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Plenarprotokoll 13/157

Deutscher

Stenographischer Bericht

157. Sitzung

Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997

Inhalt:

Nachträgliche Glückwünsche zu den Ge- d) Unterrichtung durch die Bundesregie- burtstagen der Abgeordneten Horst Sie- rung: Jahresgutachten 1996/97 des laff und Dr. Gerhard Päselt 14077 A Sachverständigenrates zur Begutach- tung der gesamtwirtschaftlichen Ent- Erweiterung der Tagesordnung 14077 B wicklung (Drucksache 13/6200) . . . 14078 B

Geänderte und nachträgliche Ausschuß- e) Große Anfrage der Abgeordneten Chri überweisungen 14077 D Nickels, Elisabeth Altmann (Pom--sta melsbrunn), weiterer Abgeordneter Zusatztagesordnungspunkt 2: und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Gemeinsames Wort der Kir- Abgabe einer Erklärung der Bundesre- chen „Zur wirtschaftlichen und sozia- gierung: Jahreswirtschaftsbericht 1997 len Lage in Deutschland" (Drucksa- der Bundesregierung 14078 A chen 13/3864, 13/5482) 14078 C Dr. Günter Rexrodt, Bundesminister BMWi 14078 D, in Verbindung mit 14105 C, 14114 C Tagesordnungspunkt 3: SPD 14083 B, 14093 C Dr. CDU/CSU . . . 14088 A, a) Unterrichtung durch die Bundesregie- 14093 D, 14113 D rung: Jahreswirtschaftsbericht 1997 der Bundesregierung „Reformen für Ingrid Matthäus-Maier SPD 14089 B Beschäftigung" (Drucksache 13/6800) 14078 A Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk SPD 14090 B, 14126A, B Kerstin Müller (Köln) BÜNDNIS 90/DIE b) Antrag der Fraktion der SPD: Mit ei- GRÜNEN 14094 A nem Nachtragshaushalt die Arbeitslo- sigkeit bekämpfen und den Bundes- Dr. F.D.P. . 14097 A, 14101 C haushalt auf eine solide Basis stellen Margareta Wolf (Frankfurt) BÜNDNIS 90/ (Drucksache 13/6903) 14078 A DIE GRÜNEN 14100 C, 14122 B c) Beschlußempfehlung und Be richt des Dr. PDS 14101 A, 14127 A Ausschusses für Wirtschaft zu dem An- Dr. PDS 14102 B, 14105 D trag der Abgeordneten Margareta Wolf (Frankfurt), (), Hartmut Schauerte CDU/CSU . . . . 14104 B weiterer Abgeordneter und der Frak- Dr. Theodor Waigel, Bundesminister BMF 14106 A tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Re- - Oswald Metzger BÜNDNIS 90/DIE formblockaden überwinden: Die öko- GRÜ NEN logische, wirtscha ftliche und soziale 14109 A Erneuerung einleiten (Drucksachen Gerhard Schröder, Ministerpräsident (Nie- 13/3713, 13/5077) 14078 B dersachsen) 14110 A, 14114 A,14115 A II Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. , Donnerstag, den 20. Februar 1997

Dr. Wolfgang Schäuble CDU/CSU 14115 B, 14121 D g) Antrag des Abgeordneten Dr. Gregor Gysi und der Gruppe der PDS: Christa Nickels BÜNDNIS 90/DIEAusweis GRÜ- NEN 14116 B der Mittel für den Bundesnachrichten- dienst (Drucksache 13/6531) 14137 C Christa Nickels BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN 14121 B h) Antrag der Abgeordneten Reinhold Paul K. Friedhoff F.D.P. . . . . 14124 A, 14127 C Hemker, , weiterer Ab- Wolfgang Weiermann SPD 14124 D geordneter und der Fraktion der SPD: Reinheitsgebot bei Schokolade Rolf Kutzmutz PDS 14127 D (Drucksache 13/6536) 14137 C Christian Müller (Zittau) SPD 14129 A Dr.-Ing. Paul Krüger CDU/CSU 14130 C i) Antrag der Abgeordneten Horst Siegmar Mosdorf SPD 14132 C Schmidbauer (Nürnberg), Klaus Kirsch- ner, weiterer Abgeordneter und der Joseph Fischer (Frankfu rt) BÜNDNIS 90/ Fraktion der SPD: Rettungsdienst in DIE GRÜNEN 14134 B der gesetzlichen Krankenversicherung SPD 14134 C (Drucksache 13/6578) 14137 D Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk SPD 14135 A j) Antrag der Abgeordneten Wolfgang Tagesordnungspunkt 14: Bierstedt, Dr. und der Grup- pe der PDS: Menschenrechtsüberein- Überweisungen im vereinfachten Verfah- kommen zur Biomedizin des Europa- ren rates (Drucksache 13/6778) 14137 D

a) Erste Beratung des von der Bundesre- k) Antrag des Bundesministeriums der Fi- gierung eingebrachten Entwurfs eines nanzen: Einwilligung gemäß § 64 Gesetzes zur Zweiten und Dritten Än- Abs. 2 Bundeshaushaltsordnung in die derung des Europäischen Überein- Veräußerung der Waldmann-Kaserne kommens vom 1. Juli 1970 über die Ar- in München (Drucksache 13/6832) . . 14137 D beit des im internationalen Straßen- verkehr beschäftigten Fahrpersonals (AETR) (Drucksache 13/6440) . . . . 14137 A l)chtri des AusschussesBe für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie b) Erste Beratung des von der Bundesre- und Technikfolgenabschätzung gemäß gierung eingebrachten Entwurfs eines § 56a der Geschäftsordnung: Technik- Gesetzes zur Änderung fahrpersonal- folgenabschätzung rechtlicher Vorschriften (Drucksache hier: Kontrollkriterien für die Bewer- 13/6629) 14137 A tung und Entscheidung bezüglich neu- er Technologien im Rüstungsbereich c) Erste Beratung des von der Bundesre- (Drucksache 13/6449) 14138 A gierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Ge- m) Bericht des Ausschusses für Bildung, setzes zu dem Schengener Überein- Wissenschaft, Forschung, Technologie kommen vom 19. Juni 1990 betreffend und Technikfolgenabschätzung gemäß den schrittweisen Abbau der Kontrol- § 56a der Geschäftsordnung: Technik- len an den gemeinsamen Grenzen folgenabschätzung (Drucksache 13/6671) 14137 B hier: „Möglichkeiten und Probleme bei der Verfolgung und Sicherung na- d) Erste Beratung des vom Bundesrat ein- tionaler und EG-weiter Umweltschutz- gebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes ziele im Rahmen der europäischen zur Änderung der Strafprozeßordnung Normung" (Drucksache 13/6450) . . 14138 A (Drucksache 13/197) 14137 B n) Bericht des Ausschusses für Bildung, e) Erste Beratung des vom Bundesrat ein- Wissenschaft, Forschung, Technologie gebrachten Entwurfs eines Gesetzes und Technikfolgenabschätzung gemäß zur Änderung des Beamtenrechtsrah- § 56a der Geschäftsordnung: Technik- mengesetzes (Drucksache 13/6619 folgenabschätzung [neu]) 14137 B hier: Machbarkeitsstudie zu einem „Forum für Wissenschaft und Technik" f) Erste Beratung des vom Bundesrat ein- (Drucksache 13/6451) 14138 B gebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung des Weingesetzes (Drucksache 13/6830) 14137 C in Verbindung mit Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997 III

Zusatztagesordnungspunkt 3: stücks in Frankfurt/Main, ehemali- ges US-Shopping-Center (Teilfläche) Weitere Überweisungen im vereinfachten (Drucksachen 13/6456, 13/6847) . . . 14139 B Verfahren c) Beschlußempfehlung des Haushalts- a) Erste Beratung des von der Bundesre- ausschusses zu der Unterrichtung gierung eingebrachten Entwurfs eines durch die Bundesregierung: Haushalts- Gesetzes zu dem Abkommen vom führung 1996; überplanmäßige Ausga- 20. Juni 1996 zwischen der Regierung be bei Kapitel 11 02 Titel 682 01 - Er- der Bundesrepublik Deutschland, den stattung von Fahrgeldausfällen - Vereinten Nationen und dem Sekreta- (Drucksachen 13/6404, 13/6445 Nr. 4, riat des Rahmenübereinkommens der 13/6747) 14139 B Vereinten Nationen über Klimaände- rungen über den Sitz des Sekretariats d) Beschlußempfehlung des Haushalts- des Übereinkommens (Drucksache 13/ ausschusses zu der Unterrichtung 6917) 14138 B durch die Bundesregierung: Überplan- mäßige Ausgaben bei Kapitel 11 13 Ti- b) Erste Beratung des von der Bundesre- tel 656 06 - Zuschuß des Bundes an die gierung eingebrachten Entwurfs eines Rentenversicherung der Arbeiter in Gesetzes zu dem Abkommen vom den neuen Ländern (einschl. ehemali- 5. Mai 1995 zwischen der Regierung ges Ost-) - und Titel 656 07 - Zu- der Bundesrepublik Deutschland und schuß des Bundes an die Rentenversi- der Regierung von Hongkong über cherung der Angestellten in den neuen den Fluglinienverkehr (Drucksache Ländern (einschl. ehemaliges Ost-Ber- 13/6918) 14138 C lin) (Drucksachen 13/6176, 13/6352 Nr. 1.1, 13/6748) 14139 C c) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines e) Beschlußempfehlung des Haushalts- Gesetzes zum Protokoll II in der am ausschusses zu der Unterrichtung 3. Mai 1996 geänderten Fassung und durch die Bundesregierung: Haushalts- zum Protokoll IV vom 13. Oktober führung 1996; überplanmäßige Ausga- 1995 zum VN-Waffenübereinkommen be bei Kapitel 11 13 Titel 656 03 - Be- (Drucksache 13/6916) 14138 C teiligung des Bundes in der knapp- schaftlichen Rentenversicherung - d) Antrag der Abgeordneten Volker Krö- (Drucksachen 13/6360, 13/6445 Nr. 2, ning, , weiterer Abgeordneter 13/6749) 14139 D und der Fraktion der SPD: VN-Waffen übereinkommen und Durchsetzung ei- f) Beschlußempfehlung des Haushalts- nes vollständigen Verbots von Anti- ausschusses zu der Unterrichtung PersonenMinen (Drucksache 13/6965) 14138 C durch die Bundesregierung: Haushalts- führung 1996; überplanmäßige Aus- e) Antrag der Abgeordneten Kerstin Mül- gabe bei Kapitel 10 02 Titel 656 58 - ler (Köln), (Köln), Manfred Zuschüsse zur Förderung der Einstel- Such und der Fraktion BÜNDNIS 90/ lung der landwirtschaftlichen Er- DIE GRÜNEN: Humanisierung der werbstätigkeit - (Produktionsaufgabe- Drogenpolitik (Teil II) - Heroinver- rente) (Drucksachen 13/6361, 13/6445 schreibung (Drucksache 13/3671) . . 14138 D Nr. 3, 13/6750) 14139 D

Tagesordnungspunkt 15: g) Beschlußempfehlung des Haushalts- ausschusses zu der Unterrichtung Abschließende Beratungen ohne Aus- durch die Bundesregierung: Haushalts- sprache führung 1996; überplanmäßige Ausga- be bei Kapitel 25 02 Titel 642 01 - a) Zweite und dritte Beratung des vom Wohngeld nach dem Wohngeldgesetz - Bundesrat eingebrachten Entwurfs ei- (Drucksachen 13/6343, 13/6352 Nr. 1.2, nes Gesetzes zur Änderung eisenbahn- 13/6751) 14140 A rechtlicher Vorschriften (Drucksachen 13/4386, 13/6721) 14139 A h) Beschlußempfehlung und Be richt des Ausschusses für Wirtschaft zu der Ver- b) Beschlußempfehlung und Be richt des ordnung der Bundesregierung: Aufheb- Haushaltsausschusses zu dem Antrag bare Neunzigste Verordnung zur Än- - des Bundesministeriums der Finanzen: derung der Ausfuhrliste - Anlage AL Einwilligung gemäß § 64 Abs. 2 der zur Außenwirtschaftsverordnung - Bundeshaushaltsordnung in die Ver- (Drucksachen 13/5946, 13/6091 Nr. 2.1, äußerung eines bundeseigenen Grund 13/6785) 14140 A IV Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997 i) Beschlußempfehlung des Petitionsaus- Tagesordnungspunkt 4: schusses: Sammelübersicht 175 zu Peti- tionen (Drucksache 13/6839) . . . . 14140 B Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr zu dem An- j) Beschlußempfehlung des Petitionsaus- trag der Abgeordneten Elke Ferner, Mi- schusses: Sammelübersicht 176 zu Peti- chael Müller (Düsseldorf), weiterer Ab- tionen (Drucksache 13/6840) . . . 14140 B geordneter und der Fraktion der SPD: Minderung des Verkehrslärms an Stra- CDU/CSU 14140 C ßenund(Drucksachen13/ Schienen Wilhelm Schmidt (Salzgitter) SPD (zur GO) 14140 C 1042, 13/5390) 14156 A Christa Nickels BÜNDNIS 90/DIE GRÜ NEN (zur GO) 14140 D in Verbindung mit k) Beschlußempfehlung des Petitionsaus Zusatztagesordnungspunkt 6: schusses: Sammelübersicht 177 zu Peti tionen (Drucksache 13/6841) . . . . 14141 B Antrag der Abgeordneten Albert Schmidt (Hitzhofen), Gila Altmann l)Petitionsaus- Beschlußempfehlung des (Aurich), weiterer Abgeordneter und schusses: Sammelübersicht 178 zu Peti- der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- tionen (Drucksache 13/6842) . . . . 14141 B NEN: Vorlage eines Gesetzes zum Schutz vor Verkehrslärm an Straßen und Schienen (Drucksache 13/6958) . 14156 B in Verbindung mit Heinz-Günter Bargfrede CDU/CSU . . . 14156 C Zusatztagesordnungspunkt 4: Angelika Graf (Rosenheim) SPD . . . 14158 B Albert Schmidt (Hitzhofen) BÜNDNIS 90/ Weitere abschließende Beratung ohne DIE GRÜNEN 14160 C Aussprache Heinz-Günter Bargfrede CDU/CSU . 14162 C Beschlußempfehlung und Bericht des F.D.P. 14163 B Ausschusses für Wirtschaft zu der Ver- Dr. Winfried Wolf PDS 14165 B ordnung der Bundesregierung: Auf- hebbare Einhundertzweiunddreißigste , Parl. Staatssekretär Verordnung zur Änderung der Ein- BMV 14167 B, 14172 A fuhrliste - Anlage zum Außenwirt- Albert Schmidt (Hitzhofen) BÜNDNIS 90/ schaftsgesetz - (Drucksachen 13/6161, DIE GRÜNEN 14168 A 13/6352 Nr. 2.1, 13/6976) 14141 C Dr. R. Werner Schuster SPD . 14168 B, 14180 C Zusatztagesordnungspunkt 5: Gila Altmann (Aurich) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 14169 B, 14179 D Aktuelle Stunde betr. Sorge um Ar- Angelika Graf (Rosenheim) SPD . . . 14170 D beitsplätze und Leistungsabbau bei der Post 14141 D Dr. Barbara Hendricks SPD 14171 D Gerhard Jüttemann PDS 14141 D Jutta Müller (Völklingen) SPD 14172 B Dr. Wolfgang Bötsch, Bundesminister Dr. CDU/CSU 14174 B BMPT 14142 D Elke Ferner SPD 14175 B Hans Martin Bury SPD 14144 B Günter Oesinghaus SPD 14176 C Dr. CDU/CSU 14145 B Berthold Wittich SPD 14177 A Dr. Manuel Kiper BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-Horst Friedrich F.D.P. 14177 C NEN 14146 B Michael Jung (Limburg) CDU/CSU . . 14178 D Paul K. Friedhoff F.D.P 14147 B Dr. Gregor Gysi PDS 14148 B Tagesordnungspunkt 5: CDU/CSU 14149 B a) Zweite und dritte Beratung des von der Christine Kurzhals SPD 14150 D Bundesregierung eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes über die Anpas- CDU/CSU 14151 D sung von Dienst- und Versorgungsbe- - SPD 14152 C zügen in Bund und Ländern 1996/1997 (Bundesbesoldungs- und -versorgungs- Elmar Müller (Kirchheim) CDU/CSU . . 14154 A anpassungsgesetz 1996/1997) (Druck- (Köln) SPD 14155 A sachen 13/5983, 13/6892, 13/6989) . . 14181 C Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997 V b) Unterrichtung durch die Präsidentin CDU/CSU 14199 D des Deutschen Bundestages: Bericht (Lübeck) SPD 14201 C der Präsidentin des Deutschen Bundes- Reinhold Hiller tages über die Entwicklung der Bezü- Volker Beck (Köln) BÜNDNIS 90/DIE ge der hauptberuflichen Amts- und GRÜNEN 14203 A Mandatsträger auf Bundes-, Landes- und Gemeindebene sowie bei öffentli- Günther Friedrich Nolting F.D.P. . . . 14203 D chen Einrichtungen (Drucksache 13/ Petra Bläss PDS 14204 B 6637) 14181 D in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 8: Beschlußempfehlung und Bericht des Zusatztagesordnungspunkt 7: Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu der Verord- Erste Beratung des von den Abgeord- nung der Bundesregierung: Zustim- neten Peter Conradi, Norbert Gansel, mungsbedürftige Verordnung zur Um- weiteren Abgeordneten und der Frak- setzung der Richtlinie 80/68/EWG vom tion der SPD eingebrachten Entwurfs 17. Dezember 1979 über den Schutz eines Gesetzes zur Änderung des Bun- von Grundwasser gegen Verschmut- desministergesetzes und des Gesetzes zung durch bestimmte gefährliche über die Rechtsverhältnisse der Parla- Stoffe (Drucksachen 13/6902, 13/6971) 14204 D mentarischen Staatssekretäre (Druck- sache 13/6452) 14181 D Tagesordnungspunkt 8: Otto Regenspurger 14182 A Peter Conradi SPD 14183 D a) Erste Beratung des von den Abgeordne- Dieter Wiefelspütz SPD . . . . 14184 B, 14191 C ten Roland Sauer (), Uta Titze -Stecher und weiteren Abgeordneten ein- Gerald Häfner BÜNDNISgebrachten Entwurfs90/DIE eines Gesetzes GRÜ- zum NEN 14185 A Schutze der Nichtraucher (Nichtrau Dr. F D P. 14186 C (Drucksache 13/6100)-cherschutzgesetz) 14205 A Maritta Böttcher PDS 14187 C b) Erste Beratung des von den Abgeord- Peter Conradi SPD 14188 B neten Gerald Häfner, Volker Beck (Köln), weiteren Abgeordneten und der Herbert Lattmann CDU/CSU 14189 B Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Dr. Horst Waffenschmidt, Parl. Staatsse eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes kretär 14190 B zum Schutz der Nichtraucher in der Öf- Peter Conradi SPD (Erklärung nach § 31 fentlichkeit (Nichtraucherschutzgesetz) GO) 14192 A (Drucksache 13/6166) 14205 B Roland Sauer (Stuttgart) CDU/CSU . . 14205 C Tagesordnungspunkt 6: Dr. Barbara Höll PDS 14206 D Beschlußempfehlung des Petitionsaus- Uta Titze-Stecher SPD 14208 A schusses: Sammelübersicht 39 zu Peti- tionen (Weiterer Aufenthalt im Bundes- Gerald Häfner BÜNDNIS 90/DIE GRÜ gebiet für abgelehnte Asylbewerber) NEN 14211 B, 14213 B (Drucksache 13/1411) 14193 A Wolf-Michael Catenhusen SPD 14212 D Christel Hanewinckel SPD . . . 14193 B, 14196 C Ulrich Heinrich F.D.P...... 14213 D, 14216 C Norbert Röttgen CDU/CSU . . 14194 D, 14197 A Amke Dietert-Scheuer BÜNDNIS 90/DIE Dr. SPD 14214 C GRÜNEN 14197 B Dr. Gregor Gysi PDS 14214 C Wolfgang Dehnel CDU/CSU 14197 D Hildebrecht Braun (Augsburg) F.D.P. 14215 B Günther Friedrich Nolting F.D.P. . . . 14198 C Ingrid Matthäus-Maier SPD 14216 A PDS 14199 A Dr. Barbara Höll PDS 14217 A Tagesordnungspunkt 7: Petra Bläss PDS 14217 B

Beschlußempfehlung des Petitionsaus- CDU/CSU 14218 C- schusses: Sammelübersicht 88 zu Peti- Gerald Häfner BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- tionen (Zahlung einer Entschädigungs- NEN 14219 A rente nach dem Entschädigungsrenten- gesetz) (Drucksache 13/3149) . . . . 14199 D Dr. F.D.P. 14220 A VI Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997

Tagesordnungspunkt 9: MdlAnfr 3 - Drs 13/6931 - Wolfgang Behrendt SPD Antrag der Gruppe der PDS: Kontinu- SchrAntw PStSekr Dr. Paul Laufs BMPT . 14227* C ierliche Berichterstattung über Ein- kommens- und Vermögensreichtum in der Bundesrepublik Deutschland Anlage 3 (Reichtumsbericht) (Drucksache 13/ 6527) 14221 A Zu Protokoll gegebene Reden zum Zusatz- tagesordnungspunkt 8 (Beschlußempfeh- Dr. Gregor Gysi PDS 14221 B lung zu der Verordnung zur Umsetzung Heinz-Georg Seiffert CDU/CSU . . . 14222 A der Richtlinie 80/68/EWG vom 17. De- zember 1979 über den Schutz von Grund- Herbert Meißner SPD 14223 B wasser gegen Verschmutzung durch be- (Berlin) BÜNDNIS 90/DIE stimmte gefährliche Stoffe) GRÜNEN 14225 A Susanne Kastner SPD 14227* D Gisela Frick F.D.P 14226 A Dr. Jürgen Rochlitz BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 14229* A Tagesordnungspunkt 10: Günther Bredehorn F.D.P. 14229* D Große Anfrage der Abgeordneten An- Eva Bulling-Schröter PDS 14230* B gelika Beer, , Chri- Ulrich Klinkert, Parl. Staatssekretär BMU 14230* D stian Sterzing und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Neue Sicher- heitspolitik der Bundesrepublik Anlage 4 Deutschland (I) (Drucksachen 13/4287, 13/5181) 14226 C Zu Protokoll gegebene Reden zu Tages- ordnungspunkt 10 (Große Anfrage: Neue Sicherheitspolitik der Bundesrepublik Nächste Sitzung 14226 D Deutschland - I -) BÜNDNIS 90/DIE GRÜ Anlage 1 NEN 14231* B Liste der entschuldigten Abgeordneten . 14227* A Andreas Krautscheid CDU/CSU . . . 14232* B Peter Zumkley SPD 14233* A Anlage 2 Günther Friedrich Nolting F.D.P. . . . 14234* D Transport von Postgütern mit Lkw, Befrei- Heinrich Graf von Einsiedel PDS . . . 14235* C ung des Bahnverkehrs von der Mineralöl- steuer Bernd Wilz, Parl. Staatssekretär BMVg 14236* B

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157. Sitzung

Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997

Beginn: 9.00 Uhr

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Liebe Kolleginnen 4. Weitere abschließende Beratung ohne Aussprache (Er- und Kollegen, die Sitzung ist eröffnet. gänzung zu TOP 15) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, möchte Ausschusses für Wirtschaft (9. Ausschuß) zu der Ver- ordnung der Bundesregierung: Aufhebbare Einhun- ich dem Kollegen Horst Sielaff zu seinem 60. Ge- dertzweiunddreißigste Verordnung zur Änderung der burtstag am 7. Februar Einfuhrliste - Anlage zum Außenwirtschaftsgesetz - - Drucksachen 13/6161, 13/6352 Nr. 2.1, 13/6976 - (Beifall) 5. Aktuelle Stunde auf Verlangen der G ruppe der PDS: Sorge um Arbeitsplätze und Leistungsabbau bei der und dem Kollegen Dr. Gerhard Päselt ebenfalls zum Post 60. Geburtstag, den er am 16. Februar feierte, nach- 6. Beratung des Antrags der Abgeordneten Albe rt Schmidt träglich ganz herzlich gratulieren. (Hitzhofen), Gila Altmann (Aurich), Michaele Hustedt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ (Beifall) DIE GRÜNEN: Vorlage eines Gesetzes zum Schutz vor Verkehrslärm an Straßen und Schienen - Drucksache 13/6958 - Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbun- 7. Erste Beratung des von den Abgeordneten Peter Con- dene Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in radi, Norbert Gansel, Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast, wei- der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt: teren Abgeordneten und der Fraktion der SPD einge- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des 2. Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung: Jahres- Bundesministergesetzes und des Gesetzes über die wirtschaftsbericht 1997 der Bundesregierung Rechtsverhältnisse der Parlamentarischen Staatssekre- 3. Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren täre - Drucksache 13/6452 - (Ergänzung zu TOP 14) 8. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktor- a) Erste Beratung des von der Bundesregierung einge- sicherheit (16. Ausschuß) zu der Verordnung der Bun- brachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen desregierung: Zustimmungsbedürftige Verordnung zur vom 20. Juni 1996 zwischen der Regierung der Bun- Umsetzung der Richtlinie 80/68/EWG vom 17. Dezem- desrepublik Deutschland, den Vereinten Nationen ber 1979 über den Schutz von Grundwasser gegen und dem Sekretariat des Rahmenübereinkommens Verschmutzung durch bestimmte gefährliche Stoffe der Vereinten Nationen über Klimaänderungen über - Drucksachen 13/6902, 13/6971 - den Sitz des Sekretariats des Übereinkommens - Drucksache 13/6917 - Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, so- b) Erste Beratung des von der Bundesregierung einge- weit erforderlich, abgewichen werden. brachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkom- men vom 5. Mai 1995 zwischen der Regierung der Außerdem mache ich auf geänderte Ausschuß- Bundesrepublik Deutschland und der Regierung von überweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste auf- Hongkong über den Fluglinienverkehr - Drucksache merksam: 13/6918 - Bei dem in der 148. Sitzung des Deutschen Bundestages c) Erste Beratung des von der Bundesregierung einge- am 12. Dezember 1996 überwiesenen nachfolgenden Ge- brachten Entwurfs eines Gesetzes zum Protokoll II in setzentwurf ändert sich die Überweisung. Nunmehr soll der der am 3. Mai 1996 geänderten Fassung und zum Gesetzentwurf dem Rechtsausschuß federführend und dem Protokoll IV vom 13. Oktober 1995 zum VN-Waffen Innenausschuß zur Mitberatung überwiesen werden: Ge- übereinkommen - Drucksache 13/6916 - setzentwurf der Bundesregierung zur Bekämpfung der Kor- ruption - Drucksache 13/6424 - d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker Krö- ning, Uta Zapf, , weiterer Abgeordneter Der in der 154. Sitzung des Deutschen Bundestages am und der Fraktion der SPD: VN-Waffenübereinkom- 30. Januar 1997 überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf men und Durchsetzung eines vollständigen Verbots soll nachträglich dem Ausschuß für Fremdenverkehr und Tourismus zur Mitberatung überwiesen werden: Gesetzent- von Anti-Personen-Minen - Drucksache 13/6965 - wurf der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. zur Siche-- e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kerstin Mül- rung des Nachweises der Eigentümerstellung und der Kon- ler (Köln), Volker Beck (Köln), Manfred Such und der trolle von Luftfahrtunternehmen für die Aufrechterhaltung Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Humanisie- der Luftverkehrsbetriebsgenehmigung und der Luftver- rung der Drogenpolitik (Teil II) - Heroinverschrei- kehrsrechte (Luftverkehrsnachweissicherungsgesetz - Luft- bung - Drucksache 13/3671 - NaSiG) - Drucksache 13/6820 - 14078 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth Sind Sie mit den Vereinbarungen einverstanden? - Überweisungsvorschlag: Das ist der Fall. Dann verfahren wir entsprechend. Ausschuß für Wirtschaft (federführend) Finanzausschuß Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 e sowie Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Gesundheit Zusatzpunkt 2 auf: Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ZP 2 Abgabe einer Erklärung der Bundesregie- Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Techno- rung logie und Technikfolgenabschätzung Ausschuß für Fremdenverkehr und Tourismus Jahreswirtschaftsbericht 1997 der Bundes- Haushaltsausschuß regierung 3. a) Beratung der Unterrichtung durch die Bun- e) Beratung der Großen Anfrage der Abgeord- desregierung neten Christa Nickels, Elisabeth Altmann (Pommelsbrunn), Gerald Häfner, weiterer Jahreswirtschaftsbericht 1997 der Bundes- Abgeordneter und der Fraktion BÜND- regierung NIS 90/DIE GRÜNEN „Reformen für Beschäftigung" Gemeinsames Wort der Kirchen „Zur wirt- - Drucksache 13/6800 — schaftlichen und sozialen Lage in Deutsch- Überweisungsvorschlag: land" Ausschuß für Wirtschaft (federführend) Finanzausschuß - Drucksachen 13/3864, 13/5482 - Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Zum Jahreswirtschaftsbericht 1997 liegt ein Ent- Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit schließungsantrag der Fraktion der SPD und zur Gro- Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau ßen Anfrage „Gemeinsames Wo rt der Kirchen ,Zur Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Techno- logie und Technikfolgenabschätzung wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland' " Ausschuß für Fremdenverkehr und Tourismus liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion BÜND- Haushaltsausschuß NIS 90/DIE GRÜNEN vor. b) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache im Anschluß an die Regierungser- Mit einem Nachtragshaushalt die Arbeits- klärung dreieinhalb Stunden vorgesehen. Sind Sie losigkeit bekämpfen und den Bundeshaus- damit einverstanden? - Das ist der Fall. halt auf eine solide Basis stellen

- Drucksache 13/6903 — Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung Überweisungsvorschlag: hat der Bundesminister für Wirtschaft, Dr. Günter Rexrodt. Haushaltsausschuß (federführend) Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Dr. Günter Rexrodt, Bundesminister für Wirtschaft: Ausschuß für Verkehr Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! „Re- Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit formen für Beschäftigung", das ist der Titel des Jah- Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Techno- reswirtschaftsberichts 1997, und das ist auch seine logie und Technikfolgenabschätzung Botschaft. Die heutigen Redner werden der Forde- rung nach Reformen für mehr Beschäftigung nicht c) Beratung der Beschlußempfehlung und des widersprechen. Alle werden auf ihre Weise hinzufü- Berichts des Ausschusses für Wirtschaft gen: Reformen ja, aber die richtigen Reformen müs- (9. Ausschuß) zu dem Antrag der Abgeord- sen es sein. Ich finde, das wäre keine schlechte De- neten Margareta Wolf (Frankfu rt), Marie- batte - unterschiedliche Auffassungen über den rich- luise Beck (Bremen), , tigen Weg, aber Einigkeit über das Ziel. weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Reformblockaden überwinden: Die ökolo- Jeder weiß: Wenn die großen Strukturreformen auf gische, wirtschaftliche und soziale Erneue- den Weg kommen sollen, müssen Koalition und Op- rung einleiten position in einer Reihe von Punkten auf einen ge- - Drucksachen 13/3713, 13/5077 - meinsamen Nenner kommen. Das wird nicht einfach sein. Das wird allen Kompromisse abverlangen. Es Berichterstattung: gibt aber keinen anderen Weg. Die Menschen erwar- Abgeordneter Wolfgang Börnsen (Bönstrup) ten, daß die Politiker, und zwar alle, ihre Verantwor- tung wahrnehmen. d) Beratung der Unterrichtung durch die Bun- desregierung Kompromisse zu schließen bedeutet nicht, Grund- sätze aufzugeben. Deshalb sage ich für die Bundes- Jahresgutachten 1996/97 des Sachverstän- regierung: Wir halten an unserer Politik der markt- digenrates zur Begutachtung der gesamt- wirtschaftlichen Erneuerung fest. Aber: Weltweite wirtschaftlichen Entwicklung Öffnung der Märkte und zunehmender Wettbewerb - Drucksache 13/6200 - sind für uns nicht das Vehikel für ein neoliberales Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997 14079

Bundesminister Dr. Günter Rexrodt „roll back" in der Wirtschaftspolitik um seiner selbst 2,5 Prozent Wachstum in 1997 nach 1,4 Prozent im willen. letzten Jahr. Die deutsche Wirtschaft ist seit dem Frühjahr 1996 wieder auf Wachstumskurs, und alles (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU - spricht dafür, daß sich dieser Kurs in 1997 fortsetzt. Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Die Rahmenbedingungen sind so günstig wie nie: DIE GRÜNEN - [Berlin] niedrige Zinsen, stabile Preise, moderate Lohnent- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Können wir wicklung, gute Ertragslage der Unternehmen als diesen Satz noch einmal hören?) Voraussetzung für Investitionen; der Wechselkurs ist Die Politik der strukturellen Reformen ist Ausdruck günstig, und die außenwirtschaftliche Entwicklung der Verantwortung für die wirtschaftliche Zukunft ist überaus günstig. Hierauf weist auch die Bundes- und für neue Arbeitsplätze. Es sind Maßnahmen, die bank in ihrem jüngsten Monatsbericht hin. sich in anderen Ländern bereits segensreich für Wachstum und Beschäftigung und zum Vorteil der An meiner Einschätzung ändern auch die jüngsten Menschen ausgewirkt haben. Zahlen des DIW zum 4. Quartal 1996 nicht das ge- ringste. Diese Zahlen entsprechen unseren Annah- Es kommt darauf an, Wi rtschaft und Gesellschaft men; sie sind im Jahreswirtschaftsbericht enthalten. zu verändern, so zu verändern, daß sie dem epocha- len Umbruch von der Industriegesellschaft zur welt- (Ernst Schwanhold [SPD]: Die Arbeitslo- weit konkurrierenden Dienstleistungs- und Informa- senzahlen entsprechen nicht Ihren Annah- tionsgesellschaft gerecht werden. men!) (Zuruf von der SPD: Phrasen hoch drei!) Ich bleibe aus guten Gründen bei unserer Prognose. Am Ende des Jahres 1997 wird es weniger Arbeits- Wir haben das in Deutschland besonders schwer zu lose und mehr Beschäftigte als am Ende des Jahres schultern, nicht nur, weil wir Besitzstände, an denen 1996 geben. wir alle mitgewirkt haben, in Frage stellen, sondern auch deshalb, weil dieser weltweite Umbruch bei uns Aber es wäre töricht, vom Wirtschaftswachstum al- mit der einzigartigen, aber auch aufwendigen Auf- lein die Lösung der Arbeitsmarktprobleme zu erwar- gabe einhergeht, den wirtschaftlichen Vereinigungs- ten. Der Jahreswirtschaftsbericht konzentriert sich prozeß voranzubringen. darauf, die Ursachen der Arbeitslosigkeit in Deutsch- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) land herauszuarbeiten und darauf aufbauend Lösun- gen zum Abbau der Arbeitslosigkeit zu entwickeln. Hinzu kommt die europäische Einigung, die Vorbe- Wir knüpfen damit an das „Aktionsprogramm für In- reitung und Gestaltung der einheitlichen europäi- vestitionen und mehr Arbeitsplätze" sowie an das schen Währung unter Wahrung von Stabilität und „Programm für mehr Wachstum und Beschäftigung" Wachstum. aus dem Jahre 1996 an. Beide Programme, beide Bei diesen Reformen und mit unserem Jahreswirt- Konzepte bauen auf dem vom Bundeswirtschaftsmi- schaftsbericht geht es - das sage ich im Jahr des nister im Jahre 1993 erarbeiteten Standortbericht auf, 100. Geburtstags von - im Kern und beide Programme zeigen seine Handschrift. darum, die Funktionsfähigkeit der sozialen Markt- Folgerichtig geht es auch im Jahreswirtschaftsbe- wirtschaft zu erhalten und zu stärken. Die soziale richt 1997 um konkrete Maßnahmen. Darauf kommt Marktwirtschaft ist heute so aktuell wie vor es an. Diese Maßnahmen sind in der Summe der 50 Jahren, und sie bietet am ehesten Gewähr, mit Kern unserer angebotsorientierten Wirtschaftspoli- dem Umbruch von der Industriegesellschaft in die In- tik, die Investitionen erleichtert und Arbeitsplätze formationsgesellschaft fertig zu werden. schafft. Diese Politik konzentriert sich auf mehrere (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Handlungsfelder, in denen jeweils einschneidende Reformen vorangebracht wurden oder noch anste- Angesichts von 4,6 Millionen Arbeitslosen muß es hen: die Senkung der Staatsquote und die Rückfüh- unser Ziel bleiben, die Trendwende am Arbeits- rung der Steuerlast. 50,5 Prozent Staatsquote, markt in diesem Jahr zu schaffen, und zwar auf 43 Prozent Abgabenquote und Spitzensteuersätze Dauer. Hinter dieser Zahl stehen persönliche Schick- auf den Ertrag von rechnerisch 59 Prozent erdrücken sale, Ängste und zuweilen auch Hoffnungslosigkeit. private Initiative, führen zur Abwanderung und Arbeitslos sind heute auch hochqualifizierte und schrecken ausländische Investoren ab. hochmotivierte Menschen. Nicht nur die Bundesre- gierung ist gefordert. Ohne Lohnzurückhaltung über (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU - mehrere Jahre, ohne Lohndifferenzierung und vor al- Werner Schulz [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE lem ohne mehr Freiheit zu punktgenauen Tarifab- GRÜNEN]: Das ist der Oppositionsteil Ihrer schlüssen werden wir das gemeinsame ehrgeizige Rede!) Ziel nicht erreichen: die Halbierung der Arbeitslosig- keit bis zum Jahr 2000. Unsere Antwort ist neben anderem die große Steuer- reform. Es geht um die Senkung der Lohnzusatzko- Es ist ein gutes Zeichen, daß es in der Metallbran- sten. Dazu gehören neben anderem die Reform im che jetzt Bewegung bei der Reform des Flächentarif- Gesundheitswesen und die Rentenreform. vertrages und eine Annäherung bei den Öffnungs- klauseln gibt. Trotz der ungünstigen Arbeitsmarkt- (Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Ja, wunder- entwicklung im Januar bleibe ich bei den Eckwerten bar! Nichts wird besser; es wird nur anders der Prognose des Jahreswirtschaftsberichts: rund bezahlt!) 14080 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997

Bundesminister Dr. Günter Rexrodt Es geht um eine bessere Ausstattung mit Wagnis- gangenheit ihr konkretes wi rtschaftspolitisches Ver- kapital. Hier wird etwas getan über die neu zuge- suchsfeld. Sie sind immer gescheitert. schnittenen Förderprogramme und vor allem mit dem Dritten Finanzmarktförderungsgesetz, das noch (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU - im ersten Halbjahr 1997 vorgelegt wird. Zurufe von der SPD und vom BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Wir wollen darüber hinaus dem Wettbewerbsprin- - Lassen Sie mich das vortragen. zip durch eine Novelle des Kartellgesetzes, die ich bis zum Sommer 1997 vorbereite, und - unter ande- Da sind die nachfrageorientierten Programme der rem - durch die Liberalisierung der Strom- und Gas- 70er Jahre, zum Beispiel bei den Investitionen. Deren märkte mehr Geltung verschaffen. Erfolg ist umstritten. Jetzt, da es gilt, strukturelle Ver- werfungen der Wirtschaft zu beseitigen, könnten sol- Die Privatisierungspolitik, die mit Bahn und Tele- che Programme überhaupt nichts fruchten. kom erfolgreich begonnen hat, wird fortgesetzt, auch (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) bei der Gelben Post. Hier gilt es in besonderer Weise, eingefahrenes Denken zu überwinden. Die Aktionen Auch die veralteten Vorstellungen von der Kauf- der letzten Tage sind Beleg dafür. krafttheorie der Löhne helfen nicht weiter. Dies muß schon daran scheitern, daß eine Steigerung der Meine Damen und Herren, der Mittelstand ist Nettolöhne um 360 DM - wir haben das ausgerech- Herzstück der sozialen Marktwirtschaft. net - in den Betrieben mit Kostensteigerungen von 1 000 DM zu Buche schlagen würde. Wir wollen die (Ernst Schwanhold [SPD]: Ja!) Nachfrage, die ihr Gewicht und ihre Bedeutung hat, durch Erhöhung des verfügbaren Einkommens stär- Seine Förderung wird auf eine verläßliche finanzielle Grundlage gestellt. ken: also weniger Steuern, weniger Abgaben und mehr Arbeitsplätze. Das schafft Kaufkraft, meine Da- (Ernst Schwanhold [SPD]: Das ist bisher men und Herren. nicht der Fall!) (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU - Zurufe von der SPD) Der Bundeswirtschaftsminister erarbeitet eine Dienstleistungsinitiative, die im Mai 1997 vorgestellt Ein dritter Bereich. Die Politik der Dauer- und wird und mit der neue Beschäftigungsfelder im Infor- Höchstsubventionierung des sogenannten zweiten mationsbereich, beim Umweltschutz, in den Kultur- Arbeitsmarktes ist gesamtwirtschaftlich zu teuer und und Freizeitbereichen erschlossen werden. vernichtet mittelfristig Arbeitsplätze auf dem norma- len Arbeitsmarkt, insbesondere im Mittelstand. Da- Mit der Arbeitsmarktpolitik wollen wir Brücken in bei ist der befristeten und degressiven Anlage von den ersten Arbeitsmarkt bauen. Das Arbeitsförde- Maßnahmen, insbesondere in den neuen Bundeslän- rungs-Reformgesetz, das in wichtigen Teilen im dern, durchaus eine Brückenfunktion zuzusprechen. Frühjahr dieses Jahres in Kraft treten soll, will die Ich habe das immer gesagt und mich immer dafür Zielgenauigkeit der Förderpolitik erhöhen. eingesetzt. Diese Maßnahmen sind aber kein Allheil- mittel. Forschung, Entwicklung und Innovation werden auf breiter Front gestärkt. Bei Bildung und Ausbil- Scheitern müßte auch eine Politik, die, wie die Op- dung geht es unter Einschluß der Tarifpartner um die position es will, weiterhin auf die Hochsubventionie- Sicherung des dualen Systems, um neue, moderni- rung ganzer Wirtschaftszweige, etwa Kohle und sierte Ausbildungsberufe, um die Förderung der Werften, setzt. Zwar können bef ristete Hilfen in die- Selbständigkeit und um die Stärkung der Eigenver- sem Bereich Härten lindern und Wege in lebensfä- antwortlichkeit der Hochschulen. hige Strukturen öffnen, aber alles andere geht zu La- sten moderner, innovativer Wirtschaftszweige. Schließlich sind wir durch die außenwirtschaftliche (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Förderung und Begleitung unserer Unternehmen da- bei, auch kleinen und mittleren Unternehmen die in- Scheitern müßte auch eine Politik von Teilen der ternationalen Märkte zu öffnen. Die deutsche Außen- SPD, die darauf setzen, gesamtgesellschaftliche wirtschaftspolitik hat in dieser Form in keinem ande- Standards, etwa im Umweltschutz und in der Sozial- ren Land ein Pendant. politik, international abzusprechen mit dem Ziel, Wettbewerbsnachteile für entwickelte Länder abzu- Diese Reformpolitik muß immer wieder durchge- wenden. So verlockend der Gedanke eines solchen setzt werden gegen erbitterte Widerstände, auch - Superbündnisses für Arbeit vielen auch erscheinen neben anderem - gegen eine Blockadehaltung im mag: Die Schwellenländer und die Entwicklungslän- Bundesrat. der lehnen das rundweg ab. (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Leider wahr!) Schließlich - das sage ich in Richtung Grüne -: Nicht falsch, aber zu dünn ist auch eine Politik, die Jeder, der dieses Konzept kritisiert, muß sich fragen darauf setzt, durch Beschränkung auf Umweltschutz, - lassen, ob er ein eigenes hat, ein besseres. Da sage Bahntechnologie und regenerative Energien die Ar- ich sine ira et studio: Meine Damen und Herren von beitsmarktprobleme der heutigen Zeit lösen zu wol- der Opposition, Ihre Konzepte, soweit sie denn über- len. In diesen Bereichen gibt es Wachstumspotentiale haupt von den unseren abweichen, hatten in der Ver - niemand will das in Frage stellen -, aber nicht ge- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997 14081

