Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr die wesentlich zur Zerstörung Jugoslawiens beigetragen Kollege Gysi, ich bitte, nun wirklich zum Schluß zuhat. Die Blutspur führt bis heute über mehr als 200 000 kommen. unschuldige Menschen. Diese kommen in Ihrer Rede nicht vor. Sie sprechen vom Völkerrecht. Ich frage Sie: Wo ist das Recht der Ermordeten in den Massengrä- Dr. Gregor Gysi (PDS): Ich sage Ihnen: Wir müssen bern? Wo ist bei Ihnen das Recht der vergewaltigten endlich den Wahnsinn stoppen und an die Stelle desFrauen? Wo ist das Recht der Vertriebenen? Wahnsinns des Krieges wieder die Vernunft setzen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, (Beifall bei der PDS – Zuruf von der SPD: Die bei der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P.) Rede haben Sie wohl mit Milosevic abge- stimmt!) Ich sage das als jemand, der sich weiß Gott – Kollege Gerhardt hat ein Recht darauf, dies anzusprechen – schwer damit getan hat, diese Pest der europäischen Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (F.D.P.): Vergangenheit, einen großserbischen Nationalismus wie Als nächster Redner hat das Wort der Bundesaußenmi- den, den wir mit dem großdeutschen Nationalismus auch nister, Joseph Fischer. hatten, diese Form, die darauf setzt, daß das eigene Volk das wichtigste ist und deswegen andere Völker vertrie- ben, unterdrückt und massakriert werden dürfen, zu ak- Joseph Fischer, Bundesminister des Auswärtigen: zeptieren. Das hatten wir auch. Ich hatte wirklich Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Schwierigkeiten damit, zu akzeptieren, daß dies wieder Gysi, Ihre Rede hat nicht nur eine große Verwirrung der da ist, daß dies eine rohe Form von Faschismus ist. Das Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 32. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. April 1999 2639

Bundesminister Joseph Fischer (A) Europa der Demokratie kann diese rohe Form des Fa-zum Weißwäscher der Politik eines neuen Faschismus,(C) schismus nicht akzeptieren. der auf Vertreibung und ethnische Reinheit für eine großserbische Politik setzt. Mit linker Politik und Frie- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN denslogik hat das nichts zu tun. und bei der SPD) Ich frage Sie: Wo sind die mehreren tausend Männer aus (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Srebrenica? In welchem Massengrab liegen sie? Wer bei der SPD und der F.D.P. sowie bei Abge- trägt dafür die Verantwortung? ordneten der CDU/CSU) Sie mögen den Plan nennen, wie Sie wollen. Ent- Ich habe es vorhin gesagt: Es steht hier das Europa scheidend ist doch die Frage, daß es bereits im letztendes Nationalismus – wenn wir diesem nachgeben, dann Jahr angefangen hat. Lesen Sie doch die Biographien der werden wir das Erreichte der vergangenen fünf Jahr- heute nach Deutschland gekommenen Familien, ihrezehnte in Frage stellen – gegen das Europa der Integrati- Vertreibungsgeschichten. Lesen Sie sie doch! Dannon. Festigkeit auf der einen Seite und die Bereitschaft, werden Sie feststellen: Es ging im letzten Jahr los, bei den Weg zum Frieden in jedem Augenblick zu betreten manchen sogar im Frühjahr letzten Jahres. auf der anderen Seite, müssen unsere Haltung kenn- zeichnen. Wir hatten 300 000 Binnenvertriebene, das heißt, die Sache war bereits in vollem Gange. Seselj, der stell- Die Festigkeit stellt sich im westlichen Bündnis in vertretende Ministerpräsident in der Regierung, will und den fünf Punkten unseresFriedensplanes dar. Für uns wollte das albanerfreie Kosovo. Das wurde dann umge- ist unannehmbar – darüber kann und darf nicht verhan- setzt. Es kam dann zur Bombendrohung der NATO, der delt werden, weil dies hieße, es zu akzeptieren –, daß wir alle nur schweren Herzens zugestimmt haben. Essich eine Politik der ethnischen Kriegsführung gegen die kam zu einem Stillstand. Es gelang, die humanitäre Ka- Zivilbevölkerung durchsetzt. Für uns ist unabdingbar, tastrophe zu unterbrechen – leider nur zu unterbrechen. daß alle Flüchtlinge, alle Vertriebenen, alle Deportierten In der Endphase von Rambouillet hatten wir bereitsin einen friedlichen und demokratischen Kosovo – ohne 65 000 neue Vertriebene. Die Aufstellung des serbi-Bedingungen und ohne Einschränkungen – zurückkeh- schen Militärs ist heute nachzuvollziehen. Es läuft nach ren können müssen. Dies ist nur möglich, wenn alle ser- der Devise, die sattsam bekannt ist: Das Militär macht bischen Einheiten, alle bewaffneten Einheiten der Bun- die militärische Arbeit. Anschließend kommen die Son- desrepublik Jugoslawien, alle Sonder- und Polizeiein- dereinheiten – fast hätte ich gesagt: die „Einsatzgrup-heiten und Paramilitärs abziehen. Die Menschen werden pen“ – des MUP und der Paramilitärs, die dann dasnicht zurückkehren, wenn die Mörder im Lande bleiben. schmutzige Geschäft der Vertreibung erledigen. Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. (B) (D) Hätten Sie es für möglich gehalten, daß eine Kriegs- Aber es geht nicht nur um einen völligen Abzug, son- führung wie die der Belgrader Regierung wieder mög- dern gleichzeitig gilt auch: Wir brauchen eine robuste lich wird, mit Deportation – ich wiederhole: Deporta-internationale Friedenstruppe mit einem klaren Auftrag, tion –, also mit zwangsweiser Zusammenführung nach um diese Menschen in einem friedlichen, multiethni- dem Motto: rein in die Züge, raus aus dem Land? Hätten schen Kosovo tatsächlich zu schützen. Das sind die Sie es für möglich gehalten, daß eine Großstadt wiePunkte, auf die sich die internationale Staatengemein- Pristina im Jahre 1999 Gegenstand von schaft Krieg, verständigt hat. Kriegspolitik und von Vertreibungspolitik einer Regie- rung in Europa ist? Ich hätte das nicht für möglich ge- Die Europäische Union – ich möchte hinzufügen: halten, aber es ist bitteres, blutiges Faktum, Herr Kol-auch und gerade die neutralen Länder in der Union – lege Gysi. trägt diesen Entschluß mit. Für mich ist besonders wich- tig, daß im Beschluß der Außenminister auch steht, daß (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, die Europäische Union nicht bereit ist, den Erfolg einer bei der SPD und der F.D.P. sowie bei Abge- Politik der Deportation und der Zerstörung eines Volkes ordneten der CDU/CSU) aus brutalen nationalistischen Gründen zu akzeptieren. Es geht hier um die Frage: In welchemEuropa wol- Die Europäische Union, die NATO und auch der VN- len wir in Zukunft leben? Da sind wir an einem PunktGeneralsekretär – das halte ich für sehr wichtig – stehen angekommen, wo wir nicht weiter zurückkönnen. Ihnen zu diesen fünf Punkten. Das sind auch die Ziele, für die müssen doch die ganzen Spanienlieder, die Sie so seli- unsere Soldaten gegenwärtig kämpfen, für die sie bereit gen Auges mit Ernst Busch gesungen haben, im Halse sind, ein sehr, sehr großes Risiko einzugehen. Ich stecken bleiben. „No passarán“, hieß es. möchte unseren Soldaten dafür danken. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Ihnen, Kollege Gysi, möchte ich eines sagen: Sie ha- F.D.P.) ben als Oppositionsabgeordneter natürlich ein Recht auf Urlaub. Ich finde es aber ziemlich übel, wenn Sie mit Sie beziehen sich doch auf eine Tradition, in der amUmweg über Belgrad direkt von Gran Canaria kommen Manzanares mit der Waffe in der Hand – leider nicht er- und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern humanitärer folgreich, aber mit großem kämpferischem Einsatz –Hilfsorganisationen, des Auswärtigen Amtes und des 1936 bis 1938 versucht wurde, die spanische Republik Innenministeriums vorwerfen, sie hätten versagt, sie zu verteidigen. Und heute? Heute machen Sie sich hier hätten sich nicht auf Milosevics Kriegsführung vorbe- 2640 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 32. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. April 1999

Bundesminister Joseph Fischer (A) reitet, die Bundesregierung habe nicht mobilisiert, wir Rückzug verifizierbar begonnen wird, nicht vorher (C) – seien auf die Spenden der Menschen angewiesen. Ichdies zu begreifen ist wichtig –, halte ich eine einseitige bin froh, daß die Menschen spenden. Waffenruhe für notwendig. Wird der Rückzug innerhalb dieser Frist abgeschlossen, halte ich eine dauerhafte (Beifall bei der SPD und der F.D.P.) Waffenruhe für notwendig. Und ich kann Ihnen sagen: Die Bundesregierung, die Als nächster Schritt wird die Implementierung einer Europäische Union und der UNHCR haben seit Beginn internationalen Friedenstruppe, gründend auf einer der Vertreibung rund um die Uhr gearbeitet. Wir haben entsprechenden VN-Sicherheitsresolution nach Kapi- es nicht nötig, uns nachher von einem Abgeordneten,tel VII, erfolgen. Sie wird eine sehr starke NATO- der sich im Urlaub befunden hat, beschimpfen zu lassen. Komponente beinhalten müssen – das wird sowohl von Das will ich Ihnen im Namen der Mitarbeiterinnen und der militärischen als auch von der politischen Seite her Mitarbeiter sagen. nicht anders gehen können –, unter Einschluß Rußlands, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN unter Einschluß der neutralen Staaten innerhalb der EU und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der und unter Einschluß der Ukraine, die ebenfalls eine sehr CDU/CSU – Zuruf von der PDS) wichtige Funktion hat. Mit Implementierung der inter- nationalen Friedenstruppe wird es auch zu einer Rück- – Entschuldigen Sie, daß ich hier persönlich und emo- kehr der humanitären Organisationen kommen können tional reagiere. Ich möchte Ihnen aber einmal klipp und und damit zu einer Rückkehr der Flüchtlinge in ein mul- klar sagen: Ich habe erlebt, daß die Mitarbeiterinnen und tiethnisches, friedliches Umfeld im Kosovo. Mitarbeiter aller Ministerien, auch der nachgeordneten Behörden, der Bundeswehr wie auch der zivilen Teile Das sind die Ziele, das ist der Plan. Das ist keine Ka- unserer Staatsverwaltung, der Europäischen Union, aber pitulation Belgrads, sondern ein faires Angebot. auch des UNHCR von Beginn an rund um die Uhr gear- Darüber hinaus wollen wir einen„Stabilitätspakt beitet und Großartiges in bezug auf die Abwehr dieser südlicher Balkan“ erreichen, der die ganze Region sta- humanitären Katastrophe geleistet haben. Sie müssenbilisiert und eine Perspektive hin zum Europa der Inte- schon entschuldigen, daß ich Ihre Kritik dann als zutiefst gration eröffnet. Es wird um drei Körbe gehen: erstens ungerecht zurückweise. um die Sicherheit aller – um die Sicherheit der Grenzen, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN um die Sicherheit der Minderheiten und um die Herr- und bei der SPD sowie des Abg. Dr. Heiner schaft des Rechts statt der Gewalt –; zweitens um die Geißler [CDU/CSU]) wirtschaftliche Entwicklung hin zum Europa der Inte- gration – ein langfristiger Prozeß, bei dem wir in der Meine Damen und Herren, eines muß völlig klar sein: Verantwortung stehen –; drittens um Demokratie, um die (B) Wir werden im westlichen Bündnis nicht mehr dendemokratische Implementierung von Institutionen und(D) Worten von Herrn Milosevic trauen, sondern nur noch eine demokratische Zivilgesellschaft in dieser Region. seinen Taten. Eine einseitige Verkündung einer Waffen- ruhe würde nur zu unendlichen Verhandlungen mit dem Alle Nachbarstaaten in dieser Region haben auf die Ergebnis führen, daß Herr Milosevic seine Politik derVorschläge der deutschen Präsidentschaft sehr, sehr ethnischen Kriegsführung gegen die kosovo-albanische positiv reagiert. Die Voraussetzung dafür ist allerdings, Bevölkerung durchsetzen würde. Eine einseitige Vorlei- daß die Politik des Europas der Integration in dieser Re- stung kann es nicht geben. gion Einzug hält. Dazu gehört für uns, so betone ich, auch und gerade das serbische Volk. Serbien wird von Wir sind uns im Bündnis einig, daß es wichtig ist, ei- Milosevic zerstört. Das ist eine große Tragödie. Das ser- ne Resolution des UN-Sicherheitsrats zu bekommen. bische Volk hat selbst am meisten unter Milosevic zu Da sich aber der Abgeordnete Gysi hier hingestellt und leiden. Die großserbischen Versprechen werden in ei- gefragt hat: Warum habt ihr das nicht von Anfang annem Rumpfserbien enden; das ist eine große Tragödie. gewollt?, muß ich sagen: Wir haben es von Anfang an Wir dürfen nicht müde werden, zu erklären: Dieser gewollt, Kollege Gysi. Rußland ins Boot zu holen istKrieg richtet sich nicht gegen das serbische Volk. Das wichtig. Rußland ins Boot zu holen heißt aber, daßserbische Volk gehört zu Europa. Wir müssen ihm den Rußland seine Blockadehaltung im Sicherheitsrat derWeg zurück nach Europa in Frieden wieder eröffnen. Vereinten Nationen aufgibt. Und genau daran arbeiten wir. Wir sind nach wie vor der Überzeugung, daß es un- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN erläßlich ist, auf der Grundlage einer VN-Resolution ei- und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der nen politischen Lösungsansatz zu suchen; nur dies be- PDS) deutet den Einschluß Rußlands. Es liegt aber an Ruß- Wir haben mit dieser Friedensinitiative klargemacht, land, seine Blockadehaltung aufzugeben. Genau darüber daß wir nicht bereit sind, einer Eskalationsautomatik, läuft gegenwärtig eine, wie ich finde, sehr konstruktive wie sie vor allem Milosevic betreibt, zu folgen. Die Diskussion. Politik muß in diesem Konflikt, den wir alle nicht woll- Die Friedensinitiative muß davon ausgehen, daß esten, die Verteidigung der Menschenrechte, die Freiheit, keine einseitigen Vorleistungen geben kann und darf.das Europa der Integration bestimmen. Das muß auch in Nach einer VN-Sicherheitsratsresolution nach Kapi-Zukunft gelten. Keine Eskalationsautomatik, aber auch tel VII muß Belgrad das Angebot gemacht werden, in- kein Beugen der Knie vor einer Politik der ethnischen nerhalb einer bestimmten Frist alle seine Truppen ausSäuberung! Dies muß und wird der Vergangenheit an- dem Kosovo zurückzuziehen. Erst wenn mit diesemgehören. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 32. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. April 1999 2641

Bundesminister Joseph Fischer (A) Eines sage ich Ihnen klipp und klar: Wenn Sie nicht Wir wissen, daß es dieselben Stimmungen auch in der(C) wollen, daß die nächste blutige Runde in Montenegro, in russischen Bevölkerung gibt. Es geht doch nicht immer Mazedonien stattfindet, dann muß im südlichen Balkan nur um die Regierungen – die sind doch gar nicht wich- die Logik des Krieges gebrochen werden. tig –, es geht um die Bevölkerung. Bisher ist kein einzi- ger Verantwortlicher in Jugoslawien durch eine Bombe (Beifall bei Abgeordneten der SPD) gestorben. Es wird dort nur dann Frieden geben, wenn die Logik der ethnischen Säuberung gebrochen wird, wenn das (Beifall bei Abgeordneten der PDS) Vertreiben, wenn der Nationalismus dort endgültig eine Darf ich Sie fragen, was ein Albaner davon hat, wenn Niederlage erleidet. Arbeiter einer Nachtschicht wie die in jenem Pkw-Werk Diese Niederlage werden wir Milosevic nicht erspa- verletzt werden? Der Krieg ist einfach das falsche ren können und nicht ersparen dürfen. Wenn er Frieden Mittel; damit lösen wir kein einziges humanitäres Pro- will, kann er jetzt unserFriedensangebot annehmen. blem. Wenn er Frieden will, dann ist die Rückkehr für Serbien Sie haben am Anfang gesagt, Sie wollen bombardie- in ein Europa der Integration und des Friedens offen.ren, damit Milosevic unterschreibt. Ich habe gesagt, ich Wir haben ein Friedensangebot gemacht. Die Antwort glaube nicht, daß er unterschreibt. Ich habe leider recht liegt jetzt bei Milosevic. Wenn diese Antwort weiterbehalten. Sie haben gesagt, Sie wollen bombardieren, Krieg bedeutet, dann, so kann ich Ihnen nur sagen, wird um eine humanitäre Katastrophe im Kosovozu ver- er auf die Festigkeit, die Entschlossenheit und Geschlos- hindern. Ich habe gesagt, ich glaube nicht, daß man sie senheit des Westens, der europäischen und der transat- zum Beispiel dadurch verhindern kann, daß man das lantischen Staatengemeinschaft treffen. Die Bundesre- Zentrum von Pristina völlig zerbombt. Ich glaube viel- publik Deutschland wird an diesem Punkt nicht wanken mehr, daß das die Katastrophe zuspitzt. – So ist es ge- und nicht wackeln. Wir sind davon überzeugt: Wenn wir kommen. Alles ist danach schlimmer geworden; nichts hier nachgeben würden, würden wir nicht Frieden be-ist danach besser geworden. kommen, sondern eine weitere blutige Runde des Krie- ges. Jetzt sagen Sie: Die Bomben sollen das Morden im Kosovo verhindern. Aber Sie können doch nicht Pisto- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN len, Messer, Gewehre aus den Händen bomben. Auch und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der das wird nicht funktionieren. Deshalb sage ich: Die CDU/CSU und der F.D.P.) Bomben haben noch keinem einzigen Albaner geholfen, und deshalb stimmt Ihre ganze Logik nicht. Wir brau- chen andere Ansätze, wenn wir Menschenrechte wirk- (B) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Zu einer (D) Kurzintervention von höchstens drei Minuten hat derlich durchsetzen wollen. Kollege Gysi das Wort. (Beifall bei Abgeordneten der PDS)

