Plenarprotokoll 12/211

Deutscher

Stenographischer Bericht

211. Sitzung

Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994

Inhalt:

Tagesordnungspunkt 9: Lieselott Blunck (Uetersen) SPD . . . . 18290D Beratung des Antrags der Abgeordne- Walter Link (Diepholz) CDU/CSU . . 18291B, ten Johannes Gerster (Mainz), Heri- 18305 D bert Scharrenbroich, Peter Kittelmann, Dr. Peter Struck, Peter Conradi, Freimut Dr. Barbara Höll PDS/Linke Liste . . 18291 C Duve, Manfred Richter (Bremerhaven), CDU/CSU 18292 C , Uwe Lühr, Andrea Lede- rer, () und weiterer Arne Fuhrmann SPD 18296 A Abgeordneter Erika Reinhardt CDU/CSU 18298 D Verhüllter Reichstag — Projekt für Ber- lin (Drucksache 12/6767) Hans A. Engelhard F.D.P. 18300D Peter Conradi SPD 18275 B Dr. Barbara Höll PDS/Linke Liste . . . 18302C Dr. F.D.P. 18278 A Dr. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 18304A Heribert Scharrenbroich CDU/CSU . . 18278D Lisa Seuster SPD 18305 C Dr. PDS/Linke Liste . . 18280 C Walter Link (Diepholz) CDU/CSU . . . 18308B Konrad Weiß (Berlin) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 18281 B Winfried Fockenberg CDU/CSU . . 18310B Manfred Richter (Bremerhaven) F.D.P. 18282A Dr. Rudolf Karl Krause (Bonese) fraktions los 18311B Dr. Wolfgang Schäuble CDU/CSU . . 18283 A Eike Ebert SPD 18286 A Tagesordnungspunkt 11: a) Erste Beratung des von der Bundesre- Dr. Ulrich Briefs fraktionslos 18287 B gierung eingebrachten Entwurfs ei- SPD 18287 D nes Gesetzes über Sicherheit und Ge- sundheitsschutz bei der Arbeit (Ar-- Namentliche Abstimmung 18288 C beitsschutzrahmengesetz) (Drucksache 12/6752) Ergebnis 18294 A b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Tagesordnungspunkt 10: Bericht der Bundesregierung über den Stand der Unfallverhütung und das Beratung der Unterrichtung durch die Unfallgeschehen in der Bundesrepublik Bundesregierung: Erster Altenbericht Deutschland: Unfallverhütungsbericht der Bundesregierung (Drucksache 12/5897) 1992 (Drucksache 12/6429) Horst Günther, Parl. Staatssekretär BMA Hannelore Rönsch, Bundesministerin 18312B BMFuS 18289 A Manfred Reimann SPD 18313B II Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. , Freitag, den 25. Februar 1994

Dr. CDU/CSU 18315A Hans-Dirk Bierling CDU/CSU 18320* A Hans Büttner (Ingolstadt) SPD 18315D Klaus Bühler (Bruchsal) CDU/CSU . . 18320* B Petra Bläss PDS/Linke Liste 18316D Hartmut Koschyk CDU/CSU 18320* C Paul K. Friedhoff F D P. 18317 C Dr. CDU/CSU 18320* D Nächste Sitzung 18318D Christian Schmidt (Fürth) CDU/CSU . . 18321* B Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten CDU/ Anlage 1 CSU 18321* C Liste der entschuldigten Abgeordneten . 18319* A Dr. SPD 18321* D Grüner F.D.P. 18322* B Anlage 2 Martin Birgit Homburger F D P 18322* D Erklärungen nach § 31 GO zur Abstimmung über den von den Abgeordneten Johannes Jürgen Türk F.D.P. 18323' A Gerster (Mainz), Heribert Scharrenbroich und weiteren Abgeordneten eingebrachten Anlage 3 Antrag betr. verhüllter Reichstag — Projekt für Berlin (Tagesordnungspunkt 9) Amtliche Mitteilungen 18323* C Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994 18275

211. Sitzung

Bonn, den 25. Februar 1994

Beginn: 9.00 Uhr

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Meine Damen und menlebens begründet und das Abstimmbare ausson- Herren, die Sitzung ist eröffnet. Ich begrüße Sie ganz dert und zur Wahl freigibt". herzlich. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Es gibt die letzten Dinge; über die letzten Dinge Ich rufe Tagesordnungspunkt 9 auf: kann kein Parlament mit Mehrheit entscheiden. Es gibt die vorletzten Dinge, über die wir hier mit Beratung des Antrags der Abgeordneten Mehrheit verbindlich für alle entscheiden. Das ist Johannes Gerster (Mainz), Heribert Scharren- Demokratie. Über Kunst kann nicht mit Mehrheit broich, Peter Kittelmann, Dr. Peter S truck, Peter entschieden werden; sie gehört zum Bereich des Conradi, Freimut Duve, Manfred Richter (Bre- Unabstimmbaren. merhaven), Ina Albowitz, Uwe Lühr, Andrea Lederer, We rner Schulz (Berlin) und weiterer (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der Abgeordneter F.D.P. sowie bei Abgeordneten der PDS/ Verhüllter Reichstag — Projekt für Berlin Linke Liste) — Drucksache 12/6767 — Wir sind von unseren Wählerinnen und Wählern als ihre Vertreter hierher gewählt worden, um über Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für Steuern und Straßen, über Waffenexporte und Woh- die Aussprache eine Stunde vorgesehen. — Dazu sehe nungsbau, über Asylrecht und Arbeitslosigkeit abzu- ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlos- stimmen, nicht über Kunst. Das, verehrte Kolleginnen sen. und Kollegen, macht die Debatte so schwierig; denn Ich weise darauf hin, daß wir nach der Aussprache wir reden über eine künstlerische Aktion, die dem über den Antrag namentlich abstimmen werden. einen gefällt und dem anderen nicht gefällt. Ich bitte Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abge- Sie alle, diese Debatte nicht nur in Respekt voreinan- ordnete Peter Conradi. der, sondern vor allem in Respekt vor dem Künstler und vor der Kunst zu führen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Peter Conradi (SPD): Frau Präsidentin! Meine der CDU/CSU und der PDS/Linke Liste) Damen und Herren! Wir diskutieren heute und stim- Adolf Arndt empfiehlt dem Bauherrn Demokratie, men am Schluß darüber ab, ob der Künstler Christo „sich für das Reifen seiner ihm nicht abnehmbaren das 14 Tage lang mit Reichstagsgebäude in Berlin Entscheidung — als Bauherr — des sachkundigen Stoff umhüllen darf. Rates ... freier und mit ihrem Namen verantwor- (Zuruf von der CDU/CSU: Einwickeln!) tungsbereiter Bürger ... zu vergewissern". Deshalb Wir stimmen nicht über Kunst ab. lassen wir uns bei öffentlichen Bauten der Gemein- den, der Länder und des Bundes von Preisgerichten,- Adolf Arndt, der Kronjurist der SPD in den fünfziger von unabhängigen Fachleuten beraten. Manchmal und sechziger Jahren hat 1960 in seiner großen Rede irren die Preisrichter; das haben sie mit uns Politikern „Demokratie als Bauherr" dazu gesagt: gemeinsam. Nicht nur ist in einer Demokratie niemand da, der Hier, bei dem Projekt Christos, raten die Fachleute, bestimmen kann, was Kunst ist, sondern von die Künstler und die Kunstkritiker uns mit überwälti- ihrem eigenen Wesen her darf keiner da sein, der gender Mehrheit — fast ohne Ausnahme —, Ch risto zu sich dessen von Staats wegen mit Geltung für alle gestatten, das Reichstagsgebäude, unser zukünftiges unterfangen dürfte. Bundeshaus, zu umhüllen. Demokratie, so Adolf Arndt, beruht nicht allein auf Abstimmung, „sondern grundlegend zuerst auf Über- Das sind ihre Argumente für das Projekt: einstimmung hinsichtlich des Unabstimmbaren, wel- Erstens. Christos Umhüllung des Gebäudes mit Stoff che Übereinstimmung die Möglichkeit des Zusam gibt dem Bau eine neue, überraschende ästhetische 18276 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994

Peter Conradi Gestalt. Er eröffnet uns die Chance, diesen Bau in Meine Fraktion hat zweimal über das Projekt disku- seiner Eigenart anders wahrzunehmen. Die zeitwei- tiert. Wir haben nicht abgestimmt. Es gibt bei uns lige Verhüllung wird unsere Sicht schärfen — Befürworter — ich hoffe: viele — und Kritiker — ich Erkenntnis durch Verfremdung. hoffe: wenige. Zweitens. Die Umhüllung mit Stoff ist ein großes Ich nehme die Einwände gegen das Projekt ernst Thema der Kunst. Die Griechen umhüllen ihre Sta- und will mich mit ihnen auseinandersetzen. Da wird tuen mit leichten Gewändern. Streng sind die Gewän- gesagt: Wirtschaftskrise, Staatsverschuldung, rechts- der der gotischen Madonnen, prächtig und üppig ist radikale Gewalt, Millionen Arbeitslose, Zukunfts- das Spiel des Stoffs in den Gewändern der Heiligen angst und Resignation — und der Bundestag diskutiert Drei Könige im Barock. Immer unterstreichen der Stoff über Kunst. Habt ihr nichts Wichtigeres zu bereden, so und seine Behandlung die Kostbarkeit, den Wert des werden wir gefragt. Umhüllten, so wie ein wertvolles Geschenk durch die Ich frage dagegen: Soll, weil es Not und Angst gibt, Umhüllung wertvoller und nicht weniger wertvoll weil es Krieg und Arbeitslosigkeit gibt, nicht mehr wird. über Kunst geredet werden? (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der (Dr. Dietrich Mahlo [CDU/CSU]: Über Kunst, F.D.P. — Zuruf von der F.D.P.: Sehr gut!) nicht über Pseudokunst!) Drittens. Christos Umhüllung des Reichstagsgebäu- — Herr Mahlo, ich habe am Anfang ausgeführt, daß des kostet den Steuerzahler nichts. Er bezahlt diese hier nicht über Kunst entschieden wird. Wir werden Aktion selbst aus den Erlösen seiner Zeichnungen, nicht hierher gewählt, um zu entscheiden, was Kunst seiner Bilder, seiner Lithographien, seiner Bücher und ist. Wir entscheiden hier, ob der Reichstag für diese Plakate. In einer Welt, in der Kunst vor allem nach Aktion freigegeben wird. ihrem Preis gemessen wird, ist diese Kunstaktion, die (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ man nicht bezahlen kann, die man nicht kaufen kann, CSU, der F.D.P., der PDS/Linke Liste und des eine Erinnerung daran, daß Kunst mehr ist als BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ware. Der Bundeskanzler hat in seiner Hamburger Partei- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der tagsrede, deren Passagen über die SPD ich natürlich F.D.P. und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN pflichtschuldig mit Abscheu und Empörung zurück- sowie bei Abgeordneten der PDS/Linke weise — — Liste) (Zurufe von der SPD — Dr. Jürgen Rüttgers Viertens. Christos Umhüllung bringt das Element [CDU/CSU]: Sie waren trotzdem wahr und des Zeitlichen, des Vergänglichen in unser Bewußt- richtig!) sein. Nur 14 Tage dauert die Aktion. Aber sie wird in vielen Bildern festgehalten. Sie wird im Fernsehen, in — Das müssen Sie mir noch gestatten. Ich will ihn jetzt den Zeitungen um die Welt gehen, und sie wird im gleich loben, Herr Rüttgers. kulturellen Gedächtnis der Menschheit so bleiben wie (Weiterer Zuruf des Abg. Dr. Jürgen Rüttgers der Running Fence in Kalifornien oder die umhüllte [CDU/CSU]) Brücke in Paris. — Geduld, Geduld! (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ (Weitere Zurufe von der CDU/CSU) CSU und der F.D.P.) Herr Kohl hat als Parteivorsitzender in seiner Rede die Soweit die Argumente der Fachleute, der Kunstkri- anrührende, schöne Geschichte von Vernon Walters tiker und Künstler. Ich will ein politisches Argument erzählt, der im Elend der Nachkriegsjahre Hoffnung anschließen. Bei allen Projekten Christos ist der lange, in Deutschland sah, weil eine Familie in einer Keller- oft jahrelange Weg von der Idee bis zur Ausführung wohnung Blumen in einer Schale auf dem Tisch hatte. Teil des Projekts. Die öffentliche Diskussion über — Ein schönes Bild. seine Arbeit, über deren Sinn und Bedeutung ist unverzichtbares Element seiner künstlerischen Ar- Damals, im Elend der Nachkriegszeit, blühte die beit. 22 Jahre lang hat Christo mit zahllosen Politikern, Kunst in Deutschland, blühten Theater, Literatur, mit Journalisten, mit Künstlern, mit Kritikern, mit Malerei und Kunst. Das alles war für die Menschen Bürgerinnen und Bürgern über die Umhüllung des lebens-, überlebenswichtig. Die Ruhrfestspiele wur- Reichstagsgebäudes gesprochen. den nicht in den Zeiten des Wohlstands, sondern damals in der Zeit der Armut gegründet. Mich beeindruckt diese Beharrlichkeit, (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ CSU, der F.D.P., der PDS/Linke Liste und des CSU, der F.D.P., der PDS/Linke Liste und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Was ist das für ein armseliges Argument, in einer Zeit diese Kraft zur Vision, das unmöglich Erscheinende der Not, der Krise müsse zuerst auf die Kunst verzich- doch möglich zu machen. Das ist eine politische, ja tet werden? Umgekehrt: Weil es Krieg und Arbeitslo- eine demokratische künstlerische Aktion, die nicht sigkeit gibt, weil es Angst und Mutlosigkeit gibt, weil elitär über den Menschen steht, sondern die Men- es Resignation und Phantasielosigkeit gibt, wollen wir schen einbezieht. Hätten wir doch in der Politik solche mit dieser Aktion ein positives Zeichen, ein schönes, Visionen, solche Beharrlichkeit, so langen Atem und leuchtendes Signal setzen, das Mut und Hoffnung solche Kampagnen! macht und Selbstvertrauen ausstrahlt. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994 18277

Peter Conradi Übrigens: Das Projekt schafft ja Arbeit. Der Stoff Parlaments getan als mancher Würdenträger mit ver- muß gewebt werden; die Bahnen werden genäht, giftenden Reden. Bauarbeiter, Studenten, sogar Alpinisten werden dort (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten beschäftigt. der CDU/CSU, der F.D.P., der PDS/Linke Und so wie in Frankreich, wo Chirac zuerst das Liste sowie des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ Projekt der Umhüllung des Pont Neuf als Marotte NEN) einer elitären Minderheit abtun wollte und dann, als Wie brüchig, fragt Wolfgang Rainer in der „Stutt- Hunderttausende, ja Millionen sich daran begeister- garter Zeitung", muß unser demokratisches Selbst- ten, immer schon dafür war, so werden auch bei uns verständnis sein, wenn es von der Umhüllung des die Kritiker von heute morgen von der Schönheit und Reichstagsgebäudes durch Stoff verletzt wird? Es geht Kraft dieses Projekts begeistert sein. nicht um ein „ironisches Verhältnis des deutschen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Volkes zu seiner Geschichte", wie die „Fr ankfurter der F.D.P.) Allgemeine Zeitung" grämlich befürchtet. Christos Umhüllung des Reichstagsgebäudes markiert einen Andere sagen: Dafür gibt es Geld, aber bei Arbeits- Neubeginn, einen neuen Abschnitt in der Geschichte losen und Kindergärten spart ihr. Noch einmal: Chri- dieses Gebäudes, das danach unser Bundeshaus sein sto finanziert das Projekt selbst, ohne öffentliche wird, ein neues Kapitel in der Geschichte der deut- Mittel. Ich habe übrigens nicht gehört, daß irgend schen parlamentarischen Demokratie, und das kann jemand gefordert hat, wir sollen wegen der Arbeitslo- ein Zeichen werden für ein selbstbewußtes, gelasse- sen die Oper oder die Museen schließen. nes, tolerantes Parlament, offen für Neues, neugierig Ich verstehe, daß einige von uns Sorge, ja Angst vor auf Ungewohntes, mutig in einer Zeit verbreiteter den Wählern haben, sie könnten diese Aktion mißver- Verzagtheit. stehen. Doch es liegt zuerst an uns selbst, den Men- (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ schen diese Aktion zu erklären, CSU, der F.D.P., der PDS/Linke Liste und des (Gerhard Reddemann [CDU/CSU]: Warum BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) denn?) Ein sanftes Zeichen wird es sein in einer Zeit, in der die dafür um Verständnis zu werben, ihnen deutlich zu Bilder von Gewalt geprägt sind. Wenn die Bilder vom machen, daß diese Umhüllung weder die deutsche umhüllten Reichstagsgebäude im Fernsehen um die Geschichte noch das Reichstagsgebäude beleidigt, Welt gehen, werden das andere, bessere, friedlichere sondern daß diese Umhüllung ein schönes künstleri- Bilder von Deutschland sein als die Bilder der Gewalt sches Zeichen für unseren Neuanfang in Berlin ist, von Rostock, Mölln, Solingen und Hoyerswerda. und das alles ohne Steuergelder. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Wer hat hier Angst vor dem Wähler? Angst ist kein der CDU/CSU, der F.D.P. und der PDS/Linke guter Ratgeber, weder in der Kunst noch in der Politik. Liste) Hier ist Mut gefragt, nicht Kleinmut. 22 Jahre lang bin ich Mitglied dieses Hauses, so (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten lange, wie Christo an diesem Projekt arbeitet. der PDS/Linke Liste) (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD sowie Wieder andere sehen die Würde des Hauses in der CDU/CSU — Dr.-Ing. Dietmar Kansy Gefahr. Ist es denn Angst vor dem Ungewohnten, vor [CDU/CSU]: Was machen Sie denn, wenn Sie dem Neuen? Warum sollten wir uns nicht 14 Tage lang keine Mehrheit finden?) einer neuen Erfahrung aussetzen? Kunst ist oft neu, ist — Darüber entscheiden nicht Sie, sondern die Wäh- oft ungewohnt. Auch Politik sollte das gelegentlich ler. sein. Ich halte das Parlament für eine großartige, für eine (Beifall bei Abgeordneten der SPD) wunderbare Einrichtung, in der wir über das Zusam- menleben der Menschen, die uns hierher geschickt Sind wir als Politiker nicht bereit, an dem Ort, an dem haben, debattieren und abstimmen. Ich bin sicher, die wir einmal arbeiten werden, etwas Neues, Unge- Umhüllung unseres zukünftigen Parlamentsgebäu- wohntes zuzulassen? Was soll diese Angst um die des, des Reichstagsgebäudes auf seinem Weg zum Würde des Hauses, die durch die Umhüllung mit Stoff Bundeshaus wird dem Gebäude, wird dem Deutschen gefährdet sein soll? Da wüßte ich vieles andere, das - Bundestag und der deutschen Demokratie nach innen die Würde, das Ansehen des Parlaments eher beschä- digt. und außen gut tun. Deshalb bitte ich um Ihre Zustimmung zu diesem (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Projekt. der CDU/CSU, der F.D.P., der PDS/Linke Liste sowie des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste, NEN) dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der Die Würde unseres Hauses sei gefährdet, so F.D.P.) befürchteten einige, als wir nach dem Auszug aus dem Wasserwerk dort drüben Kabarett machen wollten. Ohne falsche Bescheidenheit: Ich glaube, „wir Was- serwerker" haben mit unseren lockeren Reden und Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster spricht Liedern über das Parlament mehr für das Ansehen des der Kollege Dr. Burkhard Hirsch. 18278 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994

Dr. Burkhard Hirsch (F.D.P.): Frau Präsidentin! ist nicht einmal unsere Zeit, das ist schlechter Stil, das Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es gehört ist stillos. allmählich Mut dazu, zu bekennen, daß es in diesem (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der Land etwas geben sollte, das den p ri vaten Vergnü- CDU/CSU) gungen entzogen ist, und daß es wichtig ist, daß der Reichstag dazu gehört. Warum verpacken wir nicht auch das Brandenbur- ger Tor, wenn es dem Künstler einfiele? Sollte der Es erfüllt mich nicht mit Freude, daß wir als Bun- Bundestag nicht auch deswegen in das Reichstagsge- destag und in dieser Zeit durch eine namentliche bäude einziehen, weil dieses Gebäude für uns eine Abstimmung, also in höchster Bewertung, zu einem einzigartige historische Bedeutung hat? Da ist nichts Teil einer PR-Kampagne werden. zu verpacken, und da ist nichts zu verhüllen. (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P., der (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) CDU/CSU, der SPD und der PDS/Linke Wenn Herr Christo vorschlagen würde, das Capitol, Liste) das Parliament Building oder die Assemblée Na tio- nale einzupacken, dann würde ein Sturm der öffentli- Es mißfällt mir, wie leichthin — bis hin zu einem chen Entrüstung ihn und das Projekt hinwegfegen. Aids-Plakat — diejenigen abqualifiziert werden, die gegen das Projekt von Christo sind. Es mißfällt mir, (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der daß die Antragssteller mit keinem Wo rt auf die Belie- CDU/CSU — Zurufe von der SPD) bigkeit der Argumente des ideologischen Überbaus So hat jeder seine eigenen Maßstäbe. eingehen, mit denen dieses Projekt begleitet und Noch etwas: Selbst wenn man viele Menschen von begründet wird, bis hin zur Verhüllung aus Scham dem künstlerischen Wert des Unternehmens überzeu- wegen des Dritten Reiches oder Verhüllung, weil es gen könnte, was ist dann eigentlich mit den vielen nicht gebraucht wird, oder eine Plastikplane, damit es anderen, zu denen auch ich gehöre, die dadurch das schön über die Mauer scheinen möge. Parlament und unsere Vergangenheit eher unwürdig (Beifall der Abg. Uta Würfel [F.D.P.]) behandelt sehen? Wir entscheiden in der Tat nicht über Kunst, wir (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) entscheiden auch nicht über den offenbar beliebigen Ist Ihnen, die für das Projekt sind, das Vergnügen, ideologischen Überbau, sondern wir entscheiden über das Sie empfinden mögen, so viel wert, daß Sie einfach den altehrwürdigen Reichstag. Das Gebäude ist noch über die Verletzung des Empfindens der anderen nach über 100 Jahren in seiner geschlossenen Fassade hinweggehen, die die Einfälle des Herrn Christo eindrucksvoll geblieben. bestenfalls für amüsant, aber nicht für wichtig hal- ten? Selbst seine Lage ist ein politisches Symbol: jenseits der alten Stadtgrenze, jenseits des Brandenburger (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der Tors errichtet, mit der Fassade abgewendet vom CDU/CSU) damaligen Machtzentrum und dem deutschen Volk Es sollte und es muß in unserem Land noch Dinge gewidmet. Es gibt kein Bauwerk in der Bundesrepu- geben, die für p rivate Vergnügungen nicht zur Verfü- blik, in dem sich Glanz und Elend eines deutschen gung stehen. Es ist wichtig, daß der Reichstag dazu- Parlamentes und die deutsche Geschichte der letzten gehört. 120 Jahre so widerspiegeln wie dort. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der sowie bei Abgeordneten der SPD — Peter CDU/CSU) Conradi [SPD]: Ein echter Liberaler war das! — Gerhard Reddemann [CDU/CSU]: Ja, das Dort haben Bismarck, Bebel, Eugen Richter, Lasker werden Sie nie begreifen!) und viele andere einen mühsamen, vierzig Jahre dauernden Weg in die parlamentarische Demokratie begonnen. Dort hat Scheidemann die Republik ausge- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster spricht rufen. Von dort haben Rathenau und S tresemann der Kollege Heribert Scharrenbroich. Deutschland in die Völkergemeinschaft zurückge- führt. Heribert Scharrenbroich (CDU/CSU): Frau Präsi- Ich sehe Marinus van der Lubbe, der für dieses dentin! Meine lieben Kolleginnen! Liebe Kollegen! Symbol sein Leben aufs Spiel gesetzt hat. Ich sehe Ich möchte festhalten — etwas anderes würden sicher Göring mit seinen feixenden uniformierten Abgeord- fast alle von uns ablehnen —: Der Bundestag entschei- neten. Ich sehe die Erstürmung durch die Rote Armee det heute nicht über Kunst. Wir entscheiden nur, ob und 40 Jahre danach, am 3. Oktober 1990, die Feier wir zulassen, daß sich an diesem Monument der der Wiedervereinigung, bei der wir auf der Treppe vor deutschen Geschichte Kunst darstellt. Nur um diese dem Reichstagsgebäude standen und sich manche die Erlaubnis geht es heute, um nichts anderes. Hand gegeben haben. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der Nun kommt Herr Christo und verpackt alles. Es wird F.D.P. und der SPD) beruhigend versichert, daß es nichts koste und daß es Ich möchte, sehr verehrter Herr Kollege Hirsch, im übrigen für Berlin eine famose Reklame sein solle, auch auf Ihre Argumente eingehen. Sie sagen, Sie für die die Besucher 500 Millionen DM ausgeben wundern sich, daß die Beliebigkeit der Argumente werden. Was für Argumente! Wenn ich das lese: Das hier so einfach hingenommen wird. Ich glaube, es ist Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994 18279

Heribert Scharrenbroich doch gerade typisch für ein Kunstwerk, daß die Rüttgers [CDU/CSU]: Wer hat denn angefan Zuschauer, die Betrachter, diejenigen, die sich für die gen?) Kunst begeistern, das Recht haben, das Kunstwerk — Es ist doch wohl unser gutes Recht, daß wir uns mit auch anders zu interpretieren, als der Künstler es den Gedanken des Künstlers befassen. Herr Rüttgers, selbst getan hat. das dient auch dem Ruf dieses Parlaments. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ F.D.P., der SPD, der PDS/Linke Liste und des DIE GRÜNEN) BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wie oft haben wir die Gedichte des alten Goethe Ich möchte auch ein anderes Mißverständnis auf- interpretiert und sicher vieles hineininterpretiert, klären. Es wird so oft gefragt: Hat denn dieser Deut- woran dieser gar nicht gedacht hatte. Das ist doch das sche Bundestag nichts Wichtigeres zu tun? Darüber streiten. Aber ich möchte hier klarstellen, Recht desjenigen, der sich mit Kunst befaßt. kann man daß alle Befürworter der Auffassung waren, darüber Ich danke Herrn Kollegen Hirsch auch dafür, daß er sollte der Ältestenrat entscheiden. Diejenigen, die das auf die Geschichte eingegangen ist, die mit diesem Projekt ablehnen, waren der Auffassung, daß wir es Gebäude verbunden ist. Auch wenn ich gerne meine hier diskutieren sollten. Das kann m an so sehen. Begeisterung für dieses Kunstwerk als Sprecher der doch beachtlichen Zahl von Unionsabgeordneten dar- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der stellen möchte, die für das Projekt sind, F.D.P., der SPD, der PDS/Linke Liste und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der F.D.P., der SPD und des BÜNDNISSES 90/ Es ist sicher gut, daß man meint, man sollte vor der DIE GRÜNEN) Öffentlichkeit die Argumente darlegen, warum man dafür ist bzw. warum man dagegen ist. Diese Gele- obwohl ich sehr gerne über die Ästhetik sprechen genheit wollen wir jetzt nutzen. möchte, möchte ich jetzt als Politiker darstellen, wel- ches Interesse wir als Deutscher Bundestag daran ( [München] [CDU/CSU]: Und haben sollten, daß diese Verhüllung stattfindet. Den dann abwarten!) Zweiflern in der Bevölkerung kann man sehr wohl Erstens. Warum nicht die anderen Parlamentsge- darstellen, welch großen Nutzen diese Verhüllung für bäude? — Nur der Reichstag ist das Parlamentsge- uns hat — für den Parlamentarismus, für Deutschl and bäude eines Staates, der seine Spaltung überwunden und für Berlin. Man kann es festmachen an der Frage, hat. die ja immer wieder gestellt wird, sehr wahrscheinlich auch heute — Herr Hirsch hat es auch gesagt —: (Gerhard Reddemann [CDU/CSU]: Deswe Warum nicht das House of Parliaments, warum nicht gen muß man ihn zudecken?) das Capitol? Deswegen ist es für mich so interessant, daß dieses (Zuruf von der F.D.P.: Warum nicht das Gebäude verhüllt wird. Das ist gerade der Gedanke Brandenburger Tor?) von Christo, der aus dem Ostblock geflüchtet ist, daß er dieses Parlament, dieses Gebäude verhüllen wi ll , Nun, erstens hat der Künstler das Recht, das Objekt weil es früher an der Nahtstelle zwischen Ost und selber vorzuschlagen, West stand. Dem gegenüber sollten wir uns meines (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Erachtens aufgeschlossen zeigen. und wir können ihm nicht vorschlagen, was er zu (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der verhüllen hat und was er für seine Kunst für adäquat F.D.P., der SPD, der PDS/Linke Liste und des hält. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Aber wir Jetzt befindet sich dieses Gebäude an der Dreh- können nein sagen!) scheibe zwischen West und Ost. — Wir können nein sagen, natürlich. Das steht heute Ich sage auch: Dieses Parlament verkörpert wie kein zur Debatte. Herr Kollege Rüttgers, wenn Sie das jetzt anderes Tiefen und Höhen auf dem Weg zur Demo- so dazwischenrufen, dann möchte ich auch auf einen kratie. Gerade in der jetzigen dramatischen Situation, anderen Einwurf des Herrn Kollegen Hirsch einge- in der Länder in Ost- und Mitteleuropa um den Aufbau hen. Auch ich bedaure es, daß wir heute in dieser der Demokratie ringen, kann man an diesem- Beispiel Frage, die wir eigentlich mit etwas mehr Leichtigkeit doch darstellen, wie schwierig es ist, zur Demokratie diskutieren sollten, von den Gegnern des Projekts zu zu kommen. Die Verhüllung wird eine grandiose einer namentlichen Abstimmung gezwungen wer- Gelegenheit sein, daß wir über den Parlamentarismus den. Ich halte das nicht für gut. diskutieren und daß wir unsere Bevölkerung einla- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. den, mit uns über den Parlamentarismus zu diskutie- sowie bei Abgeordneten der SPD, der PDS/ ren. Diese Chance sollten wir nicht vorübergehen Linke Liste und des BÜNDNISSES 90/DIE lassen. GRÜNEN) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der Vielleicht sollte man bei der Abstimmung auch diese F.D.P. und der PDS/Linke Liste sowie bei der Stilfrage mit bedenken. SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Hans Klein [München] [CDU/CSU]: Wer hat Wir sollten daran erinnern — das wird in diesen denn den Antrag eingebracht? — Dr. Jürgen Tagen geschehen, es ist aber auch schon vorher Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994 18311

Walter Link (Diepholz) sie in der Opposition sind. Wenn sie in der Regierung ren in den neuen Ländern gegönnt wird. Nein, sie sind, sind sie nicht in der Lage, dies umzusetzen. werden noch von 1,8 Entgeltpunkten auf 1,0 herun- Ich will noch etwas zur Stiftung sagen, Frau Kollegin tergestuft. Das hat mit Rechtsstaatlichkeit nichts zu Seuster, weil Sie der Ministerin hier einen Vorwurf tun. Das sind ideologische Überbleibsel einer gemacht haben. Sie haben sich ja bei der Stiftung Pauschalverurteilung, die, so hoffe ich, in der näch- „Mutter und Kind" sehr schwergetan. Sie haben lange sten Legislaturperiode beendet werden wird — durch dagegengeredet, anschließend die segensreiche Tä- wen auch immer. tigkeit dieser Stiftung festgestellt und sich dann Jahr Nun aber zu den ideellen Dingen. Der Kollege für Jahr im Ausschuß der Stimme enthalten, anstatt Walter Link hat es wenigstens kurz angesprochen, gut und vernünftig mitzuarbeiten. aber als einziger. Die Kriminalitätsexplosion betrifft (Lisa Seuster [SPD]: Wir sind für Rechtsan die Alten existentie ll. Sie haben Angst. Es gibt wohl sprüche; das stimmt! Wir sind gegen Almo Täterstatistiken, aber es gibt keine Opferstatistiken. sen!) Wenn — wie gestern die beiden Innenminister sag- Wenn Frau Rönsch, die fast ständig — es vergeht ten — die Kriminalität von 4 1/2 Millionen Straftaten auf kaum eine Woche — in den neuen Ländern ist und dort jetzt über 7 Millionen gewachsen ist, wobei es sich vor erfährt, wie elendig die Menschen in den letzten allem um Kleinkriminalität durch importierte Krimi- 40 Jahren und zum Teil noch immer in den Altenhei- nelle handelt, dann trifft das vor allem die alte men leben, den Mut hat, eine Stiftung ins Leben zu Generation. Es gehört auch zu einer verantwortungs- rufen — diese Stiftung baut bereits die ersten Alten- vollen Altenpolitik, wieder eine solche Kriminalpoli- heime —, dann sollten Sie sie unterstützen. Die tik zu machen, die den alten Menschen die Angst finanzstarken Leute im Westen unserer Republik nimmt, zu Hause Einbrecher anzutreffen, und die sollten ihr Geld zur Verfügung stellen, um diesen dafür sorgt, daß sie sich wieder auf die Straße Menschen zu helfen, nicht nur immer kritisieren. trauen. (Beifall bei der CDU/CSU — Lisa Seuster Zum nächsten ideellen Punkt: Der kulturelle Alltag [SPD]: Wir brauchen keine Almosenpoli unserer alten Menschen wird weitgehend vom Fern- tik!) sehen bestimmt. Es ist eine Beleidigung für unsere alten deutschen Männer und Frauen, wenn sie dort Abschließend hoffe ich, daß aus diesem Altenbe- ständig Pornographie und Gewalt zu sehen bekom- richt eine neue, eine noch bessere Politik für unsere Senioren hervorgeht. Unsere Senioren in Deutschland men. Es ist eine große Fehlleistung unserer Gesell- haben eine gute Politik verdient. schaft, daß sie nichts dafür tut, daß diese Gewalt- und Pornographiewelle wieder aus den Fernsehprogram- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. men verschwindet. Wo sind die deutschen Märchen? Hans A. Engelhard [F.D.P.]) Wo sind die deutschen Volkslieder? Wo sind die Heimatfilme? Wo ist das, was bei den alten Menschen Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich erteile eine positive Erinnerung hervorruft? Es fehlt fast nunmehr dem Abgeordneten Dr. Krause (Bonese) das völlig. Wort . Ein weiterer Punkt hierzu: Im Fernsehen und in den anderen Medien ist immer stärker eine einseitige Dr. Rudolf Karl Krause (Bonese) (fraktionslos): Herr Besudelung der deutschen Vergangenheit, aber auch Präsident! Meine Damen und Herren! Die Kapitel des eine Fehldarstellung der DDR-Vergangenheit festzu- Altenberichtes sind handwerklich wirklich sehr sau- stellen. Für viele Menschen sind weite Teile ihrer ber, lesbar, übersichtlich und wissenschaftlich fun- Erinnerung schön, gut, anständig und edel, aber sie diert gearbeitet. Er weist aber erhebliche Lücken auf, dürfen es nicht in den Medien miterleben. Alles, was soweit es sich um die Lage der Senioren in den neuen früher war, war schlecht; alles, was in der DDR war, Ländern handelt, und ist weitgehend materiell ausge- war schlecht — so wird es dargestellt. Aber so ist es richtet. wirklich nicht. Meine Familie und ich, wir hatten zwei Jahre unter „Berufsverbot" — so sagt man heute — zu Der Mensch lebt nun nicht vom Brot allein, unsere leiden. Aber auch da gab es viele schöne Tage und Rentner schon gar nicht. Lassen Sie mich daher bitte viele schöne Wochen. Es gibt jedoch keine Chance, nur eines zur materiellen Situation sagen: Bei der daß dieser Alltag der deutschen Vergangenheit auch Rentendiskussion vor einem Dreivierteljahr hatte ich positiv dargestellt wird. bereits mein Entsetzen darüber zum Ausdruck - gebracht, daß ganze Bevölkerungsgruppen, die in der Ein letztes: Zum lebenswerten Leben gehört eben gesetzlichen Rentenversicherung 1,8 Entgeltpunkte auch die Ehrfurcht vor dem Leben, die Ehrfurcht vor beanspruchen dürfen, pauschal, ohne Einzelfallprü- dem ungeborenen Leben genauso wie die Ehrfurcht fung, quasi als gesellschaftliche Sippenhaftung auf 1,0 vor dem Alter. Das Beispiel Holland zeigt ja, daß es herabgestuft werden. Zusammenhänge zwischen der Freigabe der Abtrei- Es ist sehr makaber, wenn der 20 bis 30 Jahre als bung und der Freigabe der Euthanasie gegenüber LPG-Vorsitzende tätig gewesene Christ, der zum Teil Alten gibt. Es sind Tausende, die in Holland gegen in der Kirchenleitung tätig war, der seine Familie ihren Willen euthanasiert werden. immer existentiell gefährdet hat, jetzt für diese Jahre Die „Bild-Zeitung" lügt, wenn sie von der „Märki- in der Rente auf 1,0 Entgeltpunkte herabgestuft wird, schen Zeitung" abschreibt, ich würde in solchen der Pastor aber, dem er die ganze Zeit geholfen hat, Positionen andere Auffassungen vertreten als die jetzt die volle Rentenpension bekommt, wie sie kei- katholische Kirche. Lassen Sie mich sagen: In der nem Arzt, keinem Lehrer und anderen Vergleichba Frage des lebenswerten Lebens, sowohl was das Alter 18280 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994