Bundesminister Dr. Günter Rexrodt nug. Was wir brauchen, ist allgemeine Technik - und der Bürger und Unternehmen in der Größenordnung Technologieakzeptanz, nicht Verweigerungspolitik von etwa 30 Milliarden DM, mehr Steuergerechtig- in den Genehmigungsbehörden. keit durch Schließen der Steuerschlupflöcher und Senkung des gesamten Tarifs bei deutlich niedrige- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) rem Eingangssteuersatz und Senkung des Spitzen- Völlig absurd wird es dann - das sage ich auch in steuersatzes unter 40 Prozent. Wer diesen niedrige- Ihre Richtung, meine Damen und Herren von den ren Spitzensteuersatz als Geschenk an die Reichen Grünen -, wenn sich grüne Strategen für den Erhalt abtut, der hohen Kohlesubventionen stark machen. (Zuruf von der SPD: Ja!) All diese Rezepte, Ihre Rezepte, sind in der Ver- der täuscht bewußt darüber hinweg, daß nur ein in- gangenheit ohne Wirkung geblieben. Sie sind die ternational attraktiver Steuersatz Investitionen und Antworten von gestern auf die Fragen von heute. Arbeitsplätze nach Deutschland bringt (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU - (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Widerspruch bei der SPD und dem BÜND NIS 90/DIE GRÜNEN) und daß nur ein attraktiver Steuersatz Menschen in unserem Land hält, Führungskräfte, qualifizierte Ar- So manche der Reformen, die wir machen, sind un- beitnehmer, Selbständige, die wir als Leistungsträger populär, aber dennoch überfällig. Nicht nur der in diesem Land brauchen. Sachverständigenrat beklagt - ich zitiere - ,,Verzö- gerungen und Blockaden bei der politischen Umset- Niemand möge vergessen, daß die Masse der ge- zung". Die Beispiele dafür sind Legion: bei der Ab- werblichen Einkünfte von natürlichen Personen, schaffung der Gewerbekapitalsteuer, bei der Reform nicht von Körperschaften versteuert wird. Eben diese der Arbeitsmarktförderung, bei der Deregulierung Personen brauchen steuerliche Entlastung mit der von Telekommunikation und jetzt wieder Gelber Steuerreform. Post, im Arbeitsrecht, bei den Ladenöffnungszeiten, (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU - (Lachen bei der SPD) Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Häuptling Seifenblase!) bei der Liberalisierung der Strom- und Gasmärkte - - So bedeutsam wie die Steuerreform sind Maßnah- (Widerspruch bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/ men zur Neuordnung der sozialen Sicherungs- DIE GRÜNEN und der PDS) systeme. Die Sozialbeiträge sollen wieder unter - Was gibt es denn da zu schreien? Das haben Sie 40 Prozent sinken. Auch dies ist gemeinsam verein- doch blockiert. bartes Ziel von Wi rtschaft, Gewerkschaften und Poli- tik. Der Sachverständigenrat sagt gleichzeitig - ich zi- tiere -: „Es ist einiges auf den Weg gebracht, mehr (Joseph Fischer [Frankfu rt] [BÜNDNIS 90/ als wir erhoffen konnten." DIE GRÜNEN]: Der Kerl ist die fleischge- wordene Standortkrise!) (Lachen bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN und der PDS) Auch bei der Reform der gesetzlichen Rentenversi- cherung bedarf es überparteilicher Zusammenarbeit. - Ich zitiere nur. Das ist Ihre eigene Schande, meine Richtig ist die Berücksichtigung der demographi- Damen und Herren, die Sie nichts haben bieten kön- schen Entwicklung in der Rentenformel. Für proble- nen außer Kritik - ohne Vorlage eines in sich schlüs- matisch halte ich die Vorschläge zu einer partiellen sigen Konzepts. Abschaffung der Versicherungsfreiheit für geringfü- gige Beschäftigungsverhältnisse. Das würde in der Was wir auf den Weg gebracht haben - ich nenne Schwarzarbeit enden. nur Beispiele -, sind umfassende Gesetzesänderun- gen im Bereich der Genehmigungsverfahren. Hierbei Auch die Familienkasse wirft kritische Fragen auf. haben dankenswerterweise die Länder mitgewirkt. Die Reform des öffentlichen Dienstrechts, die wir an- (Joseph Fischer [Frankfu rt] [BÜNDNIS 90/ gegangen sind, die erste Konsolidierung der gesetzli- DIE GRÜNEN]: Ja, die müßt ihr unter euch chen Rentenversicherung, die neuen Regelungen bei mal diskutieren!) der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, Das Thema der Umfinanzierung der sogenannten (Lachen bei der SPD) versicherungsfremden Leistungen - gegebenenfalls durch eine Erhöhung der Mehrwertsteuer - kann aus die Abschaffung der Vermögensteuer und die Re- wirtschaftspolitischer Sicht nicht von einer direkten form der Arbeitslosenhilfe - das sind Reformen, die und zurechenbaren Senkung der Beiträge zu den So- Realität geworden sind. zialversicherungen losgelöst werden. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU - (Rudolf Scharping [SPD]: Das wird immer Zurufe von der SPD) doller! - Joseph Fischer [Frankfu rt] [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Diskutiert das doch - Ich hoffe sehr, daß die Gespräche zur großen Steu- einmal in der Bundesregierung!) erreform zu vernünftigen Ergebnissen führen wer- den. Aber die Steuerreform darf im Ke rn nicht ver- Wir dürfen Reformen im System nicht verzögern. wässert werden. Zu nennen sind die Nettoentlastung Verschiebebahnhöfe vom Beitragszahler zum Steuer- 14082 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997

Bundesminister Dr. Günter Rexrodt zahler sind möglicherweise unumgänglich; aber sie nach 1998 auf hohem Niveau fortgesetzt. Die Bun- sind kein Allheilmittel, und sie können nicht am An- desregierung wird dazu im engen Kontakt mit den fang dieser Entwicklung stehen. Ländern, insbesondere mit den neuen Ländern, ein neues Konzept noch im ersten Halbjahr 1997 vorle- (Ernst Schwanhold [SPD]: Das ist das gen. Wende-Papier!) (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der Wir brauchen ein Umdenken auch in der Kohlepo- CDU/CSU) litik. Meine Damen und Herren, mehr Wachstum und (Joseph Fischer [Frankfu rt] [BÜNDNIS 90/ Beschäftigung in Deutschland erfordern Klarheit DIE GRÜNEN]: Aha!) über die gemeinsame europäische Währung - im In- Kohlesubventionen von 10 Mil liarden DM pro Jahr teresse der Unternehmen und der Bürger. Die Wäh- sind finanzpolitisch und gesamtwirtschaftlich nicht rungsunion verbessert europaweit die Bedingungen länger vertretbar. für Wachstum und Beschäftigung. Die gemeinsame Währung verringert Wechselkursrisiken, sie spa rt (Joseph Fischer [Frankfu rt] [BÜNDNIS 90/ Transaktionskosten. Sie muß und sie wird so stabil DIE GRÜNE]: Wir brauchen einen neuen sein wie die D-Mark. Dafür wird die Europäische Wirtschaftsminister!) Zentralbank in Frankfurt sorgen. Dafür sorgt der Sta- bilitäts- und Wachstumspakt der beteiligten Länder. Notwendig ist eine klare Linie über einen zeitlich ab- Der Bund wird alles daransetzen, die Kriterien von gestuften Subventionsabbau, über den Einigkeit be- Maastricht zu erfüllen. steht und der von regionaler Flankierung begleitet sein muß. Ich habe Verständnis für die Sorgen der Ich habe Verständnis für die Fragen der Menschen Menschen in der Region um ihren Arbeitsplatz. Aber in diesem Zusammenhang. Ich halte es aber für un- alle müssen wissen: Nur ein nachhaltiger Struktur- verantwortlich, mit den Ängsten der Menschen par- wandel kann ihnen eine Perspektive geben. Arbeits- teitaktische Spielchen zu treiben. plätze, für die der Steuerzahler jeweils 135 000 DM im Jahr aufbringen muß, sind auf Dauer nicht sicher. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU - Zuruf von der SPD: Wer macht das denn?) (Zuruf von der SPD: Geschwätz!) Derartige Spielchen wären eine neue Qualität, nein, Die Bundesregierung wird in allernächster Zeit einen ein neuer Tiefstand der politischen Auseinanderset- Finanzrahmen vorlegen, der die Förderung bis 2005 zung in unserem Land. Und das verhindert Investitio- regelt. Von den Revierländern erwarte ich, daß sie nen, das vernichtet Arbeitsplätze in Deutschland. sich ihrer regionalpolitischen Verantwortung stellen und einen höheren Eigenbeitrag als bisher überneh- Meine Damen und Herren, daß eine konsequente men. Neuorientierung der Wirtschaftspolitik, eine konse- quente Reformpolitik, erfolgreich sein kann, haben Bund und Länder tragen auch in der Kernenergie uns andere Länder vorgemacht, und zwar nicht nur eine große energiepolitische Verantwortung. Für die USA. In Neuseeland ist die Arbeitslosenquote eine Lösung bei der Steinkohle ist es unverzichtbar, dank einer weitgehenden Flexibilisierung der Ar- daß die betroffenen Länder - und auf Bundesebene beitswelt innerhalb weniger Jahre von 10 Prozent auf Sie, meine Damen und Herren von der Opposition - 6 Prozent gesunken. bei der Entsorgung radioaktiver Abfälle und auch bei der Behandlung der Kernenergieoption eine realisti- (Georg Pfannenstein [SPD]: So ein Stuß!) sche und pragmatische Haltung einnehmen. - Das ist so, informieren Sie sich! (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der In den Niederlanden haben Nullrunden in der Ta- CDU/CSU) rifpolitik und ein gestiegenes Angebot an Teilzeit- kräften, das auch wir brauchen, während der vergan- Gut, daß sich hier ein Wandel zum Besseren zumin- genen Jahre eine rückläufige Arbeitslosenquote be- dest abzeichnet. wirkt. Großbritannien ist dank moderater Lohnab- Nach wie vor großes Engagement erfordert der schlüsse zum größten Empfängerland ausländischer wirtschaftliche Aufbau der neuen Bundesländer. Zur Direktinvestitionen in Europa geworden. Auch Habenseite gehören do rt: die Zunahme der wirt- Schweden, ein Land mit traditionell stark ausgepräg- schaftlichen Leistungsfähigkeit, der Anstieg der In- tem Sozialstaat, hat das Haushaltsdefizit radikal ver- vestitionsquote auf rund 52 Prozent - das ist mehr, als mindert. wir in den alten Ländern je hatten -, die großen Ver- In all diesen Ländern - und auch in anderen - ist besserungen in der Infrastruktur. Aber auf der Soll- Reformpolitik gemacht worden, wie wir sie machen, seite stehen: die immer noch zu schmale industrielle wie wir sie wollen. Diese Länder beweisen, daß kon- Basis, der mit rund 30 Prozent viel zu hohe Lohn- sequente Reformpolitik, daß die Umwandlung unse- stückkostenüberhang gegenüber Westdeutschland, rer Gesellschaft dazu führen kann, die Arbeitslosen- die nach wie vor große Lücke zwischen der Nach- quote drastisch zu reduzieren. frage und der eigenen Wi rtschaftsleistung in den neuen Ländern. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Für Investoren ist wichtig zu wissen: Die notwendi- Auch in Deutschland werden marktwirtschaftliche gen Hilfen für die neuen Bundesländer werden auch Reformen die Investitions- und Beschäftigungsdyna- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997 14083

Bundesminister Dr. Günter Rexrodt mik anregen. Wer die notwendigen Reformen als ihrer Politik im Laufe des Jahres immer wieder be- Politik der sozialen Kälte abqualifiziert, macht es sich weisen zu müssen. schlichtweg zu einfach. Wir korrigieren Übersteige- rungen des Sozialstaats, und wir wollen den Sozial- (Joachim Hörster [CDU/CSU]: Kommen Sie staat damit in seiner Substanz sicherer machen. zur Sache!) (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Die Jahreswirtschaftsberichte dieser Bundesregie- rung sind immer mehr zu Dokumenten haltloser An- Meine Damen und Herren, wir müssen und wir kündigungen, sinnloser Versprechungen und fal- werden die Bedingungen dafür schaffen, daß die Un- scher Weichenstellungen geworden. Sonst sind sie ternehmen und die arbeitenden Menschen in nichts. Deutschland in einer radikal veränderten Welt mit- halten können. Das ist eine große, das ist eine (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- schwierige Aufgabe. Wirtschaft und Gewerkschaften ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - haben dabei ihren Teil der Verantwortung zu tragen. Joachim Hörster [CDU/CSU]: Heiße Luft!) Politiker aller Couleur haben dabei an herausragen- Was haben Sie uns, was haben Sie dem deutschen der Stelle mitzuwirken. Dabei wird es Kompromisse Volk alles gesagt: Führt die private Arbeitsvermitt- geben, aber den Grundsätzen, meine Damen und lung ein, dann gibt es eine wesentliche Belebung auf Herren, müssen wir treu bleiben. dem Arbeitsmarkt. Wir haben jetzt 4,7 Mil lionen Ar- Die Reformpolitik der Bundesregierung ist im Ke rn beitslose, und wenn Sie so weitermachen, wird es ohne Alternative. Wir werden sie durchhalten, und noch schlimmer werden. Der Kurs muß korrigiert sie wird wie anderswo am Ende ein Erfolg sein, werden. Was Sie dem deutschen Volk zumuten, hat die Grenze dessen überschritten, was man vertreten (Dr. Barbara Hend ricks [SPD]: Das stimmt kann. eben nicht!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ im Interesse neuer Arbeitsplätze und im Interesse der DIE GRÜNEN) Menschen. Sie haben gesagt, die Einschränkung der Lohnfort- Ich danke Ihnen. zahlung führe zur Entlastung bei den Bet rieben. Ei- (Anhaltender Beifall bei der F.D.P. und der nen unproduktiven sozialen Konflikt haben Sie her- CDU/CSU) aufbeschworen, sonst nichts. (Beifall bei der SPD) Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort hat jetzt der Fraktionsvorsitzende der SPD, Rudolf Scharping. Da, wo gemeinsame Verantwortung gefragt wäre, haben Sie den Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh- mern, den Betriebsräten, die täglich in den Bet rieben Rudolf Scharping (SPD): Frau Präsidentin! Meine und in den Verwaltungen beweisen, daß sie Verant- Damen und Herren! Ich hatte nicht geglaubt, daß die wortung übernehmen, daß sie die Situation des Lan- Mattheit, die Lustlosigkeit, die Ideenlosigkeit der Re- des verstanden haben, daß sie auch bereit sind, sogar gierungserklärung vom 31. Januar zu steigern wäre. berechtigte Ansprüche zurückzustellen, ins Gesicht (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ geschlagen und eine historische Chance zur Bildung DIE GRÜNEN - [F.D.P.]: Billig, eines wirksamen Bündnisses für Arbeit zerdeppert. billig, Herr Scharping!) (Beifall bei der SPD) Das, was Sie uns hier bieten, ist ein Dokument der Dann haben Sie uns hier erzählt: Wenn das Ignoranz Schlechtwettergeld abgeschafft wird, dann sparen (Beifall bei Abgeordneten der SPD) wir 800 Millionen DM. Das sind amtliche Begründun- gen der Bundesregierung. Über 200 000 Menschen vor den schweren Problemen, in denen sich Deutsch- haben Sie zusätzlich arbeitslos gemacht. Sie haben land befindet. die öffentlichen Kassen damit erneut beschädigt. (Joachim Hörster [CDU/CSU]: Machen Sie (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE doch mal einen konkreten Vorschlag! - GRÜNEN und der PDS) Dr. [CDU/CSU]: Tragen Sie doch Ihr Konzept vor!) Ich lasse es bei diesen drei Beispielen. Sie sind ja Legion. Man würde viel zuviel Zeit verbrauchen, Sie maskieren das als konsequente Haltung. Tat- wenn man alles aufzählen wollte, was diese Regie- sächlich aber wird nicht das eingelöst, was mit dem rung angekündigt hat, und die tatsächlichen Wirkun- Jahreswirtschaftsbericht eigentlich erreicht werden gen beschreiben würde, die daraus entstanden sind. sollte. (Zuruf von der SPD: Das ist nur heiße Luft!) Vor 30 Jahren, 1968, hat zum ersten- mal hier einen Jahreswirtschaftsbericht vorgelegt. Er Die letzten Jahreswirtschaftsberichte und die Re- hat im Deutschen Bundestag gesagt, der Be richt sei den des Herrn Bundeswirtschaftsministers waren ein Wagnis. Man hat jetzt gelernt, daß das tatsächlich schon eine Zumutung. Aber das, was Sie uns heute so ist. Die Bundesregierung gehe dieses Wagnis be- bieten, ist ein Dokument des Unwi llens, ja der Unfä- wußt ein, nämlich das Risiko, die Glaubwürdigkeit higkeit, aus eigenen Fehlern zu lernen, umzu- 14084 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997

Rudolf Scharping steuern, dem Land wieder Richtung und Orientie- Vermittlungsausschuß gekommen. Die Mehrheit die- rung zu geben. ser Vermittlungsbegehren ist mit CDU-Landesregie- rungen beschlossen worden. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne ten der PDS) (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS) Auf was soll man sich bei dieser Regierung verlas- sen, außer auf diesen Unwillen und diese Unfähig- Sie wissen doch selbst ganz genau, daß in Bayern, keit? Der Bundeskanzler gibt im Deutschen Bundes- in Baden-Württemberg, in Sachsen viele Christdemo- tag am 31. Januar eine Regierungserklärung ab. Ich kraten sitzen, die mit Ihrer Politik vollständig unzu- habe das Nötige dazu gesagt. Aber wenige Wochen frieden sind. später verkündet der Herr Fraktionsvorsitzende der (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE CDU/CSU in einem Interview der „Wirtschaftswo- GRÜNEN und der PDS) che" ganz nebenbei, daß wesentliche Teile dieser Re- gierungserklärung überhaupt nicht mehr gelten. Was Wenn Sie einmal in Ihre eigenen Reihen schauen, zählt denn jetzt, das Wo rt des Bundeskanzlers hier dann wissen Sie, daß Sie nicht mehr in der Lage sind, im Deutschen Bundestag oder das des Kanzlers im eine konsistente Politik zu formulieren. Nebenamt in der „Wirtschaftswoche"? Was ist jetzt die Orientierung für deutsche Politik? (Joachim Hörster [CDU/CSU]: Thema ver- fehlt! - Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: (Beifall bei der SPD) Jetzt kommt der Vorschlag!) Da stellt sich der Bundeswirtschaftsminister hier- Anstatt dafür zu sorgen, daß die deutsche Wi rt hin und kritisiert Vorschläge, die aus der eigenen -schaft sichere und verläßliche Rahmenbedingungen Bundesregierung kommen. Es ist insofern eine neue bekommt, gibt es ein ständiges Hin und Her. Anstatt Erfahrung, daß Sie Ihren Streit nicht mehr nur in den dafür zu sorgen, daß der Staat seine Fähigkeit behält, Gazetten austragen, sondern mittlerweile auch schon in die Zukunft zu investieren, anstatt sie immer stär- hier im Deutschen Bundestag. Was gilt denn jetzt? ker zu belasten und zu konsumieren, machen Sie das Das Wort von Norbert Blüm zur Rente oder das Wort Gegenteil dessen, was jeder kluge Mensch tun von Herrn Biedenkopf zur Rente oder das, was Herr würde, nämlich die Kräfte des Zusammenhaltes, die Rexrodt hier gesagt hat? Schaffen Sie doch einmal Kräfte für die Zukunft, die Kräfte für die Innovatio- Klarheit über Ihre eigene Politik! Denn sonst kann ja nen in diesem Land stärken. keine sinnvolle Debatte entstehen. Anstatt Recht und Ordnung auf dem Arbeitsmarkt (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ durchzusetzen, den täglichen Diebstahl und Miß- DIE GRÜNEN) brauch von Arbeit und Arbeitsmöglichkeiten zu un- terbinden, lassen Sie das alles laufen. Anstatt in Dann lese ich, daß aus den Reihen der Koalitions- Köpfe und Können zu investieren, hängen Sie noch parteien gesagt wird: Haushaltssperre ja, Haushalts- immer dieser alten Ideologie nach, man müsse mög- sperre jetzt noch nicht, Haushaltssperre vielleicht lichst viel in Beton und Boden investieren. Das ist später. Heute meldet sich einer, den ich ganz gut aber die falsche Strategie. kenne, und sagt, wir brauchen ein Haushaltssiche- rungsgesetz. Wissen Sie was? Mit dieser flackernden, (Beifall bei der SPD) irrlichternden, wankenden, hin- und herschwanken- Jetzt will ich Ihnen das noch einmal mit einigen den Politik verweigern Sie das, was wir am dringend- Beispielen belegen. Ich beginne mit dem Beispiel sten brauchen, nämlich verläßliche, klare Orientie- „Recht und Ordnung auf dem Arbeitsmarkt". Es ist, rung für die Schritte, die in die Zukunft gegangen Herr Bundeswirtschaftsminister, unerträglich, daß in werden müssen. einem Land mit fast 5 Millionen statistisch erfaßten (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Arbeitslosen gleichzeitig 6 Millionen Menschen au- GRÜNEN und der PDS) ßerhalb der Sozialversicherung arbeiten. Es ist uner- träglich, daß von diesen 6 Millionen Menschen Es mag ja sein: Wir haben sicher das eine oder an- 1,5 Millionen eine feste Tätigkeit und einen versiche- dere Standortrisiko, aber das größte Standortrisiko ist rungsfreien Job haben und damit noch nicht einmal die Politik dieser Bundesregierung, ist ihre Unfähig- zur Sozialversicherung beitragen. Sie wissen doch keit, wirksam etwas für die Zukunft unseres Landes ganz genau, wie heftig das in dieser Koalition um- zu tun. stritten ist. Die CDU weiß ganz genau, daß an diesen (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE miserablen Verhältnissen nichts geändert werden GRÜNEN und der PDS - Zurufe von der kann, weil die F.D.P. sagt, sie will es nicht - zum CDU/CSU) Schaden des Einzelhandels, zum Schaden der selb- ständigen Existenzen. - Ich habe Ihnen schon einmal erzählt, was von die- sen Blockadevorwürfen zu halten ist. Erstens glaubt (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- es niemand im deutschen Volk. ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS - Dr. (Lachen bei der CDU/CSU) [F.D.P.]: Kompletter Unsinn! Dann machen - sie es doch in Schwarzarbeit!) Zweitens ist es schlicht gelogen; denn von den 180 Gesetzentwürfen, die den Deutschen Bundesrat Ich sage Ihnen das in aller Deutlichkeit: Wir wer- erreicht haben, sind gerade einmal 15 Prozent in den den am Montag beginnen zu studieren, was zählt - Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997 14085

Rudolf Scharping das Überlebensinteresse der F.D.P. oder die Zu- Also: Recht und Ordnung auf dem Arbeitsmarkt kunftsinteressen Deutschlands. durchsetzen, sichere Rahmenbedingungen gewähr- leisten. (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS) (Joachim Hörster [CDU/CSU]: Herr Schar- ping, jetzt zur Sache!) Ich nenne Ihnen ein zweites Beispiel. Wo sind Ich sage Ihnen etwas im Zusammenhang mit den denn die Aktivitäten des Bundesarbeitsministers, der Gesprächen, die sich über die Steuerfragen ergeben Arbeitsverwaltung, um den täglichen Mißbrauch auf werden, und ich sage Ihnen etwas im Zusammen- Baustellen und anderenorts durch illegale Arbeit zu hang mit Lohnnebenkosten; denn wir werden das unterbinden? Da hat ein Sozialminister jetzt einmal nicht auseinanderreißen lassen. Sie haben den So- eine überraschende Sperrpunktaktion durchgeführt: zialstaat erst zum Lastesel Ihrer Fehler gemacht, und Man hat auf einer einzigen Baustelle über 100 illegal jetzt wollen Sie ihn zum Opfer Ihrer Fehler machen. Beschäftigte entdeckt. In Berlin wird ein Luxushotel Das werden Sie mit uns nicht erreichen. Ich sage Ih- gebaut. Allein auf dieser einen Baustelle hat man so- nen das in aller Deutlichkeit: Die Senkung der Lohn- fort über 30 illegal Beschäftigte entdeckt. Seriöse nebenkosten ist nicht etwa eine Frage der Umschich- Schätzungen sagen, es gebe mindestens 800 000 ille- tung, wie der Herr Bundeswirtschaftsminister meint, gale Beschäftigungsverhältnisse in Deutschland. oder der Umfinanzierung. Es geht darum, einen Miß- Tun Sie endlich etwas dagegen, denn daraus muß stand zu beseitigen, nämlich daß Deutschland von al- man ordentliche Arbeitsplätze machen, damit die Ar- len OECD-Staaten, von allen Industriestaaten auf der beitslosigkeit sinken kann! Erde seine Arbeitsplätze und seine Arbeitseinkom- men am stärksten belastet. Es ist doch idiotisch, daß (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne wir das am stärksten belasten, was wir am dringend- ten der PDS - Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: sten brauchen, nämlich Arbeitsplätze, Konsumnach- Sind wir für die Aufsicht zuständig?) frage, Menschen, die Vertrauen haben, daß ihre Ar- beit sich noch lohnt, und Tarifverhandlungen, bei de- Im Jahreswirtschaftsbericht und in der Rede von nen man weiß, daß man tatsächlich etwas erreicht, Herrn Rexrodt gab es dazu kein einziges Wo rt . und durch ständige Erhöhung der Sozialversiche- rungsbeiträge alles wegfressen, was wir für den Bin- Ich nenne Ihnen auch noch einmal das Stichwort nenkreislauf brauchen. der Überstunden, das der Bundeskanzler wegen des Ausschlusses der Verwechslungsgefahr in seiner An- (Beifall bei der SPD) sprache an Silvester - sonst besteht ja Verwechs- lungsgefahr - mittlerweile aufgegriffen hat. Das ist Also: Die Lohnnebenkosten müssen runter, die ver- auch gut so. Aber auch Sie wissen doch ganz genau, sicherungsfremden Leistungen raus aus der Sozial- daß verläßliche Politik nicht dadurch entsteht, daß versicherung. Dann können wir auch gerne streitig Sie immer plötzlich Dinge fordern, die Sie selbst hier diskutieren, wie man das finanziert - durch Abbau im Deutschen Bundestag mehrfach abgelehnt haben. von Bürokratie, durch Abbau von Subventionen und Was ist denn das für eine Politik, die übersieht, was durch einen fairen Lastenausgleich. in Deutschland im Gange ist? Sie haben das Angebot der SPD ausgeschlagen, die betrieblichen Substanzsteuern abzuschaffen, und (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne Sie haben den finanziellen Rahmen dafür durch die ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Abschaffung der p rivaten Vermögensteuer zerschla- gen. Das war ein unerträglich dummer Fehler. Ich könnte Ihnen viele solcher Beispiele nennen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- Ich komme zu einem anderen Stichwort, nämlich ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN zu dem Stichwort „sichere Rahmenbedingungen". und der PDS)

(Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Kom Sie sagen immer, Sie haben ein Konzept beim men Sie doch mal zur Sache! - Heiterkeit Steuersystem. Was ist denn das für ein Konzept, bei und Beifall bei der CDU/CSU und der dem Sie selber 44 Milliarden DM zusätzliche Haus- F.D.P.) haltslöcher zusammenrechnen? Andere, die ein biß- chen genauer nachrechnen, kommen zu 55 oder - Herr Kollege Schäuble, daß Sie ein begabter Pole- mehr Milliarden DM. Sie können doch nicht dem miker sind, haben Sie hier mehrfach bewiesen. Aber deutschen Volk erzählen, Sie hätten ein finanz- und eines sage ich Ihnen auch: Die Tatsache, daß Sie of- steuerpolitisches Konzept, fenkundig mit der Politik Ihres eigenen Kanzlers in (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Das ist wohl hohem Maße unzufrieden sind, daß Sie sich als An- wahr!) treiber verstehen und dabei erhebliche Konflikte auf- reißen, ist Ihr parteiinternes Problem. Das Elend ist wenn an dessen Ende ein neuerliches Haushaltsloch nur: Es wirkt sich für Deutschland negativ aus, daß von 50 Milliarden DM oder mehr steht, Sie Ihre Dinge nicht mehr zusammenhalten können. (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Ja! - - Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Das sind reine (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne Luftbuchungen!) ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS) zusätzlich zu denen, die wir schon haben. 14086 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997

Rudolf Scharping Ich weiß es doch ganz genau. Sie haben sich lange Ich sage klipp und klar, darüber unterhalten: Verkünden wir erst Entlastun- gen, und nehmen wir dann die SPD in Mithaftung für - sagt der Bundeskanzler - die Finanzierung dieser Entlastung? Es haben sich daß eine Erhöhung der Steuerlast nicht in Frage die durchgesetzt, die das so wollten - einer sitzt mir kommt. gegenüber. Die anderen, die ein geschlossenes Kon- zept haben wollten, das berechenbar auch die Bela- In der laufenden Diskussion muß daran erinnert stungen beinhaltet, haben sich nicht durchgesetzt. werden, daß die Steuererhöhungen 1990 allein Was ist dabei entstanden? den Zweck hatten, den Aufbau der neuen Bun- desländer zu finanzieren. Sie glauben doch nicht im E rnst, daß man hier von dem Pult im Deutschen Bundestag aus flexiblen Ein- Das ist leider falsch. Sie haben da den Sozialstaat satz von Arbeitskraft, lange Maschinenlaufzeiten, in- zum Lastesel gemacht, und Sie haben den Menschen telligente Organisation der Arbeit fordern und dann versprochen, es werde keine Steuererhöhungen ge- den Vorschlag machen kann, daß die 7,5 Millionen ben. Mir läuft es immer kalt den Buckel herunter, Menschen, die nachts, feiertags oder sonntags arbei- wenn Sie sagen, es gebe keine Steuererhöhungen ten müssen, vom Staat einen Strafzettel hinterherge- oder Sie wollten Steuersenkungen. Am Ende sind da- schickt bekommen. Wir werden dieser Strafzettelak- bei immer nur Erhöhungen herausgekommen. tion nicht zustimmen, und Sie haben keine Chance, ( [CDU/CSU]: Frechheit!) das durchzusetzen - keine! Ich will Ihnen zweitens sagen, was Sie den Rentne- (Beifall bei der SPD) rinnen und Rentnern gesagt haben: Dasselbe gilt für viele andere Bereiche, die ich Kein Rentner, kein Kranker, kein Arbeitsloser, schon mit Rücksicht auf die Zeit jetzt nicht aufzähle. kein Kriegsopfer, kein Sozialhilfeempfänger Aber ich will Ihnen ganz deutlich sagen: Auch da braucht Leistungskürzungen zu befürchten. wird die Frage geklärt werden, was zählt. Kommen wir zu einer wirksamen Entlastung insbesondere der Gilt das noch? Leistungsträger? Was ist das für eine Politik, die im- mer die Leistung in Deutschland beschwört und Die Rente bleibt tabu. dann den Menschen, die für die wi rtschaftliche Kraft Gilt das noch? unseres Landes die zentrale Bedeutung haben, den Leistungsträgern, den Facharbeitern, den Ingenieu- Die Renten sind von Sparmaßnahmen nicht be- ren, den Handwerksmeistern, eine wirksame Entla- troffen. Die Rente ist der Lohn für die Lebenslei- stung verweigert? stung eines Menschen; sie steht außerhalb der Debatte. Sie können uns doch nicht erzählen, daß es wirt- schaftspolitisch sinnvoll, finanzpolitisch verantwort- Gilt das noch? bar oder sozialpolitisch vertretbar sei, wenn die Ihre Rente ist und bleibt sicher. Leute mit Jahreseinkommen zwischen 60 000 und 100 000 DM am wenigsten entlastet werden und de- Meine Damen und Herren, das alles sind Zitate nen dann auch noch Strafaktionen wie Erhöhung der des, wie Sie es empfinden, wichtigsten Entschei- Mehrwertsteuer, Besteuerung der Zuschläge, Ein- dungsträgers der deutschen Politik. Ich sehe das an- griffe in die Rentenversicherung oder in die Alters- ders; aber das tut jetzt nichts zur Sache. versorgung drohen. Wenn der Bundeskanzler der Bundesrepublik Sie zerstören das Vertrauen in die Verläßlichkeit Deutschland in Dutzenden von Zitaten Sicherheit von Politik in Deutschland. Was Sie mit der Renten- suggeriert und seine Regierung zu Lasten der besteuerung oder mit den Eingriffen in die Lebens- Schwächeren in der Gesellschaft, der Rentnerinnen versicherung vorhaben, das ist ja auch bei Ihnen hef- und Rentner das präzise Gegenteil tut, dann zerstö- tig umstritten. Aber wir werden Ihnen helfen, das ein ren Sie das Wichtigste, was eine Demokratie braucht, bißchen zu lichten und diese Dummheiten zu verges- nämlich Glaubwürdigkeit, Verläßlichkeit und Gradli- sen. Sie haben keine Chance, die Arbeitnehmer zu- nigkeit. Sagen Sie den Menschen, was Sie wollen, sätzlich zu belasten, und Sie werden auch keine anstatt sie fortwährend über die wahren Absichten Chance bekommen, den Generationenvertrag erneut Ihrer Politik zu täuschen! zu beschädigen, wie Sie das offenkundig vorhaben. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- (Beifall bei der SPD) ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS) An dieser Stelle, bei der Frage nach sicheren Rah- menbedingungen, muß ich Ihnen ins Gedächtnis ru- Das gilt übrigens auch für ein drittes Feld. fen - ich sage das in aller Deutlichkeit -, daß keine (Joachim Hörster [CDU/CSU]: Können Sie Bundesregierung so häufig Ankündigungen in die einem unserer vielen Zuhörer erklären, was Welt gesetzt und das Gegenteil getan hat, keine Bun- desregierung so häufig die Menschen belogen und Sie denn machen?) betrogen hat - keine! Der Staat muß mehr in die Zukunft investieren. Sie (Peter Hintze [CDU/CSU]: Unverschämt!) haben doch behauptet, die private Arbeitsvermitt- lung bringe etwas. Ich habe hier die Aussagen von Ich will Ihnen das mit Zitaten deutlich machen. wichtigen Wirtschaftsverbänden; wir haben sie alle Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997 14087

Rudolf Scharping gebeten, zu Ihren Behauptungen Stellung zu neh- ihre Fähigkeit zur Bewahrung des sozialen Zusam- men. Nichts von dem, was Sie sagen, wird von den menhalts zu stärken, ruinieren Sie es und berufen Unternehmen oder von den Wi rtschaftsverbänden sich dann auch noch auf Ludwig Erhard. Der arme wirklich geteilt. Mann kann sich ja nicht mehr wehren. Deutschland ist mit Ihrer Politik im Bereich von Bil- (Beifall bei der SPD - Joachim Hörster dung und Wissenschaft, Forschung und Technologie [CDU/CSU]: Vor allem nicht gegen Ihre auf einen der hinteren Plätze abgerutscht. Sie betrei- Rede!) ben keine Zukunftsvorsorge mehr, weder beim Schutz der Umwelt noch beim Ausbau der Infrastruk- Ich sage Ihnen mit Blick auf Rentenversicherung, tur, weder bei der Modernisierung des Bildungswe- Arbeitslosenversicherung und Krankenversicherung: sens noch beim Wissenstransfer, schon gar nicht Sie sollten endlich bereit sein, den Sozialstaat von beim Risikokapital. Ich könnte viele solcher Stich- versicherungsfremden Aufgaben zu entlasten. punkte aufzählen. Schauen Sie sich einmal an, was Sie tun: Herr Seeho- fer schlägt eine Reform des Gesundheitswesens vor, Unter dem Strich steht folgendes: Meine Damen die diesen Namen in keiner Weise verdient. Herr und Herren, Sie haben wie keine Regierung zuvor Geißler kommt dann und sagt: Das geht so über- die Zukunftsvorsorge, die Sicherung der Zukunft, haupt nicht. - Es wird auch in diesem Punkt inner- vernachlässigt. Keine Regierung hat jemals die Auf- halb der Koalition gestritten. Es wird keine klare, zu- wendungen für Bildung und Wissenschaft, For- verlässige Politik mehr gemacht. schung und Technologie so stark zurückgeführt wie Sie. Auch dazu sage ich Ihnen in aller Deutlichkeit: Sie werden keine einzige Entscheidung mit uns bekom- (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Leider, lei men, wenn es nicht gelingt, den Sozialstaat wieder der!) auf das zu konzentrieren, was er sein muß, nämlich Keine Regierung hat jemals so wie Sie dafür gesorgt, Garant des sozialen Friedens, des sozialen Zusam- menhalts und Schutz gegen große Lebensrisiken. daß die öffentlichen Investitionen nicht mehr ausrei- chen. Wenn Sie das nicht tun, läuft da nichts. Deshalb ist es dringend notwendig, zwei Dinge (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Joseph miteinander zu verknüpfen: die st rikte Modernisie- Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- rung staatlicher Tätigkeit mit dem Ziel der Steige- NEN]) rung von Effizienz und Qualität und das Freischau- Meine Damen und Herren, ich will damit folgen- feln von Räumen, damit der Staat wieder in die Zu- des sagen: kunft investieren kann, zum Beispiel bezüglich des Ausbaus der Infrastruktur. Reden Sie doch einmal (Zurufe von der CDU/CSU: Kein Vorschlag! mit der Bauwirtschaft! Reden Sie einmal mit den ent- - Vorschläge!) sprechenden Verbänden! Reden Sie einmal mit den - Daß Sie nicht zuhören können, das habe ich schon vielen anderen! Sie wissen ganz genau, daß Ihre Poli- gemerkt. Wir legen Ihnen ständig Vorschläge auf tik die Investitionskraft der Gemeinden ruiniert hat, den Tisch: den Ländern Unsicherheiten beschert hat und daß der Rückgang der Investitionen des Bundes zugleich (Lachen bei der CDU/CSU und der F.D.P.) eine Steigerung der Arbeitslosigkeit mit bewirkt hat. zum Abbau versicherungsfremder Leistungen, zur - Also: Strikte Modernisierung staatlicher Tätigkeit Umfinanzierung der Sozialversicherung, zur Reform im Interesse von Effizienz und Qualität und mode rne des öffentlichen Dienstes, zur Gewährleistung siche- Investitionstätigkeit gehören zusammen. rer Rahmenbedingungen usw. - fortwährend! Ich will Sie daran erinnern: Wir haben uns mit Ih- (Beifall bei der SPD) nen mehrere Male streitig auseinandersetzen müs- sen. Ein aktuelles Beispiel ist die Reform des Dienst- Die Tatsache, daß Sie ignorant sind, daß Sie alles ab- rechtes. Wenn im öffentlichen Dienst das Prinzip der lehnen, was an Vorschlägen kommt, das beweist nur, Leistung nicht auch in der Besoldung st rikt durchge- daß Sie unfähig geworden sind, sich wirksam in der setzt wird, wenn Sie nicht bereit sind, projektorien- Sache voranzubewegen. Die Vorschläge sind Legion, tiert, zielorientiert und mit Spitzenfunktionen auf Ihre Blockade auch. Wenn es überhaupt jemanden Zeit den öffentlichen Dienst in diesem Teil seiner gibt, der in Deutschland aus Gründen der Ignoranz Strukturen zu modernisieren, dann werden Sie nie und der Ideologie Besitzstandwahrung und Blockade mehr die Kraft haben, in die Zukunft zu investieren. und Belastung der Zukunft der Jüngeren und der Fa- milien betreibt, dann ist es diese Koalition. (Beifall bei der SPD) Ich sage Ihnen das, weil Sie hier völlig halbherzig Ihre Politik ist am Ende; Sie sind mit Ihrem Latein verfahren. am Ende. Sie gehören aus dem Amt, und zwar so schnell wie möglich! Das vierte ist: Sie beschädigen, anstatt es zu stär- ken, das, was wir am dringendsten brauchen, näm- (Anhaltender Beifall bei der SPD - Beifall - lich den sozialen Zusammenhalt. Das ist eigentlich beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) kurios, in der Sache aber unverantwo rtlich. In einer Zeit, in der es wie selten zuvor darauf ankommt, das Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Es spricht jetzt der Vertrauen der Menschen in den sozialen Frieden und Kollege Dr. Gerhard Stoltenberg. 14088 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997