Dr. Gregor Gysi (PDS): Herr Bundesaußenminister, Die Demokratiebewegung in Serbien ist inzwischen ich habe festgestellt, daß Sie den Weg der Sachlichkeit völlig kaputtgemacht worden. Dort steht man jetzt ge- verlassen und persönlich werden. Es ist richtig: Ich habe schlossen gegen die NATO und gegen den Westen. Das über Ostern ein paar Tage Urlaub gemacht, wenn auch ist eine Tatsache. Ich sage jetzt: Das ist noch verstärkt nicht in Gran Canaria. Ich glaube, daß mir das nach weit worden. Wir hatten große Ansätze für eine Demokratie- mehr als einem Jahr ohne Urlaub auch zustand. Das muß bewegung in Jugoslawien. Heute gibt es sie überhaupt ich mir von Ihnen nicht vorwerfen lassen – schon garnicht mehr. Das ist das Problem. nicht von Leuten, die ständig in der Toskana Urlaub ma- In bezug auf alle die Ziele, von denen Sie vorgeben, chen. daß sie durch Ihre Mittel erreicht würden, muß man sa- (Widerspruch bei der SPD) gen: Damit wird kein einziges Ziel erreicht; sie werden alle nur beschädigt. Das ist die Wahrheit. Was also soll das? (Beifall bei der PDS) Nun zu unserer sachlichen Differenz: Sie haben sich hier gegen Vertreibung, gegen Morden, gegen Nationa- lismus ausgesprochen. Etwas anderes hat auch in der Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr PDS nie jemand getan, und wir werden das weiterhinBundesminister, wollen Sie erwidern? – Bitte schön. tun. Es gibt nicht die Alternative: das eine, was Sie wollen, oder Krieg. Das ist einfach ein falscher Ansatz. Herr Fischer, sagen Sie mir: Haben Ihre Bomben Ver- Joseph Fischer, Bundesminister des Auswärtigen: treibung verhindert? Welche Bombe hat das Leid eines Mir liegt der Entschließungsantrag der PDS vor. Darin einzigen Kosovo-Albaners auch nur gelindert? heißt es: Seit neun Jahren reise ich durch Europa. Es ist das er- Seit Aufnahme der Bombenangriffe der NATO auf ste Mal, daß ich wieder eine richtig antiamerikanische, die Bundesrepublik Jugoslawien hat sich die Lage eine richtig antideutsche, eine richtigantiwestliche der gesamten Zivilbevölkerung im Kosovo in ex- Stimmung in der Bevölkerung gespürt habe. Das wird tremer Weise verschlimmert. Die mit der Kriegs- wiederum die Generation nach uns austragen müssen. führung verbundene Brutalisierung hat zu massiven 2642 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 32. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. April 1999

Bundesminister Joseph Fischer (A) Flüchtlings- und Vertriebenenströmen aus dem Ko- wegen sehr, weil unsere Bürgerinnen und Bürger inten- (C) sovo siv mit diesen außerordentlichen Belastungen leben. Sie erwarten natürlich nicht nur die offizielle Information (Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE durch die Regierung und die Parteien, sondern sie er- GRÜNEN und bei der SPD) warten natürlich auch die Debatte in diesem Hause, um in die übrigen Teile Jugoslawiens, nach Albanien daraus Informationen zu ziehen. und Makedonien sowie innerhalb des Kosovo selbst Seien Sie mir nicht böse, Herr Gysi, aber eines muß geführt. ich Ihnen schon vorhalten: Sie betreiben in der Tat eine (Zuruf von der SPD: Unglaublich!) zynische Friedensrhetorik. Deswegen kritisiere ich das. Berichte über von serbischen Sicherheitskräften (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- und paramilitärischen Verbänden an Zivilisten be- ordneten der F.D.P.) gangene Grausamkeiten häufen sich. Zivile Gebäu- Angesichts der dramatischen Herausforderung, die de und Einrichtungen sowie die gesamte Infra-systematischen und organisierten Menschenrechtsver- struktur sind erheblichen Zerstörungen ausgesetzt. letzungen im Kosovo zu beenden, stehen CDU und Ich habe in diesem Antrag verzweifelt eine Verurtei- CSU geschlossen zu ihrer nationalen und europäischen lung der Politik der ethnischen Kriegführung gesucht. Verantwortung. Wir stehen deshalb hinter der Entschei- dung der Bundesregierung, daß sich Deutschland am (Dr. Gregor Gysi [PDS]: Das ist doch damit Einsatz der NATO zur Durchsetzung der Menschen- verurteilt!) rechte im Kosovo mit militärischen Mitteln beteiligt. – Kollege Gysi sagt gerade, daß diese Beschreibung – Dieses Bündnis setzt sich gerade als Wertegemein- der durch das Bombardement hervorgerufenen Brutali- schaft im Kosovo nachhaltig für die Wiederherstellung sierungen – zugleich eine Verurteilung sei. und Einhaltung der grundlegenden humanitären Prinzi- (Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- pien ein. Aus der Verantwortung vor der Geschichte NEN und bei der SPD sowie bei Abgeordne- wissen wir als Deutsche ganz besonders: Denjenigen, ten der CDU/CSU und der F.D.P.) die diese Werte mißachten und denen Humanität, Tole- ranz und das Leben von Menschen nichts gelten, darf Ich habe in diesem Antrag verzweifelt nach einerkein Freiraum gegeben werden. auch nur ansatzweise erkennbaren Verurteilung der Po- Die Solidarität des Bündnisses war gerade für litik Milosevics gegenüber der albanischen Bevölkerung Deutschland über Jahrzehnte hinweg in der Zeit des gesucht. kalten Krieges von existenzieller Bedeutung, vor allem (B) (D) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN während der -Blockade und des Mauerbaus, als und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Deutschland in vorderster Linie stand. Zu dieser Solida- CDU/CSU und der F.D.P.) rität stehen wir voll und ganz. Diese Gemeinschaft ist nicht nur eine europäische, sondern auch eine atlantische Insofern ist meines Erachtens jede weitere GegenredeWertegemeinschaft. Die USA sind und bleiben deshalb überflüssig; ich empfehle die Lektüre dieses Antrags. ein entscheidender Eckpfeiler für Frieden und Sicherheit (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Ich in Europa. empfehle die Ablehnung!) Zugleich hat der Kosovo-Konflikt erneut deutlich Es ist ein Dokument, Herr Kollege Gysi, von dem ichgemacht, daß eine westeuropäischeFriedensordnung nur sagen kann: Es ist das Dokument einer politischen allein nicht ausreicht, sondern eine gesamteuropäische Weißwäscherei. Das wird nicht gelingen. Friedensordnung geschaffen werden muß. Diese Anlie- gen genießen heute erfreulicherweise einen noch höhe- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ren Stellenwert in der Bevölkerung. Zu einer solchen und bei der SPD) Friedensordnung gehören die gewachsenen und be- währten Beziehungen zu unserem nordamerikanischen Bündnispartner. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als nächster Redner hat das Wort der Ministerpräsident des Bis auf die PDS gibt es eine nahtlose Solidarität in Freistaates Bayern, Edmund Stoiber. unserem Land mit unseren Bündnispartnern, auch wenn sich die Zustimmung zum Einsatz militärischer Mittel niemand leichtgemacht hat. Dr. Edmund Stoiber, Ministerpräsident (Bayern): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Mit unseren Gedanken sind wir bei denSoldaten der Herren! Die heutige Debatte in diesem Hohen HauseBundeswehr und der NATO, die ihren schwierigen findet vor dem Hintergrund einer sehr schwierigen und Auftrag im Krisengebiet erfüllen, sowie bei deren An- menschlich zutiefst bedrückenden und außerordentlich gehörigen. Ich habe, weil nichts besser ist als persönli- gefährlichen Lage in Südosteuropa statt, der vielleicht che Information, mit den Soldaten im Lager Lechfeld schwierigsten außenpolitischen und sicherheitspoliti-gesprochen. Es ist in der Tat eine Belastung, wie sie im schen Situation des wiedervereinigten Deutschland. Ich zivilen Leben überhaupt nicht vorkommen kann. Man begrüße diese Debatte, die auf Anregungkann dersich nicht vorstellen, wie sich diese Menschen für CDU/CSU-Fraktion hier heute geführt wird, auch des- uns, für die Menschenrechte einsetzen. Man kann das Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 32. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. April 1999 2643

Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber (A) nicht oft genug wiederholen und den hohen Stellenwert hat völlig recht – jedes Gespräch genutzt werden, die eu- (C) hervorheben. ropäische Mitverantwortung Rußlands deutlich zu ma- chen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der F.D.P. und des Abg. Albert Schmidt Der Freistaat Bayern hat auf Grund der Situation nach [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Ende der Sowjetunion eine besondere Beziehung zu der Sie sind bereit, dafür größte persönliche Risiken auf Region Moskau. Ich hatte letzte Woche, vom 7. bis zum 10. April, zusammen mit dem Kollegen Lamers auf sich zu nehmen. Deswegen mein herzlicher Dank in die- se Richtung. Einladung des Moskauer Oberbürgermeisters Luschkow Gelegenheit zu einer lange geplanten Reise in die russi- Es blieb der PDS und ihren Sympathisanten vorbe-sche Hauptstadt. Dieser Besuch fand nun im zeitlichen halten, von einer „NATO-Aggression“ gegen Jugosla- und im politischen Kontext der dramatischen Zuspitzung wien zu sprechen und der Bundesregierung im „Neuen der Ereignisse in Jugoslawien statt. Deutschland“ imperialistische Absichten zu unterstellen. Ich will hier in dieser Stunde wirklich keine Polemik In dieser schwierigen Situation habe ich mich – ich einführen, aber die SPD muß sich gerade heute ange-sage das ganz deutlich – auch mit dem Bundeskanzler- sichts der harten Wortwahl des Bundeskanzlers, der von amt und mit dem Außenminister abgestimmt. Es war in der „fünften Kolonne Belgrads“ sprach, schon die Frage dieser besonderen Situation unser gemeinsames Ziel, das stellen lassen, wie sie mit einem solchen Partner politi- gute deutsch-russische Verhältnis, das besonders Helmut sche Bündnisse eingehen kann, der eine derartige Spra- Kohl in den vergangenen zehn Jahren aufgebaut hat, ge- che spricht und Einstellung vertritt, rade in dieser angespannten Situation zu bewahren. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) wenn es um den Einsatz gegen systematische Vertrei- Dieses gute Verhältnis ist für uns kein Gegensatz zu bung und massenhaften Mord geht. unserer atlantischen Solidarität. Dieses Verhältnis zwi- schen uns und den Russen ist für uns von größter Be- Das menschenverachtende Regime Milosevics hat der deutung und darf trotz der unterschiedlichen Bewertung Staatengemeinschaft letztlich keine andere Wahl gelas- des NATO-Einsatzes nicht beschädigt werden. sen, als nun als Ultima ratio den Verbrechen im Kosovo mit militärischen Mitteln entgegenzutreten. Den Kriti- Ich glaube, daß die These, die mein Vorvorgänger kern, die demgegenüber die Verletzung der Souveräni- Franz Josef Strauß aus historisch bemerkenswerter Sicht tätsrechte Jugoslawiens in den Vordergrund stellenschon zu Zeiten des kalten Krieges 1978 gegenüber Bre- – mein Vorvorredner hat das getan –, muß man entge- schnew zum Ausdruck gebracht hat, auch heute noch (B) genhalten: Das Völkerrecht rückt zunehmend – das ist richtig ist: Wenn das Verhältnis zwischen Rußland und(D) eine gute Entwicklung – den Schutz der Menschenrechte Deutschland gut ist, dann ist das immer gut für die Men- und des Lebens in den Mittelpunkt. Die Fixierung aufschen in Rußland, in Deutschland und in Europa, und die Souveränität eines Staates verliert in Konfliktfällen wenn die Beziehungen zwischen diesen beiden Ländern an zentraler Bedeutung, wenn es um grundlegendeschlecht sind – leider waren sie im letzten Jahrhundert menschliche Werte der Individuen und des Zusammen- immer sehr schlecht, phasenweise sogar außerordentlich lebens geht. Das gilt besonders, wenn man es mit men- kritisch –, dann ist das schlecht für Europa und vor allen schenverachtenden politischen Systemen zu tun hat. Dingen für die Menschen in Europa, in Deutschland, in Rußland und in allen anderen Ländern. Seit zehn Jahren bringt Milosevic Unglück über die Völker Jugoslawiens. Mit seiner Rede auf dem Amsel- Ich habe in Moskau deutlich gemacht, daß sich die feld vor zehn Jahren, am 28. Juni 1989 – hier ist darauf politisch verantwortlichen Kräfte in Deutschland in die- hingewiesen worden –, entfesselte er vor 3 Millionenser Frage einig sind. Diese Gemeinsamkeit ist ein großes Menschen den Ungeist des aggressiven serbischen Na- Gut. Es wäre geradezu fatal, wenn in unserer Bevölke- tionalismus. Jahrelang ist mit ihm auf allen Ebenen ohne rung und im Ausland ein anderer Eindruck entstehen Ergebnisse über den Kosovo verhandelt worden. Daswürde. muß ich gerade an die Adresse derjenigen richten, die jetzt den militärischen Einsatz kritisieren. Europa würde In meinen Gesprächen mit dem Ministerpräsidenten seine Glaubwürdigkeit und seine Identität als ein Konti- Primakow, mit dem Außenminister Iwanow, vor allen nent verlieren, der sich gerade aus den Lehren der Ge- Dingen mit dem Moskauer Oberbürgermeister schichte unseres Jahrhunderts Frieden und Menschen- Luschkow, dem Vorsitzenden der Staatsduma Selesnjow rechten verpflichtet weiß. und dem Vorsitzenden der Jabloko-Fraktion Jawlinskij ist für mich deutlich geworden: Erstens. Rußland ist Die militärische Komponente des NATO-Einsatzes ernsthaft darum bemüht, an der politischen Lösung die- ist kein Selbstzweck. Sie war und ist immer nur einses Konfliktes mitzuwirken. Moskau verweigert sich Mittel, ein Ende der systematischen Verletzung dernicht, auch wenn man sich dort, insbesondere zum da- Menschenrechte im Kosovo zu erzwingen. Der Einsatz maligen Zeitpunkt – zu Recht oder zu Unrecht – ausge- militärischer Mittel ist ausschließlich zur Erreichunggrenzt fühlte. klarer politischer Ziele verantwortbar. Unser Ziel ist ei- ne dauerhafte Friedensordnung in Südosteuropa. Dieses Zweitens. Die russische Führung will sich nicht in ei- Ziel ist nicht ohne Einbindung und EinbeziehungRuß- ne militärische Auseinandersetzung hineinziehen lassen, lands zu erreichen. Deshalb muß – der Kollege Gerhardt obwohl starke Kräfte im Land dies fordern. 2644 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 32. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. April 1999

Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber (A) Drittens. Die Kritik an Milosevic nimmt deutlich zu. politische Lösungen erschweren oder sogar unmöglich (C) Die Menschenrechtsverletzungen werden zunehmendmachen und die wir in den Konsequenzen nicht beherr- verurteilt, jedenfalls von der russischen Regierung und schen können. Diesen Standpunkt müssen wir nicht nur den demokratischen Kräften im Parlament. hier, sondern auch innerhalb des Bündnisses immer wieder deutlich machen. Viertens. Rußland zeigt Bereitschaft, sich aktiv an den Maßnahmen zu beteiligen, die zum Schutz der Men- Wir stehen in einer schicksalhaften Auseinanderset- schen im Kosovo und zur Wiederherstellung zung der und vor schwerwiegenden Entscheidungen, bei de- Rechtsordnung notwendig sind. Das könnte die Beteili- nen das Parlament als Vertretung unseres Volkes gefor- gung russischer Soldaten an einer gemeinsamen interna- dert ist. Für den Fall – ich unterstreiche das, was der tionalen Schutztruppe bedeuten. Darüber wird ja erfreu- Kollege Schäuble gesagt hat –, daß eine Beteiligung licherweise seit dieser Woche intensiv verhandelt. deutscher Soldaten an einem NATO-Kontingent in Al- banien, über humanitäre Maßnahmen im engeren Sinne Fünftens. Aber mir wurde auch gesagt – und zwarhinaus erwogen wird, gehe ich davon aus, daß dieses von allen, einschließlich der Demokraten, einschließlich Hohe Haus darüber neu entscheidet. Ein solcher Be- Jawlinskij – Rußland würde den Einsatz von Boden-schluß des Bundestages müßte Aufgaben und Grenzen kampftruppen der NATO als eine sehr ernste Entschei- des deutschen Beitrages zu diesem NATO-Kontingent in dung mit weitreichenden Konsequenzen und Eskalati- Albanien klar definieren. onsgefahren ansehen. Jetzt schlägt die Stunde der Politik; das ist heute Die russische Regierung hat in der Krise bisher be- schon mehrfach angeklungen. Eine Lösung dieses Pro- sonnen reagiert, trotz anderer Mehrheiten im Parlament, blems kann nur auf der Basis – Herr Außenminister, Sie in der Duma. Dort verfügen die Kommunisten und die haben es angesprochen – von Kapitel VII der UN-Charta Nationalisten, die etwas ganz anderes als die Verant-gefunden werden. Für diesen Vorschlag habe ich jeden- wortlichen in der russischen Regierung wollen, über ei- falls bei meinen Gesprächen in Rußland Aufgeschlos- ne große Mehrheit. Die Bereitschaft Rußlands, an einer senheit gespürt. Der jetzt vorgelegte Plan der Bundesre- politischen Lösung mitzuwirken, müssen wir ernstgierung knüpft meines Erachtens in realistischer Weise nehmen. Natürlich bin ich über deutliche Signale desan diese Signale aus Rußland an und enthält die unver- Westens an Rußland froh, daß seine Mitverantwortung zichtbaren Bestandteile einer vor allem für die Men- gerade in diesem Raum, zu dem es besondere historische schen im Kosovo notwendigen Friedenslösung. und kulturelle Beziehungen hat, gebraucht wird. Unser Ziel muß es aber weiterhin sein, Präsident Mi- Ich bin überzeugt, daß die russische Regierung ange- losevic zu zwingen, seine Truppen zurückzuziehen, den sichts der innenpolitischen Lage in einer sehr schweren Völkermord und die Vertreibung der Bevölkerung zu (B) Situation wäre, wenn es zu einem Einsatz vonNATO- beenden. Er muß den ersten Schritt zu einer Lösung des (D) Bodenkampftruppen im Kosovo käme. Aber auch dar- Konflikts machen und seine bewaffneten Einheiten ab- über hinaus wären mit einer solchen Entscheidung der ziehen. Nur dann ist es möglich, daß die Opfer von Ge- NATO unkalkulierbare militärische Risiken verbunden. walt und Vertreibung in ihre Heimat zurückkehren kön- Es wird immer wieder gefragt: Warum sagen Sie das in nen. Eine Rückkehr dieser Flüchtlinge ohne Absiche- der Situation? Sie signalisieren doch, daß wir es nichtrung durch eine internationale Schutztruppe ist aller- ganz ernst meinen, Milosevic konsequent zum Rückzug dings nicht vorstellbar. Das ist immer wieder das Pro- zu bringen. – Nein, meine Damen und Herren, wir müs- blem. Natürlich sagen die Menschen ja zu einer Feuer- sen die Dinge aussprechen, über die in der Bevölkerung pause. Vielleicht kann man 24 Stunden, vielleicht zwei außerordentlich intensiv diskutiert wird. Tage verhandeln. Nur, wir haben doch Erfahrungen da- Wir haben in der Bevölkerung Gott sei Dank – diemit gemacht: Das wäre eine Niederlage der NATO und neuen Zahlen werden heute abend wieder veröffentlicht hätte unabsehbare Konsequenzen. Deswegen sage ich es – eine große Mehrheit, die hinter unseren Entscheidun- noch einmal: Den Schlüssel für den Frieden hat Milose- gen steht, Milosevic – das richtet sich nicht gegen dievic und niemand anderes in der Hand. Serben insgesamt – zur Einhaltung der Menschenrechte Bis zu einer gesicherten Rückkehr der Flüchtlinge mit militärischen Mitteln zu zwingen. Gleichzeitig hat muß die internationale Staatengemeinschaft die unsägli- eine große, eine überwältigende Mehrheit der deutschen che Not und das Leid dieser Flüchtlinge lindern, soweit Bevölkerung Sorge und Angst vor möglichen Einsätzen dies irgendwie möglich ist. Vorrangig muß dabei dafür von – so nenne ich sie immer – Bodenkampftruppen.gesorgt werden, daß diese Menschen möglichst in der Dies spreche ich in diesem Hohen Haus, in dem HausNähe ihrer Heimat untergebracht werden. Albanien und der Nation, sehr deutlich aus, damit die Menschen die Mazedonien, die selbst unter großer Not leiden, leisten Positionen kennen. hier Außerordentliches und Beispielhaftes. Es muß eine Selbstverständlichkeit sein, daß die westlichen Indu- (Beifall bei der CDU/CSU) striestaaten diesen Ländern bei der Lösung dieser großen Ein solcher Einsatz würde zwangsläufig gerade die humanitären Aufgabe helfen und sie massiv unterstüt- politischen Optionen verbauen, die wir zur Lösung der zen. Jeder ist an seiner Stelle gefordert. Als Beitrag zur Probleme benötigen. CDU und CSU haben sich deshalb Linderung der Not hat beispielsweise der Freistaat Bay- ebenso wie die Bundesregierung klar gegen den Einsatz ern vor zwei Tagen beschlossen, 10 Millionen DM für von Bodenkampftruppen der NATO in diesem Konflikt humanitäre Hilfsmaßnahmen in diesen Ländern zur Ver- ausgesprochen. Wir dürfen keine Mittel einsetzen, die fügung zu stellen. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 32. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. April 1999 2645

Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber (A) Militärische Solidarität im Bündnis, Herr Bundes- Rudolf Scharping, Bundesminister der Verteidi-(C) kanzler und Herr Außenminister, verlangt auch humani- gung: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist täre Solidarität. Es darf nicht geschehen, daß Deutsch- gut zu wissen, daß wir in vielen Punkten übereinstim- land wie im Konflikt in Bosnien-Herzegowina die über- men. Das betrifft die klaren Voraussetzungen dafür, un- wiegende Zahl der Flüchtlinge aufnimmt und die damit ter denen die militärischen Maßnahmen der NATO sus- verbundenen Belastungen alleine trägt. Es darf sichpendiert werden können, nämlich nach dem Stopp des nicht wiederholen, daß wir mehr aufnehmen als alle an- Mordens, dem Rückzug der Truppen und der Rückkehr deren großen und kleinen Länder in der Europäischender Flüchtlinge, zu deren Garantie eine internationale Union zusammen. Soweit eine Unterbringung in denmilitärische Präsenz und die Vereinbarung eines Ab- Nachbarstaaten nicht möglich ist, müssen andere Staaten kommens auf der Grundlage der Prinzipien von Ram- Flüchtlingskontingente aufnehmen. Deutschland hat bis- bouillet notwendig sind. her die Aufnahme von 10 000 Kosovo-Flüchtlingen zu- Wir stimmen offenbar auch darin überein, daß es um gesagt. Wir vermissen aber gleichwertige Beiträge ande- rer großer europäischer Partner. eine dauerhafte Stabilität in dieser europäischen Region geht und daß zum Erreichen dieses Ziels nicht nur Fra- (Beifall bei der CDU/CSU) gen der direkten äußeren Sicherheit gehören, sondern insbesondere auch Fragen der kulturellen, der sozialen Ich will, meine Damen, meine Herren, auch daraufund der ökonomischen Zusammenarbeit. Wir stimmen hinweisen – ich weiß daß das schwierig ist –, welchen offenbar auch darin überein, daß es dafür einer dauer- Eindruck ich bei der Landung der Menschen aus Alba- haften und langfristigen Perspektive und Politik bedarf. nien in Nürnberg hatte. Natürlich stand nach ihrer Lan- Nicht zuletzt stimmen wir darin überein, daß wir insbe- dung eine große Zahl von Ärzten und Pflegern bereit,sondere den Menschen für ihre Hilfsbereitschaft, die um die Flüchtlinge medizinisch und psychologisch zusich in der Unterstützung der deutschen Hilfsorganisa- betreuen. Das war – ich sage: Gott sei Dank – erstaunli- tionen oder in der Unterstützung der größten humanitä- cherweise überhaupt nicht nötig. Diejenigen, die dortren Hilfsaktion in der Geschichte der Bundeswehr aus- gelandet sind, sind meines Erachtens mit Sicherheitdrückt, Dank, Anerkennung und Respekt schulden. nicht diejenigen, die Hilfe am nötigsten brauchen. Da haben sich vielleicht einige vorgedrängelt; vielleicht Wenn wir in all diesen Punkten übereinstimmen, wird auch das eine oder andere über den Tisch gescho- dann muß man sich die Frage stellen, worüber hier im ben. Wir müssen die Ressourcen unseres Landes für die einzelnen gestritten wird. Ich will das zunächst an Hand wirklich Bedürftigen verwenden, also für die Kranken, der humanitären Situation deutlich machen, und zwar die Alten und die Pflegebedürftigen. nicht im Sinne des Streits, sondern im Sinne der Vertie- fung der Debatte. Bis heute sind mindestens 900 000 (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- (B) Menschen aus dem Kosovo herausgejagt worden. Das(D) ordneten der F.D.P.) sind mehr als 50 Prozent der Bevölkerung, die dort leb- Deswegen geht meine herzliche Bitte und Aufforde- te. Das ist nicht das Ergebnis eines plötzlichen Vorge- rung dahin, in diese Richtung zu wirken. hens, sondern einer langfristigen Planung. Ich will dar- auf aufmerksam machen, daß Milosevic in der Kraina, So dringlich die Lösung des aktuellen Konflikts ist, in Bosnien-Herzegowina und in vielen anderen Regio- so wichtig ist auch eine langfristig angelegte Konzeption nen Kriege vom Zaun gebrochen hat, immer mit dem zur Herstellung einer stabilen und dauerhaften Friedens- Ziel der ethnischen Säuberung und der Vertreibung. ordnung in Südosteuropa. Dazu müssen sich alle Mächte Europas an den Verhandlungstisch setzen, nicht nur die Auf die Fragen, die auch in den Medien immer wie- unmittelbar betroffenen Staaten der Region. der gestellt werden, will ich antworten: Es mag sein – aus meiner sehr persönlichen Sicht ist es auch so –, daß Am Ende des 20. Jahrhunderts ist es für Deutschland am Anfang der 90er Jahre der eine oder andere Fehler und für die europäische Staatengemeinschaft eine her- gemacht worden ist. Es mag sein, daß man bei den Ver- ausragende Aufgabe, Rahmenbedingungen zu schaffen, handlungen über das Dayton-Abkommen Milosevic ge- unter denen die Völker Südosteuropas eine Perspektive wissermaßen noch als Stabilitätsfaktor betrachtet hat. für eine gemeinsame friedliche Zukunft haben. Das mag alles sein. Aber selbst wenn man das als Fehler Die Tür zum Frieden hat sich in den letzten Tagen ein begreift: Wer gibt uns eigentlich das Recht und wer ganz klein wenig geöffnet. Ein kleiner Spalt ist sichtbar. verlangt von uns, diese Fehler dauernd zu wiederholen, Jetzt müssen die NATO und Europa, jetzt müssen wiranstatt aus ihnen Konsequenzen zu ziehen? alle zeigen, daß wir in der Lage sind, europäische Pro- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ bleme zu lösen. DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Herzlichen Dank. CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Ich denke, niemand gibt uns das Recht, beispielswei- ordneten der F.D.P.) se darüber hinwegzusehen, daß eine Schutzzone der Vereinten Nationen – ob in Zepa, in Srebrenica oder in anderen Orten – mit schrecklichen Folgen für die betrof- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als fenen Menschen überrannt worden ist, daß man Soldaten nächster Redner hat das Wort der Bundesminister derder Vereinten Nationen angekettet und zu ohnmächtigen Verteidigung, Rudolf Scharping. Zuschauern der massenhaften Ermordung von Menschen 2646 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 32. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. April 1999

Bundesminister Rudolf Scharping (A) gemacht hat. Niemand gibt uns das Recht, darüber hin- ben Sie denn, das militärisch völlig unbedeutende Ört- (C) wegzusehen. chen Studencane sei von auswärtigen Truppen zerstört worden? Sie können auf solchen Bildern genau sehen, Vor diesem Hintergrund – der Kollege Gysi ist jetzt daß jedes einzelne Haus von innen verbrannt worden ist. nicht mehr da; das ist bedauerlich; vielleicht kommt er Vergleichen Sie das einmal mit den Bildern und Erzäh- noch zurück – möchte ich anmerken: Wer sagt, dieselungen der Flüchtlinge! Was, meinen Sie, wird bei den Menschen flöhen vor der NATO, der muß die Frage be- Menschen angerichtet, die irgendwo sicher gelebt haben, antworten, warum sie ausgerechnet in die Arme derwenn ihre Türen eingetreten werden, wenn schwarz NATO fliehen. Warum? maskierte Männer in die Häuser eindringen, wenn die (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Mitteilung heißt: „In fünf Minuten wirst du das Haus des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der verlassen, oder du wirst erschossen! Pack deine Kla- CDU/CSU und der F.D.P.) motten, aber bitte keine Ausweispapiere!“? Weder ein Ausweis noch eine Geburtsurkunde, noch eine Heirats- Der muß auch die Frage beantworten, ob er die Situation urkunde, nichts darf mitgenommen werden. Sogar die eigentlich noch ernst nimmt. Kirchenbücher werden nach Belgrad gebracht, um sie zu Ich nehme niemandem das Recht zu reisen. Wie kä- vernichten, damit nur ja jeder Nachweis der Identität der me ich dazu? Ich frage mich nur, wieviel Zynismus man betroffenen Menschen zerstört ist. aufbringen muß, um sich nicht selbst die Frage zu stel- Dann kommen Sie hierhin und halten solche Reden. len: Warum versucht der Mensch, der nach BelgradSchauen Sie sich die Bilder an! Ich führe sie Ihnen alle kommt, um mit Milosevic zu reden, nicht auch, für eine vor. Es soll niemand den Eindruck haben, man habe das oder zwei Stunden durch den Kosovo zu reisen? Warum nicht gewußt. Diese faule Ausrede, nicht zu wissen, daß verlangt er das nicht von seinem Gastgeber? Warumes Massenmord in Europa gibt, daß es ethnische Kriegs- nicht? führung in Europa gibt, die Augen zuzumachen, um sich (Beifall bei Abgeordneten der SPD, des hinterher als überraschter, durch sensationelle Enthül- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/ lungen plötzlich aufgeklärter Mensch reuig zu zeigen, CSU und der F.D.P.) darf nicht sein, auch nicht in der innenpolitischen Aus- einandersetzung. Soll plötzlich alles übersehen werden, was uns Tausende (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE und Abertausende von traumatisierten Frauen und Kin- GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P. – dern und alten Menschen erzählen? Sollen all die Heidi Lippmann-Kasten [PDS]: Das tut nie- Schlächtereien, die es dort gibt, übersehen werden? mand von uns!) (B) ( [CDU/CSU]: Da hat er recht!) Das alles hat mit den Erfahrungen in Bosnien und mit (D) Ist das alles nur Erfindung und Propaganda, was Men- dem zu tun, was wir in der Vergangenheit schon erlebt schen uns erzählen: daß man die Leichen mit Baseball- haben. Auch ich weiß: Empörung ist kein Mittel der Po- schlägern zertrümmert, daß man ihnen die Gliedmaßen litik, aber ein Antrieb. Dazu gehört ein klares Ziel – es abtrennt und die Köpfe abschlägt? Ist das alles nur Pro- ist hier mehrfach genannt worden und in der großen paganda, wenn Frauen mit einem toten Kind in den Ar- Mehrheit des Hauses unstreitig –, und dazu gehört ver- men über die Grenze kommen? Wieviel Zynismus muß antwortungsbewußtes Handeln, damit man dieses Ziel man haben, um so kalt über rechtliche Fragen zu reden erreichen kann. anstatt über die Menschen, die Opfer einer mörderischen Niemand trifft solche Entscheidungen mit leichtem Maschine geworden sind? Herzen, im Gegenteil. Aber wenn wir es nicht schaffen, (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE der Moral die politischen Instrumente zu geben und der GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P.) Politik die Moral, dann haben wir genau jene Teilung, vor der ich persönlich Angst habe. Dann wird nämlich Ich weiß auch, daß Empörung kein Mittel der Politik ist; die Reklamation der Moral folgenlos, oder sie läuft Ge- aber e i n Antrieb kann sie schon sein. fahr, folgenlos zu bleiben. Dann gerät die Politik zur Wenn der Kollege Gysi sagt, er habe keine Bilder ge- kalten Technokratie. sehen, zeige ich Ihnen hier eines. Schauen Sie sich die Was die Hilfsorganisationen und die hilfsbereiten Bilder aus den Tälern und den Wäldern des Kosovo an! Menschen leisten und was in ganz wenigen Stunden von Meinen Sie, die Menschen gehen dort hin, weil Karfreitag sie nacht bis Ostersamstag morgen aus dem Bo- wollten? Meinen Sie, sie fressen Gras, weil sie wollten? den gestampft wurde, die Betreuung von mittlerweile Meinen Sie, wir würden uns überlegen, wie man sie ver- Tausenden Patienten, von Menschen, die mit Hunger- sorgen kann, mit hohem Risiko? Schauen Sie sich dasödemen, mit schweren Erkrankungen anderer Art in die an! Es gibt Dutzende solcher Bilder. Ich führe sie Ihnen Lager gekommen sind, das aufgebaute, jetzt in der Er- gerne alle vor, so wie ich sie auch den Journalisten vor- weiterung befindliche Lager in Mazedonien, das, was führe. wir in Albanien in einem strikt humanitären Einsatz tun: Wenn man wissen und hoffen könnte, daß dieser huma- Wenn Sie sagen, es gebeZerstörungen durch nitäre Einsatz reichen würde, um die Probleme zu lösen, NATO-Bomben, sage ich Ihnen: Es ist schon zynisch dann wäre es ja gut. Aber er wird nicht reichen. genug, daß die Gegenseite Wohnblocks sprengt, um den Eindruck zu erwecken, eine Bombe habe ihr Ziel ver- Albanien hat mehr als 10 Prozent seiner früheren Be- fehlt und leider ein ziviles Objekt getroffen. Aber glau- völkerung aufgenommen. Die Situation in Montenegro Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 32. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. April 1999 2647