Heribert Scharrenbroich geschehen —, daß im Reichstag das Parlament der das, was noch da ist, für ein Klotz ist. Ich möchte mein Monarchie die Demokratie abgetrotzt hat, daß in ihm Plädoyer für das Projekt Christo mißbrauchen, um Sie die braunen Despoten die Demokratie geknebelt zu bitten, sich die Modelle anzuschauen und zu haben und daß in ihm Geschichte geschrieben wurde, überlegen, ob nicht sinnfällig wird, daß dort etwas die dann wiederum Grundlage für unser Grundgesetz fehlt. Gerade nachdem ich mir die Modelle von wurde, eine der besten Verfassungen dieser Welt. Christo angesehen habe, bin ich ein begeisterter Diese Erfahrungen sind in diesem Gebäude konzen- Anhänger der Auffassung, daß das Reichstagsge- triert. bäude wieder eine Kuppel braucht, damit es nicht so Deswegen sage ich: Geben Sie, liebe Kolleginnen klotzig in der Welt steht. Auch dafür kann m an dieses und Kollegen, den Weg frei, daß sich unsere Bürge- Kunstwerk gebrauchen. rinnen und Bürger mit unserer Geschichte auseinan- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und dersetzen können, daß sie dazu eingeladen werden der SPD) und vielleicht sogar von der Weltöffentlichkeit dazu Meine Damen und Herren, ich bitte Sie, geben Sie gezwungen werden. Die Geschichte wird enthüllt, uns Deutschen die Chance, daß wir den Reichstag wenn der Reichstag verhüllt wird. Endlich gelangt das wieder aufwerten und daß wir das Interesse der Parlament in das Interesse der Öffentlichkeit. Bevölkerung für den Reichstag noch vergrößern. Für uns Befürworter ginge überhaupt nicht die Welt Herzlichen Dank. unter, wenn die Entscheidung heute negativ ausfiele. Wir diskutieren, ob Kunst zugelassen wird. Deswegen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und bitte ich aber auch die Gegner, daß sie sich ruhiger mit der F.D.P. und bei der SPD, dem BÜND diesen Argumenten auseinandersetzen. NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne ten der PDS/Linke Liste) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Wir sollten Deutschland und Berlin die Chance Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster spricht geben, wieder auf die Weltbühne der Kunst zurück- der Abgeordnete Dr. Dietmar Keller. zukehren. Vielleicht ist das der Grund, warum sich alle Regierenden Bürgermeister von Berlin, ob Sozial- demokraten oder Christdemokraten, für dieses Pro- Dr. Dietmar Keller (PDS/Linke Liste): Frau Präsiden- jekt eingesetzt haben. Das sollten wir doch zur Kennt- tin! Meine Damen und Herren! Ich möchte zunächst nis nehmen. dem bulgarisch-amerikanischen Künstler Christo für seine künstlerischen Arbeiten meine hohe Achtung (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und aussprechen. Es ist das schöne, daß manches einen bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜ sehr glücklich macht, manches einem Fragen stellt NEN sowie bei Abgeordneten der PDS/Linke und Probleme aufwirft. Aber das ist ja offensichtlich Liste) Sinn und Zweck und Funktion der Kunst. Die Begeisterung, die eigentlich bei allen Kunstwer- Christo ist offensichtlich der erste Künstler, der in ken Christos, nachdem sie vollzogen worden sind, der Geschichte des Deutschen Bundestages die auch die Gegner erfaßt hat — Chance hat, in einer Plenardebatte eine ganze Stunde (Peter Conradi [SPD]: So ist es!) gewürdigt oder kritisiert zu werden. Ich kann mir schon vorstellen, daß viele andere seiner Kolleginnen denken Sie einmal an die Geschichte mit dem Pont und Kollegen sehr traurig sind, daß sie diese Chance Neuf! —, sollte uns doch zu denken geben. Liebe nicht haben. Kolleginnen und Kollegen, wir sollten das etwas vorwegnehmen, das sollte uns eine Lehre sein, und Ich als Bundestagsabgeordneter bin traurig, daß wir wir sollten uns von dieser Begeisterung etwas anstek- in dieser Legislaturperiode keine Zeit gehabt haben, ken lassen. uns hier im Bundestag über den Kulturstandort Deutschland, über die Kulturlandschaft in Deutsch- Man muß sich einmal vorstellen, wie dieses land, über die Wahrung und den Ausbau der kulturel- Gebäude nach der Verhüllung im Licht erscheint. Es len Infrastruktur zu verständigen. Daß wir in eine wird keine Plastikfolie verwendet. Ich nehme mir die Situation gekommen sind, daß heute der Bundestag Freiheit, Ihnen einmal das Material zu zeigen. Mit darüber zu entscheiden hat, macht mich nicht glück- dem Material, das ich hier in der Hand habe — es ist lich. Und ich gestehe auch, es hat in mir -vieles an Für durchsichtig —, wird das Gebäude in einer sehr und Wider hervorgerufen. Ich sage Ihnen auch, würdigen Form verhüllt werden. warum. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Ich fühle mich an DDR-Zeiten erinnert, als das Ich lasse es gern gleich einmal rundgehen, damit Sie Politbüro und nicht eine Kunstkommission oder der es anfassen können. Direktor des Palastes der Republik darüber entschied, welche Künstler im Palast der Republik ausstellen Meine Damen und Herren, gerade in bezug auf die können und welche Bilder ausgestellt werden. Entscheidung, die jetzt bevorsteht, auch was den Umbau des Reichstags angeht, ist es doch phanta- (Unruhe bei der CDU/CSU) stisch, zu sehen, wie durch diese Verhüllung die Es ist nicht Aufgabe des Bundestages, über so etwas Hauptlinien des Reichstagsgebäudes deutlich wer- zu entscheiden. Wenn wir aber darüber entscheiden den. Wer sich die Modelle des Reichstagsgebäudes müssen, dann sage ich, obwohl es mir schwerfällt, ja anschaut, wird sehen, wieviel jetzt noch fehlt und was zu dieser Entscheidung, und das aus zwei Gründen. 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Dr. Dietmar Keller Erstens hatte Christo wegen seines Vorhabens, den eines Christo. Diese soziale Komponente des Werkes Reichstag zu verhüllen, keine Chance, in die DDR zu kann nicht hoch genug geschätzt werden. Wie lang- kommen und jemals in der DDR auszustellen. Ich weilig ist dagegen alles, was nicht zum Widerspruch möchte mit diesem Ja einen Teil von dem wiedergut- oder zu Fragen reizt. Glatte Eintönigkeit gibt es machen, was an ihm an Schaden verursacht worden wahrlich genug. ist. Die Verhüllung des Reichstages, meine Kollegin- (Beifall des Abg. Peter Conradi [SPD]) nen und Kollegen, ermöglicht es uns, diesen zentralen Ich gestehe ehrlich — ich habe mit Christo darüber und ambivalenten Ort deutscher Geschichte in ande- gesprochen —, daß wir ihn einladen wollten, aber nie rem Licht zu sehen und sinnlich neu zu erfahren. Die die Chance hatten und es verboten bekamen. Verhüllung ist keine Entwürdigung. Sie ist ein Aus- Ich stimme zweitens dafür, weil ich bewundere, daß druck der Ehrfurcht und schafft Freiraum zur Besin- ein Künstler seit über zwei Jahrzehnten um die nung auf das Wesentliche. Realisierung dieses Kunstwerkes kämpft, so daß die In der katholischen Liturgie der Karwoche wird das zuständigen Institutionen des Bundestages, der Älte- Kreuz verhüllt, um dann am Höhepunkt des Karfrei- stenrat schon lange die Möglichkeit gehabt haben, tags feierlich enthüllt zu werden. In der jüdischen eine positive Entscheidung zu fällen, weit vor der Tradition sind es die Thorarollen, die verhüllt werden, Einheit Deutschlands, ohne daß dieser Glorienschein um immer daran zu erinnern, wie kostbar das ist, was über den Reichstag gehüllt werden mußte. sie bergen. Ich stimme also mit Ja. Und sollte ich nicht das Glück haben, zu der Mehrheit zu gehören, dann empfehle Der Reichstag wird durch Christos Verhüllung nicht ich Christo, den Antrag zu stellen, die Treuhand entweiht, er wird geadelt — so merkwürdig das für ein einzupacken, Haus der Demokratie auch klingen mag. (Heiterkeit bei Abgeordneten der PDS/Linke (Beifall bei Abgeordneten der SPD — Unruhe Liste, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE — Glocke der Präsidentin) GRÜNEN) Er wird hervorgehoben als ein besonderer Ort, ganz oder er kann auch, um dem Wunsch nach einer einmalig und unvergleichbar. Durch die Verhüllung Friedenspause für das Wahljahr nachzukommen, die wird unsere Erinnerung an das, was in und mit diesem Gauck-Behörde einpacken. Haus geschehen ist, an die Schaffung, den Untergang Danke. und die Wiedergeburt der Demokratie belebt. Die (Beifall bei der PDS/Linke Liste) Verhüllung ist Erinnerungsarbeit. Nichts anderes kann unsere Auseinandersetzung mit der Geschichte doch sein: daß wir uns ein Bild machen von dem, was Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster spricht sich unter den Ablagerungen der Zeit an gewesener der Kollege Konrad Weiß. Wirklichkeit bietet. Die Verhüllung des Reichstages wird uns an die Konrad Weiß (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Begrenztheit unserer Wahrnehmung erinnern und Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Etliche daran, wie ungewiß unsere Erkenntnis ist. Kommentatoren stellten in den letzten Tagen die Frage, ob denn das deutsche Parlament nichts Sinn- Das ist die Vision: Der Stein des Reichstages wird volleres zu tun habe, als sich mit Christos Verhüllung eine Zeitlang unseren Blicken verborgen. Was bleibt, des Reichstages zu befassen. Natürlich haben wir ist die Form unter dem weich fallenden Stoff, die anderes zu tun, und das tun wir ja auch. veränderte, verfremdete Gestalt. Was wir wirklich Aber ist es nicht eine der Ursachen der allgemeinen sehen werden, können auch Christos Zeichnungen Ödnis, der Oberflächlichkeit, der Sinnleere, daß Men- nur andeuten. Aber es wird neu, und es wird vergäng- schen es nur noch selten lernen, sich mit Kunst lich sein. Es wird ein Einschnitt sein in die Geschichte auseinanderzusetzen und durch eigene Kreativität zu dieses Hauses, und — anders als bei dem Brand vor sich selbst zu finden? Kunst ist mehr als Kommerz und einem halben Jahrhundert — es wird eine friedliche, Unterhaltung. Sie befreit, weitet den Blick. Sie orien- eine schöpferische Zäsur sein. Der weiche Stoff, der tiert und hilft, den Sinn des eigenen Lebens zu den Reichstag umhüllt, wird uns an die Flammen finden. gemahnen, die aus diesen Mauern schlugen, und daran, wie verletzlich und gefährdet Demokratie ist. Meine Damen und Herren, es ist wirklich keine - Schande und keine verlorene Zeit, wenn sich einmal Die Enthüllung schließlich ist das Symbol für die auch die Parlamentarier in diesem Hohen Hause über Wiedergeburt der Demokratie, für den Aufbruch ein Kunstwerk streiten und darüber nachdenken. unseres Landes, das mit der Wiedervereinigung ein (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS neues Land werden sollte. SES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU, der Ich wünsche uns, meine Damen und Herren, daß wir SPD und der F.D.P.) den Mut finden, uns der kreativen Provokation dieser Durch diesen Prozeß werden wir selbst Teil des symbolischen Verhüllung zu stellen, daß wir Mut Kunstwerkes, das Ch risto mit bewunderungswürdiger zeigen zur ironischen Distanz mit uns selbst als Teil Hartnäckigkeit und Gestaltungskraft seit vielen Jah- dieses Kunstwerks und zugleich zur verantwortlichen ren erschafft. Nur selten gelingt es einem Künstler, Integration unserer Geschichte mit all ihren Höhen einen so breiten Diskurs auszulösen. Dazu braucht es und Tiefen, mit allem Bösen und Guten, wofür dieser schon die Professionalität und Überzeugungskunst Reichstag steht. 18282 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994

Konrad Weiß (Berlin) Die Abgeordneten der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE Würde, seine historische Bedeutung zu nehmen? — GRÜNEN wollen sich dieser Herausforderung stellen Ich glaube sehr wohl, daß man das kann. und stimmen Christos Projekt zu. (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P., der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNIS- sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SES 90/DIE GRÜNEN) SPD, der F.D.P. und der PDS/Linke Liste) Meine Damen und Herren, dem Gebäude wird nichts angetan, es bleibt, was es ist. Der Reichstag in seiner jetzigen Gestalt wird verhüllt — übrigens kurz bevor andere, nämlich Bauhandwerker, ihn mit einem Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster spricht der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU, Dr. Wolf- Gerüst umstellen und ihn wahrscheinlich — wenn gang Schäuble. auch optisch weniger wirksam — mit Planen verhän- gen. ( [CDU/CSU]: Nein!) (Beifall bei Abgeordneten aller Fraktionen — Ich werde korrigiert. Der nächste Redner ist der und Gruppen) Abgeordnete Manfred Richter. Das wird dann sein, meine Damen und Herren, wenn (Freimut Duve [SPD]: Ein bißchen Regie, sich der Reichstag in eine Großbaustelle verwandelt, meine Damen und Herren, wäre gut!) was ja sehr bald nach der Verhüllung durch Christo der Fall sein wird. Viele von denen, die sich sehr kritisch zu Christos Projekt äußern, scheinen diesen Widerspruch in ihrer Be trachtung nicht zu empfinden, Manfred Richter (Bremerhaven) (F.D.P.) (von Abge- denn gegen den Umbau, gegen das Verwandeln einer ordneten seiner Fraktion mit Beifall begrüßt): Frau historischen Stätte in einen Großbauplatz habe ich Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kunst, zumal keine kritischen Stimmen gehört. zeitgenössische Kunst, hat es häufig nicht leicht. Fast regelmäßig ist sie Gegenstand von Kontroversen. Für (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) so manchen, der heute als Klassiker gilt, kann gesagt Es ist für mich, meine Damen und Herren, übrigens werden: Du wirst erst beliebt, wenn es dich nicht mehr auch erstaunlich, daß viele von denen, die sich beson- gibt. — Doch nicht die Frage, ob das Projekt, das ders kritisch zur Verhüllung äußern, überhaupt keine Christo „Wrapped Reichstag" nennt, Kunst ist oder Probleme damit hatten, ein künstliches Abbild des nicht, ist hier und heute Gegenstand der Erörterung. alten Stadtschlosses in der Berliner Innenstadt aufstel- Der Deutsche Bundestag würde sich überheben, len zu lassen. wenn er sich darüber zu urteilen anmaßte. Und wir sollten uns auch davor hüten, ihn in die Rolle eines (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P., der Kunstschiedsrichters zu bringen. Deswegen geht ja CDU/CSU und der SPD) auch die Entscheidung quer durch die Fraktionen. Das Und es ist auch nicht wahr, daß Christo etwa kann gar nicht anders sein. leichtfertig mit einer historischen Stätte umgehen Aber: Die Kontroverse um das Reichstagsprojekt würde. Wer sich mit ihm unterhalten hat, der weiß, daß braucht uns nicht zu schrecken; denn in der kontro- er sich sehr wohl der Bedeutung des Ortes bewußt ist, versen Diskussion über dieses Projekt wird ebenso daß er auch die Tragik dieses Bauwerkes erfaßt hat, mehr von dem Charakter des Bauwerkes deutlich, wie das „dem deutschen Volk" gewidmet ist, und daß er es nach meiner Meinung durch die Verhüllung mehr sensibel mit dem Gebäude umgehen wird. offenbart, als es verbirgt. Meine Damen und Herren, das Bauwerk Reichstag Christo reduziert Formen auf große Linien, Bauten verdient in der Tat Respekt. Dieses große Symbol der auf wesentliche Körper. Verfremdung ist sein Stilmit- deutschen Geschichte wird durch Christos Projekt tel. Die Projekte, die er in der Vergangenheit gemacht herausgehoben; es wird für eine große Zahl von hat — sei es der verhüllte Pont Neuf, sei es Running Menschen Gegenstand besonderer Betrachtung und Fence —, sämtlich sind sie spektakulär gewesen, Auseinandersetzung. Viele Menschen, wahrschein- haben eine breite Diskussion ausgelöst und viel lich Millionen, werden sich auf den Weg nach Berlin Beachtung gefunden. Die „Süddeutsche Zeitung" machen, in die Hauptstadt von Deutschland, so wie schrieb: sich Millionen seinerzeit nach Paris aufgemacht haben, um den verhüllten Pont Neuf zu sehen. So Christo verändert Silhouetten von Bauwerken werden der Reichstag und die deutsche Hauptstadt in oder Landschaften. Die Spur seiner vergängli- das Interesse einer Weltöffentlichkeit gerückt. chen, die Phantasie befruchtenden Kunst führt gleichsam um den Globus. (Beifall bei Abgeordneten aller Fraktionen Die kontroversen Be trachtungen sind also nicht und Gruppen) Gegenstand unserer Entscheidung. Die Bedenken, Und selbst wenn man die Bedenken hinsichtlich des die über diese Frage hinausgehen, richten sich an den Kunstcharakters als richtig unterstellen würde — was Ort des Geschehens. Kann man ein Symbol — und als ich nicht tue —, dann wäre allein dies Grund genug, solcher wird der Reichstag ja verstanden —, kann man dem Projekt die Zustimmung nicht zu verweigern. ein solches Symbol, den Ort, an dem deutsche parla- mentarische Geschichte mit seinen Höhen und Tiefen (Beifall bei Abgeordneten der SPD) besonders eindrucksvoll sichtbar wird, kann man Meine Damen und Herren, das Projekt kostet den dieses Gebäude verhüllen lassen, ohne ihm seine Steuerzahler keinen Pfennig. Es stimmt, Christo Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994 18283

Manfred Richter (Bremerhaven) betreibt ein sehr effektives Marketing. Deshalb kann zu sehen. Auch mich haben seine Werke beeindruckt, er auch auf öffentliche Gelder verzichten. Ihm das nun ob es die von rosafarbenen Plastikbahnen umkränzten zum Vorwurf machen zu wollen erschiene mir aller- Inseln in Florida waren, die Schirmlandschaften in dings wirklich verfehlt. Japan oder Kalifornien, der riesenhafte Vorhang quer (Beifall bei Abgeordneten aller Fraktionen durch eine Schlucht in Colorado oder zuletzt die von und Gruppen) sandfarbenem Kunststoff verhüllte Brücke Pont Neuf in Paris. Öffentliches Geld wird nicht benötigt, sorgfältiger Umgang, Recycling, mit dem anfallenden Mate rial Aber, verehrte Kolleginnen und Kollegen, der wird zugesichert, das Material wird in den neuen Reichstag ist eben nicht Pont Neuf. Bundesländern hergestellt. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Meine Damen und Herren, ich glaube, dieses Pro- der F.D.P.) jekt ist eine große Ch ance für Deutschland, besonders Der Reichstag ist ein herausragendes politisches Sym- für Berlin, aber auch für den Deutschen Bundestag, bol der jüngeren deutschen Geschichte, der es jetzt in der Hand hat, seine künftige Wirkungs- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge stätte in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses ordneten der F.D.P.) zu heben. Zudem entsteht die Chance, bei der Gele- genheit der Verhüllung auch auf die künftige Rolle ein Symbol, das wie kaum ein zweites die Höhen wie dieses Hauses besonders hinzuweisen. die Tiefen unserer Geschichte repräsentiert. Die Wechselfälle, die schmerzlichen Zäsuren haben an Ich bitte Sie um Unterstützung für den Antrag. dem Gebäude ihre Spuren unmittelbar hinterlassen. (Beifall bei Abgeordneten aller Fraktionen So ist der Reichstag zu Berlin steinernes Zeugnis und Gruppen) deutschen Schicksals in diesem Jahrhundert. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster spricht ordneten der F.D.P.) der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU, Dr. Wolf- Von einem seiner Balkone rief Philipp Scheidemann gang Schäuble. 1918 die erste freiheitliche deutsche Republik aus. Im Februar 1933 lieferte der Reichstagsbrand den Natio- nalsozialisten einen Vorwand, mit dem Ermächti- Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU): Frau Präsiden- gungsgesetz ihre barbarische Diktatur zu errichten. tin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! An uns, an Zwölf Jahre später hißten zwei Rotarmisten auf sei- die Abgeordneten des Deutschen Bundestages, ist die nem Dach die Sowjetflagge zum Zeichen des Unter- Frage gestellt, ob wir einverstanden sein wollen mit gangs des Dritten Reiches. dem Vorhaben, den Reichstag in Berlin mit 100 000 m 2 Stoff zu verhüllen. Über diese Frage haben wir heute Wir, der Deutsche Bundestag, haben während der zu entscheiden. Teilung Deutschlands und mit unserer Präsenz im Reichstag unser Festhalten am Ziel der Einheit in Bei dieser Entscheidung helfen uns — das ist gesagt Frieden und Freiheit und an der Zugehörigkeit des worden — künstlerische Kriterien nicht weiter. Das ist freien Berlins zur Bundesrepublik Deutschland zum keine Entscheidung über Kunst. Sie kann und sie darf Ausdruck gebracht. dies nicht sein. Niemand von uns wird sich anmaßen wollen, zu entscheiden, ob das Vorhaben von Christo (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge künstlerisch sinnvoll ist oder nicht. ordneten der F.D.P.) Christo selbst hat im vergangenen Jahr erklärt, er Hinter der Ostfassade des Reichstags verlief fast lasse sich auf akademische Erörterungen über die 20 Jahre lang die Schandmauer, die Berlin, Deutsch- Frage, was Kunst ist, nicht ein. Ihm gehe es um die land und Europa teilte. Vor der Westfassade haben wir sozialen und politischen Elemente seiner Arbeit. Dies in der Nacht vom 2. auf den 3. Oktober 1990 die müssen auch für uns die entscheidenden Gesichts- Wiedervereinigung unseres Vaterlandes in Freiheit punkte sein. und Frieden feierlich begangen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Wir Deutsche besitzen nicht viele Symbole, die die deutsche Geschichte der letzten 100 Jahre mit ähnli- Deshalb geht es nicht um die Frage, ob die einen cher Wucht, mit ähnlicher Dramatik lebendig werden mehr aufgeschlossen sind für Kunst und für das, was lassen. So ist der Reichstag wohl das symbolträchtigste mit Kunst bewirkt, auch provozierend bewirkt werden und bedeutungsvollste politische Bauwerk- in kann, als die anderen. Man sollte den Kritikern und Deutschland. Mit einem solchen Symbol sollten wir Gegnern der Reichstagsverhüllung genausowenig sorgsam umgehen! Sensibilität und Urteilsvermögen absprechen wie den Befürwortern des Vorhabens. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.) Jedenfalls braucht den Vorwurf der Ignoranz niemand Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Dr. Schäuble, auf sich sitzen zu lassen. gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Ich meinerseits habe großen Respekt vor dem Werk Renate Hellwig? und dem Schaffen von Christo. Seine Aktionskunst scheint mir von hoher, — nicht nur ästhetischer — Wirkung, und sie lehrt uns, vieles mit anderen Augen Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU): Nein. 18284 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994

Dr. Wolfgang Schäuble Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, Sie Frank Schirrmacher schrieb dieser Tage in der haben vielleicht zuwenig bedacht, wie viele unserer „FAZ", alle Argumente, die für das Verhüllungspro- Mitbürger Schwierigkeiten haben, die Debatte und jekt vorgebracht werden, hätten den Beiklang des jede denkbare Entscheidung zu verstehen. Gesuchten. Das Verhüllungsprojekt sei letztlich eben

doch nur Selbstzweck. — Mir erscheint das richtig. Es (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und gibt keine konsistente und überzeugende Antwort auf der F.D.P.) die Frage, was das Ganze eigentlich soll. Wir sollten uns Mühe geben, unsere Argumente klar (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und vorzutragen. der F.D.P.) (Peter Conradi [SPD]: Herr Schäuble, wer hat Warum gerade der Reichstag? In keinem anderen denn die Debatte ins Plenum geholt? Sie Land gab es bisher die Überlegung, ein Gebäude von doch!) vergleichbarer Bedeutung zum Gegenstand einer — Herr Kollege Conradi, Sie haben die Debatte solchen Aktion zu machen. Auch in anderen Ländern eröffnet, indem Sie dafür geworben haben, daß man in drücken Parlamentsgebäude Geschichte aus, aber die Ruhe die Argumente austauschen soll. Hausherren im Palace of Westminster, auf dem Capi- tol Hill oder im Palais Bourbon würden doch niemals (Peter Conradi [SPD]: Das tue ich noch!) dem Gedanken einer Verhüllung ernsthaft nähertre- Ich finde, Ihre eigenen Ratschläge sollten Sie noch ten. eine Dreiviertelstunde später beherzigen. (Zuruf von der SPD: Woher wissen Sie (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und das?) der F.D.P.) — Das ist ja nie geschehen. — Ist denn in diesen Christo selbst wirbt für seine Projekte gerne mit dem Ländern das Verständnis von politischem Stil, politi- Hinweis, daß sich ihre Wirkung auf die Menschen im scher Würde, von politischer Kultur gefestigter als bei voraus kaum berechnen lasse, daß m an die Resultate uns? erst konkret vor sich sehen müsse. Es sind Experi- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und mente, und daran ist sonst ja auch nichts auszusetzen. der F.D.P.) Aber, verehrte Kolleginnen und Kollegen, weil der Reichstag eben nicht irgendein Gebäude ist, sollten Jedenfalls weiß man in anderen Demokratien um die wir mit ihm gerade keine Experimente veranstalten. Ehrwürde, die einem Traditionsgebäude freiheitlicher Demokratie innewohnt und innewohnen muß. Wir (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Deutsche tun uns schwer mit Symbolen, die unsere der F.D.P.) Geschichte zum Ausdruck bringen, und angesichts Es ist auch gesagt worden, Christo bemühe sich seit der Brüche und Verletzungen ist das nur zu verständ- 20 Jahren um das Projekt. Mit allem Respekt: Mich lich. Aber gerade deshalb sollten wir behutsam irritiert etwas die Beliebigkeit, mit der die Begründun- sein. gen in diesen 20 Jahren abwechseln, die für das Unsere repräsentative Demokratie, ihre Institutio- Projekt vorgetragen worden sind. nen, auch ihre Repräsentanten haben derzeit eher (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und zuwenig als zuviel Vertrauen, und weil solche Defizite der F.D.P.) bestehen, müssen sie abgebaut werden. Wir sollten niemand in Versuchung führen oder ihm Gelegenheit Zunächst hieß es, der Reichstag sei ein Symbol des bieten, solche Defizite für sich auszunutzen, um Dritten Reiches — was historisch nun wirklich falsch unsere freiheitliche Demokratie zu schwächen. ist —, seine Verhüllung ordne sich ein in die Bemü- hungen, die NS-Vergangenheit in Deutschland aufzu- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und arbeiten. der F.D.P. — Peter W. Reuschenbach [SPD]: Da hatten Sie aber ein weites Feld in Ihrer (Peter W. Reuschenbach [SPD]: Das hat Chri Politik!) sto niemals gesagt! Das ist Verleumdung!) Die Menschen in unserem Land müssen heute — Ich habe ja nicht gesagt, daß Christo das gesagt vieles an Veränderungen und an Verunsicherungen habe; Begründungen werden ja auch von anderen aushalten. Sie müssen die Belastungen aus dem vorgetragen. wirtschaftlichen Strukturwandel tragen; -sie müssen Einschnitte hinnehmen, die sie in 40 Jahren Wohl- (Peter W. Reuschenbach [SPD]: Befassen Sie stand und sozialer Sicherung nicht mehr gewohnt sich mit seinen Argumenten!) waren. Sie sehen sich neuen und zusätzlichen Gefähr- Darm wurde gesagt, das Verhüllungsprojekt ziele dungen ihrer Sicherheit ausgesetzt, im Innern wie von auf die besondere Dramatik, die sich mit der Lage des außen her, und in dieser Situation müssen wir den Reichstages im Schatten der Mauer, an der Nahtstelle inneren Zusammenhalt unserer freiheitlichen staatli- zwischen Ost und West verbinde. Der Reichstag chen Gemeinschaft stärken. Wir müssen uns der werde durch die Verhüllung als Symbol der Teilung Grundlage unserer Gemeinschaft, unseres Funda- ins Bewußtsein gehoben. — Jetzt, nach dem Ende des ments gemeinsamer Werte, auch unserer nationalen Ost-West-Konfliktes, geht es angeblich weniger um Identität neu vergewissern. Wir brauchen diesen Verhüllung als um Enthüllung. Jetzt geht es um den Zusammenhalt als Klammer für die Kräfte, die auch Reichstag als Symbol für den Neuanfang im vereinten angesichts enger werdender Verteilungsspielräume Deutschland. eher auseinanderstreben, statt zusammenzufinden. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994 18285

Dr. Wolfgang Schäuble Wir müssen daran erinnern, daß die staatliche So viele Menschen würden es nicht verstehen und Gemeinschaft nicht nur durch ein System perfektio- nicht akzeptieren können. nierter Rechtsnormen oder durch ein System pefektio- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) nierter Sozialleistungen, sondern vor allem durch Institutionen, in denen die grundlegenden Normen So viele Menschen würden diesen Umgang mit einem Ausdruck finden, zusammengehalten wird. Wir müs- Bauwerk, das in der deutschen Geschichte eine so sen daran erinnern, daß wir diese Institutionen stabil außergewöhnliche Bedeutung für den deutschen Par- und integrationsfähig halten müssen, wenn diese lamentarismus, für die deutsche Demokratie hat, nicht Gemeinschaft eine gute Zukunft haben soll. verstehen können. Wir haben doch heute schon genü- gend Dinge, die uns Deutsche eher auseinanderbrin- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und gen, der F.D.P. — Peter W. Reuschenbach [SPD]: (Zuruf von der SPD: Sie! Ihre Rede!) Was soll das mit diesem Werk zu tun haben, verehrter Herr Schäuble?) und zuwenig Dinge, die uns zusammenführen. Wir sollten es uns nicht leisten, zu viele Menschen gleich- Und das hat auch mit den Bauwerken zu tun, die sam am Wegesrand zurückzulassen, die ein solches diese Institutionen beherbergen. Das Bild dieser Bau- Unterfangen nicht verstehen und nicht nachvollzie- werke prägt sich den Menschen ein. Und so verkör- hen können. pern sie, die Bauwerke, diese Institutionen; sie reprä- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und sentieren sie nach außen. Damit sie sich glaubwürdig der F.D.P.) repräsentieren können, sollten wir mit ihrer äußeren Erscheinung keine Experimente veranstalten. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Dr. Schäuble, der F.D.P.) gestatten Sie eine Zwischenfrage? So ist ein Bauwerk wie der Reichstag ein politisches Symbol. In solchen Symbolen bündeln sich wie in Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU): Nein. Ich höre einem Brennglas die historischen Erfahrungen eines so viele Zwischenrufe, die stören. Ich brauche nicht Volkes. Es sind ruhende Pole, Achsen, um die das Mit- auch noch Zwischenfragen. Ich finde, daß die Art, wie und Gegeneinander der politischen Kräfte über Jahr- Sie hier stören, dem Anlaß wirklich nicht angemessen zehnte kreist. Insofern verbinden sie ein Volk auch ist. und gerade im Widerstreit der Interessen, der Ziele (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und und der Überzeugungen. In solchen Symbolen kann der F.D.P. — Peter Conradi [SPD]: Jetzt auch sich die innere Einheit eines Volkes verkörpern. Die noch wehleidig sein! — Weitere Zurufe von ganze staatliche Gemeinschaft soll sich in solchen der SPD) Symbolen wiederfinden können. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, viele verste- Dies, verehrte Kolleginnen und Kollegen, ist der hen nicht, daß wir uns überhaupt so intensiv mit dieser Grund dafür — nicht Humorlosigkeit, Intoleranz oder Angelegenheit befassen. Haben wir nicht genug mangelnder Respekt vor künstlerischer Freiheit —, andere Sorgen? warum man überall sonst auf der Welt nationalen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Symbolen behutsamen Respekt angedeihen läßt, der F.D.P.) warum man ihrer Verfremdung im allgemeinen wenig abgewinnen kann. Viele fragen sich, ob wir unsere Energie und unsere Aufmerksamkeit nicht auf Wichtigeres lenken soll- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und ten. der F.D.P.) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU Es ist auch gesagt worden, die Verpackung des sowie des Abg. Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]) Reichstages werde das ironische Verhältnis der Deut- Wie auch immer: Nachdem diese Debatte jetzt schen zu ihrer Geschichte dokumentieren. Ich sagte notwendig geworden ist, sollten wir entscheiden. schon, daß wir Deutsche uns mit unserer Geschichte Jedes Mitglied des Hohen Hauses sollte dabei nicht schwertun angesichts all der Umbrüche und Blessu- nur an seinen persönlichen Geschmack, sondern vor ren, angesichts der Wechselbäder von Hochstimmun- allem daran denken, was das Beste für unser Gemein- gen und Niederlagen gerade in den letzten 150 Jah- wesen ist, wie wir Nutzen mehren und Schaden von ren. Deswegen würde ich jedenfalls jeden Anschein ihm wenden können. von Ironie — und sei es nur ein Mißverständnis — im Umgang mit unserer Geschichte, meiden wollen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Der Ausgang eines Experiments ist immer ungewiß, der F.D.P.) und der Nutzen kann nur ein begrenzter sein. Deshalb Staatliche Symbole, Symbole überhaupt, sollen sollten wir das Risiko einer Beschädigung höher einen, sie sollen zusammenführen. Eine Verhüllung bewerten. des Reichstags — Burkhard Hirsch hat es gesagt — (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und würde aber nicht einen, nicht zusammenführen, sie der F.D.P.) würde polarisieren. Deshalb bitte ich Sie alle: Bedenken Sie die Gefahr, (Freimut Duve [SPD]: Sie polarisieren mit daß das Vertrauen zu vieler Mitbürger in die Würde Ihrer Rede!) unserer demokratischen Geschichte und Kultur Scha- 18286 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994

Dr. Wolfgang Schäuble den nehmen könnte. Stimmen Sie mit mir und der Person zu entscheiden: Ich als Hausherrin werde das großen Mehrheit meiner Fraktion einer Verhüllung dort nicht dulden! Das wäre für mein Empfinden die des Reichstags nicht zu! richtige Entscheidung gewesen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (Zurufe von der SPD: Nein!) der F.D.P.) Dann hätten wir diese Debatte hier nicht führen müssen. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächste spricht (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und die Kollegin Eike Ebert. — Entschuldigen Sie, der der F.D.P.) Kollege Eike Ebert. Meine Damen und Herren, es ist deutlich geworden, daß wir hier nicht über Kunst debattieren, sondern darüber, ob man ein Gebäude wie den Deutschen Eike Ebert (SPD): Frau Präsidentin! Meine sehr Reichstag zum Gegenstand eines solchen Experimen- verehrten Damen und Herren! Ich kämpfe nach wie tes machen darf und machen sollte. vor dafür, daß „Eike" ein norddeutscher Männername ist, obwohl der BGH inzwischen anders entschieden (Peter Conradi [SPD]: „Keine Experi hat. mente"!) (Heiterkeit) Da bin ich, meine Damen und Herren, obwohl ich die Argumentation von Wolfgang Schäuble in diesem Meine Damen und Herren, es ist nicht leicht, nach riesigen Überbau nicht übernehme, der Auffassung: Wolfgang Schäuble als Sozialdemokrat dafür zu plä- So etwas tut man nicht! dieren, die Verhüllung des Reichstages abzulehnen. (Zuruf von der F.D.P.: Warum denn nicht?) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Meine Damen und Herren, so etwas tut man schlicht Es ist deshalb nicht leicht, weil man Gefahr läuft, mit und einfach nicht! dem ganzen konservativen Überbau identifiziert zu Ich denke, alle diejenigen haben recht, die darauf werden, den Wolfgang Schäuble hier vorgetragen hinweisen, daß man sich keine westliche Demokratie hat. vorstellen kann, in der eine solche Frage auch nur (Beifall bei Abgeordneten der SPD) annähernd mit dieser Dauer diskutiert würde, wie wir Meine Damen und Herren, ich spreche trotzdem für uns das hier leisten. die vielen Sozialdemokraten in meiner Fraktion, die (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ der Auffassung sind, daß dieses Unternehmen nicht CSU und der F.D.P.) stattfinden sollte. Die Argumente sind hier, glaube ich, Meine Damen und Herren, darüber bin ich be troffen, in ausreichender Form ausgetauscht worden. Ich habe und ich denke, wir sollten das schnell zum Abschluß zehn Minuten Redezeit und denke, ich sollte von bringen. diesen zehn Minuten nicht komplett Gebrauch machen. Es sind hier viele geschichtliche Momente ange- sprochen worden, die im Zusammenhang mit diesem (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Gebäude stehen. Ich möchte die Sozialdemokraten CDU/CSU) gerne daran erinnern, daß dieses Gebäude über Ich verstehe diese Kürzung auch als Beitrag zu der lange Jahrzehnte die Kulisse gewesen ist, vor der die Argumentation, daß ich es als unangemessen ansehe, 1.-Mai-Feiern des Deutschen Gewerkschaftsbundes, daß sich dieses Parlament in dieser großen Zahl von der organisierten Arbeitnehmerschaft in diesem Land, anwesenden Abgeordneten und mit dieser langen stattgefunden haben. Diskussion überhaupt mit dieser Frage beschäftigt. Ich erinnere Euch, meine lieben Freunde, daran, (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der daß vor dieser Kulisse Ernst Reuter im Angesicht der CDU/CSU) schrecklichen Mauer die Völker dieser Welt aufgeru- Die Menschen in diesem Land verstehen es nicht. fen hat, auf diese Stadt zu schauen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich meine, daß Ihr etwas tiefer über diese Frage und auch darüber nachdenken solltet, wie unsere Wähler Die Menschen in diesem Land verstehen es nicht — ich spreche über Erfahrungen aus meinem Wahl- etwa deshalb nicht, lieber Peter Conradi, weil sie kein kreis — dieses Vorhaben beurteilen. Ich möchte Euch Verständnis dafür hätten, daß Kunst auch in Zeiten bitten, daß Ihr nach draußen geht und Eure blauen des knappen Geldes weitergefördert werden muß, Karten in rote umtauscht. - sondern sie verstehen nicht, daß sich ein Bundestag über die ganz deutliche Meinung im L ande so hin- wegsetzen kann. Denn es ist sicherlich kein Populis- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Kollege Ebert, mus, wenn man feststellt, daß 70 % der Bevölkerung in gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen diesem Lande dieses Experiment mit dem Deutschen Weiß? Reichstag ablehnen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ Eike Ebe rt (SPD): Nein, ich möchte gerne die CSU und der F.D.P.) Tradition fortführen, ohne Unterbrechung zu reden. Ich bin eigentlich etwas betroffen darüber, Frau Ich habe Herrn Weiß auch nicht gefragt. Präsidentin, daß Sie in der Entwicklung dieser ganzen Frage nicht die Initiative in der Form an sich gezogen Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Ich möchte die haben, mit einem Federstrich und der Autorität Ihrer Kollegen, die hier im Raum sind, bitten, Platz zu Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994 18287

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth nehmen; denn wie immer Sie zu der Debatte stehen, -schen in diesem Land nicht auf die Probe stellen darf". Sie sollten in Ruhe zuhören. So geäußert u. a. vom Vorsitzenden der CSU-Landes- gruppe. Eike Ebert (SPD): Meine Damen und Herren, es ist, Nationale und national eingefärbte Töne haben in glaube ich, deutlich geworden, daß dieses ganze dieser Debatte nichts, aber auch gar nichts zu suchen. ästhetisierende Gerede darüber, was mit dieser Ver- Wenn wir uns dieses Argument -- die Gefühle vieler hüllung deutlich gemacht werden soll, doch nicht Menschen würden verletzt — einmal ausnahmsweise weiterhilft. Es wird nur deshalb vorgetragen, weil man näher betrachten: Ist es denn wirklich so, daß sich mit selbst innere Probleme damit hat, daß dieses Gebäude dem Reichstag, mit einem steinernen Symbol der Gegenstand dieser Veranstaltung sein soll. Meine unglücklichen Geschichte der deutschen parlamenta- Damen und Herren, darüber denken Sie einmal als rischen Demokratie, bei vielen Menschen in diesem Befürworter nach. Lande tiefere Gefühle verbinden? Ich wage zu Es hat vor vielen Monaten einen Wettbewerb gege- behaupten, daß der großen Mehrheit der deutschen ben, wie der Umbau des Deutschen Reichstages Bevölkerung der Reichstag fremd und gleichgültig ist. aussehen soll. Ich möchte Sie gerne daran erinnern, Es wäre ja vielleicht nicht schlecht, wenn der Reichs- daß Sir Norman Foster den ersten Preis gewonnen hat. tag — dessen Verhüllung übrigens l ange vor der Ich möchte Sie gerne an das Modell erinnern, mit dem Wiedervereinigung und als diese in keiner Form er diesen ersten Preis gewonnen hat. Es ist vorgese- absehbar war, als Kunstprojekt formuliert wurde — hen, daß man den Reichstag zwar innen umbaut, aber positive Identifikationsgefühle der deutschen Bevöl- die Fassade unverändert stehenläßt, und daß man kerung auf sich ziehen würde. Aber es ist doch nicht darüber ein riesiges Glasdach spannt. Ich denke, dies so. Markus Wasmeier oder Katarina Witt ziehen doch ist die richtige Symbolik für dieses Gebäude, denn es viel mehr derartiges Identifikationspotential auf macht deutlich, daß hier etwas bewahrt werden soll, sich. nämlich deutsche Geschichte. Diese deutsche Ge- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) schichte dürfen wir nicht verhüllen. Ich finde es schlimm, daß wir einem Künstler so lange dazu Man kann über den künstlerischen Wert des Ver- verhelfen, kostenlos PR für sich zu machen. hüllungsprojekts, das einen leicht gigantomanischen Zug hat, völlig entgegengesetzter Meinung sein. Danke schön. Nach dieser Debatte hier, nach den verhalten natio- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und nalen Tönen in dieser Debatte muß man schlicht dafür der F.D.P.) sein. Wie Werner Schmalenbach, der Gründungsdi- rektor der Kunstsammlung NRW, zu Recht sagt, sollte Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Kollege Ebert, man sich einen Stoß geben, für die Verhüllung zu ich stelle noch einmal klar, daß ich von einer Entschei- stimmen. Denn die Verhüllung ist zumindest — diesen dung des Ältestenrates ausgegangen bin. Aber auch Wert hat sie — eine spektakuläre Aktion gegen ich als Präsidentin habe Mehrheiten im Parlament zu nationales und gegen sonstiges deutsches Spießer- respektieren, wenn die Entscheidung erfolgt ist, im tum. Parlament abstimmen zu lassen. Frau Präsidentin, ich danke Ihnen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Abgeordneten Konrad Weiß [Berlin] [BÜND NIS 90/DIE GRÜNEN]) Als nächstem erteile ich dem Kollegen B riefs das Wort. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als letzter in der Debatte spricht der Kollege Freimut Duve.