Dr. Gerhard Stoltenberg (CDU/CSU): Frau Präsi- ten beträgt im Schnitt zur Zeit weniger als 30 Prozent dentin! Meine Damen und Herren! Bei Ihrer Rede, der vergleichbaren amerikanischen Firmen und we- Herr Scharping, erinnerte ich mich daran, daß viele niger als 50 Prozent derer in den Niederlanden. Na- Jahre lang Debatten über den Jahreswirtschaftsbe- türlich ist das ein Punkt für Betriebsentscheidungen richt ein Höhepunkt der anspruchsvollen Diskussion im Hinblick auf den drohenden und sich vollziehen- in Deutschland waren. den Export von Arbeitsplätzen in andere westliche Länder, den wir ändern müssen, wenn wir die Be- (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU) schäftigungsprobleme in Deutschland endlich mei- Seit den ausgehenden 60er Jahren haben zum Bei- stern wollen. spiel Karl Schiller - - (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Zuruf von der SPD: Nostalgie!) In den letzten Tagen hat die sozialdemokratische - Nein, es ist keine Nostalgie, über Karl Schiller zu Führung ihre Kritik an der geplanten Senkung des reden und Ludwig Erhard. Es ist hochaktuell. Sie Höchststeuersatzes bei der Einkommensteuer von könnten von beiden viel lernen. jetzt 53 Prozent verschärft. Ihr ist offenbar nicht auf- gefallen - trotz der Sozialistischen Internationale -, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) daß vor zehn Tagen in London das Programm einer Seit den ausgehenden 60er Jahren haben Karl Schil- erneuerten modernen zur Wahl im Mai ler, und andere beachtliche vorgelegt wurde. Ein Kernstück dieses Programms Maßstäbe gesetzt. In den letzten Diskussionen erle- von Tony Blair und Gordon Brown ist die Aussage: ben wir von der SPD zunehmend Kritik ohne Alterna- Der Spitzensatz bei der Einkommensteuer von tiven, ein Übermaß an billiger Polemik, Herr Schar- 40 Prozent darf auf keinen Fall erhöht werden. Die ping, britischen Labour-Politiker haben zur Begründung ausgeführt, daß die tüchtigen, qualifizierten und er- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) folgreichen Mitbürger nicht überlastet werden dür- und auch ein Bestreiten von Tatsachen. Ich glaube, fen. Das liegt im allgemeinen Interesse. Herr Scharping, daß Sie in dieser kritischen Zeit die Diese Einsicht einer modernen sozialdemokrati- Erwartungen der Menschen in Deutschland an eine schen Parteiführung mit großer Zustimmung in ihrer solche Diskussion heute ebenso falsch eingeschätzt Wählerschaft ist von den reaktionären Parolen des haben wie damals im November 1995 die Stimmung Sozialneids meilenweit entfernt, Ihrer Delegierten auf dem Bundesparteitag in Mann- heim. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der CDU/CSU - Ingrid Mat mit dem Lafontaine, Scharping und Co. immer noch thäus-Maier [SPD]: Das ist unter Ihrem meinen, in Deutschland Menschen beeindrucken zu Niveau! - Weitere Zurufe von der SPD und können. Die Arroganz, mit der Sie hier aufgetreten dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sind, ist unangebracht, lieber Herr Scharping. - Nein, nein, ich kann das nach diesen ganz un- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) glaublichen Entgleisungen viel schärfer sagen: Mit gefälschten Zitaten dem Bundeskanzler Lügen vor- Versuchen Sie erst einmal, auf den Stand der zuwerfen, ist eine Stillosigkeit ohnegleichen. anspruchsvollen wirtschaftswissenschaftlichen und finanzwissenschaftlichen Diskussionen und der Ent- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - wicklungen bei fortschrittlichen sozialdemokrati- Widerspruch bei der SPD - Joseph Fischer schen Parteien in Westeuropa zu kommen. [Frankfurt ] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Frau Präsidentin! Welche Zitate sind denn (Joseph Fischer [Frankfu rt] [BÜNDNIS 90/ gefälscht worden? Das ist ja unglaublich!) DIE GRÜNEN]: Ein alter Wilder!) Ich will einmal Ihren Antrag, den Sie eingebracht - Herr Kollege Fischer, auch bei Ihnen fällt mir eini- haben, auf die Realität hin untersuchen, jedenfalls ges ein. Aber ich bin zur Zeit dabei, mich mit Herrn mit einem Beispiel. Da lesen wir auf Seite 2 pauschal, Scharping auseinanderzusetzen. Das tue ich mit der- daß wir „Unternehmensgewinne in nie gekannter selben Offenheit, mit der auch Sie zu sprechen belie- Höhe" hätten. Das schreiben Sie in einer Zeit, wo ben. auch viele Ihrer Kollegen ständig auf die kritische (Joseph Fischer [Frankfu rt] [BÜNDNIS 90/ Lage im Mittelstand und in der Bauwirtschaft hinwei- DIE GRÜNEN]: Ich bitte Sie!) sen und wo die Zahl der Konkurse zu hoch ist. Die betroffenen Mittelständler und Arbeitnehmer müs- Herr Kollege Scharping, Sie haben auf Mißstände sen sich verhöhnt fühlen, wenn die Sozialdemokra- auf dem Arbeitsmarkt hingewiesen. Da ist manches ten nichts weiter dazu zu bieten haben. zu sagen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Joseph Fischer [Frankfu rt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Oh, oh!) Wenn Sie vielleicht meinen, damit seien die „Gro- - ßen" angesprochen, dann will ich auf einen Sachver- Es ist doch so, daß eine sehr wichtige Reform, die halt verweisen, der auch sehr wichtig ist, wenn wir diese Koalition relativ spät auf den Weg gebracht hat, über Wettbewerbsfähigkeit und Investitionen reden: in einem Punkt im Bundesrat von der SPD nicht mit- Die Umsatzrendite der deutschen Aktiengesellschaf- vollzogen wurde. Wir haben eine notwendige Re- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997 14089

Dr. Gerhard Stoltenberg form der Sozialhilfe beschlossen. Aber an Ihren Par- Einkommensgruppen werden wir im Rahmen der teifreunden im Bundesrat ist die Verwirklichung ei- Steuerreform reden. Der Vorschlag, den Einkommen- nes Abstandsgebots von 25 Prozent gescheitert. steuersatz bei den niedrigsten Einkommen auf 15 Prozent zu senken, hat ja auch bei Ihnen Zustim- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) mung gefunden. Ich mache Sie nur darauf aufmerksam: Wenn wir Der Hauptpunkt aber ist ein anderer, Frau Kolle- wirklich Arbeitnehmerinteressen diskutieren, wenn gin, das ist Ihnen bekannt. Wir führen eine Debatte wir die in manchen Bereichen immer noch fehlende über Parteigrenzen hinweg, ob es richtig war, in der Motivation zur Arbeit trotz hoher Arbeitslosigkeit Tarifpolitik die sogenannten Leichtlohngruppen ab- verbessern wollen, dann müssen jede Frau und jeder zuschaffen, und ob wir neben all dem anderen nicht Mann, die arbeiten, auch wissen, daß es ein deutli- wieder größere Anreize in der Tarifpolitik dafür ches Abstandsgebot gegenüber jenen in derselben schaffen müssen, daß auch einfachere Arbeiten wie- Lebenslage gibt, die angebotene Arbeit nicht anneh- der besser und umfassender von deutschen Mitbür- men. gern angenommen werden. Da sehe ich das Haupt- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) problem; um es hier kurz zu beantworten. Wenn Sie heute hier erklären könnten oder einer (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Ihrer Ministerpräsidenten, zum Beispiel Herr Schrö- Meine Damen und Herren, wir haben eine Arbeits- der, sagen könnte, daß wir diese Korrektur gemein- losigkeit, die uns alle herausfordert. Wir müssen sie sam machen, dann hätten wir im Interesse der arbei- freilich in der europäischen Dimension sehen. Die Ju- tenden Menschen einen Ertrag. Es kann nicht so wei- gendarbeitslosigkeit in Deutschland ist mit tergehen, daß wir bei einer weit überhöhten Arbeits- 10 Prozent zu hoch, in Italien und Frankreich beträgt losigkeit weit über eine Million legale Kontingentsar- sie allerdings 25 Prozent und in Spanien über beiter aus Nicht-EU-Ländern haben und weit über 35 Prozent. Zugleich haben wir, worauf Herr Rexrodt eineinhalb Millionen illegale. Das müssen wir im In- schon hingewiesen hat, diesen anhaltenden, unge- teresse der deutschen und ausländischen Arbeitneh- mein eindrucksvollen Aufbau neuer Beschäftigung mer ändern, die hier legal arbeiten und bei uns zu in den USA mit über 10 Millionen Arbeitsplätzen seit hohe Steuern und Abgaben zahlen. dem Amtsantritt von Clinton vor wenig mehr als vier (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - Jahren vor Augen. Zurufe von der SPD) (Dr. Uwe Küster [SPD]: Aber was für wel- Aber es gab in den letzten Monaten auch einige che!) beachtliche Beiträge sozialdemokratischer Politiker - Das sind qualifizierte und weniger qualifizierte Tä- zu diesen Themen, allerdings mehr in Reden außer- tigkeiten. halb dieses Hauses als in Diskussionen hier. Ich will das hier etwas verdeutlichen. (Zuruf von der SPD: Arm trotz Arbeit! - Gegenruf des Abg. Dr. Wolfgang Gerhardt Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Kollege Stol- [F.D.P.]: Unsinn! Warum gehen denn die tenberg, gestatten Sie vorher noch eine Zwischen- deutschen Hochschulabsolventen dahin?) frage zum Vorherigen? - Herr Kollege, wir dürfen doch nicht davon ausge- hen, daß alle Menschen bald nur in der Computer- Dr. Gerhard Stoltenberg (CDU/CSU): Ja, Frau Prä- wissenschaft und im öffentlichen Dienst und auf sidentin, wenn das nicht auf meine Redezeit ange- Grund eines Examens gehobene Tätigkeiten finden. rechnet wird. Wir müssen auch Arbeiten für andere anbieten. Wir brauchen wieder ein breiteres Spektrum in der Ar- beitswelt. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Nein. - Frau Mat- thäus-Maier. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Wir müssen bestimmte Fehler, die in der Bildungspo- Ingrid Matthäus-Maier (SPD): Herr Kollege Stolten- litik und in der Bildungsberatung seit 1970 gemacht berg, können Sie mir nicht zustimmen, daß das Kern- wurden, wieder korrigieren, wenn wir die Beschäfti- problem des Lohnabstandsgebotes - denn da gibt es gungsprobleme meistern wollen. Deswegen ist es ein Problem - nicht etwa eine zu hohe Sozialhilfe, notwendig, den Ursachen für diese großen Erfolge in sondern ein zu niedriger Grundfreibetrag ist, weil Amerika ernsthafter nachzugehen. Dazu gehören heute das Existenzminimum der arbeitenden Men- niedrigere Steuern und Abgaben, dazu gehören bes- schen schon viel zu früh besteuert wird, und daß sere Unternehmenserträge - ich sagte das schon -, durch Ihre Blockadepolitik im letzten Winter, als wir dazu gehört viel mehr Flexibilität in der Lohnfin- den Grundfreibetrag erhöhen wollten - erinnern Sie dung, als wir es bisher in Deutschland erreicht ha- sich? - und Sie es verhindert haben, das Problem des ben. Lohnabstandsgebotes erst verschärft worden ist? Es gibt Fortschritte, das ist wahr; (Beifall bei der SPD) (Zuruf von der SPD: Bei wem?) Dr. Gerhard Stoltenberg (CDU/CSU): Über den auch in den Tarifverträgen dieses Jahres gibt es Fo rt Grundfreibetrag und die Besteuerung der untersten -schritte. Sie kommen aber sehr spät und bei den 14090 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997

Dr. Gerhard Stoltenberg großen Gewerkschaften mit ganz unterschiedlichem - Ich gehe ja auf die Frage ein, Herr Kollege. Der Un- Tempo. Erfolgreicher auch in der Beschäftigungsent- terschied zwischen brutto und netto ist immer größer wicklung waren jene Sektoren, in denen man sich, geworden. wie zum Beispiel die IG Chemie, sehr früh auf Kooperation, Verständigung und flexible Lösungen (Bundesminister Dr. Theodor Waigel: Man eingelassen hat. Ich sage das auch gerne in Anerken- muß ihn kennen!) nung des Kollegen Hermann Rappe, der wirklich ein Dabei spielen natürlich die steigenden Sozialversi- Bahnbrecher des Fortschritts in der Tradition von cherungsbeiträge eine wesentlich größere Rolle als und anderen war. die wachsenden Belastungen auf Grund der Steuer- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) politik. In dieser Analyse können wir uns wohl einig sein. Insofern ist die Frage nicht einfach mit Ja oder Aber es gibt andere, die sich sehr spät umorientiert Nein zu beantworten. haben. Daß die konfrontative Politik unter Steinküh- ler, von dem heute keiner mehr gerne redet, aber Wir haben in den Jahren 1983 bis 1990 immerhin auch anfangs unter Zwickel, Arbeitsplätze im Metall- erreicht, die Steuer- und Abgabenquote ein Stück bereich gekostet hat, ist auch eine Tatsachenfeststel- zurückzuführen und damit eine gewisse Entlastung lung. Es ist höchste Zeit, daß sich auch diese große auch bei den Arbeitnehmern und nicht nur bei Un- Gewerkschaft so umstellt, wie es andere bereits bes- ternehmern zu erreichen. Zweitens muß man sagen, ser vorgemacht haben. daß es Jahre gibt, für die Ihr Hinweis zutrifft. Aber es gab in den 80er Jahren auch Zeiten, in denen wir (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Reallohnsteigerungen erlebt haben. Man muß also differenzieren. Vor allem aber haben wir natürlich Zu Karl Schillers Grundüberzeugung - der konnte das Problem, daß in den neuen Ländern die Entwick- ordnungspolitisch denken, Herr Scharping - gehörte, lung nach 1991 ganz anders gelaufen ist, als Sie eben so hat er es hier im Bundestag gesagt, daß die Ver- unterstellt haben. Das ist Ihnen auch bekannt. Inso- antwortung für die Arbeitsplatz- und Arbeitsmarkt- fern möchte ich mich hier auf diese wenigen Anmer- entwicklung in erster Linie in die Zuständigkeit der kungen beschränken. Tarifvertragsparteien fällt. Man kann nicht zunächst gegen vernünftige Lösungen demonst rieren und (Ernst Schwanhold [SPD]: Das war nicht dann, wenn die Krise kommt, nach Bonn, Düsseldorf viel!) oder Stuttgart marschieren und den Staat anklagen. So ist nicht die Arbeitsteilung in einer freiheitlichen - Darüber könnte man einen Vortrag halten; das wis- und sozialmarktwirtschaftlichen Ordnung. sen Sie auch. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Die vorrangige Verantwortung der Tarifpartner für die Beschäftigung ist offenkundig. Aber auch wir als Gesetzgeber sind natürlich gefordert, wenn es um Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Dr. Stolten- die Lohnnebenkosten geht. 50 Prozent sind durch berg, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage der Gesetze bewirkt. Hier, Herr Scharping, ist der eigent- Kollegin Skarpelis-Sperk? liche Widerspruch zu Ihrer aphoristischen Rede - ich will sie einmal so bezeichnen; so hat sie jedenfalls auf mich gewirkt - ganz klar zutage getreten: Man (CDU/CSU): Eine zweite Dr. Gerhard Stoltenberg kann nicht die Absenkung der Lohnnebenkosten for- Zwischenfrage von Ihnen, Frau Kollegin, gestatte ich dern und zugleich die dafür notwendigen Initiativen gerne noch. der Bundesregierung unter den Parolen des angebli- chen Sozialabbaus so massiv in Frage stellen, wie Sie Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk (SPD): Herr Kollege das getan haben. Stoltenberg, da Sie die gewerkschaftliche Tarifpolitik ansprechen, will ich Sie fragen: Ist Ihnen bekannt, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) daß in den letzten 15 Jahren die Reallohnentwick- Es gibt sozialdemokratische Kollegen, die in ihren lung hinter dem Produktivitätszuwachs geblieben ist Betrachtungen richtigere Akzente als Sie setzen. Ich und daß sich infolgedessen die Einkommensvertei- habe mit großem Interesse gelesen, was Hans-Ulrich lung zu Lasten der Beschäftigten und zugunsten der Klose, Vizepräsident unseres Hohen Hauses und frü- Unternehmen entwickelt hat? Würden Sie eine sol- herer Bürgermeister in , nach Presseberich- che Politik nicht als eine außerordentlich mäßige ten am 9. Januar in Frankfu rt in einer bemerkens- Lohnpolitik bezeichnen? werten Rede ausgeführt hat. Ich zitiere einmal die (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne Kernsätze: „Ein radikaler Umbau des Sozialstaats ist ten der PDS) erforderlich. Die jetzige Rentenformel ist so nicht haltbar. Die Entlastung von versicherungsfremden Leistungen reicht nicht aus." Besonders zu beachten Dr. Gerhard Stoltenberg (CDU/CSU): Das Problem ist Kloses Hinweis auf die einschneidenden Folgen nicht nur der letzten 15 Jahre, sondern schon seit An- der demographischen Veränderungen, die nach mei- fang der 70er Jahre ist, Frau Kollegin, daß der Unter- ner Überzeugung in fast allen Debatten in Deutsch-- schied zwischen brutto und netto immer größer ge- land bisher nicht genügend einbezogen werden. worden ist. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - (Zuruf von der SPD) Bundeskanzler Dr. : Sehr gut!) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997 14091

Dr. Gerhard Stoltenberg Wir haben in Deutschland viele alte Tabus gebro- sen. Das ist wie immer eine Übertreibung, aber da- chen. „Wir" heißt: die deutsche Gesellschaft und die hinter steckt doch ein ernstes Problem. öffentliche Meinung. Im Tabuzerstören waren wir Deutschen groß. Aber es gibt neue Tabus. (Joseph Fischer [Frankfu rt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Aha!) (Joseph Fischer [Frankfu rt] [BÜNDNIS 90/ Ich lese, daß wir diese Diskussion nicht nur in der DIE GRÜNEN]: Wer erzählt denn, die Rente Union, gerade unter unseren jungen Freunden, ha- ist sicher?) ben. Ich lese in manchen Beiträgen, daß sie bei Ihnen - Was? anfängt, und zwar die Diskussion darüber, ob und wieweit eine zahlenmäßig sehr starke und erfreuli- (Joseph Fischer [Frankfu rt] [BÜNDNIS 90/ cherweise länger lebende ältere Generation eine we- DIE GRÜNEN]: Er hat doch 14 Jahre sentlich schmalere junge Generation mit Beiträgen erzählt, die Rente ist sicher!) überlasten kann. - Aber Herr Kollege Fischer, das ist kein ernstzuneh- Ich sage Ihnen ganz deutlich: Hier gibt es eine mender Zwischenruf. Wir reden über die Sache. Len- Grenze, nicht nur eine ökonomische Grenze als ken Sie nicht ab! Ich gebe Ihnen ein paar Stichworte, Standort- und Investitionsfaktor, sondern auch eine auf die nachher einzugehen sich lohnt. Jedenfalls Grenze im Verhältnis der Generationen zueinander. rege ich das einmal an. Wenn wir uns darüber verständigen könnten, müßte die Diskussion unter uns über die Einzelheiten der (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU Rentenreform einfacher sein, als sie gegenwärtig ist. und der F.D.P.) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Wir haben die Situation, daß seit Jahren auf 100 Todesfälle noch 60 Geburten kommen. Herr Scharping, wir haben zur Zeit in der Tat eine nicht ganz harmonische oder, anders gesagt: etwas (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ disharmonische Debatte in der Union. DIE GRÜNEN]: Ihr Bundeskanzler hat immer erzählt: Die Renten sind sicher!) (Ernst Schwanhold [SPD]: Wie paßt das zu den Bemerkungen von Rexrodt!) - Ich verstehe Sie überhaupt nicht. Sie waren schon einmal viel besser in Ihren Zwischenrufen. - Ich sage es nur zu Ihnen. - Daß Sie eine solche Dis- kussion mit Vergnügen quittieren, ist Ihnen unbe- (Joseph Fischer [Frankfu rt] [BÜNDNIS 90/ nommen. Auch Sie werden diese Diskussion noch DIE GRÜNEN]: Er hat es doch immer bekommen. Sie sind allerdings in Ihrer Bereitschaft, erzählt!) darüber zu diskutieren, noch ein Stück zurück. Das ist mein Eindruck. - Sie waren schon einmal viel besser in Ihren Zwi- schenrufen, Herr Fischer. Heute bringt das in dieser (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Art nichts. Die alten Reden des Kollegen Dreßler passen einem (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - Teil Ihrer jungen Freunde nicht mehr. Sie wissen, daß Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ die Probleme tiefer liegen. DIE GRÜNEN]: Seit 14 Jahren hat er (Dr. Wolfgang Gerhardt [F.D.P.]: Das weiß er erzählt: Die Renten sind sicher!) auch selber!) - Mir ist die Sache, über die ich mit Ihnen reden Ich sage hier für mich, aber auch für viele meiner möchte, zu wichtig. Freunde den Satz: Wir sind nicht am Ende der De- (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ batte. Beitragsstabilität in der Rentenversicherung DIE GRÜNEN]: Deswegen kriegen Sie das muß in der Schlußabwägung eine besonders große mit solchen Sottisen nicht weg!) Priorität bekommen, und das hat einige Konsequen- zen für die Einzelheiten. - Nein, nein. Ich möchte hier wirk lich über die Sache reden, weil sie für unsere weitere Diskussion viel- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) leicht bedeutsam ist. Im übrigen will ich Ihnen doch noch einmal sagen: Wir haben seit Jahren auf 100 Todesfälle noch 60 Die ganze Sache mit dem Sozialabbau ist doch eine schlimme Geschichte Geburten. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Joseph Fischer [Frankfu rt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: „Die Renten sind sicher", - hören Sie zu Ende -, was die Redlichkeit der Dis- hieß es doch immer!) kussion anbetrifft. Ich habe meine Heimatzeitung, die „Schleswig-Holsteinische Landeszeitung", die Über die sozialen Konsequenzen wird zuwenig gere- größte Zeitung in Schleswig-Holstein in einer großen det. Jetzt kommen die großen, führenden Zeitungen, Gruppe, vom 20. Januar mitgebracht. Schlagzeile:- Zeitschriften und Magazine mit Schlagzeilen, die uns Kommunen im Norden schlagen Alarm - Das Land alle nachdenklich stimmen müssen. Diese Printme- kürzt Zuschüsse in allen Bereichen. dien reden von dem angeblich drohenden Generatio- nenkampf; wir alle haben diese Schlagzeilen gele (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Hört! Hört!) 14092 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997

Dr. Gerhard Stoltenberg Dann werden genannt: Vereine, Sozialverbände, Deutschen Bundestag noch einmal einiges sagen: Kindergärten, Alterseinrichtungen und Privatschu- Ein zu großer Abstand zwischen dem unteren Steuer- len. Das ist die Politik der rot-grünen Koalition unter satz in Höhe von 15 Prozent, dem Satz von 35 Prozent, Frau Simonis in . über den wir uns vielleicht einigen können, und dem normalen Einkommensteuersatz wirft schwerwie- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - gende verfassungsrechtliche Probleme auf. Widerspruch bei der SPD - Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: ( [CDU/CSU]: Sehr richtig! - Sie waren auch schon mal besser, mein Lie Dr. Wolfgang Gerhardt [F.D.P.]: Richtig!) ber!) Gegen einen zu großen Abstand gibt es auch einen Herr Schröder kann ja einmal erläutern, ob er das in ganz praktischen Grund - Sie sollten ihn in der Ein- Niedersachsen anders macht. Es kann aber nicht an- zeldebatte ernst nehmen -: Wer wie Lafontaine bei gehen, daß Frau Simonis, Herr Lafontaine und an- einem Höchststeuersatz von 53 Prozent bleiben oder dere so auftreten wie Sie hier und uns des Sozialab- diesen nur geringfügig absenken will, muß doch baus bezichtigen, zur selben Zeit aber im eigenen endlich erkennen, daß damit nichts gegen die rasant Land hart vor allem die freiwilligen sozialen Leistun- zunehmende legale Steuervermeidung auf Grund gen in einer zum Teil kaum noch nachzuvollziehen- der Freizügigkeit in der Europäischen Union getan den Weise beschneiden. Das ist intellektuell unred- wird. lich, das ist politisch unglaubwürdig. Sie sollten Schluß damit machen, meine Damen und Herren. (Dr. Wolfgang Gerhardt [F.D.P.]: Die bleiben noch nicht einmal im Saarland!) (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Darüber gibt es mittlerweile Schlagzeilen in der Bou- levard-Presse. Dafür brauchen Sie keine Fachzeitun- Natürlich müssen wir die Unternehmensteuern gen zu lesen. senken. Ich könnte weitere Sozialdemokraten zitie- ren, aber meine Redezeit ist allmählich zu Ende. (Heiterkeit bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der SPD) (Zuruf des Abg. Peter Dreßen [SPD]) Ich denke nicht nur an diese unsägliche Frau Schrei- - Ich kann mir vorstellen, daß Sie es begrüßen, wenn nemakers. Die hochverdienenden und geschätzten Sie das nicht mehr anhören müssen. Aber das ist viel- Bundesligaspieler aus Köln leicht doch ganz nützlich. (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Wer regiert (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) denn?) Es gibt eine Reihe sozialdemokratischer Politiker, - wir haben in der Europäischen Union Freizügig- die diese Meinung teilen: Die Unternehmensteuern keit, verehrte Frau Kollegin; das hat mit dem Regie- sind zu hoch bei offenen Märkten und freiem Wett- ren nichts zu tun - gehen legal nach Belgien und spa- bewerb über unsere Grenzen hinaus. ren dort unglaubliche Beträge. Herr Flick fühlt sich (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: So ist in Österreich bei einem sozialistischen Finanzmini- es!) ster steuerlich viel wohler als bei uns. Das ist völlig legal. Ich möchte noch einmal an Sie appellieren, zum er- stenmal im Plenum: Geben Sie sich einen Stoß, und (Heiterkeit bei der CDU/CSU, F.D.P. und stimmen Sie morgen der Abschaffung der Gewerbe- der SPD - Zuruf von der SPD) kapitalsteuer zu. Tun Sie es wirklich! - Sicher, wir wollen ja die Steuersätze senken, damit (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) diese Differenzen beseitigt werden. Wir werden das Koppelgeschäft mit der Vermögen- Am stärksten hat mich ein A rtikel in der „Wirt- steuer nicht mitmachen. Sie können reden, was Sie schaftswoche" im vergangenen Herbst beeindruckt, wollen. Vranitzky als sozialistischer Bundeskanzler in dem detailliert geschildert wurde, wie in den ver- und Lacina als sozialistischer Finanzminister haben schiedenen Schweizer Kantonen die Steuersätze so mit denselben Gründen, wie wir sie vorbringen, die extrem niedrig ausgestaltet werden, daß mittlerweile Vermögensteuer in Österreich abgeschafft. Wir wer- Tausende von hochverdienenden Deutschen do rt ih- den sie nicht wieder einführen, weil Sie uns hier in ren Hauptwohnsitz nehmen. Das ist völlig legal. Da eine erpresserische Situation bringen wollen. Das ge- es Ihnen nicht gelingen wird - sogar Herrn Gysi mit schieht nicht. seiner beachtlichen Rhetorik nicht -, unsere Nach- barn zu überzeugen, daß sie wieder sozialistische (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Steuersätze einführen, gibt es doch für uns nur einen Wir wünschen eine Verständigung über die Eck- Weg, diesen legalen, aber unerträglichen Zustand zu werte der Steuerreform. Bei den Steuersätzen auf ge- beenden, nämlich unsere Steuersätze für alle abzu- werbliche Einkünfte in Höhe von 35/25 Prozent gibt senken. Einen anderen Weg gibt es nicht. es gewisse vorsichtige, optimistische Erwartungen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) - Zu dem Vorschlag des Bundesfinanzministers - einem nach meiner Meinung insgesamt Ich hätte gerne noch einiges zur Globalisierung sehr positiven Gesamtkonzept, nämlich Steuersätze gesagt. Aber ich muß fast darauf verzichten. Ich hätte von 15 bis zu 39 Prozent - möchte ich Ihnen hier im es gerne getan, weil ich mit einem sehr beachtens- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Feb ruar 1997 14093

Dr. Gerhard Stoltenberg werten Zitat des Bürgermeisters von Hamburg, Hen- veränderten Welt ohne Schönfärberei, aber auch ning Voscherau, darauf hingewiesen hätte, daß hier ohne Chaosparolen mit Kompetenz und Überzeu- allmählich Ängste geweckt und formuliert werden, gungskraft umsetzen. die wir kritisch überprüfen müssen. Die Globalisie- rung schafft Probleme. Sie ist natürlich aber auch Schönen Dank. eine große Chance. (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU der F.D.P.) und der F.D.P.) Wir können uns doch nicht dagegen wenden, daß Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort zu einer auf Grund der Globalisierung viele notleidende Ent- Kurzintervention hat der Kollege Rudolf Scharping. wicklungsländer die offenen Märkte nutzen, um vor- anzukommen und das Leben ihrer Bevölkerung zu (SPD): Herr Kollege Stoltenberg, verbessern. Rudolf Scharping Sie haben mich persönlich angesprochen. Ich will (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) gerne einräumen, daß mit Ihnen sachlich zu streiten viel mehr Vergnügen macht als mit Mitgliedern der Wir müssen diese Herausforderungen konsequent Bundesregierung. annehmen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk [SPD]: Das lei der nicht!) Allerdings haben Sie mir auch etwas von Zitaten Dazu gehört, daß wir uns in der Steuerpolitik und bei gesagt, die Sie qualifiziert haben. Ich möchte Sie des- den Lohnzusatzkosten angesichts offener Märkte halb auf folgendes aufmerksam machen: Der Bun- wettbewerbsfähiger machen. Wenn wir den Grund- deskanzler hat am 16. Februar 1990 gesagt: „Kein satz anerkennen könnten, daß das in diesen Berei- Rentner, kein Kranker, kein Arbeitsloser, kein Kriegs- chen nötig ist, dann wären wir weiter. Das aber habe opfer, kein Sozialhilfeempfänger braucht Leistungs- ich heute bei Herrn Scharping noch nicht erkennen kürzungen zu befürchten. " können. Der Bundeskanzler hat am 24. März 1993 gesagt: (Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Sie haben „Die Rente bleibt tabu." wohl nicht zugehört!) (Joseph Fischer [Frankfu rt] [BÜNDNIS 90/ Lassen Sie mich zum Schluß sagen: Es sollte trotz DIE GRÜNEN]: Aha!) der großen Probleme und Schwierigkeiten, die wir Der Bundeskanzler hat am 22. Dezember 1993 ge- haben, nicht üblich werden - so wie Sie das betrei- sagt: „Die Renten sind von Sparmaßnahmen nicht ben -, daß die Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik betroffen. Die Rente ist der Lohn für die Lebenslei- der seit 1983 bestehenden Regierung von Helmut stung eines Menschen. Sie steht außerhalb der De- Kohl pauschal verzeichnet wird. batte." Wir haben in der alten Bundesrepublik in den Jah- ren 1983 bis 1991 mit einer Reformpolitik, einer stark Der Bundeskanzler hat im März 1996 auch in Ih- angebotsorientierten Wirtschaftspolitik, beachtliche rem Herkunftsland Schleswig-Holstein den Rentne- Ergebnisse erzielt: in der starken Zunahme der Zahl rinnen und Rentnern geschrieben: „Ihre Rente ist der Arbeitsplätze in der alten Republik - und bleibt sicher." (Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk [SPD]: Und der Sie haben mir gesagt, ich hätte mit gefälschten Zi- Zahl der Arbeitslosen!) taten gearbeitet. Ich habe die herzliche Bitte, daß Sie, bei allem sachlichen Streit, wenigstens diesen Vor- - nein, auch die ist zurückgegangen; in der Zeit von wurf aus der Welt schaffen; denn ich kann Ihnen das 1983 bis 1991 hatten wir einen Rückgang der Ar- mit vielen weiteren Zitaten belegen, und jedes ist beitslosigkeit und einen deutlich stärkeren Anstieg Originalton Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl. der Zahl der Arbeitsplätze; das war die Bilanz, Frau Kollegin -, in der Rückführung der Steuer- und Ab- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gabenquote und im beachtlichen Anstieg der arbeits- DIE GRÜNEN) platzschaffenden privaten Investitionen. Die unerwartet extrem hohen Kosten für die Besei- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Kollege Stol- tigung der Hinterlassenschaft des SED-Regimes, die tenberg. Mittel für den Aufbau Ost, haben die Prioritäten seit 1990 verändert, und sie haben erhebliche zusätzliche Ressourcen in Anspruch genommen. Aber dies wird Dr. Gerhard Stoltenberg (CDU/CSU): Herr Kollege doch im Kern von uns allen bejaht. Nun müssen wir Scharping, ich habe die Texte jetzt natürlich nicht zur wieder an die Erfahrungen der früheren Jahre an- Hand. knüpfen, auch in der Steuer- und Abgabenpolitik (Lachen bei der SPD) - und auch in der Tarifpolitik. Wir können es auch im vereinten Deutschland schaffen, wenn wir uns ge- - Laßt mich das doch sagen. Was regt ihr euch so meinsam stärker auf die Grundsätze der sozialen furchtbar auf? Ich komme doch gleich darauf. Ich Marktwirtschaft besinnen und wenn wir sie in einer verstehe gar nicht, warum Sie sich so erregen. 14094 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997

Dr. Gerhard Stoltenberg Ich habe die Texte zur Zeit nicht zur Hand. Ich Auch im Zusammenhang mit der Kürzung der glaube aber, man muß sie im Gesamtzusammenhang Lohnfortzahlung im Krankheitsfall haben Sie groß- lesen und dabei einen Unterschied beachten: spurig neue Arbeitsplätze angekündigt. - Die Lohn- fortzahlung ist jetzt für 2,3 Millionen Menschen ge- (Zuruf von der SPD: Sehr billig!) kürzt, nämlich für alle diejenigen, die keinen ge- Es geht bei der jetzt geplanten Rentenreform nicht werkschaftlichen Schutz haben. Viele Millionen Be- darum, Rentenanwartschaften der sich heute in schäftigte kommen zwar weiterhin in den Genuß der Rente befindlichen Menschen für die nächsten Jahre Lohnfortzahlung, haben aber einen Teil ihres Weih- zu kürzen, nachtsgeldes verloren. Und auch hier, Herr Rexrodt: Wo sind die neuen Arbeitsplätze? (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Sie predigen immer wieder - auch Herr Stolten- sondern es geht darum, in einer Perspektive von berg hat das heute getan - die Unternehmensteuern 2010 bis 2040 die Weichen jetzt so umzustellen, daß müßten sinken; dann würde mehr investiert; dann die langfristige Verläßlichkeit gewahrt bleibt. Wenn gäbe es neue Arbeitsplätze. - Sie haben die Unter- wir diesen Maßstab anlegen, können wir gerne noch nehmensteuern gesenkt. 1980 kamen noch 17,1 Pro- einmal beide - ich stehe Ihnen zur Verfügung - über zent der Steuereinnahmen von den Unternehmen; die Zitate im Gesamtzusammenhang miteinander re- 1995 waren es noch ganze 7,6 Prozent. Die Ein- den. nahmen aus der Lohnsteuer hingegen haben sich Schönen Dank. im gleichen Zeitraum mehr als verdoppelt, von 112 Milliarden DM auf 282 Milliarden DM. Die Lohn- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - steuern sind also gestiegen; die Unternehmensteuern Werner Schulz [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE haben Sie gesenkt, ganz wie es in Ihrem Rezeptbuch GRÜNEN]: Sehr schwach! - Widerspruch vorgesehen ist. Aber, Herr Rexrodt, ich frage Sie: Wo bei der CDU/CSU) sind die neuen Arbeitsplätze, die Sie mit diesen Re- zepten schaffen wollten? Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort hat jetzt (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN die Kollegin Kerstin Müller. sowie bei Abgeordneten der SPD und der PDS) (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Kerstin Müller Neue Arbeitsplätze sind immer wieder versprochen NEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! worden, und jedesmal haben Sie dieses Versprechen Kommen wir doch zu dem aktuellen Thema unserer gebrochen. Debatte zurück, dem Jahreswirtschaftsbericht. Die- ser Jahreswirtschaftsbericht, den Herr Rexrodt heute Und was versprechen Sie als nächstes? Auf großen vorgestellt hat, ist ein Dokument der Ratlosigkeit, Plakaten der CDU können wir lesen: Steuerreform und in wirklich keinem Punkt gibt er Antworten. Nir- plus Rentenreform gleich mehr Arbeitsplätze. gendwo zeigt er Handlungswillen; nirgendwo sind Perspektiven erkennbar. (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: So ist es!) So einfach kann die Welt sein - „So ist es!", sagen Immer wieder haben Sie, Herr Rexrodt, mehr Ar- Sie -, zu schade nur, daß die Plakate schon ein paar beitsplätze versprochen. Auch heute war das wieder Gegenstand Ihrer Ausführungen. Vor einem dreivier- Wochen alt sind. Ihre Steuerreform, Herr Waigel, ist tel Jahr, bei der Debatte über die Ladenöffnungszei- doch ein einziges großes schwarzes Haushaltsloch. ten, haben Sie angekündigt: Hunderttausende neue (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Arbeitsplätze werden da entstehen. - Die neuen La- SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) denöffnungszeiten gibt es. Ich frage Sie, Herr Rex- rodt: Wo sind die neuen Arbeitsplätze? Schon für 1998 sind 8 Milliarden DM nicht gedeckt, und 1999 fehlen ganze 44 Milliarden DM. Meine Da- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN men und Herren, das hätten wir als Oppositionspar- sowie bei Abgeordneten der SPD und der tei einmal wagen sollen, ein Gesetz vorzulegen, ei- PDS) nen Vorschlag zu machen, dessen Umsetzung 44 Milliarden DM kostet, ohne dafür irgend einen Sie haben gepredigt: Der Kündigungsschutz muß Deckungsvorschlag zu machen. Sie würden uns in abgebaut werden, damit neue Arbeitsplätze entste- der Luft zerreißen - und das zu Recht. hen. - Der Kündigungsschutz ist seit dem 1. Oktober abgebaut; in den allermeisten Bet rieben ist er sogar (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ganz abgeschafft. Aber wo, Herr Rexrodt, sind denn sowie bei Abgeordneten der SPD) die neuen Arbeitsplätze, die durch den Abbau des Kündigungsschutzes hätten entstehen sollen? Auch wir wollen eine durchgreifende Steuerre- form, und zwar zum 1. Januar 1998. Aber diese Steu- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS erreform muß aufkommensneutral gestaltet sein. In SES 90/DIE GRÜNEN) der aktuellen dramatischen Situation darf sie keine neuen Haushaltslöcher aufreißen. Weiter haben Sie versprochen: Wenn die Vermö- - gensteuer abgeschafft wird, dann gibt es ganz be- Wer wie Sie Steuergeschenke verteilt, muß erklä- stimmt neue Arbeitsplätze. - Die Vermögensteuer ist ren, woher das Geld kommen soll. Was Sie machen inzwischen abgeschafft worden. Wo, Herr Rexrodt, werden, das ist, denke ich, klar: zum einen drasti- sind nun die versprochenen neuen Arbeitsplätze? sche Erhöhungen bei der Mehrwertsteuer und zum Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997 14095