Bundesminister Rudolf Scharping (A) ist außergewöhnlich risikoreich. Das zweite jugoslawi- Damit komme ich zu Fragen – es sind hier schon(C) sche Armeekorps ist mobilisiert. Die montenegrinische rechtliche Fragen erörtert worden –, die über den Tag Regierung hat entschieden, sich an Maßnahmen der Re- und über den Konflikt hinausweisen: Hat denn nicht krutierung nicht zu beteiligen. Sie hat ihre Polizeikräfte auch die DDR dieSchlußakte von Helsinki unter- verstärkt. Es ist kein Zufall, wenn in Montenegro jugo- schrieben und ratifiziert? Steht nicht in der Schlußakte slawische Armeeverbände die Kasernen verlassen und von Helsinki, daß die Menschenrechtssituation eines an bestimmten Punkten postiert werden. Auch das kennt einzelnen Staates nicht mehr allein innere Angelegenheit man aus der Vergangenheit. Es gibt vielfältige solchedieses Staates ist? War dies nicht ein großer Fortschritt Risiken. auf dem Weg hin zu einer europäischen Integration im Sinne von gewaltfreiem Austausch und dem Respekt vor Ich will auch hier im Deutschen Bundestag sagen: Sie den Menschenrechten und vor den Rechten der Minder- können ganz sicher sein, die Bundesregierung wird sich heiten? um eine umfassende, gründliche Information so wie in der Vergangenheit bemühen. Gerade wegen der enor- Ist es nicht so – es ist so –, daß die Regierungschefs men Belastungen für die betroffenen Menschen wird es der im Weltsicherheitsrat vertretenen Nationen 1992 keine rechtlichen und auch keine politischen Grauzonen ausdrücklich und einstimmig beschlossen haben, daß zur geben. Daß zum Beispiel die NATO in einem entspre- Durchsetzung der Menschenrechte auch Einschränkun- chenden Hauptquartier humanitäre Maßnahmen in Al- gen der staatlichen Souveränität erforderlich sein kön- banien koordiniert, hat exakt damit zu tun, daß dernen? Ist es nicht so, daß schon am 9. September 1948 UNHCR leider nicht in der Lage ist, das zu tun, weil er die Vereinten Nationen eine Konvention über die Ver- nicht über die Kapazitäten verfügt. Daß diese Tätigkei- hütung und Bestrafung des Völkermordes verabschiedet ten von jedem militärischen Einsatz strikt getrennt blei- haben? Diese Konvention ging auf die schrecklichen Er- ben müssen, versteht sich von selbst. fahrungen des zweiten Weltkriegs zurück. Kofi Annan ist schon zitiert worden, der mit Blick auf diese Kon- Vor diesem Hintergrund wird vielleicht deutlich,vention am 9. April davon sprach, daß wir unter der warum diese von der Bundesregierung betriebenen Din- dunklen Wolke des Verbrechens des Völkermordes ste- ge zusammengehören: die Voraussetzungen schaffen,hen. Er hat hinzugefügt: Der Weltsicherheitsrat darf um die militärischen Maßnahmen einstellen zu können, nicht zu einem Refugium derjenigen werden, die unter Stabilität in der Region auch durch humanitäre Hilfedem Deckmantel der Souveränität schlimmste Verstöße voranbringen und gleichzeitig dem Balkan, dem südöst- gegen die Menschenrechte vornehmen. lichen Europa eine Perspektive geben. Ich bin davon überzeugt: Gelingt uns das nicht, schaffen wir nicht in Wir sollten nicht vergessen, daß das Europäische Bulgarien, in Rumänien, in Mazedonien, in AlbanienParlament am 20. April 1994 die Partner der Europäi- (B) oder andernorts gute Beispiele einer positiven wirt-schen Union ausdrücklich aufgefordert hat, an einem(D) schaftlichen Entwicklung und eines kulturell vielfälti-rechtsbildenden Prozeß mitzuwirken, um das Völker- gen, toleranten Zusammenlebens, dann können wir auch recht so zu entwickeln, daß man aus humanitären Erwä- nicht die demokratische Opposition, das europäischegungen und aus Erwägungen bezüglich der Menschen- Potential innerhalb Serbiens ermuntern. Mit Flugblättern rechte unter folgenden Bedingungen eingreifen kann: alleine, so wichtig sie sein mögen, wird das nichteine außerordentliche und äußerst ernste humanitäre gehen. Notsituation – diese liegt vor –, eine Lähmung der Ver- einten Nationen – auch sie liegt zur Zeit leider vor –, die Auch darin wird deutlich, daß Politik sich nicht imVergeblichkeit aller anderen Lösungsversuche – es ist Militärischen erschöpfen darf. Das tut sie Gott sei Dank über Monate versucht worden, Lösungen zu erreichen –, auch nicht. Ich fand es richtig, daß viele, am beeindruk- eine begrenzte militärische Operation unter Wahrung kendsten wohl Erhard Eppler auf dem SPD-Parteitag,der Verhältnismäßigkeit der Mittel. Ich will Ihnen sagen, von der Tragik der Situation gesprochen haben. Diesedaß die NATO in den letzten 10 Tagen 50 Prozent ihrer Situation haben wir zwar nicht herbeigeführt, aber wir geplanten Angriffe nicht durchgeführt hat, weil dasRi- müssen auf sie reagieren. Wenn nach den jahrelangensiko ziviler Schäden nicht abgeschätzt werden konnte Erfahrungen und den monatelangen Verhandlungen kein oder zu groß war. Selbst wenn in Einzelfällen Fehler anderes Mittel mehr zur Verfügung steht, dann muß man passieren, was schrecklich und bedauerlich ist, so wun- auf diese Weise reagieren. dere ich mich doch über eine Art der Diskussion, die den Tausenden von Ermordeten eine geringere Aufmerk- Ich weiß doch, wie der Außenminister und anderesamkeit nur deshalb schenkt, weil die NATO propagan- verzweifelt versucht haben, in Kenntnis des Charakters distische Fähigkeiten und Mittel Gott sei Dank nicht so der Politik von Milosevic zu einem Ergebnis zu kom-entwickeln kann und entwickeln will, wie es das Regime men. Ich weiß doch um das monatelange Hin- undMilosevic mit seiner skrupellosen Propaganda getan hat. Herreisen von Hill, Petritsch und anderen. Ich weiß auch, wie in den Tagen um Ostern herum das Außen- Zu den Kriterien des Europäischen Parlaments zählte ministerium, die Mitarbeiter des Verteidigungsministe- im übrigen auch, daß die Operation so angelegt sein riums und die des Ministeriums für wirtschaftlichemuß, daß sie nicht Anlaß gibt, von den Vereinten Natio- Zusammenarbeit auch im Interesse der Stabilität dernen verurteilt zu werden. Die weiterführende Frage wird betroffenen Staaten versucht haben, gegen dieses ge-sein: Erlaubt die Souveränität des Staates im Konflikt wissermaßen alptraumhafte Ansteigen der Flut vonmit dem anderen Prinzip der Charta der Vereinten Na- Vertriebenen einen Damm zu bauen und Hilfe zu orga- tionen, nämlich der Ächtung von Verbrechen gegen die nisieren. Menschlichkeit, daß in diesem Staat Menschenrechte 2648 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 32. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. April 1999

Bundesminister Rudolf Scharping (A) mißachtet werden können? Haben wir es hier nichtVizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Zu einer (C) vielmehr mit einem objektiven Zielkonflikt zu tun, mit Kurzintervention erteile ich der Kollegin Lippmann von dem man sich auseinandersetzen muß? Erlaubt die Sou- der PDS-Fraktion das Wort. veränität des einzelnen Staates, daß er durch Vertrei- bung einer ganzen Bevölkerungsgruppe die Souveränität und die Integrität seiner Nachbarstaaten in GefahrHeidi Lippmann (PDS): Herr Minister Scharping, bringt, was im Fall von Mazedonien und Albanien ohne Sie haben unterstellt, die PDS-Fraktion habe nichts wis- Zweifel der Fall ist? sen wollen. Wir würden die Augen verschließen und einseitig Partei für Milosevic ergreifen. Brauchen wir nicht auch stärkere Mechanismen der (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) Krisenprävention? Denn der Kosovo – ich meine nicht die letzten drei oder vier Wochen; ich meine auch nicht Dies ist falsch, und dies weise ich im Namen der ge- die letzten drei oder vier Monate – ist ja auch ein Bei-samten PDS-Bundestagsfraktion, aber auch im Namen spiel dafür, daß man über Monate und Jahre hat sehender Partei der PDS ausdrücklich zurück. Denn wir ver- können, was sich dort anhäufte und anbahnte. Wer heute urteilen die Menschenrechtsverletzungen im Kosova beispielsweise den Artikel von Felipe González in der ebenso wie die in der gesamten Bundesrepublik Jugo- „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ liest, der wird ent- slawien, und dies nicht erst heute, sondern schon seit sprechende Hinweise aus der Sicht eines Beauftragten vielen Jahren. der OSZE finden. Der Herr Bundeskanzler wird sich vielleicht daran Brauchen wir nicht auch – ich stelle dies bewußt als erinnern, daß ich 1996 – damals noch im Niedersächsi- Frage – Mechanismen, um das Veto eines Atomwaffen- schen Landtag – für die Grünen einen Antrag einge- staates im Weltsicherheitsrat der Vereinten Nationenbracht habe, der sich dagegen gerichtet hat, daß Bundes- überwinden zu können? Oder wollen wir in Zukunft –außenminister Kinkel im Mai 1996 das Rücknahmeab- wie immer die Mechanismen im einzelnen aussehen – kommen mit Herrn Milosevic abgeschlossen hat, das die wirklich hinnehmen, daß eines der wenigen stabilisie- Rücknahme aller Flüchtlinge mit jugoslawischem Paß, renden Elemente in dieser Region, nämlich die Grenzsi- darunter serbische Deserteure sowie zu 80 Prozent cherungsmission der Vereinten Nationen in Mazedo- Flüchtlinge aus dem Kosova, Muslime aus dem Sand- nien mit dem Namen Unpredep, nur deshalb von China schak sowie Roma und Sinti, die alle geflüchtet waren, blockiert worden ist, weil Mazedonien in chinesischen vorsah. Daran erinnern Sie sich vielleicht, Herr Bundes- Augen die Leichtfertigkeit begangen hat, Taiwan völker- kanzler. Ihre Partei hat diesen Antrag, der darauf ab- rechtlich anzuerkennen? zielte, das Rücknahmeabkommen nicht zu unterzeich- nen, sondern über eine Bundesratsinitiative und auf in- (B) Der Bundespräsident hat gesagt: ternationaler Ebene diplomatisch zu verhandeln, mit(D) dem Ziel, im Kosova eine gewisse Teilautonomie zu- Indifferenz gegenüber Genozid zerstört die Grund- rückzugewinnen, abgelehnt. lagen dessen, was die eigene Gesellschaft zusam- menhält: das gemeinsame Verständnis von Recht Wir sind nach wie vor der Meinung – und erhalten und Moral. Europa würde an seiner Seele Schaden dafür viel mehr Unterstützung aus der Bevölkerung als nehmen, wenn es Völkermord und ethnische Säu- aus diesem Haus; aber es gibt ja mittlerweile auch eine berungen auf seinem Boden hinnähme. breite Unterstützung aus der SPD und den Reihen der Grünen –, daß die Bombardierungen militärischer und (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE ziviler Ziele in Jugoslawien und im Kosova nicht das GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P.) geeignete Mittel sind, den Frieden, der dringend erfor- derlich ist, herzustellen. Dadurch wird nicht ein Flücht- Es haben schon entsetzlich viele Menschen Schaden ling nicht vertrieben, nicht ein Mord geschieht weniger. genommen. Vielleicht gelingt es uns, in einem jahrelan- Wir bedauern dies sehr. Doch Bomben sind nicht das gen, dauerhaften Prozeß – angesichts dessen bitte ichMittel, diesen Frieden wiederherzustellen. Deswegen schon heute um die notwendige Aufmerksamkeit undappellieren wir, dringend politische Verhandlungen zu Konsequenz, die über Jahre hinweg aufrechterhaltenführen und auf die UN und die OSZE zu setzen und bleiben muß – diese Folgen bei denen zu lindern, dienicht weiter einseitig zu bombardieren. überleben. Vielleicht sind diejenigen, die ermordet wor- den sind, in diesen Jahren der dauerhaften Anstrengun- (Beifall bei der PDS) gen eine stete Mahnung dafür, daß der Balkan und Süd- osteuropa nur dann Frieden gewinnen, wenn die Prinzi- Herr pien der Schlußakte von Helsinki und die Erfahrungen Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Bundesminister Scharping, möchten Sie erwidern? aus der europäischen Integration in geeigneter Weise auf diesen Teil des europäischen Kontinentes übertragen werden. Denn Frieden ist nicht allein die Abwesenheit Rudolf Scharping, Bundesminister der Verteidi- von Gewalt. Frieden ist die Anwesenheit von Versöh-gung: Nein. nung. Das wird verdammt schwer, ist unausweislich und muß angepackt werden. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Dann (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE erteile ich als nächstem Redner dem Kollegen Karl GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P.) Lamers von der CDU/CSU-Fraktion das Wort. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 32. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. April 1999 2649