Dr. Ulrich Briefs (fraktionslos): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es war einfach zu befürch- ten, daß aus der Diskussion über die Verhüllung des Freimut Duve (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolle- Reichstags eine ernste, gelegentlich bitter ernste ginnen und Kollegen! Alles in allem eine gute Debatte über den Umgang mit sogenannten nationa- Debatte. Aber, Herr Kollege Schäuble, Sie haben die len Symbolen und mit der sogenannten nationalen Dimension, über diesen Gegenstand zu sprechen, zu Würde bei Befürwortern wie bei Gegnern der Verhül- einer nationalen Frage hin erweitert. Wenn die Argu- lung werden würde. Dabei wäre es — auch in bezug mente, die Sie vorgetragen, und die Warnungen,- die auf das zu verhüllende Objekt, den Reichstag — Sie ausgesprochen haben, ernst zu nehmen wären, wahrscheinlich angebrachter gewesen, die Entschei- dann dürften wir den Reichstag nicht umbauen. dung für das Ja oder Nein dieser Verhüllung leicht- händig, im Vorfeld formeller ernsthafter Parlaments- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und dem debatten zu treffen. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall des Abg. Hans-Ulrich Klose [SPD]) Dann müßte er genau so stehenbleiben, unberührt von Vielleicht hätte man auch einfach die Würfel ent- Bauhandwerkern, unberührt von Architektenplänen. scheiden lassen sollen. Völlig unangebracht ist es Das wäre dann das Symbol der Wunden unserer jedenfalls, die Verhüllung damit abzulehnen, daß Geschichte. damit „eine verunsicherte Nation nach der Wiederer- Das sanfte Signal, das von der Verhüllung ausgehen langung der Einheit sich erst selbst finden muß " — das kann und das jeder verschieden interpretiert — Peter sind Zitate — und daß man die „Gefühle der Men Conradi hat das gesagt —, ist sicher auch eine Antwort 18288 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994

Freimut Duve auf die Wunden unserer Geschichte, Herr Kollege durch ein großes Symbol für 14 Tage leisten. Dann Schäuble. gehen wir mit großem Vergnügen und mit großem Ernst in den umgebauten Reichstag — wenn wir die (Peter Conradi [SPD]: Er diskutiert nicht, er Regierung stellen, Herr Bundeskanzler. verkündet nur!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ich denke, man darf es nicht so überhöhen, wie Herr DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Schäuble das hier gemacht hat. F.D.P. und der PDS/Linke Liste — Bundes (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ kanzler Dr. : Sehr gut! Das war DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der das beste!) CDU/CSU und der PDS/Linke Liste)

Wir gehen in einen Neubau des Reichstags. Wir Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Meine Damen und haben einen höchst interessanten Vorschlag. Für mich Herren, ich schließe die Aussprache. als Politiker gibt es ein Grundelement dieses interes- santen Vorschlags. Ich habe alle Projekte von Christo Eine Erklärung zur Abstimmung nach § 31 unserer überprüft. Überall gab es eine leidenschaftliche Geg- Geschäftsordnung haben die Kollegen Lammert, nerschaft. Häufig war diese leidenschaftliche Gegner- Koschyk, Grüner, Bierling, Türk, Brecht, Schmidt schaft, etwa in der Stadt Paris, genauso überhöht wie (Fürth), Bühler (Bruchsal), von Stetten und die Kolle- die Leidenschaft von Herrn Schäuble heute morgen. gin Homburger vorgelegt.*) Hinterher gab es leidenschaftliche, aber entspannte, Wir kommen nun zur Abstimmung über den Antrag heitere, liebenswürdige Zustimmung von allen, auch der Abgeordneten Johannes Gerster, Heribert Schar- von den Kritikern. renbroich, Peter Kittelmann und weiterer Abgeordne- ter mit dem Titel „Verhüllter Reichstag — Projekt für (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Berlin", Drucksache 12/6767. DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.) Die Fraktion der CDU/CSU verlangt namentliche Abstimmung. Ich eröffne die Abstimmung. — Uns Deutschen tut dieser Moment — es geht ja nur Hat ein Mitglied des Hauses seine Stimme noch um einen kurzen Moment in unserer Geschichte — nicht abgegeben? — Das ist offensichtlich der Fall. — (Parl. Staatssekretär Horst Günther: Würde- los!) Ich schließe die Abstimmung. Ich bitte die Schrift- der Entspanntheit, der Moment des heiteren Um- führer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis gangs mit etwas sehr gut. Der Welt wird es auch der Abstimmung wird Ihnen später bekanntgege- guttun, ein solches Signal von uns zu bekommen, ben. **) Wir setzen die Beratungen fort. Ich möchte Sie (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ bitten, Platz zu nehmen. — Ich wiederhole: Nehmen DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Sie bitte Platz. — Bevor ich den nächsten Tagesord- CDU/CSU und der F.D.P.) nungspunkt aufrufe, warte ich so l ange, bis Sie Platz daß wir mit so etwas entspannt umgehen können. Das genommen haben. sind andere Bilder in den Fernseharchiven als über (Beifall des Abg. Detlev von Larcher [SPD]) Rostock und Mölln, die jetzt immer wieder herausge- holt werden, wenn über Deutschl and berichtet wird. Es gibt immer noch einige Kollegen, die mich offenbar Das ist ein anderes Bild, ein gutes Bild. nicht verstehen. Ich fordere Sie auf, Platz zu neh- men. Herr Schäuble, bei Politikern ist es häufig umge- kehrt. Wir mobilisieren die Leute für unsere Visionen und Ideen — Herr Kohl kann ein Lied davon singen —, Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf: und wenn wir die Ideen realisieren, sind die Leute Beratung der Unterrichtung durch die Bundes- enttäuscht. Bei Christo waren die Leute noch nie regierung enttäuscht. Sie waren immer begeistert. Erster Altenbericht der Bundesregierung (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ — Drucksache 12/5897 DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.) —Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Familie und Senioren (federführend)- Genau das werden wir erreichen. Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Frauen und Jugend Ich bitte darum diejenigen, die jetzt gesagt haben, Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau der Schäuble hat mich so bei meiner demokratie- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für patriotischen Saite gepackt: Überlegen Sie noch ein die Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. — bißchen. Lassen Sie es uns gelassen angehen. Ich sehe dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so (Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl: Ja!) beschlossen. Lassen Sie uns diese neue deutsche, demokratische Ich eröffne die Aussprache. Als erste spricht zu uns Gelassenheit die Bundesministerin Hannelore Rönsch.

( [CDU/CSU]: Wir stimmen *) Anlage 2 ganz gelassen mit Nein!) * *) Ergebnis Seite 18294 A Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994 18289

Hannelore Rönsch, Bundesministerin für Familie Die erste Grundlage hierfür ist die weitere Korrek- und Senioren: Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten tur des Altersbildes in unserer Gesellschaft. Leider Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! nur allzu oft wird in der Öffentlichkeit ein Bild Ich wäre auch den Kollegen dankbar, die jetzt noch verbreitet, das den älteren Menschen als inkompe- stehen, wenn sie sich hinsetzen würden. tent, als hinfällig, vielleicht als nicht ganz ernst zu nehmend, als vergeßlich darstellt. Auch werden (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sind Sie Begriffe wie „Altenlast" oder „Überalterung" ge- die Präsidentin?) nannt. Wir wissen aber, daß der weitaus größte Teil der älteren Menschen leistungsfähig und durchaus Denn das Thema, das wir heute behandeln, wird auch aktiv ist. in Zukunft Ihr Thema sein. Ich kann nur immer wieder sagen: Jeder wächst meiner Klientel, den Senioren, Ich möchte an dieser Stelle deshalb noch einmal an zu. Deshalb würde ich Ihnen empfehlen, mit großer uns alle, aber auch ganz besonders an die Medien Aufmerksamkeit zuzuhören. appellieren, endlich einen Beitrag zu einem realisti- schen und zu einem differenzierten Altersbild in der Liebe Kolleginnen und Kollegen, als Seniorenmini- Öffentlichkeit zu leisten. Wir dürfen nicht immer Alter sterin bin ich ausgesprochen dankbar, daß wir heute als Belastung für Gesellschaft oder für die Älteren im Deutschen Bundestag den Ersten Altenbericht der selbst darstellen, sondern wir müssen die Kompetenz Bundesregierung diskutieren. Wir diskutieren über und die gelebte Lebenserfahrung wesentlich wirk- die Situation der älteren Menschen in der Bundesre- lichkeitsnaher in der Öffentlichkeit deutlich machen. publik Deutschland, und wir sprechen über die Situa- Denn, ich denke, wir sollten uns doch klarmachen: Die tion der ausländischen Senioren hier bei uns im Land. meisten älteren Mitbürger möchten ihr Leben so lange Die wachsende Bedeutung der älteren Menschen in wie möglich selbständig führen und am gesellschaft- Deutschland, auch bedingt durch die demographische lichen und am politischen Leben teilhaben. Entwicklung, macht es dringend erforderlich, daß sich Viele Kommunen, viele Bundesländer unterstützen alle Verantwortlichen in Politik, in der Gesellschaft dies. Doch es fehlt häufig noch an einer Anlaufstelle; verstärkt mit den Belangen der Älteren auseinander- es fehlen Informationen, und es werden Angebote und setzen. Bedürfnisse nicht genügend zusammengeführt. Um dies zu verbessern, habe ich 1992 im Rahmen des Zentrale Aussage dieses umfassenden Gesamtbe- richtes ist: Die Situation der älteren Menschen hat sich Bundesaltenplans das Modellprojekt der Seniorenbü- in den zurückliegenden Jahren in der Bundesrepublik ros entwickelt. Deutschland spürbar verbessert. Dies gilt ganz beson- (Zustimmung bei der CDU/CSU) ders auch für die älteren und alten Menschen in den neuen Bundesländern unseres wiedervereinigten Mit den Seniorenbüros, für die es derzeit bundes- Landes. weit 32 Modellstandorte gibt — diejenigen, die sich mit der Altenpolitik beschäftigen, wissen, daß wir die Im Februar 1989 hatte meine Vorgängerin im Amt, in diesem Jahr auf mindestens 50 Seniorenbüros Frau Professor , eine Sachverständigen- erhöhen wollen —, will die Bundesregierung älteren kommission beauftragt mit der Erstellung eines Menschen neue Betätigungsfelder für ihren Alltag Gesamtberichts zur Lage der älteren Generation in eröffnen und sie z. B. zur Übernahme einer freiwilli- der Bundesrepublik. Angesichts der bevorstehenden gen sozialen Tätigkeit motivieren. Durch eine offene Wiedervereinigung Deutschlands wurde er 1990 auf Konzeption haben wir bewußt den vielfältigen Inter- die Situation der Menschen in den neuen Bundeslän- essen der älteren Menschen Raum gelassen. dern erweitert. Mit Blick auf die enger werdende Wichtig ist, daß Menschen sich engagieren, daß sie Zusammenarbeit auf europäischer Ebene stellte sich in den Seniorenbüros auch weiterhin einen Ansprech- die Kommission „Seniorenpolitik" die Aufgabe, sich partner haben, der sie unterstützt. Auch kann es die auch mit den Nachbarländern auseinanderzusetzen Aufgabe der Seniorenbüros sein, den Aufbau selbst- und die Lebenssituation in unseren Nachbarländern organisierter Gruppen zu leisten und den Anstoß dazu ebenfalls zu eruieren. Die Sachverständigenkommis- zu geben. So können z. B. Nachbarschaftsdienste ins sion unter Leitung von Herrn Professor Dr. Schütz Leben gerufen werden oder Werkstätten, in denen übergab mir Ende 1992 ihren Bericht, der Ihnen nun Ältere ihre handwerklichen Fähigkeiten zum Nutzen gemeinsam mit der Stellungnahme der Bundesregie- anderer anbieten. rung vorliegt. Die große Resonanz dieses Modellprogramms und Meine sehr geehrten Damen und Herren, ältere die Vielfalt der bereits umgesetzten Ideen beweisen, Menschen leben heute länger als früher. Sie gehen daß sich hier unserer Gesellschaft Kräfte anbieten, auf gesünder in die nachberufliche Lebensphase und die die wir nicht verzichten können und nicht verzichten vor ihnen liegende Zeit. Wenn man mit 60 aus dem dürfen. Arbeitsprozeß ausscheidet, liegt oft noch ein Drittel Ich erwarte von diesem Modellprojekt, daß es unter des Lebens vor einem. Mit 60 begreifen sie vielfach, der aktiven Mitwirkung der Senioren Wege und daß sie ihren neuen Lebensabschnitt neu gestalten Möglichkeiten aufzeigt, wie das Leben im Alter aktiv müssen, daß sie neue Aufgaben vor sich haben. Wir gestaltet werden kann und wie dies zum Nutzen alle in Politik und Gesellschaft sind gefordert, sie unserer gesamten Gesellschaft beitragen kann. hierbei zu unterstützen und die Rahmenbedingungen für ein zufriedenes, für ein aktives und ein lebenszu- Für die Zukunftssicherung des Standortes Deutsch- gewandtes Altern zu schaffen. land wird es ebenfalls langfristig unumgänglich sein, 18290 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994

Bundesministerin Hannelore Rönsch die Kompentenz, das Fachwissen und die Erfahrun- cher Politik hier in diesem Hohen Hause beschlossen gen der älteren Arbeitnehmer und Selbständigen worden ist. stärker als bisher zu nutzen. (Beifall bei der CDU/CSU — Widerspruch bei Der sich abzeichnende demographische Umbau der SPD — Zuruf der Abg. Dr. [PDS/Linke Liste]) wird im Ergebnis dazu führen, daß weniger Erwerbs- tätige die Alterssicherung für mehr ältere Menschen — Sie mögen recht haben, wenn Sie sagen: Es ist zu aufbringen müssen. Deshalb unterstütze ich eine wenig. Wenn ich das aber mit dem vergleiche, was die weitere Flexibilisierung der Altersgrenzen, wie sie im Sozialdemokraten bis 1982 getan haben, Rentenreformgesetz 1992 bereits eingeführt sind. (Zuruf von der SPD: Dann sehen Sie aber ganz schön alt aus!) Außerdem muß der gegenwärtige Trend zur Früh- verrentung gestoppt und mittel- und langfristig umge- dann kann ich natürlich sagen, daß wir eine minde- kehrt werden. Dies kann am besten gelingen, wenn stens 300prozentige Steigerung in der Familienpolitik rechtzeitig auch für ältere Arbeitnehmer geeignete gehabt haben. Arbeitsplätze geschaffen werden. Ich appelliere des- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU — halb auch von dieser Stelle an die Unternehmer: Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Nichts Denken Sie um, und bauen Sie Vorurteile gegenüber als alte Hüte!) älteren Arbeitnehmern ab. — Das wissen Sie als Kinderbeauftragter genauso gut wie ich. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU) Denn sie sind oft noch leistungsfähig und können vor Aber lassen Sie uns heute doch die Situation der allem ihre Erfahrung aus dem Arbeitsleben, aber auch älteren Menschen in der Bundesrepublik Deutschland ihre Lebenserfahrung einbringen. diskutieren. Auch dies ist eine positive Bilanz, und deshalb möchte ich das hier weiter ausführen. Die Bundesregierung hat bereits gehandelt. Mit dem Rentenreformgesetz 1992 ist die Möglichkeit geschaffen worden, Teilzeitarbeit und Teilrente zu Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Frau Ministerin, kombinieren. Leider wird dieser Weg, der für ältere gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Menschen sehr vielversprechend ist, noch zu wenig Blunck? genutzt. Ganz besonders am Herzen liegt mir die Lebenssi- Hannelore Rönsch, Bundesministerin für Familie tuation der älteren Menschen in den neuen Bundes- und Senioren: Ich hatte gerade der Kollegin Blunck ländern. Der erste Altenbericht belegt sehr deutlich, gesagt, daß wir heute eigentlich die Situation der daß sich ihre Situation seit der Wiedervereinigung älteren Menschen in der Bundesrepublik Deutschland spürbar zum Positiven verändert hat. diskutieren. Lassen Sie mich dies nur am Beispiel der Renten Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Ich frage nur, ob Sie erläutern. Legt man einen Durchschnittsverdienst bei dazu eine Zwischenfrage der Kollegin Blunck zulas- 45 anrechnungsfähigen Versicherungsjahren zu- sen, ja oder nein? grunde, erhielt ein Rentner in den neuen Ländern im Dezember 1990 672 DM Rente. Im Januar 1994 bezog derselbe Rentner 1 500 DM. Dies macht eine Steige- Hannelore Rönsch, Bundesministerin für Familie rung von 120 % aus. und Senioren: Ja. Langfristig kommt es darauf an, den Generationen- vertrag auch unter den veränderten demographi- Lieselott Blunck (Uetersen) (SPD): Frau Ministerin, schen Bedingungen aufrechtzuerhalten. Auch hierzu darf ich davon ausgehen, daß Sie den Armutsbericht haben wir im Rentenreformgesetz 1992 die nötigen der Paritätischen Wohlfahrtsverbände kennen? Darf politischen Weichen gestellt. ich Sie weiterhin fragen, ob Ihnen die Anzahl der Zunahme an Altersarmut, an Kinderobdachlosigkeit (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU — und an Kinderarmut bekannt ist, die während der Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Aber Sie Regierungszeit der CDU/CSU-F.D.P.-Koalition so machen nicht genug kinderfreundliche Poli dramatisch zugenommen hat? - tik dafür!) (Zurufe von der SPD: Sehr richtig!) — Ich habe leider die Zwischenfrage akustisch nicht mitbekommen. Hannelore Rönsch, Bundesministerin für Familie und Senioren: Sehr geehrte Frau Blunck, da ich davon (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Aber ausgehe, daß Sie auch die Analyse dieses Armutsbe- Sie machen keine kinderfreundliche Politik, richts sehr genau gelesen haben, wissen Sie, daß das weil eine Hälfte des Generationenvertrages ein sehr differenziertes Thema ist. fehlt!) (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Aber — Aber Herr Kollege, Sie sind doch mindestens so auch ein sehr klares Ergebnis!) lange im Bundestag wie ich. Deshalb muß ich Ihnen Ich habe heute leider nicht die Zeit und nicht die nicht erzählen, was seit 1982 alles an kinderfreundli Gelegenheit, Ihnen deutlich zu machen, um welche Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994 18291

Bundesministerin Hannelore Rönsch Personenkreise es sich h andelt und wie Armut defi- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Frau Ministerin, niert werden muß. gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage der Kollegin (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Höll? in der Bundesre- Wenn Sie den Bezug von Sozialhilfe Hannelore Rönsch, Bundesministerin für Familie publik Deutschland als Armut definieren, dann hat die und Senioren: Aber selbstverständlich. Ich darf jedoch Anzahl derjenigen, die arm sind, natürlich zugenom- noch einmal sagen, Frau Präsidentin: Jetzt sind es nur men. Diese Begriffsbestimmung ist aber nicht rich- noch fünf Minuten, die ich hier habe. Ich habe den tig. Eindruck, daß mir doch die Zeit irgendwo angerech- Wir werden demnächst noch Gelegenheit haben, net wird. hier sehr ausführlich darüber zu diskutieren, damit diese Polemik, die leider mit dem Armutsbericht in Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Nein, die steht hier den letzten Tagen und Wochen versucht worden ist, still . endlich unterbleibt. Wenn wir hier differenziert dar- (Zuruf von der SPD: Die Zeit steht sti ll? — über reden und Sie sich die Personenkreise anschauen Heiterkeit im ganzen Hause) — und auch die Zahlen der Sozialhilfe hinterfragen —, dann, denke ich, kommen auch Sie zu einer richtigen — Die Zeit steht still . Bewertung. Frau Höll, bitte. Aber, liebe Frau Kollegin, da Sie gerade Kinder (PDS/Linke Liste): Frau Ministerin, angesprochen haben und aus Schleswig-Holstein Dr. Barbara Höll gestatten Sie bitte die Frage, ob ich Ihre Antwort auf kommen, nehme ich auch wieder die Gelegenheit die Frage der Kollegin Blunck so verstehen kann, daß wahr, das Land Schleswig-Holstein aufzufordern, Sie entgegen den bisherigen Handlungen der Bun- doch CDU-regierten Bundesländern nachzufolgen desregierung noch darauf hinwirken werden, daß ein und endlich ein Landeserziehungsgeld einzuführen. Armutsbericht der Bundesregierung erstellt wird. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge Vielleicht ist es Ihnen dann auch möglich, in diesem ordneten der F.D.P.) Zusammenhang z. B. zu begründen, warum es in den Dann haben Sie die Möglichkeit, endlich etwas für neuen Bundesländern dazu kommt, daß trotz der Familien mit Kindern zu tun. hohen Wertschätzung der älteren Bürgerinnen und Bürger, die Sie ja hier ausgedrückt haben, bei der Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Frau Ministerin, Berechnung der Sozialhilfe kein Mehrbedarfszu- gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Abge- schlag für ältere Menschen gewährt wird. ordneten Link? Meinen Sie, im Rahmen dessen, was Sie bisher durch eine Aktion mit Plakaten, auf denen man sehr Bundesministerin für Familie Hannelore Rönsch, großflächig ältere Mitbürgerinnen und Mitbürger und Senioren: Selbstverständlich. sieht, getan haben, einen Wandel in der Gesellschaft erreichen zu können, was ich doch sehr bezweifle? Walter Link (Diepholz) (CDU/CSU): Frau Bundesmi- nisterin, es ist doch richtig, daß dies der erste Alten- Es würde mich dann auch sehr interessieren, ob es bericht überhaupt in der Bundesrepublik Deutschland Ihnen möglich wäre, bei Ihrem Beispiel der Rentenbe- ist. Die demographische Entwicklung war doch in den rechnung, das für einige Menschen zutreffend ist, 70er Jahren auch schon erkennbar, als die SPD aber doch auch mit zur Kenntnis zu nehmen, — regierte. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Frau Höll, das wird (Lachen bei der SPD) zu lang. Eine Frage, bitte! Warum ist zu dieser Zeit kein Altenbericht erstellt worden? Dr. Barbara Höll (PDS/Linke Liste): — das ist jetzt der Abschluß —, daß dort Rentenrecht in politisches Hannelore Rönsch, Bundesministerin für Familie Strafrecht verwandelt worden ist. Und was ist mit den und Senioren: Herzlichen Dank, Herr Kollege Link. Renten, die prinzipiell auf 801 DM begrenzt sind? Ich habe vorhin zwei Worte gebraucht: Alterslast und Ich danke. Überalterung. Diese beiden Worte waren für den Sprachgebrauch der Sozialdemokraten in der Ver- Hannelore Rönsch, Bundesministerin für Familie gangenheit immer typisch. Ich bin deshalb dieser und Senioren: Frau Kollegin Höll, Sie- sind ja im Bundesregierung und meiner Vorgängerin, Frau Ausschuß für Familie und Senioren, und deshalb Lehr, ausgesprochen dankbar, daß die Situation der müßten sich eigentlich einige Fragen, die Sie hier älteren Menschen endlich einmal deutlich gemacht gestellt haben, von selbst beantworten, weil die ja nun wird, daß ihre Kompetenz dargestellt werden kann, immer auch Thema des Ausschusses sind. Ich werde daß auch klar gezeigt wird, welche Lebensleistung heute hier keine Sozialhilfediskussion führen, obwohl — und wir werden bei der Pflegeversicherung ja auch ich dies sehr gerne tue und wir diese Diskussion auch darauf noch zu sprechen kommen — sie erbracht zu einem anderen Zeitpunkt hier im Plenum durchaus haben, daß wir endlich ein reales Altersbild haben mit Ihnen führen werden. Sie kennen die Sozialhilfe- und auch endlich über die Situa tion der alten Men- zahlen für die alte Bundesrepublik und für die neuen schen diskutieren können — auch über ihre Renten- Bundesländer. Ich bin ganz sicher, auch derjenige, der situation, die sich seit 1982 so erheblich verbessert in den neuen Bundesländern Sozialhilfe zusätzlich zu hat. seiner Rente bezieht, hat damit einen angemessenen (Beifall bei der CDU/CSU) Lebensspielraum. 18292 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994

Bundesministerin Hannelore Rönsch Aber jetzt noch einmal zu der von Ihnen immer Klaus Riegert (CDU/CSU): Frau Ministerin, Sie wieder erwähnten Plakataktion. Ich würde Ihnen haben gerade die Sozialstationen angesprochen. Das empfehlen, doch einmal mit älteren Menschen zu ist nun ein Feld, in dem die Länder die Zuständigkeit reden. haben. Wie sieht es auf diesem Gebiet in den alten (Zuruf der Abg. Dr. Dagmar Enkelmann Bundesländern und insbesondere in den Bundeslän- [PDS/Linke Liste]) dern, die von der SPD geführt sind, aus? — Das ist kein verkehrter Vorschlag, Frau Kollegin. (Lachen bei der SPD) Man sollte öfter gerade mit älteren Menschen reden. (Liselott Blunck [Uetersen] [SPD]: Wir tun es Hannelore Rönsch, Bundesministerin für Familie — im Gegensatz zu Ihnen! — Dr. Dagmar und Senioren: Wir haben die Sozialstationen in den Enkelmann [PDS/Linke Liste]: Sie sollten mit neuen Bundesländern nach demselben Personen- den Leuten reden!) schlüssel aufgebaut, wie gesagt, eine Anzahl von jetzt — Sie sehen vielleicht, wie oft ich besonders in den 900. Ich würde mir wünschen, daß in die in den alten neuen Bundesländern bin. Ich würde das an Ihrer Bundesländern schon seit vielen Jahren bestehenden Stelle doch einmal zur Kenntnis nehmen. Dann wür- Sozialstationen, seinerzeit initiiert von Heiner Geißler den Sie erkennen, daß sich alte Menschen auf diesen — begonnen in Rheinland-Pfalz, dann auch von Plakaten wiedergefunden haben. Sie wollen nicht als sozialdemokratisch geführten Bundesländern über- inkompetent und debil hingestellt werden, sondern nommen —, zusätzlich Kurzzeitpflegeeinrichtungen sie wollen genau das an die junge Generation weiter- und Tagespflegekliniken installiert würden, damit geben, auf das ich später gern noch zu sprechen diejenigen, die zu Hause Pflegeleistungen erbringen, kommen würde. auch die Möglichkeit haben, die zu Pflegenden ein- mal für kurze Zeit, vielleicht während einer Krankheit Meine sehr geehrten Damen und Herren, ältere des Pflegenden, unterzubringen oder in der Tages- Menschen sind mit ihrer Wohnsituation durchweg pflege unterstützende Hilfe zu erhalten. zufriedener als jüngere; sie wünschen sich auch keine gravierenden, weil für sie natürlich belastenden Ver- (Zustimmung der Abg. Cornelia Schmalz- änderungen ihrer Wohnverhältnisse. Der Altenbe- Jacobsen [F.D.P.]) richt verweist jedoch auf die nach wie vor problema- Hier haben die alten Bundesländer noch ein erhebli- tische Wohnsituation älterer Menschen in den neuen ches Defizit. Bundesländern. Bedenkt man, daß ältere Menschen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und oft vier Fünftel des Tages oder mehr in der Wohnung verbringen, ist rasche Abhilfe zwingend geboten. der F.D.P.) Neben den Instrumenten des sozialen Wohnungsbaus Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir sehe ich hier besonders eine Aufgabe der Kommunen, haben jetzt über die ambulante Versorgung gespro- der Architekten und Städteplaner, die Bautätigkeit so chen. Was mich aber besonders bedrückt — da würde zu steuern, daß die Belange der älteren Menschen ich die beiden Damen von der PDS einmal bitten wesentlich stärker berücksichtigt werden. Mit Ver- zuzuhören — ordnungen zum „barrierefreien Wohnen" hat der (Dr. Dagmar Enkelmann [PDS/Linke Liste]: Bund die gesetzgeberischen Grundlagen geschaffen; Wenn Sie etwas zu sagen hätten!) sie müssen nun wirksam umgesetzt werden. ist die Situation der alten Menschen in den Alten- und In der Altenhilfe sind gerade in den letzten Jahren Pflegeeinrichtungen in den neuen Bundesländern. seit der Wiedervereinigung wesentliche Fortschritte Hier haben wir eine Erblast aus der alten DDR erzielt worden. Hier bitte ich ganz einfach die Kolle- übernommen, die mir im Innern immer noch ausge- ginnen von der PDS, auch einmal Sozialstationen zu sprochen bitter ist. Nur 10 % der Häuser, in denen alte, besuchen. pflegebedürftige und behinderte Menschen unterge- (Dr. Dagmar Enkelmann [PDS/Linke Liste]: bracht sind, sind nach unserem Standard, nach der Machen wir ja!) Heimmindestbauverordnung, auch in Zukunft ver- — Dann haben Sie endlich einmal etwas Neues wendbar. dazugelernt, denn diese Sozialstationen gab es, Frau (Zuruf der Abg. Dr. Barbara Höll [PDS/Linke Kollegin, in der alten DDR nicht. Wir mußten 900 So- Liste] — Gegenruf von der CDU/CSU: Was zialstationen einrichten, um die ambulante Versor- sagen Sie nun?) gung alter Menschen endlich sicherzustellen. — Hier muß ich Ihnen sagen, liebe Frau Kollegin Hö ll: (Beifall bei der CDU/CSU) Gehen Sie einmal in ein Altenpflegeheim, wenn Sie Sie wurden in den vergangenen Jahren zu Hause sich hineintrauen! Sehen Sie, was man zu DDR-Zeiten nicht so betreut, wie das jetzt möglich ist. Ich muß den alten Menschen dort angetan hat, wie man sie sagen, das ist eine sehr stolze Leistungsbilanz. untergebracht hat! (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU) Wir konnten bisher ganz Erhebliches verbessern, aber es reicht noch nicht aus. Hier sind die Bundes- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Frau Ministerin, länder insgesamt gefordert, sind die neuen Bundes- gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Rie- länder gefordert, ihrer Aufgabe nachzukommen; gert? denn wir dürfen alte Menschen nicht auf eine bessere Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994 18293