Kerstin Müller (Köln) anderen dramatische Einschnitte bei den sozialen Auch das möchte ich hier ansprechen: Wer wie Sie Leistungen. Das sollten Sie aber auch klar sagen, von Entlastungen der Steuerzahler redet, darf zu der statt wohltönend nur von Entlastung der Steuerzah- Gesundheitsreform nicht schweigen. Sie von der Ko- ler zu sprechen. alition wollen die Arbeitnehmerinnen und Arbeit- nehmer schon wieder mit 10 Milliarden DM stärker Herr Scharping, Herr Schröder, wer eine Steuerre- belasten. Mit dem dreisten Vorstoß, die Arbeitgeber- form mitträgt, die 20 oder 30 oder 44 Milliarden DM beiträge festzuschreiben und damit alle Risiken auf kostet, der trägt, meine ich, auch die Verantwortung die Beschäftigten zu konzentrieren, läuten Sie das für diese Haushaltslöcher. Ich frage Sie: Wollen Sie Ende unseres bisherigen, solidarisch finanzierten So- auch die folgenden Steuererhöhungen und Sozial- zialversicherungssystems ein - und das alles nur, um kürzungen mittragen? Ich befürchte, Sie begeben Wahlgeschenke an Ärzte und die Pharmaindustrie zu sich mit diesen Gesprächen auf ein sehr gefährliches verteilen. Das werden wir nicht mitmachen. Gleis. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Die Steuerreform kann aufkommensneutral sein, sowie bei Abgeordneten der PDS) wenn man die Schlupflöcher für die F.D.P.-Klientel tatsächlich schließt und zum Beispiel Spekulations Unter dem Strich: Was wird in Ihren Händen aus gewinne besteuert. Die Koalition belastet dagegen den großen Reformprojekten? Die Rentenreform er- einseitig die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, stickt im Koalitionsdschungel - es liegt nicht an uns, vor allem die Bezieher mittlerer Einkommen und ge- daß es in diesem Bereich nicht zu Reformen kommt -, rade nicht die Besserverdienenden. Ich sehe die die- Steuerreform versinkt im 44-Milliarden-DM große Gefahr, daß Steuervereinfachung und Steuer- Haushaltsloch, und die Gesundheitsreform ver- gerechtigkeit bei den Gesprächen von Koalition und kommt zur kostspieligen Klientelbefriedigung. SPD auf der Strecke bleiben werden. Meine Damen und Herren von der Koalition, zu (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) echter Reformpolitik sind Sie nicht in der Lage. Des- halb suchen Sie jetzt nach Sündenböcken. Ich Ich sehe eine weitere Gefahr: daß Ihnen, Herr Mi- möchte hierzu einige Beispiele geben. nister Waigel, der Haushalt auch ohne die Steuerre- form völlig aus dem Ruder läuft. Allein durch die Ar- Nehmen wir die Sozialhilfeempfänger: Sie sind beitslosigkeit sind Mehrbelastungen von 22 bis neuerdings schuld an der Arbeitslosigkeit - ich zi- 24 Milliarden DM absehbar. Sie werden eine Haus- tiere -, „weil die Sozialhilfeempfänger nicht arbeiten haltssperre oder globale Minderausgaben verhängen wollen". - Das ist Originalton von Herrn Glos am müssen. Sie werden um einen Nachtragshaushalt 31. Januar in diesem Hause. Herr Glos ist jetzt nicht nicht herumkommen. da. - Ich finde, diese Aussage ist eine Unverschämt- heit. Nicht die Arbeitslosen, nicht die Sozialhilfeemp- Eine Katastrophe wäre es, wenn die Bundesrepu- fänger, nicht die Opfer sind schuld an der Arbeitslo- blik wegen Ihrer verfehlten Haushaltspolitik die sigkeit. Schuld sind die, die keine Arbeitsplätze Maastricht-Kriterien am Ende verfehlen würde. Aus- schaffen. gerechnet wegen der Bundesrepublik müßte die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Währungsunion verschoben werden. Ich sage Ihnen: und bei der SPD sowie bei Abgeordneten Diese historische Chance gibt es nicht zweimal. Die der PDS) Europäische Währungsunion muß kommen. Sie darf nicht an Ihrer Zerstrittenheit und Ihrer Klientelpolitik scheitern. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Glos hat Ih- nen signalisiert, daß er von do rt oben zuhört. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Meine Damen und Herren, bei den Renten hat die NEN): Entschuldigung! Sie sitzen sonst immer hier Koalition nach jahrelangem Schwindel jetzt eingeste- vorne. hen müssen: Die Renten sind mitnichten sicher. - Si- (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ cher ist: Das Rentensystem ist reformierbar. Aber DIE GRÜNEN]: Er sitzt auf der Hinterbank, diese Reform muß jetzt auch kommen. Herr Stolten- wo er hingehört!) berg, das Chaos und die Selbstblockade in der Koali- tion bei dieser zentralen Aufgabe sind unverantwort- Ein weiterer Sündenbock sind die Frauen. Der lich und eine große Gefahr für die Alterssicherung Herr Bundeskanzler hat das Thema in seiner Rede ja meiner Generation und der folgenden. gedrechselt genug eingeführt. Ich zitiere: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ... daß heute sehr viel mehr Frauen als früher sowie bei Abgeordneten der SPD) eine Erwerbstätigkeit anstreben. Wir von der Ko- alition kritisieren das nicht. Wir können auch nicht bis zum Jahre 2015 warten. Wir brauchen heute einen neuen, einen langfristigen Dann kommen die entscheidenden Worte: und tragfähigen Generationenvertrag; denn die ab- Aber die Folgen für den Arbeitsmarkt sind un-- sehbare Altersentwicklung der Bevölkerung, die de- übersehbar. mographischen Veränderungen müssen bei der Ren- tenberechnung berücksichtigt werden. Diese Refor- Mit anderen Worten: Aber es sind eben doch die men bei Steuer und Rente sind dringend notwendig. Frauen, die den Arbeitsmarkt durcheinanderbrin- 14096 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997

Kerstin Müller (Köln) gen. Es ist ungeheuerlich, wie hier die alten, traditio- Sofortprogramm gegen die Arbeitslosigkeit. Dazu nellen Denkmuster durchbrechen. Ich sage Ihnen: gehören 4 Punkte: Die Frauen lassen sich nicht mehr an den Rand drän- gen - nicht in den alten Bundesländern und schon Erstens und vor allem der Einstieg in den ökologi- schen Umbau durch eine - gar nicht in den neuen. ökologisch soziale Steuer- reform. Wir brauchen moderne, energiesparende, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN umweltschonende Technologien. Sie müssen am und bei der SPD sowie bei Abgeordneten Markt attraktiver gemacht werden. Hier liegt unsere der PDS) Chance für neue und zukunftssichere Jobs und auch für neue Ausbildungsplätze. Sie haben noch einen weiteren Sündenbock parat - das finde ich wirklich niederträchtig -: Schuld an Zweitens. Wir müssen die Lohnnebenkosten sen- der Arbeitslosigkeit sollen vor allem die Ausländerin- ken. Wir wollen mit dem Aufkommen aus der ökolo- nen und Ausländer sein. Menschen, die in ihrer gro- gischen Steuerreform die versicherungsfremden Lei- ßen Mehrheit seit Jahrzehnten in diesem Land leben, stungen in Arbeitslosenversicherung und Rentenver- seit Jahrzehnten hier ha rt arbeiten und Steuern und sicherung endlich aus Steuern finanzieren und damit Rentenbeiträge zahlen, werden jetzt zu Schuldigen die Beitragssätze erheblich senken. Das entlastet Ar- für die Arbeitslosigkeit erklärt. Ich sage Ihnen: Das, beitnehmer und Arbeitnehmerinnen sowie Arbeitge- was sich da bei der Union offensichtlich entwickelt, ber und Arbeitgeberinnen gleichermaßen. Davon re- diese Kampagne gegen die hier lebenden Bürgerin- den zwar viele. Nur, das allein nützt nichts; es muß nen und Bürger nichtdeutscher Herkunft, ist eine Ge- hier endlich etwas geschehen. Wir haben hierzu ei- fahr für den Frieden in unserem Land. Ich kann Sie nen konkreten Vorschlag gemacht. nur warnen: Mit einer solchen Kampagne werden Sie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) keine Wahlen gewinnen. Aber Sie werden unendlich viel Schaden anrichten. Drittens. Wir brauchen Investitionen in Zukunfts- technologien. Wir brauchen ein Investitionspro- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gramm für umweltfreundliche und arbeitsintensive sowie bei Abgeordneten der SPD) Technologien wie die Solartechnologie, regenerative Energien, moderne Verkehrssysteme und die zweite Wenn Ihnen gar nichts mehr einfällt, bleibt immer Bahnrevolution. noch ein letzter Schuldiger - das war heute auch wie- der so -: die Opposition - als ob es die Bündnisgrü- Viertens. Wir brauchen eine Umverteilung der Ar- nen, als ob es die SPD wäre, die dieses Land seit beit. Es kann nicht richtig sein, daß die einen sich ka- 14 Jahren regiert. puttschuften und die anderen auf der Straße stehen. Wir müssen die vorhandene Arbeit auf mehr Men- Ich möchte einmal aus einer anderen Bundes- schen verteilen. Neue Arbeitszeitmodelle, Belastung tagsdebatte zitieren. Da hat ein namhafter Abgeord- von Mehrarbeit, Entlastung von Teilzeitbeschäfti- neter der Opposition Bemerkenswertes gesagt - ich gung; Schluß mit der Ausbeutung durch Scheinselb- zitiere -: ständigkeit und Miniverträge; Abbau von Überstun- den. Es gibt hier Möglichkeiten in Hülle und Fülle. In all diesen Jahren seit 1949 hat keine Bundesre- Ich muß leider sagen: Deutschland hängt in dieser gierung solch katastrophale Ergebnisse ihrer Frage weit hinter den anderen Ländern in Europa zu- Politik herbeigeführt wie die von Ihnen geführte. rück. Und Sie tragen dafür die Verantwortung. Das (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN muß deutlich werden, wer die Verantwortung sowie bei Abgeordneten der SPD) trägt ... Ihre Regierungszeit ist die Regierungs- zeit der Schulden und der Arbeitslosen. So könnten die Eckpunkte eines Sofortprogramms gegen die Arbeitslosigkeit aussehen. Dazu gehören Eigentlich müßten Sie, meine Damen und Herren natürlich Gespräche mit den Tarifpartnern, zu denen von der Koalition, jetzt applaudieren; denn dieser Sie nach Ihren Wortbrüchen kaum noch in der Lage Abgeordnete war der CDU-Vorsitzende Dr. Helmut sind. Dazu gehört aber auch der Dialog mit anderen Kohl. Der Bundeskanzler hat dies im Jahre 1982 Hel- Gruppen; ich nenne hier insbesondere die Kirchen. mut Schmidt vorgehalten. Damals gab es 2 Millionen Wir nehmen das „Gemeinsame Wort der Kirchen zur Arbeitslose und 308 Milliarden DM Schulden des wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland" Bundes. Heute gibt es 4,7 Millionen Arbeitslose und sehr ernst. 800 Milliarden DM Schulden des Bundes. „Sie sind der Kanzler der Schulden und der Arbeitslosen." An (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Wie bei der diesen Ihren Worten, Herr Bundeskanzler, müssen Abtreibung!) Sie sich heute und in Zukunft messen lassen. Unsere Große Anfrage dazu liegt vor. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wie es um Ihre Dialogfähigkeit bestellt ist, sieht und bei der SPD sowie bei Abgeordneten man gut an diesem Punkt. Wir wollten hierzu näm- der PDS) lich eine eigene Debatte. Die haben Sie verweigert. Sie haben darauf bestanden, das hier mitzudiskutie- Sie behaupten immer, die Opposition habe keine ren. So sieht also Ihre Bereitschaft zum Dialog mit lichen Alternativen zu bieten. Das stimmt nicht! wirk den Kirchen aus. Die Alternativen sind da. Was wir brauchen, ist der politische Wille, sie durchzusetzen. Wir brauchen ein (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997 14097

Kerstin Müller (Köln) Meine Damen und Herren, ich zitiere zum Ab- Herr Scharping hat es so dargestellt, als sei die schluß nochmals aus jener hochaktuellen Rede aus Schaffung der Möglichkeit privater Arbeitsvermitt- dem Jahr 1982 des Herrn Dr. Kohl: lung als eine Lösung des Gesamtproblems verstan- den worden. Das hat doch nie jemand gedacht. Nur, Binnen weniger Monate müssen Sie nun zum seit Einführung p rivater Arbeitsvermittlung hat sich dritten Mal vor die deutsche Öffentlichkeit gehen eben auch die Arbeitsverwaltung bewegt. Das zeigt, und eingestehen, daß alles das, was Sie getan ha- daß Wettbewerb etwas bewirkt. ben, nichts gebracht hat ... Sie haben das Ver- trauen der Mehrheit der Deutschen nicht nur ent- (Beifall bei der F.D.P.) täuscht, Sie haben es verloren. Eine schwache Re- gierung, die nur noch ein Ziel hat, nämlich in den Ich besuche regelmäßig die für meinen Wohnort zu- Sesseln zu bleiben, deprimiert das Land. ständige Arbeitsverwaltung Gießen. Ich habe bestä- tigt bekommen, daß sie ihre Vermittlungstätigkeit (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Das ist wahr!) seit Einführung p rivater Arbeitsvermittlung voll um- Heute stehen Sie, Herr Bundeskanzler, und Ihre gestellt hat. Regierung den dringend notwendigen Veränderun- Der Kollege Scharping hat auch gesagt, die Dis- gen im Wege. Treten Sie beiseite und machen Sie kussion um die Lohnfortzahlung habe nichts ge- endlich den Weg frei für echte Reformen! bracht. Meine Damen und Herren, das Gegenteil ist (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN der Fall. und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS) (Dr. [F.D.P.]: Genau so!) Trotz der peinlichen und tölpelhaften Verhaltenswei- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster Red- sen der Tarifvertragsparteien in dieser Frage ner wird der Fraktionsvorsitzende der F.D.P., Dr. Her- mann Otto Solms, sprechen. ( [CDU/CSU]: Das ist wahr!) Dr. Hermann Otto Solms (F.D.P.): Meine sehr ver- hat sich diese Gesetzesänderung deutlich spürbar ehrten Damen und Herren! Sehr geehrte Frau Präsi- bei den Betroffenen ausgewirkt. Es gibt neue Berech- dentin, nachdem Sie heute morgen zwei Kollegen zu nungen, die das beweisen. ihrem 60. Geburtstag gratuliert haben, möchte ich es nicht versäumen, auch Ihnen zu Ihrem 60. Ge- (Lachen und Widerspruch bei der SPD) burtstag, den Sie am Montag gefeiert haben, von die- ser Stelle aus sehr herzlich zu gratulieren. Ich will Ihnen das erklären: In den Unternehmen, bei denen es keine tarifvertragliche Regelung gab, ist (Beifall) das Gesetz unverzüglich umgesetzt worden. Das führt nach Schätzungen der Bundesregierung zu Meine Damen und Herren, die hohe Arbeitslosig- Entlastungen von 3,6 Mil liarden DM. keit, das ist das, was uns alle bewegt und besorgt. 4,6 Millionen Arbeitslose gegenwärtig, erwartete Bei den Unternehmen, die tarifvertragsgebunden 4,1 Millionen Arbeitslose im Durchschnitt in diesem sind, hat es Änderungen in den Tarifverträgen gege- Jahr - darauf müssen sich alle unsere Gedanken kon- ben, und zwar einmal bei der Bemessungsgrundlage zentrieren. Wir müssen darum ringen, dieses Pro- der Lohnfortzahlung und zum anderen bei anderen blem zu beseitigen. Elementen der Tarifverträge, nämlich beim Weih- Das ist wirklich kein Anlaß für Polemik, Unter- nachtsgeld und beim Urlaubsgeld. stellungen und Falschaussagen. Deswegen, Herr (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Und wie ist es in Kollege Scharping - er ist gegenwärtig nicht an- der F.D.P.-Zentrale?) wesend -, (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Er kommt gleich Dadurch sind direkte Einsparungen von 6,6 Mil- wieder!) liarden DM zustande gekommen. war ich so enttäuscht von Ihrer Rede. Sie haben Ihr (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Und wo sind die eigenes Niveau deutlich unterschritten. Arbeitsplätze?) (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der Schließlich hat es eine Verhaltensänderung bei CDU/CSU - Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: den Betroffenen gegeben. Die durchschnittlichen Ist das möglich?) Fehlzeiten sind zurückgegangen. Auch das ist mit ei- nem Betrag von 3 bis 4 Milliarden DM zu veranschla- Der Bundeswirtschaftsminister hat eine sehr sach- gen, so daß man heute sagen kann - der wiederge- bezogene Darstellung der Probleme gegeben und wählte Präsident des Deutschen Indust rie- und Han- hat Ihnen geradezu die Hand zum Gespräch ge- delstages bestätigt das -, daß durch diese Gesetzes- reicht, und Sie haben diese Gelegenheit ausgelas- initiative der Bundesregierung Einsparungen im Ar- sen. Ich will auf einige Punkte eingehen; im wesent- beitsleben von nahezu 20 Mil liarden DM eingetreten lichen hat der Kollege Stoltenberg das Notwendige sind - genau kann das keiner schätzen -, mindestens gesagt, wofür ich ihm noch einmal danken möchte. aber 13 bis 14 Milliarden DM Einsparungen. Da soll (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) doch keiner sagen, das habe nichts bewirkt. 14098 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997

Dr. Hermann Otto Solms Das ist genau das, was wir brauchen: Kostenein- im Bundesrat nicht behindert, wären die Einsparun- sparungen, um mehr Investitionen zu erreichen, da- gen um weitere 12 Milliarden DM höher ausgefallen. mit Arbeitsplätze entstehen können. Sie sehen, daß das so nicht weitergeht, sondern daß wir zu einem vernünftigen, zielorientierten Miteinan- (Beifall bei der F.D.P.) der kommen müssen. Der Zusammenhang ist doch immer wieder der glei- che und auch ganz einfach und schlicht: Wir müssen Wir haben darüber hinaus die große Steuerreform, die Unternehmen und die Arbeitnehmer von einer zu die Rentenreform und die Gesundheitsreform vorge- hohen Besteuerung, von zu hohen Sozialabgaben schlagen. Wir haben in allen Punkten gesagt, was und Lohnzusatzkosten entlasten und die Wi rtschaft wir wollen, bzw. klären in Kürze noch die offenen insgesamt von zu vielen Regelungen und zuviel Bü- Punkte und werden das öffentlich vortragen. rokratie entlasten Herr Scharping hat uns aufgefordert, den Men- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne schen zu sagen, was wir wollen. Die Bundesregie- ten der CDU/CSU) rung trägt das alles konkret vor. Ich habe aber bis jetzt keine konkrete Aussage von Ihnen zu irgendei- Wenn Sie wissen wollen, wie man das macht - ich nem vernünftigen Vorschlag gehört, auch in Herrn sehe, daß es in den Reihen der SPD große Unsicher- Scharpings Rede nicht. heit gibt, wie man darauf reagieren soll -, dann schauen Sie auf Ihre Nachbarn. Herr Stoltenberg hat (Zurufe von der SPD: Oh!) Ihnen schon England genannt. Zu ergänzen ist das um Schweden, um Österreich, um Neuseeland, um Zum Thema Steuerreform: Sie wissen, daß Sie sich Holland, um Dänemark. dieser Diskussion nicht mehr entziehen können. Aber Sie haben kein Konzept. Herr Schleußer hat im Schweden, das von Ihnen viel gerühmte Sozial- „Handelsblatt" am 3. Februar 1997, also in diesem land, hat bei der Lohnfortzahlung entschiedener zu- Monat, gesagt, ein Tarif von 20 bis 40 Prozent er- geschlagen als wir - mit dem Ergebnis, daß sich die scheine ihm vernünftig. Er hat auch in der Sache durchschnittliche Krankheitszeit halbiert hat. Schwe- viele vernünftige Vorschläge gemacht. Übrigens hat den war das Höchststeuerland in Europa. Es ist die Steuerreformkommission der Bundesregierung heute, was die gewerblichen Einkünfte bet rifft, das einen Teil der Vorschläge von Herrn Schleußer be- Niedrigststeuerland mit 28 Prozent Maximalbela- stung. reits aufgenommen. Das zeigt, daß wir nicht so ver- nagelt sind wie viele bei Ihnen. (Carl-Detlev Freiherr von Hammerstein [CDU/CSU]: Sozialisten haben das ge Herr Lafontaine bestätigt immer wieder, der Spit- macht!) zensteuersatz von 53 Prozent müsse bleiben. Meine Damen und Herren, Sie wissen doch so gut wie ich, Sollen wir uns anschauen, wie die anderen uns im daß das gar nicht der Spitzensteuersatz ist. Dazu Wettbewerb überholen, und wir tun nichts? Das kann kommt der Solidaritätszuschlag, und dazu kommt die doch wohl nicht wahr sein! Das sehen Sie ja selbst Kirchensteuer. Dann liegen Sie bei 62 Prozent. Gott nicht so; das ist das Interessante. Warum polemisie- sei Dank wird der Solidaritätszuschlag ab 1998 um ren Sie dann dagegen? zwei Punkte gesenkt; (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne (Zuruf von der SPD: Ist das sicher?) ten der CDU/CSU) Herr Scharping hat gesagt, auf den Baustellen aber dann sind es immer noch 60 Prozent. Das ist hö- sollte mehr kontrolliert werden. - Recht hat er, aber her als in fast allen Ländern in Europa. wer ist denn dafür zuständig? Doch nicht die Bundes- regierung. Es sind die Länder mit der Gewerbeauf- Ich will Ihnen ein Beispiel nennen, weil Sie mei- sicht, die die Aufsicht darüber haben. nen, daß die Höherverdienenden, die steuerlich Lei- stungsfähigeren mehr bezahlen sollten. Ich habe vor (Clemens Schwalbe [CDU/CSU]: So ist es! - kurzem einen Gastvortrag in Berkeley in Kalifornien Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Die Bundes gehalten. anstalt für Arbeit!) (Zurufe von der SPD: Hoi!) - Die Bundesanstalt, aber nicht der Bundesminister und nicht die Bundesregierung. Dort befindet sich ein Spitzeninstitut der Informatik - es wird von der Bundesregierung mit gefördert -, an (Dr. Uwe Küster [SPD]: Hören Sie mal! - dem sich die zehn besten Nachwuchskräfte der Infor- Weitere Zurufe von der SPD) matik aus Deutschland zu einem ein- oder zweijähri- Die Bundesanstalt ist ein Selbstverwaltungsorgan. gen Stipendium versammeln. Nun frage ich Sie: Was Das wissen Sie doch genausogut wie ich. Des- glauben Sie, wie viele von diesen wieder zurück wegen soll die Verantwortung da bleiben, wo sie hin- nach Deutschland kommen? gehört. (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Bei dieser Bun - Meine Damen und Herren, die Bundesregierung -desregierung!) hat nun Vorschläge gemacht. Sie hat im letzten Jahr ein 50-Punkte-Programm vorgelegt, von dem wir Der Spitzensteuersatz in den Vereinigten Staaten be- Punkt für Punkt abgearbeitet haben. Hätten Sie uns trägt 39,6 Prozent - das ist genau das, was wir vorge- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997 14099

Dr. Hermann Otto Solms schlagen haben -, allerdings erst ab einem Einkom- Ihre Bemühungen konzentrieren sich gegenwärtig men von 250 000 Dollar im Jahr, nicht ab 90 000 DM. nur noch darauf, der SPD hinterherzulaufen und sie zu einer Koalitionsaussage aufzufordern. (Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Immer dieses Vergleichen von nicht Vergleichbarem!) (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- ten der CDU/CSU) Die Forschungsvoraussetzungen do rt sind wesentlich besser. Wenn ich in diesem Zusammenhang auf mein Dabei entblöden Sie sich nicht, Ihre eigenen Grund- eigenes Bundesland, Hessen, mit der rot-grünen Vor- vorstellungen und Überzeugungen immer wieder zeigeregierung schaue, dann stelle ich fest: Es ist selbst in Frage zu stellen. Ich denke zum Beispiel an eine grün-rote Realsatire, die Sie do rt erleben kön- die Steinkohleförderung in Nordrhein-Westfalen. Ei- nen. Ich habe eine Fülle von Beispielen, die ich hier nen peinlicheren inhaltlichen Wechsel als diesen nicht alle vortragen kann. Aber etwas werde ich vor- habe ich noch nie erlebt. tragen. Meine Damen und Herren, das gilt auch mit Blick (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Wer regiert hier auf die Notwendigkeit der Rentenreform. Um hier eigentlich?) ein Mißverständnis auszuräumen: Die Vorschläge von Herrn Blüm und der Rentenreformkommission Also, das ist der um den es geht: um Wettbewerb, sind richtig, nur, sie reichen nicht aus. Das ist das die leistungsfähigsten Menschen in der Wissen- Problem. Wenn wir dauerhafte Beitragsstabilität er- schaft, in der Wirtschaft, im Spo rt, in der Kultur - in reichen wollen, reichen sie nicht aus. Deswegen muß allen Bereichen. Wenn wir wollen, daß diese deut- noch nachgearbeitet werden. Dabei bin ich jedoch in schen Kräfte hierbleiben oder sogar welche aus an- der Frage der Familienkasse völlig anderer Auffas- deren Ländern zu uns kommen und mit uns zusam- sung. Ich glaube, daß die familienpolitischen Lei- men versuchen, neue Entwicklungen zu erforschen stungen durchaus in die Rentenversicherung hinein- und neue Arbeitsplätze, die zukunftsträchtig sind, zu gehören. Das sind keine versicherungsfremden Lei- schaffen, dann können wir uns von der internationa- stungen. len Entwicklung nicht abnabeln. Das geht nun ein- mal nicht. (Beifall bei der F.D.P. - Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Wer soll die bezahlen? Die Beitrags- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne zahler?) ten der CDU/CSU) Das Chaos, das bei den Grünen bezüglich der - Ich bin durchaus dafür, darüber nachzudenken, Steuerfrage besteht, ist nicht einmal von der SPD zu Frau Fuchs, ob nicht die Beitragszahler, die keine überbieten. Da sagt wirklich jeder etwas anderes. In- Kinder aufziehen, einen höheren Beitrag zahlen soll- teressant war ein langes Interview von Herrn Fischer ten. Darüber können wir gerne miteinander diskutie- im „Spiegel", in dem er angemeldet hat: „Unser Ziel ren. Das wäre eine systemgerechte Diskussion. muß sein", da stimme ich zu, „ein Reformklima zu Meine Damen und Herren, was wir hier bei den entfachen." Dann haben die ihm - nach der A rt der Streiks der Postmitarbeiter erlebt haben, ist ge- Fragestellung zu urteilen - sehr geneigten Ge- radezu peinlich. Daß Herr van Haaren die Post erle- sprächspartner des „Spiegel" versucht, das zu hinter- digt, bis sie wirklich erledigt ist, das wundert mich fragen. Auf drei Seiten im „Spiegel" ist Herr Fischer nach seinen Attitüden in den Jahren zuvor nun nicht jede Antwort schuldig geblieben. Ihm ist einfach mehr. Aber daß sich die Geschäftsführung der Post, nichts eingefallen, was er reformieren wi ll. Schließ- nachdem sie nun eine achtjährige Übergangszeit zur lich hat einer der Gesprächspartner - resigniert auf- Privatisierung der Post und zur Auflösung des Mono- seufzend - zu Herrn Fischer resümierend gesagt: pols bekommen hat, anscheinend nicht imstande „Schön, wie Sie in die Ferne schweifen." sieht, die Post in ein modernes, wettbewerbsfähiges Meine Damen und Herren, das geht nicht. Unsere Dienstleistungsunternehmen zu überführen, ist nun Probleme sind hier in Deutschland und nicht sonstwo wirklich eine tiefgreifende Enttäuschung. Man muß in der Welt. fragen, ob diese Geschäftsführung in der Lage ist, die Aufgabe zu bewältigen. Ich fand es wirk lich un- (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Bei Ihnen sind erhört, wie sie sich gestern geäußert hat. die, bei dieser Bundesregierung!) (Beifall bei der F.D.P.) Wir stellen uns den Reformaufgaben und entziehen uns ihnen nicht. Meine Damen und Herren, es liegt aber nicht nur an Kosten, an zu hohen Beiträgen, es liegt auch an (Beifall bei der F.D.P.) der Überregulierung. Deswegen will ich Ihnen ein Beispiel aus dem Land der Realsatire, Rot-Grün in Herr Dr. Sohns, ge- Hessen, geben. Dort hat ein Landwirt, ein Bauer, ver- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: sucht, einen neuen Hühnerstall - das ist nun etwas statten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Wolf? ganz Profanes - für 19 000 Hühner zu bauen, die Eier legen sollten. Das Verfahren mit der hessischen- Dr. Hermann Otto Solms (F.D.P.): Nein, ich möchte Verwaltung zur Genehmigung des Bauantrags hat im Moment keine Zwischenfrage beantworten. Ich drei Jahre gedauert, 18 000 DM gekostet. Er möchte in meinem Gedankengang bleiben. Ihre Zwi- brauchte neben der Baugenehmigung eine Geneh- schenfrage würde uns sowieso nicht weiterhelfen. migung nach dem Bundes-Immissionsschutzgesetz. 14100 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997

Dr. Hermann Otto Solms Es galt, die gleichen Anträge auszufüllen, wie sie für die Bürger leiden. Jetzt kommt es darauf an, daß wir ein Atomkraftwerk verwendet werden. die Voraussetzungen so verändern, daß wieder Ar- beitsplätze entstehen. Sie entstehen nun einmal nur (Ernst Schwanhold [SPD]: Sie haben keine durch Investitionen, durch Risikobereitschaft, durch Ahnung! So ein Blödsinn!) Engagement einzelner Menschen. Die müssen wir Außerdem waren eine Tierschutzorganisation, der ermutigen und dürfen wir nicht verängstigen. Geflügelgesundheitsdienst der Universität Gießen, der Zentralverband der Deutschen Geflügelwirt- Vielen Dank. schaft und schließlich das Gesundheits- und Veteri- näramt anzuhören. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- ten der CDU/CSU) (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Das war doch in Rheinland-Pfalz mit dem F.D.P.-Minister!) Es gibt den - In Hessen, bitte. Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Wunsch nach zwei Kurzinterventionen. Ich gebe zu- Der Regierungspräsident in Darmstadt mußte nächst zu einer Kurzintervention der Abgeordneten zwölf Behörden beteiligen und zu den Erörterungs- Margareta Wolf das Wo rt. terminen vielfältige öffentliche Anzeigen schalten. Das hat nun dazu geführt, daß dieses Vorhaben in Frage steht. Margareta Wolf (Frankfurt) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Kollege Solms, sind Sie bereit, zur (Vorsitz : Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch) Kenntnis zu nehmen, daß die Wirtschaftsdaten in Anderes Beispiel: Die hessische Wissenschaftsmi- Hessen besser sind als in allen anderen Bundeslän- nisterin macht die Bildungs- und Hochschulreform, dern? Ich bitte Sie darum, das doch zu tun. indem sie 450 Stellen streicht. Bei Frauenbeauftrag- ten, Umweltbeauftragten und anderen Beauftragten Sie haben vorhin - das fand ich bemerkenswert - wird natürlich kein Pfennig eingespart, aber in der darauf hingewiesen, daß Sie Vorträge in Berkeley Bildungspolitik wird gestrichen. Dann legt sie einen halten. Sie haben des weiteren gesagt, daß die Berei- Plan für eine Hochschulreform vor, in dem Dinge ent- che Forschung und Entwicklung wie auch Qualifika- halten sind, die ohnehin schon zulässig sind. Also tion dort ganz im Vordergrund stehen. Auch ich bin braucht es diesen Plan nicht mehr. Der bekannte der Meinung, daß das tatsächlich absolute Standort- Frankfurter Historiker Lothar Gall hat dies eine Un- vorteile für die Vereinigten Staaten sind. Aber wür- verschämtheit der Ministerialbürokratie genannt. den Sie, die Sie an dieser Regierung seit über Aber das ist der Grund, warum Regionen im Wettbe- 20 Jahren teilhaben, folgende Meldung von gestern werb zurückfallen. zur Kenntnis nehmen? (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Wer regiert Für Schulen, Lehrstellen und Universitäten seien eigentlich die Bundesrepublik?) 1995 5,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts auf- gewendet worden. Dies seien 0,1 Prozent weni- Der grüne Regierungspräsident in Gießen hat sich ger als 1992 ... Damit liege Deutschland unter beschwert, weil ich ihn gescholten habe, er würde dem Schnitt anderer Industrieländer. Vor allem keinen Beitrag zur Beschäftigung leisten, und hat an den Hochschulen und bei den Lehrstellen dies mit dem Argument zu widerlegen versucht, die wirkten sich die Beschränkungen aus. Verwaltungshochschule Speyer habe die Arbeit des Regierungspräsidiums in Gießen besonders heraus- Eine zweite Meldung aus dem „Handelsblatt" vom gehoben, sie sei effizient. Gerade das ist der Kern 21. Januar 1997: des Problems. Je effizienter diese Verwaltung die fal- schen Ziele verfolgt, desto weniger rührt sich in der Die Investitionszuschüsse für erneuerbare Ener- Landschaft, weil jede Investition behindert wird. gien wurden seit 1994 um 7 Mill. DM zurückge- Deswegen hat die Region Hessen mit der Universität fahren. Und auch für die vielbeschworenen Zu- Gießen den Bio-Regio-Wettbewerb, den der Bundes- kunftstechnologien gibt es nicht in jedem Fall forschungsminister ausgeschrieben hat, gegenüber mehr Geld: Die Investitionszuschüsse für die Mi- anderen Regionen in Bayern und Baden-Württem- kroelektronik sanken im letzten Jahr um 10 %, berg verloren, mit der Argumentation, es hat keine während sich die Mittel für FuE-Vorhaben in die- politische Unterstützung gegeben, weder von seiten sem Bereich nur um 0,8 % erhöhten. des Regierungspräsidenten, grün, noch von seiten des Ministerpräsidenten, rot; Dieses zur Politik der Bundesregierung und zum Standort für neue Technologien, Zukunftstechnolo- (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Hört, hört!) gien und Qualifikation, Herr Kollege. denn: „Bio" ist etwas Gefährliches, das darf man nicht unterstützen. Dies ist geschehen, obwohl die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Universität Gießen mit die geeignetste Hochschule bei der SPD und der PDS) dafür ist, weil sie einen Schwerpunkt in Bio- und Um- weltfragen hat. Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege Meine Damen und Herren, ich muß diese Beispiele Solms, wollen Sie erst antworten oder erst die zweite bringen, denn das ist der konkrete Alltag, unter dem Intervention von Frau Professor Luft hören? - Dann Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997 14101

Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch gebe ich das Wort zur zweiten Kurzintervention Frau auch öffentliche Investitionsprogramme auf den Weg Professor Luft. Bitte. bringen, damit Menschen in Arbeit kommen.

(Ina Albowitz [F.D.P.]: Jetzt kommt der (Beifall bei der PDS - Dr. Wolfgang Ger- gesammelte Sachverstand für Wirtschafts hardt [F.D.P.]: Das haben wir aber alles politik!) schon probiert!)

Dr. Christa Luft (PDS): Herr Kollege Solms, Sie lie- ßen ja keine Zwischenfragen zu. Daher muß ich mich Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Dr. Sohns, jetzt auf diesem Wege an Sie wenden. Sie haben das Wort. Sie haben die Wirksamkeit vieler der bisher von der Bundesregierung getroffenen Maßnahmen be- Dr. Hermann Otto Solms (F.D.P.): Zum Ladenschluß schworen. Unter anderem haben Sie sich auf die ge- ist nur zu sagen: Keiner ist gezwungen offenzuhal- kürzte Lohnfortzahlung im Krankheitsfall bezogen. ten. Wir haben ihn nicht abgeschafft, wie Sie sagen, Sie sagten, Milliardeneinsparungen seien dadurch sondern die Ladenöffnungszeiten um anderthalb erzielt worden. Nun sind aber doch Einsparungen Stunden erweitert. Nun muß man über ein, zwei kein Selbstzweck. Vielmehr beraten wir hier. Wie Jahre abwarten, wie sich die Konsumenten daran ge- kann Entlastung von Kosten dazu führen, daß neue wöhnen. Arbeitsplätze entstehen? Ich würde Sie gerne fragen, inwieweit Ihrer Meinung nach durch die Kürzung Zweitens. Wann stellen Unternehmen ein? Natür- der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall bei den Mil- lich wenn sie Aufträge bekommen. Aber Aufträge liardeneinsparungen, die die Unternehmen haben, bekommen sie natürlich nur, wenn sie zu wettbe- neue Arbeitsplätze entstanden sind. werbsfähigen Preisen anbieten können. Unternehmer, mit denen ich mich unterhalte, Kleinunternehmer, Mittelunternehmer, sagen: Wir (Beifall des Abg. Paul K. Friedhoff [F.D.P.]) stellen doch nicht deshalb Leute neu ein, weil wir die Die Wettbewerbsfähigkeit der Kostenstruktur der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall kürzen können. deutschen Wirtschaft ist im Verhältnis zu anderen Vielmehr stellen sie dann Menschen ein, wenn sie Ländern zurückgefallen. Wir brauchen Kostenentla- Aufträge wittern und wenn sie Marktchancen sehen. stungen, damit wieder Aufträge hereingeholt werden Genau das ist in diesem Lande für die kleinen und können und wieder mehr Beschäftigung entsteht. die mittleren Unternehmen nicht der Fall, weil die Nachfragebeschränkung außerordentlich zugenom- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- men hat. Das ist der erste Punkt. ten der CDU/CSU) Der zweite Punkt. Sie sagten, wir müßten in der Deregulierung weiterkommen. Nun ist das jüngste Hätten Sie Herrn Rexrodt richtig zugehört, Frau Beispiel der Deregulierung - Herr Minister Rexrodt Luft, dann hätten Sie mitbekommen, daß gleichzei- klopft sich deshalb pausenlos auf die Schultern - die tig, neben der Kostenentlastung, durch Steuer- und Abschaffung des Ladenschlußgesetzes. Weil uns Abgabensenkungen eine Nettoeinkommenssteige- sehr viele Menschen heute zuschauen, sage ich Ih- rung bei den Arbeitnehmern hervorgerufen wird. nen: Wir machen hier doch nicht nur ein Spiel zwi- Das ist der Unterschied zu einer reinen Nachfragepo- schen Koalition und Opposition. litik, wie sie von Ihnen vorgeschlagen wird. Ich nenne Ihnen ein Beispiel aus meinem Wahl- Frau Wolf, Hessen hat infrastrukturell die günstig- kreis Berlin-Friedrichshain. Ich habe dort 30 Ein- ste Lage in Deutschland, mitten in der Bundesrepu- zelhändlerinnen und Einzelhändler nach ihren Erfah- blik. Hessen hat den Rhein-Main-Flughafen mit der rungen mit dem abgeschafften Ladenschlußgesetz internationalen Anbindung, hat alle guten Voraus- befragt. Sie sagten mir, sie haben nicht eine Mark setzungen. Trotzdem ist Hessen im Vergleich zu an mehr Umsatz. Sie haben höhere Betriebskosten; sie -deren Bundesländern in den letzten Jahren zurück- fürchten sich sogar vor der hohen Kriminalität, wenn gefallen. Es nimmt immer noch eine gute Position sie in der Winterzeit ihre Läden abends länger offen- ein, ist aber zurückgefallen. halten. Für meine mittelhessische Region kann ich sagen, (Zurufe von der F.D.P.: Oh!) daß die Arbeitslosenzahlen weit über dem Durch- - Jawohl. Das kann ich Ihnen an Hand von 30 Be- schnitt liegen. Und dort sehe ich nicht, daß die rot- fragungen nachweisen. grüne Stadtregierung in Gießen oder der grüne Re- gierungspräsident irgendeinen konstruktiven Beitrag (Lachen bei der CDU/CSU) für mehr Beschäftigung geleistet hätte. Ich erlebe nur Die Betriebskosten sind gestiegen; die Umsätze immer, daß sie bejammern, daß Unternehmen einge- sind nicht gestiegen. Im übrigen stellt auch do rt nie- hen. Aber wo ist die Unterstützung, eine Initiative? mand jemand ein, nur weil er den Laden länger of- Im Bio-Regio-Wettbewerb bestand eine riesige Chance für diese Region. Sie ist vertan worden. fenhalten kann, sondern doch nur dann, wenn er sich - Gewinne verspricht. Warum? Weil man an diese Sache nur mit spitzen Fingern herangegangen ist und sie eigentlich nicht Das Problem in diesem Lande bleibt: Wir müssen richtig unterstützt hat. Das zeigt doch die innere Ein- die Nachfrage stärken, und wir müssen offenbar stellung dazu. 14102 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997

Dr. Hermann Otto Solms In der Forschungsfrage stimme ich völlig mit Ihnen lesen, finde ich unerträglich, pat riarchal und macho- überein: Wir brauchen das Bekenntnis zu Forschung haft. Das will ich Ihnen einmal ganz deutlich sagen. und Entwicklung. (Beifall bei der PDS, der SPD und dem (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Wolfgang ten der CDU/CSU) Zöller [CDU/CSU]: Was haben Sie denn die ganze Zeit gemacht?) Wir müssen uns dieser Frage annehmen; wir dürfen Forschung nicht bekämpfen. Eine zweite Bemerkung: Herr Bundeswirtschafts- minister, Sie haben heute über den Jahreswirt- (Ernst Schwanhold [SPD]: Warum lassen Sie schaftsbericht gesprochen; das ist ja ein Hobby von dann zu, daß zurückgefahren wird? Dann Ihnen. Wissen Sie, was ich erwartet hätte, was wirk- muß man auch ein paar Mark in die Hand lich das mindeste gewesen wäre in einer Zeit, in der nehmen!) man Geschichte aufarbeitet? Sie hätten einmal etwas zu Ihren Prognosen sagen sollen, die Sie im letzten Ich schaue mich auch im internationalen Bereich Jahr für das Jahr 1996 abgegeben haben, und zu den um, weil ich mich weiterbilden und informieren wi ll. Realitäten, die dann eingetreten sind, um uns zu er- Die Erfahrungen, die ich do rt höre, nehme ich auf klären, ob die heutigen Prognosen - wenn ja, aus und versuche, sie in Politik umzusetzen. welchen Gründen - realistischer sein könnten oder ob Sie die gleichen Grundlagen haben, ob Sie etwas Eine letzte Bemerkung: Alle diese Vorträge, die ich verändert haben bei der Erstellung des Jahreswirt- halte, halte ich selbstverständlich unentgeltlich - nur schaftsberichts. damit hier keine falschen Verdächtigungen aufkom- men. Ich nenne Ihnen nur ein paar Zahlen. Sie haben hier vor einem Jahr als Prognose für das Jahr 1996 (Beifall bei der F.D.P. - Ernst Schwanhold gesagt: Für das Bruttoinlandsprodukt ist im Osten [SPD]: Für Ihre Aufträge kann man auch eine Steigerung von 4 bis 6 Prozent zu erwarten. Real kein Geld nehmen! - Weiterer Zuruf von waren es 2 Prozent. Sie haben gesagt: Die Inlands- der SPD: Wie nobel!) nachfrage wird um 1,5 Prozent steigen. Tatsächlich ist sie um 0,7 Prozent gestiegen. Sie haben gesagt: Bei der Bauproduktion wird es allerdings einen Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile dem Rückgang um 1,5 Prozent geben. Tatsächlich betrug Bundesminister für Finanzen, Dr. Theodor Waigel, er 2,7 Prozent. Und sie haben gesagt: Die öffentli- das Wort. chen Investitionen werden entweder um 0,5 Prozent zunehmen oder möglicherweise bis zu 1,5 Prozent (Widerspruch der Abg. Dr. Dagmar Enkel zurückgehen. Tatsächlich sind sie um 6,2 Prozent zu- mann [PDS]) rückgegangen.