(A) Karl Lamers (CDU/CSU): Herr Präsident! Verehrte den Schein eines ursächlichen Zusammenhangs zwi-(C) Kolleginnen und Kollegen! Ich scheue mich nicht, es zu schen beiden herzustellen, der NATO das Gefühl zu sagen: Der eindrucksvolle Auftritt des Bundesverteidi- vermitteln, als habe sie das Gegenteil von dem erreicht, gungsministers belegt noch einmal sehr nachdrücklich, was sie bewirken wollte. Meine verehrten Kolleginnen daß es nur äußerst selten – wenn überhaupt jemals –und Kollegen von der PDS, genau diesen Eindruck be- eine kriegerische Auseinandersetzung gegeben hat, die fördern Sie mit Ihrem Antrag. Deswegen bin ich übri- so ausschließlich von moralischen Motiven getragengens dafür, daß wir ihn ablehnen und ihn nicht noch in war, wie das im Kosovo-Konflikt für die NATO-Länder die Ausschüsse überweisen. zutrifft. Selbst in den USA – sonst gut für jeden Ver- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- dacht – wird von keinem Ernstzunehmendem ein ordneten der SPD und der F.D.P.) geostrategisches Interesse oder ähnliches unterstellt – welches wohl auch? Unvorhergesehen – ich sage auch hier nicht: unvor- hersehbar – ist schließlich die – soweit erkennbar – fast Von den Kosten, die uns im Prinzip vorher bekannt totale Solidarisierung der Serben mit Milosevic. Wir alle waren, will ich ganz schweigen. Damit meine ich nicht betonen – und dies vollkommen zu Recht –: Wir führen in erster Linie die finanziellen Kosten, obwohl sie be- keinen Krieg gegen die Serben. Aber die Serben sehen trächtlich sind; vielmehr meine ich die politischen und das anders. Sie glauben zweifelsfrei, einen gerechten vor allem die psychischen Kosten. Nein, dieser Konflikt Krieg zu führen. Sicher ist das eine der gefährlichsten ist für den Westen, ist für seine Völker und ihren Zu- Folgen. sammenhalt eine außerordentliche Herausforderung. Er ist eine große Anstrengung, deren Ergebnis ungewiß ist Wie sind diese Reaktionen möglich? Ich werde dar- und die im besten Fall in ziemlicher Zukunft erst nach auf zurückkommen. Doch zuvor will ich auf die zweite weiteren großen Anstrengungen Früchte tragen wird. Regel des Krieges zu sprechen kommen, seine Neigung Also könnte doch trotz aller Mühen oder gerade um zum Äußersten, wie Clausewitz sagt, was in unserem ihretwillen unser Gewissen ruhig sein. Das sagt uns un- Fall den Einsatz von Bodentruppen meint. Im Sinne der ser Verstand. Aber unser Herz will nicht recht daraufgrausamen Logik des Krieges läge es, zu behaupten: hören. Wir alle sind unsicher und unruhig. Ich meineWer „A“ sagt, muß auch „B“ sagen. Brecht dagegen nicht nur jene Unruhe, welche die Ungewißheit jedenmeint: Wer „A“ sagt, muß nicht „B“ sagen. Er muß es in Krieges erzeugt. Es gibt noch eine andere Form von Un- der Tat jedenfalls dann nicht, wenn er es nicht kann. Die sicherheit in uns. Ich glaube, wir nähern uns ihr, wenn demokratisch verfaßten Völker, die wohlhabenden Völ- wir uns die Frage stellen und zu beantworten suchen,ker des Westens können es nicht, weil ihnen die psychi- weshalb wir nicht von Krieg sprechen wollen, wenn wir sche Disposition abgeht, die zum Kriegführen mit Toten notwendig ist, wenn es nicht unmittelbar um ihre eigene (B) die Gewaltanwendung der NATO gegen Milosevic mei- (D) nen. Existenz geht. Es ist müßig, darüber zu streiten, ob das ein Zeichen von Schwäche oder gar Dekadenz oder im Wir verstehen unter Krieg die Auseinandersetzungen, Gegenteil von Reife ist. Es kommt darauf an, wie wir die von Motiven und Zielen im Sinne handfester Interes- damit umgehen. Jedenfalls will ich nachdrücklich fest- sen getragen sind und die hier eben fehlen. Auch diestellen: Niemandes Verantwortung reicht weiter als sei- Terminologie vom „gerechten“ Krieg ist uns verleidet, ne Möglichkeiten reichen. Niemand muß mehr, als er hat sie doch allzuoft nur zur Bemäntelung solcher hand- kann. Diejenigen, die uns jetzt sagen: „Dann hättet ihr festen Interessen gedient. Aber natürlich müssen wir uns gar nicht erst anfangen sollen, überhaupt etwas zu tun“, darüber im klaren sein –, auch wenn dies kein Krieg im sind doch zumeist dieselben, die uns aufgefordert haben: herkömmlichen Sinne ist – daß doch die Regeln, die den „Jetzt müßt ihr endlich etwas tun.“ Ich bin sicher, es wä- Krieg bestimmen, gelten. Etwa, daß erstens das Unvor- ren auch dieselben, die uns auffordern würden, ganz hergesehene das Wahrscheinliche ist, daß zweitens der schnell Schluß zu machen, wenn es Tote gäbe. Daß es Krieg zum Äußersten neigt und daß schließlich drittens diese in einer bestimmten Größenordnung gäbe, die ich Klarheit und Wirklichkeitsnähe seiner Ziele über seinen nicht näher bezeichnen will, dessen bin ich mir sicher. Erfolg oder Mißerfolg entscheiden. Das erste haben wir Das gehört zur Ambivalenz der Stimmungen in demo- bereits erlebt; vor dem zweiten erschrecken wir, und an kratisch verfaßten Gesellschaften. Weil das so ist, ver- dem dritten mangelt es uns. ehrte Kolleginnen und Kollegen, bin ich, wie Wolfgang Schäuble, gegenüber einer allzu emotionalen Rhetorik Ja, wir haben uns getäuscht, vielleicht weil wir es und einem gewissen moralischen Überschuß skeptisch. wollten. Milosevic hat nicht schnell eingelenkt. Es mag Beide sind Elemente in dem Prozeß, der den Krieg zum ebensogut sein, daß er es schnell tut oder daß es noch Äußersten treibt. Sie drohen damit, das außer acht zu sehr lange dauert. Es funktioniert nicht wie in Bosnien. lassen, was möglich und damit das Eigentliche ist, das Das Unvorhergesehene war eben nicht das Unwahr- heißt, das politisches Ziel sein soll und sein kann. Über scheinliche. dieses kann man in den Verlautbarungen der NATO- Böse überrascht sind wir durch das Anschwellen der Länder nicht allzuviel lesen. Ich meine damit natürlich Flüchtlingszahlen seit den NATO-Luftschlägen. Zornig nicht die klare und vollkommen selbstverständliche For- sind wir wegen der Zahlen und des dahinterstehendenderung nach dem Ende der Kämpfe, dem Abzug der Elends, des Leids und der Not, und zutiefst konsterniert Streitkräfte der Serben, der Rückkehr der Flüchtlinge sind wir, weil Milosevic die NATO-Luftschläge nutzt, und der Stationierung einerinternationalen Schutz- um die schon lange geplante Vertreibung der Albanertruppe. Ich meine nicht alle Anstrengungen zur Beendi- mit brutaler Konsequenz umzusetzen und so auch noch gung von Vertreibungen und der Kämpfe und auch nicht 2650 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 32. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. April 1999

Karl Lamers (A) das, was jetzt etwas großspurig, wie ich finde, „Frie-früheren Jugoslawien hin. Deswegen brauchen wir end- (C) densplan“ genannt wird. Das alles ist richtig. Wir unter- lich ein Konzept für den Balkan insgesamt, so verständ- stützen dies einschließlich der Bemühungen, die Russen lich der Versuch war und ist, die einzelnen Brandherde wieder stärker einzubeziehen. Nein, ich meine das, was zu isolieren. Dies haben wir zuletztDayton- im danach kommt, den politischen Zustand nach dem Ende Abkommen mit der Ausklammerung des Kosovo ver- der Kämpfe. Ich meine eine tragfähige Grundlage fürsucht. Den Erfolg sehen wir jetzt. den Frieden. Dazu reichen auch nicht – so richtig es ist Was also bleibt als Lösung für den Kosovo: etwa sei- und sosehr wir es unterstützen – all die Pläne zur Unter- ne Teilung? Ich will dieser hier nicht das Wort reden, stützung dieses Zustandes des Friedens, also das, was sondern nur darauf aufmerksam machen, daß sowohl jetzt unter den Stichwörtern Stabilitätsvereinbarungen unser moralisches Unbehagen, von dem ich eingangs und Stabilitätspakt läuft. Solche Vorkehrungen können sprach, als auch die Unklarheit über unser politisches nur ein Fundament sichern helfen, welches das Einver- Ziel ein und demselben Dilemma entspringen, nämlich ständnis der Betroffenen findet, auch der Serben. Wie der Unvereinbarkeit unserer wechselseitigen Grundvor- wäre es um dieses Einverständnis aller Betroffenen be- stellungen vom Zusammenleben der Menschen unter- stellt, würden wir unsere Ziele nur gegen diese durch- schiedlicher Herkunft in politischen Gemeinschaften. kämpfen, etwa mit Bodentruppen? Alle Völker dort, die Kroaten, die Serben, die Bosniaken Wie steht es also mit diesem politischen Ziel, dessen und die Albaner, wollen nicht gemeinsam in einem Staat Klarheit und Wirklichkeitsnähe nicht nur über den Er- zusammenleben. Sie halten diese Einstellung, ein- folg und Mißerfolg des Krieges entscheidet – das zeigen schließlich der Bereitschaft zu Repression und Gewalt, alle historischen Erfahrungen –, sondern natürlich auch für moralisch ebenso legitim wie wir das Umgekehrte. die Aussichten auf ein Ende der Kämpfe verbessert oder Nicht, daß ich hier einem moralischen Neutralismus verschlechtert? Wir lesen von einem demokratischen, das Wort rede. Die Frage ist nur: Lassen sich andere zu multiethnischen Kosovo auf der Basis des Rambouillet- ihrem Glück zwingen? Gibt es ein objektives Glück? Abkommens. Oder bescheidener: Gibt es zumindest eine objektive Das multiethnische Kosovo wie auch das multiethni- Vernünftigkeit? sche Ex-Jugoslawien gab es nur unter Druck, also un- Wir, der Westen, stoßen auf dem Balkan auf eine an- demokratisch. Wie soll ein solches erst nach alldem, was dere Welt. Es ist die Ungleichzeitigkeit zweier Welten, vorgefallen ist, wieder möglich sein? Niemand kanndie die Lösung des Problems, vor dem wir im Kosovo daran noch glauben. Das hat übrigens für die albanische und in ganz Ex-Jugoslawien stehen, für uns so unglaub- Seite der Außenminister Albaniens soeben in Bonn aus- lich schwermacht. Wir werden es nur lösen, wenn wir drücklich bestätigt. Welche Folgen hat das für den poli- die Welt auch mit den Augen derjenigen zu sehen versu- (B) tischen Rahmen von Rambouillet, also für die Autono- chen, die uns so fremd sind und doch so nah – nicht nur (D) mie und die völkerrechtliche bzw. staatsrechtliche Zu- räumlich, sondern auch in bezug auf unsere eigene Ver- gehörigkeit des Kosovo zu Jugoslawien? Beides haben gangenheit. Müssen wir nicht auch Lösungen suchen, die Albaner, was ich absolut verstehen kann, nie wirk- die der jeweiligen Zeit entsprechen? lich akzeptiert. Sie haben das Abkommen von Ram- bouillet unterschrieben, weil sie wußten, daß die Serben Ich hoffe wirklich sehr, verehrte Kolleginnen und dies nicht tun würden. Aus ein und demselben GrundKollegen, die emotionale, die moralische Erregung, in haben die einen unterschrieben und die anderen nicht. der wir uns alle befinden, läßt Sie meine Worte nicht Von der vorgesehenen Stationierung einer NATO-mißverstehen, sondern läßt sie begreifen als die Auffor- Truppe befürchteten die Serben, was die Kosovaren er- derung, auch das Schwerste zu wagen, um den Krieg, hofften: daß dies ein erster Schritt zur Loslösung desdie Vertreibung, das Elend und Leid zu beenden und Kosovo von Jugoslawien sein könnte. In einem solchen Frieden dauerhaft zu begründen, nämlich die eigenen unabhängigen Kosovo als Zwischenschritt zu einem An- Vorstellungen in ihrer Absolutheit in Frage zu stellen: schluß an Albanien würde mit Sicherheit kein Serbe (Beifall der Abg. Dr. [BÜND- mehr leben wollen, selbst wenn wir jedem von ihnen NIS 90/DIE GRÜNEN]) versprächen, ihm einen westlichen Polizisten an die Seite zu stellen. nicht unsere Werte, sondern unsere Vorstellung von ih- rer Umsetzung in einer ihnen feindlichen Welt. Übrigens gibt es auch kaum mehr Serben in der kroa- tischen Krajina – etwas, was wir stillschweigend hinge- Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. nommen haben. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, dem (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/ BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der DIE GRÜNEN]: Genau!) F.D.P.) Und wie es mit der dauerhaften Rückkehr der bosni- schen Flüchtlinge in ihre jeweiligen Heimatorte mit Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als einer inzwischen anderen ethnischen Zusammensetzung nächster Redner hat der Kollege Gernot Erler von der bestellt ist, will ich, verehrte Kolleginnen und Kollegen, SPD-Fraktion das Wort. nur als Frage aufwerfen. Die Erinnerung an diese Tatsachen weist übrigens auf Gernot Erler (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolle- den Zusammenhang der einzelnen Konfliktfelder imginnen und Kollegen! Von dieser Debatte muß ein dop- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 32. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. April 1999 2651

Gernot Erler (A) peltes Signal der Entschlossenheit ausgehen: einerseits, Vorgängers Viktor Tschernomyrdin als Sonderbeauf-(C) weiter dem Feldzug der serbischen Führung gegen die tragten. eigene Bevölkerung entgegenzutreten, auch mit militäri- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten schen Mitteln, bis Milosevic seine Entvölkerungspolitik der F.D.P.) im Kosovo aufgibt; andererseits, alles zu tun, daß die Notwendigkeit der Luftangriffe so schnell wie möglich Ich appelliere jetzt an die russische Führung, anzuer- durch internationale politische Anstrengungen abgelöst kennen, daß der Westen bei der Frage der Zusammen- wird. setzung der Sicherheitskräfte sich bewegt hat, daß jetzt die Forderung nach einer Art von Teilnahmeverbot von Der Friedensplan der Bundesregierung – es ist wirk- NATO-Ländern insgesamt keinen Sinn macht, weil ohne lich ein Friedensplan, Kollege Lamers – kommt im rich- die technischen Voraussetzungen und Fähigkeiten der tigen Moment. Es gibt Ernüchterung darüber, was die NATO eine solche große Operation im Kosovo zum Luftangriffe nach drei Wochen haben bewirken können. Schutz der Wehrlosen nicht möglich ist und – darauf Die Feststellung, daß die Ziele, die damit verbunden wa- wurde schon hingewiesen – die Frage des Vertrauens ren, nicht erreicht worden sind, ist richtig. Aber die Un- der Rückkehrwilligen tangiert ist. Man kann ihnen ja gar nachgiebigkeit, die Entschlossenheit von Milosevic, das nicht zumuten, in ein Umfeld zurückzukehren, wo sie verbrecherische Vorgehen fortzusetzen, dauert an. Auch nicht eine internationale Garantie für ihre Sicherheit ha- diese Erfahrung mußte der Kollege Gysi in Belgrad ben. Ich appelliere an die russische Führung, über ihre noch einmal machen. Das bedeutet: Der Druck muß Zustimmung zu dem Friedensplan nun nicht in Belgrad fortgesetzt werden, weil es sonst überhaupt keine politi- entscheiden zu lassen. Das ist nicht möglich; wir wissen, sche Lösung gibt. was das bedeutet. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Ich appelliere auch an die Vereinigten Staaten und an Das Nadelöhr ist nach wie vor die Beendigung der mili- unsere westlichen Partner: Es kann jetzt nicht um die tärischen Aktionen von Milosevic gegen die eigene Be- Frage des Vaterrechts für bestimmte Vorschläge gehen, völkerung und die Zulassung, daß ein sicheres Umfeld die uns aus dem Dilemma herausführen. Wir sind ja be- für die Rückkehr der Flüchtlinge geschaffen wird. So- reit, auch über Änderungen zu reden. Aber ich appelliere lange dazu keine Bereitschaft besteht – die gibt es leider an sie, daß sie jetzt den Abstimmungsprozeß über diesen bis heute nicht –, muß der militärische Druck fortgesetzt Friedensplan beschleunigen mögen. werden. Das Grundkonzept ist doch vernünftig und muß doch Wenn es in dieser Düsternis einen Lichtblick gibt,konsensfähig sein, nämlich UN-Mandat, Einbeziehung dann ist es der, daß in den letzten Tagen die Dynamik in der Russischen Föderation und frühestmögliche Feuer- (B) den politischen Prozeß hineingekommen ist, die wir uns pause. Das ist ein Konzept, das jetzt viele Hoffnungen(D) schon lange wünschen. Fast im Stundentakt finden Be- weckt, und sie dürfen nicht enttäuscht werden. gegnungen statt: zwischen Albright und Iwanow, zwi- (Beifall bei der SPD) schen Fischer und Tarasjuk, zwischen den europäischen Regierungschefs und Kofi Annan. Im Zentrum steht nun Trotz vieler Hoffnungen, liebe Kolleginnen und Kol- ein deutscher Vorschlag, der ein UN-Mandat will, der legen – Herr Lamers hat dies eben auch so ausgedrückt Rußland in die politische Arbeit zurückbringen will und –, gibt es ein tiefsitzendes Unbehagen bei vielen von uns der eine Feuerpause bei Beginn des Abzugs der jugo-darüber, wie wir überhaupt in diese Situation geraten slawischen Truppen vorsieht. sind. Wie kam es denn, daß nach und nach die politi- schen Optionen immer weniger wurden, daß dann nur Was sind die besonderen Kennzeichen diesesFrie- noch eine militärische Drohung übrigzubleiben schien densplans? Zunächst: Es soll eine weltweite Verant- und daß am Ende, weil diese Drohung nicht funktio- wortung für den Konflikt etabliert werden. Der traditio- nierte, das Angedrohte wahrgemacht wurde? Ein Modell nelle Freund und Vertrauenspartner Serbiens, nämlich internationaler Politik, das nach diesen Abläufen funk- Rußland, soll eine entscheidende Rolle spielen. Und – tioniert, ist defizitär. Das haben wir nach Beendigung ganz wichtig – eine kontrollierte Unterbrechung der dieses Konflikts aufzuarbeiten. Luftangriffe soll zum frühestmöglichen Zeitpunkt mög- lich werden. Außerdem sieht dieser Vorschlag der Bun- Aber einige wenige Punkte lassen sich heute schon desregierung vor, Garantien gegen die Einseitigkeit zu feststellen. Es gibt ein Mißverhältnis zwischen unseren geben. Die UCK soll zum frühestmöglichen Zeitpunkt, Fähigkeiten zu einer militärischen Intervention auf der nämlich wenn die internationalen Friedenskräfte im Ko- einen Seite und den Fähigkeiten zu vorausschauender sovo einrücken, entwaffnet werden. Friedenspolitik und Krisenprävention auf der anderen Seite. Das ist eine gefährliche Entwicklung des interna- An dieser Stelle möchte ich einen Appell an die russi- tionalen Systems. sche Regierung richten. Ich möchte zum Ausdruck brin- gen, daß wir Grund für einen großen Respekt für die In der Tat war der Konflikt im Kosovo lange voraus- Haltung von Primakow und der russischen Regierungzusehen. Er hat – das ist eben noch einmal gesagt wor- haben. Es gehört Mut dazu, dem proserbischen Populis- den – 1989 durch die Abschaffung des Autonomiestatuts mus im eigenen Land Widerstand entgegenzubringen. angefangen. Danach aber hat schon Milosevic eine Man muß anerkennen, welche Vermittlungsversuchestrukturelle Vertreibungspolitik gegen die Kosovo- schon gemacht worden sind – mit der Reise von Prima- Albaner durchgeführt. Sie hatten keine eigenen Schulen kow selbst, aber auch jetzt mit der Einsetzung seinesmehr, keine eigenen Universitäten mehr; sie wurden aus 2652 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 32. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. April 1999