Bundesministerin Hannelore Rönsch Zukunft verweisen. Sie haben 40 Jahre in der DDR sich in der Zwischenzeit für viele erheblich geändert. leben müssen, Sie haben die Familien nachgeholt, oft sind Kinder hier geboren, und viele haben hier in der Bundesre- (Zuruf der Abg. Dr. Dagmar Enkelmann publik jetzt schon Enkel. [PDS/Linke Liste]) Auch die Bindung an die Heimat, auch die soziale hatten keine Möglichkeit, dieses Land zu verlassen, Absicherung in der Heimat ist nicht mehr vorhanden. und jetzt müssen wir diesen alten Menschen noch eine Jetzt gilt es, diesen alt werdenden Mitbürgerinnen Perspektive in einer angenehmen Umgebung ge- und Mitbürgern, die aus anderen Kulturen kommen, ben. bei uns eine neue Heimat zu schaffen. Ich denke, daß es unsere zwingende Aufgabe ist, auch ihren Kulturen (Beifall bei der CDU/CSU) gerecht zu werden. Wir müssen in der Politik darauf Meine sehr verehrten Damen und Herren, mir läuft eingehen, denn gerade im Alter müssen wir solida- die Zeit davon. risch zu ihnen stehen. Deshalb werden die Belange der älteren Ausländer künftig auch in der Senioren- (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der politik der Bundesregierung eine ganz maßgebliche SPD — Zurufe von der SPD: Ja! Das ist Rolle spielen. wahr!) (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) — Das geht Ihnen ganz genauso wie mir; denn, meine sehr geehrten Damen und Herren, wir alle werden Ich habe in einem ersten Informationsgespräch mit älter. Wenn ich zu Beginn gesagt habe, daß auch Sie Vertretern von Selbsthilfegruppen älterer Ausländer später irgendwann zur Klientel der Seniorenministe- über die spezifischen Bedürfnisse, über die Schwierig- rin gehören werden, dann trifft es den einen früher keiten diskutiert, und wir werden diesen Dialog fort- und den anderen ein wenig später. setzen. Im Rahmen des Bundesaltenplans fördert mein Haus schwerpunktmäßig Projekte zur Entwicklung (Zuruf des Abg. Peter Conradi [SPD]) neuer Wege in der Altenarbeit und der Altenhilfe für ausländische Senioren. — Herr Kollege Conradi, wir haben uns in diesem Hause schon darüber unterhalten. Exemplarisch will ich nur eine Altentagesstätte in Mannheim nennen, die speziell für ältere Türken Lassen Sie mich zum Abschluß noch auf eine eingerichtet worden ist. Sie trägt der Idee Rechnung, Personengruppe aufmerksam machen, die bei uns in daß sich die Politik für ältere Ausländer an deren der Bundesrepublik Deutschland lebt und die Bundes- ureigensten kulturellen, sprachlichen und religiösen republik Deutschland mit aufgebaut hat. Ende 1991 Vorstellungen orientieren muß. Sie muß den unter- lebten in Deutschland rund 300 000 Ausländer im schiedlichen ethnischen Prägungen gerecht werden, Alter von 60 und mehr Jahren. Ihre Zahl wird voraus- sie berücksichtigen und zugleich einen Prozeß der sichtlich bis zum Jahr 2010 auf rund 1,3 Millionen und Integration in unsere Gesellschaft bewirken und bis zum Jahr 2030 auf 2,8 Millionen ansteigen. Die fördern. Dies ist jedoch nur auf der Basis von gegen- ausländischen Senioren sind damit die am stärksten seitigem Verständnis und Toleranz zu erreichen. anwachsende Bevölkerungsgruppe in der Bundesre- publik. Seniorenpolitik, meine sehr geehrten Damen und Herren, ist Zukunftsaufgabe, und wir alle in der Genauso, wie wir Antworten auf die unterschiedli- Politik, in der Gesellschaft müssen die Rahmenbedin- chen Bedürfnisse der älteren deutschen Mitbürger gungen dafür schaffen, daß allen älteren Menschen in finden müssen, müssen wir uns dieser Senioren, dieser Deutschland heute und auch in Zukunft ein Alter in älteren Arbeitnehmer aus unterschiedlichen Kulturen größtmöglicher Selbstbestimmung und Würde er- und Religionen annehmen. Wir müssen Angebote möglicht wird. Hierbei sind alle Ebenen, die Politik in schaffen und ausbauen, und den Vorstellungen der Bund, Ländern und Gemeinden, aber auch alle gesell- älteren Ausländer in Deutschland müssen wir auch an schaftlichen Gruppierungen aufgefordert, sich dieser ihrem Lebensabend gerecht werden. Hier müssen wir Aufgabe zu stellen. Dazu gehört, daß die Anliegen der helfen. Älteren wahrgenommen werden, daß mit ihnen der Dialog geführt wird und daß wir Wege beschreiten, (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. sowie um Bewährtes weiterzuentwickeln. Der Erste Alten- des Abg. Konrad Weiß [Berlin] [BÜND bericht der Bundesregierung zeigt, daß wir damit auf NIS 90/DIE GRÜNEN]) dem richtigen Weg sind. - Es sind dies viele Gastarbeiter der ersten Stunde. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Sie haben viele Jahre und oft Jahrzehnte an der Schaffung des Wohlstandes der Bundesrepublik Deutschland mitgewirkt, sie haben dazu beigetragen, und sie haben auch mitgeholfen, daß wir die Wieder- vereinigung so bewältigen konnten. Sie haben damit Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Meine Damen und Immenses für uns alle geleistet. Herren, bevor ich die Aussprache fortsetze, gebe ich das Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Viele von ihnen, vor allem Männer, kamen ja Antrag der Abgeordneten Gerster, Scharrenbroich, ursprünglich aus den Heimatländern mit einer Rück- Kittelmann, Dr. Struck, Conradi und weiterer Abge- kehroption. Sie wollten einige Jahre hier in der ordneter auf Drucksache 12/6767 bekannt. Abgege- Bundesrepublik arbeiten und leben und dann wieder bene Stimmen: 531. Mit Ja haben gestimmt 295, mit in ihr Heimatland zurück. Aber die Lebensrealität hat Nein haben gestimmt 226, Enthaltungen: 10. 18294 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth Endgültiges Ergebnis Schmidt (Spiesen), Trudi Kemper, Hans-Peter Wagner, Hans Georg Dr. Schockenhoff, Andreas Kirschner, Klaus Wallow, Hans Abgegebene Stimmen: 525; Frhr. von Schorlemer, Klappert, Marianne Walter (Cochem), Ralf davon: Reinhard Klemmer, Siegrun Walther (Zierenberg), Rudi Schulhoff, Wolfgang Klose, Hans-Ulrich Wartenberg (Berlin), Gerd ja: 292 Schwarz, Stefan Dr. Knaape, Hans-Hinrich Dr. Wegner, Konstanze Dr. Schwörer, Hermann nein: 223 Kolbe, Regina Weiler, Barbara Seesing, Heinrich Kolbow, Walter Weis (Stendal), Reinhard enthalten: 9 Dr. Sprung, Rudolf Kretkowski, Volkmar Weisheit, Matthias Dr. Stercken, Hans ungültig: 1 Kubatschka, Horst Weißgerber, Gunter Dr. Süssmuth, Rita Dr. Kübler, Klaus Weisskirchen (Wiesloch), Gert Dr. Voigt (Northeim), Dr. Küster, Uwe Welt, Jochen Hans-Peter Kuhlwein, Eckart Ja Dr. Vondran, Ruprecht Lange, Brigitte Dr. Wernitz, Axel Wiechatzek, Gabriele von Larcher, Detlev Wester, Hildegard CDU/CSU Würzbach, Peter Ku rt Lennartz, Klaus Dr. Wetzel, Margrit Lörcher, Christa Weyel, Gudrun Dr. Ackermann, Else Lohmann (Witten), Klaus Wiefelspütz, Dieter Austermann, Dietrich SPD Dr. Lucyga, Christine Wittich, Berthold Dr. Bergmann-Pohl, Sabine Maaß (Herne), Dieter Wohlleben, Verena Bleser, Peter Adler, B rigitte Marx, Dorle Zapf, Uta Börnsen (Bönstrup), Wolfgang Andres, Gerd Mascher, Ulrike Buwitt, Dankward Bachmaier, Hermann Matschie, Christoph Carstensen (Nordstrand), Barbe, Angelika Matthäus-Maier, Ingrid F.D.P. Peter Harry Becker (Nienberge), Helmuth Meckel, Markus Clemens, Joachim Bernrath, Hans Gottfried Mehl, Ulrike Albowitz, Ina Dehnel, Wolfgang Beucher, Friedhelm Julius Meißner, Herbert Baum, Gerhart Rudolf Diemers, Renate Bindig, Rudolf Dr. Mertens (Bottrop), Bredehorn, Günther Doss, Hansjürgen Blunck (Uetersen), Lieselott Franz-Josef van Essen, Jörg Eppelmann, Rainer Bock, Thea Dr. Meyer (Ulm), Jürgen Dr. Feldmann, Olaf Eylmann, Horst Dr. Böhme (Unna), Ulrich Mosdorf, Siegmar Funke, Rainer Falk, Ilse Börnsen (Ritterhude), Arne Müller (Düsseldorf), Michael Dr. Funke-Schmitt-Rink, Fockenberg, Winfried Brandt-Elsweier, Anni Müller (Pleisweiler), Albrecht Margret Fritz, Erich G. Büchler (Hof), Hans Müller (Zittau), Christian Genscher, Hans-Dietrich Ganz (St. Wendel), Johannes Büchner (Speyer), Peter Dr. Niehuis, Edith Grüner, Martin Dr. Geiger (Darmstadt), Sissy Dr. von Bülow, Andreas Dr. Niese, Rolf Dr. Geißler, Heiner Günther (Plauen), Joachim Büttner (Ingolstadt), Hans Odendahl, Doris Dr. Guttmacher, Karlheinz Dr. von Geldern, Wolfgang Bulmahn, Edelgard Oesinghaus, Günter Gerster (Mainz), Johannes Hansen, Dirk Caspers-Merk, Marion Oostergetelo, Jan Homburger, Birgit Gibtner, Horst Catenhusen, Wolf-Michael Palis, Kurt Gres, Joachim Dr. Hoyer, Werner Conradi, Peter Paterna, Peter Irmer, Ulrich Grotz, Claus-Peter Daubertshäuser, Klaus Dr. Penner, Wilfried Dr. Kolb, Heinrich L. Haungs, Rainer Dr. Diederich (Berlin), Nils Peter (Kassel), Horst Hedrich, Klaus-Jürgen Dr. Dobberthien, Marliese Dr. Pick, Eckhart Lüder, Wolfgang Dr. Hellwig, Renate Dreßler, Rudolf Poß, Joachim Lühr, Uwe Dr. h. c. Herkenrath, Adolf Duve, Freimut Reimann, Manfred Möllemann, Jürgen W. Hintze, Peter Dr. Eckardt, Peter Rennebach, Renate Otto (Frankfurt), Dr. Hornhues, Karl-Heinz Dr. Ehmke (Bonn), Horst Reschke, Otto Hans-Joachim Junghanns, Ulrich Eich, Ludwig Reuschenbach, Peter W. Parr, Detlef Kampeter, Steffen Dr. Elmer, Konrad Reuter, Bernd Peters, Lisa Dr.-Ing. Kansy, Dietmar Erler, Gernot Rixe, Günter Richter (Bremerhaven), Kauder, Volker Esters, Helmut Schanz, Dieter Manfred Kittelmann, Peter Ewen, Carl Dr. Scheer, Hermann Schmalz-Jacobsen, Cornelia Dr. Köhler (Wolfsburg), Ferner, Elke Schily, Otto Schmidt (), Arno Volkmar Formanski, Norbert Schloten, Dieter Dr. Schmieder, Jürgen Kossendey, Thomas (Köln), Schluckebier, Günter Schüßler, Gerhard Krey, Franz Heinrich Fuchs (Verl), Katrin Schmidbauer (Nürnberg), Sehn, Marita Kriedner, Arnulf Fuhrmann, Arne Horst Seiler-Albring, Ursula Kronberg, Heinz-Jürgen Ganseforth, Monika Schmidt (Aachen), Ursula Dr. Semper, Sigrid Dr. Lammert, Norbe rt Gansel, Norbert Schmidt (Nürnberg), Renate Thiele, Carl-Ludwig Lehne, Klaus-Heiner Gilges, Konrad Schmidt (Salzgitter), Wilhelm Türk, Jürgen Limbach, Editha Gleicke, Iris Schmidt-Zadel, Regina Dr. Weng (Gerlingen), Link (Diepholz), Walter Großmann, Achim Dr. Schnell, Emil Wolfgang Maaß (Wilhelmshaven), Erich Habermann, Michael Schöler, Walter Wolfgramm Marienfeld, Claire (Göttingen), Hämmerle, Gerlinde Schreiner, Ottmar Torsten Meckelburg, Wolfgang Hampel, Manfred Schröter, Karl-Heinz Zurheide, Burkhard Molnar, Thomas Hanewinckel, Christel Schwanhold, Ernst Nitsch, Johannes Hasenfratz, Klaus Seidenthal, Bodo Dr. Olderog, Rolf Dr. Hauchler, Ingomar Seuster, Lisa PDS/Linke Liste Otto (Erfurt), Norbe rt Heyenn, Günther Singer, Johannes Petzold, Ulrich Hiller (Lübeck), Reinhold Dr. Skarpelis-Sperk, Sigrid Dr. Pflüger, Friedbert Hilsberg, Stephan Dr. Soell, Hartmut Bläss, Petra Pofalla, Ronald Dr. Holtz, Uwe Sorge, Wieland Dr. Enkelmann, Dagmar Pützhofen, Dieter Horn, Erwin Dr. Struck, Peter Dr. Gysi, Gregor Reinhardt, Erika Huonker, Gunter Tappe, Joachim Dr. Heuer, Uwe-Jens Ringkamp, Werner Ibrügger, Lothar Thierse, Wolfgang Dr. Höll, Barbara Sauer (Stuttga rt), Roland Iwersen, Gabriele Titze-Stecher, Uta Jelpke, Ulla Schätzle, Ortrun Jäger, Renate Toetemeyer, Hans-Günther Dr. Keller, Dietmar Scharrenbroich, Heribert Janz, Ilse Urbaniak, Hans-Eberhard Lederer, Andrea Schmalz, Ulrich Jaunich, Horst Vergin, Siegfried Dr. Modrow, Hans Dr. Schmidt, Christa Dr. Jens, Uwe Verheugen, Günter Philipp, Ingeborg Schmidt (Mülheim), Andreas Jungmann (Wittmoldt), Horst Voigt (Frankfurt), Karsten D. Stachowa, Angela Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994 18295

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Jaffke, Susanne Dr. Rose, Klaus Purps, Rudolf Dr. Jahn (Münster), Rossmanith, Kurt J. Rappe (Hildesheim), Poppe, Gerd Friedrich-Adolf Roth (Gießen), Adolf Hermann Schenk, Christina Janovsky, Georg Rother, Heinz Schwanitz, Rolf Schulz (Berlin), Werner Jeltsch, Karin Dr. Ruck, Christian Dr. Sperling, Dietrich Dr. Ullmann, Wolfgang Dr. Jobst, Dionys Rühe, Volker Weiermann, Wolfgang Weiß (Berlin), Konrad Dr.-Ing. Jork, Rainer Dr. Rüttgers, Jürgen Dr. de With, Hans Wollenberger, Vera Dr. Kahl, Harald Sauer (Salzgitter), Helmut Karwatzki, Irmgard Dr. Schäuble, Wolfgang Kiechle, Ignaz Schell, Manfred F.D.P. Fraktionslos Klein (Bremen), Günter Schemken, Heinz Klein (München), Hans Scheu, Gerhard Dr. Babel, Gisela Dr. Briefs, Ulrich Klinkert, Ulrich Schmidt (Fürth), Christian Beckmann, Klaus Köhler (Hainspitz), Graf von Schönburg - Dr. Blunk (Lübeck), Michaela Hans-Ulrich Glauchau, Joachim Cronenberg (Arnsberg), Nein Dr. Kohl, Helmut Dr. Scholz, Rupe rt Dieter-Julius Koschyk, Hartmut Dr. Schulte (Schwäbisch Engelhard, Hans A. CDU/CSU Kraus, Rudolf Gmünd), Dieter Friedhoff, Paul K. Krause (Dessau), Wolfgang Schulz (), Gerhard Friedrich, Horst Adam, Ulrich Dr.-Ing. Krüger, Paul Schwalbe, Clemens Dr. Hirsch, Burkhard Dr. Altherr, Walter Franz Krziskewitz, Reiner Seehofer, Horst Dr. Hitschler, Walter Augustinowitz, Jürgen Lamers, Karl Seiters, Rudolf Dr. Hoth, Sigrid Bargfrede, Heinz-Günter Lamp, Helmut Sikora, Jürgen Dr.-Ing. Laermann, Karl-Hans Dr. Bauer, Wolf Dr. Laufs, Paul Sothmann, Bärbel Mischnick, Wolfgang Baumeister, Brigitte Laumann, Karl-Josef Spilker, Karl-Heinz Nolting, Günther Friedrich Belle, Meinrad Dr. Lehr, Ursula Spranger, Carl-Dieter Dr. Ortleb, Rainer Blank, Renate Lenzer, Christian Steinbach, Erika Paintner, Johann Dr. Blens, Heribert Dr. Lieberoth, Immo Stockhausen, Karl Rind, Hermann Dr. Blüm, Norbert Dr. Lippold (Offenbach), Strube, Hans-Gerd Dr. Röhl, Klaus Böhm (Melsungen), Wilfried Klaus W. Stübgen, Michael Dr. Solms, Hermann Otto Dr. Bötsch, Wolfgang Dr. Lischewski, Manfred Susset, Egon Dr. Thomae, Dieter Bohl, Friedrich Löwisch, Sigrun Dr. Uelhoff, Klaus-Dieter Würfel, Uta Borchert, Jochen Lohmann (Lüdenscheid), Verhülsdonk, Roswitha Brähmig, Klaus Wolfgang Vogel (Ennepetal), Friedrich Breuer, Paul Louven, Julius Vogt (Düren), Wolfgang Fraktionslos Brunnhuber, Georg Lummer, Heinrich Dr. Waffenschmidt, Horst Dr. Luther, Michael Dr. Waigel, Theodor Büttner (Schönebeck), Dr. Krause (Bonese), Magin, Theo Graf von Waldburg-Zeil, Alois Hartmut Rudolf Karl Dr. Mahlo, Dietrich Dr. Warrikoff, Alexander Carstens (Emstek), Manfred Lowack, Ortwin Marschewski, Erwin Werner (Ulm), Herbert Dempwolf, Gertrud Marten, Günter Wetzel, Kersten Deres, Karl Dr. Mayer (Siegertsbrunn), Dr. Wilms, Dorothee Deß, Albert Martin Wilz, Bernd Enthalten Dr. Dregger, Alfred Meinl, Rudolf Wimmer (Neuss), Willy Echternach, Jürgen Dr. Meyer zu Bentrup, Dr. Wisniewski, Roswitha CDU/CSU Ehlers, Wolfgang Reinhard Wissmann, Matthias Eichhorn, , Maria Dr. Wittmann, Fritz Augustin, Anneliese Engelmann, Wolfgang Dr. Möller, Franz Wittmann (Tännesberg), Bierling, Hans-Dirk Erler (Waldbrunn), Wolfgang Dr. Müller, Günther Simon Hüppe, Hubert Eymer, Anke Müller (Wadern), Wonneberger, Michael Dr. Jüttner, Egon Dr. Faltlhauser, Kurt Hans-Werner Wülfing, Elke Dr.-Ing. Schmidt Feilcke, Jochen Dr. Neuling, Christian Yzer, Cornelia (Halsbrücke), Joachim Dr. Fell, Karl H. Neumann (Bremen), Bernd Zeitlmann, Wolfgang Fischer (), Dirk Niedenthal, Erhard Zöller, Wolfgang Fischer (Unna), Leni Nolte, Claudia SPD Frankenhauser, Herbert Ost, Friedhelm Dr. Friedrich, Gerhard Oswald, Eduard SPD Steiner, Heinz-Alfred Fuchtel, Hans-Joachim Dr. Päselt, Gerhard Geiger, Michaela Dr. Paziorek, Peter Dr. Brecht, Eberhard Glos, Michael Pfeifer, Anton Diller, Karl F.D.P. Dr. Göhner, Reinhard Pfeiffer, Angelika Ebert, Eike Göttsching, Martin Dr. Pfennig, Gero Fischer (Homburg), Lothar Leutheusser-Schnarrenberger, Götz, Peter Dr. Pohler, Hermann Graf, Günter Sabine Dr. Götzer, Wolfgang Priebus, Rosemarie Hacker, Hans-Joachim Walz, Ingrid Dr. Grünewald, Joachim Dr. Probst, Albert Heistermann, Dieter Günther (Duisburg), Horst Raidel, Hans Dr. Janzen, Ulrich Harries, Klaus Dr. Ramsauer, Peter Kastner, Susanne BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Haschke (Großhennersdorf), Rau, Rolf Dr. Klejdzinski, Karl-Heinz Gottfried Rauen, Peter Harald Neumann (Gotha), Gerhard Dr. Feige, Klaus-Dieter Hasselfeldt, Gerda Rawe, Wilhelm Hauser (Esslingen), Otto Reddemann, Gerhard Der Antrag ist angenommen. Hauser (Rednitzhembach), Regenspurger, Otto Hansgeorg Reichenbach, Klaus (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der Heise, Manfred Dr. Reinartz, Bertold SPD, der F.D.P., der PDS/Linke Liste und des Dr. Herr, Norbert Dr. Rieder, Norbert BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie des ria Anna Hiebing, Ma Dr. Riedl (München), Erich Hinsken, Ernst Riegert, Klaus Abg. Dr. Ulrich Briefs [fraktionslos] — Zuruf Hörsken, Heinz-Adolf Dr. Riesenhuber, Heinz von der SPD: Wir haben Mut bewiesen!) Hörster, Joachim Rode (Wietzen), Helmut Dr. Hoffacker, Paul Rönsch (Wiesbaden), Nach diesem Beifall setze ich die Aussprache fort. Hornung, Siegfried Hannelore Als nächste spricht unsere Kollegin Arne Fuhrmann. Jäger, Claus Romer, Franz — Entschuldigung, als nächster spricht unser Kollege 18296 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth Arne Fuhrmann. Heute verwandele ich alle Männer in mokraten können von uns behaupten, frühzeitig auf Frauen. die Auswirkungen des demographischen Wandels (Heiterkeit — Zuruf von der SPD: Dann hingewiesen und im Grunde die Einsetzung der müssen wir die Quote ändern!) Enquete-Kommission „Demographischer Wandel" vorangetrieben zu haben. Wie wir während der bisherigen Arbeit in der Ame Fuhrmann (SPD): Sehr geehrte Frau Präsiden- Enquete-Kommission feststellen konnten, enthält der tin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Meine sehr von der Expertenkommission der Regierung vorge- verehrten Damen und Herren! Ich finde das wunder- legte Bericht eine Fülle wichtiger Informationen, Zah- schön — zweimal heute! Ich habe einen Bruder, der len, Aussagen zur Situation der Älteren. Er beschreibt Eike heißt. Ich selbst heiße Arne. Es paßt also. den Ist-Zustand und ist insofern eine gute Grundlage Bevor ich mit meinem eigentlichen Konzept für die von unserer Kommission zu leistende Arbeit beginne, Frau Rönsch, möchte ich gerne auf zwei Ihrer der Bewertung der Konsequenzen des demographi- Zitate zurückkommen. Das eine ist natürlich falsch; schen Wandels bis zum Jahre 2030. denn die Klientel der Älterwerdenden wächst nicht Ihnen politisch zu, sondern selbstverständlich bis zum Es läßt sich mit Fug und Recht behaupten, daß mit 16. Oktober den Sozialdemokraten und danach Ihrer der Einsetzung unserer Kommission und den Aktivi- Nachfolgerin oder Ihrem Nachfolger. täten im Zusammenhang mit dem Europäischen Jahr der älteren Generation und der Solidarität der Gene- Das zweite Zitat, auf das ich gerne eingehen rationen untereinander die Altenpolitik erst richtig an möchte, ist folgendes: Sie haben völlig zu Recht Gewicht gewonnen hat. gesagt, die Zeit läuft Ihnen davon. Das merkt man auch an der Art und Weise, wie Sie den Ersten Bedauerlich ist, daß bislang weder das Ministerium Altenbericht der Bundesregierung heute dargestellt für Familie und Senioren noch die Bundesregierung in und erläutert haben. ihren Stellungnahmen zum Bericht der Expertenkom- (Walter Link [Diepholz] [CDU/CSU]: Sie lau- mission wesentlich neue oder zukunftsorientierte fen hinter der Zeit her!) Gedanken formuliert haben. Sie betonen in ihrer Situationsbeschreibung immer wieder die kontinuier- — Nicht immer zeigt des Brüllers Sinn auf seine liche Verbesserung der wirtschaftlichen, der gesund- Cleverness stets hin, Herr Kollege Link. heitlichen und der sozialen Lage der Älteren in den (Beifall bei der SPD) letzten Jahrzehnten. Das ist im Grunde genommen Das sollten Sie sich irgendwann auch zu eigen eine Selbstverständlichkeit, und es wäre auch sehr machen. Dann würden Sie sich möglicherweise das verwunderlich, wenn es anders wäre; denn schließlich eine oder andere ersparen. sind sie — die Alten nämlich, die in den letzten zehn Jahren in diese Lebensphase eingetreten sind — (Walter Link [Diepholz] [CDU/CSU]: Darauf diejenigen, die diese Republik nach dem Krieg mit antworte ich nachher!) aufgebaut haben, die in der Regel auf ein langes und Meine sehr geehrten Damen und Herren, Altern hat intensives Arbeitsleben zurückblicken können und Zukunft. Ich sage das hier nicht etwa deshalb, weil ich deren soziale und gesundheitliche Versorgung sich Reklame für das Buch meines Fraktionsvorsitzenden wesentlich von der ihrer Eltern unterscheidet. Das ist machen will — das im Grunde genommen für sich gut so, und das muß im Grunde auch noch besser selbst spricht; denn es ist hervorragend —, sondern ich werden. sage es deshalb, weil es so ist. Als Vorsitzender der Meine sehr geehrten Damen und Herren in der Enquete - Kommission „Demographischer Wandel" muß ich es im Grunde genommen wissen; denn in der Bundesregierung! Ich finde es aber, gelinde gesagt, Kommission beschäftigt uns dieses Thema mm auch ein bißchen unnötig, wenn nicht gar störend, wenn Sie schon seit über einem Jahr sehr intensiv. im Altenbericht die älteren Menschen sozusagen mit erhobenem Zeigefinger auf die richtige Verwendung Es scheint, daß auch die Bundesregierung dieser von Arzneimitteln hinweisen, wo Sie doch anderer- Meinung anhängt; denn schließlich ist der heute seits die Förderung der Selbständigkeit und der vorgelegte Altenbericht ein Novum. Während die gesellschaftlichen Beteiligung der älteren Menschen Jugend bereits achtmal und die Familie viermal zum Ziel Ihrer Altenpolitik erklären. Gegenstand eines Regierungsberichts war, erfährt die ältere Generation heute erstmals die ihr gebührende (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS- Aufmerksamkeit zumindest durch die Vorlage eines 90/DIE GRÜNEN) Berichts im Deutschen Bundestag. Das ist eine Frage des Stils und im Grunde auch der (Zuruf von der SPD: Und das nach der langen Einstellung gegenüber der Mündigkeit der Bürgerin- Zeit der CDU-Regierung!) nen und Bürger in diesem Land. Hier sollte statt der — Nach zwölf Jahren immerhin eine stramme Lei- Verschreibungspraxis der behandelnden Ärzte eher stung! Ich möchte das ausdrücklich würdigen, meine einmal angesprochen werden, wie die denn mit der Damen und Herren von der Regierung; denn es ist Klientel der Älteren umgehen. Ihr Kollege, Herr höchste Zeit, mehr über die Lebensbedingungen von Seehofer, hat das Problem erkannt und einen ersten mehr als einem Fünftel der Bevölkerung zu erfahren. Versuch unternommen, es in den Griff zu bekommen. Ich will die Zahlen der zukünftigen Altengeneration Ich denke, darüber zu diskutieren — auch im Zusam- und die Bedeutung der Über-60-jährigen nicht wie- menhang mit dem Altenbericht — wäre sicher sinn- derholen. Sie sind ausreichend bekannt. Wir Sozialde voller. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994 18297

Arne Fuhrmann Die Förderung der Selbständigkeit scheint mir zusteht, diese zunehmend auch als Rechtsanspruch überhaupt der wunde Punkt in Ihrer Selbstdarstellung für sich beantragen"? Sollen wir das etwa für einen zu sein. Hier klaffen für bestimmte Gruppen der Fortschritt halten? Gesellschaft, namentlich auch unter den älteren Men- Wir Sozialdemokraten sind der Auffassung, daß das schen, Anspruch und Wirklichkeit auseinander. Problem der Altersarmut nicht in der Sozialhilfe, Ich frage die Bundesregierung in diesem Zusam- sondern in der Rentenversicherung gelöst werden menhang, wie denn die Förderung der Selbständig- muß. keit mit der immer stärker werdenden Tendenz zur (Beifall bei der SPD) Frühverrentung älterer Arbeitnehmer in den Betrie- ben zu vereinbaren ist. Die Koalition erleichtert den Wir fordern deshalb eine soziale Grundsicherung im Arbeitgebern mit immer neuen Ausnahmeregelun- Alter und bei Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit und gen die Ausgrenzung der älteren Kolleginnen und sehen damit keineswegs das Leistungsprinzip und Kollegen, und Sie wissen ja selbst, daß dies in der unser im großen und ganzen bewährtes Rentensystem Regel mit einer niedrigeren Rente verbunden ist. gefährdet. Wir, die Sozialdemokraten, haben dafür — wenn Als ein weiteres Ziel der Altenpolitik formuliert die denn ein Personalabbau unvermeidlich ist — eine Regierung die Angleichung der Lebensverhältnisse solidarische Umlagefinanzierung durch die Arbeitge- im vereinten Deutschland. Das war bereits Ziel des ber, ausgenommen die Kleinbetriebe, vorgeschlagen, Einigungsvertrages und bedarf im Grunde an dieser und wir halten das nach wie vor für die richtigere Stelle keiner besonderen Erwähnung. Wenn ich mir Politik. allerdings die Situation der nächsten Altengeneration (Beifall bei Abgeordneten der SPD) in den neuen Bundesländern, also der heute 50- bis 60jährigen ansehe, dann stellt sich die Frage, wie — Frenetischer Beifall bei meiner Fraktion, danke. dieses Ziel erreicht werden soll. In Ihrer Stellungnahme zur wirtschaftlichen Situa- Viele Menschen dieser Generation werden auf tion der Älteren betonen Sie den Ausnahmecharakter Grund der aktuellen Arbeitsmarktprobleme nur eine von Altersarmut, und Sie verweisen auf den Rück- lückenhafte Erwerbsbiographie aufweisen. Vermö- gang des Anteils der Älteren unter den Sozialhil- gen konnten in den letzten Jahrzehnten nur beschei- feempfängern von 20 % auf derzeit 8 %. Sie gestehen den angehäuft werden. Hier tickt eine soziale Zeit- gleichzeitig zu, daß sich die absolute Zahl lediglich bombe, über die wir uns heute Gedanken machen von 170 000 auf 150 000 reduziert habe. Das kann müssen. Aber da diese Menschen noch nicht zu den doch im Klartext nur bedeuten, daß sich die Armut Älteren gehören, kommen sie in der Stellungnahme ausweitet, nämlich auf die verschiedensten Bevölke- der Bundesregierung eben nicht vor. Ich kann Ihnen rungsgruppen, damit auch und selbstverständlich auf jedoch versprechen, dieses Thema werden wir in der zukünftig Ältere. Enquete-Kommission „Demographischer Wandel" (Vorsitz: Vizepräsident Dieter-Julius Cro mit besonderer Aufmerksamkeit behandeln. nenberg) Vieles von dem, was die Regierung im Bereich der Nimmt man diejenigen, die den Gang zum Sozial- Verbesserung der sozialen Infrastruktur für Altere amt scheuen — aus Scham, Angst oder weil sie einfach als notwendig erachtet, wird von uns geteilt: Verbes- schlecht informiert sind — dazu, so sind ungefähr serungen auf der kommunalen Ebene bei aktivieren- 250 000 bis 300 000 Rentnerhaushalte in Deutschland den und rehabilitativen Angeboten, Ausweitung des sozialhilfebedürftig oder sozialhilfeabhängig. Jede Angebots an Tages- und Kurzzeitpflegeeinrichtun- vierte alleinstehende alte Frau ist arm. Diesen Men- gen, Vernetzung und Koordination der Hilfsdienste schen versprechen Sie in einem kurzen Nebensatz und eine Ausweitung der hauswirtschaftlichen Hilfen. Ihre „besondere Aufmerksamkeit" . Damit gehen wir d'accord. Besonders deutlich wird dies, wenn wir die Situa- Nun erklären Sie aber einmal, wie dieses löbliche tion der Rentner in den neuen Bundesländern Vorhaben mit folgender Tatsache zusammenzubrin- betrachten. Dort war beispielsweise der Anteil der gen ist: Die Bundesanstalt für Arbeit hat im zweiten alleinerziehenden und nicht verheirateten Frauen Halbjahr 1993 die Mittel zur Förderung von Umschu- größer als in den alten Bundesländern. lungsmaßnahmen zum Beruf des Altenpflegers/der Die Übernahme des westdeutschen Rentenrechts Altenpflegerin drastisch reduziert. Gut die Hälfte und die damit verbundene Abschaffung der zuvor derer, die diesen Beruf ergreifen wollen,- sind bestehenden eigenständigen Alterssicherung der Umschüler. Das sind häufig Menschen, die eine sehr Frau haben für diese Frauen, die keinerlei Hinterblie- bewußte Entscheidung für diesen Beruf auf Grund benenansprüche erlangen können, keine Verbesse- ihrer biographischen Erfahrungen ge troffen haben. rung, sondern die Perspektive eines auf Sozialhilfe Angesichts der absehbaren Bedarfe an qualifizier- angewiesenen Lebensabends eröffnet. ten Fachkräften für die Altenpflege — dabei muß man Da hilft es auch wenig, wenn Sie dieses Kind an die veränderte Heimpersonalverordnung vom anschließend „Sozialzuschlag" nennen. Tatsache 19. Juli 1993 erinnern — besteht hier eindeutig ein bleibt, daß Hunderttausende von Frauen auf diesen arbeitsmarktpolitisches Interesse, dieses Berufsfeld zu Zuschlag dringend angewiesen sind, um mit den entwickeln und zu fördern. steigenden Lebenshaltungskosten Schritt zu halten. Das Land Hessen hat einen Entwurf dazu vorgelegt. Was soll man da von der Bemerkung halten, daß Die Bundesregierung und insbesondere der Bundes- — wieder Zitat — „diejenigen, denen Sozialhilfe arbeitsminister als übergeordnete Instanz tragen die 18298 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994

Arne Fuhrmann Verantwortung, wenn dringend benötigte qualifi- Fall bessergestellt sind. Wollen Sie wirklich den zierte Fachkräfte fehlen. Die Pflegeleistungen lassen Menschen, die keine Kinder bekommen können, weil sich gerade im ambulanten Bereich nicht allein von es die Natur ihnen verwehrt oder weil sie vielleicht den zumeist mehrfach belasteten Frauen — Ehe- eine andere, Ihnen fremde sexuelle Veranlagung frauen, Töchtern, Schwiegertöchtern — erbringen. haben und deshalb nicht in einer gemischtgeschlecht- Im Grunde sollten Sie froh sein, daß die Nachfrage lichen Partnerschaft leben, eine weitere Diskriminie- rung aufbürden? in diesem Berufsfeld zunimmt. Sie sollten nicht etwa auf dem Opferaltar für Herrn Waigel die Zukunft einer Wir schlagen Ihnen vor, unseren Vorschlägen zur qualifizierten Ausbildung im Bereich der Pflege Reform des Familienlastenausgleichs zu folgen, ein opfern. einheitliches Kindergeld zu schaffen, das ungerechte Ehegattensplitting abzuschaffen, darüber hinaus an (Beifall bei der SPD) der Verbesserung der Bedingungen für die Familien Meine sehr geehrten Damen und Herren in der in dieser Gesellschaft mitzuwirken und nicht die Koalition, ich habe in der Stellungnahme der Regie- Bedingungen der Kinderlosen einseitig zu verschlech- rung vergeblich ein Wo rt zur Situation der älteren tern, die Voraussetzung für die Vereinbarkeit von ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürger ge- Familie, Berufstätigkeit und Erziehung für Frauen und sucht. Kann man daraus schließen, daß deren Lebens- Männer zu schaffen, Wohnungen und Wohnumfeld lage mit denen der deutschen Bevölkerung überein- familienfreundlich zu gestalten, die Umwelt, die wir stimmt? Das kann ich mir eigentlich nicht vorstel- im Grunde für unsere Kinder verwalten, zu schüt- len. zen. Wenn wir das alles erledigen, dann werden wir ein Der Bericht der Sachverständigenkommission wid- met sich auf immerhin zwei Seiten diesem Thema, Zusammenleben aller Generationen und eine Sicher- heit auch für das Älterwerden in Deutschland errei- wirft allerdings die Aussiedler mit auf diese zwei chen. Seiten. Hier liegt offenkundig ein Versäumnis vor. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. Zwar war 1990 die Zahl der über 65jährigen Aus- länderinnen und Ausländer mit gut 150 000 noch (Beifall bei der SPD, beim BÜNDNIS 90/DIE gering, aber die Prognosen sehen einen starken GRÜNEN und bei der PDS/Linke Liste — Anstieg. Abg. Hans A. Engelhard [F.D.P.] begibt sich zum Rednerpult) Wenn man sich überlegt, daß Altwerden in unserer Gesellschaft für jemanden, der aus einem anderen kulturellen Umfeld kommt, mit gänzlich anderen Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Entschul- Problemen behaftet ist, als das für unsere deutschen digung, Herr Abgeordneter Engelhard, es ist zunächst Mitbürgerinnen und Mitbürger der Fall ist, dann frage einmal vorgesehen, daß die Abgeordnete Erika Rein- ich mich — auch bei der finanziellen Belastung, die hardt sprechen soll, ist mir gerade mitgeteilt worden, auf diese älter werdenden Ausländer zukommt —, und das sei Ihnen auch gesagt worden. warum dieses Thema im Altenbericht im Grunde nicht (Erika Reinhardt [CDU/CSU]: Sie können angesprochen wird. auch, Herr Kollege, wenn Sie zuerst spre Die Enquete-Kommission „Demographischer W an chen möchten!) -del" wird sich sehr intensiv mit diesem Thema befas- Bitte schön. sen. Allerdings werden wir nicht pauschale Aussagen machen, sondern wir werden dieses Thema in dem (Zuruf des Abg. Joachim Hörster [CDU/ endgültigen Bericht, der in der 13. Wahlperiode zu CSU]) erarbeiten sein wird, dann auch vorlegen. — Herr Kollege Hörster, wenn wir das dann klären könnten, weil ich dann doch in eine gewisse Verle- Verehrte Kolleginnen und Kollegen, zum Schluß genheit komme, wenn ich mitgeteilt bekomme, das — und das ist einfach so — kann ich es mir nicht wäre in Übereinstimmung mit dem Abgeordneten verkneifen, noch eine Bemerkung zum jüngsten steu- Engelhard so vorgesehen. erpolitischen Vorstoß von Frau Ministerin Rönsch zu machen, in memoriam Kaiser Tibe rius, der bereits im Goldenen Zeitalter als Nachfolger von Augustus eine Erika Reinhardt (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Strafsteuer für Kinderlosigkeit erließ, frei nach einer Damen und Herren! Der vor uns liegende- erste Devise, die er sich selbst gesetzt hat — „Geld stinkt deutsche Altenbericht ist kein Buch mit sieben Sie- nicht". geln, sondern ein gut fundierter Bericht mit Analysen Glauben Sie im Ernst, Frau Rönsch, daß Sie mit einer und Aussagen zur Situation unserer älteren Mitbürger Strafsteuer für Kinderlose irgendeinen Anreiz geben, in Gesamtdeutschland, wobei sehr genau zwischen die Geburtenrate zu erhöhen? Ist das überhaupt Ihre den jungen und alten Bundesländern differenziert Absicht, oder ist das vielleicht ein wahlkampfpoliti- wird. scher Fehlgriff? (Zuruf von der SPD: Sie müssen ihn ja Es kann doch nicht angehen, daß Sie einer 20jähri- loben!) gen ledigen Frisörin oder Krankenschwester noch — Nein, nein, er ist auch so gut. Er ist eine gute tiefer in die Tasche greifen wollen, während Spitzen- Grundlage für unsere Seniorenpolitik, und ich möchte verdiener — egal, ob mit oder ohne Kinder — gegen- allen danken, die daran gearbeitet haben, besonders über den Beziehern niedriger Einkommen auf jeden der Sachverständigenkommission. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994 18299