- Eine Sekunde. Was die Richtigkeit von Prognosen betrifft, haben Sie inzwischen DDR-Niveau weit überschritten. Dar- Ich bitte um Nachsicht. Ich gebe dem Abgeordne- über sollten Sie gründlich nachdenken. Nichts davon ten Dr. Gregor Gysi das Wort. haben Sie aufgearbeitet. (Beifall bei der PDS - E rnst Schwanhold [SPD]: Das ist allerdings kaum möglich!) Dr. Gregor Gysi (PDS): Herr Präsident! Meine Da- men und Herren! Noch bin ich nicht Bundesfinanz- Bei der Einheit haben Sie etwas anderes verspro- minister. chen, nämlich daß die sozialen und kulturellen Lei- stungen der DDR übernommen, gefestigt und sogar (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Gott bewahre!) noch ausgebaut, die Fehlplanungen aber abgeschafft werden. Tatsächlich haben Sie es dann genau umge- Herr Dr. Solms, daß Ihre Vorträge nicht bezahlt kehrt gemacht: Die kulturellen und sozialen Leistun- werden, kann ich nachvollziehen. gen haben Sie abgeschafft, aber Fehlplanungen und Fehlprognosen deutlich ausgeweitet. (Heiterkeit und Beifall bei der PDS, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Heiterkeit und Beifall bei der PDS)

Ich will mich hier aber zu Beginn mit etwas anderem Das gilt übrigens auch für viele andere Zahlen, auseinandersetzen. zum Beispiel für die ganz tragische Zahl der Er- werbslosen. Sie haben damals geschätzt, daß es in Wir haben in diesem Hause zuerst mehrere Män- den alten Bundesländern ein Minus von 140 000 Er- ner gehört. Dann hat die erste Frau vom Bündnis 90/ werbsarbeitsplätzen geben wird; tatsächlich gab es Die Grünen gesprochen. Ich teile weiß Gott nicht al- in den alten Bundesländern Verluste von über les, was sie gesagt hat, zum Beispiel nicht die Aus- 300 000 Arbeitsplätzen. Für den Osten haben Sie ein- führungen zum . Damit müßte man sich lange Plus von 20 000 bis 40 000 Arbeitsplätzen prognosti- auseinandersetzen. Aber die Art und Weise, wie in ziert; wir hatten einen Verlust von 97 000 Arbeitsplät- Ihren beiden Fraktionen alle Männer in dem Moment zen. Was soll ein Jahreswirtschaftsbericht, der sich anfingen, Zwiegespräche zu führen und Zeitung zu im Laufe des Jahres in das Gegenteil seiner Aussa- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997 14103

Dr. Gregor Gysi gen verkehrt? Darüber brauchen wir eigentlich nicht Vermögensteuer abschaffen und den Spitzensteuer- zu diskutieren. satz senken. (Beifall bei der PDS) Und die Nachfrage erhöhen Sie nicht. Herr Bun- Sie haben den Bundeszuschuß für die Bundesan- desfinanzminister, ich habe Ihnen das schon beim stalt für Arbeit mit 4,3 Milliarden DM eingeplant; es letzten Mal ausgerechnet: Die Bankkauffrau mit ei- wurden 12,5 Milliarden DM. Sie haben die Arbeitslo- nem zu versteuernden Jahreseinkommen von 40 000 senhilfe mit 17,3 Milliarden DM eingeplant; es wur- DM spart nach Ihrem Modell 74 DM. In der Rech- den 24 Milliarden DM. Keine Zahl stimmte. Auch nung fehlen aber noch 44 Milliarden DM, die noch das, was Sie heute prognostizie rt haben, wird sich im nicht gegenfinanziert sind. Wenn Sie dann die Mehr- Laufe des Jahres 1997 als falsch erweisen. wertsteuer erhöhen, hat die Bankkauffrau keine Ein- sparung von 74 DM, sondern zahlt deutlich zu. Aber Wir sind mitten in vielen Diskussionen. Herr Stol- der Einkommensmillionär spart nach Ihrer Steuerre- tenberg hat darauf hingewiesen, daß es auch mir form im Jahr über 127 000 DM. Das macht die Ban- nicht gelingen würde, die Regierungen in der ken reicher, führt aber nicht zur Erhöhung der Kauf- Schweiz und in anderen Ländern davon zu überzeu- kraft und ist im übrigen sozial höchst ungerecht. gen, „sozialistische Steuerpolitik" - wie Sie das nannten; die muß vielleicht noch entwickelt werden (Beifall bei der PDS) - zu betreiben. Ich will Ihnen eins verraten: Meine Vorfahren sind aus der Schweiz nach Deutschland Es bleibt dabei, daß Ihre weiteren Vorschläge - so ausgewandert. Damit will ich sagen: Im Unterschied zum Beispiel die Besteuerung von Nacht-, Sonntags- zu Flick und anderen gab es auch noch den umge- und Feiertagszuschlägen - höchst ungerecht sind kehrten Weg. und daß Sie letztlich nicht die Vermögenden und die Besserverdienenden, sondern diejenigen, die Sie frü- (Zuruf von der CDU/CSU) her einmal als Leistungsträgerinnen und Leistungs- - Ob das nun eine Sternstunde für die Schweiz oder träger bezeichnet haben, auf diese A rt und Weise zur für Deutschland war, das können wir die Geschichte Kasse bitten. Dafür gibt es viele Beispiele. Man muß entscheiden lassen. Ich möchte das einfach als offen nämlich bei Ihrer Steuerreform auch das Kleinge- betrachten. druckte lesen. (Beifall bei der PDS) Wenn sich die SPD jetzt zu Gesprächen begibt, kann ich nur vor einem warnen: Machen Sie kein Pa- Fakt ist: Sie wollen den Spitzensteuersatz von ket ohne Gegenfinanzierung. Sie haften ansonsten 53 Prozent bei p rivaten Einkünften auf 39 Prozent für jede Erhöhung, die später kommt. Weil Sie zu A senken. Sie können es drehen und wenden, wie Sie ja gesagt haben, werden Sie dann auch zu B ja sagen wollen: Damit begünstigen Sie eine ganz bestimmte müssen. Das wäre, glaube ich, nicht im Interesse die- Schicht in der Bevölkerung, nämlich die, die ohnehin ser Gesellschaft. genug und viel mehr als genug besitzt. Irgend je- mand muß das doch bezahlen. Diesmal gehen Sie (Beifall bei der PDS) nicht nur an die sozial Schwächsten, sondern auch an die Facharbeiterinnen und Facharbeiter. Das ist ein- Sie schlagen eine dritte Stufe der Gesundheitsre- fach unerträglich, form vor. Ich muß Ihnen sagen: Bei der F.D.P. kommt man aus dem Staunen nicht heraus. So etwas von (Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordne nackter Klientelpolitik habe ich wirklich selten er- ten der SPD) lebt. und zwar erstens wegen der sozialen Schieflage und (Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordne- zweitens, weil Sie damit Kaufkraft und Nachfrage re- ten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE duzieren, die Wirtschaft somit weiter ruinieren und GRÜNEN) Arbeitsplätze vernichten. (Beifall bei der PDS) Das einzige, was man Ihnen lassen muß: Sie machen es wirklich ungeschminkt und ganz offen. Sie sagen, Herr Bundeswirtschaftsminister, auch Sie wollten eine Kaufkrafterhöhung, und zwar, in- Von wegen, Sie sind gegen Subventionen und für dem Sie zum Beispiel die Belastung bei den Löhnen freien Markt - das ist interessant -: Sie beschränken reduzieren, dadurch das Nettoeinkommen erhöhen die Importe billiger Arzneimittel nach Deutschland, und damit die Nachfrage stabilisieren. Aber machen was die Kosten im Gesundheitswesen senken würde, wir uns doch nichts vor! Versuchen wir in dieser aus reiner Klientelpolitik. Frage doch einmal wirklich ehrlich zu sein: Wenn Sie (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das stimmt Frau Thurn und Taxis die Vermögensteuer schenken, nicht! Sie behaupten die Unwahrheit!) wenn Sie Ihre Steuer senken, wenn Sie meine Steuer senken - wir kaufen doch nicht mehr, wir sparen Da plötzlich ist nichts mehr mit freier Marktwirt- doch höchstens mehr! Wenn Sie die Steuern bei der schaft. Da wollen Sie plötzlich monopolisieren, je Facharbeiterin und bei dem Facharbeiter senken nachdem, wie Ihre Interessenlage aussieht. - oder wenn Sie Sozialleistungen erhöhen, dann erhö- hen Sie die Kaufkraft. Bei Vermögenden ändern Sie (Widerspruch bei der F.D.P. - Dr. Guido nur das Sparverhalten, nicht das Kaufverhalten. Des- Westerwelle [F.D.P.]: Lesen Sie einmal halb bringt es für die Nachfrage nichts, wenn Sie die nach!) 14104 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997

Dr. Gregor Gysi Bei der Gesundheitsreform muß man über die Bud- ventionen machten nur 0,6 Prozent vom Bundeshaus- gets reden. So geht es natürlich nicht. Wir können halt aus. keine Situation zulassen, bei der der Arzt im Novem- (Ina Albowitz [F.D.P.]: Rechnen konnte der ber dem Kranken sagt: Es tut mir leid, mein Budget noch nie!) ist aufgebraucht; kommen Sie mit Ihren Schmerzen in drei Monaten wieder. Das ist völlig unerträglich. Zahlen sollten stimmen. Ich darf darauf hinweisen, Hier braucht man sozusagen andere Wege. Aber die daß der Bundeshaushalt bei gut 450 Milliarden DM Kostensenkung praktisch aufzuheben und dann zu liegt und die Kohlesubventionen gut 10 Milliarden sagen, wenn die Gesundheitskosten weiter steigen, DM ausmachen. Nach meinen Grundrechenarten dann werden wir die Arbeitnehmerinnen- und Ar- sind das mindestens 2,1 Prozent. Das ist ein kleiner beitnehmeranteile am Versicherungssystem erhöhen, Unterschied. Zwischen 0,6 Prozent und 2,1 Prozent aber die Arbeitgeberanteile festschreiben, diese liegen Welten. Diese Grundrechenarten sollte doch brauchen nie wieder mehr zu bezahlen, dann ist das die PDS wenigstens beherrschen. wirklich eine einzigartige Klientelpolitik zu Lasten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und zu (Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.]: Da sind die Lasten der Kranken. Sie gehen mit Ihrer Politik ganz Knappschaften nicht d rin!) eindeutig auch in die der Gesellschaft. Dr. Gregor Gysi (PDS): Ich bedanke mich für die (Beifall bei der PDS) Nachhilfe, was die Mathematik betrifft. Ich darf nur darauf hinweisen, daß die Kohlesubventionen nicht Ich komme dann zur Kohlesubvention und dazu, alleine aus dem Bundeshaushalt finanziert werden. wie Sie dabei herumwettern. Wissen Sie, die ganze Insofern stimmen meine Berechnungen schon. Da Kohlesubvention macht 0,6 Prozent des Bundeshaus- kommt mehreres zusammen. halts aus. Aber sie sichert eine Vielzahl von Arbeits- plätzen. Wenn diese alle vernichtet werden, wird das (Lachen bei der F.D.P.) für die Gesellschaft sehr teuer. Wir brauchen noch Außerdem gibt es auch noch Gegenrechnungen. Ich andere alte rnative Energien, nicht die Atomenergie. rechne natürlich auch, was wir dadurch einsparen, Solange diese nicht ausreichen, brauchen wir auch daß wir in dieser Hinsicht subventionieren. Das müs- noch Kohle. Das ist auch eine gesellschaftsstrategi- sen Sie schon mitberücksichtigen. sche Frage. (Lachen bei der F.D.P. sowie bei Abgeord- Deshalb sage ich: Hören Sie mit Ihrer Hetze gegen neten der CDU/CSU - Zurufe von der die Kohlekumpel auf! Sparen Sie an anderen Stellen! F.D.P.: Abgestürzt!) Dies wäre bei den Vermögenden, den Reichen und - Nein, nein. Wir können uns noch länger über die den Besserverdienenden angebracht, nicht immer zu Kohle unterhalten. Auch können wir uns über die Lasten dieser Leute, nur weil diese nicht Ihre Klientel Kohle in den neuen Bundesländern und über Stand- sind. Natürlich gibt es keinen Kohlekumpel, der Sie ortfragen unterhalten. Ich kann Ihnen, der CDU/ wählt. Das räume ich ein. Aber das ist kein Grund, CSU, nur eines raten: Wenn Sie sich weiterhin auf um sie derartig in Haftung zu nehmen, so wie Sie das diese Art von Klientelpolitik der F.D.P. einlassen, hier täglich versuchen. Auch das will ich einmal werden Sie Ihren Charakter als Volkspartei endgül- deutlich an dieser Stelle hervorheben. tig verlieren. (Beifall bei der PDS - Dr. Guido Wester (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Das haben Sie welle [F.D.P.]: Sie waren schon einmal bes schon!) ser! - Dr. Hermann Otto Solms [F.D.P.]: Wenn Sie der SPD Stimmen wegnehmen - Ich habe ja „endgültig" gesagt. Dazwischen gibt es wollen!) ja noch einen kurzen Schritt. Das erleben wir gegenwärtig und das wird Auswir- - Herr Dr. Solms, ich muß sagen: Es war eine char- kungen haben. Ganz egal, wer dann Ihr Kandidat mante Art, wie Sie Ihren hessischen Kommunalwahl- werden sollte oder wie lange sich der bisherige ziert kampf in der Hoffnung bet rieben haben, daß wir es zu entscheiden, ob er es noch einmal wird, das wird nicht mitbekommen, daß aber die Wählerinnen und Folgen und Auswirkungen haben, auf die ich nur Wähler dort reagieren und dann anschließend F.D.P. hoffen kann. Es geht ja nicht um einen Wechsel der wählen. Ich glaube, so naiv ist keiner. Regierung, wie es immer dargestellt wird, es geht um einen Wechsel in der Politik. Das ist das Entschei- dende, das wir erreichen müssen, wenn wir wirklich Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege etwas gegen Arbeitslosigkeit in dieser Gesellschaft Gysi, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeord- tun wollen. neten Schauerte? (Beifall bei der PDS - Dr. Hermann Otto Solms [F.D.P.]: In der Kohlepolitik wollen Sie aber keinen Wechsel?) Dr. Gregor Gysi (PDS): Ja, selbstverständlich. - Sie haben hier die Ladenöffnungszeiten angespro- chen. Alle diesbezüglichen Deregulierungsmaßnah- Hartmut Schauerte (CDU/CSU): Herr Kollege Gysi, men haben nur zu Verschlechterungen geführt. Sie Sie haben gerade gesagt, die gesamten Kohlesub- selber haben von Milliardeneinsparungen bei Unter- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997 14105 Dr. Gregor Gysi nehmen durch die Änderung der Lohnfortzahlung im Wissen Sie, Herr Bundesminister Rexrodt, was das Krankheitsfalle gesprochen. Sie können aber nicht schlimmste ist? In Ihrer ganzen Rede gab es kein ein- einen einzigen Arbeitsplatz nachweisen, der dadurch ziges Wort zu den neuen Bundesländern, kein einzi- entstanden ist. Im Gegenteil: Sie prognostizieren ges Wort zum Osten. trotz all dieser Maßnahmen eine höhere Arbeitslosig- keit für 1997. Das heißt, Sie glauben doch gar nicht (Widerspruch bei der CDU/CSU und der daran, daß diese Einsparungen der Unternehmen zu F.D.P.) Investitionen und neuen Arbeitsplätzen führen. Das ist zu einem solchen Nebenaspekt bei Ihnen ge- Im übrigen ist das so lange auch nicht glaubwür- worden, daß ich manchmal denke, daß Sie die Auf- dig, wie der privat entnommene Gewinn immer noch gabe, die Vereinigung zu erreichen, inzwischen geringer besteuert wird als der Gewinn, der für Inve- schon aufgegeben haben. stitionen verwendet wird. Wenn Sie wirklich Investi- Wenn Sie, Herr Stoltenberg, uns die USA als Maß- tionen wollen, müssen Sie dort Steuersenkungen vor- nehmen und nicht bei den privat entnommenen Ge- stab empfehlen, dann möchte ich Ihnen eines sagen: rt einige interessante Fortschritte, winnen und bei den Gewinnen aus Einkommen und Natürlich gibt es do aber da gibt es auch ungeheures Elend und unge- Spekulationen, wie Sie es die ganze Zeit treiben. In- vestitionen werden in dieser Gesellschaft steuerlich heure Armut, und zwar selbst bei denen, die Arbeit haben. Ich kann da nur warnen. Wenn das Ihr Ziel nach wie vor bestraft. Solange das so bleibt, glaube ich Ihnen kein Wort, daß Sie Investitionen tatsächlich ist, dann armes Deutschland! fördern wollen, schon gar nicht solche, die Arbeits- (Beifall bei der PDS) plätze schaffen. (Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordne Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich gebe das ten der SPD) Wort zu einer Kurzintervention dem Abgeordneten Dann muß ich Ihnen natürlich auch noch etwas zur Rexrodt. Postreform sagen - wir werden ja nachher noch dar- über diskutieren -: Dr. Günter Rexrodt (F.D.P.): Herr Kollege Gysi, sind (Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.]: Freuen wir Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß ich in mei- uns darauf!) ner Regierungserklärung in langen Passagen auf die Situation in den neuen Ländern eingegangen bin, Ich finde es unerträglich, wie Sie hier wieder über daß ich über die Haben-Seite und die Soll-Seite der Zehntausende von Arbeitsplätzen diskutieren. Die Entwicklung gesprochen habe und daß ich vor allem dort arbeitenden Menschen kämpfen um ihre nackte angekündigt habe, daß sich die Koalitionsparteien Existenz. Sie haben nicht das Recht, so über sie her- und die Bundesregierung in den nächsten Wochen zuziehen, wie Sie es vorhin getan haben. ausführlich mit der Förderung der neuen Bundeslän- der für die Zeit nach 1998 befassen werden und dazu (Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordne ein Konzept vorlegen werden? Sind Sie außerdem ten der SPD - Widerspruch bei der F.D.P.) bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß es der Fraktions- Auch zur Wahl in Hessen wollte ich noch etwas sa- vorsitzende der SPD war, der in seinem Beitrag mit gen: Wenn Sie hier Kommunalwahlkampf für Hessen keinem Wort auf die Lage und die Situation in den machen - wir treten ja nicht überall an, aber in neuen Ländern eingegangen ist? Frankfurt, Marburg und Gießen treten auch wir an -, nehme ich Ihre Kritik auf (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- ten der CDU/CSU - Wolfgang Zöller [CDU/ (Dr. Hermann Otto Solms [F.D.P.]: Bitte ver CSU]: Herr Gysi, Sie sollten Regierung und schonen Sie uns!) Opposition auseinanderhalten!) und kann die Leute nur warnen: Machen Sie nicht den Fehler und wählen F.D.P. in diesen Städten! Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege Wenn Sie schon etwas anderes wählen wollen, dann Gysi, Sie haben das Wort . entschließen Sie sich für die PDS. Ich mache das ein- fach ganz direkt und nicht so indirekt wie Sie. (Unruhe auf der Bundesratsbank) (Beifall bei der PDS - Lachen bei der F.D.P.) - Darf ich die Herren Ministerpräsidenten bitten, dem Redner die Möglichkeit zur Antwort zu geben. Ich kann aber auch dem nicht zustimmen, was Sie Wir unterbrechen gerne so lange, bis das möglich ist. hier über den Mittelstand gesagt haben. Sie machen in Wirklichkeit eine mittelstandsfeindliche Politik. Bitte sehr, Herr Dr. Gysi, Sie haben das Wo rt. Leider habe ich nicht soviel Zeit, das zu erklären. Aber es ist der Mittelstand, der immer noch ehrlich seine Steuern in dieser Gesellschaft zahlt, und es Dr. Gregor Gysi (PDS): Was den zweiten Teil Ihrer sind nicht die Versicherungen, nicht die Banken und Intervention betrifft, muß ich einräumen, daß der- nicht die großen Konzerne; die haben sich aus der Fraktionsvorsitzende der SPD zur Situation in den Bezahlung der Bundesrepublik verabschiedet. neuen Bundesländern nichts gesagt hat. Aber ich bin nicht sein Verteidiger. Dazu muß er selbst Stellung (Beifall bei der PDS) nehmen. 14106 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997

Dr. Gregor Gysi Zum ersten Teil muß ich sagen, daß Sie kaum et- Steuern und Abgaben senken zu können; es geht um was über die neuen Bundesländer gesagt haben. Steuersenkungen und Steuerstrukturreformen, um den Verbrauch und die Investitionen anzuregen, und (Widerspruch bei der CDU/CSU und der um Reformen im Sozialbereich, um die Sozialleistun- F.D.P.) gen auf Dauer zu sichern und Lohnnebenkosten zu - Einen Moment. Sie haben nur in Aussicht gestellt, senken. daß eine Konzeption vorgelegt werden so ll, die in (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) den nächsten Wochen erarbeitet wird. Daß unsere Diagnose und auch die Medizin Konso- (Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.]: Sag doch lidierung und gezielte Wachstumspolitik richtig sind, nur einmal: Ich habe mich geirrt!) zeigen nicht nur unsere eigenen, sondern auch die Wenn Sie nach sieben Jahren deutscher Einheit hier internationalen Erfahrungen. Auch ich verweise auf den Jahreswirtschaftsbericht vorlegen und eine Kon- das, was der Kollege Stoltenberg in seiner glänzen- zeption in Aussicht stellen, statt sie vorzustellen, den Rede dargestellt hat. dann sagt das alles über Ihre diesbezügliche Politik. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der PDS - Dr. Die Beispiele Niederlande, Großbritannien, Skandi- [F.D.P.]: Sie haben gepennt!) navien, Kanada, zum Teil Frankreich und Österreich müßten doch jedem zu denken geben. Sie können Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich gebe nun doch nicht ewig mit dem Image der rückständigsten dem Bundesminister der Finanzen, Dr. Theodor Wai- Sozialdemokraten in Europa herumlaufen. gel, das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Das ist Ihrer Geschichte und auch des Erbes von Karl Dr. Theodor Waigel, Bundesminister der Finanzen: Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Schiller eigentlich nicht angemessen. Herren! Deutschland steht am Beginn eines entschei- Mit dem vorgelegten Jahreswirtschaftsbericht denden Jahres. Wir brauchen eine Trendwende am zeichnet die Bundesregierung ein realistisches Bild Arbeitsmarkt; wir brauchen einen starken Auf- der wirtschaftlichen Lage und der Herausforderun- schwung und einen nachhaltigen und ausreichenden gen, vor denen wir stehen. Der Kollege Rexrodt hat Wachstumspfad für die deutsche Volkswirtschaft. zu Recht darauf hingewiesen: Die Rahmenbedingun- Unser erfolgreiches wirtschaftspolitisches Modell, die gen für eine Wachstumsbeschleunigung sind gut. soziale Marktwirtschaft Ludwig Erhards, dessen Der Welthandel expandiert kräftig. Die deutschen 100. Geburtstag wir Anfang Februar gefeiert haben, Exporteure profitieren von der guten Weltkonjunk- steht vor einer weiteren Bewährungsprobe. tur. Die langfristigen Zinsen sind auf ein historisch Ich habe gerne zur Kenntnis genommen, daß sich niedriges Niveau unter fünf Prozent gesunken. Das jetzt auch Herr Scharping des Erbes von Ludwig Er- erleichtert Investitionen und begünstigt den Woh- hard bedient. Wir begrüßen das. Aber zu dem Zeit- nungsbau. Schließlich haben wir in Deutschland na- punkt, als Ludwig Erhard hier noch unter uns saß, hezu Preisstabilität, eine wichtige Voraussetzung für wurde Rudolf Scharping wegen Juso-Umtrieben - je- wirtschaftliches Wachstum. denfalls zeitweilig - aus der SPD entfernt. Trotzdem Wir wissen aber, daß die Rückführung der Arbeits- begrüßen wir es, wenn jetzt die Ideenwelt von Lud- losigkeit einen langen Atem erfordert. Auf vielen Fel- wig Erhard, der sich gegen Karl Marx weltweit dern haben wir die notwendigen Gegenmaßnahmen durchgesetzt hat, auch in der SPD zum Tragen ergriffen oder eingeleitet: das Programm für mehr kommt. Ein besseres Konzept in Deutschland, in Eu- Wachstum und Beschäftigung mit seinem Umbau im ropa und weltweit gibt es nicht. Sozialsystem, die Reform der Renten- und Kranken- versicherung, die Jahressteuergesetze 1996 und (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) 1997, insbesondere die Abschaffung der arbeitsplatz- Was wir jetzt brauchen, ist eine konzertierte Aktion vernichtenden Vermögensteuer. für Wachstum und Beschäftigung. Alle gesellschaftli- Meine Damen und Herren, Ihre Polemik hilft doch chen Gruppen müssen daran mitwirken. Ohne Kon- nicht darüber hinweg, daß der Investor in Dänemark sens im Bundestag und im Bundesrat, ohne Konsens und der Investor in Osterreich - Länder mit sozialde- der Tarifpartner bleibt die Politik für den Standort mokratischer Regierung - in die Lage versetzt wur- Deutschland Stückwerk. Fehlender Konsens bedeu- den, ihre Vermögensteuer nicht mehr bezahlen zu tet fehlende Arbeitsplätze. Vorrang vor allen anderen müssen, während der Investor in Deutschland - ob in Überlegungen muß jetzt die Wiedergewinnung von Schleswig-Holstein oder in Bayern - sie bezahlen Beschäftigung haben. Ich bin der festen Überzeu- mußte. Der Investor richtet sich doch nicht nach Ihrer gung, daß es ausgehend von einer klaren Diagnose Ideologie, sondern nach der konkreten Kostenbela- der Probleme am Standort Deutschland möglich sein stung. Darum war es richtig, diese Substanzsteuer müßte, gemeinsam zur richtigen Therapie zu gelan- abzuschaffen. gen. Dafür stehen wir in der Pflicht. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Die aktuellen finanz- und wirtschaftspolitischen Entscheidungen der Bundesregierung packen das Wir werden die Konsolidierung auch im Bundes- Problem der Arbeitslosigkeit an der Wurzel. Es geht haushalt und in der mittelfristigen Finanzplanung um Konsolidierung der Staatsfinanzen, um Defizite, konsequent fortsetzen. Die dritte Stufe der Unterneh- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997 14107

Bundesminister Dr. Theodor Waigel mensteuerreform mit dem Wegfall der Substanz- alleine die Lösung der Arbeitsmarktprobleme mit steuer Gewerbekapitalsteuer und einer investitions- sich bringt. Wir brauchen strukturelle Reformen, ge- verstetigenden Gemeindefinanzreform ist der rich- zielte Wachstumsförderung und die Fortführung der tige Weg. Hinzu kommen unsere umfassende Steuer- Konsolidierungspolitik. reform 1999 und ihre erste Stufe 1998. Beim letzten G-7-Treffen in Berlin - ich habe mich Im nächsten Monat werde ich den Diskussionsent- sehr darüber gefreut, daß die Finanzminister und No- wurf zum Dritten Finanzmarktförderungsgesetz vor- tenbankgouverneure der G 7 selber den Wunsch äu- legen. Auch das ist ein wichtiger Beitrag für den ßerten, wieder einmal in Berlin, der alten und neuen Standort Deutschland, für den Finanzplatz Deutsch- Hauptstadt, zusammenzukommen - war man von der land und auch - das darf ich bei aller Respektierung Aufbauleistung, die do rt stattfindet, beeindruckt. der regionalen Finanzplätze sagen - für den Finanz- Dort hat uns der Inte rnationale Währungsfonds wie- platz Frankfurt. Darum profitiert Frankfu rt und damit der bestätigt, daß in Deutschland 80 Prozent der Ar- auch Hessen von unserer Politik, nicht von der rot- beitslosigkeit strukturelle Ursachen hat und daß des- grünen Politik, die in Wiesbaden bet rieben wird. wegen Strukturpolitik und Flexibilität im Beschäfti- gungsbereich entscheidende Voraussetzungen sind, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - um an die Beschäftigungserfolge der Vereinigten Widerspruch bei der SPD - Zuruf von der Staaten und auch Großbritanniens, Hollands, Schwe- SPD: Das ist ja eine Anmaßung!) dens sowie anderer Länder entsprechend anzuknüp- Im Börsen- und Wertpapierbereich sollen umfang- fen. reiche Deregulierungsmaßnahmen dazu beitragen, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) die Aktie zu fördern, den Emittenten den Börsenzu- gang zu erleichtern und den Anlegerschutz zu ver- Sie haben - auch in der Auseinandersetzung mit bessern. Wir denken zum Beispiel an die Modernisie- dem Kollegen Stoltenberg - völlig übersehen, daß rung der Haftung bei fehlerhaften Börsenzulassun- wir von 1983 bis 1992 über drei Millionen Arbeits- gen oder Verkaufsprospekten, Ermöglichung einer plätze geschaffen haben und die Zahl der Erwerbstä- Zulassung zum geltenden Markt für junge Unterneh- tigen um dreieinhalb Millionen gestiegen ist, daß men, unternehmensberichtsfreie Zulassung, Aner- aber die Arbeitslosigkeit im Ergebnis nur um eine kennung fremdsprachiger Prospekte, Erweiterung halbe Million zurückging, weil sehr viele Menschen der Befugnisse des Bundesaufsichtsamtes für den von außerhalb zu uns nach Deutschland hereinge- Wertpapierhandel bei Überwachung der Vorschriften kommen sind, nach Arbeit suchten und sie auch be- des Verkaufsprospektgesetzes. Mit den Veränderun- kommen haben. Das müssen Sie bei Ihrer Analyse gen im Investmentrecht kann die private Ersparnis- doch berücksichtigen. bildung über eine Anlage in Risikokapital vermehrt (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) in Unternehmensbeteiligungen gelenkt werden. Wir haben - das kann doch niemand leugnen - auf Weiter folgende Maßnahmen: Zulassung von ge- der Nachfrageseite zu hohe Lohn- und Lohnzusatz- mischten Wertpapier- und Grundstückssondervermö- kosten, zu starre Tarifverträge und - darauf hat Kol- gen, Zulassung von Aktienfonds mit begrenzter lege Solms verwiesen - ausufernde Rechtsnormen Laufzeit und von Aktienindexfonds, Erweiterung der mit langen Planungs- und Genehmigungsverfahren. Anlagemöglichkeiten der Fonds in Derivaten und Die Verantwortung für den Abbau struktureller Ar- Gestattung von Wertpapierpensionsgeschäften. beitslosigkeit tragen nicht zuletzt die Tarifparteien. Der dritte Bereich umfaßt die Neuregelung des Nicht der Staat kann - wie in den 60er und 70er Jah- Rechts über Unternehmensbeteiligungsgesellschaf- ren - Tausende, Hunderttausende oder Millionen ten. Die Eigenkapitalversorgung von innovativen neuer Arbeitsplätze schaffen. Sie müssen im p rivaten mittelständischen Unternehmen kann so entschei- Bereich durch eine Verbesserung der Rahmenbedin- dend verbessert werden. gungen, durch Angebotsorientierung und durch pri- vate Initiative geschaffen werden. Nur damit können (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) die Probleme gelöst werden. Das, meine Damen und Herren, ist ein entscheiden- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) der Beitrag für mehr Wagniskapital und die Chance, mehr Existenzen zu gründen. Wir haben nicht nur Wir haben in der Vergangenheit viele Vorteile aus eine Arbeitsmarktlücke, wir haben auch eine Exi- der internationalen Arbeitsteilung gezogen. Sie hat stenzgründungslücke. Auch hier muß natürlich an- uns Wohlstand und materielle Sicherheit gebracht. gesetzt werden, um mit mehr Existenzen - vor allen Die These wird nicht dadurch falsch, daß in den ver- Dingen mit mittelständischen und Dienstleistungs- gangenen Jahren neue Wettbewerber auf den Markt existenzen - zu mehr Beschäftigung und damit zu ei- getreten sind. Die neuen Wettbewerber tun das, was ner entscheidenden Bekämpfung der Arbeitslosig- wir nach dem Krieg in Europa und auf internationa- keit zu kommen. ler Ebene ausgenutzt haben. Darum wäre es völlig falsch, in Protektionismus oder Wettbewerbsverbote (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) flüchten zu wollen. Wir müssen mit den Herausforde- Mit guten Gründen können wir davon ausgehen: rungen fertig werden und können das nicht mit den Die Arbeitslosigkeit wird bei Fortsetzung dieser Poli- Antworten der 50er Jahre tun. Auch das gehört zu tik und bei Einleitung dieser Maßnahmen noch in den Erfahrungen des niedergegangenen Sozialis- diesem Jahr zurückgehen. Es wäre jedoch ein Trug- mus: Abschottung führt zu Wettbewerbsunfähigkeit schluß, zu glauben, daß der Konjunkturaufschwung und schließlich zur Verarmung. Freiheit des Marktes 14108 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997

Bundesminister Dr. Theodor Waigel und sozialer Ausgleich bilden zusammen das Kon- Der Jahreswirtschaftsbericht 1997 geht von einem zept der sozialen Marktwirtschaft. Ihr ist die wirt- Staatsdefizit von 2,9 Prozent aus. Das setzt voraus, schaftliche Kraft Deutschlands und die Entwicklung daß die im Vermittlungsverfahren befindlichen Spar- eines hervorragenden sozialen Netzes zu verdanken. gesetze umgesetzt werden. Notwendige haushalts- wirtschaftliche oder auch gesetzliche Einsparungen Meine Damen und Herren, es muß doch endlich bedürfen einer differenzie rten Abwägung. Einspa- einmal mit der Mär aufgeräumt werden, daß wir in rungen sollten weitgehend bei konsumtiven Ausga- einem sozialen Niedergang stünden oder daß ein so- ben ansetzen. Investive Ausgaben sollten wegen ih- zialer Kahlschlag stattfände. Nach Luxemburg und rer Bedeutung für den Wachstumsprozeß und den Dänemark steht das deutsche Sozialleistungsniveau Arbeitsmarkt möglichst nicht tangiert werden. Kon- an der Spitze in Europa. Die Summe aller sozialen solidierung und Wachstumspolitik gehören immer Leistungen belief sich 1989 noch auf rund zusammen. In jedem Fall wollen wir Konsolidie- 680 Milliarden DM. Heute sind es 1 180 Milliarden rungsmaßnahmen mit einem Konzept zur Verstär- DM. Es kann doch niemand behaupten, daß in dieser kung beschäftigungsfördernder Investitionen verbin- Zeit ein sozialer Abbau oder ein sozialer Rückgang den. Ein solches Maßnahmepaket muß bereits 1997 stattgefunden hätte. zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit wirksam wer- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) den. Der Aufgabenbereich der sozialen Sicherheit ist auch In diese Überlegungen können auch die Kreditan- in diesem Jahr mit mehr als 150 Milliarden DM der stalt für Wiederaufbau und die Deutsche Ausgleichs- größte Ausgabenposten im Bundeshaushalt. bank einbezogen werden. Sie verfügen über die not- wendigen Erfahrungen und die geeigneten Instru- Ludwig Erhard schrieb hierzu: mente, kurzfristig Wachstums- und Beschäftigungs- impulse zu geben. Insbesondere wäre daran zu den- Nichts ist in der Regel unsozialer als der soge- nannte Wohlfahrtsstaat. Solche Wohltaten muß ken, mittelstandsorientierte Programme aufzulegen, zum Beispiel für Investitionen in neue Technologien, das Volk immer teuer bezahlen, weil kein Staat in die Wohnraummodernisierung oder im Energiebe- seinen Bürgern mehr geben kann, als er ihnen reich. vorher abgenommen hat. Das wichtigste und wirksamste Instrument für (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) mehr Investitionen, für mehr Wachstum und für mehr Wahr ist: Der Bundeshaushalt 1996 schließt mit ei- Beschäftigung wäre das rechtzeitige Ja zu der gro- ner Defizitüberschreitung in Höhe von 18,4 Mil- ßen, umfassenden Steuerreform, für die wir in allen liarden DM ab. Die Mehrbelastung des Arbeitsmark- sachverständigen Kreisen große Zustimmung erfah- tes in der Größenordnung von 17 Milliarden DM ist ren. nicht nur das Ergebnis der Arbeitsmarktentwicklung, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) sondern auch die Folge dessen, daß es im Bundesrat nicht möglich war, zu zusätzlichen notwendigen, für Dies wäre ein Ruck für die Wirtschaft und für neue Bund, Länder und Kommunen eigentlich unverzicht- Arbeitsplätze. baren Konsolidierungen mindestens in der Größen- ordnung von 6 Milliarden DM zu kommen. Wir ha- Die Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer muß ben die Zusatzbelastungen auf dem Arbeitsmarkt endlich kommen. Wichtige Teile der Steuerreform 1996 mit Hilfe eines restriktiven Haushaltsvollzugs 1999 könnten auch, wie wir vorgeschlagen haben, größtenteils ausgeglichen. Wenn die Gesamtausga- 1998 umgesetzt werden. Darauf sollte die Wi rtschaft ben im Ist 1996 nur 1 Prozent über dem Soll liegen, setzen. Kluge Unternehmer handeln jetzt. Es ist das dann zeigt dies ganz deutlich, wie sparsam und re- Gebot der Stunde, jetzt bei sehr günstigen Abschrei- striktiv wir hier gearbeitet haben. bungssätzen zu investieren, um danach, 1998 und 1999, den Ertrag einer rechtzeitigen Investition mit Es sei mir einmal ein Vergleich von 1996 und 1994 niedrigeren Ertragsteuern zu bekommen und dann erlaubt. 1994 hatten wir beim Abschluß in der Stati- wieder für weitere Investitionen und damit für einen stik der Finanzkennziffern mit die besten Zahlen al- dauerhaften Wachstumsprozeß zu verwenden. ler G-7-Länder. Nur, damals war die Treuhandanstalt nicht berücksichtigt, war die Bundesbahn nicht be- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) rücksichtigt und waren einige andere Sonderfakto- Das ist auch die Grundphilosophie unserer Steuerre- ren, die wir 1995 und 1996 in den Haushalt genom- form und der zeitlichen Komponente, die damit zu- men haben, nicht berücksichtigt. sammenhängt. Wer heute investiert, profitiert sofort (Joseph Fischer [Frankfu rt] [BÜNDNIS 90/ von günstigen Abschreibungssätzen und ab 1998 DIE GRÜNEN]: Soso!) bzw. 1999 vom günstigeren Zukunftstarif. Diese Vor- zieheffekte wären das beste Investitions- und Wachs- Gegenüber 1994 ist die Kreditaufnahme im Bereich tumsprogramm für das Jahr 1997. des Bundes im Jahre 1996 um 11 Milliarden DM ge- ringer. Das zeigt die Konsolidierung, die 1994, 1995 Wir sollten jetzt mit dieser konzertierten Aktion für und auch 1996 stattgefunden hat. Wachstum und Beschäftigung beginnen und die wichtigen Reformen für Deutschland gemeinsam auf (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - den Weg bringen. Angesichts von viereinhalb Millio- Dr. Barbara Hend ricks [SPD]: Das ist ja nen Arbeitslosen sollten wir bei allen Unterschieden unglaublich!) in der politischen Auffassung im Interesse Deutsch- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997 14109

Bundesminister Dr. Theodor Waigel lands zusammenstehen. Lassen Sie uns ohne takti- wie Sie, Herr Bundeskanzler, der „Frankfu rter Allge- sche Scheuklappen die Probleme anpacken. Wir sind meinen Zeitung" gesagt haben - aufwärtsgeht. Dann es den Bürgern in unserem Vaterland schuldig, für haben die Sozialdemokraten ihre Aufgabe erfüllt, das drängendste Problem des ausgehenden und Sie können sich hinstellen und weitermachen 20. Jahrhunderts, die Bekämpfung der Arbeitslosig- wie bisher. keit, und dafür, Menschen wieder Arbeit zu geben, gemeinsam eine Lösung zu finden. Wir laden Sie Wenn bei den Sachfragen eine große Koalition in dazu ein. bezug auf die Steuerreform zustande kommt, Herr Fi- nanzminister, Herr Bundeskanzler, dann bekommen Vielen Dank. Sie nie eine so deutliche Senkung der Nominaltarife (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU - hin, die bewirken könnte, daß ausländische Direkt- Beifall bei der F.D.P. - Zuruf von der SPD: investitionen in dieses Land kommen. Ausländische Ablösung der Regierung! - Bundeskanzler Direktinvestitionen haben bisher die Bundesrepublik Dr. Helmut Kohl: Sehr gut, Theo!) gemieden, weil tatsächlich, was die steuerrechtlichen Parameter betrifft, die hohe nominale Tarifbelastung in der Spitze hemmend für den Standort Deutschland Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Zu einer Kurz- wirkt. Wir müssen uns darüber im klaren sein, daß intervention gebe ich dem Abgeordneten Metzger Wirtschaftspolitik auch nach dem Prinzip der kom- das Wort. munizierenden Röhren funktioniert. Wenn deutsches Kapital ins Ausland fließt, um an den Absatzmärkten Oswald Metzger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Arbeitsplätze zu schaffen und um so zu vermeiden, Herr Bundesfinanzminister, der Inhalt Ihrer Reden ist daß bei den Handelspartnern prohibitive Tendenzen bekannt. Sie unterliegen dem Irrtum, der Opposition aufkommen, dann bedeutet das im Umkehrschluß das Nichtstun vorhalten zu wollen, das Sie in der Re- doch auch, daß ausländisches Kapital wieder in die- gierung durch Unterlassen in der Vergangenheit - ses Land hinein muß, das bewirkt, daß hier We rt das hat den Reformstau bewirkt - zu verantworten -schöpfung erarbeitet werden kann, für die dann in haben. Ich nenne ein paar konkrete Zahlen. unserem Land, und nicht in England oder in Spanien Ertragsteuern gezahlt werden. Sie stellen sich hier hin und bemühen den Jahres- abschluß des Bundeshaushalts 1996, um sich der (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Konsolidierungserfolge zu rühmen. Die Konsolidie- SES 90/DIE GRÜNEN - Zuruf von der rungserfolge des letzten Jahres haben sich dadurch CDU/CSU: Davon reden wir doch die ganze ergeben, daß Sie im Bereich der Investitionen 5 Mil- Zeit!) liarden DM weniger ausgegeben haben, als Sie ur- sprünglich wollten. Sie haben damit genau das Ge- genteil Ihrer eigenen Botschaft praktiziert, die da Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege lautet: Wachstum und Beschäftigung entstehen da- Metzger, die Zeit für Ihre Kurzintervention ist abge- durch, daß man die Investitionsausgaben des Staates laufen. erhöht. Dazu sage ich: Fehlanzeige. (Zurufe von der CDU/CSU: Frage!) Oswald Metzger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sie sind die Regierung, nicht wir. Sie stehen doch in dem - Das ist eine Kurzintervention und keine Zwischen- Ruf, wirtschaftsnah und reformfähig zu sein. Sie la- frage. den die Opposition zur Mitarbeit zu einem Zeitpunkt Zum zweiten. Ihre große Steuerreform bringen Sie ein, zu dem Sie schon längst versagt haben. Sie kom- zu spät auf den Weg. Sie wissen, daß Steuerreformen men zu spät. einen Vorlauf brauchen, um mit einer Grundbot- schaft, die in einer Senkung der nominalen Tarife be- Herr Kollege steht, etwas zu bewirken. Das Steueraufkommen soll Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Metzger, die Zeit für Ihre Kurzintervention ist abge- ja möglichst gleichbleiben; die Staatskasse kann laufen. Bitte beenden Sie Ihren Beitrag. eben kein Geld an die Bürgerinnen und Bürger zu- rückgeben, weil sie sonst mit der einen Hand das nimmt, was sie mit der anderen Hand gibt. Sie wis- Oswald Metzger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): sen, daß diese Reform zu spät kommt, so daß Sie, Wenn Sie sich mit der SPD auf eine Regelung einlas- Herr Finanzminister, die Maastricht-Kriterien im frü- sen, dann wird dabei nach dem Prinzip des kleinsten heren Musterland Deutschland 1997 nicht erfüllen gemeinsamen Nenners eine Schmalspurlösung her- können. Sie wissen doch genau, daß heute die Bun- auskommen. desbank - und auch die Commerzbank - die Defizit- quote bei 3,3 Prozent ansetzt. Sie und auch Bundes- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- kanzler Kohl haben sich immer hingestellt und SES 90/DIE GRÜNEN) durchdekliniert: 3,0 Prozent ist gleich 3,0 Prozent.