Gernot Erler (A) ihren eigenen Krankenhäusern und von ihren Arbeits-vorhanden ist, mit dem politisches Wohlverhalten prä- (C) plätzen vertrieben. Lange Zeit hat die Vertretung dermiert werden kann. Kosovo-Albaner im Westen dafür geworben, einen Diese Isolierungspolitik hat sich als verhängnisvoll Blick darauf zu werfen, etwas zu tun. Es handelte sich erwiesen. Man kann auch sagen: Aus dieser Aufschau- um eine gemäßigte Führung. kelung ist Serbien zu einem ersten europäischen „Schur- An dieser Stelle möchte ich eine Forderung zumkenstaat“ geworden. Ich habe den Bedarf, auch mit un- Ausdruck bringen: Wir fordern von diesem Platz imseren amerikanischen Freunden die Rogue-Doktrin, die Deutschen Bundestag die serbische Führung auf, Herrn Schurkenstaatstheorie zu diskutieren. Diese Politik hat Ibrahim Rugova, der der Führer dieser gemäßigten Ver- sich als nicht gerade hilfreich erwiesen. tretung war, sofort die Freiheit zu geben und seine De- Nach dem Systembruch von 1989, nach dem Ende mütigung zu beenden. des kalten Kriegs, das mit soviel positiven Erwartungen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten verknüpft war, müssen wir heute – zehn Jahre danach – des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der feststellen: Die Hemmschwelle, militärische Drohungen F.D.P. und des Abg. Dr. Ilja Seifert [PDS]) oder sogar die Anwendung militärischer Gewalt zur Verfolgung von politischen Zielen zu nutzen, ist gesun- Wir wissen, daß der Westen nicht die Kraft gefunden ken. Das ist eine sehr nüchterne Bilanz. Das heißt, es ist hat, im Kosovo präventiv einzugreifen. Das hat nachher zu einer Alltagserscheinung geworden, aber die Bilanz zu der Radikalisierung auch der Kosovo-Vertretung und ist fragwürdig und der Weg gefährlich. zur Bildung der Ushtria Climentare e Kosoves, das heißt der Befreiungsarmee des Kosovo, die wir unter der Ab- (Beifall des Abg. Hans-Christian Ströbele kürzung UCK kennen, geführt. Das bedeutet: Die Vor- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) geschichte ist auch die Vorgeschichte des Wegsehens, Für mich heißt das: Es gibt keine Alternative zur des Scheiterns von Prävention gewesen. Anders ausge- Weiterverfolgung eines Gewaltmonopols für die Ver- drückt: Wir sprechen beim Einsatz von militärischen einten Nationen. Es müssen aber andere Vereinte Natio- Mitteln von der Ultima ratio. Die Frage lautet: Wie ist es nen sein als die, die wir jetzt haben. Das Vetorecht der um die Stärke der Ratio bestellt, die davorzustehen hat? fünf Atomstaaten – ein Relikt aus dem zweiten Welt- Wir stellen fest, sie ist zu nackt. krieg – hat sich als verhängnisvoll erwiesen. Ein Beispiel dafür gibt dieOSZE, die Einrichtung, (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des die am ehesten in der Lage ist, präventiv tätig zu wer- Abg. Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/ den. In diesem Konflikt war die OSZE nicht in der Lage, DIE GRÜNEN]) 2 000 unbewaffnete Beobachter innerhalb von fünf Mo- (B) naten in den Kosovo zu bringen. Als die Mission been- Das Verhalten der Chinesen ist schon angesprochen(D) det wurde, waren dort 1 380, das sind nur zwei Drittel. worden. Wir müssen durch eine Reform der Vereinten Ich klage die OSZE nicht an. Ich sage eher: Für uns ist Nationen, die wirklich auf der Tagesordnung steht, end- es eine Mahnung, die OSZE endlich zu stärken, damitlich erreichen, daß diese wichtige Weltorganisation, die die präventiven Aufgaben wahrgenommen werden kön- unverzichtbar ist, tatsächlich die Verantwortung, die sie nen. über das Gewaltmonopol innehat, wahrnehmen kann. Das ist eine wichtige Zwischenbilanz der Erfahrungen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der letzten Wochen. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ich komme zu den Aufgaben des Tages zurück. Der Ich begrüße ausdrücklich die wirklich notwendige Friedensplan der Bundesregierung, die großen Leistun- Initiative, einen Stabilitätspakt für den ganzen Balkan gen zur Flüchtlingshilfe und der perspektivisch ange- zu begründen, aber in Zukunft dürfen die Stabili- legte Stabilitätsplan für den Balkan besetzen im Augen- tätspakte nicht auf die Tagesordnung kommen, wenn es blick den Hoffnungsplatz in der aktuellen Situation. darum geht, Zerstörungen aufzuarbeiten. Statt dessen Diese drei Ansätze sind eine Handschrift dieser Regie- hätten wir ihn vorher gebraucht, aber auch das zeigt die rung. Ich finde, sie verdienen das Vertrauen und die Schwäche der präventiven Fähigkeiten. Unterstützung des Deutschen Bundestages. Die SPD- In diesem Zusammenhang möchte ich noch einenFraktion jedenfalls unterstützt diesen Weg nachhaltig. Punkt ansprechen: In der Vorgeschichte des Konflikts (Beifall bei der SPD) hat es die Isolierung der serbischen Regierung gegeben. Die Hauptverantwortung – das möchte ich ausdrücklich Ich möchte abschließen, indem ich mich mit einem betonen – trägt dafür die serbische Führung selbst, esWort an die etwa 500 000 Serben in der Bundesrepublik war ein Akt der Selbstisolierung. Der Westen aber hat es Deutschland wende: Ich finde, sie sind in einer sehr nicht vermocht zu verhindern, daß sich Isolierung und schwierigen Lage. Sie haben zwischen verschiedenen Selbstisolierung zu einer Situation aufgeschaukelt ha-Solidaritäten zu entscheiden. Sie erleben übrigens auch ben, in der man Milosevic mit politischen Argumenten, – das wird leider zu selten erwähnt –, daß Milosevic im auch mit politischen Drohungen, nicht mehr erreichen Windschatten der Kriegsereignisse einen radikalen Pro- konnte. Man nennt so etwas eine No-win-Situation. Das zeß mit der oppositionellen Intelligenz in Serbien macht ist eine Situation, in der bei den besten Argumenten das – ein Verlust, unter dem Serbien noch lange wird leiden Motiv fehlt, um positiv zu reagieren, weil nichts mehr müssen und den wir ebenso anprangern müssen wie das Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 32. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. April 1999 2653

Gernot Erler (A) Vorgehen im Kosovo gegen die dortige albanische Be- Auch das zweite formulierte Ziel hat die NATO nicht (C) völkerung. erreicht, nämlich die jugoslawische Unterschrift unter das Rambouillet-Abkommen herbeizubomben. Dieses Ich möchte hier zum Ausdruck bringen: Wir wollen, Ziel scheint inzwischen überholt; trotzdem wird weiter daß Serbien in Zukunft – so schwer das heute im Kon- bombardiert. text der jetzigen Entwicklung und der Erfahrungen mit Milosevic zum Ausdruck zu bringen ist – Teil der euro- Daß die NATO auf das Scheitern ihrer politischen päischen Gesellschaft ist. Wir haben einen hohen Re-Ziele mit der Verstärkung der Luftangriffe reagiert, er- spekt vor der Kultur der Serben aus vielen Jahrhunder- schreckt mich. Wo ist der Ausstieg aus dieser hochris- ten, vor ihrem kulturellen Beitrag zur europäischen Ge- kanten Eskalationslogik? Ist das Ziel der NATO erst er- schichte. Wir wollen denIntegrationsprozeß sofort reicht, wenn die jugoslawische Regierung fällt? Das nach der Beendigung des Konfliktes – dieser Punkt be- hieße nicht nur Bombardierung bis zum Ende, das hieße trifft auch den Stabilitätspakt – fortsetzen. Das ist eine auch Einsatz von Bodentruppen mit den damit verbun- Botschaft an die vielen serbischen Mitbürger unter uns, denen Risiken, die kein Mensch wirklich verantworten die auch lauten soll: Es wird kein Krieg gegen Serbien kann. Schon aus unserer historischen Verantwortung geführt, sondern ein Krieg gegen ein unverantwortliches heraus müssen wir alles tun, damit es nie mehr zum Ein- Regime. satz von Bodentruppen in Jugoslawien kommt. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Beifall bei der PDS) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Das ist die rote Linie, die Rußland markiert hat. Schon jetzt kann der Funke jederzeit in der Region übersprin- gen: nach Albanien, nach Bosnien, nach Montenegro, Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als nach Mazedonien – ein Funke, der zum Brand werden nächste Rednerin hat die Kollegin Annelie Buntenbach, kann. Bündnis 90/Die Grünen, das Wort. Wir müssen aus dieser militärischen Eskalationslogik, die die Chancen zu einer tragfähigen politischen Lösung Annelie Buntenbach (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- verschlechtert, aussteigen. Die Position von Milosevic NEN): Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! ist durch die NATO-Angriffe gestärkt worden. Der Wir – hier spreche ich für eine Minderheit in meinerHandlungsspielraum der serbischen Opposition, die wir Fraktion – fordern die sofortige Einstellung der Luftan- doch genau wie die friedlichen kosovo-albanischen griffe der NATO auf Jugoslawien und die Rückkehr an Kräfte dringend stärken müßten, ist zunichte gemacht. den Verhandlungstisch. (B) Der Kollege Hirsch hat von dieser Stelle aus bei der(D) (Beifall bei Abgeordneten der PDS) Entscheidung zu „act ord“ der NATO am 16. Oktober 1998 seine Befürchtung formuliert, daß durch die völ- Wir wollen die Einstellung aller Kampfhandlungen er- kerrechtswidrige Selbstmandatierung der NATO das reichen. Jede diplomatische Initiative, jede internatio- Völkerrecht auf den Stand vor der Gründung der UN zu- nale Vermittlung, die zu einer politischen Lösung des rückzufallen drohe. Wir beschädigen diejenigen Instru- Konflikts führen kann, hat unsere Unterstützung. Nur mente, die wir dringend brauchen, wenn wir internatio- Politik kann die Logik der in ihren Konsequenzen un- nal handlungsfähig sein wollen, auch und gerade zivil überschaubaren Eskalationsschritte, die jetzt vor unseren international handlungsfähig. Wären sich die West- Augen ablaufen, durchbrechen. Militärische Mittel wer- mächte in den letzten Jahren in ihrer zivilen Jugosla- den uns nicht aus der Sackgasse herausführen, sondern wienpolitik so einig gewesen, wie es jetzt bei diesem nur immer tiefer herein. Krieg der Fall ist, dann sähe die politische Situation in (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES der Region mit Sicherheit ganz anders aus. 90/DIE GRÜNEN – Beifall bei der PDS) (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES Seit inzwischen 22 Tagen steht die Bundesrepublik 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der PDS) Deutschland zum erstenmal seit Ende des zweitenUm die schon seit langem schwelenden Konflikte Weltkrieges in einem Krieg, bombardiert die NATO Ju- wirklich ernsthaft lösen zu können, brauchen wir eine goslawien. Das formulierte Ziel, die humanitäre Kata- Balkankonferenz unter Federführung der UN und Un- strophe zu verhindern, hat sie damit nicht erreichenterstützung beim wirtschaftlichen Wiederaufbau. Aber können. Der unsäglichen ethnischen Vertreibungspolitik davor müssen wir alles für die humanitäre Hilfe der von Milosevic hat sie nicht Einhalt geboten. VielmehrFlüchtlinge und dann für ihre gesicherte Rückkehr tun. muß sie sich nach drei langen Wochen der Bilanz stel- Ein ausgehandeltes und unterzeichnetes Friedensab- len, daß sich während der Luftangriffe die Situation ge- kommen, das wir uns alle wünschen, wird internationale rade für die Zivilbevölkerung und für die inzwischenAbsicherung brauchen. Allerdings kommt dafür nicht zahllosen Flüchtlinge noch verschlimmert hat. Auchdie NATO in Frage; denn sie ist spätestens mit den Krieg ist Menschenrechtsverletzung. Die chirurgische Luftangriffen zur Kriegspartei geworden. Bombardierung, den sauberen Computerkrieg, der zivile Opfer, Tod und Zerstörung ausschließen würde, gibt es (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- in der Realität nicht. SES 90/DIE GRÜNEN und der PDS) 2654 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 32. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. April 1999

Annelie Buntenbach (A) Auch wenn die OSZE oder die UNO diese Absiche- Generalsekretär der Vereinten Nationen der NATO-(C) rung übernehmen würde, sollten die NATO-StaatenInitiative nicht widersprochen hat, sondern ganz im Ge- nicht die tragende Rolle bei einem solchen Einsatz über- genteil bereit ist, mit seinen Mitteln und Möglichkeiten nehmen. Der erste Schritt hin zu einem solchen Szenario für eine Vermittlungsaktion zur Verfügung zu stehen. ist die sofortige Einstellung der Luftangriffe, die Ein-Diese Aktion kann nur dann als vermittelnd bezeichnet stellung aller Kampfhandlungen und die Rückkehr anwerden, wenn das Recht durchgesetzt wird. Nicht nur den Verhandlungstisch. die Tatsachen, sondern auch das Völkerrecht sprechen in diesem Vorgehen der NATO für sich. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN und der PDS) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Man braucht hier kein schlechtes Gewissen zu haben. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als Das schlechte Gewissen liegt bei Herrn Milosevic. Die nächster Redner hat der Kollege Christian Schmidt von Schuld für die Toten liegt auch bei Herrn Milosevic. der CDU/CSU-Fraktion das Wort. Um aber der Gefahr einer stufenweisen Eskalation bis hin zu einem Pulverfaß Balkan, das nicht nur in diesem Christian Schmidt (Fürth) (CDU/CSU): Herr Präsi- Jahrhundert, sondern auch schon in den vergangenen dent! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe Jahrhunderten viele Konflikte in Europa verursacht hat, mich noch einmal versichert, daß meine Vorrednerin für zu entgehen, müssen wir in unserem eigenen Frie- eine Partei der Regierungskoalition gesprochen hat. Die densinteresse jetzt handeln. Daß es dabei keine Auto- Töne, die sie angeschlagen hat, passen nicht gerade zu matik des Handelns geben darf gemäß der Vorstellung, dem, was ihr Außenminister zu Beginn dieser Debatte in ein erster Schritt ist getan und im Sinne eines unerbittli- eindrucksvollen Worten gesagt hat. chen Ablaufes müßte die Eskalation ad infinitum voran- gehen, ist ein anderer Punkt. Die Politik muß nach wie (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und vor die Aktivitäten beherrschen und auch die Weisheit der F.D.P. – Jörg van Essen [F.D.P.]: Jetzt und Klugheit besitzen, sie zu kanalisieren, wenn sie unterstützt die Opposition diese Politik!) nicht mehr kontrollierbar sind. Diese Frage ist nach Wir jedenfalls unterstützen in tatsächlicher und rechtli- dem, was wir hören, berücksichtigt. Wir unterstützen die cher Hinsicht das, was BundesverteidigungsministerBundesregierung und das Bündnis, die NATO insge- Scharping auch zu rechtlichen Fragen dargelegt hat. samt, in dieser Frage. Ich möchte eines unterstreichen: Frau Kollegin Bun- Wir wissen, daß bei allen weiteren Entscheidungen der Bundestag noch einmal gehört werden und entschei- (B) tenbach, Ihr Verdikt, die Weltordnung würde auf die (D) Zeit vor der Verabschiedung der Charta der Vereinten den muß. Wir werden dann, wenn der Bundestag noch Nationen zurückgeworfen, entbehrt jeder Realität, weil einmal gefragt werden muß, in aller Sorgsamkeit und die Lückenhaftigkeit dieser Ordnung – sie war schon in mit Bedachtsamkeit autonom entscheiden, welche an- ihrem Zustandekommen angelegt – bis heute nicht völlig gemessenen Möglichkeiten und welchen Rahmen wir beseitigt ist. Ich bin dem Verteidigungsminister sehrfür unser Handeln im Kosovo sehen. dankbar, daß er hier einige Fundstellen genannt hat, die Herzlichen Dank. darauf durchaus bezogen werden können. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Gehen wir von der uns alle bewegenden Frage, wie ordneten der F.D.P.) wir die Menschenrechte dort schützen können, über zur Frage, welche Gefahren für den Frieden in Europa, für Montenegro, möglicherweise für Albanien und für Ma- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als zedonien von einer uneingedämmten Entwicklung imnächster Redner hat der Kollege Eberhard Brecht von Kosovo à la Milosevic ausgehen. Wir kommen zur Fra- der SPD-Fraktion das Wort. ge des europäischen Interesses an der Eindämmung ei- nes solchen Konfliktes. Dr. Eberhard Brecht (SPD): Sehr geehrter Herr Die Gefahr der Internationalisierung, die nicht nurPräsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kolle- theoretisch-abstrakt besteht, sondern seit dieser Woche gen! Ich glaube, die erneute Debatte am heutigen Tage mit den Übergriffen auf albanische Dörfer praktisch ge- über das Thema Kosovo ist überfällig. Der Konflikt worden ist, haben wir bereits vor einiger Zeit, bei unse- selbst ist so brennend, daß sich das Parlament nicht her- ren Diskussionen im letzten Jahr, behandelt. Damals ha- aushalten darf. Wir müssen die Exekutive bei diesem ben wir gesagt: Hinsichtlich einer tragfähigen Rechts- Prozeß kritisch begleiten. Die Entwicklung der letzten grundlage kommen wir in die Reichweite des Art. 51 der Tage und Stunden hat, wie ich denke, gezeigt, wie Charta der Vereinten Nationen, den Sie alle gut kennen. wichtig diese Debatte ist. Es geht dort um das Recht aufkollektive Selbstvertei- digung, also um den Schutz vor Aggressionen. Parallel dazu gibt es auch eine Debatte in der deut- schen Bevölkerung, die sehr emotional geführt wird, In diesem Punkt stimmt das europäische Interesseweil sie das eigene Selbstverständnis betrifft. Diese De- durchaus mit dem Interesse der Weltgemeinschaft über- batte wird an Hand von drei Kriterien geführt: Es ist das ein. Deswegen ist es nicht mehr als konsequent, daß der Kriterium der völkerrechtlichen Legitimation, es ist das Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 32. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. April 1999 2655