Erika Reinhardt Der Bericht ist zugleich aber auch ein Erfolg des Die Studie macht deutlich, daß künftige Generatio- Ministeriums für Familie und Senioren. Die Senioren- nen älter werdender Menschen gesünder, besser politik hat durch dieses Ministerium ein eigenes Profil ausgebildet, selbstbestimmter und materiell auch erhalten, und es wird ebenfalls deutlich, daß diese gesicherter sind. Die wirtschaftliche Situation älterer Bundesregierung ein Schwergewicht auf ihre Senio- Menschen ist überwiegend gut; auch dies wird im renpolitik gelegt hat. Bericht deutlich. Vermögen oder Grundbesitz sind Die meisten älteren Menschen, meine Damen und vielfach vorhanden, auch das Nettoeinkommen liegt Herren, sind selbständig, selbstbewußt und aktiv. Sie weitgehend im mittleren oder sogar höheren Bereich. wollen am öffentlichen Leben teilnehmen und enga- Ca. 45 % der 60- bis 70jährigen verfügen über ein gieren sich oftmals mit viel Erfolg in nachberuflichen Nettoeinkommen zwischen 1 600 und 3 000 DM, in Tätigkeiten, in denen sie anderen mit ihren gewonne- der Gruppe der Über-70jährigen sind es sogar über nen Erfahrungen helfen können, was uns aber nicht 50 %. darüber hinwegtäuschen darf, daß es auch viele Für das Einkommen der älteren Generation haben pflegebedürftige Menschen gibt, die unserer Hilfe Leistungen der staatlichen Alterssicherungssysteme bedürfen. einen überaus großen Stellenwert. Die subjektive Wenn ich daran denke, daß die dringend notwen- Einschätzung der finanziellen Situation durch die dige Pflegeversicherung bereits im Oktober von die- Senioren ist eher positiv. Das heißt: Alter bedeutet ser Regierung gegen die Stimmen der SPD im Bun- nicht gleich Armut, wie uns immer einzureden ver- destag verabschiedet wurde, im Bundesrat von den sucht wird. Dies stimmt so nicht. SPD-regierten Ländern abgelehnt und seither mit Der Bericht macht aber natürlich auch deutlich, daß unsozialen Tricks verhindert wurde, dann steigt schon es vor allem Frauen sind, die oft mit niedrigen Renten in mir diese kalte Wut auf, meine Damen und Her- auskommen müssen. Hier werden wir uns, ausgehend ren. von den Empfehlungen der Kommission, verstärkt engagieren. Die Anerkennung der Kindererziehungs- (Beifall bei der CDU/CSU) zeiten in der Rentenversicherung oder die Pflege sind Ich muß Sie wirklich fragen: Können Sie eigentlich wichtige Schritte dieser Regierung gewesen. dieses Verhalten gegenüber unseren pflegebedürfti- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und gen Menschen noch verantworten? der F.D.P.) (Lisa Seuster [SPD]: Dahin, Frau Reinhardt, Klare Aussagen macht der Bericht zur Kompetenz. zur F.D.P.!) Jede Person verfügt über im Lebenslauf entwickelte — Nein, nein, meine Dame. Wir wissen heute ganz Fähigkeiten, Fertigkeiten und Interessen. Je besser genau, daß die SPD, nicht die F.D.P. blockiert. Unser diese Fähigkeiten in jungen Jahren erworben werden, Entwurf ist durch, er wurde verabschiedet. Das ist aber desto länger bleibt die Kompetenz im Alter erhalten. ein eigenes Thema. Ich diskutiere dies gerne einmal Kompetenz bedeutet also auch ein lebenslanges Ler- mit Ihnen; das zahlt sich fast aus. nen. Die demographische Entwicklung, meine Damen In Zukunft wird die Gesundheit — Ernährung, und Herren, hat sich verändert. Zur Zeit sind in Bewegung, Aus- und Weiterbildung — für die Kom- Deutschland rund 16 Millionen Menschen, das sind petenzerhaltung im Alter eine stärkere Rolle spielen. 20 % der Bevölkerung, älter als 60 Jahre. Bis zum Hier bedarf es gezielter Aufklärung und Informatio- Jahre 2030 werden es 35 % sein. Dieser Trend ergibt nen, die zu mehr Eigenverantwortung führen. sich nicht nur für Deutschland, sondern für alle Die Familienstrukturen haben sich zwar verändert Industrieländer. — so gibt es nur sehr wenige Großfamilien —, grund- Der vor uns liegende Bericht umfaßt alle Bereiche sätzlich aber — dies wird auch im Bericht deutlich — des Lebens, die für die älterwerdende Generation von ist die Familie intakt. Bedeutung sind. Wir werden uns in den Ausschüssen Für die Zufriedenheit und das persönliche Wohlbe- im einzelnen sehr intensiv damit befassen. finden älterer Menschen sind vor allem das Wohnen Es gelingt mir natürlich nicht, hier alle Bereiche und das Wohnumfeld von entscheidender Bedeutung. anzusprechen; denn dies würde den Zeitrahmen, der Die meisten älteren Menschen leben in Ein- und mir zur Verfügung steht, sprengen. Deshalb möchte Zwei-Personen-Haushalten. Hierbei ist entscheidend, ich nur einige Schwerpunkte herausgreifen. daß viele von ihnen dies wünschenswert finden, weil So wird im Bericht z. B. dargestellt, daß das Alter ein es ihre Selbständigkeit erhält. Angemessener Wohn- Lebensabschnitt ist, der heute gute Chancen für eine raum ist für ältere Menschen Grundlage der Lebens- hohe Lebensqualität und wirksame Beiträge zur zufriedenheit; denn sie verbringen ja häufig vier gesamtgesellschaftlichen Entwicklung bietet. So Fünftel des Tages und mehr in ihrer Wohnung. sehen Frauen und Männer der mittleren Altersgruppe Bei der Qualität der Wohnungen zeigen sich ihrem eigenen Alter heute überwiegend positiv ent- wesentliche Unterschiede zwischen den alten und den gegen. Als gut bewerten sie dabei vor allem die jungen Bundesländern. Während der Zustand der wirtschaftliche Stabilität, das bessere Wohnen, die Wohnungen in den alten Bundesländern durchweg hohe Mobilität sowie die Angebote der Altenhilfe, die als gut bezeichnet wird, weisen die Wohnungen in den den individuellen Bedürfnissen Rechnung tragen. jungen Bundesländern erhebliche Mängel auf. Ich Daß dies heute so gesehen wird, ist ein Erfolg dieser glaube, auch dies ist ein Resultat des Sozialismus. Regierung; denn sie hat die ältere Generation nicht 22,4 % aller Wohnungen verfügen dort über kein vergessen. Innen-WC, ca. 30 % haben noch keine Zentralhei- 18300 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994

Erika Reinhardt zung. Es wird unsere Aufgabe sein, dazu beizutragen, zu —, den bewußten Umgang mit Medikamenten zu daß dieses Ungleichgewicht beseitigt wird. fördern. Die Bundesregierung hat gerade auch in den jun- Ein wesentliches Kapitel im Bericht ist der Situation gen Ländern im Wohnungsbau viel getan. Die Mittel der Pflege gewidmet. Auch hier wird wieder deutlich, dafür sind ständig erhöht worden, und durch die daß die schnelle Einführung der Pflegeversicherung Wohngeldanpassung haben wir die Verhältnisse unabdingbar ist. Wir müssen uns vor Augen halten, wesentlich verbessert. daß 90 % der Pflegebedürftigen zu Hause versorgt werden, was die Pflegepersonen physisch und psy- Neue Wohnformen müssen aber weiterhin entwik- schisch extrem stark belastet. Sie brauchen Hilfe und kelt werden, um den Bedürfnissen der älteren Men- Entlastung durch vielfältige Angebote, wie sie unser schen Rechnung zu tragen. Mit Mehr-Generationen- Pflegegesetz vorsieht, bessere Absicherung der Pfle- Häusern, betreutem Wohnen und genossenschaftli- gepersonen und die Anerkennung von Pflegezeiten in chen Wohnprojekten werden schon heute sehr gute der Rente. Tages- und Kurzzeitpflegeplätze ermögli- Erfahrungen gemacht. Eine Intensivierung solcher chen, Urlaub zu machen. Modelle ist sicherlich wünschenswert. Rückläufig ist die Zahl der Sozialhilfeempfänger. Das Konzept des barrierefreien Wohnens muß Dies ist richtig so. Sie ist von 20 % auf 8 % zurückge- wegweisend für die Zukunft sein. Wer barrierefrei gangen. Allerdings betrifft es diejenigen, die nicht in baut, baut nicht nur altengerecht, sondern auch kind- Einrichtungen sind. Damit wird aber auch deutlich, gerecht. Dies muß uns allgemein bewußt werden. daß sich die finanzielle Situation von älteren Men- Aber auch das Wohnumfeld ist natürlich sehr ent- schen verbessert hat und in Zukunft noch verbessern scheidend. Soziale Versorgung und die gute Anbin- wird, wie dies auch im Bericht zum Ausdruck dung an Geschäfte müssen vorhanden sein, um älte- kommt. ren Menschen die Mobilität so weit und so lange wie Meine Damen und Herren, der Altenbericht zeigt möglich zu erhalten. Hierzu gehört auch der Ausbau uns, daß wir den Prozeß des Alterns neu definieren der sozialen Dienste, der in einigen Bundesländern müssen. Wir müssen Alter als einen neuen Lebensab- hervorragend ist. Für Baden-Württemberg kann ich schnitt, als dritte Lebensphase begreifen, denn nie- ganz stolz sagen, daß wir hier wirk lich an der Spitze mand ist mit 63 oder 65 Jahren alt, wenn 100 Jahre stehen. Aber andere Länder haben Nachholbedarf. keine Seltenheit sind. Ein weiterer Schwerpunkt des Berichts ist die (Beifall bei der CDU/CSU) Gesundheit. Hier weist die Studie auf die wesentli- Da das Alter immer auch Resultat des gesamten chen physischen und psychischen Störungen hin und Lebenslaufs ist, sollte Seniorenpolitik nicht nur Politik befaßt sich ausgiebig mit den Möglichkeiten, solchen für ältere Menschen sein, sondern Bestandteil umfas- Krankheiten vorzubeugen. Weit verbreitet sind sender Gesellschaftspolitik. Unsere ältere Bevölke- Erkrankungen von Herz und Kreislauf. An zweiter rung ist kompetent, aktiv, selbständig, interessiert und Stelle liegen rheumatische Beschwerden und an drit- mobil. Der medizinische Fortschritt und der Wandel in ter Stelle Schädigungen des Bewegungsapparates. den Lebensbedingungen gaben dem Leben Jahre. Die Krankheit mit der höchsten Zuwachsrate — so der Bericht — ist die Demenz. Da eine Heilung bisher Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Frau Ab- noch nicht möglich ist, kommt es gerade in diesem geordnete, darf ich Sie auf Ihre Redezeit aufmerksam Bereich auf die Rehabilitation, aber auch auf die machen? Sie haben schon deutlich überzogen. Prävention besonders an . Rehabilitation und Prävention müssen generell in Erika Reinhardt (CDU/CSU): Herr Präsident, es ist der Zukunft eine größere Rolle spielen. Im Bereich der mein letzter Satz. Ich wiederhole ihn, denn sonst ist er Rehabilitation und der Geriatrie bleibt in der Bundes- aus dem Zusammenhang gerissen. republik noch viel zu tun. Ein mehrdimensionales Der medizinische Fortschritt und der Wandel in den Rehabilitationskonzept, das sowohl Ärzte als auch Lebensbedingungen gaben dem Leben Jahre. Auf- Angehörige und Kliniken einbezieht, besteht bisher gabe der Politik und der Gesellschaft ist es, den Jahren nur in Ansätzen. Es ist unsere Aufgabe, solche Kon- Leben zu geben. zepte zu durchdenken und weiterzuentwickeln. Hier Ich danke Ihnen. liegt die größte Chance für die Zukunft der gesund- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) heitlichen Versorgung unserer älteren Menschen.

Wenn sich die geriatrische und psychogeriatrische Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Nunmehr Versorgung auch verbessert hat, so bestehen nach wie hat der Abgeordnete H ans Engelhard das Wort. vor Lücken. 14 geriatrische und 14 psychogeriatrische Tageskliniken in der gesamten Bundesrepublik sind (F.D.P.): Herr Präsident! Meine nicht ausreichend. Auch hier steht Baden-Württem- Hans A. Engelhard Damen und Herren! Es war auch von der Sache her berg mit an der Spitze. geboten, den ersten Altenbericht der Bundesregie- Mehr Eigenverantwortung ist auch im Bereich der rung und die große Anfrage zur Situation ausländi- Versorgung mit Arzneimitteln angezeigt. Die Gruppe scher Rentner und Senioren hier in der Bundesrepu- der Über-65jährigen ist mit einem Verbrauch im Wert blik Deutschland in verbundener Debatte zu behan- von ca. 12 Milliarden DM im Jahr extrem hoch deln. Menschen, die als Gastarbeiter vor Jahrzehnten vertreten. Es wird darauf ankommen — und da stimme begonnen haben, unsere Wirtschaft mit aufzubauen, ich unserem Bundesgesundheitsminister Seehofer sind, von vielen fast unbemerkt, nun auch in die Jahre Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994 18301

Hans A. Engelhard gekommen und in den wohlverdienten Ruhestand alles ist ja gezielt — es ist erfreulich, daß wir diesen getreten. Dieser ersten Generation ausländischer Anstoß erfahren haben — für ältere Menschen. Aber Arbeiter im demokratischen Deutschland danken wir gefragt ist es natürlich genauso für die Mutter mit dem an dieser Stelle herzlich. Kind, mit dem Kinderwagen, den sie zu bewegen hat. Es ist im übrigen für alle anderen nützlich und gut. (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Stellen wir einmal die Frage: Warum sind in den Städten die Höfe gepflastert mit Garagen, mit Pkw Viele wollen hier ihren Lebensabend verbringen. Stellplätzen, aber so häufig ohne Plätzchen für die Wer über die Altenpolitik nachdenkt und sich mit den Kinder, ohne Ruhebank für ältere Leute? Ich meine, Fragen beschäftigt, muß sich auch mit den oft speziel- das muß endlich angepackt werden. len Problemen dieser Menschen beschäftigen. Gerne hätte Cornelia Schmalz-Jacobsen, unsere Ausländer- Da stellt sich mir und uns allen die Frage: Wird die beauftragte, hier das Wort genommen, aber leider Gesellschaft der Alten in der nächsten Zeit das durch- reicht die Zeit dieser Debatte nicht aus. setzen und schaffen, was den Müttern und den Kin dern in einer Zeit, wo die Gesellschaft noch jünger Meine Damen und Herren, der Altenbericht der war, aus nicht ganz verständlichen Gründen nicht Bundesregierung vermittelt uns fachlich hochqualifi- gelungen ist? Ich glaube, die Chance, jetzt endlich ziert ein Schaubild vom Leben älterer Menschen. etwas durchzusetzen, war noch nie so gut. Aber es tauchte im Gespräch schon die Frage auf, was (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU und der eigentlich die Enquete -Kommission ,,Demographi- scher Wandel" jetzt noch leisten soll. Ich will versu- SPD) chen, aus meiner Sicht darauf eine Antwort zu geben. Meine Damen und Herren, bevor solche Überlegun- Das Ziel der Kommission muß es sein, von der gen, stärkend für das Selbstbewußtsein älterer Mit- Zustandsbeschreibung zur Aufgabenstellung zu kom- bürger, ihnen überhaupt bekanntgeworden sind, men, ja noch einen Schritt weiterzugehen, nicht nur wurde ihnen in diesen Tagen mitgeteilt, es gäbe ganz die Aufgabenstellung sondern quasi eine Handlungs- Wichtiges. Ihre gesicherte materielle Existenz sei in anweisung vorzunehmen, und zwar auch einmal Gefahr; denn ein Absinken der Renten käme bald. einen politischen Hintergrund vorzutragen, nicht nur Schuld sei ein Rentensystem, das es zu korrigieren eine Welt, wie sie sein sollte, nein, sondern auch eine gelte. Welt, wie sie besser ist, aber wie sie auch durchsetzbar und finanzierbar ist. Dann müssen wir auch zu den Meine Damen und Herren, wir Freie Demokraten finanziellen Fragen kommen, die im Altenbericht machen solche Dummheiten nicht mit. An der Spitze über weite Strecken aus sehr verständlichen Gründen aller unserer Bemühungen steht die langfristige von den Experten nicht so angepackt wurden. Auch Sicherung unseres Rentenversicherungssystems. hier häuft sich ein Berg von Aufgaben, dessen Bewäl- (Beifall bei der F.D.P.) tigung teuer ist. Aber wie das bezahlt werden soll, darauf geht man nicht ein. Deshalb sind wir seit Ende der siebziger Jahre für die Nettolohnbezogenheit eingetreten, die dann schließ- Wir werden uns im übrigen, meine Damen und lich im Rentenreformgesetz 1992 im Konsens aller drei Herren, alle darum bemühen müssen, dem Irrtum zu Fraktionen Wirklichkeit geworden ist. begegnen, daß wir jetzt mit unseren Bemühungen dabei seien, eine neue Welt für ältere Menschen zu Das baut auf dem Generationenvertrag auf und hat zimmern, und das alles auf Kosten des Freiraums zur Folge, daß die Rentnergeneration von der allge- jüngerer Menschen. Nein, solches wäre nicht nur ein meinen wirtschaftlichen Entwicklung nicht abgekop- Irrtum. Es ist schlimmer. Solche Auffassungen, wenn pelt werden darf: nicht im Guten, aber, wenn es denn sie verbreitet würden, wären ein schwerer Denkfeh- nicht anders geht und die Situation so ist, auch nicht im ler, weil nämlich vergessen wird, was über Jahrzehnte Schlechten. Denn wer anderes will, der muß dann in einer noch jüngeren Gesellschaft den Menschen natürlich bereit sein, die Beiträge zur Rentenversiche- rung zu erhöhen und damit gleichzeitig bei den aktiv alles vorenthalten wurde. im Erwerbsleben Stehenden die Nettolöhne weiter Hier komme ich etwa auf die Frage des Wohnens abzusenken. Wer will dies? oder des Wohnumfeldes. Wir legen Wert darauf, daß Das ist unüberlegtes Gerede, das ich als verantwor- in denselben Häusern, mindestens aber im selben tungslos bezeichnet habe, weil es alte Menschen in Block und Quartier Wohnungen verschiedener Größe Unsicherheit stößt, weil es zu Bedenken führt, die vorhanden sind. Es ist nicht nur der Wunsch alter - nicht zu sein brauchen in einer Zeit, in der wir ein Menschen, dort zu bleiben, wo man es gewohnt ist, wo funktionierendes Rentenversicherungssystem haben man eingelebt, wo man vielleicht schon geboren ist. und in der die Menschen das, was ihnen zusteht, auch Nein, auch Jüngere wollen das. Auch Familien mit erhalten bzw. in Zukunft erhalten werden. Kindern wollen nicht, daß man seine Spielgefährten verliert, weil man umziehen muß, weil ein zweites Meine Damen und Herren, ich will einen weiteren Kind geboren wurde, weil die Wohnung zu klein ist und letzten Punkt ansprechen: Altere Menschen brau- und man sich weiter wegbewegen muß. chen verstärkt personelle Hilfe. Ich spreche jetzt nicht von den Pflegebedürftigen. Nein, nichts wird sich jetzt Wir wollen das barrierefreie Wohnen, so wie es hier auf Dauer mehr in den Weg stellen können: Wir bereits genannt wurde. Wir wollen hindernisfreie brauchen die Pflegeversicherung. Man muß sie durch- Gehwege. Wir wollen verkehrsberuhigte Straßen und setzen. benutzerfreundlichen öffentlichen Nahverkehr — um in der kurzen Zeit nur einige Punkte zu nennen. Das (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) 18302 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994

Hans A. Engelhard Die Finanzierung muß sichergestellt werden. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Ab- geordneter, es gehört zu meinen Pflichten, Sie darauf Aber davon spreche ich nicht. Ich spreche jetzt auch aufmerksam zu machen, daß Sie Ihre Redezeit deut- nicht von der richtig festgestellten notwendigen ideel- lich überschritten haben. len und materiellen Aufwertung der Pflegeberufe. Nein, ich spreche von etwas ganz anderem, mit dem (F.D.P.): — Ich danke, Herr man sich aus unverständlichen Gründen kaum Hans A. Engelhard Präsident, und schließe den Satz — etwas auszugeben, beschäftigt: nämlich von dem Widerspruch, daß von um auch in diesem Bereich zu ihrem persönlichen seiten älterer Menschen, aber auch von Jüngeren, von Wohlergehen etwas zu unternehmen. Müttern mit Kindern und vielen anderen, eine sehr starke Nachfrage besteht, Hilfe im privaten Haushalt Danke schön. zu erhalten. Aber da sind kaum Angebote vorhanden, (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU, der und das in einer Zeit hoher Arbeitslosigkeit, wo im SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) übrigen absehbar ist, daß die Zahl der Arbeitsplätze in der Industrie auch bei einer Belebung der Konjunktur Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort nicht mehr so wachsen wird, daß sie im Vergleich zu hat nunmehr die Abgeordnete Frau Barbara Höll. früher ziemlich weit unten angesiedelt bleibt. Dann können wir feststellen, daß wir hier keinen Dr. Barbara Höll (PDS/Linke Liste): Herr Präsident! funktionierenden Markt haben. Um den müssen wir Meine Damen und Herren! Mit dem Ersten Altenbe- uns längerfristig bemühen. Denn allenfalls findet man richt hat die Bundesregierung anläßlich des Europäi- jemanden im Wege der Schwarzarbeit, und das sind schen Jahres des älteren Mitbürgers eine wirklich nämlich genau diejenigen — da wird natürlich keine lobenswerte, wenn auch späte Initiative ergriffen, die Steuer bezahlt, da wird keine Versicherung bezahlt —, Lage älterer Menschen in der Bundesrepublik zu die uns dann eines Tages als Kleinrentner wieder beschreiben. Dieser Analyse liegen umfangreiche beschäftigen werden, weil sie nichts dazu get an Studien namhafter Wissenschaftler und Wissenschaft- haben — obwohl fleißig an der Arbeit —, überhaupt lerinnen zugrunde, mehr oder weniger kritischer die notwendigen Grundlagen für ihre Alterssicherung Art. zu schaffen. Liest man dann die Stellungnahme der Bundesre- gierung zum Bericht der Sachverständigenkommis- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) sion, dann wünscht man sich, in diesem Land zu leben, Meine Damen und Herren, wir müssen uns um diese in dem alles, wirklich alles für alte Menschen getan Fragen kümmern. Ich wundere mich, daß hier so wird, keine armen, obdachlosen und arbeitslosen wenig geschieht. Es geht um die Reinigung der Bürgerinnen und Bürger leben und es sich insbeson- Wohnung. Es geht um die Hilfe beim Einkaufen dere Frauen leisten können, ehrenamtlich und aufop- — gerade da, wo ein Pkw erforderlich ist, um über eine ferungsvoll für die Alten zu sorgen, ohne Angst um die längere Strecke größere Warenmengen in den Haus- eigene Zukunft. halt zu bringen. Es geht um die Gartenarbeit, da ältere Das Erwünschte wird zur Realität geredet. Ich muß Leute ja nicht deswegen ihre Wohnung sollen wech- sagen, das kennen wir auch von früher, Frau Rönsch. seln müssen, weil sie alt und nicht mehr kräftig genug Da heißt es z. B., daß Frauen und Männer ihrem sind, noch selbst mit dieser Arbeit fertig zu werden. eigenen Alter überwiegend positiv entgegensehen und dabei wirtschaftliche Stabilität, geborgenes, kom- Meine Damen und Herren, wenn wir uns damit fortables Wohnen, Mobilität und bezahlbare Ange- beschäftigen, dann muß uns klar sein, daß es hier nicht bote der Altenhilfe bewerten. um die Nachfrage nach Ganzzeitarbeitskräften geht. Nach den aktuellen Zahlen zur Arbeitsmarktlage Angebot an Teilzeitarbeit stünde Nein, ein breites gilt dies doch wohl nicht für alle Menschen, wenn hier bereit. Es werden sich mehrere zusammentun, um auch für einen Teil. Es gibt allein im Arbeitsamtsbe- eine Person zu beschäftigen. Das ist dann auch finan- zirk Leipzig 60 592 registrierte Arbeitslose. 66,4 % zierbar. davon sind Frauen, 6,7 % Alleinerziehende, 2,4 % Es stellt sich die Frage: Wie sollen eigentlich ältere Schwerbehinderte. In anderen Regionen sieht es noch Mitbürger dies finanzieren? Ich weiß, ich spreche jetzt schlimmer aus. nur von den alten Bundesländern. Selten ist soviel Von den 15 544 Umschülern und Umschülerinnen vererbt worden wie heute. Wer immer nur von der in Leipzig sitzen insbesondere Frauen zum wiederhol- Altersarmut spricht, der verschweigt eben auch das ten Male auf der Schulbank, jedoch oft ohne Aussicht andere, daß eine breite Schicht der Bevölkerung es in auf einen Arbeitsplatz. Das gilt insbesondere dann, harter Arbeit nach dem Kriege verstanden hat, sich wenn eine Frau noch kleine Kinder zu versorgen hat, etwas aufzubauen. älter als vierzig ist und sich damit tatsächlich schon dem Alter für eine Rente nähert oder anderes „norm- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) widriges Verhalten" aufweist, z. B. hohe Qualifikation Meine Damen und Herren, ich meine, viele alte — das war ja die Regel für Frauen in der DDR — oder Menschen, die wortwörtlich nicht der Parole anhän- eine spezifische DDR-Vergangenheit. gen — ich zitiere —: „Alles verbraucht vor meinem Wie die 37 730 Altersübergangsgeldempfänger im End, das macht ein richtig Testament", sind bereit, Arbeitsamtsbezirk Leipzig erleben überall diese auch von ihrem Ersparten aus der Substanz zu ihrem hochgeschätzten älteren, erfahrenen Arbeitnehme- persönlichen Wohlergehen Aufwendungen zu ma- rinnen und Arbeitnehmer, für die sich die Bundesre- chen — gierung einsetzen will, daß sie für die Gesellschaft Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994 18303

Dr. Barbara Höll plötzlich wertlos wurden, nicht mehr gebraucht wer- baufällig war. Auch diese als Wohnstätten fungieren- den und nicht mehr selbst zur Erarbeitung künftiger den Heime fallen aber heute unter die Heimgesetzge- Rentenansprüche beitragen können. Ihre Einstiegs bung der Bundesrepublik, und so müssen sich mobile rente wird demzufolge auf einem niedrigeren Niveau alte Menschen, die gern länger als vier Wochen ihre liegen als bei voller Erwerbsbiographie. Kinder besuchen wollen oder sonstige Reisen unter- Aber dieser Personenkreis wird ebenso wie die nehmen, dafür eine Genehmigung holen und prüfen Altersrentner und Altersrentnerinnen angeben, eini- lassen, ob sie überhaupt heimbedürftig bzw. reisefä- germaßen zufrieden zu sein, brauchen sie doch hig sind. In einer Aussprache mit den Heimbeiräten wenigstens nicht mehr den Kampf um den Arbeits- — Sie sehen, Frau Rönsch, auch wir machen uns hier platz und die rapide Verschlechterung des Betriebs- kundig, auch wenn Sie jetzt nicht zuhören — erklärten klimas mitzuerleben oder sich zum wiederholten Male die Senioren, daß sie dies als Freiheitsberaubung vor Personalkommissionen dafür zu entschuldigen, empfinden. Das kannten sie früher nicht. daß sie in der DDR aktiv mitgearbeitet haben. Nehmen wir einen anderen Aspekt. In unserer Oder nehmen wir das Problem Wohnen. Unter den Gesellschaft besteht ein hoher und zukünftig steigen- über eine Million Obdachlosen in Deutschland sind der Bedarf an sozialen Dienstleistungen. So heißt es in auch viele alte Menschen. Mancher davon wird unter der Stellungnahme der Bundesregierung. Das wird dem Hochwasser der letzten Wochen im Dezember verbunden mit dem Begriff „Ehrenamtlichkeit". Tat- sicher mehr gelitten haben als der Wagen des Bun- sächlich werden infolge sich verändernder familiärer deskanzlers in seiner Tiefgarage. Aber über ihre Lage Strukturen und Lebensstile, die man als Emanzipation wird nicht gesprochen. Im Osten sind alte Menschen der Generationen bezeichnen kann, zunehmend stark besorgt, ob sie die nächste Mieterhöhung noch Dienstleistungen im Bereich der Altenhilfe nötig. verkraften können. So haben 76 % Angst vor weiteren Aber warum die Betonung von Ehrenamtlichkeit? Preiserhöhungen, 71 % vor Mieterhöhungen und 65 % Kein Politiker, kein Jurist, Manager oder Arzt, der bis vor einer Entwertung ihrer Ersparnisse. 57 % aller ins hohe Alter bei einem meist sehr hohen Entgelt tätig Wohngeldbezieher und -bezieherinnen in Leipzig sein kann, würde unentgeltlich seine Dienstleistun- sind Senioren; 43 % der Senioren haben Wohngeld gen erbringen oder sich mit einer geringen Aufwands- beantragt, aber 32 % wollen sich diese Schande, als entschädigung abspeisen lassen. In der Altenhilfe die sie es empfinden, nicht antun. Da stehen Alteigen- wird das erwartet. In Sachsen gibt es die „Aktion 55", tümer vor der Tür, oder es werden Wohnungen so und danach können Vorruheständler für 200 DM saniert, daß alte Menschen darin keinen Platz mehr monatlich steuerfrei fünf bis 18 Stunden wöchentlich haben. u. a. Altenhilfe leisten. Wer im Rentenalter ist, Die Treuhand tut ihr übriges. Zu nennen wäre hier bekommt gar nichts. Kein reaktivierter Leihbeamter würde sich dies wohl gefallen lassen. Aktive Senioren als eklatantes Beispiel die Schloßverkäufe im Land und Seniorinnen müssen das. Mitarbeiter und Mitar- . Hier wurden mehrere Schlösser, u. a. beiterinnen in bekommen etwa ein mit Fördermitteln aus Nordrhein-Westfalen, saniert, Sozialstationen da in den Schlössern Pflegeeinrichtungen der Diako- Drittel der in ihrer Arbeit notwendigen Leistungen nie waren. Die Treuhand verkaufte dann die Schlösser nicht bezahlt, es sei denn, sie finden Formulierungen, die die notwendigen Leistungen für Kostenträger für eine Mark an einen millionenschweren Bauunter- nehmer aus dem alten Bundesgebiet bzw. an dessen bezahlungswürdig erscheinen lassen. Enkeltöchter. In zwei Fällen mußten die Heimbewoh- Dazu gehört auch die psychosoziale Begleitung, die ner und -bewohnerinnen, beim einen Mal alte und Sterbebegleitung, die Hilfe für hinterbliebene Ange- beim anderen Mal geistig behinderte Menschen, hörige, also Leistungen, die auch im Altenbericht als ausziehen. Das ist möglich in dem im Bericht beschrie- notwendige Bestandteile der Altenhilfe angesehen benen altenfreundlichen Land. werden. Um beim Thema Altenheim zu bleiben: In der Tat gab es in der DDR — das leugnen wir nicht, Frau Zwei Ursachen liegen dem offensichtlich zugrunde. Rönsch — eine Reihe von Heimen, die nicht den Zum einen ist Altenhilfe und -pflege in erster Linie bundesdeutschen Standards entsprechen. Aber in Frauenarbeit, und dies wird in einer männerdominier- welcher Weise sie dem nicht entsprechen, darüber ten Gesellschaft als ehrenamtliche Arbeit erwartet. wird nichts ausgesagt. Zwei Beispiele, die ebenfalls Zum zweiten erfolgt in der bundesdeutschen Sozial- gesetzgebung eine Aufteilung des Menschen in fik- darunter fallen: In Leipzig gibt es ein sehr großes - Altenheim; es hat 738 Bewohner. Das Land zahlt keine tive Ebenen, die eine tatsächliche ganzheitliche und Fördermittel für die Sanierung, weil die Stadt ihren kontinuierliche Be treuung erschweren. Anteil an den Fördermitteln nicht erbringen kann. Die Stadt kann es aber nicht, denn das Heim ist bei seiner Dem ohnehin in seiner Mobilität eingeschränkten Größe prinzipiell nicht förderungswürdig, es sei denn, kranken alten Menschen und seiner Familie fällt es es würde die Kapazität auf 300 Betten abbauen, weil deshalb oft sehr schwer, die notwendigen Wege zu laut bundesdeutscher Heimverordnung nur bis zu gehen, um bedarfsgerecht versorgt zu werden. 300 Betten gefördert werden. Den Schaden haben die Auf einige der angeführten Probleme konnte der Heimbewohner, weil sich für sie nichts ändern wird. Altenbericht noch nicht eingehen, da die Expertisen Altenheime waren in der DDR häufig die einzige, zum Teil in einer Zeit angefertigt wurden, als es noch zugegeben nicht unbedingt glückliche Alternative eine einigermaßen wirtschaftliche Stabilität gab, die des Wohnens im Alter, wenn die eigene Wohnung Einheit Deutschlands noch nicht bestand und die Krise nicht mehr bewältigt werden konnte, zu groß oder in Europa noch nicht so sichtbar war. 18304 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994

Dr. Barbara Höll Die Stellungnahme der Bundesregierung hätte aber Meine Damen und Herren, Sie sehen es mir wahr- auf diese Probleme Bezug nehmen müssen und kön- scheinlich doch nach, wenn ich behaupte, daß wir nen, soll der Altenbericht tatsächlich Anleitung zum nicht ganz so dumm sind, um nicht zu bemerken, was Handeln und nicht einfach schmückendes Beiwerk als Fazit dieser ganzen Debatte unter dem Strich zum Jahr des älteren Mitbürgers sein. herauskommt: Es gibt zu viele von uns. Wir leben viel Zum Abschluß möchte ich sagen, daß es Verantwor- zu lange, manche bis zum Alter von 100 Jahren, wie tung besonders hier im Hause und der führenden gerade gesagt wurde. Politikerinnen und Politiker wäre, insbesondere ältere Die, die über uns reden, wissen nun allmählich nicht Menschen nicht weiter durch die Diskussionen über mehr, wie lange sie das noch bezahlen wollen oder die Renten, notwendige Einsparungen der Kranken- bezahlen können, je nach dem. Auch dem Altersbe- kassen, die Pflegeversicherung und anderes zu verun- richt der Bundesregierung ist dieses Stimmungsbild sichern. Ich hoffe, daß der Altenbericht als erster wohl vertraut. Auf Seite 81 wird es uns sogar in einer Bericht ein Einstieg sein kann, wenn man auch das meine Schilderung noch überbietenden Drastik vor- beherzigt, was hier in der Diskussion von verschiede- geführt: Auf den schwächlichen Schultern eines miß- nen Seiten gesagt wurde. Ich hoffe, daß er von der mutig dreinschauenden Babys ist der bärtige Vater Erstellung eines Armutsberichtes begleitet wird, auf mit der attraktiven Liebsten zu sehen. In der Etage den wir dann nicht wieder so lange warten müssen. darüber wird es erst so richtig schlimm — das ist dann Ich danke Ihnen. meine Etage —: Hämisch dreinschauende Korpulen- (Beifall bei der PDS/Linke Liste und der zen müssen hochgestemmt werden, und von der sehr SPD) gebrechlichen vierten Generation ganz oben hat man schonenderweise nur noch die dürren Beinchen abge- bildet. So sieht die Alterspyramide nach „Informatio- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort nen zur politischen Bildung" , Nr. 220 aus dem Jahre wird nunmehr Dr. Wolfgang Ullmann erteilt. 1988, Seite 8, aus. Natürlich wird uns dann vom Bericht alsbald bedeutet, das sei eher humoristisch Dr. Wolfgang Ullmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gemeint. Der Kommentar zieht auch alle Register der NEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich Sympathiewerbung, um von diesem unvorteilhaften muß mich doch erst der Frau Ministerin zuwenden, um Image der älteren Generation abzulenken und ihm ihr für ihren ersten Satz zu danken, der mir von ihrer entgegenzutreten bzw. uns darüber zu belehren, wie ganzen Rede am besten gefallen hat. ihm entgegenzutreten sei. Das ist ja heute reichlich Ich will ihn, Frau Ministerin, auch sofort anwenden. geschehen — ich glaube aber, eben im Gegensatz zu Sie haben nämlich gesagt, man solle sich der Realität dem ersten Satz der Frau Ministerin. der älteren Menschen zuwenden. Richtig so. Aber so ganz beim Ke rn des Problems sind wir wohl Nun wird es aber ganz schwierig für mich. Vor allen erst in den Empfehlungen der Sachverständigenkom- Dingen finde ich es ausgesprochen schade, daß ich Sie mission am Ende des Berichtes angelangt. Das gilt jetzt nicht mehr anreden kann, denn ich wollte mich schon deswegen, weil wir weit davon entfernt sind, hier, meine Damen und Herren, an die Über-60- das energisch zu verfolgen, was hier empfohlen wird. jährigen wenden. Das scheitert, glaube ich, vollstän- Unter Ziffer 20.2 finden wir uns auf einmal wieder dig, wenn ich mich so umsehe. Nicht einmal der mitten unter den uns ständig bedrängenden Arbeits- Kollege Engelhard würde darunter fallen. marktproblemen. Man braucht nur nachzulesen. Der Bericht verwan- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Ab- delt sich hier in eine Tagesordnung der Sozialpolitik, geordneter, ein Blick nach hinten kann das ein wenig der kein verantwortlicher Politiker, keine verantwort- ändern. liche Politikerin ausweichen kann: Maßnahmen zur (Heiterkeit im ganzen Hause) Verbesserung und Erhaltung der Erwerbschancen, Verbesserung der Berufschancen und Karrieremög- lichkeiten für Frauen. Dr. Wolfgang Ullmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Dann erlauben sich die wenigen alten Knaben Angesicht des nach der Rentenreform von 1992 hier, sich in folgender Weise anreden zu lassen. — Ich sichtbar gewordenen Anpassungs- und Änderungs- denke, ich werde es lieber so machen, daß ich der hier bedarfes muß eine baldige Klärung über die Weiter- noch versammelten Jugend erzähle — da ist natürlich entwicklung dieses Systems herbeigeführt werden. die Frau Ministerin sofort wieder einbegriffen —, wie Das stammt alles nicht etwa vom BÜNDNIS 90/DIE es mir zumute ist, wenn ich mit anhöre, wie in unserer GRÜNEN, sondern das ist Originalton des Sachver- Gesellschaft über meinesgleichen geredet wird. ständigenberichtes. Da gibt es fortwährende Wechselbäder, was die Mit gutem Grund mahnt der Bericht die vom Urteil Renten anbelangt: wie sicher sie sind und ob sie des Bundesverfassungsgerichts vom 7. Juli 1992 heruntergesetzt werden müssen. Dann wird in alar- geforderte stärkere Berücksichtigung von Familien- mierender Pracht das Schreckbild der Alterspyramide leistungen in der Sozialversicherung an. Kann man an alle möglichen und auch unmög lichen Wände die Verklammerung von Arbeits- und Rentenproblem projiziert. Da müssen wir hinnehmen, daß es eigent- klarer ausdrücken, als es hier geschieht? Aber haben lich unseretwegen geschieht, daß während der Dis- wir bereits annähernd erfaßt, meine Damen und kussion um die Pflegeversicherung die Kulturerrun- Herren, wie weit die Zukunft der Arbeit nicht nur die genschaften unserer Feiertage zur Disposition gestellt zukünftige Lebensqualität der Rentner, sondern unser werden. aller zukünftige Lebensqualität bestimmen wird? Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994 18305