Sie versuchen jetzt, für Ihr Reformprojekt die So- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Minister zialdemokraten zu instrumentalisieren. Sie möchten Waigel, Sie haben die Möglichkeit zu antworten. die Malaise dieses Winters mit den schlechten Ar- beitsmarktdaten überbrücken, bis es dann wieder, (Bundesminister Dr. Theodor Waigel: saisonbedingt, ab April - wenn der Frühling kommt, Danke!) 14110 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997

Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch Dann erteile ich dem Ministerpräsidenten des Lan- bei waren, ist die: Glauben Sie wirklich, daß sich die des Niedersachsen, Gerhard Schröder, als Mitglied Instrumente Erhardscher Wirtschaftspolitik auf reine des Bundesrates das Wo rt. Angebotspolitik reduzieren lassen? Nach meiner fe- sten Überzeugung ist das eine Verzeichnung dessen, (Bundesminister Dr. Theodor Waigel: Jetzt was seinerzeit war, und deshalb nicht die Bestäti- kommt's!) gung der Vorschläge, die Herr Rexrodt hier gemacht hat. Ministerpräsident Gerhard Schröder (Niedersach- sen): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen (Beifall bei der SPD) und Herren! Hier ist vom Bundeswirtschaftsminister Was, meine Damen und Herren, hat diese rein an- formuliert worden: Im Ziel, Beschäftigung zu sichern gebotsorientierte Wirtschaftspolitik, die Sie in der und mehr Beschäftigung in Deutschland zu errei- letzten Zeit permanent gemacht haben, wirklich an- chen, sei man sich einig. - Ich bin nicht so sicher, ob gerichtet? Auf dem Arbeitsmarkt eine schlichte Kata- man sich mit dem Bundeswirtschaftsminister in die- strophe. Denn Sie machen nichts anderes als das, wo- sem Ziel einig sein kann; von Sie seit vierzehn Jahren reden: angebotsorien- (Zuruf von der SPD: Wir auch nicht!) tierte Wirtschaftspolitik. Wenn die Erwartungen, die Sie an diese Form der Politik stellen, erfüllt würden, denn die Stellungnahmen, die er in der letzten Zeit dann müßten bereits paradiesische Zustände einge- außerhalb des Deutschen Bundestages abgegeben treten sein; denn Sie machen doch nichts anderes als hat, legen eine ganz andere Einschätzung nahe. diese Politik. Da haben wir von der Klage des Herrn Rexrodt (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- darüber gehört, daß es in Deutschland mangelnde ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Möglichkeiten gebe, Menschen auf die Straße zu set- und der PDS) zen, sie zu entlassen. Dies, meine Damen und Her- ren, sagt der Bundeswirtschaftsminister in einer Si- Es geht nicht nur darum, was auf dem Arbeits- tuation, in der wir fast 5 Millionen Arbeitslose haben. markt los ist. Was ist etwa bei der Verteilung von Ver- Das ist nicht Politik, das ist blanker Zynismus. mögen in Deutschland los? (Beifall bei der SPD und der PDS sowie bei (Abg. Dr. Gerhard Stoltenberg [CDU/CSU] Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE meldet sich zu einer Zwischenfrage) GRÜNEN) - Lassen Sie mich das bitte im Zusammenhang aus- Unter dem Stichwort „Wir brauchen mehr Flexibili- führen. Ich bin als Parlamentsredner nicht mehr so tät in der Arbeitsorganisation" - da ist was dran - versiert wie Sie, Herr Stoltenberg. vernehmen wir vom Bundesfinanzminister den Vor- schlag, die Nacht - und Schichtzuschläge zu besteu- (Lachen bei der CDU/CSU und der F.D.P.) ern. Was passiert ökonomisch, wenn man das tut? Es Was ist los, meine sehr verehrten Damen und Her- wird das Gegenteil von dem passieren, was man ei- ren, in puncto gentlich will. Man will teure Anlagen, Maschinen Vermögensverteilung in Deutschland als Folge einer rein auf Angebot orientierten Wirt- besser nutzen. Das ist ein richtiger Wunsch und ein schaftspolitik? vernünftiges Unterfangen. Aber wenn man das errei- chen will, dann darf man diejenigen, die nachts und Sie können nicht darüber hinwegsehen, daß die in Schichten arbeiten sollen, nicht bestrafen, sondern Konsequenz dessen gewesen ist, daß sich die Ein- man muß sie ermuntern. Sonst funktioniert das kommens- und Vermögensverteilung in Deutschland Ganze nicht. dramatisch verändert hat, und zwar zu Lasten der ar- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne beitenden Menschen und zugunsten derjenigen, die ten der PDS) ihr Einkommen nicht aus Leistung, nicht aus Arbeit, sondern rein aus Vermögen beziehen. Die Vorschläge, die Menschen, die zu ungünstigen Zeiten zur Arbeit in die Fabriken gehen, zu bestra- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- fen, sind sozial ungerecht und ökonomisch kontra- ten der PDS) produktiv. Dies ernsthaft zu bestreiten ist falsch. (Beifall bei der SPD - Widerspruch bei der Drittens. Wo hat denn die rein angebotsorientierte CDU/CSU) Politik, bezogen auf die Binnenkonjunktur, hinge- Kern dieser Vorschläge, die im Jahreswirtschafts- führt? Wir sehen in der Exportkonjunktur zwar Licht- bericht stehen und die der Bundeswirtschaftsminister blicke; das ist durchaus zuzugestehen. Aber das Pro- erläutert hat, sei das Ziel von mehr Beschäftigung. blem, das wir wirtschaftspolitisch und auch sozial - Das Instrument dafür, das er schon seit mehr als vor allem aber wirtschaftspolitisch - haben, ist doch, 14 Jahren vorschlägt, heißt: angebotsorientierte daß wir dramatische Einbrüche in der Binnennach- Wirtschaftspolitik. frage haben. Angebotsorientierte Wi rtschaftspolitik, wie Sie sie verstehen, heißt: Die dramatischen Ein-- Herr Stoltenberg, ich habe Ihnen genau zugehört. brüche in der Binnennachfrage verstärken und damit Ich finde, über Ihre Polemik war nicht zu diskutieren, die Krise verschärfen. Das ist Ihr Konzept. aber über die Inhalte. Die Frage, die man an Men- schen wie Sie stellen muß, die fast von Anfang an da- (Beifall bei der SPD und der PDS) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997 14111

Ministerpräsident Gerhard Schröder (Niedersachsen) Dann habe ich versucht zuzuhören, was denn, Politik, die Sie weiterhin propagieren, bezogen auf nachdem man die Ergebnisse dieser angebotsorien- das, was auf dem Ausbildungssektor bei uns los ist, tierten Wirtschaftspolitik zur Kenntnis nehmen ein paar Bemerkungen machen. mußte, die Folge dessen sein soll. Gibt es Einsicht? Deutschland war zu Recht stolz darauf, das mo- Gibt es die Fähigkeit, zu erkennen, daß nicht das Set- zu haben, das zen auf Keynes - das ist hier gar nicht vorzuschlagen -, dernste, das beste Ausbildungssystem es weltweit gibt. Was ist daraus in den letzten Jahren sondern eine ausgewogene Balance zwischen der Beachtung der Funktion von Masseneinkommen ei- geworden? nerseits und der Kostensituation in den Betrieben an- (Zurufe von der CDU/CSU: Niedersachsen!) dererseits immer das Kennzeichen deutscher Wi rt -schaftspolitik - im Unterschied zum Beispiel zu dem, - Gerade darauf habe ich gewartet! Wenn Sie einmal was Frau Thatcher in England vorgeschlagen hat - genau hingucken, dann werden Sie feststellen, daß war? bei uns zwar längst nicht alles in Ordnung ist - das gebe ich gerne zu -, daß es bei uns aber 3 Prozent Herr Bundeskanzler, wenn ich das, was Sie von Zuwachs bei den Ausbildungsplätzen gegeben hat, Maggie Thatcher unterschieden hat, richtig verstan- während es im Bundesdurchschnitt fast 2 Prozent den habe - ich meine jetzt nicht die Probleme im weniger waren. Das reicht nicht, aber wir sind stolz Emotionalen, sondern im Sachlichen -, dann war es darauf, daß das geleistet werden konnte. doch wohl so, daß sich deutscher Konservativismus vom englischen immer dadurch unterschied, daß er (Beifall bei der SPD) um die soziale Funktion der Masseneinkommen Ich bleibe bei der Ausbildung. Angebotsorientierte wußte, jedenfalls zu wissen schien. Dies aufgegeben Wirtschaftspolitik heißt, bezogen auf die Ausbildung zu haben ist der eigentliche Fehler, den Sie gegen- in den Betrieben, daß man die Kostenorientierung wärtig machen. zum alleinigen Maßstab der Ausbildungsverpflich- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne tung erklärt. Realität auf diesem Sektor erfordert es, ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN daß man den Unternehmen, den ökonomischen Eli- und der PDS) ten in diesem Land sagt, daß Ausbildung eben nicht nur nach Kostengesichtspunkten beurteilt werden Anstatt Einkehr zu zeigen und Vernunft zu wah- darf, sondern die Sicherung der Basis unserer Volks- ren, lassen Sie eine verhängnisvolle Entwicklung zu, wirtschaft bedeutet. die sich schon jetzt abzeichnet, nämlich die Entwick- lung, daß die gescheiterte, insbesondere in der F.D.P. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- entworfene Angebotspolitik durch die Mehrheitspar- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN tei in der Koalition nicht korrigiert wird, sondern und der PDS) durch die F.D.P. in Verkennung der Wirklichkeit und Bei einigen heißt das - ich weiß das sehr wohl -, in Hilflosigkeit verschärft wird. Das war das Kredo die bittere Pille schlucken zu müssen: Wenn man des Bundeswirtschaftsministers heute. mehr Ausbildung will, als im Bet rieb gebraucht wird, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne darf es keine Übernahmeverpflichtungen geben. Das ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN ist gar keine Frage. Auf diesen Weg müssen sich und der PDS) auch die Tarifpartner begeben, sonst wird das Ganze nicht funktionieren. Herr Kopper hat den Herrn Wirtschaftsminister als Führungsfigur der Fußkranken in der Wirtschafts- ( [CDU/CSU]: Abgabe! - politik dargestellt. Ich halte das für übertrieben. Weitere Zurufe von der CDU/CSU) Nicht die Krankheit, aber das Defizit sitzt deutlich weiter oben. - Dazu ist alles Notwendige gesagt worden. (Heiterkeit und Beifall bei der SPD und der (Lachen bei der CDU/CSU und der F.D.P.) PDS sowie bei Abgeordneten des BÜND Zum Problem der illegalen Beschäftigung. Wessen NISSES 90/DIE GRÜNEN) Kredo ist denn die Klage, daß man nichts gegen die Sie werden in der aktuellen Debatte noch eines er- illegale Beschäftigung tun kann? Wer diffamiert leben: Die von Ihnen zugelassene Verschärfung ei- denn den Versuch, deutsche Bauarbeiter vor Lohn- ner verfehlten Politik mit all den gefährlichen sozia- dumping und billigster Konkurrenz aus anderen Län- len Wirkungen, die wir tagtäglich erleben, wird dazu dern zu schützen, als Protektionismus? Das sind doch führen - ich erinnere an die Zeit Ende der 70er, An- Sie, die das ständig diffamieren. fang der 80er Jahre -, daß - das sage ich Ihnen, Kol- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- leginnen und Kollegen aus der Union - diese brutali- ten der PDS) sierte Form der Klientelpolitik der F.D.P. die CDU um ihren Charakter als Volkspartei bringen wird. Ich glaube also, daß man feststellen kann, ja, fest- stellen muß, daß eine Politik, die allein auf Angebots- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne orientierung gesetzt hat, nun, da ihr Scheitern offen- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN bar wird, zu einer Verschärfung der ökonomischen und der PDS) - und sozialen Krise mit allen Folgen im Land führen Ich habe über die Funktion dieser Politik, was die wird. Ich glaube nicht mehr, daß von diesem Bundes- Binnenkonjunktur und die Arbeitslosigkeit angeht, wirtschaftsminister und von Ihnen, Herr Bundes- gesprochen. Ich möchte zu den Wirkungen dieser kanzler, wirklich eine Lösung des Problems zu erwar- 14112 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997

Ministerpräsident Gerhard Schröder (Niedersachsen) ten sein wird. Sie sind nämlich nicht die Lösung des 22,5 Prozent nur unwesentlich über dem Eingangs- Problems, weil Sie Teil des Problems sind. Das ist das steuersatz von 19,5 Prozent liegen, den wir vorge- Problem, vor dem wir stehen. schlagen haben. Ich halte es für denkbar, nötig und (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne möglich, daß man sich in dieser Frage rasch einigt. ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Bei der Frage der Gegenfinanzierung, meine Da- und der PDS) men und Herren, Herr Bundesfinanzminister, werden Meine Damen und Herren, wenn es noch nicht ge- Sie so einfach nicht davonkommen. Sie haben mit Ih- nug sein sollte: Vor ein paar Monaten haben wir voll- rem Steuerkonzept - wir wissen übrigens noch nicht, tönend gehört, man brauche die Opposition in der ob es jemals in Gesetzesform gegossen wird; darauf Steuerpolitik nicht, um ein vernünftiges, ein rationa- warten wir noch - bewußt Mut zur Lücke gehabt, les Steuerkonzept zu entwickeln. Man nehme das nämlich zur Lücke von 44 Milliarden DM, die in Ih- nach dem bewährten Muster auseinander, packe es rem Steuerkonzept noch nicht finanziert sind. Bevor in Artikelgesetze, und dann werde man es, ohne die wir Finanzierungsvorschläge machen, möchten wir Sozialdemokraten zu bemühen, schon durchpeit- von Ihnen gerne hören, wie Sie sich diese Finanzie- schen. rung vorstellen. Denn eines muß man der Öffentlich- keit auch einmal mal klarmachen: Politik kann nicht (Bundesminister Dr. Theodor Waigel: Selten so aussehen, daß Sie die Wohltaten versprechen und dummes Zeug!) sich die Sozialdemokraten um die Finanzierung kümmern müssen. Ich bin ja froh darüber, Herr Bundesfinanzminister, daß ausgerechnet in Passau nicht nur polemische (Beifall bei der SPD - Lachen bei der CDU/ Töne zu hören waren, sondern das ernsthafte Ange- CSU und der F.D.P.) bot gemacht worden ist: Seht ihr, ihr Sozialdemokra- ten, wir haben uns verschätzt, es geht doch nicht - Ich verstehe Sie überhaupt nicht. Ich verstehe Ihre ohne euch. - Das wußten wir. Immer wenn die Krise Aufregung überhaupt nicht. groß genug ist, brauchen Sie uns. Aber wir werden (Dr. Alfred Dregger [CDU/CSU]: Keine Auf- helfen; seien Sie ganz sicher, wir werden helfen. Nur, regung! - Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.]: diese Hilfe, die Sie brauchen, weil Sie nicht zurecht- Wer ist Koch, und wer ist Kellner?) kommen, ist nicht um Ihre Preise zu haben. Das muß genauso feststehen. - Herr Westerwelle, wenn die Intelligenz Ihrer Vor- schläge mit der Lautstärke jemals Schritt halten (Beifall bei der SPD und der PDS) würde, wären wir besser dran. Das will ich Ihnen Lassen Sie mich abschließend ein paar Bemerkun- sehr deutlich sagen. gen zu den Verhandlungen machen, die Gott sei (Beifall bei der SPD) Dank beginnen. Denn das gebe ich gerne zu: Es wäre töricht von jedem in diesem Haus und in der Bislang ist einfacher Tatbestand, daß in dem Steu- deutschen Politik, wenn nicht der ernsthafte Versuch erkonzept - nicht unintelligent gemacht -, das Herr gemacht würde, angesichts von 5 Millionen Arbeits- Waigel skizziert hat - in Gesetzesform haben wir es losen auch auf dem Felde der Steuerpolitik das zu noch nicht -, eine Finanzierungslücke von 44 Mil- richten, was gerichtet werden muß, um Verbesserun- liarden DM besteht. Was immer Sie der deutschen gen zu erreichen. Keine Frage, daß das sinnvoller- Öffentlichkeit und wem auch immer erzählen, für die weise geschieht! Finanzierung dieser 44 Milliarden DM werden Sie Vorschläge zu machen haben. Sonst ist das kein se- (Hannelore Rönsch [Wiesbaden] [CDU/ riöses Unterfangen. Sonst kann es auch keine aus- CSU]: Aber wie denn?!) sichtsreichen Verhandlungen geben. Die Eckpunkte dessen, was geschehen müßte, lie- (Beifall bei der SPD) gen auf der Hand. Ich fand es vernünftig - davon gibt es nichts abzustreichen -, daß die Besteuerung Meine Damen und Herren, im Grunde ist mit die- gewerblicher Einkünfte anders behandelt werden sem Konzept eines geleistet worden, nämlich daß soll als die Besteuerung sonstiger Einkünfte. man aus nachvollziehbaren Gründen die nominalen Steuersätze dem angepaßt hat, was real in Deutsch- (Michael Glos [CDU/CSU]: Ja! - Hans land gezahlt wird. Aus den genannten Gründen ist Michelbach [CDU/CSU]: Ganz hervorra das richtig. Das ist aber schon das ganze Geheimnis gend!) der Waigelschen Vorschläge. Denn die Unterneh- Ich finde es deshalb vernünftig, weil es ein Signal mensteuerbelastung in Deutschland - real betrach- sein kann - nicht: sein muß! - für ausländische Inve- tet, nicht nominal - liegt etwa im Mittel der europäi- storen. Wir werden ja sehen, was daraus erwächst. schen Konkurrenten. Ich halte aber das Prinzip für richtig. Richtig ist auch, daß es für die Besteuerung der sonstigen Einkünfte Wenn es also darum ging, vernünftigerweise die verfassungsrechtliche Folgen hat. Aber den Aus- nominalen Sätze dem anzupassen, was in Deutsch- gangspunkt, in dieser Richtung etwas zu tun, halte land real gezahlt wird, um ausländischen Investoren zu sagen, was sie zu zahlen haben, und ihnen zu er- ich für richtig und vernünftig. - sparen, komplizierte Abschreibungsmöglichkeiten Ich glaube, meine Damen und Herren, daß Sie mit zu studieren, um zu einer Investitionsentscheidung einem Eingangssteuersatz nicht etwa von 15 Prozent zu kommen, dann ist das richtig. Das hat aber die - das wäre ein bißchen Mogelei -, sondern von Folge, meine Damen und Herren, daß Sie, Herr Bun- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997 14113

Ministerpräsident Gerhard Schröder (Niedersachsen) desfinanzminister, vorschlagen müssen, daß die Fi- Ich gehöre zu denjenigen, die sagen, man kann nanzierung der Senkung der Tarife exakt aus dieser darüber nachdenken. Aber in der Tat, wenn man auf Marge geschieht. Sie können ja nicht die nominalen diese Weise Arbeit in Deutschland preiswerter macht Sätze dem real Gezahlten anpassen, die Finanzie- - von billig ist in dem Zusammenhang wohl nicht zu rung aber von den arbeitenden Menschen nehmen. reden -, dann muß man aufpassen, daß die Gegenfi- Das wird nicht funktionieren, meine Damen und Her- nanzierungsform nicht kontraproduktiv ist und nicht ren. zu einer Verschärfung der Wettbewerbsbedingungen für unsere Industrie und produzierenden Gewerbe (Beifall bei der SPD - Bundesminister führt. Das ist klar. Insofern wird darüber zu streiten Dr. Theodor Waigel: Das stimmt doch sein, was der richtige Weg ist. nicht!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- - Warten wir es einmal ab. Wir kennen Ihre Vor- ten der PDS) schläge ja noch nicht. Kurzum, meine Damen und Herren, Sie werden er- Dann macht es Sinn, wenn man Beschäftigungspo- leben, daß in den Gesprächen, die jetzt losgehen, die litik ernst nimmt, in die Gespräche, die jetzt Gott sei Opposition, die Mehrheit derer, die im Bundesrat ist, Dank losgehen, die Tatsache einzubeziehen, daß die darauf achten wird, daß mit den ökonomisch unsinni- Ergänzung angebotsorientierter Wi rtschaftspolitik gen, sozial gefährlichen Wirkungen einer lediglich vielleicht dadurch geschehen könnte, daß man sich angebotsorientierten Wirtschaftspolitik gebrochen endlich um die zentralen Kosten, die Beschäftigung wird. Sie werden erleben, daß in diesen Gesprächen in Deutschland so schwer machen, kümmert, näm- auf vernünftige Vorschläge des Bundeswirtschaftsmi- lich um die Arbeitskosten. Wenn Sie meinen Kolle- nisters eingegangen wird. ginnen und Kollegen vorwerfen, sie hätten dazu keine Vorschläge gemacht, dann wissen Sie, daß das Vielleicht schaffen wir es dann, im nächsten Jahr falsch ist. Denn sie haben sich überall wirklich die einen Jahreswirtschaftsbericht zu debattieren, der Münder fusselig geredet über die Notwendigkeit, die wenigstens Rudimente einer veränderten Politik und Senkung der Arbeitskosten dadurch hinzubekom- damit ein vernünftiges Eingehen auf die Probleme, men, daß man in der Tat Leistungen, die nicht in die die wir in Deutschland haben, enthält. Zu wünschen Sozialkassen gehören, do rt herausnimmt. wäre das jedenfalls. (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Und wie Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. finanziert?) (Anhaltender Beifall bei der SPD, Beifall bei Ich sage Ihnen, es geht gar nicht anders, als das Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE über die Erhöhung der indirekten Steuern zu finan- GRÜNEN und der PDS) zieren. (Widerspruch bei der CDU/CSU) Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Zu einer Kurz- intervention gebe ich dem Abgeordneten Dr. Gerhard - Entschuldigen Sie einmal, niemand, der in diesem Stoltenberg das Wo rt. Haus vernünftig ist, wird doch wohl bestreiten, daß es für die Senkung der Arbeitskosten, die eine Sen- kung der Beitragspflichten der arbeitenden Men- Dr. Gerhard Stoltenberg (CDU/CSU): Herr Mi- schen bedeutet, vernünftig ist, über die Gegenfinan- nisterpräsident Schröder, weil eine Zwischenfrage zierung, über die Erhöhung der indirekten Steuern nicht möglich war - Sie hatten mich vorher angespro- nachzudenken. chen -, will ich in Kürze feststellen, daß die Politik der Union und die Politik der Koalition niemals eine (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) rein angebotsorientierte Politik war. Nein, da gibt es auch gar keinen Streit. (Beifall bei der CDU/CSU) (Lachen bei der CDU/CSU und der F.P.D.) Das hätte nicht der Tradition Ludwig Erhards ent- sprochen und auch nicht den Vorstellungen Karl Meine Freunde haben gesagt: dies jedenfalls nicht Schillers, der immer über einen „policy mix" sprach, zur Finanzierung der Steuerreform. Das ist auch ver- also über eine Politik, die verschiedene Elemente zu nünftig. beachten hat. Daß dies nach 1982 geschah, zeigen (Beifall bei der SPD) Ihnen folgende Stichworte. Aber niemand hat gesagt, daß man sich, wenn es Erstens. Die Steuerreform der 80er Jahre mit einer gelingt, die Arbeitskosten deutlich zu senken, alter- Nettoentlastung von 45 Milliarden DM ist zu über native Finanzierungsmöglichkeiten eröffnen müsse. zwei Dritteln den Arbeitnehmern zugute gekommen. Es gibt eine Kontroverse. Das ist doch zuzugestehen. Also hat das auch der p rivaten Nachfrage gedient. Was schadet es denn, meine Damen und Herren, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- über die Frage, welche Form der indirekten Steuern ordneten der F.D.P.) das sein soll, nachzudenken? Das ist doch überhaupt keine Frage. Das weiß doch jeder. Sie müssen sich Zweitens. Die Erhöhung der Realeinkommen der auch gar nicht aufregen, daß es darüber eine Kontro- Rentner, die wir nach der Wiedervereinigung vor al- verse gibt. Die ist übrigens auch nicht schlimm. lem in den neuen Ländern erfreulicherweise massiv 14114 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997

Dr. Gerhard Stoltenberg erreicht haben, ist nicht nur sozial gewesen, sie hat Koalitionspartner, der aus Existenzangst nichts da- auch die private Nachfrage gefördert. von hält, Rudimente dieser Traditionen zu bewahren? Das wird die eigentlich spannende Frage in diesem (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Jahr sein. Entlang dieser Frage werden die eigentlich Drittens. Das Vermögensbildungsgesetz, das wir spannenden politischen Entscheidungen in der näch- 1983 verabschiedet haben - nach vielen Jahren der sten Zeit fallen. Stagnation vorher in der sozialliberalen Ara -, kann man nicht als eine angebotsorientierte Maßnahme (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- bezeichnen. ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS) Viertens. Die Verbesserung des steuerlichen Exi- stenzminimums und die starke Erhöhung erneuter kinderbezogener Leistungen wurden 1985 beschlos- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Zu einer weite- sen. Das waren 23 Milliarden DM Entlastungen. Das ren Kurzintervention gebe ich dem Abgeordneten hat doch nichts mit Angebotspolitik zu tun. Dr. Günter Rexrodt das Wo rt . Das heißt: Die These, die Sie hier vorgetragen ha- ben, ist schlicht falsch; aber eine Stärkung der Ange- Dr. Günter Rexrodt (F.D.P.): Herr Ministerpräsident botsfähigkeit der deutschen Wi rtschaft ist gerade Schröder, ich möchte mit aller Deutlichkeit klarstel- heute geboten, auch im Interesse des Arbeitsmark- len, daß es seitens der F.D.P. und auch seitens des tes. Bundeswirtschaftsministers keinerlei Aussagen und keinerlei Erklärungen des Inhalts gibt, daß das Ele- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) ment der Nachfrage und der Nachfragesteigerung neben dem Element der Verbesserung der Bedingun- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Minister- gen für das Angebot von Gütern und Leistungen au- präsident, Sie haben die Möglichkeit zu antworten. ßer acht gelassen wird. Ich habe mich immer, auch aus voller wirtschaftspolitischer und wirtschaftstheo- retischer Überzeugung, dafür ausgesprochen, eben Ministerpräsident Gerhard Schröder (Niedersach- sen): Verehrter Herr Stoltenberg, ich freue mich über die richtige Balance zwischen Angebotsorientierung und Nachfrageorientierung herauszuarbeiten. die Klarstellung. Aber wenn Sie das Protokoll nachle- sen, werden Sie finden, daß der Bundeswirtschafts- Ich habe in der Rede heute und auch anderswo minister hier davon gesprochen hat, daß seine ord- aber gesagt, daß es in einer Zeit, in der der Unter- nungspolitischen Vorstellungen zur Erreichung der schied zwischen den verfügbaren Einkommen und Ziele - ich habe erklärt, warum man sie damit nicht den Bruttoeinkommen immer größer wird, darauf an- erreichen kann - angebotsorientierte Wirtschaftspoli- kommt, die private Nachfrage dadurch zu steigern, tik sind. Ich habe die herzliche Bitte: Lesen Sie es daß wir Steuern und Abgaben senken. Durch eine nach. Ich lasse mich gern von einem Besseren über- Verbesserung der Angebotsbedingungen müssen zeugen. wir dafür Sorge tragen, daß zusätzliche Arbeitsplätze Im übrigen will ich ausdrücklich einräumen, daß es entstehen und diese wiederum dazu führen, daß den Traditionen der Union immer entsprochen hat, mehr privat nachgefragt werden kann. In einer Zeit - sich nicht allein auf eine angebotsorientierte Wi rt ich habe das gesagt -, in der die Unternehmen mit -schaftspolitik zu beziehen. Indessen ist die Befürch- 1 000 DM belastet werden, damit das Nettoeinkom- tung nicht abwegig, daß unter dem Druck der Klien- men um 360 DM gesteigert werden kann, kann es telpolitik, wie sie die F.D.P. macht, diese Traditionen nicht darauf ankommen, daß wir nur auf Nachfrage- zuschanden kommen. steigerung setzen, sondern es muß primär darauf an- kommen, daß wir die Bedingungen für die Erstellung (Beifall bei der SPD) von Leistungen und Gütern in den Unternehmen ver- Wenn Sie, meine Damen und Herren, einen Be- bessern. weis dafür brauchen, dann brauchen Sie nur die, wie Das ist unsere angebotsorientierte Politik, das ist ich finde, nachvollziehbaren und auch gar nicht ohne unsere Reformpolitik, und das ist letztlich eine Poli- Respekt zu verfolgenden Debatten in Ihren eigenen tik, die über eine Verbesserung der Angebotsbedin- Reihen zwischen den Sozialpolitikern - Geißler, Blüm gungen dazu führt, daß die p rivate Nachfrage durch und wie sie alle heißen - und denen, die dann doch zusätzliches Einkommen gesteigert werden kann. lieber in Richtung angebotsorientierte Wirtschafts- politik gehen, anzuschauen. Man darf auch nicht Einseitigkeit oder Einäugigkeit hat es in unserer, in ganz außer acht lassen, Herr Bundesfinanzminister, meiner Wirtschaftspolitik nie gegeben. daß die Auseinandersetzungen in der bayerischen Volkspartei CSU, die dort zwischen Frau Stamm auf (Lachen bei der SPD - Dr. Barbara Hen- der einen und Herrn Seehofer auf der anderen Seite dricks [SPD]: Einäugigkeit gibt es bei Ihnen laufen, im Kern exakt um diese Frage gehen. Ende nicht! Sie sind ja blind!) der Legende, was die Geschlossenheit der CSU an- Aber man muß die Prioritäten do rt setzen, wo sie an- geht, könnte man formulieren. gesagt sind. In unserer Zeit, bei verschärftem inter- Es geht, Herr Stoltenberg, letztlich darum: Wollen nationalen Wettbewerb, ist die Aufgabe, in Deutsch- Sie die sozialen Traditionen der Union in der Krise land Bedingungen herbeizuführen, die unsere Unter- über Bord werfen, oder schaffen Sie es, gegen einen nehmen zu Investitionen bringen und damit zu Ar- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Feb ruar 1997 14115

Dr. Günter Rexrodt beitsplätzen führen. Von Einäugigkeit kann über- sen ist und weltweit als Vorbild gilt, war deswegen haupt keine Rede sein erfolgreich, weil es den Gedanken der größeren Effi- zienz eines am Markt ausgerichteten Systems mit Ei- (Dr. Barbara Hend ricks [SPD]: Nein, Sie genverantwortung, Eigeninteresse, Phantasie und sind blind, jedenfalls ökonomisch!) Kreativität verbunden hat mit sozialem Ausgleich, in- und schon gar nicht von Klientelpolitik. Ich weise das stitutioneller Vorsorge für Risiken, die den einzelnen mit aller Schärfe zurück. überfordern, und Vorkehrungen für Chancengleich- heit. Das ist eine gemeinsame Politik der Koalition, (Lachen bei der SPD) der Union, das wird sie bleiben, und darüber bräuch- Hier gibt es ein Konzept der Ausgewogenheit und ten wir auch gar nicht sehr zu streiten. der Balance und der Priorität an der richtigen Stelle. Ich denke, wir brauchen am heutigen Tag auch (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) nicht darüber zu streiten, was der Bundeswirtschafts- minister in seiner Regierungserklärung als ersten Satz - wenn ich mich richtig erinnere - gesagt hat: Herr Minister- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: daß sich alles, was wir diskutieren, und alles, wor- präsident, Sie können darauf antworten. über wir unterschiedlicher Meinung sind und mitein- ander streiten, bei einer Arbeitslosigkeit von Ministerpräsident Gerhard Schröder (Niedersach- 4,66 Millionen am Ende des vergangenen Monats an sen): Ich nehme Ihre Interpretationsversuche gern der Frage messen lassen muß: Bringt es mehr oder zur Kenntnis und will mich auch durchaus darauf weniger Beschäftigung? Das ist die entscheidende einlassen. Aber lesen Sie Ihren Wi rtschaftsbericht! Frage. Ich will einmal deutlich machen, was da steht. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Da gibt es zum Beispiel in Ziffer 15 Bemerkungen über eine zu schwache Binnenkonjunktur. Es heißt Vielleicht können wir uns darüber vergewissern, dann - ich sage das jetzt nicht als Zitat, sondern sinn- daß alle - Gerhard Stoltenberg hat es gerade in sei- gemäß -: Die Bundesregierung ist der Auffassung, ner Kurzintervention noch einmal klargestellt - nie- daß die Konsumenten, also die, die für die Binnen- mals nur für angebots- oder nur für nachfrageorien- nachfrage sorgen sollen, von einer steuerlichen und tierte Politik gewesen sind. Ich kenne keinen in die- familienpolitischen Entlastung in hohem Maß profi- sem Haus. Wir waren eigentlich alle, vielleicht mit tieren. Wir führen gerade die Auseinandersetzung unterschiedlichen Akzenten, immer für ein „policy darüber, ob das ausreicht; im unteren Bereich, wo mix " zwischen angebots- und nachfrageorientierter Zusatzeinkommen wirklich in Nachfrage umgewan- Politik. delt wird, ist das nach unserer Auffassung nicht so. Ich hätte noch ein bißchen mehr aus der Familien- Weiter diskutieren wir über die Frage, was anson- politik der 80er Jahre aufgezählt als Gerhard Stol- sten zu machen ist. Da sagen Sie - das liegt in der tenberg: Anrechnung von Erziehungszeiten in der Logik dessen, was Sie eingangs gesagt haben, nicht Rentenversicherung, Erziehungsgeld, Erziehungsur- Ihrer Interpretation -, daß - ich zitiere - die Schwä- laub bis hin zur Pflegeversicherung in den 90er Jah- che der Masseneinkommen durch den Zuwachs der ren. Vielleicht aber ist heute die wichtigste Frage so- Unternehmens- und Vermögenseinkommen voll aus- zialer Gerechtigkeit die Bekämpfung der Arbeitslo- geglichen wird. Dies indessen ist klassisch für eine sigkeit. rein angebotsorientierte Wirtschaftspolitik (Dr. Wolfgang Gerhardt [F.D.P.]: So ist es!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Vielleicht können wir uns wirklich in der Debatte und belegt genau die Behauptung, die ich Ihnen ge- darauf verständigen, daß das die vorrangige Frage ist genüber gemacht habe. und daß wir uns darauf konzentrieren. Aber ich freue mich über Ihre Einsicht. Denn wie (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) heißt es so schön - ich bin nicht ganz so bibelfest wie Es wird nicht eine Maßnahme geben, mit der das der eine oder andere -: Man soll sich wirklich über Problem zu lösen ist. jeden reuigen Sünder freuen. Insofern war das ein guter Vormittag. Natürlich kann man diskutieren, ob die Flexibili- sierung der Ladenöffnungszeiten etwas gebracht hat (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne oder nicht, und all die vielen anderen Maßnahmen ten der PDS) ansprechen. Das wird im einzelnen immer schwer zu quantifizieren sein. Wir könnten uns aber doch ein- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile das fach darauf verständigen. Vielleicht bringt das eine Wort dem Abgeordneten Dr. Wolfgang Schäuble. oder andere doch schrittweise etwas. (Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk [SPD]: In wieviel Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU): Herr Präsi- Jahren? - Zuruf von der SPD: Nichts!) dent! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich Zu diesem Punkt darf ich darauf zu sprechen kom- finde, wir sollten, Herr Ministerpräsident Schröder, - men: Internationale Beobachter sagen, Deutschland den Streit um die Begrifflichkeit nicht übertreiben. sei ein besonders wenig kundenfreundliches Land. Das Prinzip der sozialen Marktwirtschaft, zu dem Wir werden uns auch darüber verständigen, Frau wir uns alle heute bekennen, das erfolgreich gewe- Kollegin, daß wir angesichts technologischer Ent- 14116 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997

Dr. Wolfgang Schäuble wicklungen in unserer Arbeitswelt in der industriel- gung - wahrscheinlich sind wir weltweit führend - len Produktion allein, bei den großen Indust rien, für die Bevölkerung erhalten können und wie wir die selbst bei den großen Verwaltungseinheiten Arbeits- sich daraus ergebenden Arbeitsplätze in diesem Be- plätze nicht schaffen können. Das ist bedauerlich, ist reich, wo wir im Vergleich zu anderen Branchen in aber die Revolution von der Indust rie- in die Informa- den letzten Jahren den höchsten Zuwachs haben, er- tionsgesellschaft. halten können, wie wir es aber auch bezahlbar hal- ten. Es muß nämlich bezahlbar sein; sonst nützt das Wenn das so ist, müssen wir in Dienstleistungen alles nichts. aller Art - das betrifft nicht nur die Parkplatzwächter, sondern alle - mehr Arbeitsplätze schaffen. Dienstlei- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) stungen haben etwas mit Nähe zum Menschen, mit Sonst fallen die Arbeitsplätze weg, ob es uns gefällt Service, mit Kundenfreundlichkeit zu tun. Da passen die Ladenöffnungszeiten wieder hinein. oder nicht. Die gute Absicht allein nützt nichts. Das Ergebnis ist entscheidend. Deswegen müssen wir (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) das eine mit dem anderen verbinden. Es kann auch nur ein kleiner Beitrag in der Be- Deshalb ist für mich in der Tat auch in den Steuer- kämpfung der Arbeitslosigkeit sein. Wir fragen bei debatten die entscheidende Frage: Was können wir jeder Maßnahme: Bringt das eher mehr oder eher für die Chance auf mehr Arbeitsplätze tun? Gerhard weniger Arbeitsplätze? Wenn es weniger bringt, soll- Stoltenberg hat - ich finde, überzeugend; dem ist bis- ten wir es lassen. Wenn es eher mehr bringt, sollten lang auch nicht widersprochen worden - dargelegt, wir es versuchen und auf diesem Weg weitermachen. daß wir eine Entwicklung haben, bei der immer mehr Investitionen und Arbeitsplätze wegen ungünstiger Wenn wir diesem Maßstab Vorrang geben - darauf steuerlicher Rahmenbedingungen aus Deutschland könnten wir uns verständigen, Herr Schröder -, dann in das europäische Ausland abwandern bzw. nicht sollten wir auch die Frage stellen: Welchen Beitrag aus dem europäischen Ausland nach Deutschland kann unser Steuerrecht leisten? Und es muß einen kommen. Auch der Kollege Metzger hat in seiner Beitrag leisten; das ist unstreitig. Wir dürfen die steu- Kurzintervention darauf hingewiesen, daß wir in ei- erpolitischen Debatten aber nicht als Verteilungsde- ner Zeit globalisierter Märkte überall in der Welt in- batten oder als Neiddebatten führen. Wir müssen sie vestieren müssen, daß wir uns aber auch fragen müs- vielmehr als Wachstums- und Beschäftigungsdebat- sen, warum der Rest der Welt nicht in einem ver- ten führen. gleichbaren Maße in Deutschland investiert. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Damit sind wir bei den Substanzsteuern auf inve- stiertes Kapital. Die Vermögensteuer eignet sich na- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege türlich für Neiddebatten und für Verteilungsdebat- Schäuble, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Ab- ten. geordneten Christa Nickels? (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Aber wenn wir etwas machen wollen, was unsere (CDU/CSU): Ja, bitte sehr. Dr. Wolfgang Schäuble Probleme löst, dann dürfen wir investiertes Kapital in Deutschland nicht höher als in anderen europäischen Christa Nickels (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ländern besteuern. Herr Schäuble, Sie haben gerade erwähnt, daß im Dienstleistungssektor besondere Anstrengungen nö- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) tig sind, um dort Arbeitsplätze zu schaffen. Kommen Sie mir nicht mit der Ausrede p rivater Ver- mögensteuer. Sie haben keinen Vorschlag vorlegen Ich stimme Ihnen zu, möchte Sie aber fragen, wie können - weil es ihn nicht gibt -, nach dem man in- das mit der Politik der Regierung gerade im Dienst- vestiertes Kapital von der Vermögensteuer freistellt, leistungssektor übereinstimmt, der die Gesundheit die Vermögensteuer im übrigen aber beläßt. Sie ha- der Bevölkerung nachhaltig stärkt, den Bürgerinnen ben den Vorschlag gemacht, Körperschaften und Ka- und Bürgern in breitem Maße zugute kommt und Ar- pitalgesellschaften von der Vermögensteuer freizu- beitsplätze für qualifizierte Leute im gesamten Kur- stellen. Aber Sie haben keinen Vorschlag vorlegen und Gesundheitsbereich schafft, die eben nicht in können, Betriebsvermögen von der Vermögensteuer Spitzenjobs tätig sind. Warum ergreifen Sie da Maß- freizustellen, übriges Vermögen aber mit der Vermö- nahmen, die massenhaft zu Kahlschlag in diesem Ar- gensteuer zu erfassen. Das geht nämlich nicht. beitsplatzbereich führen? Bei den Ertragsteuern werden Sie übrigens das- selbe erfahren. Ich vermute, Sie wissen das; und ich Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU): Frau Kollegin, Sie bringen mich jetzt ein wenig vom Pfad dessen ab, vermute, daß die sozialdemokratischen Steuerpoliti- was ich auch in Anknüpfung an die Rede von Herrn ker das ihrem Parteivorsitzenden gesagt haben. Schröder sagen wollte. Wenn man akzeptiert - ich halte das für notwendig; es ist ein Dreh- und Angelpunkt aller Debatten zur Wir werden heute abend, nach Schluß der Plenar- Steuerreform -, daß wir bei den Körperschaftsteuer- debatte, in einer Fraktionssitzung der CDU/CSU dar- sätzen und damit beim Einkommensteuersatz auf über reden - wir werden nicht entscheiden, weil es Einkünfte aus Gewerbebetrieben auf 35 Prozent her- schwierige Fragen sind -, wie wir im Gesundheits- unter müssen, um unter dem Gesichtspunkt der Ar- sektor den hohen Stand an medizinischer Versor- beitsplätze international wettbewerbsfähig zu sein, Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997 14117