Dr. Eberhard Brecht (A) Kriterium der Effektivität dessen, was wir tun, undEntschließungsantrag der PDS wieder einmal deutlich(C) schließlich ist es das Kriterium der Moral. gemacht. Zum ersten Kriterium: Ich warne davor, daß wir trotz (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten persönlicher Betroffenheit und Emotionalität das Di- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der lemma hinsichtlich der völkerrechtlichen Legitimation CSU/CDU und des Abg. Günther Friedrich einfach nicht anerkennen wollen, wie es eben bei Herrn Nolting [F.D.P.]) Kollegen Schmidt der Fall war. Natürlich gibt es keinen Ich kann auch nicht akzeptieren, wenn Herr Kollege seriösen Völkerrechtler, der sagt, diese Legitimation sei Gysi hier sagt, die Datenlage sei so schwach. Natürlich klar und eindeutig vorhanden. Es gibt sie in der ge- gibt es auch gefälschte Daten. Natürlich hat auch die wünschten Eindeutigkeit nicht. Wir sind gut beraten, UCK ein Interesse an gefärbten Informationen. wenn wir diese rechtliche Debatte nicht beiseite schie- ben und sagen, das sei politikferner Legalismus und die (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Weltgeschichte sei kein Amtsgericht, sondern wir müs- GRÜNEN]: Die NATO auch!) sen uns dem Dilemma stellen. Die Debatte am 16. Okto- ber letzten Jahres hat ja auch gezeigt, daß die Mehrheit Aber die Daten, die als gesichert angenommen werden der Befürworter eines Einsatzes und seiner Androhung können, reichen aus, um hier klar Position zu beziehen. dieses Dilemma tatsächlich auch so gesehen hat. Ich habe auch ein Problem mit derReise von Herrn Als Konsequenz aus diesem Dilemma müssen wirGysi nach Belgrad. Man mag darüber schwadronieren, uns die Frage stellen, wie wir in Zukunft mit ähnlichen ob es sehr sinnvoll ist, als Vertreter einer sehr kleinen Situationen umgehen. Wir sind gut beraten, wenn wirOppositionspartei in dieser Situation mit Herrn Milose- die vielen Vorschläge, die von seiten der Politikwissen- vic zu reden. Aber ich habe kein Verständnis dafür, schaft und von Völkerrechtlern unterbreitet wurden, eine wenn Herr Gysi nach Belgrad reist und sich dort demon- humanitäre Intervention völkerrechtlich zu legalisieren, strativ in einer zerstörten Autofabrik filmen läßt. Das auch aufnehmen und endlich in einen internationalenbedeutet doch nichts anderes, als daß wir die These von Diskussionsprozeß über diese ganz wichtige Frage ein- Milosevic – so ist es auch im serbischen Fernsehen dar- treten. gestellt worden – stützen, die NATO führe einen Krieg gegen das serbische Volk und gegen seine ökonomi- Ein zweiter Diskussionsstrang betrifft dieEffektivi- schen und zivilisatorischen Grundlagen. Genau das be- tät dessen, was wir tun. Auf der einen Seite besteht ein absichtigt die NATO nicht. hohes Risiko für die Soldaten und das Risiko der Eska- lation. Das ist hier heute mehrfach erwähnt worden. Au- (Widerspruch bei der PDS – Hans-Christian ßerdem haben die westlichen Staaten einen sehr hohen Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das (B) materiellen Aufwand zu erbringen. tut sie aber!) (D) Auf der anderen Seite stehen die Ziele, die wir ei-Deswegen denke ich, daß uns Herr Gysi hier einen gentlich erreichen wollen. Es ist zu Recht gesagt wor-schlechten Dienst erwiesen hat. den, diese Ziele sind bisher nicht erreicht worden. Das (V o r s i t z : Vizepräsidentin Petra Bläss) Abkommen von Rambouillet ist nicht unterschrieben, und das Töten und Vertreiben geht weiter. Als jemand, der am 16. Oktober letzten Jahres aus grundsätzlichen Erwägungen heraus dem damals noch Umgekehrt muß man aber einmal fragen: Was hätte hypothetisch erscheinenden Einsatz der NATO nicht zu- denn passieren sollen? Hätten wir mit Bodentruppengestimmt hat, möchte ich eines noch klarstellen: Ich einmarschieren sollen oder die Belgrader Luftabwehrhalte nichts von der von Frau Kollegin Buntenbach und ignorieren und ein hohes Risiko für die deutschen Sol- anderen Abgeordneten geforderten sofortigen Unterbre- daten eingehen sollen? Das wäre eine unverantwortliche chung der NATO-Luftangriffe. Genau dies würde dazu Politik. Ich kann nur davor warnen, mit diesem Tot-führen, daß die Vertreibungen weitergehen. schlagargument die NATO abstrafen zu wollen. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Viel wichtiger ist – ich glaube, das ist der wichtigste GRÜNEN]: Gehen sie jetzt nicht weiter?) Punkt in der innerdeutschen Diskussion – die Frage der moralischen Legitimation. Hier treffen zwei Grunder- Genau dies würde wiederum den Druck zurücknehmen, fahrungen, die die Nachkriegsgenerationen gewonnen den wir auf Milosevic ausüben müssen, um tatsächlich haben, aufeinander: Die eine besagt, Deutsche solltenzu einer Annahme des Friedensplanes zu gelangen nie wieder an einem Krieg beteiligt sein. Die andere be- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) sagt, nie wieder wegzuschauen, wenn man an Au- schwitz, Majdanek oder an andere Konzentrationslager Ich sehe in dem jetzt vorliegenden Fischer-Plan eine denkt. Ich denke, beide Ansätze sind legitim. Man sollte reale Chance für eine noch in weiter Ferne befindliche sie sehr ernst nehmen, weil sie aus einer persönlichenBefriedung des Kosovo. Es gibt zum einen die Gefahr Betroffenheit herrühren. Aber ich habe wenig Verständ- des Kombattantentums der NATO. Mit jedem Tag, an nis dafür, wenn die Gegner der NATO-Luftangriffe,dem dieser Krieg weitergeführt wird, mit jeder Bombe, Teile der Friedensbewegung in der PDS, die NATO kri- die auf eine militärische Einrichtung fällt, und mit jedem tisieren, aber die Vertreibungen und das grauenhaftezerstörten serbischen Panzer werden wir mehr zu Kom- Morden, die durch Milosevic und seine Soldateska ge- battanten der UCK. Unser Ziel ist es nicht, Partei zu er- schehen, nicht einmal erwähnen. Diese Haltung hat der greifen oder die Kriegsziele der einen oder anderen 2656 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 32. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. April 1999

Dr. Eberhard Brecht (A) Konfliktpartei zu unterstützen; vielmehr haben wir ein ten, den aus dem Kosovo Vertriebenen beizustehen so- (C) Interesse an der Wiederherstellung der Menschenrechte, wie die Not und das Elend nach Kräften zu lindern. Die am Stopp des Vertreibens und am Ende des Tötens. Leiden der Menschen – unter ihnen viele Kinder und Ju- gendliche – dürfen uns nicht gleichgültig lassen. Des weiteren sehe ich, daß Milosevic eine Chance hat, ohne Gesichtsverlust diesem Plan zuzustimmen. Die Meine Damen und Herren, die Kosovo-Krise hat UNO ist einbezogen und damit auch Rußland. Schließ- nicht – wie wir alle wissen oder jedenfalls wissen kön- lich ist die Frage des Status des Kosovo bewußt offen- nen – erst in diesem Jahr begonnen. Auch die Vertrei- gelassen worden, um ihn im Rahmen einer Friedenskon- bungen haben nicht erst in diesem Jahr begonnen. ferenz zu klären. Die bisherigen Reaktionen auf den Fi- scher-Plan sind nicht so heterogen, als daß man mit ihm Innerhalb der Europäischen Union besteht seit jeher nicht Hoffnungen verbinden könnte. Ich hoffe, wirEinmütigkeit, daß Hilfe für die Vertriebenen in erster kommen zu einem guten Ende. Linie in der Region geleistet werden soll. Gleichwohl hat in der Vergangenheit eine große Anzahl von Flücht- Die offene Frage des Status ist natürlich ein Risiko. lingen, die auf hunderttausend Menschen geschätzt wer- Kollege Lamers hat vorhin zu Recht auf einen Umstand den, in Westeuropa Zuflucht gefunden. Der Grundsatz, hingewiesen: Es ist für uns heute sehr schwer, sich vor- daß die Hilfe vor Ort absoluten Vorrang haben muß, zustellen, daß die Konfliktparteien, nachdem so viel Blut gilt nach wie vor. Ich habe in den Gesprächen mit der geflossen ist, wieder miteinander leben können und daß EU-Kommission, mit Frau Bonino und Frau Gradin, und es wieder ein multiethnisches Miteinander gibt, das Op- den EU-Innenministern in dieser Frage volle Überein- fern und Tätern ein Zusammenleben ermöglicht. Das ist stimmung festgestellt. Auch der UNO-Flüchtlings- wirklich sehr, sehr schwer vorstellbar, auch nach den Er- kommissar stimmt diesem Grundsatz zu. Alle Hilfsmaß- fahrungen, die wir in Bosnien-Herzegowina gemachtnahmen für die Vertriebenen, die rasch und unbürokra- haben. tisch in Gang gekommen sind, haben sich daher auf die Unsere Zielstellung darf aber nicht sein, daß wir im Bereitstellung von Hilfsgütern und die Betreuung in der Prinzip zu einer Atomisierung des Balkan kommen,Region konzentriert. sondern unsere Zielstellung muß sein, Menschenrechte Die Gründe, die für den Vorrang der Hilfe vor Ort und Minderheitenrechte durchzusetzen und nicht neue sprechen, hat Bundeskanzler Schröder in der heutigen staatliche Einheiten, die möglicherweise zur Ursache für Debatte bereits genannt. Ich muß sie nicht wiederholen. neue Instabilitäten werden. Ich darf aber hinzufügen, daß die Vertriebenen selbst Ich kann der Bundesregierung und der NATO nurund auch die albanische Regierung eine Evakuierung wünschen, daß sie mit der neuen Initiative des Bundes- ausdrücklich ablehnen. Auch das sollte man, wie ich (B) außenministers erfolgreich ist. Wir als Parlament sollten finde, zur Kenntnis nehmen. (D) die Bundesregierung zwar kritisch begleiten, sie auf die- sem Weg aber auch ganz ausdrücklich unterstützen. Kurz vor Ostern ergab sich in Mazedonien allerdings eine besondere Situation: Der Zustrom von Flüchtlingen Vielen Dank. nach Mazedonien war so angewachsen, daß die Lage unter den spezifischen politischen Bedingungen in Ma- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS zedonien außer Kontrolle zu geraten schien. In dieser 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Fried- Situation war die Evakuierung von Flüchtlingen aus der bert Pflüger [CDU/CSU]) Grenzregion von Mazedonien in andere Länder unaus- weichlich. Vizepräsidentin Petra Bläss: Letzter Redner in dieser Debatte ist der Bundesminister des Innern, Otto Ich habe daraufhin parallel zwei Hilfsaktionen in die Schily. Wege geleitet: Ich habe mich mit den Bundesländern der Bundesrepublik Deutschland auf die Aufnahme von 10 000 Flüchtlingen geeinigt; zugleich habe ich die EU- Otto Schily, Bundesminister des Innern: Frau Präsi- Innenminister zu einer Dringlichkeitssitzung eingeladen. dentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Herr Kol- Im Vorgriff auf die Beratungen in dieser Dringlichkeits- lege Lamers, Sie haben sich mit Recht beeindruckt ge- sitzung habe ich telefonisch bei meinen EU-Innen- zeigt von der großen Rede Rudolf Scharpings. ministerkolleginnen Ich und -kollegen dafür geworben, möchte Ihnen meinerseits zu Ihrem sehr nachdenklichen ebenfalls Flüchtlinge ohne vorherige Beschlußfassung Beitrag gratulieren. Ich glaube, er hat diese Debatte be- aufzunehmen. Ich bin sehr dankbar dafür, daß unter an- reichert. derem Schweden und Österreich jeweils 5 000 Kosovo- Vertriebene aufgenommen haben. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der Dazu darf ich bemerken, daß wir sicherlich Anlaß CDU/CSU und der F.D.P.) haben, vielen Menschen in Deutschland für ihre Hilfsbe- reitschaft zu danken. Die Kosovo-Krise – meine Damen und Herren, das wissen wir – hat der Bundesrepublik Deutschland und (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE der internationalen Staatengemeinschaft eine sehr GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P.) schwerwiegende Verantwortung auferlegt. Dieser Ver- antwortung werden wir nicht gerecht, wenn wir es nicht Ich habe sicherlich auch Anlaß, dafür zu danken, daß zugleich als unsere selbstverständliche Pflicht betrach- wir zwischen Bund und Ländern bei der Frage der Auf- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 32. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. April 1999 2657

Bundesminister Otto Schily (A) nahme von Flüchtlingen schnell zu einer Einigung ge- Da muß ich mich vor die Beamten stellen. Herr Repnik, (C) langt sind. Aber zu Überheblichkeit besteht kein Anlaß. das werden Sie sicherlich verstehen. Wir sollten nicht übersehen, daß andere Länder mit einer (Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Herr sehr viel kleineren Bevölkerungszahl vergleichsweise Schäuble hat lediglich eine Sorge zum Aus- sehr viel mehr Flüchtlinge aufgenommen haben als wir druck gebracht! – Christian Schmidt [Fürth] bisher. Auch das sollte, denke ich, an dieser Stelle nicht [CDU/CSU]: Völlig überzogen!) übersehen werden. Meine Damen und Herren, in derDringlichkeitssit- Die Aufnahme der 10 000 Vertriebenen in Deutsch- zung der EU-Innenminister konnten sich einige EU- land ist zügig umgesetzt worden. Ich habe eine Gruppe Mitgliedsländer aus grundsätzlichen Erwägungen leider von Beamten des Bundesgrenzschutzes nach Skopje ent- nicht zur Festlegung von Kontingenten für die Aufnah- sandt, die ihre Aufgabe in sehr engagierter und umsich- me von Vertriebenen entschließen. Ich bitte Sie aber, zu tiger Weise erfüllt hat, so daß bis Ende dieser Woche die verstehen, meine Damen und Herren, daß es mit Blick Verbringung der Flüchtlinge nach Deutschland abge- auf das Flüchtlingselend der denkbar ungeeignetste schlossen sein wird. Den BGS-Beamten möchte ich für Zeitpunkt war, einen Grundsatzstreit auszutragen. ihre hervorragende Arbeit sehr herzlich danken,