Dr. Wolfgang Ullmann Man wird das kaum bejahen können, wenn man schreiben —: Die Zukunft ist nicht die Jugend, son- sieht, wie der Altersbericht den auch durch einen dern unsere Zukunft ist das Alter, und zwar unser Bundestagsbeschluß vom 21. Juli 1991 bestätigten aller. Konsens über die Verbesserung der Alterssicherung Vielen Dank. von Frauen ebenso unterstreicht wie das obenge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, nannte Urteil. Aber in keinem der beiden Fälle sind der SPD und des Abg. Dr. Rudolf Karl Krause von der Bundesregierung angemessene Initiativen [Bonese] [fraktionslos]) ergriffen worden. Selbst im Rahmen der Vorschläge zur Pflegeversicherung gibt es noch keine renten- rechtliche Absicherung ehrenamtlicher Pflegeperso- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Nunmehr nen — die Kollegin Höll hat ja darauf hingewiesen —, hat die Abgeordnete Lisa Seuster das Wort. die übrigens — was schon Gesagtes zusätzlich unter- streicht — zu 85 % Frauen sind. Lisa Seuster (SPD): Herr Präsident! Liebe Kollegin- Von seiten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN nen und Kollegen! Genau 17 Minuten hat die Presse- kann im Sinne einer Initiative zur Weiterentwicklung konferenz gedauert, auf der Frau Ministerin Rönsch des Systems der Alterssicherung auf das von uns 1993 den ersten Bericht der Bundesregierung zur vorgeschlagene Modell einer bedarfsorientierten Lage der älteren Menschen in Deutschland vorgestellt Grundsicherung im Alter hingewiesen werden. Diese hat. Grundsicherung will eine Ergänzung zur gesetzlichen (Heribert Scharrenbroich (CDU/CSU): Da Rentenversicherung, aber keine Alternative zu ihr haben Sie aber gut aufgepaßt!) sein, wie immer wieder fälschlich behauptet wird. 17 Minuten für einen Politikbereich, den sie selber als Dieser Vorschlag unterscheidet sich darum auch eine der großen Zukunftsaufgaben bezeichnet. von dem anderen Grundrentenmodell Miegel/Bie- Eigentlich haben die ersten vollmundigen Verspre- denkopf, das den langfristigen Ausstieg aus der heu- chungen, was die Aufwertung der Seniorenpolitik tigen Rentenversicherung zum Ziel hat. Mit dem dieser Bundesregierung angeht, schon mit der Grün- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN-Modell soll sichergestellt dung des neuen Ministeriums für Familie und Senio- werden, daß durch ein möglichst unbürokratisches ren begonnen. Mit dieser Ressortbildung wollte die Verfahren die verdeckte Altersarmut zurückgedrängt Bundesregierung ihren eigenen Äußerungen zufolge werden kann. In diesem Zusammenhang darf nicht die politische Antwort auf die Herausforderung unse- unerwähnt bleiben, daß die Sachverständigenemp- rer Tage geben: die demographische Entwicklung fehlungen des Berichts eine Verbesserung der Daten- unserer Gesellschaft. Je länger dieses Ministerium lage zur Altersarmut verlangen — eine Unterstrei- besteht, um so mehr verstärkt sich bei mir der Ein- chung unserer ständig und auch heute wiederholten druck, daß es über diesen symbolischen Gründungs- Forderung nach dem immer wieder von der Bundes- akt hinaus bislang keine verantwortungsvolle politi- regierung ohne Gründe verweigerten Armutsbe- sche Weichenstellung gegeben hat und daß wir der- richt. artiges auch nicht zu erwarten haben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ und der SPD) DIE GRÜNEN) Meine Damen und Herren, die Redezeit ist abgelau- Ich befürchte, daß selbst bei eingehender Betrach- fen. Ich will auch wirklich zum Schluß kommen. Aber tung kaum Beweise für eine konstruktive Senioren- ich muß noch eine Sache loswerden. Ich denke, so politik zu finden sein werden. Dort, wo sie als Mi- respektabel dieser Altenbericht ist— da kann ich mich nisterin mit ihrem Einsatz und ihrem Engagement nur dem Gesagten anschließen —, er hat eine große dringend gefragt ist, etwa bei der Verabschiedung der Lücke. Da fehlt eine ganze Dimension. Das fällt mir als Pflegeversicherung, der Neuregelung der Altenpfle- einem Historiker natürlich sofort auf. geausbildung oder der Sanierung der Altenheime in den neuen Bundesländern, sucht m an greifbare Das hängt wahrscheinlich damit zusammen, daß die Ergebnisse vergebens. Kommission überwiegend aus Medizinern bestanden (Heribert Scharrenbroich [CDU/CSU]: Sie hat. Ich bin der letzte, der nicht ihre Belehrungen müssen einmal die Realität zur Kenntnis annähme, auch schon im Interesse meiner Physis. nehmen!) Aber in dem Bericht wird ja dauernd auch von der Familie geredet. Das ist eben unhistorisch, Frau Was die zahlreichen Presseveröffentlichungen zu die- Rönsch. Dieses Familienmodell aus dem 19. Jahrhun- sen Punkten betrifft, kann m an jedoch nicht von dert gibt es streckenweise noch. Aber was für die alten Untätigkeit sprechen. Menschen — das weiß ich gerade als 65jähriger ganz genau — viel wichtiger ist als das Festhalten an nicht Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Frau Ab- mehr funktionierenden Familienstrukturen, ist das geordnete, der Abgeordnete Link möchte gern eine Gespräch, die Kommunikation der Generationen. Frage stellen. Sind Sie bereit? Damit diese zustande kommt, braucht man minde- stens drei Generationen und nicht bloß die zwei dieser altertümlichen Familie. Das wollte ich angemahnt Lisa Seuster (SPD): Selbstverständlich. haben. Das fehlt leider. Ich halte das für wichtig. Insofern kann ich dann wieder die Bundesministerin Walter Link (Diepholz) (CDU/CSU): Frau Kollegin zitieren — das müßte sich unsere hedonistische und Seuster, habe ich es richtig verstanden, daß Sie narzißtische Gesellschaft doch einmal ins Stammbuch unserer Seniorenministerin unterstellen wollen, sie 18306 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994

Walter Link (Diepholz) hätte sich nicht für die Pflegeversicherung einge- für alle diejenigen, die als Praktiker im Bereich der setzt? Seniorenpolitik tätig sind. Auf die einzelnen Berichtsteile ist mein Kollege Fuhrmann bereits eingegangen, so daß ich mich in Lisa Seuster (SPD): Ich kann jedenfalls von außen meinen Ausführungen auf die dazugehörige Stellung- nicht erkennen, daß es da einen besonders ha rten nahme der Bundesregierung beziehen möchte. Einsatz gegeben hat. Ich habe zwar immer wieder gehört, daß man das wolle, aber daß intensiv gekämpft Anläßlich der Vorstellung des Altenberichts vor der worden ist und daß sie z. B. erreicht hat, daß der Presse hat Frau Ministerin Rönsch im Herbst 1993 Bundeskanzler seine Richtlinienkompetenz anwen- folgende vier zentrale altenpolitische Herausforde- det, habe ich bisher nicht bemerkt. rungen für die Zukunft formuliert: erstens die Pflege- versicherung, zweitens die bundeseinheitliche Rege- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ lung der Altenpflegeausbildung, drittens die Sanie- DIE GRÜNEN — Walter Link [Diepholz] rung der Altenpflegeheime in den neuen Bundeslän- [CDU/CSU]: Ich komme gleich darauf dern, viertens den Ausbau der Rehabilitation. zurück!) Ich gehe noch einmal auf die Presseerklärungen (Arne Fuhrmann [SPD]: Klingt doch gut!) ein. Hier wird Frau Rönsch nicht müde, hoch ange- setzte Versprechungen über angeblich bevorste- Daß es sich bei diesen vier Punkten um zentrale hende Maßnahmen zu machen. Ich habe ihre Veröf- altenpolitische Herausforderungen handelt, dem kön- fentlichungen in den vergangenen Tagen noch ein- nen wir zustimmen. Aus diesem Grunde möchte ich mal durchgesehen. Was ihren Einsatz z. B. bei Wett- jetzt noch einmal genauer hinsehen, was denn pas- bewerbsausschreibungen und Preisverleihungen an siert ist. -geht, ist sie sehr rege. Ich frage mich aber, wie sie die politische Handlungslosigkeit mit der Äußerung in Ich komme zum ersten Bereich, der Pflege. Hier hat es ja gestern wieder keine Einigung gegeben, und es Einklang bringen kann, die sie 1993 auf der Presse- geht heute weiter. Für Außenstehende ist diese quä- konferenz zum Altenbericht gemacht hat: lende Diskussion längst nicht mehr verständlich. Wir sind in der Altenpolitik auf einem guten Weg, Machen wir uns nichts vor: Bei einem endgültigen den wir in den nächsten Jahren beharrlich fort- Scheitern werden insbesondere die beiden großen setzen müssen. Angesichts der wachsenden Zahl Parteien erheblichem Erklärungsdruck bei den älterer Menschen ist die Seniorenpolitik eine der Betroffenen, aber auch bei den eigenen Mitgliedern großen Zukunftsaufgaben. ausgesetzt sein. Ähnliche Sprechblasen haben wir auch heute morgen vernehmen können. Die Gesetzentwürfe der SPD-Fraktion und der Bun- desregierung lagen ursprünglich weit auseinander. Mir scheint, der Weg vom guten Vorsatz zur guten Da die Koalition auf die Zustimmung des Bundesrates Tat ist in diesem Ministerium ein unüberwindbarer. angewiesen ist, ist sie uns an einigen Stellen entge- (Beifall bei der SPD) gengekommen. Wir unsererseits haben auch Konzes- sionen gemacht, soweit es uns im Sinne der betroffe- Mein Kollege Arne Fuhrmann hat schon darauf hin- nen Menschen möglich war. Jetzt ist die Koalition gewiesen, daß die Einrichtung der Enquete-Kommis- gefragt, die notwendige Kompromißbereitschaft zu sion „Demographischer Wandel" erfolgreich von der zeigen, damit die Pflegeversicherung nicht endgültig SPD-Fraktion beantragt wurde und eben nicht das scheitert. Wir forde rn die Bundesregierung auf, das Ministerium die Initiative dazu ergriffen hat. Übrigens Bemühen um eine akzeptable Pflegeversicherung auch die Tatsache, daß wir heute diesen Altenbericht nicht länger durch internen Meinungsstreit und poli- diskutieren, haben wir nicht dem Ministerium Rönsch tische Bewegungslosigkeit zu torpedieren. zu verdanken, sondern noch dem alten Ministerium für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit. Ich bin (Beifall bei der SPD) auch sicher, es gäbe diesen Altenbericht in dem neuen Ministerium nicht. Die wichtigsten Impulse und Wei- Der kritische Punkt, der eine Einigung bisher chenstellungen für die zukünftige Entwicklung unmöglich macht, ist: Sollen die Kosten auf der infolge des demographischen Wandels kommen eben Arbeitgeberseite ausgeglichen werden — wozu sich nicht von dieser Ministerin. die SPD durchgerungen hat —, oder sollen — wie die Die SPD-Bundestagsfraktion stellt sich dieser Auf- Bundesregierung es will — bei dieser Gelegenheit gabe. Wir erarbeiten Antworten auf die Frage, wie den Unternehmen finanzielle Geschenke gemacht dieser Prozeß bewäl tigt werden kann, Antworten, die werden? sicherstellen, daß es gelingt, einen breiten gesell- Wir sind zur Streichung eines Feiertages zur Kosten- schaftlichen Konsens zu finden, wie diese bevölke- deckung auf Arbeitgeberseite bereit. Die Regierung, rungs- und sozialpolitischen Verschiebungen bewäl- meine Damen und Herren, fordert aber auf Druck der tigt und positiv beeinflußt werden können. F.D.P. nach wie vor die Streichung von zwei Feierta- Die Analysen und Empfehlungen, die von den gen. Dieser zweite Feiertag ist nach eigenen Zahlen Sachverständigen in den Altenbericht eingebracht von Arbeitsminister Blüm zur Finanzierung der Pflege worden sind, werden uns diese Konsensfindung nicht erforderlich. Die Streichung eines zweiten erleichtern. Wir haben verwendbares Zahlenmaterial Feiertags wäre eine reine Umverteilungsstrategie und mit dem Bericht als solchem eine gute Grundlage unter dem Deckmantel der Pflege. Es wäre Aufgabe Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994 18307

Lisa Seuster der Seniorenministerin, das in der Öffentlichkeit ganz gesamtgesellschaftliche Aufgabe. So wurden auch deutlich zu sagen. zwei Jahre lang im Rahmen eines Soforthilfepro- gramms Bundesmittel in Höhe von 200 Millionen DM (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ eingesetzt, die letztendlich jedoch nur ein Tropfen auf DIE GRÜNEN) den heißen Stein waren. Nach Ablauf dieser Zweijah- Ich komme zum zweiten wesentlichen Punkt, der resfrist war die Sanierung der Heime in den neuen Altenpflegeausbildung. Bisher waren alle Bemühun- Ländern dann plötzlich keine gesamtgesellschaftliche gen vergeblich, endlich eine bundeseinheitliche Aufgabe mehr. Dies war nach Ansicht unserer Regie- Regelung der Altenpflegeausbildung durchzusetzen, rung jetzt im Rahmen der Aufteilung zwischen Bund obwohl Frau Rönsch selbst hier nur allzuoft dringen- und Ländern allein Sache der fünf betroffenen Länder den Handlungsbedarf betont. und ihrer Kommunen, eventuell noch der Träger der Wie bereits in der vergangenen, ist auch in der Einrichtungen. jetzigen Legislaturperiode keine Lösung mehr in In der Diskussion im Familien- und Seniorenaus- Sicht. Der Zeitpunkt, an dem eine einheitliche Rege- schuß haben wir Sozialdemokraten immer wieder lung hätte verabschiedet werden können, ist schlicht- darauf hingewiesen, daß die Angleichung der weg verpaßt worden. In der 11. Legislaturperiode hat Lebensverhältnisse zwischen Ost und West durchaus eine reale Chance für diese Regelung bestanden. Jetzt eine vordringliche Aufgabe des Bundes sei. Bei der warten die Bundesländer nur noch auf die Verab- Koalition sind wir damit jedoch auf taube Ohren schiedung der Pflegeversicherung in der Hoffnung, gestoßen. daß zumindest der größte Teil der Ausbildungskosten Als nächstes wurde — ich nehme an, um das eigene analog zur Krankenpflege über die Pflegesätze finan- schlechte Gewissen zu beruhigen — die Stiftung ziert werden kann. Im übrigen verfestigen sich in den „Daheim im Heim" gegründet. Sie soll die Sanierung einzelnen Bundesländern die unterschiedlichen Aus- von Alteneinrichtungen voranbringen. Zur Gründung bildungsstrukturen immer mehr, für die Altenpflege- der Stiftung gab es Presseerklärungen der Ministe rin, rinnen und Altenpfleger eine sehr bedauerliche, über die Arbeit der Stiftung jedoch nicht. Ist dies negative Entwicklung, die dem Berufsbild und dem vielleicht ein Indiz für die Effektivität dieser Einrich- Ansehen des Berufes schadet. tung? Das Thema Altenpflegeausbildung macht deutlich, Jetzt, 1994, lautet die neueste Version, daß die daß ein spezielles Seniorenministerium die politische Sanierung der Heime nicht mehr Aufgabe von Bund, Durchsetzungskraft der Ministerin nicht gestärkt Ländern, Kommunen oder gar der Stiftung sei, viel- hat. mehr sei es jetzt die Aufgabe der Beitragszahler der (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ neuen Pflegeversicherung. DIE GRÜNEN) (Zuruf der Bundesministerin Hannelore Ich komme zum dritten Punkt: Pflegeheime in den Rönsch) neuen Bundesländern. Welchen Zickzackkurs das Ich frage Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen: Ministerium um die Sanierung der Alten- und Pflege- Warum sollen die Kosten jetzt plötzlich auf den Kreis heime in den neuen Bundesländern eingeschlagen der Arbeiter und Angestellten abgewälzt werden? Die hat, will ich an Hand folgender Erklärungen deutlich Beitragsmittel der Pflegeversicherung können nicht machen: dazu benutzt werden, ein Sanierungsproblem zu Sowohl die Ministerin als auch der Ausschuß für bewältigen. Wir wollen allein den Pflegebedürftigen Familie und Senioren haben nach der Wiedervereini- diese Beiträge zugute kommen lassen. Wir als SPD- gung ausgedehnte Reisen in die neuen Bundesländer Fraktion fordern, daß der investive Nachholbedarf für gemacht, um die Situation in den Heimen zu begut- ostdeutsche Pflegeheime über acht Jahre an Hand der achten. Einstimmig wurde festgestellt, daß sich die eintretenden Einsparungen in der Kriegsopferver- Häuser in einem katastrophalen Zustand befinden. sorgung finanziert wird. Hier wird es zu Einsparungen Nach westlichen Standards müßten die meisten sofort von insgesamt 800 Millionen DM jährlich kommen. Da geschlossen werden. Ein Sanierungsbedarf von diese Summe eine langfristige, zuverlässige Planung 16 Milliarden DM wurde berechnet. Positiv zu vermer- in den neuen Bundesländern ermöglichen wird, bitte ken war — darauf möchte ich an dieser Stelle hinwei- ich Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen: Stimmen Sie sen —, daß die Heime personell wesentlich besser dem zu! versorgt waren als die in den alten Bundesländern. Es (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ist nicht richtig, Frau Ministerin, wenn Sie hier sagen, DIE GRÜNEN) daß den alten Menschen dort einiges angetan wurde. Das ist eine Diskriminierung derjenigen, die in der Ich komme zum letzten Punkt, und zwar zur Reha- Pflege unter schwierigen Bedingungen gearbeitet bilitation. In der Beurteilung, daß der Ausbau von haben. Rehabilitationsmöglichkeiten fortgesetzt werden muß, stimme ich mit der Ministerin überein. Bei einem (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und Sportler sind Rehabilitationsmaßnahmen nach einer dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Meniskusoperation selbstverständlich. Dies muß ge- Die Bundesregierung versprach angesichts des gro- nauso selbstverständlich sein, wenn ein älterer ßen Nachholbedarfs bei der Sanierung des Alten- und Mensch, z. B. nach einem Schlaganfall, ins Kranken- Pflegeheimbereichs, finanziell zu helfen. Der Sanie- haus eingeliefert wird. Auch hier müssen die ersten rungsbedarf könnte von den neuen Ländern und den Reha-Maßnahmen bereits im Akutkrankenhaus be- Kommunen allein nicht bewältigt werden, das sei eine ginnen. Je nach allgemeinem Gesundheitszustand 18308 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994

Lisa Seuster müssen die Behandlungen — möglichst in ortsnahen land ein eigenständiges Ministerium für Senioren Reha-Zentren — anschließend fortgeführt werden. geschaffen. Damit hat der Bundeskanzler gezeigt, daß Mit geeigneten geriatrischen Reha-Maßnahmen er die Herausforderung der demographischen Ent- könnte man erreichen, daß ältere Menschen möglichst wicklung erkannt und angenommen hat. lange ihre eigene Lebensführung erhalten können. (Lisa Seuster [SPD]: Das Symbol muß aber Mit der Fortschreibung des Grundsatzes „Rehabili- auch ausgefüllt werden!) tation geht vor Pflege" ist im Rahmen des Gesund- in der Bundesrepublik hat heitsreformgesetzes 1989 ein wichtiger Schritt get an Die Lebenserwartung sich in den letzten hundert Jahren fast verdoppelt. worden. Damit wurde auch die Kostenübernahme Herr Kollege Vogel, das haben wir gestern abend durch die gesetzlichen Krankenversicherungen ver- gerade bei dem Symposium in der Parlamentarischen bindlich festgeschrieben. Folgerichtig ist in den letz- Gesellschaft noch einmal so deutlich gehört, an dem ten Jahren auch die Zahl der geriatrischen Abteilun- wir beide teilgenommen haben. Also die Lebenser- gen in den Akutkrankenhäusern und in den Rehabi- wartung hat sich fast verdoppelt in den vergangenen litationsbereichen angestiegen. Dies gilt es weiter auszubauen. Die Pflegeversicherung könnte auch hier hundert Jahren. wichtige Impulse geben. Heute sind in der Bundesrepublik 16 Millionen Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie sehen, in allen Menschen über 60 Jahre alt, das sind 20 % — jeder vier wichtigen Punkten sind Lösungen nicht greifbar. fünfte — unserer Bevölkerung. Frau Rönsch hat ihre selbstgesteckten Ziele nicht Der erste Altenbericht der Bundesregierung gibt erreicht. Sie ist auch mit ihrer Seniorenpolitik geschei- uns viele Hinweise, wie Seniorenpolitik in der Zukunft tert. gestaltet und verbessert werden kann. Abschließend möchte ich nur zu gern wissen: Wie Ich möchte, meine sehr verehrten Damen und wird Frau Rönsch versuchen, ihr Scheitern in der Herren, an dieser Stelle hervorheben, daß ich gestern Seniorenpolitik zu kaschieren? Wird sie — wie in der morgen zu Beginn unserer Ausschußsitzung an den Familienpolitik — von ihrem Scheitern mit einem Tod unseres Freundes, des Staatssekretärs Albrecht unausgegorenen Vorschlag abzulenken versuchen? Hasinger, erinnert habe. Wir haben uns zu seinen Wie wäre es damit: Alle Über-60jährigen, die ihren Ehren gestern in unserem Ausschuß erhoben, weil er Führerschein abgeben, haben freie Fahrt in Bus und in der Tat über viele Jahre mit uns in freundschaftli- Bahn. Die Einnahmeausfälle zahlen die uneinsichti- cher und enger Gemeinschaft für diese Politik gear- gen Über-60jährigen, die weiter Auto fahren wollen, beitet hat. als Strafsteuer. Statistiker starten immer wieder den Versuch, einen Vielleicht aber fällt der Ministerin noch etwas Menschen von einem bestimmten Geburtstag an als Besseres ein. alt zu bezeichnen. Egal, ob dies mit 60 oder 65 Jahren (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke geschieht, dies ist der Ansatz einer verfehlten Betrach- Liste) tung. Die Unterschiedlichkeit des menschlichen Lebensstils, die Lebensführung und die menschliche Differenziertheit lassen dies nicht zu. Darum kann Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich erteile man nicht schematisch von „den Älteren", „den nunmehr dem Abgeordneten Walter Link das Wort. Senioren" oder „der älteren Generation" sprechen. Man muß sich nur einmal bewußt werden, wo Walter Link (Diepholz) (CDU/CSU): Herr Präsident! überall von Senioren gesprochen wird. Einer meiner Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich habe heute Berufe ist Sportlehrer. Der Begriff „Senior" ist nicht morgen meine Rede zum Altenbericht der Bundesre- nur auf ältere Menschen zugeschnitten, sondern die- gierung mit den Sätzen überschrieben: Wie wir mit ser Begriff wird vielfältig positiv verwendet, so z. B. im den alten Menschen umgehen, zeigt den menschli- Sport. Bei vielen Sportarten bezeichnet man ab dem chen oder unmenschlichen Charakter unserer Gesell- 21. Lebensjahr die Altersklasse, in der man startet, als schaft. die Seniorenklasse. Ich füge hinzu: Es hat schon viele Jugendberichte Schlimm wird es, wenn wir von der „Alterslast", der Bundesregierung gegeben, aber es gab noch nie dem „Rentenberg" oder von der „Überalterung" einen Altenbericht. Das ist heute der erste, und dieser sprechen. Die demographische Entwicklung zeigt Altenbericht ist von Frau Professor Ursula Lehr, einer uns, daß sich der Anteil der Menschen, die älter als - — wie ich meine — in der ganzen Welt anerkannten 65 Jahre sind, in den nächsten 40 Jahren verdoppeln Alternsforscherin, veranlaßt worden. wird. Und die dritte Überschrift lautet: 98 % aller Men- Die Statistiker sagen auch — das habe ich vorhin in schen in der Bundesrepublik Deutschland zwischen der Überschrift schon gesagt —, daß 98 % aller 60 und 80 Jahren leben völlig selbständig ohne fremde Menschen zwischen 60 und 80 Jahren völlig selbstän- Hilfe. Ich glaube, es ist das eigentlich Schöne an dieser dig leben. Hieran sieht man, wie falsch es ist, wenn Situation, daß so viele Menschen in einem so hohen Altsein in die Nähe von Gebrechlichkeit und Krank- Alter noch völlig selbständig glücklich und ohne heit gerückt wird. fremde Hilfe leben können. Auch ist in diesem Zusammenhang ein besonders (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) bedeutender Aspekt, daß Frauen über Jahre hinweg, Die Regierung von Bundeskanzler Helmut Kohl hat wenn z. B. der Ehepartner gestorben ist, ohne Ehe- als erste Regierung in der Bundesrepublik Deutsch oder Lebenspartner leben müssen. Dieser Erkenntnis Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994 18309

Walter Link (Diepholz) ist besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Dies muß und die Beteiligung älterer Menschen in solchen ein besonderes Interesse in der Be trachtung und Seniorenbüros vorbildlich gelebt werden. Umsetzung von Altenpolitik finden. Meine Fraktion, die CDU/CSU, ist der Auffassung, Die Bundesregierung legt nun einen umfassenden daß nachbarschaftliche Netze dort wiederherzustel- Bericht vor, der die unterschiedlichen Lebenssituati- len sind, wo sie nicht mehr bestehen. Ziel muß es sein, onen älterer Menschen unter wirtschaftlichen und in den Städten, Kreisen und Gemeinden ein gut sozialen wie unter gesundheitlichen und psychischen strukturiertes Netz von sozialen Diensten zu schaffen, Gesichtspunkten erfaßt. Der Altenbericht macht deut- das zwar durch die Kommunen gesteuert und organi- lich, daß Altenpolitik kein geschäftsordnungsbeding- siert wird, aber durch zahlreiche Helferinnen und tes Referat sein kann. Altenpolitik muß gesellschaftli- Helfer auch im Ehrenamt getragen wird. Jede Stadt che Strukturpolitik sein. Sie ist Querschnittsauftrag sollte eine Vermittlungsbörse für soziale Hilfsdienste bei allen gesellschaftlichen Aufgaben und allen Mini- einrichten. sterien. Das sollte auch heute noch einmal aus dem Plenar- Von daher, Frau Kollegin Seuster, ist Ihr Angriff von saal des Deutschen Bundestages der Appell an unsere eben gegenüber der Ministerin völlig falsch. Man Kommunen sein. Das wäre ein echter Gewinn für kann nicht Altenpolitik und Geschäftsordnung ver- Seniorenpolitik, der nicht nur wünschenswert, son- binden. Es ist gut, daß diese Bundesregierung gesagt dern auch von der Finanzierbarkeit für Kommunen hat: Wir zeigen eine besondere Aufmerksamkeit, und Länder machbar ist und auf Dauer gesehen sogar indem wir das Ministerium schaffen; aber es wird eine Entlastung bringen könnte. Querschnittspolitik bleiben wie z. B. bei der Rente, In diesem Zusammenhang wäre auch eine Erweite- (Christel Hanewinckel [SPD]: Das ist ja in rung des Aufgabenspektrums der Sozialstationen Ordnung; aber man muß auch etwas tun!) möglich, die gegenseitige Besuchs- und Hilfsdienste organisieren. Es muß dafür gesorgt werden, daß wie z. B. bei der Pflegeversicherung, wie z. B. im Menschen ihren dritten Lebensabschnitt in großer Wohnungsbauministerium. Das andere war A und S. Sicherheit verbringen können. Querschnittsaufgabe muß es sein. Frau Ministerin Rönsch — das wissen wir nun einmal besser als Sie von Neben dem Schutz vor Gewalt und Kriminalität der Opposition — hat sich mit all ihrer Kraft eingesetzt, spielt auch die Sorge um die finanzielle Sicherheit der eine Rolle. Ich denke, wir sollten alle gemein- daß die Pflegeversicherung kommt. Renten sam in diesem Hause das Gerede von der Unsicherheit (Beifall bei der CDU/CSU) der Renten lassen. Wir haben doch nicht umsonst zwischen der Koalition und der Opposition vor Jahren Wenn ein Viertel unserer Gesellschaft zu den Älte- ein Gesetz geschaffen, um unseren Menschen die ren zählt, stellt sich die Frage, wie man diese struktu- Sorgen zu nehmen. rellen Probleme der Gesellschaft lösen und welchen Beitrag der einzelne dazu bringen kann. Daraus die (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Konsequenzen zu ziehen heißt, keine Nischenpolitik Ich verstehe schon, Frau Kollegin Seuster, daß junge für angebliche und tatsächliche Defizite für ältere Leute heute fragen: Wenn ihr denn eine Lebensversi- Menschen zu betreiben. Es heißt, die wirklichen cherung macht, profitiere ich auch davon, oder muß Bedürfnisse älterer Mitbürgerinnen und Mitbürger ich nur zahlen? Wenn schon die Renten so gut sind wie bei allen politischen Entscheidungen mit einzubezie- heute, profitiere ich auch noch davon? Daß diese hen. Sorgen betrachtet werden müssen, auch über das Jahr Deshalb hat unsere Seniorenministerin Hannelore 2000 hinaus, ist richtig, und das müssen wir gemein- Rönsch 1992 im Rahmen des Bundesaltenplanes ein sam tun, Modellprogramm „Seniorenbüro" ins Leben geru- (Lisa Seuster [SPD]: Herrn Biedenkopf müs fen. Mittlerweile haben wir viele Jugendberichte, und sen Sie das sagen!) wir haben einen Jugendplan. Es ist das Verdienst dieser Ministerin und dieser Regierung, daß wir nun aber nicht unsere alten Menschen verunsichern. Das einen Altenbericht und auch einen Altenplan haben. sage ich auch zu Kollegen meiner eigenen Partei. Daran kommen auch Sie von der Opposition nicht (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) vorbei. Das sind Erfolge. Schlimm wäre dies besonders für die Rentner in (Beifall bei der CDU/CSU — Arne Fuhrmann Ostdeutschland, die nicht nur 40 Jahre Gefängnis- in [SPD]: Das ist ja in Ordnung!) der DDR zu ertragen hatten, sich trotz Arbeit keinen Hier werden unseren Senioren ganz konkret neue Wohlstand schaffen konnten, wenn es hier zu einer Betätigungsfelder z. B. in den Seniorenbüros angebo- Rentenkürzung käme. Die CDU/CSU sagt deutlich, ten. Vor allen Dingen werden hier die jahrelangen daß es zu keiner Rentenkürzung in ihrer Regierungs- Erfahrungen der Seniorinnen und Senioren nach zeit kommen wird. ihren Interessen in gezielte ehrenamtliche Tätigkeit (Arne Fuhrmann [SPD]: Das ist ja nicht mehr umgesetzt. Die Menschen, die ehrenamtlich tätig so lange — 3 Monate! — Heiterkeit bei der sind, sollten auch geschult werden. Ich glaube, es ist SPD) ganz wichtig, daß wir die Ehrenamtlichkeit nicht nur fordern, sondern von den Städten, Gemeinden und — Ach, wissen Sie, wie lange das noch ist, das Kreisen auch Schulungen anbieten. Zu Recht kann bestimmen nicht Sie; das bestimmen die Wählerinnen davon gesprochen werden, daß die Selbständigkeit und Wähler in der Bundesrepublik Deutschland. Da 18310 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994

Walter Link (Diepholz) wollen wir dann einmal im Oktober gucken, wie das zum Beispiel in Niedersachsen? aussieht. (Arne Fuhrmann [SPD]: Hervorragend, Herr (Arne Fuhrmann [SPD]: Wir fangen am Kollege, das ist ein Musterländle!) 13. März an!) (Diepholz) (CDU/CSU): Herr Präsident, Wir haben gerade in dieser Woche auf dem Bundes- Walter Link ich bitte mir die Zeit nicht anzurechnen. parteitag bewiesen — und die gesamte veröffentlichte Meinung in Deutschland mit —, daß wir die Partei der Herr Kollege Fockenberg, ich bin Ihnen wirklich Familie sind. dankbar, daß Sie diese Frage stellen. Ich bin ja Niedersachse. Ich bin stellvertretender Landesvorsit- Dieser Altenbericht heute und die Diskussion über zender der Union in Niedersachsen. Ich will dazu mal diesen Altenbericht zeigen doch noch einmal sehr so ein paar Takte sagen. Die rot-grüne Landesregie- deutlich, daß wir auch die Partei der Seniorinnen und rung in Niedersachsen hat sich 1990 mit Wahlverspre- Senioren in Deutschland sind, und mit diesen Wähler- chen in der Sozial- und Familienpolitik den Wahlsieg gruppen den Kampf mit Ihnen zu führen, die Sie sich erschwindelt. aus diesen Politikbereichen längst abgemeldet haben, darauf freuen wir uns alle. (Zurufe von der SPD: Oh!) Wir erinnern uns noch sehr gut daran, wie Sie Frau (Lisa Seuster [SPD]: Können Sie denn mal die Süssmuth damals, als sie als Sozialministerin nach eine Zeitung nennen, die das gesagt hat? — Niedersachsen gehen wollte, mit Schmutz übersät Lachen bei der SPD und der PDS/Linke haben und dort alles versprochen und uns alles Liste) abgesprochen haben. Sagen Sie einmal: Warum ist eigentlich in den 70er Wenn die SPD hier in Bonn aus der Opposition Jahren, in den Jahren von 1969 bis 1982, als Sie regiert überzogene Forderungen erhebt, sollte sie nach Nie- haben — Brandt, Schmidt; die demographische Ent- dersachsen schauen, wo sie den Ministerpräsidenten wicklung, wie wir sie heute haben, war schon abzu- stellt. Ein Gesetz über die Sozialstationen in Nieder- sehen — kein Altenbericht gemacht worden? Warum sachsen, das diesen die finanziellen Mittel kürzt, liegt haben Sie kein Seniorenministerium eingerichtet? Sie in der Schublade und wird nach den Wahlen heraus- sind doch während Ihrer Regierungszeit die Versager gezogen. — Die SPD versteht ja etwas von Schubla- auf der ganzen Linie gewesen, und heute laufen Sie den. Die SPD in Niedersachsen hat Verbesserungen nur hinter uns her! Das ist doch die Tatsache. für den Personalschlüssel bei den Sozialstationen (Beifall bei der CDU/CSU — Arne Fuhrmann angekündigt, aber nicht eingehalten. [SPD]: 12 Jahre seid ihr dran! Wir reden über die vergangenen 12 Jahre!) Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Ab- Der Altenbericht der Bundesregierung ist eine gute geordneter, ich möchte Sie auf die Geschäftsordnung Analyse der jetzigen Situation der älteren Generation aufmerksam machen dürfen. Ich habe Verständnis in der Bundesrepublik Deutschland. Er zeigt auf, wie dafür, daß Sie das nun so schön herunterlesen, weil in der Zukunft Politik für ältere Menschen aussehen man das ja nicht alles im Kopf haben kann. In der kann. Auch die vom Deutschen Bundestag einge- Geschäftsordnung aber ist vermerkt, daß nicht nur die Frage, sondern auch die Antwort kurz und präzise sein setzte Enquete-Kommission kann diesen Bericht in ihrer Arbeit sicherlich gut aufnehmen und verwen- soll. Wenn ich also die Antwort nicht auf Ihre Zeit den. anrechnen soll, bitte ich, sich auch an die Geschäfts- ordnung zu halten, Ich will Ihnen mal etwas zu den Sozialstationen sagen, weil Sie hier so dazwischenrufen und uns (Arne Fuhrmann [SPD]: Bitte anrechnen, ständig Vorwürfe machen, und sagen, daß Sie mit Herr Präsident!) unserer Altenpolitik nicht zufrieden sind. Daß zur (Diepholz) (CDU/CSU): Die SPD hat Altenpolitik Sozialstationen geschaffen wurden, ist Walter Link versprochen, in Niedersachsen Kurzzeit- und Alten- heute morgen von Heiner Geißler schon einmal pflege in der Tagespflege einzurichten. Wir stellen gesagt worden. nach vier Jahren fest: Fehlanzeige. Die SPD hat gesagt, sie würde in drei Jahren 3 000 Wohnungen schaffen, auf 47 Kreise aufgeteilt. Es kommt nicht viel Sie sind Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: dabei heraus; denn das würde z. B. für die große bereit, eine Zwischenfrage zu beantworten? — Kol- Landeshauptstadt Hannover 20 Wohnungen bedeu- lege Fockenberg, bitte sehr. ten. Sie hat mit den GRÜNEN versprochen, die Sozialstationen in Niedersachsen zu stärken. Nichts ist geschehen. Hermann Schnipkoweit ist in Nieder- (CDU/CSU): Herr Kollege Winfried Fockenberg sachsen der Vater der Sozialstationen; die SPD hat sie Link, Sie haben mir das Stichwort mit dem Wort vier Jahre lang weiterverwaltet, ohne auch nur irgend „Sozialstationen" gegeben. Ich möchte ein weiteres etwas positiv zu verändern. Stichwort von Altenpolitik aufgreifen, das Sie eben- falls genannt haben. Wie sieht es, Herr Kollege Link, Herr Ab- eigentlich mit der Altenpolitik da aus, wo Sozialdemo- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: geordneter, ich lasse die Uhr jetzt wieder laufen, weil kraten über Mehrheiten verfügen — ich möchte gar ich glaube, daß das in Ihre normale Rede gehört. nicht sagen, in der Verantwortung stehen: (Arne Fuhrmann [SPD]: Was ist denn das für Walter Link (Diepholz) (CDU/CSU): Das zeigt deut- ein Unfug?) lich und klar: Sozialisten versprechen sehr viel, wenn 18312 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994