Dr. Wolfgang Schäuble dann kann man den Spitzensteuersatz bei anderen beschreiben Sie mit den Worten: „Man darf die nicht Einkunftsarten nicht bei 53 Prozent lassen. Das geht bestrafen." Wenn wir eine gleichmäßige, also ge- nicht; jeder weiß das. rechte Besteuerung als „bestrafen" bezeichnen, wer- den wir unsere Bevölkerung nicht davon überzeugen (Beifall bei der CDU/CSU) können, was notwendig und richtig ist. Man sollte den Menschen auch nicht einreden, daß (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) es unter Verteilungsgesichtspunkten falsch wäre, den Spitzensteuersatz zu senken. Das bringt dann Lassen Sie uns darüber reden, wie wir das Ziel ver- nämlich wieder die Neiddebatte, die uns hinde rt , im nünftig erreichen. Lassen Sie uns darüber reden, was Kampf für mehr Arbeitsplätze das Richtige zu tun. das richtige Ziel ist, und dann auch darüber diskutie- ren, wie man dieses Ziel erreichen kann. Dabei muß (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) man vielleicht Schritte gehen. Auch die Sozialdemo- Wir können eine größere Differenz zwischen dem kraten sagen nicht nur Falsches. Ich habe schon öf- Einkommensteuersatz auf Einkünfte aus dem Ge- ters gesagt: Es hat doch nicht der eine nur recht und werbebetrieb - dabei sagen auch Sie 35 Prozent; das der andere nur unrecht. So ist es doch nicht verteilt. ist richtig; das ist ja schon ein wichtiger Schritt - und (Dr. Peter Struck [SPD]: Aus Ihrem Munde dem auf Einkünfte aus anderen Einkunftsarten, als hört sich das ganz gut an!) wir sie heute schon haben - wir haben zur Zeit eine Spreizung zwischen 53 Prozent und 47 Prozent -, - Herr Struck, bei Ihnen fällt meistens der Ton aus, nicht machen, ohne daß in der Praxis noch mehr Um- wenn Sie zur Sache argumentieren müssen. Auch gehungsmöglichkeiten der Besteuerung entstehen das habe ich erlebt. und befördert werden, weil die Menschen ihre ande- ren Einkunftsarten so umorganisieren, daß sie zu Ein- (Heiterkeit bei der CDU/CSU) künften aus Gewerbebetrieben werden. So, wie man Ich will Ihnen im Zusammenhang mit den Über- seine Steuerpflicht legal ins Ausland verlegen kann - stundenzuschlägen folgendes sagen. Sie argumen- Herr Stoltenberg hat das dargelegt -, kann man sie tieren doch, daß es auf die Dauer nicht richtig sein genauso legal in Einkünfte aus den Gewerbebetrie- kann, daß wir auf der einen Seite immer höhere ben verlagern. Wer solche Umgehungmöglichkeiten Sozialversicherungsbeiträge haben und auf der im Steuerrecht schafft, der wird nicht mehr Arbeits- anderen Seite ein immer größerer Teil von Beschäfti- plätze - und im übrigen auch nicht mehr Gerechtig- gung bei den sogenannten geringfügigen Beschäfti- keit - erzielen, sondern weniger. gungsverhältnissen versicherungsfrei ist. Das Argu- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) ment ist nicht so falsch, so wie mein Argument, was die Steuerfreiheit von Zuschlägen anbetrifft, nicht Wir machen uns das alles nicht leicht. falsch sein kann. (Zuruf von der SPD: Ha!) Die Umstellung wird allerdings dazu führen - das ist das Argument, warum wir sagen: Seid bei der Um- - Nein, wirklich nicht. Es sind schwierige Debatten. - stellung vorsichtig -, daß möglicherweise bei den ge- Wenn wir eine Steuerreform zustande bringen wol- ringfügigen Beschäftigungsverhältnissen, mit einer len, müssen wir die Kraft haben, den Menschen zu pauschalen Lohnbesteuerung von 20 Prozent, versi- erklären, warum Veränderungen an dem, was bisher cherungsfrei, bei einer Änderung die Gefahr besteht, war, notwendig sind. Jede dieser Veränderungsde- daß wir dabei kurzfristig weniger Arbeitsplätze und batten ist schwierig. Sie haben ein Beispiel angespro- weniger Beschäftigungsverhältnisse am Ende her- chen: Bis heute sind Zuschläge für Überstunden, ausbekommen, weil viele in die Schwarzarbeit ab- Nacht- und Sonntagsarbeit steuerfrei. Wenn wir ab- wandern. Das eigentliche Problem ist, auf einem ho- strakt diskutieren, wird mir wahrscheinlich kein So- hen Stand von komplexen Regelungen und einem zialdemokrat ernsthaft widersprechen, daß es eigent- hohen Wohlfahrtsniveau die notwendigen Verände- lich keinen Sinn macht, Einkünfte, je nachdem zu rungen durchzusetzen. welcher Tageszeit oder an welchem Wochentag sie erzielt worden sind, unterschiedlich zu besteuern. Diese werden wir besser erreichen - da wir ge- Steuerrecht muß gleiche Tatbestände steuerlich meinsam überzeugt sind, daß wir sie Schritt um gleich behandeln. Das gilt übrigens auch für Kapital- Schritt erreichen müssen -, wenn wir nicht die eine erträge, also auch für die Zinsen auf Lebensversiche- oder andere Maßnahme so mit Neidparolen diffamie- rungen. Das kann im Prinzip nicht bestritten werden. ren, daß das Verständnis der Bevölkerung nicht mehr erreicht werden kann, was notwendig und nützlich Die Schwierigkeit ist die Umstellung von dem heu- ist. Deswegen plädiere ich für eine Versachlichung tigen Zustand der Ungleichheit, auch der Ungerech- der Debatte. tigkeit, der sachlichen Falschheit, in einen richtigen Zustand. Da muß man doch Übergangsregelungen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- suchen. Deswegen sagen wir, daß man bei den Kapi- ordneten der F.D.P.) taleinkünften Wege finden muß. Darüber kann man reden, wie man die Umstellung sozialverträglich Ich würde gerne auch einen anderen Punkt erwäh- schafft. nen. Das hat fast schon wieder mit der Debatte um angebots- oder nachfrageorientierte Politik zu tun. Tun Sie es aber doch nicht einfach so diffamierend. Ich glaube, wir könnten uns auf das verständigen, Herr Schröder, machen Sie doch eines nicht. Eine was Gerhard Stoltenberg heute so formuliert hat: Wir gleichmäßige Besteuerung - was unser Anliegen ist - sollten den Grundsatz anerkennen, daß wir bei glo- 14118 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997

Dr. Wolfgang Schäuble balisierten Märkten unsere Wettbewerbsfähigkeit Wir können hier noch so viel Nachfrage durch noch stärken müssen. Das ist das eigentliche Problem. mehr öffentliche Schulden oder sonst wie stimulie- ren; wer aber die Nachfrage erfüllt und bei wem Wenn wir diesen Grundsatz akzeptieren, dann hat dann die Arbeitsplätze entstehen, das entscheidet das Konsequenzen für die Steuerpolitik, bei den Sub- sich auf globalisierten Märkten. Wenn wir unsere Ko- stanzsteuern wie bei den Ertrags- und Einkommen- sten erhöhen, dann werden wir nicht mehr Arbeits- steuern, dann hat das Konsequenzen für die Finan- plätze bekommen. Das schaffen Sie vielleicht in Ko- zierung unserer sozialen Sicherungssysteme und die rea - was für Korea erfreulich ist -, aber es löst unser Frage: „Wieviel können wir uns im Vergleich zu an- Arbeitsplatzproblem nicht. deren leisten?" wie auch die Frage, wie wir innovati- onsfreundlicher und auch schneller in der Umset- (Zuruf von der SPD) zung werden können. Daß wir in Deutschland an ei- - Ja, das ist die Frage, ob man auf Grund von Verän- nem Übermaß an Bürokratie in der Verwaltungswirk- derungen in den Gegebenheiten auch bereit ist, alte lichkeit, von den Regelungen des Bundesgesetzge- Rezepte aufzugeben und zu sagen: Wir müssen Ant- bers bis zur Anwendung durch die Kommunalver- worten auf Probleme geben, wie sie sich Ende der waltungen, leiden, ist doch keine Frage. Aber bei je- 90er Jahre stellen, weil sonst die Rezepte nicht tau- der Verwaltungsvereinfachung wird uns doch von Ih- gen. rer Seite im Zweifel immer vorgehalten, wir würden damit bewährte Standards an Rechtsstaatlichkeit, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Umweltschutz oder sonst irgend etwas zur Überprü- ordneten der F.D.P. - Rudolf Scharping fung stellen. Wir müssen bewährte Standards zur [SPD]: Dann fangt mal an!) Überprüfung stellen, wenn wir die Zukunft nicht ver- schlafen wollen. Dann bleibe ich dabei, daß wir doch ein erhebli- ches Kostenproblem haben. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Joseph Fischer [Frankfu rt] [BÜNDNIS 90/ Ich jedenfalls glaube, daß, wenn der Grundsatz rich- DIE GRÜNEN]: Und ein Verteilungspro- tig ist, dann auch richtig ist, was Ihnen Helmut blem!) Schmidt vor kurzem bei der Zusammenkunft im Ja- - Und auch ein Verteilungsproblem, aber zuerst ein nuar in Bonn auf die Nachfrage Ihres Parteivorsitzen- Kostenproblem. Genau zu dem Punkt wollte ich kom- den gesagt hat, ob man nicht die Beschäftigung men, Herr Kollege Fischer. durch sowohl öffentliche wie private Nachfrage stär- ken könnte. Bei öffentlicher Nachfrage nennt man Ich rede dauernd von der Bekämpfung der Arbeits- das höhere Defizite. losigkeit. Dann heißt es auch wieder, Beschäftigung sei im (Zuruf des Abg. Rudolf Scharping [SPD]) Widerspruch zu dem Erreichen der Maastricht-Krite- - Herr Kollege Scharping, das hilft doch nichts. Las- rien, was ich überhaupt nicht sehe. Ich glaube, daß sen Sie uns Punkt für Punkt darüber reden. Sie ha- Stabilität besser ist, um die Kosten zu begrenzen und ben ja hier die Steuerdebatte eingeführt. Ich ant- damit unsere Wettbewerbsfähigkeit zu stärken. Des- worte auf das, was Herr Ministerpräsident Schröder wegen glaube ich, daß uns das Erfüllen der Maas- gesagt hat. Darin liegt der eigentliche Sinn einer De- tricht-Kriterien auf dem Weg zu mehr Arbeitsplätzen batte, anstatt vorbereitete Manuskripte unabhängig hilft. Das ist kein Gegensatz, sondern das eine be- davon vorzulesen, was der Vorredner gerade gesagt dingt das andere. hat. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Zumindest der SPD-Vorsitzende bringt ja dann in ordneten der F.D.P.) den Debatten das Argument, daß wir die private Ich würde gerne zu der eben hier angesprochenen Massenkaufkraft stärken müssen und einen Mangel Frage der Finanzierung unserer Sozialversiche- an privater Nachfrage haben. Er hat auch in der letz- rungssysteme eine Bemerkung machen. Sie wissen, ten Debatte, an der ich nicht teilnehmen konnte, ge- daß es da Diskussionen in der Union und in der Ko- sagt: Wenn wir die private Nachfrage stärkten, wür- alition gibt. Warum auch nicht? Große Parteien müs- den wir unser Beschäftigungsproblem lösen. sen untereinander und auch alle Parteien miteinan- der diskutieren. Es gibt keine einfachen Patentre- Die Antwort von in der Veranstal- zepte. Wir haben in der Koalition ein breites Maß an tung im Bonner Universitätsclub - oder wo es gewe- Übereinstimmung. Meine Position ist es seit langem, sen war -, die ich für zutreffend halte, war, - daß wir in der Frage, wieviel wir von unseren sozia- (Lachen bei der SPD) len Sicherungssystemen durch Beiträge, also orien- tiert an den Arbeitskosten für eine Stunde, und wie- - ich weiß nicht, Herr Kollege, ob Ihr Lachen der viel wir durch Steuern finanzieren, zu Korrekturen Ernsthaftigkeit des Problems und auch meines Be- bereit sein müssen. Das sage ich seit langem und mühens angemessen ist -, daß die Rezepte von John halte diese Position für richtig. Maynard Keynes für eine geschlossene Volkswirt- schaft richtig gewesen sein mögen, in einer Zeit glo- Ich meine nur, Herr Ministerpräsident Schröder, balisierter Märkte aber nicht mehr funktionieren. daß wir einen Fehler vermeiden sollten. Gerade aus Ihrem Lager höre ich häufig Äußerungen, bei denen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) die Gefahr besteht, so einen Fehler zu machen, näm- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997 14119

Dr. Wolfgang Schäuble lich Umfinanzierungen anstatt Einsparungen vor- tun, als wäre in erster Linie die Politik für Arbeitslo- nehmen zu wollen. Wir brauchen beides, wir brau- sigkeit oder Beschäftigung zuständig. In erster Linie chen aber zuerst Einsparungen. liegt dies in der Verantwortung der Tarifpartner. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - (Michael Glos [CDU/CSU]: So ist es!) Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Aber Waigel macht das auch!) Wer die Tarifpartner von dieser Verantwortung ent- bindet, der sorgt dafür, daß das Problem nicht gelöst Ich habe schon so oft hier in den Debatten gesagt: werden kann. Laßt uns erst über Umfinanzierung reden, wenn wir zunächst über Einsparungen einig sind. Erst müssen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Einsparungen sein. Das sind die notwendigen Arbei- Das ist nicht eine Schuldzuweisung. Wir müssen un- ten. sere Aufgaben erfüllen und gleichzeitig sagen, was (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) nur die Tarifpartner tun können. Daran kommen wir in der Gesundheitsreform nicht Von seiten der Gewerkschaften - auch der Vorsit- vorbei, daran arbeiten wir bei der Weiterentwicklung zende des Deutschen Gewerkschaftsbundes hat es der Rentenversicherung. Das eine ist keine Alte rna- öffentlich gesagt; das ist auch für Gewerkschaftsver- tive für das andere, sondern das eine und das andere treter ein beachtlicher Schritt - wird verstärkt die sind notwendig. Dann können wir uns auch verstän- Überlegung vorgetragen, ob es bei dieser hohen Ar- digen. Wer nur umfinanziert, senkt die Staatsquote beitslosigkeit nicht klüger wäre, wenn das Einkom- nicht, doch sie muß gesenkt werden. men der Beschäftigten gesenkt wird. Das steckt hin- ter der Debatte: Abbau von Überstunden und mehr (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Teilzeitarbeit. Das heißt doch wohl, das Bruttoein- Deswegen ist das eine kein Dogma und auch das an- kommen von Beschäftigten nach eigener Entschei- dere nicht. Danach kann man natürlich über Mehr- dung abzusenken und dadurch zu erhoffen, daß wertsteuer und andere spezifische Verbrauchsteuern mehr Arbeitsplätze geschaffen werden. streiten. Ich würde nur gerne die Frage daran anknüpfen, Ich halte übrigens das Vorgehen, was die Koalition ob unser Problem hinsichtlich der Bekämpfung der vor Weihnachten beschlossen hat, für die intelligen- Arbeitslosigkeit wirklich darin liegt, daß wir einen teste Form - Mangel an Arbeit haben, oder ob unser Problem in Wahrheit nicht darin liegt, daß wir einen Mangel an (Widerspruch bei der SPD) Nachfrage nach Arbeit zu den Preisen haben, die die - Entschuldigung, ich sage es ja -, daß wir uns in der Arbeit pro Einheit - das ist die Arbeitsstunde - ko- Europäischen Union dafür einsetzen, daß wir einen stet. eigenen, natürlich höheren Mehrwertsteuersatz auf (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) den Energieverbrauch einführen können. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wenn dieses richtig ist, dann sollte man einmal un- voreingenommen darüber reden, ob es nicht günsti- Damit können wir Energie besteuern. Die Nachteile, ger wäre - wenn wir schon zu Veränderungen in den die Sie bei einer Mineralölsteuererhöhung befürch- Einkommen kommen -, die Einkommen nicht durch ten - Schädigung des Produktionsstandorts Deutsch- Verringerung der geleisteten Arbeitszeit zu senken, land in seiner Wettbewerbsfähigkeit - treten bei ei- sondern die Arbeitszeit konstant zu lassen und statt ner Mehrwertsteuererhöhung nicht auf. Sie belastet dessen den Preis pro Arbeitsstunde zu verringern. nicht die Industrie und verschlechtert nicht die Wett- Dadurch werden wir wettbewerbsfähiger und be- bewerbsfähigkeit, sondern sie verbessert die Chan- kommen mehr Arbeitsplätze. Das scheint mir der in- cen. telligentere Weg. Vielleicht kann man darüber auch einmal mit der Opposition, mit den Gewerkschaften Ich finde es hocherfreulich, daß das Mitglied der und den Tarifpartnern diskutieren. Kommission der Europäischen Union in einem Inter- view in diesen Tagen gesagt hat, er sehe durchaus (Zuruf der Abg. Dr. Sig rid Skarpelis-Sperk eine Chance, daß wir die notwendige Genehmigung [SPD]) für einen eigenen Mehrwertsteuersatz in der Euro- päischen Union bekommen. Sie sehen, wir liegen - Ja; natürlich. Bei jeder Kalkulation wird verglichen, nicht so weit auseinander, daß wir nicht zu einer ge- was kostet die Arbeitsstunde da und was kostet die meinsamen Politik kommen können, die erfolgreich Arbeitsstunde dort. Je nach Antwort werden Investi- Arbeitsplätze schafft. tionsentscheidungen getroffen und bestimmen da- durch, wo Arbeitsplätze entstehen oder wegfallen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Das ist genauso wie bei den Substanzsteuern. Die- Weil wir gerade bei dem Thema Kosten der Arbeit sem Mechanismus kann man nicht entgehen. und Wettbewerbsfähigkeit sind, möchte ich noch ein- Wer die Debatte darüber verweigert oder wer die mal unterstreichen - man kann ja manche Dinge Debatten öffentlich so führt, daß man nicht sachge- nicht oft genug wiederholen -, was Gerhard Stolten- recht und zielorientiert um den richtigen Weg ringen berg gesagt hat. Wir machen einen großen Fehler, kann, wenn wir in dem Streit zwischen Mehrheit und Min- derheit oder zwischen den politischen Parteien so (Zuruf von der SPD: Wer macht das denn?) 14120 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997

Dr. Wolfgang Schäuble der trägt am Ende die Verantwortung, daß unser Ich denke, 30 Milliarden DM bis 1999 sind ange- Land nicht hinreichend fähig ist, die Veränderungen sichts verbesserter Wachstumsaussichten auch mög- schnell genug zu erreichen, die notwendig sind, da- lich. Denn wir haben eine sehr viel bessere Aussicht mit wir auch in Zukunft Vollbeschäftigung, wirt- für die wirtschaftliche Entwicklung. Man muß in der schaftlichen Wohlstand und soziale Sicherheit haben. Debatte zum Jahreswirtschaftsbericht ja auch einmal sagen: Bis Mitte 1995 hatte die Bundesrepublik (Beifall bei der CDU/CSU) Deutschland mit der Erfüllung der Maastricht-Krite- rien keinerlei Probleme. In 1995 haben wir zwei Pro- Wir sollten dieser Gefahr widerstehen. bleme gehabt: erstens zu hohe Tarifabschlüsse und Wir wollen über die Steuerreform in der nächsten zweitens einen nicht vorhergesehenen Verfall des Woche Gespräche führen. Diese Steuerreform, Herr Dollar-Kurses auf einen Wert von 1,35 DM. Ministerpräsident Schröder, kann man nicht aufkom- (Bundesminister Dr. Theodor Waigel: Und mensneutral durchführen. Das Prinzip niedrigerer eine Übernahme von Schulden!) Sätze beim Eingangssteuersatz - Sie haben ja den Eingangssteuersatz im Prinzip akzeptiert; ich halte - Ja, aber das war vorhergesehen und geplant. 15 Prozent mit einer unteren Proportionalzone nach wie vor für besser; es gab auch aus Ihren Reihen viel Daß die konjunkturelle Entwicklung ab Mitte des Zustimmung - und beim Spitzensteuersatz von 35 Jahres 1995, von niemandem vorhergesehen, so ein- bzw. 39 Prozent, über den wir diskutieren, halte ich gebrochen ist, hat diese beiden entscheidenden wirt- für notwendig. Aus der Tarifabsenkung ergeben sich schaftlichen Ursachen. Beide Faktoren sind inzwi- zusammen mit der Abschaffung der Körperschaft- schen wesentlich verbessert. Wir haben sehr viel ver- steuer steuerliche Mindereinnahmen in einer Grö- nünftigere Tarifverträge ßenordnung von über 70 Milliarden. (Widerspruch bei der SPD) Sie können natürlich sagen: Die Steuerreform muß aufkommensneutral sein. Ich sage Ihnen: Das wer- - ja, Kollege Solms hat das dargelegt -, auch als Re- den Sie nicht schaffen. Sie sagen, daß es keine Erhö- aktion auf umstrittene Entscheidungen des Gesetz- hung von Verbrauchsteuern zur Finanzierung der gebers. Wir haben ferner einen Dollar-Kurs, einen Tarifsenkungen geben solle. Das werden Sie übri- Außenkurs der D-Mark, der den realen We rt- und gens auch nicht schaffen; ich sage es Ihnen gleich Austauschverhältnissen sehr viel angemessener ist vorweg. Aber Sie wollen noch nicht einmal Einspa- als ein Dollar-Kurs von 1,35 DM. rungen. Sie haben von einer Deckungslücke von Deswegen haben wir bei niedriger Inflation, bei 44 Milliarden DM geredet. Wir sagen: 30 Milliarden hoher Preisstabilität und niedrigen Zinsen gute Aus- DM netto müssen die Steuern 1999 gesenkt werden. sichten für eine Verstärkung des wi rtschaftlichen Wir meinen, daß das auch zu schaffen ist. Wachstums. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Carl-Ludwig Thiele [F.D.P.]: Sehr richtig!) Darüber müssen wir uns verständigen. Wenn wir dieses Wachstum nutzen wollen, um un- (Rudolf Scharping [SPD]: Vorschlag!) sere Probleme besser zu lösen, dann können wir die Steuern für 1999 um 30 Milliarden DM netto senken. - Ich habe das gerade gesagt. Ich habe gerade ge- Das ist unser Vorschlag. sagt: Ich glaube nicht, daß wir ohne eine Umschich- tung zu den indirekten Steuern in dieser Größenord- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) nung auskommen. Das haben wir immer gesagt; das Jetzt muß ich Ihnen sagen: Ihre Position ist bis jetzt ist gar keine Frage. nicht in sich schlüssig. Denn Sie sagen, eigentlich (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Kanzler im wollten Sie bei den oberen Steuersätzen ein bißchen Sommer!) weniger, bei den unteren, das sei schon gut. Bei den mittleren Einkommen kritisieren Sie, daß wir zuwe- Jetzt will ich Ihnen sagen, warum ich eine Netto- nig Entlastung hätten, also wollen Sie noch größere entlastung für zwingend notwendig halte. Erstens ist Steuersenkungen. Gleichzeitig sagen Sie: Keine Um- die Steuerbelastung insgesamt zu hoch, und Um- schichtung auf indirekte Steuern, keine Nettoentla- schichtung senkt nicht die Steuerbelastung, sondern stung. Außerdem kritisieren Sie einen Großteil unse- verteilt sie gerechter. rer Vorschläge zur Verbreiterung der Bemessungs- grundlage. (Carl-Ludwig Thiele [F.D.P.]: Sehr richtig!) Dazu sage ich Ihnen: Wenn zwei plus zwei 27 ist - Zweitens werden die Verteilungsdebatten nicht lös- das habe ich kürzlich einem Kollegen aus meiner bar werden, weil bei einer aufkommensneutralen Partei aus Ihrem Bundesland gesagt -, dann kann ich Steuerreform zwar das Prinzip „Niedrigere Sätze bei eine prima Reform machen. Bei mir ist zwei plus zwei breiterer Bemessungsgrundlage" gut funktioniert, vier. Ich weiß, daß von diesem Satz nicht sehr viel aber der eine das mehr zahlen muß, was der andere Faszination ausgeht. Aber stimmig wird eine Politik weniger zahlt. Da wünsche ich viel Vergnügen. Das nur, wenn sie die Grundrechenarten einhält. Anders ist bei der Art, wie in Deutschland Besitzstände ver- geht es nicht. teidigt werden, unter gar keinen Umständen zu schaffen. Wir brauchen eine Nettoentlastung. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997 14121 Dr. Wolfgang Schäuble Meine Damen und Herren, eines scheint mir si- Mensch, der Schichtarbeit leistet - das sind in cher: Wir haben gar nicht soviel Grund zu Pessimis- Deutschland Millionen -, und alle Menschen, die mit mus. diesen verwandt oder bekannt sind, wissen, daß diese steuerliche Privilegierung nicht damit zu tun (Zuruf von der SPD: Auf einmal! Einmal hat, daß man etwas Gleiches unterschiedlich bewer- raufreden, einmal runterreden nach Belie ten will, sondern daß Schichtarbeit extreme Nach- bigkeit! - Joseph Fischer [Frankfu rt] teile und gesundheitliche sowie familiäre Beeinträch- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Daran müßt tigungen für diejenigen, die diese Arbeit tun, zur ihr euch gewöhnen! Gewöhnt euch besser Folge hat. Schichtarbeit macht krank und isoliert ein gleich dran!) Stück weit von der Gesellschaft. Schichtarbeiter ha- - Überhaupt nicht. - Wir haben gute gesamtwirt ben nicht mehr in dem Maße wie andere die Mög- schaftliche Rahmendaten. Wir haben eine schwierige lichkeit, an Veranstaltungen teilzunehmen oder sich Lage auf dem Arbeitsmarkt. Davon spreche ich. zum Beispiel an der Politik zu beteiligen. Schichtar- Wenn es gelingt, die Europäische Währungsunion beit über Jahre hinweg bedeutet für diese Men- auf der Basis stabiler Kriterien zu vollenden, eine sta- schen, daß sie gesundheitlich wirklich sehr stark be- bile europäische Währung zu schaffen und damit die einträchtigt werden. Die steuerliche Befreiung der innovatorischen Kräfte durch die Europäische Eini- Zuschläge für diese Arbeit ist ein Ausgleich dafür. gung zu verstärken, ist die Bereitschaft unserer Be- völkerung, Veränderungen zu akzeptieren, um so- Wenn Sie jetzt sagen, das könne nicht sein, da sich ziale Sicherheit auch für die Zukunft festzumachen, steuerrechtlich eine ungleiche Systematik ergebe, größer als das Gerede der Vertreter organisierter In- dann möchte ich Ihnen darauf klipp und klar antwor- teressen gelegentlich vermuten läßt. ten: Wenn Sie das von der Systematik her ändern wollen, dann schaffen Sie andere Regularien, mit de- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) nen Sie diese Nachteile gerecht ausgleichen - dies aber bitte vorher. Sie können das nicht einseitig den Wenn wir diese guten Rahmenbedingungen in ei- Tarifpartnern zuschieben, ohne in diesem Bereich im ner Phase von jedenfalls mittleren konjunkturell po- Rahmen einer Reform des Arbeitsvertrags- und des sitiven Erwartungen nutzen, um unsere Strukturpro- Betriebsverfassungsrechts mehr Mitbestimmungs- bleme Schritt um Schritt zu lösen, und wenn wir uns möglichkeiten bei der Gestaltung der Arbeitszeit zu darauf verständigen, daß die Bekämpfung der Ar- schaffen. Das werden Sie den Menschen nicht klar- beitslosigkeit Vorrang hat, dann bin ich ganz sicher, machen können. daß wir miteinander eine gute Chance haben, unse- rem Ziel, der Halbierung der Arbeitslosigkeit bis zum Sie sagten, daß es wichtig sei, wenn man jetzt spa- Jahr 2000, noch in diesem Jahr ein gehöriges Stück ren oder Härten durchsetzen müsse, dies den Leuten näherzukommen. Dazu, meine Damen und Herren, richtig zu erklären. Die Begründung, die Sie für die möchte ich uns alle einladen. Streichung dieser steuerlichen Befreiung geliefert Herzlichen Dank. haben, nimmt Ihnen niemand ab, weil sie zum einen falsch ist. Wenn Sie darauf beharren, erreichen Sie (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU) zum zweiten, daß die Menschen unheimlich zornig sowie politikverdrossen werden und daß sie eine (Vorsitz : Vizepräsidentin Dr. ) wahnsinnige Angst bekommen. Das ist der Nährbo- den für eine andere A rt von Politik, die keiner hier in Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Zu einer Kurzin- diesem Hause will. Ich will hoffen, daß Sie mit solch tervention erhält die Abgeordnete Christa Nickels einer Begründung, die völlig daneben ist, endlich das Wort. aufhören und entweder eine vernünftige, systema- tisch anders gelagerte Ausgleichsmöglichkeit schaf- fen oder es so lassen, wie es ist. Christa Nickels (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Kollege Schäuble, es tut mir leid, daß ich diese (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Kurzintervention machen muß. Sie hat damit zu tun, sowie bei Abgeordneten der SPD und der daß hier sehr viele über den Sinn oder den Unsinn PDS) der Besteuerung von Zuschlägen für Nacht- oder Feiertagsarbeit sprechen, ohne jemals über Jahre hinweg Schichtarbeiterin oder Schichtarbeiter gewe- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Kollege sen zu sein. Wenn es mehr von solchen Kolleginnen Schäuble, bitte. und Kollegen gäbe, würde in diesem Parlament nicht in einer solch sophistischen und verdreherischen A rt und Weise darüber gesprochen werden können, und Dr. Wolfgang Schäuble (CDU/CSU): Frau Kollegin dann könnte man es sich auch nicht leisten, solche Nickels, ich wollte Sie nicht in eine solche Erregung Vorschläge zu machen. versetzen. Deswegen darf ich vielleicht zu Ihrer Be- ruhigung sagen: Wenn die Vorschläge zur Steuerre- Herr Schäuble, Sie haben gesagt, es könne doch form, die wir unter dem Vorsitz von Finanzminister wohl nicht sein, daß gleiche Arbeit auf Dauer steuer- Waigel erarbeitet haben, verwirklicht werden, dann - lich unterschiedlich bewertet werde. Es gehe darum, wird das Nettoeinkommen einer Krankenschwester indem man diese steuerliche Befreiung endlich ab- oder eines Krankenpflegers, die regelmäßig Schicht- schaffe, eine Gleichheit gegenüber der gleichen Ar- dienst, also Nachtdienst und Wochenenddienst, lei- beit zu anderen Arbeitszeiten zu schaffen. Jeder sten und dafür bisher steuerfreie Zuschläge erhiel- 14122 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997

Dr. Wolfgang Schäuble ten, insgesamt höher sein als ohne die Verwirkli- Zweiter Aspekt: die Unternehmensteuerreform. Sie chung dieser Vorschläge haben selber gerade gesagt, Sie seien für die Gleich- behandlung aller Einkommensarten. Aber was ha- (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Das ist unzu ben wir denn heute in der Zeitung gelesen? Wir ha- treffend! - Weitere Zurufe von der SPD) ben dort heute von einer Spreizung zwischen ge- - auch ich lasse jeden ausreden und würde gerne, werblichen und p rivaten Einkommen gelesen. Sie wenn ich der Kollegin Nickels antworte, drei Sätze alle werden verfolgt haben, daß in der letzten Zeit sagen können -, weil der steuerliche Vorteil durch die meisten Ausbildungsplätze gerade im Bereich die Senkung der Steuersätze größer sein wird als der der freien Berufe geschaffen worden sind. Die fallen Nachteil durch den Wegfall der Steuerfreiheit der dann nicht unter diese Spreizung. Das heißt, Sie füh- Zuschläge. Das ist die erste Antwort. ren auch im Unternehmenslager eine Ungleichbe- handlung herbei, und daraus folgen mit Sicherheit Die zweite Antwort, Frau Kollegin Nickels: Die die entsprechenden Neiddiskussionen. Das finde ich Frage der angemessenen Bezahlung für Arbeit von weder für die Ökonomie in diesem Lande noch für unterschiedlicher Belastung muß eigentlich eine Auf- den Standort besonders gut. gabe der Tarifpartner und nicht eine Aufgabe des Steuergesetzgebers sein. Der Kollege Uldall, mein Kollege von der CDU, hat gestern im Ausschuß drei wichtige Feststellungen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) getroffen. Er hat gesagt, die erste Hauptschwach- schaftspolitik in diesem Lande sei, daß Deswegen sind wir bei diesem Punkt wieder genau stelle der Wirt an der Stelle, an der ich vorhin versucht habe, Ihr es kein Vertrauen mehr in die Politik gebe. Verständnis zu gewinnen: Wir sollten uns als Gesetz- (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Das ist wahr!) geber nicht zumuten, Probleme und Sachverhalte zu regeln, die nach der Regelung unseres Grundgeset- Der zweite Schwachpunkt sei, daß es einen enormen zes in der autonomen Zuständigkeit der Tarifpartner Reformstau gebe, und der dritte Schwachpunkt sei, liegen. Sie müssen das regeln, und der Steuergesetz- daß Energiepolitik heute nicht als Arbeitsmarktpoli- geber muß gleiche Tatbestände gleich behandeln. tik ersten Ranges betrachtet werde. Der Kollege hat Das scheint mir der bessere Weg. recht. Aber aus diesen Feststellungen des Kollegen folgen im Jahreswirtschaftsbericht leider nicht die (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge richtigen Antworten. ordneten der F.D.P.) Seit 15 Jahren begreifen Sie die K rise ausschließ- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat lich als Kostenkrise. Dadurch sind Strukturprobleme jetzt die Abgeordnete Margareta Wolf. erheblicher Art aufgelaufen. Dadurch haben Sie für meine Begriffe den Reformstau erst recht produziert. Außerdem haben Sie historisch zwei schwerwie- Margareta Wolf (Frankfurt) (BÜNDNIS 90/DIE gende Fehler gemacht, die Ihnen heute in all ihren GRÜNEN): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Folgen auf die Füße fallen. Der erste Punkt ist die Damen und Herren! Herr Dr. Schäuble, Sie haben deutsche Einheit. Sie haben die deutsche Einheit gerade gesagt, daß wir die Steuerreform unter der nicht für Innovationen genutzt. Der zweite Punkt ist Prämisse „Soziale Gerechtigkeit" und unter der Prä- die Aufgabe des Bündnisses für Arbeit am 23. April misse „mehr Beschäftigung" diskutieren sollten. In letzten Jahres. der Tat, es gibt einen unheimlichen Reformdruck und auch Erfolgsdruck auf diese Steuerreform. Nur, wenn (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ich mir die Presse der letzten Tage anschaue und mir das anhöre, was Sie gerade gesagt haben, dann Sie sollten daraus lernen. Sie sollten aus Ihrem In- glaube ich, daß das draußen nicht so ankommt. Sie die-Knie-Gehen vor den Verbandsvertretern von BDI sagen, wir bräuchten eine Entlastung von 30 Mil- und BDA lernen. Sie müßten aus der Debatte um die liarden DM. Gleichzeitig wurde heute schon mehr- Lohnfortzahlung gelernt haben, daß diese Damen mals festgestellt, daß wir eine Deckungslücke von und Herren offensichtlich nicht die Hauptinteressen 44 Milliarden DM haben. Dann haben Sie eine Ge- der aktiven Unternehmer in diesem Lande vertreten, genfinanzierung über eine Mehrwertsteuererhöhung denn sonst wäre die Debatte völlig anders ausgegan- angekündigt. Wer bezahlt die? Da droht doch ein gen. Verschiebebahnhof aufgemacht zu werden. Wir kommen im Moment alle viel durchs Land, viel Gestern konnte die interessierte Bevölkerung im durch Hessen. Dabei wird man - das macht mich „Handelsblatt" vor dem Hintergrund der dramati- wirklich ratlos, und es erfüllt mich auch mit Sorge - schen Waigelschen Haushaltszahlen lesen: „Wir mit einer unglaublichen Wut der Leute, mit Ohn- brauchen ein neues Sparpaket." Wie soll die Bevöl- macht und vor allen Dingen mit einer wahnsinnigen kerung dies überhaupt als Reformkonzept begreifen? Angst vor Verlust des Arbeitsplatzes und vor Abstieg Nein, im Gegenteil: Ihr wird etwas gegeben und auf konfrontiert. der anderen Seite überproportional wieder genom- Ich möchte mich der These von Dahrendorf an-- men. Es wird keine große Reform werden, und das ist schließen, der sagt: Nicht die Armut gefährdet un- ausgesprochen schade. sere Demokratie, sondern die Angst vor der Armut. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Diese Angst ist auch keine produktive Kraft. Sie führt und bei der PDS) eher dazu, daß sich die Leute zurückziehen, daß eine Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997 14123

Margareta Wolf (Frankfurt) Mentalität der Besitzstandswahrung um sich greift: notwendigen Innovationsschub und den Struktur- Man will um jeden Preis das halten, was man hat. wandel auszulösen. In der Mitte der Gesellschaft - Herr Schäuble hat Wir meinen, daß es keine einfache Lösung gibt. vorhin von den Mittelschichten gesprochen -, also Aber wir brauchen endlich Rahmenbedingungen für bei denjenigen, die den Sozialstaat heute noch ideell die konkrete Erschließung neuer Beschäftigungsfel- und finanziell tragen, macht sich genau diese Stim- der. Sie bestehen - das wurde heute schon gesagt; mung stark breit. Man fühlt sich zunehmend als Ver- leider fehlen die Rahmenbedingungen - im Dienst- lierer der Globalisierung, man hat Angst vor wirt- leistungssektor, der in sämtlichen Statistiken, die Sie schaftlicher und p rivater Unsicherheit. Ich finde das haben, immer noch unter „sonstige Beschäftigungs- hochgefährlich. Mit Ihrer Steuerreform wirken Sie möglichkeiten" ausgewiesen wird. Das zeigt, wie dem auch nicht entgegen. ernst Sie das nehmen. Neue Beschäftigungsfelder er- geben sich bei umweltfreundlichen Mobilitätsdienst- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS leistungen, bei Management, Organisation, Berufs- SES 90/DIE GRÜNEN und der PDS) ausbildung, im gesamten Energiesektor - wie Herr Uldall richtig gesagt hat -, aber auch im gesamten Wir haben trotz Ihrer Sparpakete - das muß man doch einmal kritisch reflektieren - in der letzten Zeit Verkehrsbereich. einen rasanten, im europäischen Vergleich unglaub- Wir brauchen einen neuen demokratischen Kon- lichen Rückgang der Investitionen zu verzeichnen; sens aller Akteure in diesem Land; wir brauchen eine wir haben die höchste Arbeitslosenquote seit 1933, Reform der öffentlichen Verwaltung; wir brauchen - und es gibt eine Zunahme bei den Unternehmensge- das habe ich vorhin in der Kurzintervention versucht winnen. Das ist einfach so. Gleichzeitig gab es von zu sagen - eine Reform bei Bildung und Ausbildung, 1991 bis 1996 bei der von mir erwähnten Mittel- bei Forschung und Entwicklung. Wenn wir zukunfts- schicht eine Zunahme der Nettobelastung um 9 Pro- fähig sein wollen, dürfen wir nicht zurückbauen; wir zent. Das sind die gestaltenden Kräfte unserer Ge- müssen konzertiert nach vorn bauen. Wir brauchen sellschaft; sie fühlen sich - wie ich finde, zu Recht - eine Teilzeitoffensive und Überstundenabbau. Das im Regen stehen gelassen. hat Herr Zwickel vor einem Jahr gesagt; der Kanzler Wir brauchen den Strukturwandel jetzt. Es muß sagt es jetzt. Leider geschieht gar nichts. Schluß sein mit Ihrer Krisenverwaltung; es muß Schluß sein mit einer rein additiven, scheibchen- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN weise operierenden Politik; es muß Schluß sein mit sowie bei Abgeordneten der PDS) der Mutlosigkeit, und es muß Schluß sein mit der par- Ferner brauchen wir eine Qualifikationsoffensive. se. Wir brau- teipolitischen Betrachtung dieser K ri Wir müssen unsere Politik endlich den geänderten chen ein Modell, wie es die Niederlande vorgemacht gesellschaftlichen Rahmenbedingungen anpassen. haben. Herr Waigel, damit meine ich nicht nur Bun- Wenn wir das jetzt nicht tun, dann, vermute ich, wer- desrat und Bundestag. Wir müssen alle gesellschaftli- den wir noch weiter zurückgeschlagen. Ich sage: chen Kräfte in diesem Land an einen Tisch bekom- Alle gesellschaftlichen Kräfte sollten sich jetzt zu- men, die Verbände, die Arbeitgeber und die Arbeit- sammensetzen, nicht nur SPD und CDU. nehmer. Es ist doch aufgefallen, daß Kollege Schäuble den Erlauben Sie mir eine kritische Bemerkung. Ich Kollegen Schröder - er ist leider nicht mehr da - vor- halte es in bezug auf die Handlungsfähigkeit des hin in Sachen Ökologie links überholt hat. Er hat ge- Verbändestaates für nicht dienlich, daß Herr Göhner, Angehöriger der CDU/CSU-Fraktion, jetzt beim BDA sagt, man möge innerhalb Europas prüfen, ob eine Mehrwertsteuererhebung auf Energie tatsächlich ist, daß Frau Yzer bei der Pharmaindustrie ist, daß möglich ist. Wünschenswert wäre sie als ein kleiner Herr Philipp, der CDU-Bürgermeister aus Aachen, Schritt in die richtige Richtung. Sie wollen die Mehr- jetzt beim ZDH ist. Das führt nicht zu einem Schub wertsteuern erhöhen; nichts anderes haben Sie ge- zu mehr kreativem Diskurs in diesem Lande; sagt. Von Ökosteuern haben Sie gar nicht geredet. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS Das wird noch eine muntere Gemengelage. SES 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der PDS) Ich hoffe, daß die Investitionsrahmenbedingungen für den Standort Deutschland endlich kalkulierbar das führt eher dazu, daß der Verbändestaat und alle und fest werden und daß das Chaos, das wir inner- die Potentiale, die er in der Vergangenheit hatte, halb der Regierung haben - und, mit Verlaub, auch sukzessive für parteipolitische Interessen genutzt innerhalb der SPD-Fraktion -, endlich ein Ende werden. Das kann nicht die Antwort auf die Heraus- nimmt. forderungen der Zukunft sein. Danke schön. Sie müssen endlich erkennen, daß Ihre einseitige Kostenstrategie dazu führt, daß Managementpro- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bleme, die es in den Unternehmen tatsächlich gibt, sowie bei Abgeordneten der PDS) - überdeckt werden und daß sich die Unternehmer bei ihrem Verharren in alten Strukturen bestätigt fühlen. Ich glaube, daß Sie eben den Unternehmern keine Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat Anreize bieten, den wettbewerbspolitisch dringend jetzt der Kollege . 14124 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997