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Vizepräsidentin Petra Bläss: Herr Minister, ge- GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P.) statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Repnik? insbesondere dem Leiter der BGS-Gruppe, Herrn Seeger, der sich auf meine Bitte am Samstag vor Ostern Otto Schily, Bundesminister des Innern: Nein, ich spontan bereit erklärt hat, diese schwierige Aufgabe zu lasse keine Zwischenfragen zu. übernehmen. In den Dank schließe ich auch die Mitar- beiter meines Hauses ein, die sich in Tag- und Nachtar- Deshalb haben wir uns wie andere Staaten dazu ent- beit bei der Steuerung der Hilfsmaßnahmen wirklichschlossen, Flüchtlinge ohne Rücksicht darauf aufzu- bewährt und Verdienste erworben haben. nehmen, ob andere es uns gleichtun. In Befolgung des Grundsatzes, daß die Hilfe vor Ort (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE absoluten Vorrang hat, habe ich mich parallel zu den GRÜNEN, der CDU/CSU und der F.D.P.) Bemühungen, Flüchtlinge in Westeuropa aufzunehmen, Meine Damen und Herren, die Auswahl der Flücht- dafür eingesetzt, daß zur Entlastung von Mazedonien linge, die in Deutschland aufgenommen wurden, istdas Nachbarland Albanien weitere Flüchtlinge auf- nimmt. Bei meinen Gesprächen mit der albanischen Re- (B) selbstverständlich nicht willkürlich erfolgt. Ich weiß (D) nicht, wie der Kollege Schäuble – er ist nicht mehr da – gierung am Ostersonntag konnte ich erreichen, daß sich zu dieser Behauptung gelangt ist. Die Auswahl wird von Albanien bereit erklärt, weitere 100 000 Flüchtlinge aus Vertretern des UNO-Flüchtlingskommissars vorgenom- der Grenzregion von Mazedonien aufzunehmen. men. Ich habe in meiner Verantwortung angeordnet, Selbstverständlich war diese Zusage Albaniens an die darauf hinzuwirken, daß in erster Linie Kranke, Kinder, Bedingung geknüpft, daß die technischen, organisato- Frauen und ältere Menschen berücksichtigt werden. Es rischen und finanziellen Voraussetzungen für die Un- mußte aber auch beachtet werden, daß nach Möglichkeit terbringung der Vertriebenen von der internationalen Familien nicht auseinandergerissen werden. Staatengemeinschaft übernommen werden. Dementspre- chend habe ich dafür gesorgt, daß der personelle Einsatz Die Mitarbeiter des Bundesgrenzschutzes haben sich des Technischen Hilfswerks in Albanien erheblich ver- in Zusammenarbeit mit dem UNO-Flüchtlingskommis- stärkt wird und daß andere humanitäre Organisationen, sar nach Kräften dafür eingesetzt, daß diesen Kriterien wie unter anderem der Arbeiter-Samariter-Bund, massiv genügt wurde. Sie haben dafür das ausdrückliche Lobunterstützt werden. Vom Technischen Hilfswerk und einer in humanitären Fragen wirklich sachverständi-von anderen deutschen humanitären Organisationen gen Persönlichkeit, nämlich Rupert Neudeck von Capwerden in diesem Zusammenhang etwa 40 000 Plätze Anamur, erhalten. Auf dieses Lob können die Kollegen unter schwierigsten Bedingungen zur Unterbringung von des Bundesgrenzschutzes besonders stolz sein. Sie kön- Flüchtlingen bereitgestellt. Das ist eine großartige Lei- nen daher kleinliche Kritik von dem Vorsitzenden einer stung, für die ich und wir alle dankbar sein müssen. Oppositionsfraktion ertragen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Was soll des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der denn das?) CDU/CSU und der F.D.P.) – Herr Repnik, ich sage Ihnen das, und ich bezieheDie EU-Innenminister, aber auch die Innenminister Herrn Stoiber in den Vorwurf ein. Herr Stoiber hat sich der deutschen Bundesländer haben ausdrücklich be- nicht gescheut, sogar von Bestechung zu reden. Was ist grüßt, daß auf Grund der von mir in Tirana geführten das für eine Unterstellung gegenüber diesen Beamten, Gespräche eine zusätzliche Unterbringung der Flücht- die unter Einsatz ihres Lebens in Skopje ihre Pflicht ver- linge in Albanien ermöglicht wird. Es war in diesem Zu- richten? sammenhang ein Zeichen ungeteilter europäischer Soli- darität, daß sich alleEU-Mitgliedstaaten verpflichtet (Beifall bei der SPD) haben, durch finanzielle, personelle, logistische und or- 2658 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 32. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. April 1999

Bundesminister Otto Schily (A) ganisatorische Hilfsmaßnahmen für die Umsetzung der Überreaktion auf den Debattenverlauf an einem Punkt(C) albanischen Zusage zu sorgen. eine gewisse Schärfe hineingebracht haben, die wirklich nicht angezeigt ist. Ich warne davor, die Hilfe anderer EU-Mitglied- staaten geringzuschätzen. Nicht zuletzt Italien hat große Deshalb möchte ich zunächst auf folgendes hinwei- Anerkennung für die umfassende Hilfe verdient, die es sen: Unser Fraktionsvorsitzender Wolfgang Schäuble in Albanien zur Verfügung stellt. Ich habe deshalb auch hat völlig zu Recht auf die bedrängte Situation der die enge Zusammenarbeit mit der italienischen Regie- Flüchtlinge in der Krisenregion hingewiesen und hat rung bei den Hilfsmaßnahmen gesucht und in diesemangesichts des starken Andrangs dieser Flüchtlinge in Zusammenhang Gespräche mit meiner Kollegin Jervoli- Richtung Westeuropa und die Bundesrepublik Deutsch- no und dem italienischen Ministerpräsidenten D´Alema land seine Sorge dahin gehend zum Ausdruck gebracht, geführt. daß man mit ganz besonderer Sorgfalt darauf achten Aber ebenso haben sich alle anderen EU-Staatenmöge, vordringlich solche Menschen bei uns aufzuneh- massiv bei der humanitären Hilfe engagiert. Auch diemen, die krank sind und die einer besonderen medizini- EU-Kommission ist daran in vorbildlicher Weise betei- schen Betreuung bedürfen. Dies ist doch selbstverständ- ligt. Ich darf darauf hinweisen, daß die EU-Kommission lich. Ich billige es jedem Kosovaren in dieser Region zu, 150 Millionen Euro für die humanitären Organisationen daß er den Versuch unternimmt, hierher nach Deutsch- und weitere 100 Millionen Euro für Hilfsmaßnahmenland bzw. Westeuropa zu kommen. Wir können nicht zugunsten der in großen Schwierigkeiten befindlichen alle aufnehmen. Dies hat Herr Schäuble zum Ausdruck Nachbarstaaten des Kosovo zur Verfügung stellen wird. gebracht. Wenn hier also von der PDS-Fraktion der VorwurfIch möchte auf einen weiteren Sachverhalt hinweisen: geäußert worden ist, es werde nur auf die private Hilfe Er hat gerade den Beamten und Hilfsorganisationen, die gesetzt, dann ist das die reine Unwahrheit. unter schwierigsten Bedingungen ihrer Verantwortung (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der vor Ort gerecht werden, gedankt. Es kann nicht die Rede CDU/CSU) davon sein, daß hier ein Zweifel an der Integrität dieser Menschen gesät worden ist. Daß das Gegenteil der Fall Die von mir genannten Länder brauchen unsere Un- ist, können Sie der Rede von Herrn Schäuble entneh- terstützung übrigens auch hinsichtlich einer sehr wich- men. tigen Frage, die manchmal übersehen wird, nämlich hinsichtlich der Frage der Gewährleistung der inneren Ferner möchte ich folgendes feststellen – nur deshalb Sicherheit. In einer so schwierigen und kompliziertenhabe ich jetzt noch um das Wort für diese Kurzinterven- Situation, in der sich beispielsweise Albanien befindet, tion gebeten –: Zumindest was das Verhalten zwischen (B) ist es hilfreich – jenseits aller anderen Fragen, die in die- der Regierung und der größten Oppositionsfraktion an- (D) sem Zusammenhang berechtigterweise diskutiert wor- belangt, haben Sie doch eigentlich allen Grund, die Un- den sind –, daß die NATO in Albanien Militärkräfte sta- terstützung, die Sie von uns erfahren, dankbar zur tioniert. Das Kontingent, das jetzt nach Albanien ent-Kenntnis zu nehmen. Deshalb habe ich Ihre Schärfe so sandt wird, ist gerade für die Unterstützung der huma- sehr bedauert. nitären Arbeit hinsichtlich der Gewährleistung der inne- ren Sicherheit von großem Wert. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Meine Damen und Herren, wir wissen, daß alles Geld der Welt nicht ausreicht, wenn sich nicht Menschen be- Vizepräsidentin Petra Bläss: Zur Erwiderung, reit finden, tatkräftig persönlich vor Ort die notwendige Herr Bundesminister Schily, bitte. humanitäre Hilfe zu leisten. Deshalb gilt zum Ab- schluß mein Dank noch einmal den vielen Mitarbeite- rinnen und Mitarbeitern der humanitären Organisatio- Otto Schily, Bundesminister des Innern: Herr Kolle- nen: des Deutschen Roten Kreuzes, der Organisationge Repnik, ich bedanke mich für Ihren sachlichen Bei- Cap Anamur, des Technischen Hilfswerkes, der GTZ, trag. Aber ich muß auf folgendes hinweisen: Ich habe des UNHCR, des Arbeiter-Samariter-Bundes, der vie- ein gutes Gedächtnis. Kollege Schäuble hat davon ge- len kirchlichen Hilfsorganisationen, des Malteser-Hilfs- sprochen, die Menschen, die bei uns aufgenommen wür- dienstes und vieler anderer Organisationen. den, seien willkürlich ausgesucht worden. Ich habe auch noch die Worte von Ministerpräsident Stoiber im Ohr, Sie dienen in exemplarischer Weise dem Frieden und der sich sogar zu der Behauptung verstiegen hat, es der Menschlichkeit. Diese Friedensarbeiter sind für mich könnten dabei Geldzuwendungen eine Rolle gespielt eine Hoffnung für die Gegenwart und für die Zukunft. haben. (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Ich habe die Pflicht – für den Fall, daß meine diesbe- GRÜNEN und der F.D.P.) zügliche Anmerkung zu scharf ausgefallen ist, bemühe ich mich jetzt um einen sachlichen Tonfall –, die Be- Vizepräsidentin Petra Bläss: Zu einer Kurzinter- amten, die in der Krisenregion wahrlich gute Arbeit ver- vention erteile ich dem Kollegen Repnik das Wort. richten, vor jedem Vorwurf – auch nur Anschein des Vorwurfs –, daß eine solche Willkür herrsche oder daß bei der Art und Weise, wie die Flüchtlinge zu uns kom- Hans-Peter Repnik (CDU/CSU): Herr Bundesmini- men, womöglich strafbare Tatbestände eine Rolle ge- ster Schily, ich bedauere, daß Sie, wie ich finde, in einer spielt hätten, zu schützen. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 32. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. April 1999 2659

Bundesminister Otto Schily (A) Deshalb bitte ich Sie, Herr Kollege Repnik, die Rede SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN haben(C) Ihres Fraktionsvorsitzenden noch einmal nachzulesen beantragt, den Entschließungsantrag zur federführenden Beratung an den Auswärtigen Ausschuß und zur Mitbe- (Hans-Peter Repnik [CDU/CSU]: Ich kenne ratung an den Verteidigungsausschuß zu überweisen. sie!) Die Fraktion der PDS verlangt hingegen sofortige Ab- und Herrn Schäuble vielleicht zu veranlassen, diesenstimmung. Nach ständiger Übung geht die Abstimmung Vorwurf zurückzunehmen, den er wahrscheinlich in Un- über den Überweisungsvorschlag vor. Ich bitte diejeni- kenntnis des Sachverhalts – das kann ich ihm mögli-gen, die dem Überweisungsvorschlag der Koalitions- cherweise zugute halten – gemacht hat. Vielleicht kann fraktionen zustimmen, um das Handzeichen. – Wer er diesen Vorwurf korrigieren. Denn das bin ich meinen stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Damit ist der Über- Beamten, die in Skopje tätig sind, wahrlich schuldig. weisungsvorschlag gegen die Stimmen der PDS–Frak- tion angenommen, und wir stimmen heute in der Sache Danke schön. nicht ab. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Wir sind am Schluß unserer Tagesordnung. DIE GRÜNEN) Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- destages auf Montag, den 19. April 1999, 12 Uhr ein. Vizepräsidentin Petra Bläss: Ich schließe die Aus- Diese Sitzung findet, wie Sie alle wissen, in Berlin statt. sprache. Die Sitzung ist geschlossen. Wir kommen zum Entschließungsantrag der Fraktion der PDS auf der Drucksache 14/755. Die Fraktionen der (Schluß der Sitzung: 13.26 Uhr)

(B) (D) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 32. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. April 1999 2661

(A) Anlage zum Stenographischen Bericht (C)

Anlage entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich Liste der entschuldigten Abgeordneten Müller (Berlin), PDS 15.4.99 entschuldigt bis Manfred Abgeordnete(r) einschließlich Müller (Kirchheim), CDU/CSU 15.4.99 Elmar Beck (Köln), Volker BÜNDNIS 90/ 15.4.99 DIE GRÜNEN Neumann (Bramsche), SPD 15.4.99 Volker Behrendt, Wolfgang SPD 15.4.99 * Nolte, Claudia CDU/CSU 15.4.99 Belle, Meinrad CDU/CSU 15.4.99 Ostrowski, Christine PDS 15.4.99 Bindig, Rudolf SPD 15.4.99 * Raidel, Hans CDU/CSU 15.4.99 Dr. Blüm, Norbert CDU/CSU 15.4.99 Dr. Ruck, Christian CDU/CSU 15.4.99 Bühler (Bruchsal), Klaus CDU/CSU 15.4.99 * Dr. Schäfer, Hansjörg SPD 15.4.99 Dzembritzki, Detlef SPD 15.4.99 Schenk, Christina PDS 15.4.99 Eichhorn, Maria CDU/CSU 15.4.99 Scherhag, Karl-Heinz CDU/CSU 15.4.99 Eppelmann, Rainer CDU/CSU 15.4.99 Schloten, Dieter SPD 15.4.99 ** Eymer (Lübeck), Anke CDU/CSU 15.4.99 Schmidbauer, Bernd CDU/CSU 15.4.99 Frankenhauser, Herbert CDU/CSU 15.4.99 von Schmude, Michael CDU/CSU 15.4.99 Haack (Extertal), SPD 15.4.99 Schnieber-Jastram, Birgit CDU/CSU 15.4.99 Karl-Hermann Schuhmann (Delitzsch), SPD 15.4.99 Hasenfratz, Klaus SPD 15.4.99 Richard Dr. Haussmann, Helmut F.D.P. 15.4.99 Dr. Schwarz-Schilling, CDU/CSU 15.4.99 Hornung, Siegfried CDU/CSU 15.4.99 * Christian Seiters, Rudolf CDU/CSU 15.4.99 (B) Hübner, Carsten PDS 15.4.99 (D) Singhammer, Johannes CDU/CSU 15.4.99 Ibrügger, Lothar SPD 15.4.99 Steen, Antje-Marie SPD 15.4.99 Imhof, Barbara SPD 15.4.99 Steiger, Wolfgang CDU/CSU 15.4.99 Irber, Brunhilde SPD 15.4.99 Thiele, Carl-Ludwig F.D.P. 15.4.99 Jaffke, Susanne CDU/CSU 15.4.99 Vaatz, Arnold CDU/CSU 15.4.99 Jelpke, Ulla PDS 15.4.99 Wiefelspütz, Dieter SPD 15.4.99 Dr. Jens, Uwe SPD 15.4.99 Willner, Gert CDU/CSU 15.4.99 Dr.-Ing. Jork, Rainer CDU/CSU 15.4.99 Wimmer (Neuss), Willy CDU/CSU 15.4.99 von Klaeden, Eckart CDU/CSU 15.4.99 Wissmann, Matthias CDU/CSU 15.4.99 Kolbow, Walter SPD 15.4.99 Wolf, Aribert CDU/CSU 15.4.99 Lehn, Waltraud SPD 15.4.99 Würzbach, Peter Kurt CDU/CSU 15.4.99 Maaß (Wilhelmshaven), CDU/CSU 15.4.99 Zapf, Uta SPD 15.4.99 Erich —————— Manzewski, Dirk SPD 15.4.99 * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versamm- lung des Europarates Möllemann, Jürgen W. F.D.P. 15.4.99 ** für die Teilnahme an Sitzungen der Westeuropäischen Union 2662 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 32. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 15. April 1999

(A) (C)

(B) (D)

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