Dr. Rudolf Karl Krause (Bonese) als auch was das ungeborene Leben angeht, gibt es sie noch einmal seitens der Bundesregierung zwischen dem Programm der Republikaner und der zurück. Stellung von Bischof Dyba und anderen Bischöfen Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der überhaupt keine Unterschiede. vorliegende Gesetzentwurf eines Arbeitsschutzrah- Ich danke für die Aufmerksamkeit. mengesetzes verbessert die Sicherheit und den (Gerlinde Hämmerle [SPD]: Das wird den Gesundheitsschutz bei der Arbeit. Er ist der letzte und Herrn Bischof aber nicht sehr freuen!) wichtigste Baustein der Gesamtkonzeption der Bun- desregierung zur Neuordnung des Arbeitsschutz- rechts und zur Umsetzung von EG-Richtlinien zum Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Meine Arbeitsschutz. Damen und Herren, ich kann Ihnen mitteilen, daß interfraktionell die Überweisung der Vorlage auf Die Bundesregierung hat immer wieder betont, daß Drucksache 12/5897 an die in der Tagesordnung der Binnenmarkt nicht nur Wirtschafts- und Wäh- aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen wird. Ich rungsunion sein darf; er muß auch Sozialunion sein. gehe davon aus, daß das Haus damit einverstanden Tatsächlich ist der Arbeitsschutz auch das Feld, auf ist. — Dann ist die Überweisung so beschlossen. dem die Sozialunion am weitesten vorangekommen ist. Nunmehr kann ich den Tagesordnungspunkt 11 a Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf setzen wir die und b aufrufen: EG-Rahmenrichtlinie zum betrieblichen Arbeits- schutz in deutsches Recht um. Die drei wichtigsten a) Erste Beratung des von der Bundesregie- Eckpunkte des Entwurfs sind: rung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Erstens. Erstmalig werden die grundlegenden Arbeit (Arbeitsschutzrahmengesetz — Pflichten von Arbeitgebern und Arbeitnehmern ArbSchRG) zusammenhängend gesetzlich geregelt. Der Arbeit- — Drucksache 12/6752 — geber wird verpflichtet, die Gefahrensituation in seinem Betrieb zu ermitteln und zu bewerten. Auf Überweisungsvorschlag: Grund dieser Beurteilung muß er entsprechende Vor- Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung (federführend) Innenausschuß kehrungen treffen oder bereits bestehende Schutz- Ausschuß für Gesundheit maßnahmen anpassen. Ausschuß für Forschung, Technologie und Technikfolgenab- schätzung Bei seinen Maßnahmen muß der Arbeitgeber die Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO allgemeinen Grundsätze der Gefahrenverhütung Ausschuß für Wirtschaft beachten. Die Gefahren sollen an der Quelle b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes- bekämpft werden. Kollektiven Schutzmaßnahmen regierung soll Vorrang vor individuellen eingeräumt werden, Bericht der Bundesregierung über den Stand und die Erfordernisse der technischen Entwicklung der Unfallverhütung und das Unfallgeschehen und einer menschengerechten Gestaltung der Arbeit in der Bundesrepublik Deutschland sollen berücksichtigt werden. Unfallverhütungsbericht 1992 Damit folgt der Gesetzentwurf der EG-Rahmen- — Drucksache 12/6429 — richtlinie — besser gesagt: der EU-Rahmenrichtli- nie — und schreibt den Arbeitgebern die zu ergreifen- Überweisungsvorschlag: den Arbeitsschutzmaßnahmen nicht im einzelnen Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung (federführend) haarklein vor. Er läßt den notwendigen Spielraum für Ausschuß für Frauen und Jugend kostengünstige und auf den jeweiligen Betrieb zuge- Ausschuß für Gesundheit schnittene Lösungen. Ausschuß für Verkehr Die Beschäftigten werden allerdings auch verpflich- Interfraktionell ist vereinbart worden, daß eine tet, die betrieblichen Arbeitsschutzmaßnahmen zu gemeinsame Aussprache von einer halben Stunde unterstützen, z. B. durch Benutzung der persönlichen stattfinden soll. Ist das Haus damit einverstanden? — Schutzausrüstungen. Wir wissen, daß gerade dann, Das ist der Fall. Darm ist das so beschlossen. wenn diese nicht angewandt wurden, viele Unfälle Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst dem passiert sind. Parlamentarischen Staatssekretär Horst Günther das Wort. Zweitens. Der Gesetzentwurf schafft erstmals einen einheitlichen arbeitsschutzrechtlichen Rahmen für alle Wirtschaftsbereiche und die öffentliche Verwal- Horst Günther, Parl. Staatssekretär beim Bundesmi- tung. nister für Arbeit und Sozialordnung: Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Bevor ich Drittens. Der Präventionsauftrag der Unfallversi- zu meinem Thema komme, möchte ich ganz kurz cherungsträger wird, über die Verhütung von — sozusagen als Kurzintervention, Herr Präsident — Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten hinaus, auf die Verhütung arbeitsbedingter Gesundheitsgefah- die pauschalen Vorwürfe des Kollegen Krause zum Renten-Überleitungsgesetz seitens der Bundesregie- ren ausgeweitet. Die guten Erfahrungen mit dem rung zurückweisen. So einfach, Herr Krause, können dualen Arbeitsschutzsystem in der Vergangenheit Sie es sich nicht machen. Sie wissen, wie kompliziert bestätigen, daß dieser Schritt richtig ist. die Materie ist. Es ist unangemessen, mit drei Sätzen Der vorliegende Gesetzentwurf rechtfertigt sich eine solche Abqualifizierung vorzunehmen. Ich weise aber nicht nur durch die notwendige Umsetzung von Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994 18313

Parl. Staatssekretär Horst Günther EU-Recht. Dauerhafter Fortschritt im Arbeitsschutz, Die Bundesregierung hätte Zeit genug gehabt, die wirksame Verhütung von Arbeitsunfällen und einen Gesetzentwurf vorzulegen, der den Bedürfnis arbeitsbedingten Erkrankungen und Gesundheitsge- sen Rechnung trägt. Aber vorgelegt wurde ein Ent- fahren sind auch ein Gebot der wirtschaftlichen Ver- wurf mit gravierenden inhaltlichen und konzeptionel- nunft, sowohl für die gesamte Volkswirtschaft als auch len Mängeln, der in einigen Punkten sogar hinter das für den einzelnen Betrieb. bestehende Arbeitsschutzrecht zurückgeht und punk- Versäumnisse bei der Prävention führen zu Folge- tuell sogar noch hinter die Vorgaben der EG-Rahmen- kosten in Milliardenhöhe in den sozialen Sicherungs- richtlinie. Ich nenne nur die Stichworte Gefährdungs- systemen. Fehlzeiten, Krankheitskosten, Erwerbs- analyse und Mitarbeiterbeteiligung. Obwohl ohne- und Berufsunfähigkeitsrenten sowie Produktionsaus- hin nur ein Mindeststandard festgeschrieben wird, fälle — das sind die Folgen mangelhaften Arbeits- wird auch das noch zu unterlaufen versucht. Nicht schutzes. einmal der in der EG-Richtlinie geforderte Grundsatz des gleichen Schutzniveaus für alle Arbeitnehmer Nach Schätzungen der Bundesanstalt für Arbeits- wird eingehalten. schutz beliefen sich die volkswirtschaftlichen Kosten von Arbeitsunfähigkeit im Jahre 1991 auf 88,8 Milli- Lassen Sie mich zum Inhalt einen groben Überblick arden DM. Auch die Zahl der Arbeitsunfälle ist zu geben. Das vorgelegte Arbeitsschutzrahmengesetz hoch, trotz der Erfolge in der Vergangenheit, die ich soll die grundlegenden Pflichten von Arbeitgebern hier auch gerne anführen möchte. und Beschäftigten im betrieblichen Arbeitsschutz ein- Weitere Fortschritte im Interesse der Sicherheit und heitlich für alle Beschäftigungsgruppen und Tätig- Gesundheit der Beschäftigten sind allerdings notwen- keitsbereiche einschließlich des öffentlichen Dienstes dig. Jeder weitsichtige Unternehmer weiß: Sein wert- regeln. Die veralteten Bestimmungen der Gewerbe- vollstes Kapital — gerade in wirtschaftlich schweren ordnung über den betrieblichen Arbeitsschutz sollen Zeiten — sind die Leistungsfähigkeit, die Motivation, damit durch ein EG-konformes Grundgesetz des die Kreativität und die Gesundheit seiner Mitarbeite- Arbeitsschutzes abgelöst werden. Der Entwurf umfaßt rinnen und Mitarbeiter. Ein wirksamer Arbeitsschutz auch die bisher im Arbeitssicherheitsgesetz enthalte- ist hierzu ein wichtiger Beitrag, und wir wollen ihn mit nen Bestimmungen über die Beratung der Arbeitge- diesem Gesetz leisten. ber durch Betriebsärzte und Fachkräfte für Arbeits- sicherheit. Damit kann das Arbeitssicherheitsgesetz Vielen Dank. im Grunde genommen aufgehoben werden. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Generell stelle ich für mich und für meine Partei fest: Der Anspruch dieses Gesetzentwurfs steht im Gegen- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort satz zu dem, was er in der Praxis tatsächlich leisten hat nunmehr der Abgeordnete Manfred Reimann. kann. Gemessen an den Vorstellungen der SPD — siehe Drucksache 12/2412, Schaffung eines Arbeitsschutzgesetzbuches — kann diese Gesetzes- Manfred Reimann (SPD): Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten vorlage nur komplett als unzureichend bezeichnet Damen und Herren! Laut EG-Ratsbeschluß sollten die werden. Mitglieder — damals EG, heute EU — die von der EG Auch der Forderung des Bundesverfassungsge- erlassene Arbeitsschutzrahmenrichtlinie, Herr Staats- richts — siehe dessen Urteil zur Nachtarbeit, verfas- sekretär, bis zum 31. Dezember 1992 in nationales sungsrechtlicher Anspruch der Beschäftigten auf Recht umwandeln. Die Bundesregierung legt also mit Schutz von Leben und Gesundheit — wird dieser fast eineinhalbjähriger Verspätung einen Gesetzent- Gesetzentwurf nicht gerecht. Von Fachleuten wird er wurf vor. Selbst der — das zeigt sich hier — ist von der als praxisfremd, schwerfällig und überbürokratisch Bundesregierung im Hauruck-Verfahren entwickelt eingestuft und abgelehnt. Sie befürchten darüber und vorgelegt worden. So sieht dieser Gesetzentwurf hinaus, daß bei der tatsächlichen Umsetzung reale auch aus. Er erreichte die Parlamentarier total verspä- Verschlechterungen im Arbeitsschutz eintreten. tet. Wieder einmal sollen wir im Eilverfahren begut- achten, was in nationales Recht umgewandelt werden Kritikpunkte im einzelnen, die wir in die Ausschuß- soll. Ich finde das schon beachtlich und meine, auch beratungen einbringen werden — in der Hoffnung, wenn man hier freitags mittags über den letzten daß sie von der Regierung gehört werden —, sind: Tagesordnungspunkt spricht, ist es kein Grund, so Nach wie vor sollen an gleichen Arbeitsplätzen unter- schiedliche Sicherheitsstandards gelten. Zum Bei- kurz zu sein. - spiel kommen deutsche Arbeiter einer Baufirma auf (Günther Heyenn [SPD]: Das ist typisch für den Baustellen in den Genuß anderer Sicherheitsbe- diese Regierung! Nicht einmal die Hausar stimmungen als ausländische Werkvertragsarbeit- beiten kann sie machen!) nehmer. Dieser Zeitdruck ist um so bedauerlicher, meine Damen und Herren, als es schon einen einstimmigen (Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Das ist Beschluß des Bundestages —1981 unter der Koalition allerhand!) — zur Schaffung eines umfassenden Nicht nur, daß diese Arbeiter in Unkenntnis der und einheitlichen Arbeitsschutzgesetzes gibt. Arbeitsschutzbestimmungen — abgesehen von ihrer Allein an diesen Daten wird deutlich, welchen eigenen Exponiertheit dadurch — ihre deutschen Stellenwert die Bundesregierung der Sozialpolitik im Kollegen laut Aussage der IG Bau-Steine-Erden oft- allgemeinen und besonders dein Arbeitsschutz bei- mals gefährden; nein, darüber hinaus fördert diese mißt. Regelung auch das Sozialdumping und schafft weite- 18314 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994

Manfred Reimann ren Anreiz zur Beschäftigung ausländischer Werkver- Gesundheit — kommen zwangsläufig teurer als Auf- tragsarbeitnehmer. wendungen für Vorbeugung und Verhütung. Eben- Auch die Ausgrenzung von Heimarbeiterinnen und falls nicht außer acht lassen darf man in diesem Hausangestellten sowie des gesamten Gaststättenbe- Zusammenhang die Kosten, die in den Betrieben reiches ist nicht zu begründen. Ferner ist das Mitwir- durch arbeitsbedingte Krankheiten entstehen. kungsrecht der Beschäftigten in bezug auf die EG- Wir wissen, daß Krankheiten einerseits durch die Rahmenrichtlinie und Art. 8 der Bildschirmrichtlinie tägliche Belastung am Arbeitsplatz verursacht wer- nur unzureichend umgesetzt. den, andererseits aber auch durch Unfälle, die nicht Als unzureichend einzustufen sind darüber hinaus zuletzt wegen fehlender Sicherheitsvorkehrungen die schriftliche Gefährdungsbeurteilung in § 11 geschehen. — Punkt 19 der Stellungnahme des Bundesrates —, Hier wird der Kontext zum Unfallverhütungsbe- die vorgesehene Überwachung im öffentlichen Dienst richt hergestellt — zu dem ich einige Gedanken sowie die nach wie vor mangelhaft geregelte Zusam- äußern möchte —, den die Bundesregierung jährlich menarbeit von Berufsgenossenschaften und Gewer- vorzulegen hat. Ich kann hier in aller Kürze nur einige beaufsicht, die schon in der Vergangenheit nicht Bemerkungen anbringen. zufriedenstellend verlaufen konnte, weil die Unfall- verhütungsvorschriften nur nach Branchen und nicht Mein Eindruck, daß es sich bei dem Bericht der sinnvoll übergreifend und ineinandergreifend organi- Bundesregierung um eine Pflichtübung ohne Konse- siert sind. Auch fehlt eine Reform des Berufskrankhei- quenzen für die praktische Arbeit handelt, erhärtet tenrechts. Die von der SPD schon seit langem gefor- sich auf Grund der ständig steigenden Unfallzahlen. derte Umkehr der Beweislast läßt nach wie vor auf sich Herr Staatssekretär, man höre und staune: Berufsun- warten. fälle — plus 25,5 %, tödliche Berufsunfälle — plus 17,17 %, Verdacht auf Berufskrankheit — plus 48 %, Zu § 22 „Durchführung der Vorsorgeuntersuchun- Berufskrankheiten mit tödlichem Ausgang — plus gen" muß angemerkt werden, daß sich hier ein 99%. Zündstoff ganz besonderer Art verbirgt. Dieser § 22 erlaubt die Anwendung genetischer Methoden, Die Kosten — gerade weil man in diesem Hause oft stundenlang über Bagatellsummen diskutiert — she- (Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Hört! gen in diesem Bereich von 15 auf über 20 Milliarden Hört!) DM. Da wird so getan, als sei das überhaupt nichts. Die juristisch formuliert: Zahl der Schülerunfälle steigt; die Zahl der tödlichen Schülerunfälle stieg um 83 %. Untersuchungen, durch die bestimmte ererbte Veranlagungen für Erkrankungen, die durch die Wenn man das differenziert — da die neuen Länder Beschäftigung an einem bestimmten Arbeitsplatz und die alten Länder nicht getrennt ausgewiesen oder mit einer bestimmten Tätigkeit entstehen werden, habe ich das zwischengerechnet; wir werden können, zu ermitteln sind .. . das im Ausschuß diskutieren —, dann gewinnt m an daraus die Erkenntnis, daß im Vergleich zwischen den Sobald also DNA-Analysen durch ein noch zu schaffendes Gesetz sowie andere genetische Untersu- alten und neuen Ländern ein beachtlicher Unter- chungen durch Rechtsverordnung zugelassen wer- schied festgestellt werden kann, nämlich daß die den, wird die oben beschriebene Untersuchungser- Unfälle in den neuen Ländern noch um wesentlich laubnis wirksam. Es handelt sich hier um eine ausge- höhere Prozentsätze stiegen als in den alten Ländern, sprochen zweischneidige Angelegenheit. Offiziell was für mich heißt, daß sie da drüben miserable sollen Schädigungen durch krankmachende Substan- Produktionsbedingungen haben, miserable Unfall- zen am Arbeitsplatz ausgeschlossen werden; inoffi- und Sicherheitsvorschriften, miserable Arbeitsbedin- ziell kann dieser Paragraph aber genausogut dazu gungen. Ich will Sie jetzt nicht mehr mit den Zahlen benutzt werden, die soziale Selektion zwischen erb- langweilen, die dort gelten; aber sie gehen weit über schwachen und erbstarken Arbeitnehmerinnen und die der alten Bundesländer hinaus. Arbeitnehmern vorzunehmen und so nicht Arbeits- Der Präsident wird auf die Uhr schauen. Ich möchte plätze an die Beschäftigten anzupassen, sondern abschließend dazu sagen: Eine umfassende Gesetzge- Beschäftigte an die Arbeitsplätze. bung im Arbeitsschutz würde diese Unfallzahlen (Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: So ist es!) — deren kontinuierliche Steigerung von Jahr zu Jahr wir zu bedauern haben — sicherlich spürbar sinken Die einzig mögliche Lösung kann und darf nur sein, lassen. Deshalb fordere ich die Bundesregierung in Arbeitsplätze an die dort tätigen Menschen anzupas- diesem Zusammenhang auf: Tun Sie Ihre Pflicht im sen und krankmachende Stoffe spätestens dann end- Arbeitsschutz, bessern Sie nach. gültig zu verbieten, sobald ungefährliche Ersatzstoffe zur Verfügung stehen. Der Überweisung an den Ausschuß werden wir heute zustimmen und in den Ausschußberatungen die Aus all diesen und anderen hier wegen der Kürze Gelegenheit wahrnehmen, unsere Vorstellungen von der Zeit leider nicht zu nennenden Kritikpunkten läßt einer angemessenen Arbeitsschutzpolitik zum Wohle sich die Bilanz ziehen: Die Zielsetzung dieses Gesetz- der Betroffenen einzubringen, in der Hoffnung, Herr entwurfs ist einfach nicht umfassend genug. Zum Staatssekretär, daß die Bundesregierung auf die Rat- Beispiel fehlt die Prävention in Art. 2 völlig. Dabei schläge der Opposition hört. könnte gerade durch vorbeugenden Gesundheits- schutz sehr viel gespart werden. Reparaturen — in (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten diesem Falle Reparaturen an der menschlichen der PDS/Linke Liste) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994 18315

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort ich Sie, Herr Kollege Reimann, in etwa richtig verstan- hat nunmehr der Abgeordnete Dr. Peter Ramsauer. den. Hier sind wir uns sicher einig. Der Unfallverhütungsbericht 1992, über den wir heute ebenfalls debattieren, weist für das Jahr 1992 Dr. Peter Ramsauer (CDU/CSU): Herr Präsident! insgesamt über 2,3 Millionen angezeigte Unfälle aus. Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Ver- Jeder dieser Unfälle ist natürlich einer zuviel. Aber pflichtung, die europäischen Arbeitsschutzrichtlinien man kann davon ausgehen, daß der überwiegende in deutsches Recht umzusetzen, fällt zusammen mit Teil dieser Unfälle nicht etwa deshalb passiert ist, weil dem Auftrag aus Art. 30 des Einigungsvertrages, den es bisher zu wenig Arbeitsschutzvorschriften gege- öffentlich-rechtlichen Arbeitsschutz zeitgemäß neu zu ben hätte, sondern vielmehr deshalb, weil bestehende regeln. Diesem Auftrag kommt der vorgelegte Ent- Arbeitsschutzvorschriften schlicht und einfach miß- wurf eines Arbeitsschutzrahmengesetzes zusammen achtet worden sind. mit den übrigen Bausteinen im Konzept der Bundes- fred Reimann [SPD]: Woher wissen Sie regierung nach. (Man das denn?) Der erste Baustein war bereits 1992 die damals — Können Sie das Gegenteil beweisen, Herr Kollege erlassene Novelle zum Gerätesicherheitsgesetz. Der Reimann? Wir werden uns über den Unfallverhü- Entwurf eines Arbeitszeitrechtsgesetzes als zweiter tungsbericht nachher unterhalten, und über diesen Baustein liegt derzeit ebenfalls diesem Parlament zur Punkt müssen wir halt einmal ganz offen sprechen, ob Beratung vor. Als dritten Baustein hat die Bundesre- unsere Bestimmungen nicht ohnehin schon zu kom- gierung im Herbst 1993 die Gefahrstoffverordnung pliziert sind mit Regelungen, die von den Arbeitneh- novelliert und sich dabei mit einem umfassenden mern selbst nicht mehr angenommen werden, so daß, Asbestverbot in Europa besonders rühmlich hervorge- wenn der Kontrolleur der Berufsgenossenschaft hin- tan. Als vorläufig letzten und wichtigsten Baustein hat ausgeht, wieder irgendeine Schutzvorrichtung weg- die Bundesregierung nunmehr den Entwuf eines genommen wird. Darüber ist zu sprechen. Arbeitsschutzrahmengesetzes vorgelegt. In all diesen Fällen hilft es daher nicht, wenn noch Meine Damen und Herren, die Länder und die immer weitere Arbeitsschutzvorschriften aufgepfropft Kolleginnen und Kollegen von der Opposition verlan- werden. Deshalb warne ich vor einem Überziehen von gen dagegen, wie es der Kollege Reimann soeben Regelungen, die dann in der Praxis leider Gottes nicht getan hat — u. a. unter Berufung auf den Einigungs- mehr eingehalten werden. vertrag —, daß dieser Entwurf zu einem Arbeits- schutzgesetzbuch umgestaltet wird. Meine Damen und Herren, vor diesem Hintergrund, aber auch im Hinblick auf eine einigermaßen einheit- (Manfred Reimann [SPD]: So ist es!) liche europäische Basis beim Arbeitsschutz plädiere Ich möchte zunächst betonen, daß sich eine rechtli- ich deshalb eindringlich dafür, bei der Schaffung che Verpflichtung zu einer Kodifizierung aller Sach- dieses Arbeitsschutzrahmengesetzes nicht mehr zu bereiche des Arbeitsschutzes weder aus dem EG- tun, als die europäischen Richtlinien lediglich um Recht noch aus der Neuordnungspflicht des Eini- bereits bestehendes deutsches Arbeitsschutzrecht zu gungsvertrages ergibt. Die zu behebenden Mängel im ergänzen. Alles, was darüber hinaus aufgepfropft deutschen Arbeitsschutzrecht sind nämlich nicht wird, wird auch die Wettbewerbsfähigkeit und damit darin begründet, daß für verschiedene Sachgebiete den Standort Deutschland berühren. auch besondere Arbeitsschutzvorschriften bestehen. Dies liegt in der Natur der Sache und ist im Arbeits- Dies ver- schutz nicht anders als beispielsweise auch im Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: anlaßt den Abgeordneten Hans Büttner, eine Frage zu Umweltschutz. stellen. Vielmehr besteht das Manko im staatlichen Arbeits- schutzrecht bisher da rin, daß die allgemeinen und grundlegenden Pflichten im betrieblichen Arbeits- Dr. Peter Ramsauer (CDU/CSU): Das habe ich auch schutz nicht vollständig und nicht für alle Beschäftig- nicht anders erwartet, Herr Präsident. ten und Tätigkeitsbereiche einheitlich geregelt sind. Genau diesen Mangel beseitigt der vorgelegte Ent- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Bitte wurf eines Arbeitsschutzrahmengesetzes. sehr. Meine Damen und Herren, nicht zuletzt vor dem Hintergrund der anhaltenden deutschen Standortde- Hans Büttner (Ingolstadt) (SPD): Herr Kollege Ram- batte muß sich jedes neue Gesetz an zwei grundlegen- sauer, würden Sie es angesichts der Tatsache, daß die den Fragen messen lassen. Frage Nummer eins: berufsbedingten Unfälle und Erkrankungen, wie es Welche zusätzlichen Belastungen bringt es für die Herr Staatssekretär Günther vorhin schon erwähnt Wirtschaft und für die Arbeitsplätze? Frage Nummer hat, im Jahr allein fast 90 Milliarden DM volkswirt- zwei: In welchem Ausmaß verursacht es zusätzliche schaftliche Kosten verursachen, nicht für dringend öffentliche Bürokratie? notwendig halten, mehr und mehr integriert im Zu diesen beiden Fragen an den Gesetzentwurf Gesundheitsschutz zu tun, weil diese Kosten mehr müssen im Laufe der Ausschußberatungen noch eine ausmachen als all das, was im Bereich der Selbstbe- Reihe von Hausaufgaben erledigt werden. Insbeson- teiligung und bei anderen Fragen vorgesehen ist, dere darf es zu keinen Überreglementierungen im etwa der Pflegeversicherung? Glauben Sie nicht, daß Bereich des Arbeitsschutzes kommen, die in der Praxis es lohnt, alles daranzusetzen, und zwar nicht nur im dann kaum mehr umsetzbar sind. Ich glaube, da habe Interesse der Menschen, sondern vor allem auch im 18316 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994

Hans Büttner (Ingolstadt) Interesse der volkswirtschaftlichen Kosten, diese nicht diese beiden Bundesanstalten gänzlich abge- Belastungen zu verringern? schafft werden können. (Manfred Reimann [SPD]: Schafft doch die Regierung gleich mit ab!) Dr. Peter Ramsauer (CDU/CSU): Herr Kollege Bütt- ner, ich habe ja vorhin schon gesagt, daß viele — Herr Kollege Reimann, hören Sie mir doch zu; wir Arbeitsschutzvorschriften bereits heute überzogen können ja im Ausschuß dann darüber sprechen. sind. Sie wissen genausogut wie ich, daß die sechs Möglicherweise werden sehr viele Aufgaben im oder sieben EU-Mitgliedsländer, die die Rahmen- Bereich des Arbeitsschutzes heute schon von den richtlinie bereits umgesetzt haben, nichts anderes vielen am Arbeitsschutz beteiligten Behörden, Orga- getan haben, als die Richtlinie in ihre eigene Sprache nisationen, Unfallversicherungsträgern usw. doppelt zu übersetzen. Wir müssen, wenn wir uns mit der und dreifach erledigt, so daß eine Straffung ohne Umsetzung in deutsches Recht auseinandersetzen, weiteres möglich wäre. Manche Aufgaben dieser schon berücksichtigen, was die anderen Länder tun, Bundesbehörden könnten vielleicht zusätzlich auf die nicht zuletzt im Hinblick auf die Wettbewerbsfähig- Träger der Unfallversicherung übertragen, manche keit der deutschen Wirtschaft. Aufgaben vielleicht auch gänzlich privatisiert wer- Die Kosten, die Sie angesprochen haben, sind den. Auch in diesem Bereich gibt es für mich keine natürlich zu hoch. Das ist ganz klar; das gestehe ich Tabus, und entsprechende Fragen muß man stellen ein. Aber ich sage noch einmal und unterstreiche: Ich dürfen. gehe auch auf Grund meiner eigenen beruflichen Meine Damen und Herren, soweit die Wirtschaft Erfahrung — wenn Sie mit Leuten, die in Betrieben betroffen ist, erwartet die Begründung des Gesetzent- tätig sind, und auch mit Arbeitsschutzbeauftragten in wurfs zwar keine nennenswerten zusätzlichen Ko- den Betrieben reden, wird das deutlich — davon aus, stenbelastungen. Angesichts der erheblichen, büro- daß die allermeisten Unfälle in den Betrieben nicht zu kratisch bedingten Kosten in den Unternehmen kön- passieren bräuchten, wenn die bestehenden Arbeits- nen wir jedoch auch geringfügige zusätzliche Kosten- schutzvorschriften korrekt eingehalten würden. belastungen nicht hinnehmen. A ll dies muß im Aus- Ich betrachte die Frage damit als beantwortet. Die schuß noch einmal grundsätzlich beleuchtet wer- Uhr kann weiterlaufen. den. Meine Damen und Herren, auch die Arbeitsschutz- rahmenrichtlinie und die auf ihrer Basis erlassenen Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich hoffe, Einzelrichtlinien, die nun auch in deutsches Recht als daß der Fragesteller das ähnlich sieht. Verordnungen der Bundesregierung umgesetzt wer- den sollen, müssen wir uns sehr genau ansehen, denn sie enthalten eine Reihe von vollkommen überzoge- Dr. Peter Ramsauer (CDU/CSU): Meine Damen und nen Vorschriften, die in der Praxis nicht umgesetzt Herren, lassen Sie mich aber auch einige Beispiele werden können, beispielsweise die sogenannte dafür geben, wo am Gesetzentwurf gehobelt werden Lastenhandhabungsverordnung, die es nicht zuläßt, muß. daß öfter als nur gelegentlich Lasten von zehn Kilo Beispielsweise können die in § 11 vorgesehenen gehoben werden. Dies würde eine ganze Reihe von Dokumentationspflichten in unnötige zusätzliche Tätigkeiten, beispielsweise im Baugewerbe oder in Bürokratie ausarten, die letztlich in keiner Weise der Mühlenwirtschaft, aus der ich komme, vollkom- sachdienlich ist. Daneben nimmt der Gesetzentwurf men zum Erliegen bringen. Dies ist praxisferner an mehreren Stellen nicht auf die besonderen Belange Unfug; das sollten wir uns nicht leisten. kleiner und mittlerer Unternehmen Rücksicht. Dem- Insgesamt, meine Damen und Herren, stellt dieser gegenüber enthält die europäische Rahmenrichtlinie Gesetzentwurf jedoch eine sehr gute Grundlage dar, an mehreren Stellen ausdrücklich Klauseln für mittel- um die europäischen Richtlinien in deutsches Recht ständische Unternehmen. Daran sollten wir uns hal- umzusetzen. Wir sollten uns, meine lieben Kollegin- ten. nen und Kollegen von der Opposition, zusammenset- Meine Damen und Herren, es geht mir gegen zen und gemeinschaftlich versuchen, ein gutes, neues meinen politischen Strich, daß für die Durchführung Gesetzeswerk zustande zu bringen. des Gesetzes Mehraufwendungen beim Bund durch Ich bedanke mich. diverse Ausführungsbehörden entstehen. Eine wei- (Beifall bei der CDU/CSU sowie- des Abg. tere personelle Aufstockung der Ausführungsbehör- Dr. Rudolf Karl Krause [Bonese] [fraktions den wird vom BMA für unumgänglich gehalten. Ich los]) sage dagegen: Weitere Aufstockungen im öffentli- chen Dienst können wir uns nicht leisten, wenn nicht nachgewiesenermaßen an anderer Stelle des öffentli- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich erteile chen Dienstes entsprechend abgebaut wird. nunmehr der Abgeordneten Frau Pe tra Bläss das Wort. Meine Damen und Herren, für mich ist es in diesem Zusammenhang nicht begreiflich, daß den beiden Bundesanstalten, der für Arbeitsschutz einerseits und Petra Bläss (PDS/Linke Liste): Herr Präsident! der für Arbeitsmedizin andererseits, noch zusätzliche Meine Damen und Herren! Zur Zeit wird im Ausschuß Aufgaben aufgebürdet werden sollen. Das Gegenteil für Arbeit und Sozialordnung das neue Arbeitszeit- sollte meines Erachtens der Fall sein, und es sollte rechtsgesetz beraten. Es ist zu befürchten, daß es trotz sogar — dies betone ich — intensiv geprüft werden, ob enormer Proteste gegen diesen neuen Akt der Dere- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994 18317

Petra Bläss gulierung per Koalitionsmehrheit durchgepeitscht Paul K. Friedhoff (F.D.P.): Herr Präsident! Meine wird. Damen und Herren! In der heutigen ersten Lesung Eigentlich wird damit die Arbeit an einem Arbeits- zum Regierungsentwurf eines Arbeitsschutzrahmen- gesetzes greifen wir ein Thema auf, mit dem sich der schutzrahmengesetz fast überflüssig. Denn was dort bereits an weiterer Flexibilisierung von Arbeit und an Ausschuß für Arbeit und Soziales schon seit längerem Abbau von Schutzrechten vorgesehen ist, wird teil- beschäftigt. weise zu unverantwortlichen Belastungen der abhän- Auf Antrag der SPD-Fraktion haben wir bereits gig Beschäftigten führen. — In meinem Büro stapeln Ende 1992 eine Anhörung zum Thema Arbeitsschutz sich jedenfalls Protestbriefe von Be troffenen. — Ich durchgeführt. Im Ergebnis hat sich gezeigt, daß der erinnere nur an die Möglichkeit, den Beschäftigten Arbeitsschutzstandard in der Bundesrepublik über Monate die 60-Stunden-Woche zu verordnen, Deutschland sicherlich nicht niedrig ist. Er ist jeden- Ausnahmen von Sonn- und Feiertagsruhe allein aus falls um einiges höher, als uns die SPD dies immer wirtschaftlichen Erwägungen festzulegen, ganz zu glauben machen wollte. schweigen von Verschärfungen der Nachtarbeit. Die Novellierung des Arbeitsschutzgesetzes in Zum vorgelegten Gesetzentwurf, zum Arbeits- Form des Arbeitsschutzrahmengesetzes steht nun auf schutzrahmengesetz: Zunächst finde ich es begrü- der Tagesordnung. Zum einen erteilt der Einigungs- ßenswert, daß damit der Versuch gemacht wird, vertrag den Auftrag, das öffentlich-rechtliche Arbeits- Arbeitsschutzvorschriften, die teilweise dem vergan- schutzrecht zu überarbeiten, vor allem aber müssen genen Jahrhundert entlehnt und fortschrittshemmend wir wieder einmal eine europäische Rahmenrichtlinie sind, zu reformieren und in einem Regelwerk zusam- in verbindliches nationales Recht umsetzen. menzufassen. Dies erleichtert die Mitwirkungsmög- lichkeit der Betroffenen und die Kontrolle der Einhal- Meine Damen und Herren, ich will nicht verhehlen, tung der gesetzlichen Vorschriften, wobei genau auf daß wir Liberalen uns mit dem Gesetzentwurf ausge- dieser Ebene meine Hauptkritik liegt. Ich finde es sprochen schwer tun. Dies hat vor allem folgende notwendig, daß Beschäftigte und ihre Vertretungen Gründe: Die Regelungsdichte des Entwurfs läuft den im Betrieb ein wirkliches Mitbestimmungsrecht auf Bestrebungen der F.D.P. nach Entbürokratisierung diesem Gebiet haben müssen. Die diesbezüglichen und Deregulierung mit dem Ziel der Stärkung des Regelungen sind mir zu unverbindlich. Ich halte es Wirtschaftsstandorts Deutschland entschieden zuwi- auch für erforderlich, daß die Beschäftigten bei Fra- der. Allein die umfangreichen Dokumentationspflich- gen des Arbeitsschutzes nicht nur unterrichtet werden ten, die der Gesetzentwurf dem Arbeitgeber aufer- müssen, sondern ihnen ein Initiativrecht eingeräumt legt, dürften nicht nur für kleine und mittlere Unter- wird, denn es geht vor allem um ihre Gesundheit. nehmen einige schier unlösbare Probleme mit sich bringen. Besonders wichtig ist, daß die Verantwortung der Arbeitgeber für Arbeitsschutzmaßnahmen überhaupt Das ist noch nicht einmal alles. Der Gesetzentwurf aufgenommen wird. Doch genau diese Verantwor- ermächtigt auch noch zum Erlaß einer Vielzahl von tung wurde gegenüber dem ersten Referentenentwurf Rechtsverordnungen, an denen der Bundesminister wieder aufgeweicht. Das Gesetz schließt jetzt wich- für Arbeit und Sozialordnung schon fleißig st rickt. tige Beschäftigtengruppen in den Arbeitsschutz ein, Was da alles drin stehen wird, mit immensen Auswir- schließt allerdings — auch im Gegensatz zum ersten kungen auf die Praxis, ist dem Parlament noch nicht Entwurf — Heimarbeiter und Heimarbeiterinnen und bekannt. ihnen Gleichgestellte aus, was gerade auch deshalb Meine Damen und Herren, insgesamt wird das besonders fatal ist, weil hier vorzugsweise Frauen Arbeitsschutzrahmengesetz eine Flut von Vorschrif- betroffen sind, die ja bekanntermaßen deshalb Heim- ten nach sich ziehen, die den Arbeitsschutz von vorne arbeit machen, weil sie Mehrfachverpflichtungen bis hinten bürokratisch durchnormieren. Das ist sicher haben. Gerade sie zu schützen scheint mir eine nicht das, was wir Liberalen uns unter Deregulierung wichtige Aufgabe zu sein. vorstellen. Und wenn der Bundesarbeitsminister uns Zu begrüßen ist, daß die Maßnahmen des Arbeits- sagt, das alles sei in der Richtlinie der Europäischen schutzes unter die allgemeine Forderung nach „men- Union bereits vorgegeben, beginnen wir, uns allmäh- schengerechter Gestaltung der Arbeit" gestellt wer- lich zu fragen, was vom Arbeitsminister in Brüssel den. Doch dazu gehört meiner Auffassung nach auch eigentlich so alles verhandelt wird. die Berücksichtigung psychosozialer Faktoren im Ein weiteres Problem ist die Zustimmungsbedürf- Arbeitsprozeß, die bisher gar nicht vorkommt. tigkeit des Gesetzes. Was die SPD in das ohnehin stark Ich denke abschließend, daß als Zwecksetzung des befrachtete Arbeitsschutzrahmengesetz noch alles Gesetzes deutlicher noch Fragen der Prävention in hineinpacken will, wissen wir schon aus der vorange- den Vordergrund gestellt werden müssen. Die recht- gangenen Anhörung. Sie fordert, wie die Länder, die lichen Voraussetzungen dafür sind durch die Ver- Schaffung eines Arbeitsschutzgesetzbuches, in dem pflichtung des Arbeitgebers, Gefährdungsanalysen der Arbeitsschutz umfassend geregelt wird. vorzunehmen, besser als jemals zuvor. Es kommt nur (Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Das ist auch darauf an, sie zu nutzen. notwendig! Das ist überfällig!) (Beifall bei der PDS/Linke Liste) Die Forderung nach dem Arbeitsschutzgesetzbuch wird mit dem zersplitterten Arbeitsschutzrecht in der Bundesrepublik Deutschland gerechtfertigt. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete . (Zuruf von der SPD: Richtig!) 18318 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994

Paul K. Friedhoff Natürlich ist das Arbeitsschutzrecht kompliziert und Meine Damen und Herren, unsere Bedenken gegen zersplittert. Es muß ja auch eine unendliche Vielfalt den vorliegenden Gesetzentwurf wiegen besonders sehr unterschiedlicher Arbeitsplätze abdecken, die im Hinblick auf die weitere Behandlung im Bundesrat naturgemäß auch mit sehr unterschiedlichen Gefah- schwer. Wir werden im Gesetzgebungsverfahren dar- ren verbunden sind. auf besonders achten. Meine Damen und Herren, Folge der Schaffung Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. eines Arbeitsschutzgesetzbuches wäre die grundsätz- liche Zustimmungsbedürftigkeit maßgeblicher Rege- (Beifall bei der CDU/CSU) lungen zum Arbeitsschutzrecht im Bundesrat. Eine eventuelle spätere Novellierung des Arbeitsschutzge- setzes wäre beispielsweise nur noch mit Zustimmung der Länder zu machen. Bei der gegenwärtigen politi- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Meine schen Konstellation kann man sich gut vorstellen, was Damen und Herren, damit sind wir am Ende der das hieße. Die Schaffung des Arbeitsschutzgesetzbu- Aussprache. ches führt damit zu einer nicht unerheblichen Schmä- lerung der Gesetzgebungskompetenz des Bundes im Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Bereich Arbeitsschutz. den Drucksachen 12/6752 und 12/6429 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla- Meine Damen und Herren, in die gleiche Richtung gen. Ausdrücklich möchte ich darauf hinweisen, daß geht der Wunsch der Bundesländer und auch der das Arbeitsschutzrahmengesetz auf Drucksache SPD 12/6752 zusätzlich an den Ausschuß für Wirtschaft (Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Arbeits überwiesen werden soll. Sind Sie damit einverstan- schutz ist Gesundheitsschutz!) den? — Widerspruch erhebt sich nicht. Damit ist die nach vorrangiger Gesetzgebungskompetenz vor Überweisung beschlossen, meine Damen und Her- der Rechtsetzungsbefugnis der Berufsgenossenschaf- ren. ten. Damit sind wir am Ende unserer Tagesordnung. Ich (Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Aus gutem möchte es nicht versäumen, mich bei denjenigen zu Grund!) bedanken, die bis zum Schluß hiergeblieben sind, und Im Gesetzentwurf des Arbeitsschutzrahmengesetzes Ihnen ein erholsames und ärgerfreies Wochenende sind vorgesehene Verordnungsermächtigungen mit wünschen. einer Subsidiaritätsklausel zugunsten von Unfallver- (Clemens Schwalbe [CDU/CSU]: Gleich hütungsvorschriften der Berufsgenossenschaften ver- falls!) bunden. Das wollen die Länder genau andersherum. Sie reklamieren für sich selbst zuerst die Verord- Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- nungskompetenz vor den Berufsgenossenschaften. destages auf Mittwoch, den 2. März 1994, 13 Uhr Auch dies wird mit der F.D.P., die immer für die ein . . Stärkung des dualen Arbeitsschutzsystems eingetre- Die Sitzung ist geschlossen. ten ist, weil es sich bewährt hat, nicht zu machen sein. (Schluß der Sitzung: 13.09 Uhr)

- Deutscher Bundestag - 12. Wahlperiode - 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994 18319*

Anlagen zum Stenographischen Bericht

Anlage 1 entschuldigt bis Abgeordnete(r) Liste der entschuldigten Abgeordneten einschließlich Dr. Mildner, Klaus CDU/CSU 25. 2. 94 entschuldigt bis Molnar, Thomas CDU/CSU 25. 2. 94 Abgeordnete(r) einschließlich Müller (Schweinfurt), SPD 25. 2. 94 Rudolf Antretter, Robert SPD 25. 2. 94 Müller (Völklingen), SPD 25. 2. 94 Bartsch, Holger SPD 25. 2. 94 Jutta Becker-Inglau, Ingrid SPD 25. 2. 94 Müller (Wesseling), CDU/CSU 25. 2. 94 Berger, Hans SPD 25. 2. 94 Alfons Dr. Blanck, CDU/CSU 25. 2. 94 Niggemeier, Horst SPD 25. 2. 94 Joseph-Theodor Ostertag, Adolf SPD 25. 2. 94 Böhm (Melsungen), CDU/CSU 25. 2. 94* Dr. Penner, Willfried SPD 25. 2. 94 Wilfried Pesch, Hans-Wilhelm CDU/CSU 25. 2. 94 Dr. Böhmer, Maria CDU/CSU 25. 2. 94 Pfuhl, Albert SPD 25. 2. 94 Dr. Däubler-Gmelin, SPD 25. 2. 94 Dr. Pinger, Winfried CDU/CSU 25. 2. 94 Herta Dr. Pohl, Eva F.D.P. 25. 2. 94 Dörflinger, Werner CDU/CSU 25. 2. 94 Rahardt-Vahldieck, CDU/CSU 25. 2. 94 Ehrbar, Udo CDU/CSU 25. 2. 94 Susanne Eimer (Fürth), Norbert F.D.P. 25. 2. 94 Repnik, Hans-Peter CDU/CSU 25. 2. 94 Fischer SPD 25. 2. 94 Roitzsch (Quickborn), CDU/CSU 25. 2. 94 (Gräfenhainichen), Ingrid Evelin Schaich-Walch, Gudrun SPD 25. 2. 94 Francke (Hamburg), CDU/CSU 25. 2. 94 Scheffler, Siegfried SPD 25. 2. 94 Klaus Dr. Schmude, Jürgen SPD 25. 2. 94 Gallus, Georg F.D.P. 25. 2. 94 von Schmude, Michael CDU/CSU 25. 2. 94 Ganschow, Jörg F.D.P. 25. 2. 94 Dr. Schöfberger, Rudolf SPD 25. 2. 94 Dr. Gautier, Fritz SPD 25. 2. 94 Schütz, Dietmar SPD 25. 2. 94 Gries, Ekkehard F.D.P. 25. 2. 94 Schulte (Hameln), SPD 25. 2. 94 ** Grochtmann, Elisabeth CDU/CSU 25. 2. 94 Brigitte Gröbl, Wolfgang CDU/CSU 25. 2. 94 Schuster, Hans F.D.P. 25. 2. 94 Grünbeck, Josef F.D.P. 25. 2. 94 Dr. Schwarz-Schil ling, CDU/CSU 25. 2. 94 Haack (Extertal), SPD 25. 2. 94 Christian Karl-Hermann Seibel, Wilfried CDU/CSU 25. 2. 94 Hackel, Heinz-Dieter F.D.P. 25. 2. 94 Skowron, Werner H. CDU/CSU 25. 2. 94 Haschke (Jena-Ost), Udo CDU/CSU 25. 2. 94 Dr. Starnick, Jürgen F.D.P. 25. 2. 94 Heinrich, Ulrich F.D.P. 25. 2. 94 Dr. Frhr. von Stetten, CDU/CSU 25. 2. 94 Jung (Düsseldorf), Volker SPD 25. 2. 94 Wolfgang Kalb, Bartholomäus CDU/CSU 25. 2. 94 Dr. Stoltenberg, Gerhard CDU/CSU 25. 2. 94 Kastning, Ernst SPD 25. 2. 94 Dr. von Teichman, F.D.P. 25. 2. 94 Keller, Peter CDU/CSU 25. 2. 94 Cornelia Kleinert (Hannover), F.D.P. 25. 2. 94 Dr. Töpfer, Klaus CDU/CSU 25. 2. 94 Detlef Dr. Vogel, Hans-Jochen SPD 25. 2. 94 Köppe, Ingrid BÜNDNIS 25. 2. 94 Vosen, Josef SPD 25. 2. 94 90/DIE Dr. Warnke, Jürgen CDU/CSU 25. 2. 94 GRÜNEN Westrich, Lydia SPD 25. 2. 94 Körper, Fritz Rudolf SPD 25. 2. 94 Wettig-Danielmeier, Inge SPD 25. 2. 94 Kohn, Roland F.D.P. 25. 2. 94 Dr. Wieczorek, Norbert SPD 25. 2. 94 Kolbe, Manfred CDU/CSU 25. 2. 94 Wieczorek-Zeul, SPD 25. 2. 94 Koltzsch, Rolf SPD 25. 2. 94 Heidemarie Koppelin, Jürgen F.D.P. 25. 2. 94 Wieczorek (Duisburg), SPD 25. 2. 94 Kors, Eva-Maria CDU/CSU 25. 2. 94 Helmut Koschnick, Hans SPD 25. 2. 94 Wimmer (Neuötting), SPD 25. 2. 94 Hermann Dr. Graf Lambsdorff, Otto F.D.P. 25. 2. 94 Wohlrabe, Jürgen CDU/CSU 25. 2. 94 Leidinger, Robert SPD 25. 2. 94 Wolf, Hanna SPD 25. 2. 94 Dr. Leonhard-Schmid, SPD 25. 2. 94 Elke Zierer, Benno CDU/CSU 25. 2. 94 Zywietz, Werner F.D.P. 25. 2. 94 Dr. Matterne, Dietmar SPD 25. 2. 94 Mattischeck, Heide SPD 25. 2. 94 * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versamm- Dr. Menzel, Bruno F.D.P. lung des Europarates 25. 2. 94 ** für die Teilnahme an Sitzungen der Nordatlantischen Versamm- Michels, Meinolf CDU/CSU 25. 2. 94 lung 18320* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994

Anlage 2 Verstärkung der Anstrengungen zum Abbau der Arbeitslosigkeit, Verbesserung der Inneren Sicherheit Erklärungen nach § 31 GO u. a. m.). zur Abstimmung über den von den Abgeordneten Johannes Gerster (Mainz), Heribert Scharrenbroich und weiteren Abgeordneten eingebrachten Antrag Hartmut Koschyk (CDU/CSU): Gegen eine Verpak- betr. verhüllter Reichstag — Projekt für Berlin kung des Reichstagsgebäudes in Berlin durch den (Tagesordnungspunkt 9) amerikanisch-bulgarischen Künstler Christo wende ich mich mit politischen Argumenten. Christos Absicht zielt nämlich auf die Verhüllung eines natio- Hans-Dirk Bierling (CDU/CSU): Ich erkläre hiermit, nalen Symbols. Der Künstler hat bereits verschiedene daß ich mich bei der Abstimmung meiner Stimme Gebäude wie die Kunsthalle in Berlin, das Museum für enthalten werde, da ich das parlamentarische Verfah- Zeitgenössische Kunst in Chicago, verschiedene ren namentlicher Abstimmung für den Antragsgegen- Denkmäler in Mailand und antike Stadtmauern in stand als überzogen be trachte. Wie ich Herrn Christo Rom verhüllt. Seit 22 Jahren trägt sich Christo mit der bereits früher mitteilte, steht meine Stimmenthaltung Absicht, den Reichstag in diese Reihe einzugliedern. nicht für eine grundsätzliche Ablehnung des Projek- Keines der genannten Objekte besitzt jedoch annä- tes, zumal dafür öffentliche Mittel nicht beansprucht hernd die historische, politische und emotionale werden. Eine Entscheidung des Präsidiums oder Älte- Bedeutung des Berliner Reichstags. stenrates für das Projekt Reichstagsverhüllung hätte Christos Absicht, den Reichstag zu verhüllen, ich akzeptiert und nach außen vertreten. 1. kann nur angemessen vor dem Hintergrund der spe- Die Befassung des Plenums jedoch und um so mehr zifischen deutschen Geschichte und der immer noch die namentliche Abstimmung über den Antrag im fortwirkenden Akzeptanzprobleme der parlamentari- Deutschen Bundestag lehne ich entschieden ab, schen Demokratie bewertet werden. Christos Ansin- solange wichtigste Entscheidungen des Hohen Hau- nen ist geeignet, zur Beschädigung des Parlamenta- ses mit höchster Bedeutung für unser Volk — wie z. B. rismus in Deutschland beizutragen. die Pflegeversicherung — in dieser Wahlperiode noch nicht durchgesetzt werden konnten. 2. Christo begründet seine Absicht mit den Argu- menten, er wolle den Reichstag als Mahnmal der Ohne die Bedeutung von Kunst und Kultur für das untergegangenen Weimarer Demokratie und als Leben einer Nation unterbewerten zu wollen, sehe ich Symbol des politischen Neubeginns in Deutschl and mich veranlaßt zu erklären: Meinen Wählern im nach der Wiedervereinigung herausstellen. Es ist sächsischen Wahlkreis Meißen-Riesa-Großenhain jedoch in diesem Zusammenhang an die Beliebigkeit kann und will ich nicht den Aufwand erklären, den das der Argumentation Christos zu erinnern, der in Ver- Deutsche Parlament für den S treit um die Reichstags- kennung der geschichtlichen Wahrheit den Reichstag verhüllung des Herrn Christo betreibt, während für anfänglich für ein Symbol des Dritten Reiches hielt, meine Wähler existentiell bedeutsame Fragen noch welches verdeckt werden müsse. offen sind. 3. Vor allem aber stellt sich die Frage nach der Da die Regeln des Hohen Hauses mich hindern, der Selbstachtung der Deutschen: Haben sie nicht auch Abstimmung aus Protest fernzubleiben, werde ich ein Recht auf die Würde ihrer nationalen Symbole? In mich der Stimme enthalten. Frankreich durfte Christo lediglich den Pont Neuf, nicht aber das Parlamentsgebäude oder den Elysee- Palast verpacken. Warum muß ausgerechnet der Klaus Bühler (Bruchsal) (CDU/CSU): Heute steht auf Reichstag das erste Gebäude dieser Art sein? Viel- der Tagesordnung des Deutschen Bundestages der leicht versucht sich der amerikanisch-bulgarische Gruppenantrag „Verhüllung des Reichstages" Künstler zunächst am Kapitol in Washington oder am (Drucksache 12/6767) zur Beratung und zur nament- Parlament in Sofia. lichen Abstimmung an . Ich bekunde meine feste Überzeugung, daß durch An dieser Abstimmung werde ich mich nicht betei- die heutige Debatte und die namentliche Abstim- ligen. Ich darf dies wie folgt begründen: mung der Bundestag die Angelegenheit der geplan- In der derzeitigen Situation scheint es mir nicht ten Verhüllung des Reichstags stark überbewertet. gerechtfertigt zu sein, daß der Deutsche Bundestag Der Bundestag hätte wahrlich Anlaß, wesentlich das Projekt eines Künstlers, den Reichstag zu verhül- bedeutsamere Probleme einer Lösung zuzuführen. Es len, zum Gegenstand einer parlamentarischen De- wäre wünschenswert gewesen, wenn im Vorfeld die- batte mit anschließender namentlicher Abstimmung ser Debatte ein politischer Konsens, den Reichstag macht. Damit möchte ich keineswegs zum künstleri- nicht verhüllen zu lassen, zustande gekommen wäre. schen Wert einer solchen Aktion Stellung beziehen. Da dies bedauerlicherweise nicht der Fall war, betei- lige ich mich trotz meiner dargelegten inhaltlichen Vielmehr bin ich der Meinung, daß sich das Parla- Bedenken an der Abstimmung und stimme mit ment gerade jetzt vorrangig mit den Problemen aus- nein. einandersetzen sollte, die unseren Bürgerinnen und Bürgern unter den Nägeln brennen (Einführung einer Pflegeversicherung, Sicherung des Wirtschaftsstand- Dr. Norbe rt Lammert (CDU/CSU): Ich stimme dem ortes Bundesrepublik Deutschland, weitere Maßnah- Antrag zu, die künstlerische Verhüllung des Reichs- men zur konjunkturellen Wiederbelebung und tagsgebäudes zu gestatten, obwohl ich viele der Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994 18321*

vorgetragenen Einwände bedenkenswert finde und Ich bin der Meinung, daß das Reichstagsgebäude insbesondere den Hinweis auf die herausragende gerade im Hinblick auf die damit verbundene Bedeutung des Reichstages als nationales und histori- Geschichte und seinejetzige und zukünftige Funktion sches Symbol für zutreffend halte. Dennoch komme als Plenargebäude des Deutschen Bundestages frei ich persönlich zu einer anderen Bewertung. von Entfremdung und Verfügbarkeit für alles und jedes bleiben muß. Das Reichstagsgebäude ist der Sitz Die Verbindung von Kunst und Politik, von künst- des Deutschen Bundestages. Seit den Feierlichkeiten lerischem Ausdruck und nationalen Symbolen ist zur Deutschen Einheit in der Nacht vom 2. zum schwierig, aber sie ist weder ungewöhnlich noch 3. Oktober 1990 hat dieses Gebäude zudem eine neue unstatthaft. Die Neugestaltung der „Neuen Wache" in nationale Symbolik als Kristallisationspunkt des Wil- Berlin als nationale Gedenkstätte mit der — im übri- lens aller Deutschen zur Einheit. gen gegenüber dem Original vergrößerten — Skulp- tur von Käthe Kollwitz ist ein aktuelles, ebenfalls Daraus verbietet es sich, das Gebäude, seine Funk- umstrittenes, für mich persönlich überzeugendes Bei- tion und Symbolik künstlerisch oder sonstwie zur spiel. Disposition zu stellen.

Der Reichstag ist in der Tat nicht irgendein Ich stimme aus diesem Grunde gegen den Antrag, Gebäude, er ist ein einzigartiges Monument nicht nur die Verhüllung zuzulassen. der deutschen Geschichte. Kein anderes Parlaments- gebäude der Welt steht in gleicher Weise für Glanz und Elend der Demokratie, Aufstieg und Fall einer freiheitlich verfaßten Gesellschaft, Stärke und Schwä- Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten (CDU/CSU): Ein che des Parlamentarismus, Konfrontation und Zusam- geschäftstüchtiger Mann — sicher auch Künstler — menbruch von Ideologien, den Ost-West-Konflikt und hat es fertig gebracht, daß ein nationales Parlament seine Überwindung. Gerade deshalb ist für mich die sich mit der Verhüllung seines Domizils beschäftigt Absicht zur Verhüllung des Reichstages und nicht und eine ganze Nation ungläubig, staunend zuschau- irgend eines anderen Parlamentsgebäudes a lles end sich fragt, ob ihre Abgeordneten nichts Wichtige- andere und jedenfalls mehr als ein künstlerisches res zu tun hätten. Über Kunst läßt sich sicher streiten, Experiment oder ein ästhetisches Erlebnis zur Ver- und wer dagegen etwas zu sagen wagt, wird allzu deutlichung einer historischen Zäsur, es ist vielmehr schnell als „Kunstbanause" verschrieen. Ich weiß, daß eine grandiose Möglichkeit, auf ein Gebäude, seine auch die „Nachtwache" von Rembrandt 100 Jahre auf Geschichte und seine Bedeutung aufmerksam zu dem Bodenraum lag, bevor sie als Kunstwerk angese- machen und es in den Mittelpunkt einer breiten hen wurde, dennoch wage ich zu sagen, daß uns öffentlichen Auseinandersetzung mit großer interna- Christo an der Nase herumführen will. Es mag auch tionaler Aufmerksamkeit zu rücken: Genau dort um „Kunst" gehen, es geht aber in erster Linie um gehört der Reichstag, das deutsche Parlament, hin. Geld, Kommerz und ein potentielles Millionenge- schäft des Künstlers. Christo hat es verstanden, Für mich geht es bei dieser Abstimmung nicht um Reklame zu machen, und Presse, Funk und Fernsehen die Alternative: Respekt vor der Kunst oder Respekt helfen mit. Wir Abgeordneten haben bei den ausste- vor nationalen Symbolen, sondern um die seltene henden großen Problemen Wichtigeres zu tun, als Gelegenheit, das eine mit dem anderen in überzeu- auch noch namentlich abzustimmen über ein solch gender Weise zu verbinden. „großes Spektakel", um dann als Kunstkenner oder Kunstbanausen abgestempelt zu werden. Die hehren Erklärungen von Christo klingen sehr nach Phrasen, Christian Schmidt (Fürth) (CDU/CSU): Kunst ist er will schlichtweg Geld verdienen und Publicity nicht abstimmbar. Aus diesem Blickpunkt halte ich die machen. Wenn es ihm gelingt, die Abgeordneten so Abstimmung des Deutschen Bundestages über das „ einzulullen" wie er den Reichstag einzupacken Projekt „Reichstagsverhüllung" des Künstlers Christo gedenkt, wird daraus für ihn ein Millionengeschäft. auch für sehr problematisch. Dazu sollten sich die Abgeordneten nicht hergeben. Ich halte die Abstimmung als solche für eine Zumu- Unbestritten ist neben dem ästhetischen Aspekt die tung. künstlerische Idee, durch Verhüllung eines Gebäudes und die daraus folgende Verfremdung der üblichen Sichtweise neue Anblicke, Einblicke und Reflexionen zu provozieren, ein Gedanke von beeindruckender Dr. Eberhard Brecht (SPD): Deutschland befindet Gestaltungs- und Aussagekraft. Mit der Verhüllung sich gegenwärtig in gedrückter Stimmung. Ob der Brücke „Pont Neuf" in Paris durch Christo wurde begründet oder nicht: Viele Bürgerinnen und Bürger dies manifest. vergleichen unsere gegenwärtige Situation mit der der Spätphase der Weimarer Republik. Nicht nur, daß Dies ist die eine, nicht eine einem Abstimmungsver- Millionen von Menschen ohne Arbeit sind und noch fahren zugängliche Seite. mehr die Zukunft unseres Landes vorwiegend in Grau- und Schwarztönen malen; es sind vor allem die Die andere Seite ist die Frage, ob es aus der Sicht des durch Umfragen belegten Zweifel an der Fähigkeit deutschen Volkes und seiner gewählten Vertretung von Politikern, mit den Schwierigkeiten unseres L an angemessen ist, den Sitz des deutschen Parlamentes -des fertig zu werden. Zudem müssen wir einen erheb- für solch ein Projekt zur Verfügung zu stellen. Ich bin lichen Mangel an konsensfähigen Wertvorstellungen nicht dieser Ansicht. in unserem Land konstatieren, einen Mangel, von 18322* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994 dem insbesondere die politischen Ränder profitieren. Neubeginn des vereinten Deutschlands in einem Wo Subkulturen in unserem Land nicht mehr mitein- neuen Bundestag in Berlin symbolisieren. ander kommunizieren, um sich auf gemeinsame Para- Unabhängig von der Bewertung des künstlerischen digmen zu verständigen, muß der Staat als Dompteur Ranges dieses Ereignisses bin ich als Wirtschafts- und mehr und mehr zum Haßobjekt aller werden. Am Finanzpolitiker beeindruckt davon, daß Christo und Ende steht das Gespenst von Chaos und Diktatur. seine Frau Jeanne-Claude die gesamten Kosten die- In einer solchen Situa tion sind solche Kommunika- ses Projektes mit eigenen Mitteln finanzieren und jede tionsformen zwischen Politikern und Bürgern gefragt, öffentliche Förderung oder p rivate Sponsoren ableh- die die letzteren nicht nur mehr informieren, sondern nen. Das ist ein ganz ungewöhnlicher Umstand und sie auch stärker in die Entscheidungen und in die wird in weiten Teilen der Bevölkerung ein posi tives Verantwortung für unser Land einbeziehen. Nur so Echo haben. Gerade dieser Tatbestand sollte deshalb werden wir die Kraft finden, die anstehenden, mitun- in der Öffentlichkeit bekannt gemacht werden. ter nicht populären Entscheidungen auch demokra- Auch die positiven Beschäftigungswirkungen die- tisch durchsetzen zu können. Die in der Vergangen- ses Projektes, das immerhin eine Investition in der heit bewährten Instrumente des demokratischen Größenordnung von ca. 8 Millionen Dollar erfordern Rechtsstaates stellen keine ausreichende Antwort auf wird einschließlich der positiven Auswirkungen auf die Krise unseres L andes dar. So sollte — auch Hotellerie und Gastronomie in Berlin bei den zu sichtbar — ein Neuanfang mit dem vereinten Deutsch- erwartenden Tausenden von zusätzlichen Besuchern, land gewagt werden. sollte für den Bundestag ein zusätzlicher Anlaß sein, Mit diesem Hintergrund stand ich anfangs dem dieses für die Stadt Berlin bedeutsame Projekt zu Projekt einer Reichstagsverhüllung durch den Künst- befürworten. So sieht es auch der Regierende Bürger- meister von Berlin in seinem Schreiben vom 18. Ja- ler Christo wohlwollend gegenüber. Ein verhüllter Reichstag könnte den Wert von Demokratie durch ihre nuar 1994 an die Mitglieder des Deutschen Bundesta- augenscheinliche Verschleierung verdeutlichen; die ges. Verhüllung könnte Neugierde nach Demokratie Alle bisherigen Großprojekte Christos außerhalb erzeugen. Mit den genannten Argumenten habe ich unserer Grenzen haben neben großer internationaler bei Menschen aus meiner Umgebung für Christos Idee positiver Resonanz diese sehr günstigen wirtschaftli- geworben. Ich stieß jedoch überwiegend auf Ableh- chen Nebenwirkungen gehabt, die auch und gerade nung: für Berlin so wichtig sind. Einerseits wurde die symbolische Verhüllung des Da das Reichstagsgebäude lediglich für 14 Tage Reichstages als Ersatzhandlung der politischen Kaste verhüllt sein soll und während der Verhüllung voll für wirkliche Problemlösungen interpretiert, zu denen funktionsfähig bleibt, gibt es keine nachteiligen Aus- die Politiker offenbar nicht in der Lage seien. wirkungen, zumal die verwendeten Materialien wie- derverwertet werden. Zum anderen befürchte ich, daß der Symbolwert des Reichstages bei jenen Bürgerinnen und Bürgern Scha- Viele bedeutende Städte in Deutschland geben für den nehmen könnte, die Christos Projekt aus künstle- die Werbung um Ansehen und Anziehungskraft jähr- rischen Gründen heraus ablehnen. Wir gestehen ja lich Millionen an Steuermitteln aus. Das künstlerische jedem Kunstwerk zu, daß es nur von einer Minderheit Ereignis der Verhüllung des Reichstages durch Chri- der Bevölkerung akzeptiert wird. Dies wird bei der sto ist eine Werbung für Berlin mit internationaler temporären Verwandlung des deutschen Parlaments Ausstrahlung, die keine öffentlichen Mittel in nicht anders sein. Die öffentliche Zustimmung zur Anspruch nimmt. Berlin verdient es, daß seine Anzie- Reichstagsverhüllung wird Christo zufallen. Die arti- hungskraft durch dieses Projekt gefördert wird. kulierte Ablehnung aber wird in der Konsequenz die Auch aus diesem Grunde stimme ich der Verhül- Politiker und mittelbar auch die Demokratie treffen. lung des Reichstages durch Ch risto zu. Eine solche bei der Konzeption eines jeden öffentli- chen Denkmals bestehende Spannung bin ich nicht Die Debatte über die bereit auszuhalten, wenn es um das Symbol des Birgit Homburger (F.D.P.): Frage der Verhüllung des Reichstages durch den deutschen Parlamentarismus, der Demokratie in Künstler Christo ist eine Debatte, die die Menschen in unserem Land schlechthin geht. unserem Land nicht verstehen. Wir haben wahrlich Als Privatperson befürworte ich Christos Projekt; in andere Probleme. Nun ist diese Debatte beantragt — meiner Funktion als Parlamentarier kann ich jedoch also muß man sich entscheiden. der oben angeführten Gründe wegen die Verwirkli- 1. Die Frage der Verhüllung des Reichstages ist chung der Reichstagsverhüllung nicht mittragen. keine nationale Frage. 2. Die historische Diskussion und die Kunstdiskus- Martin Grüner (F.D.P.): Mein Eintreten und meine sion, die sich an diesem Projekt entsponnen haben, Zustimmung zur Verhüllung des Reichstages durch sind hochgezogene Diskussionen, die keinerlei Ent- den Künstler Christo ist — bei allem Respekt vor den scheidungsargumente liefern. Gegenargumenten — von folgenden Überlegungen 3. Aufgrund der Tatsache, daß das zur Verhüllung agen: getr des Reichstages verwendete Mate rial Polypropylen Der verhüllte Reichstag wird nach den bisherigen mit einer dünnen Schicht Aluminium sein wird, das Erfahrungen mit den Werken von Christo ein Erlebnis später wiederverwendet wird, gibt es auch keinerlei von großer visueller Schönheit sein und kann den Umweltrelevanz des Projektes. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 211. Sitzung. Bonn, Freitag, den 25. Februar 1994 18323*

4. Als einziges Argument bleibt also die touristische Anlage 3 Attraktion für die Hauptstadt Berlin, die darüber Amtliche Mitteilungen hinaus den Steuerzahler nichts kostet. Daher habe ich, nach anfänglicher Ablehnung des Der Bundesrat hat in seiner 665. Sitzung am 4. Februar 1994 Projektes, mit Ja gestimmt. beschlossen, den nachstehenden Gesetzen zuzustimmen bzw. einen Antrag gemäß Art. 77 Abs. 2 GG nicht zu stellen: 1. Gesetz über den Beruf der Diätassistentin und des Diätassi- Jürgen Türk (F.D.P.): Berlin bleibt eine Reise we rt , stenten und zur Änderung verschiedener Gesetze über den solange man über die Stadt nachdenkt, spricht und Zugang zu anderen Heilberufen (Heilberufsänderungsge- streitet. Der Charme der Stadt ist ihre Widersprüch- setz — HeilBÄndG) lichkeit, ihr Schmelztiegelcharakter für Menschen, 2. Gesetz über die Voraussetzungen und das Verfahren von Sicherheitsüberprüfungen des Bundes (Sicherheitsüber- Lebensweisen und Künste. In und durch Berlin ent- prüfungsgesetz — SÜG) stand eine Inspiration für viele Bereiche des gesell- 3. Drittes Gesetz zur Änderung des Bundesfernstraßengeset- schaftlichen Lebens, auch oder gerade im Kunstge- zes (3. FStrÄndG) schehen, immer verbunden mit dem Attribut des 4. Gesetz über den Bau des Abschnitts Wismar West-Wismar Anstoßens und In-Bewegung-Bringens. Ost der Bundesautobahn A 20 Lübeck-Bundesgrenze (A 11) Was kann ein Kunstwerk wie die Verhüllung des Reichstags mehr leisten, als zum Nachdenken, dar- 5. Gesetz zur Änderung des Binnenschiffahrtsgesetzes über zu sprechen und zum Streiten anzuregen? Daß 6. Gesetz zur Änderung des Binnenschiffahrtsaufgabengeset- zes über die Verhüllung des Reichstags eine Plenarde- 7. Gesetz über Statistiken im Handwerk (Handwerkstatistik- batte stattfindet, daß sich viele Parlamentarier über gesetz — HwStatG) das Für und Wider viele schlaue Gedanken machen, 8. Gesetz zu dem Protokoll Nr. 9 vom 6. November 1990 sowie darüber sprechen und streiten, erscheint mir als zu dem Protokoll Nr. 10 vom 25. März 1992 zur Konvention Rechtfertigung für die Durchführung dieses Kunst- zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten werks mehr als genug. Den Zweck seiner Verhüllung 9. Gesetz zur Änderung des -Unterlagen-Gesetzes hat der Künstler Christo bei uns 662 Abgeordneten des (StUAndG) Deutschen Bundestages schon erreicht. Mit dem 10. Gesetz zur Änderung des Handels- und Lohnstatistikgeset- Abschluß des Kunstwerks können noch mehr Men- zes (Statistikänderungsgesetz — StatÄndG) schen erreicht werden. Oder soll die Verhüllung des Reichstags als zweite „Unvollendete" in die Ge- Zu dem letztgenannten Gesetz hat der Bundesrat folgende Ent- schichte eingehen? schließung gefaßt: Der Bundesrat bedauert, daß das im Föderalen Konsolidierungs- Sollte sich der Deutsche Bundestag gegen eine programm beschlossene Einsparvolumen für Bund und Länder Verhüllung des Reichstags aussprechen, werden die für den Bereich der Bundesstatistik von insgesamt jeweils Gründe dafür schnell in Vergessenheit geraten. Dage- 50 Millionen DM in den Jahren 1994 bis 1996 mit dem vorlie- genden Gesetz bei weitem nicht erreicht wird. Er forde rt die gen wird bei einer Befürwortung Berlin ein einmaliges Bundesregierung auf, ihrer Verpflichtung aus dem Föderalen kunstgeschichtliches Erlebnis geboten, welches sehr Konsolidierungsprogramm nachzukommen und unverzüglich viele Menschen anlockt. einen weiteren Gesetzentwurf vorzulegen, mit dem gewährlei- stet wird, daß das erforderliche Einsparvolumen erfüllt wird. Wir zerbrechen uns hier im Bundestag die Köpfe, Begründung: wie wir Berlin und die neuen Bundesländer für die Der Bundesrat hatte bereits in seiner Stellungnahme vom Menschen und den Tourismus attraktiver gestalten 24. September 1993 — BR-Drucksache 567/93 (Beschluß) — können. Viele gute Vorschläge scheitern an den darauf hingewiesen, daß durch den von der Bundesregierung leeren Staatskassen. Jetzt haben wir einmal eine vorgelegten Gesetzentwurf zur Änderung des Handels- und Gelegenheit, ohne den Einsatz von Steuergeldern, Lohnstatistikgesetzes das Einsparvolumen von insgesamt 50 Millionen DM für Bund und Länder jeweils in den Jahren 1994 einfach durch bloße Zustimmung, einen wichtigen bis 1996 bei weitem nicht erreicht wird. Die bislang vorliegenden Beitrag zum Kennen- und Liebenlernen von Berlin Sparmaßnahmen ergeben für die Länder insgesamt ein Einspar- und Umgebung zu leisten, und kokettieren mit der volumen von 4,91 Millionen DM und für den Bund von ca. Chance des Versagens. 855 000 DM für den in Rede stehenden Zeitraum. Nach den Beschlüssen zum Föderalen Konsolidierungspro- Berlin ist keine Insel mehr. Seine Anziehungskraft gramm handelt es sich um Vorgaben für die Bundesstatistik, so wird auch auf das Umland ausstrahlen, und davon daß der Bund mithin zur Umsetzung verpflichtet ist. Globale wird es profitieren. Denn Berlin ist nicht nur pulsie- Kürzungen in den Landeshaushalten sind insoweit nicht mög- rendes Nachtleben, sondern auch der zur Muße ein- lich, weil der Aufgabenbereich der Statistik nicht nur unverän- dert bleibt, sondern ständig zunimmt (z. B. Asylbewerberlei- ladende Spreewald. 1995 wäre nicht nur das Jahr der stungsstatistik, Handwerkszählung 1995, Sozial- und Jugendhil- Reichstagsverpackung, sondern in die Reiseüberle- festatistik). gungen könnte auch die Bundesgartenschau in Cott- bus gleich mit eingeplant werden. Berlin als Aushän- Der Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P. Friedli- geschild für das gesamte Umland, das zur Erkun- che Lösung des Kurdenproblems in der Türkei — Drucksache dungsfahrt einlädt. 12/6728 — wurde zurückgezogen.

Die Menschen in und um Berlin herum haben es Die Vorsitzenden folgender Ausschüsse haben mitgeteilt, daß der durch die wirtschaftliche Lage sehr schwer. Wer Ausschuß die nachstehenden EG-Vorlagen zur Kenntnis genommen wüßte das nicht besser als ein Abgeordneter aus bzw. von einer Beratung abgesehen hat: dieser Region. Versagen wir ihnen nicht durch eine Haushaltsausschuß Tourismusattraktion die Chance eines wirtschaftli- Drucksache 12/6780 Nr. 2.3 chen Vorwärtskommens beim Aufbau ihrer Heimat! Ausschuß für Wirtschaft Drucksache 12/3182 Nr. 24 Darum unterstütze ich den Gruppenantrag zur Ver- Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit hüllung des Reichstags. Drucksache 12/5749 Nrn. 3.52, 3.53