Paul K. Friedhoff (F.D.P.): Frau Präsidentin! Meine Verantwortung der Unternehmer helfen auch nicht sehr verehrten Damen und Herren! Die Bundesregie- weiter. Wenn unsere Bet riebe nicht dort investieren, rung hat mit ihrem Jahreswirtschaftsbericht 1997 wo es sich rechnet, können sie am Markt nicht mehr zwei Aussagen deutlicher als in früheren Jahren in bestehen, weil ihre Produkte zu teuer sind. den Vordergrund gestellt. Die F.D.P.-Fraktion unter- stützt diese Akzentuierung uneingeschränkt. Die Frage, ob die Arbeitskosten zu hoch sind, wird nicht an runden Tischen beantwortet. Diese Mei- Erstens. Ohne grundlegende Reformen der Wirt- nung zu vertreten, was die Sozialdemokraten auch schafts - und Sozialverfassung in Deutschland wer- heute wieder getan haben, ist ein gravierender Feh- den wir den Weg zu mehr Beschäftigung nicht gehen ler. Die Frage wird vielmehr vom Wettbewerb beant- können. Mit kosmetischen Korrekturen ist es nicht wortet. Waren und Dienstleistungen werden do rt ge- mehr getan. Der sozialdemokratische Wohlfahrts- kauft, wo sie am günstigsten zu haben sind. Jede staat ist den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts Hausfrau verhält sich so. Nur die Opposition mit ih- nicht gewachsen. rer Mehrheit im Bundesrat will den Bürgern etwas anderes vormachen. Zweitens. Deshalb kann es keinen Zweifel an der gebotenen Strategie für mehr Beschäftigung geben. (Widerspruch bei der SPD) Sie lautet, durch Stärkung unserer internationalen Wettbewerbsfähigkeit wettbewerbsfähige Arbeits- Der Bundeskanzler hat an die Gewerkschaften ap- plätze zu schaffen und damit eine wi rtschaftliche Dy- pelliert, auf Lohnzuwächse zu verzichten, um Ar- namik freizusetzen. Wir müssen die Herausforderun- beitslosen wieder eine Chance zu geben. Der Präsi- gen der globalisierten Märkte annehmen, statt uns dent des Instituts für Weltwirtschaft schätzt, daß mit an den verkrusteten Status quo zu klammern. Dies ist einer realen Nullrunde beim Lohn innerhalb eines unsere Aufgabe. Jahres etwa 300 000 neue Arbeitsplätze entstehen könnten. (Beifall bei der F.D.P.) Der ökonomische Zusammenhang ist eindeutig: Wir sind mit 4,6 Millionen Arbeitslosen inzwischen Zusätzliche Arbeitsplätze entstehen nur dann, wenn an einem Punkt angelangt, an dem immer deutlicher die Steigerung der Arbeitskosten unter dem Produk- wird, daß wir uns in einem Wettlauf mit der Zeit be- tivitätszuwachs bleibt. Was aber passierte nach dem finden. Die Konkurrenten um Arbeitsplatzstandorte Aufruf des Bundeskanzlers? Eine unheilvolle Koali- bauen Subventionen ab, senken die Steuern und de tion aus SPD, Grünen, PDS und leider auch dem regulieren die Arbeitsmärkte. In Deutschland haben DGB reagiert auf diesen ökonomisch sinnvollen Vor- wir noch immer das Kartell der Besitzstandswahrer schlag mit dümmlichen Klassenkampfparolen. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Vor Seit 1960 haben Löhne und Gehälter in West- allen Dingen auf der F.D.P.-Seite!) deutschland dreimal so stark zugenommen wie die - diese haben die Meinungsführerschaft -, der Popu- Produktivität. Dennoch erzählen Sie den Menschen listen und der Zauderer. etwas vom Sozialabbau. Wenn die Arbeitsplatzbesit- zer zugunsten der Arbeitslosen ein paar Jahre auf Es ist leicht, sich in Menschenketten einzureihen Lohnzuwächse verzichten müßten, reden Sie vom So- und von Solidarität zu reden. Anstatt den Bergleuten zialabbau. an der Ruhr Mut zu machen, neue Chancen zu er- greifen, (Zuruf des Abg. Otto Schily [SPD]) (Zurufe von der SPD und der PDS: Wo Genau das aber wäre praktizierte Solidarität. Das denn? - Welche denn?) wäre ein echtes solidarisches Verhalten. Wir müssen den Menschen in diesem Land immer wieder sagen: werden ihnen trügerische Versprechungen gemacht. Hüten Sie sich vor den falschen Freunden, die von Sozialabbau reden, aber nur ihr eigenes Süppchen Wer wie SPD und Grüne verbohrt auf ausster- kochen wollen. bende Arbeitsplätze setzt, der handelt verantwor- tungslos. Im vergangenen Jahr ist jeder Arbeitsplatz (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- im Steinkohlebergbau - man kann das nicht oft ge- ten der CDU/CSU) nug sagen - mit 136 000 DM subventioniert worden. Dieses Geld fällt nicht vom Himmel. Es gehört auch Ob eine Politik sozial ist oder nicht, bemißt sich al- nicht dem Staat, der es beliebig verteilen könnte. lein daran, ob wir in der globalen Standortkonkur- Dieses Geld muß erwirtschaftet werden: von den renz um Arbeitsplätze bestehen können. Bürgern dieses Landes, von den Handwerkern, von kleinen und mittleren Unternehmen. Diese Bet riebe Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Kollege, könnten damit durchaus Arbeitsplätze schaffen. gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Weiermann? Statt dessen werden die Arbeitskosten immer wei- ter in die Höhe get rieben. Für eine Arbeitsstunde muß man in Westdeutschland derzeit 45 DM bezah- Paul K. Friedhoff (F.D.P.): Ja. len. Das sind die höchsten Kosten aller Industrielän- - der. Arbeit in Deutschland ist mehr als doppelt so Wolfgang Weiermann (SPD): Herr Kollege F ried- teuer wie in Großbritannien. Und dann fragen wir hoff, ist Ihnen entgangen, daß die Nettoeinkommen uns hier ernsthaft, weshalb die Arbeitsplätze woan- aus Unternehmertätigkeit und Vermögen in den letz- ders entstehen! Gebetsmühlenartige Appelle an die ten Jahren um 28,9 Prozent gestiegen sind, während Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997 14125

Wolfgang Weiermann die Nettolöhne und -gehälter im gleichen Zeitraum erfreulicher Klarheit deutlich. Ich bin mir sicher, daß um 0,2 Prozent gesunken sind? Ist Ihnen klar, daß die auch die Reformbereitschaft bei den Belegschaften Anlageinvestitionen im Grunde genommen nur ein erheblich größer ist, als uns das viele Verbandsfunk- Viertel des höheren Gewinns ausgemacht haben, tionäre glauben machen wollen. daß also Ihre Theorie, möglichst Geld freizubekom- men, in diesem Zusammenhang nicht stimmt? (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sehr Es gibt inzwischen etliche Beispiele dafür, daß man richtig!) sich in den Betrieben auf längere Arbeitszeiten ohne Lohnausgleich verständigt. Sagen wir es ganz offen: Die 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich ist Paul K. Friedhoff (F.D.P.): Das ist Ihre Schlußfolge- ein Symbol des Irrwegs, den wir in Deutschland zu rung. lange beschritten haben. Was ist denn schon dabei, (Wolfgang Weiermann [SPD]: Nein, das sind etwas länger zu arbeiten, wenn Arbeitsplätze da- die Tatsachen! - Wilhelm Schmidt [Salzgit durch wirklich sicherer werden? ter] [SPD]: Das liegt doch auf der Hand!) Nun haben wir also einige hoffnungsvolle Ansätze Ich will Ihnen zunächst einmal darauf antworten: für echte Sozialpartnerschaft auf der Betriebsebene, Wir haben in Deutschland eine sehr gespaltene Si- und dann versuchen die Gewerkschaften, sie wegzu- tuation. Es gibt in bestimmten Bereichen, bei Waren, klagen. An wenigen Stellen ist der Reformbedarf in Überschüsse in ungeahnter Höhe. Das zeigt, daß wir unserem Land so offensichtlich wie bei den Flächen- in Deutschland an den Stellen außerordentlich wett- tarifverträgen. bewerbsfähig sind. Aber immer dann, wenn Arbeits- kosten mit ins Spiel kommen, haben wir genau das Daß wir uns nicht mißverstehen: Die Verantwor- Gegenteil; dann haben wir nämlich ein Defizit in die- tung der Tarifparteien gilt für beide Seiten. In diesen sem Lande. Um dessen Abbau müssen wir uns bemü- Tagen sind auch aus den Reihen der Arbeitgeberver- hen, und darauf zielen - wenn Sie genau zuhören, bände wieder einmal Lobeshymnen auf das über- werden Sie das feststellen - diese Vorschläge. kommene System zu hören gewesen. Die Tarifpar- teien besitzen alle nötigen Regelungsfreiheiten, um (Zuruf des Abg. Otto Schily [SPD]) die für mehr Arbeitsplätze notwendige Flexibilisie- rung ohne Eingriffe des Gesetzgebers zu verwirkli- Lassen Sie mich noch einige Worte an die Kollegin- nen und Kollegen von der SPD richten. Sie haben chen. bisher alle Initiativen der Koalition, die dazu dienten, Aber diese Freiheit beinhaltet auch eine immense unser Land für den Standortwettbewerb um mehr Ar- Verantwortung für die Beschäftigung in unserem beitsplätze fitzumachen, im Bundesrat gebremst und Land. Interessenkartelle zu Lasten der Arbeitsplätze blockiert. Glauben Sie denn wirklich, daß Sie diese können wir uns in Zukunft nicht mehr leisten. Die Reformen verhindern können, daß wir ohne diese Re- Politik in diesem Land ist gegenüber den Arbeitslo- formen wirklich neue Arbeitsplätze schaffen kön- sen in der Pflicht. Wir Freien Demokraten werden nen? Wollen Sie diese Blockadepolitik gegenüber uns dieser Pflicht nicht entziehen. den Arbeitslosen weiterhin verantworten? (Beifall bei der F.D.P.) Die Koalition hat Vorschläge für eine Steuerreform vorgelegt, durch die gerade die Bezieher kleiner Ein- Die Kommentatoren sind sich ja auch weitgehend kommen besonders entlastet werden. Wie Sie wis- darüber einig, daß die Opposition keine Alternative sen, hat sich die F.D.P. mit besonderem Nachdruck zur Wirtschaftspolitik der Koalition zu bieten hat. Ich für den geringen Eingangssteuersatz von 15 Prozent will das der Opposition nicht zum Vorwurf machen. eingesetzt; Der Weg, den wir zu gehen haben, um Arbeitsplätze (Dr. Barbara Hend ricks [SPD]: Das ist doch durch Wettbewerbsfähigkeit zu gewinnen, wird stei- Augenwischerei!) nig, aber er liegt klar vor uns. denn wir wollen die Nettolöhne erhöhen, ohne daß (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sie die Arbeit insgesamt weiter verteuert wird. Es ist ge- sind ja nicht mal fähig zum Zuhören!) rade die Grundvoraussetzung für marktwirtschaftli- Was mir aber hochgradig bedenklich erscheint, che Dynamik, daß der einzelne die Entscheidungs- freiheit über sein Einkommen behält. Das Eigen- das ist die Leichtfertigkeit, mit der auf seiten der SPD immer häufiger das Schlagwort von der tumsrecht und die daraus resultierenden Leistungs- nachfrage- in die Debatte geworfen wird. anreize sind nicht nur unverzichtbares Element der orientierten Politik Wir haben heute morgen einen entsprechenden Ex- freiheitlichen Ordnung, sondern zugleich die eigent- liche Basis für den Massenwohlstand. Weil das so ist, kurs gehabt. Sagen Sie den Bürgern doch klar, was sich hinter diesem von Ihnen so positiv dargestellten sind sämtliche Spielarten des Sozialismus zum Schei- oder auch positiv klingenden Beg riff verbirgt: staatli- tern verurteilt. che Eingriffe, staatliche Programme. Es geht also ent- Die Frage ist nur, ob wir in Deutschland in der weder um eine Erhöhung der Staatsverschuldung - Lage sind, die Konsequenz daraus zu ziehen und oder um ein weiteres Drehen an der Steuerschraube. Fehler der Vergangenheit zu korrigieren. Die Koali- Das eine geht zu Lasten kommender Generationen, tion ist bereit, diesen schwerwiegenden Reformweg das andere treibt die Arbeitsplätze aus unserem zu gehen. Das macht der Jahreswirtschaftsbericht in Land. 14126 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Kollege, keine Probleme damit, sie mal mit den meinen zu gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Skar- vergleichen. pelis-Sperk? (Ulrich Irmer [F.D.P.]: Das ist doch keine Schande, Frau Skarpelis-Sperk!) Paul K. Friedhoff (F.D.P.): Immer. Ich möchte fortfahren: Ich hatte gehofft, daß die Einführung in die Grundlagen der Wirtschaftspolitik, Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk (SPD): Herr Kollege, wir die Helmut Schmidt der SPD-Führung neulich gege- haben von Herrn Schäuble gehört, daß bei der Steu- ben hat - auch das hat Herr Schäuble gesagt -, nicht erreform eine Deckungslücke von 30 Milliarden blei- ohne Wirkung bleiben würde. Lafontaines Formel ben wird, die nachfragewirksam werden soll. Sind vom „Nachfrageschub" - vielleicht können Sie das Sie der Meinung, daß diese 30-Milliarden-Lücke die einmal nachlesen, Frau Skarpelis-Sperk - gehöre, so öffentliche Verschuldung im Jahre 1998 oder 1999 der Altbundeskanzler, in das Vokabular der 30er nicht erhöhen wird? Können Sie uns erläutern, wel- Jahre. chen Dukatenesel die F.D.P. gefunden hat, um diese Lücke von 30 Milliarden verschwinden zu lassen? Vielleicht sollten Sie sich einmal mit der Tatsache befassen, was damals die verheerenden politischen Konsequenzen dieses Nachfrageschubs waren. Paul K. Friedhoff (F.D.P.): Wenn Sie dem Kollegen Schäuble wirklich zugehört hätten (Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk [SPD]: In den 30er Jahren?) (Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk [SPD]: Habe ich!) - Ich kann Ihnen das aus der „Frankfurter Allgemei- nen Zeitung" vorlesen: - dann haben Sie es nicht verstanden -, hätten Sie mitgekriegt, daß es eine ganze Reihe von positiven, Helmut Schmidt behält das letzte Wo rt . Lafon- in die Zukunft weisenden Signalen gibt, deren Folge- taines Formel „Nachfrageschub" gehöre in das wirkungen zur Deckung dieser Lücke durchaus aus- Vokabular der 30er Jahre. reichen müßten. Das sind die Worte von Helmut Schmidt, die er dazu Es kommt ein zweiter Punkt hinzu: Wenn jemand gefunden hat. heute den Steuersatz von 53 Prozent vermeidet, an- schließend aber 39 Prozent Steuern zahlt, dann bleibt (Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk [SPD]: Er hat unter dem Strich etwas übrig - Frau Skarpelis-Sperk, „70er Jahre" gesagt!) Sie können noch so lachen. Sie müssen sich einmal Meine Damen und Herren, es gibt keine Alterna- ansehen, wie das in einigen anderen Ländern gelau- tive zur marktwirtschaftlichen Reformpolitik der Ko- fen ist. alition. Nur so können wir im Standortwettbewerb (Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk [SPD]: Ja, in bestehen. Nur so können wir wettbewerbsfähige Ar- Amerika!) beitsplätze schaffen, und nur so werden wir die Mit- tel zur Verfügung bekommen, um denen zu helfen, - Ihre Reiselust ist bekannt. Aber Sie sollten dann die sich dann am Wettbewerb nicht beteiligen kön- nicht nur reisen, sondern sich dort auch darüber in- nen. formieren, daß solche Steuerreformen einen großen Anteil an am Ende erhöhten Steuereinnahmen ha- Wir Freien Demokraten werden uns mit allem ben. Ich habe Ihnen das gerade am Beispiel von 53 Nachdruck dafür einsetzen, daß das Reformwerk und 39 Prozent zu erklären versucht; ich glaube, es „Arbeitsplätze durch Wettbewerbsfähigkeit" gelingt, war vergeblich. wie es auch im Jahreswirtschaftsbericht beschrieben ist. Die Steuerreform ist ein großer Schritt auf diesem (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Weg. Die kommenden Wochen werden erweisen, ob die Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Gestatten Sie SPD die Kraft findet, ihre bisherige Blockadepolitik eine zweite Zwischenfrage der Kollegin Skarpelis aufzugeben, und sich den ökonomischen Notwen- Sperk? digkeiten nicht länger verschließt. Unser Land braucht grundlegende Reformen. Die Paul K. Friedhoff (F.D.P.): Gerne. F.D.P. wird der Motor dieser Reformen für mehr Ar- beitsplätze durch Verbesserung der Wettbewerbsfä- Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk (SPD): Es ist an sich eine higkeit bleiben. Interv ention: Ich darf den Kollegen Friedhoff bitten, Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. sich einmal die Reiselisten geben zu lassen und meine Reisen mit den seinen zu vergleichen, bevor er (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- Kommentare zu meiner „Reiselust" abgibt. Ich finde, ten der CDU/CSU - Dr. Sig rid Skarpelis- das war eine unangemessene und übrigens unwis- Sperk [SPD]: Oh Gott! Armes Vaterland!) sende Anmerkung. - Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Zu einer Kurz- Paul K. Friedhoff (F.D.P.): Ich kenne Ihre Reise- intervention erteile ich der Kollegin Frau Professor pläne für die nächste Zukunft nicht. Aber ich habe Luft das Wort. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997 14127

Dr. Christa Luft (PDS): Danke, Frau Präsidentin. - standswahrer seien. Wir müssen eine Vielzahl weite- Der verehrte Kollege Friedhoff hat eine These wie- rer Kostenelemente ins Auge fassen. derholt, die heute schon mehrfach im Raum stand Danke schön. und die auch ein Grundtenor des Jahreswirtschafts- berichts ist, nämlich die These, daß die Löhne zu (Beifall bei der PDS) hoch seien und daß vor allen Dingen im Osten - das hat er nicht gesagt; da beziehe ich mich auf den Jah- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Sie möchten reswirtschaftsbericht - die Löhne der Produktivitäts- antworten, bitte. entwicklung weggelaufen seien und dies die Drama- tik in der Beschäftigungslage hervorrufe. Paul K. Friedhoff (F.D.P.): Sie haben gerade von ei- Ich möchte dazu zwei Anmerkungen machen, weil nem differenzierten Bild gesprochen, daß man be- man solche Thesen nicht immer so pauschal im Raum kommt, wenn die gesamten Fakten zusammenge- stehenlassen darf. Die erste betrifft die ostdeutsche zählt werden. Ich habe vorhin gesagt, Frau Professor Bauwirtschaft. In der ostdeutschen Bauwirtschaft - Luft, daß wir an vielen Stellen einen sehr positiven das läßt sich überall nachlesen - ist die Produktivi- Effekt in der deutschen Wi rtschaft haben. Deswegen tätsangleichung an den westdeutschen Durchschnitt ist es verkehrt, den Standort in Deutschland her- am raschesten fortgeschritten. Die Löhne liegen dort unterzureden. Wir haben größenordnungsmäßig noch unter dem Durchschnitt der westdeutschen 90 Milliarden DM Handelsbilanzüberschüsse. Die Bauindustrie. müssen irgendwo herkommen. Wir haben Wachstum in Deutschland. Dennoch hatten wir in der ostdeutschen Bauwirt- schaft den rasantesten Abbau von Arbeitsplätzen, Unser Problem ist der Arbeitsmarkt. Wenn ich die den es überhaupt in irgendeiner Branche in den letz- Arbeitskosten in Deutschland mit den Arbeitskosten ten Jahren gab. Leider ist dieser Personalabbau noch in anderen Ländern vergleiche, dann komme ich zu nicht zum Stillstand gekommen, sondern wird sich dem Ergebnis, daß sie in Deutschland besonders fortsetzen. hoch sind. Andere Standortbedingungen sind in Deutschland gut. Es lohnt also nicht, sich immer auf dieses Problem zu fokussieren. Ökonomisch unbest ritten ist, daß die Sie haben an der einen oder anderen Stelle be- Löhne der Produktivitätsentwicklung nicht weglau- klagt, daß wir sie noch besser machen können. Das fen dürfen. Aber wir haben hier offenbar, bezogen bezweifle ich überhaupt nicht. Aber unser Hauptpro- auf den Osten allemal, eine Reihe von anderen Pro- blem liegt im Bereich der Kosten, die mit Arbeit ver- blemen ins Auge zu fassen. bunden sind. Genau hier müssen wir ansetzen; denn es nützt uns überhaupt nichts, in dem Teil der Wirt- Mit meiner zweiten Bemerkung möchte ich gern schaft tolle Ergebnisse zu haben, in dem das Ganze auf eine Kostenerhebung des Statistischen Bundes- fast ohne Menschen funktioniert, aber in dem Be- amtes verweisen. Die Daten stammen aus dem Jahr reich, wo wir die Arbeitskosten haben, die Defizite 1994; neuere liegen noch nicht vor. Danach hat im nicht abzubauen. Bergbau und im verarbeitenden Gewerbe ab 1994 der Anteil der Personalkosten am Bruttoproduktions- Aus diesem Grunde gibt es im Moment nur eine wert in den neuen Ländern mit 25,6 Prozent unter Antwort: Wir müssen in diesem Bereich die Kosten dem in den alten Ländern mit 25,8 Prozent gelegen. senken, damit wieder mehr Arbeit in Deutschland Das heißt, drückender als Personalkosten sind nach angeboten werden kann, damit wir wieder wettbe- dieser Erhebung jedenfalls Kostenelemente wie Ab- werbsfähige Arbeitsplätze bekommen. Das geht schreibungen, die in bezug auf die Kostenanteile we- nicht durch staatliche Interventionen. Das geht auch sentlich höher sind als der Durchschnitt in den alten nicht dadurch, daß wir Arbeitsplätze subventionieren Ländern, Wasser- und Abwasserkosten, Energieko- und daß wir Monopole aufrechterhalten, wie das bei sten, Fremdkapitalzinsen. Wir wissen ja, daß die Ban- der Post gefordert wird. Es geht nicht, daß wir die ho- ken die Eigenkapitalschwäche in den ostdeutschen hen Subventionen wie im Steinkohlebergbau haben Unternehmen besonders für sich ausnutzen, indem und dann von Arbeitsplatzmaßnahmen sprechen. sie in der Zinshöhe mächtig zugreifen. (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Gut, daß Sie nicht allein das Sagen haben!) Ich möchte also darauf hinweisen, daß allein durch die Absenkung der Kosten für Energie, für Fremdka- Dieses ist das Problem, das wir haben. Daß das an pitalzinsen, für Wasser, Abwasser viele Unternehmen vielen Stellen nicht begriffen wird, ist leider in in Ostdeutschland in die Gewinnzone kommen könn- Deutschland ein weiteres Faktum. ten. (Beifall bei der F.D.P. - Wolfgang Weier- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Könn mann [SPD]: Dummes Zeug! Die Kosten ten Sie es vielleicht bei einer Kurzinterven gibt es immer!) tion belassen?) Das Wort hat Dies ist ja wohl ein politisches Handlungsfeld. Nur Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: deshalb mache ich darauf aufmerksam. Wir können jetzt Kollege Rolf Kutzmutz. - den Arbeitslosen nicht immer vorgaukeln, ihr Los hänge damit zusammen, daß die, die noch in Arbeit Rolf Kutzmutz (PDS): Verehrte Frau Präsidentin! sind, zu hohe Lohnforderungen hätten und Besitz- Meine Damen und Herren! Ein bemerkenswerter 14128 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997

Rolf Kutzmutz Satz im Jahreswirtschaftsbericht steht auf seiner Deshalb: Machen Sie endlich in einer tatsächlich Seite 6: Beachtung verdiene - ich zitiere -, „daß in unaufschiebbaren Steuerreform das Investieren und der Öffentlichkeit die Ziele dieser Politik", der Bun- Spekulieren in Immobilien und Geldmärkte so un- desregierung, „nach wie vor verkannt werden." Dar- attraktiv, daß schon dadurch Investitionen in Arbeits- über beklagt sich der Minister, beklagen sich die plätze sich wieder rechnen. Schaffen Sie durch diese Sachverständigen. Schwachstelle sei, so Kollege Steuermehreinnahmen endlich Spielräume, damit Uldall - er sei hier zum zweitenmal zitiert -, das die öffentliche Hand jene Zukunftsinvestitionen tä- fehlende Vertrauen der Menschen in die Politik. Ab- tigt und damit Arbeitslosigkeit überwinden hilft, zu gesehen davon, daß Vertrauen bestenfalls die halbe der private Hände offensichtlich niemals willens und Miete für den Erfolg der Wi rtschaftspolitik ist: Woher in der Lage sein werden! soll denn dieses Vertrauen wachsen? Kommen Sie mir auch nicht mit der Mär vom Ankündigungen vom richtigen Weg und bahnbre- scheuen Reh Kapital. Egal, wie weit sie Steuersätze chenden Reformen stehen die wachsende Zahl der und Sozialabgaben auch heruntersetzen: Mit Billig- Arbeitslosen und das Sinken der Realeinkommen der lohnländern kann die Bundesrepublik Deutschland noch Beschäftigten gegenüber. Das ist Realität. niemals konkurrieren. (Beifall bei der PDS) Die Volkswirtschaft der Bundesrepublik hat drei große Potenzen: einen Markt mit über 80 Millionen Statt Stabilisierung von Masseneinkommen und Konsumenten, hochqualifizierte Menschen und ent- Binnennachfrage, statt Anreizen für eine ökologische sprechende soziokulturelle Infrastruktur und ein, Modernisierung der Industriegesellschaft und Erwei- verglichen mit den meisten anderen Weltregionen, terung der politischen Handlungsspielräume kon- Höchstmaß an sozialer Stabilität. Ich behaupte, diese zentriert sich die Regierung auf die Stabilisierung Faktoren und nicht allein ein paar Prozente mehr der Gewinnwirtschaft durch Lohnverzicht und So- oder weniger Steuern und Sozialabgaben bestimmen zialabbau. Investitionsentscheidungen für dieses Land. Was rechtfertigt eigentlich das grenzenlose Ver- (Beifall bei der PDS) trauen der Bundesregierung in privatisierte Geldver- mögen, die angeblich in mehr Beschäftigung umge- Die Bundesrepublik ist und bleibt attraktiv, solange münzt werden? sie diese ureigenen Potenzen erhält und ausbaut. Dieser Aufgabe muß auch eine radikal reformierte Herr Kollege Friedhoff, ich habe großen Respekt Wirtschaftsförderung verpflichtet sein. vor Ihrer unternehmerischen Tätigkeit. Aber die Tat- sache, daß sich Lohnabhängige angesichts von Ich will mich hier aus Zeitgründen auf einen 4,6 Millionen Arbeitslosen bereit erklären, mehr zu Aspekt beschränken. Der jüngste Subventionsbe- arbeiten und auf Lohn zu verzichten, und Sie das richt der Bundesregierung belegt: Auf jede Mark di- noch als Erfolg verkaufen, das halte ich für schizo- rekter staatlicher Zuschüsse oder Zinsverbilligungen phren. für konkrete Projekte kommen drei Mark Steuererlaß durch pauschale Investitionszulagen oder im Osten (Beifall bei der PDS - Anke Fuchs [Köln] durch zusätzliche Sonderabschreibungen. [SPD]: Das ist Friedhofspolitik!) Es bringt aber nichts, mit der Gießkanne in die Wü- Wie verträgt sich das Reden von hohen Löhnen, ste zu ziehen. Die Folgen können wir im Osten be- Steuern und Lohnnebenkosten mit der lapidaren sichtigen. Trotz anerkennenswerter Rekonstruktio- Feststellung des Jahreswirtschaftsberichtes im Rück- nen sind Innenstädte von Verödung bedroht, sind In- blick auf 1996 - ich zitiere -: dustriebrachen entstanden, und gleichzeitig gibt es Die Ertragsmargen der Unternehmen konnten zubetonierte einstige grüne Wiesen mit Büroflächen trotz des geringen Preisauftriebs insgesamt noch- oder Nobelwohnungen, für die weit und breit kein mals spürbar ausgeweitet werden. Bedarf in Sicht ist. Wohin müssen denn die Ertragsmargen noch wach- Das Einkommensteueraufkommen sank wegen sen, damit sie endlich in neue Arbeitsplätze mün- der Sonderabschreibung Ost von 41,5 Milliarden DM den? 1992 auf knapp 14 Milliarden 1995. Die öffentliche Hand wurde arm gemacht. Von einem selbsttragen- Es ist offensichtlich so, daß selbst, wenn alle Forde- den Aufschwung sind die neuen Länder dennoch ge- rungen der Unternehmerverbände erfüllt werden, nauso weit entfernt wie zuvor. neue Arbeitsplätze in der Industrie nicht in Sicht sind. Die Privatvermögen der Bundesrepublik - die Diesen wie auch anderen Irrwegen der bundeswei- Zahlen kennen Sie besser als ich - betragen insge- ten Subventionsvergabe muß schnellstens ein Ende samt fast 10 Billionen DM. Sie liegen zu 55 Prozent in gemacht werden. Die Bundestagsgruppe der PDS Immobilien, zu 31 Prozent in Geld und zu ganzen wird dazu noch vor der diesjährigen parlamentari- 14 Prozent in Betriebsvermögen fest. schen Sommerpause in einem umfassenden Antrag Vorschläge zur Wirtschafts- und Arbeitsmarktförde- Steigende Immobilienwerte und Spekulation auf rung sowie zum Steuerrecht unterbreiten, die bereits den Geldmärkten bringen und sichern aber kaum ei- ab 1998 umgesetzt werden können, wenn Sie die nen Arbeitsplatz. Letztlich nur ein knappes Sechstel Einladung, die Sie von der Regierung immer so der Vermögenswerte in diesem Land ist beschäfti- gerne aussprechen, daß alle zur Veränderung aufge- gungswirksam angelegt. rufen werden, tatsächlich ernst meinen. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997 14129

Rolf Kutzmutz lerdings,Keine Sorge, wir werdenmeine die übrigen ich, Parteien kommt in man damit wohl nicht diesem Haus nicht mit zentralistischer Planwirtschaft mehr über die Runden. bedrohen. Ich bitte Sie aber, die folgenden Sätze zu (Beifall bei der SPD und der PDS) beherzigen: „Der wichtigste Feind der offenen Ge- sellschaft ist nicht länger die kommunistische, son- Ihre Privatisierungsstrategie und die Wirtschafts- dern die kapitalistische Bedrohung", sie wird be- förderung insgesamt, vor allem die Investitionen in droht „von übertriebenem Individualismus, von zu- die öffentliche Infrastruktur, führten vorübergehend viel Konkurrenz und zuwenig Kooperation". Dieser immerhin dazu, daß es nach dem überwiegenden Zu- Gedanke stammte weder von Marx noch von Lenin sammenbruch der alten industriellen und gewerbli- und auch nicht von mir. Er stammt von George Soros, chen Strukturen Ostdeutschlands zu einem Beschäf- dem anerkanntermaßen erfolgreichsten Spekulanten tigungsneuaufbau kam, zu einem Zuwachs am Brut- der westlichen Welt; der müßte Ihnen näherstehen toinlandsprodukt Ostdeutschlands und daß sich letzt- als mir. Nachlesen können Sie ihn, ausführlich be- endlich auch der Produktivitätsrückstand verklei- gründet, unter anderem in der „Zeit" vom 17. Januar. nerte. Die damit verbundene Dynamik ließ auf einen zeitlich beschreibbaren Aufholprozeß hoffen. Dies al- Danke. les soll nicht kleingeredet werden, selbst dann nicht, (Beifall bei der PDS) wenn sich Ihre überdurchschnittliche Förderung im Baubereich am Ende als Strohfeuer erwies, welches zu einer Menge leerer Gebäude führte, also gewis- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat sermaßen Hülsen eines scheinbaren Aufschwunges, jetzt der Kollege Christian Müller. der dann doch nicht stattfindet. Seit einem Jahr befinden wir uns aber, glaube ich, in einer schwierigeren Phase der Entwicklung Ost- Christian Müller (Zittau) (SPD): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sicher ist deutschlands, so daß man nur sagen kann: Die von diese Debatte bereits enorm weit fortgeschritten. Es uns seit 1994 ständig kritisierte und mit parlamentari- macht daher schon einige Mühe, zu Punkten zurück- schen Initiativen begleitete Ausdünnung der Förde- zuführen, die man eigentlich schon hinter sich gelas- rung Ostdeutschlands hat dazu beigetragen, daß die sen hatte. zunehmend konjunkturabhängige ostdeutsche Wi rt -schaft günstigstenfalls noch Zuwachsraten des Brut- Ich wollte eigentlich darauf hinaus, daß es einige toinlandsproduktes Ost ausweisen kann, die für den gute Gründe gibt, sich im Rahmen dieser Debatte Westen typisch sind. Damit ist eine Angleichung noch einmal mit der wirtschaftspolitischen und wirt kaum noch darstellbar. Selbst im investiven Bereich Situation Ostdeutschlands gesondert-schaftlichen haben Sie beispielsweise in den letzten beiden Haus- auseinanderzusetzen. Diese scheint mir nicht erst halten im Mittelansatz für die Gemeinschaftsaufgabe heute, sondern überhaupt in den letzten Monaten 850 Millionen DM gestrichen, was sich in dieser Be- enorm zu kurz gekommen zu sein. ziehung sehr ungünstig auswirkt. (Beifall bei der SPD - Walter Hirche [F.D.P.]: Ostdeutschland zeigt heute also das Bild einer im Vor allen Dingen dem Vorsitzenden der wesentlichen auf den Binnenmarkt ausgerichteten SPD-Fraktion war das kein Wo rt wert !) Regionalökonomie, die im Gegensatz zum Westen nicht in der Lage ist, von wachsenden Expo rten zu Ich meine - unabhängig von solchen spitzen Erwä- profitieren, egal, wie die aktuellen Währungsrelatio- gungen -, dies steht wohl eher im umgekehrten Ver- nen zum Dollar ausfallen. Die derzeitige schwache hältnis zur Bedeutung dieses Problems für den Wi rt Inlandsnachfrage behindert dann logischerweise die -schaftsstandort Deutschland. ostdeutsche Wirtschaft in ganz besonderem Maße. Wir haben es seit einem Jahr im Grunde mit einer (Beifall bei Abgeordneten der SPD) neuen, wenig verheißungsvollen Etappe der wirt- Es gibt also keinen selbsttragenden Aufschwung. schaftlichen Entwicklung Ostdeutschlands zu tun, Dies ist hier nun mehrfach festgestellt worden. Selbst die in einigem Kontrast zu den Jahren bis 1995 steht. der Herr Bundesminister für Wi rtschaft hat dies in Ihre Politik, meine Damen und Herren, die des Herrn verschiedenen Zusammenhängen deutlich gemacht. Bundeswirtschaftsministers, die sich seit 1992 hinter dem Begriff „Aufschwung Ost" - eine ziemlich be- Im vorliegenden Jahreswirtschaftsbericht werden schönigende Bezeichnung - verbirgt, war im Prinzip die meisten vorhandenen Probleme wenigstens an- Versuch und Irrtum, Übertragung altbundesdeut- gesprochen. Allerdings lassen die von Ihnen verwen- scher Politikelemente, die zumindest für einen be- deten Zahlen zum vermutlichen Wachstum, die, wie grenzten Zeitraum zu Fortschritten in strukturschwa- in der Regel, reichlich optimistisch erscheinen, auch chen Räumen der Altbundesrepublik führten. andere Schlüsse zu. Dieses Thema hatten wir heute aber schon; ich will es nicht weiter vertiefen. Immerhin fand dies in der ersten Zeit nach der Wiedervereinigung seinen Erfolg. Es mag daher hin- Also wird, so das DIW, das Ziel eines angemesse- nehmbar sein, daß es unter Berücksichtigung der seit nen Wachstums verfehlt. Zu fragen bleibt, wie es dem 1. Juli 1990 gegebenen Bedingungen kein auf weitergehen soll, mit welchen politischen Rahmen- Erfahrung beruhendes, finanziell beschreibbares bedingungen dieser Entwicklung begegnet werden und in sich geschlossenes Konzept zur Konversion soll. Sicher zu sein scheint nach allem, was die Wi rt der DDR-Wirtschaft gegeben haben kann. Heute al- -schaftswissenschaftler uns vorlegen, daß das Pro- 14130 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997

Christian Müller (Zittau) blem des Teilstandortes Ostdeutschland möglichst ernst zu nehmen ist. Ich halte mich aber gern an schnell gelöst werden muß. Anderenfalls würden die Herrn Professor Hoffmann, den Präsidenten. Sie wis- Belastungen für die gesamte Volkswirtschaft auf sen, er hat gefordert: Dauer zu groß. Der damit verbundene Ansehensver- lust der Politik und der Politiker selbst muß nicht nä- Der Osten braucht in den nächsten Jahren minde- her beschrieben werden. stens so viel Geld wie bisher ... Wer jetzt die För- derung reduziert, macht den Osten zum Not- Hören Sie vielleicht an dieser Stelle auch darauf, standsgebiet. was Ihnen die Ludwig-Erhard-Stiftung - Ludwig Er- hard spielte in der heutigen Debatte schon mehrfach Das sollte uns auf alle Fälle zu denken geben. eine Rolle - zu Ihren bisherigen Förderkonzepten ge- Vielen Dank. sagt hat: (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- ... von Anfang an (war) die Strukturpolitik der ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Bundesregierung durch ein hohes Maß an Impro- und der PDS) visation gekennzeichnet. Längerfristige Überle- gungen zu den Mitteln und Zielen der Wi rt -schaftsförderung in den neuen Ländern wurden Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Als nächstes hat nicht angestellt, statt dessen verfolgte das in der der Kollege Paul Krüger das Wo rt. Aufbaupolitik federführende Kanzleramt mit kor- porativen Lösungen und mit Feuerwehreinsätzen Dr.-Ing. Paul Krüger (CDU/CSU): Verehrte Frau eine Strategie, die ... an kurzfristigen politischen Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Her- Zielen orientiert war. ren! Die wirtschaftliche Entwicklung in den neuen Ländern ist für das Wohlergehen des ganzen Landes Zu ebendieser Feststellung kommt auch der eine entscheidende Frage. Nur wenn uns in absehba- 15. Anpassungsfortschrittsbericht; das ist do rt nach- zulesen. rer Zeit ein selbsttragender Aufschwung gelingt, werden wir das wirtschaftliche und auch das soziale So ist eigentlich nur festzustellen, daß es in der Tat Gleichgewicht in der gesamten Bundesrepublik auf- Zeit für ein neues Förderungskonzept für Ost- rechterhalten können, werden wir unser größtes Pro- deutschland ist. Dieses hat der Herr Bundeswirt- blem, nämlich die Arbeitslosigkeit, einer Lösung zu- schaftsminister angekündigt. Das ist auch zu begrü- führen können. ßen, selbst wenn bisher völlig unklar bleibt, worauf es sich eigentlich in letzter Konsequenz beziehen In vielen Bereichen der neuen Bundesländer ist in wird und was drinstehen wird. den letzten Jahren eine gute Entwicklung zu ver- zeichnen, insbesondere beim Abbau von teilungsbe- (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Jawohl! Das ist dingten Rückständen. Ich erinnere hier an den Aus- wahr!) und Neubau von Straßen, Schienen, des gesamten Verkehrsnetzes und an die Schaffung moderner Te- Allerdings schränkt er selbst dies ein: Die Finanzie- lekommunikationsanschlüsse. Es wurden in dieser rung werde angesichts der Haushaltssituation kurzen Zeit 5 Millionen Telefonanschlüsse geschaf- schwierig werden. Das läßt natürlich vermuten, daß fen. Wir haben mittlerweile das modernste Telekom- es in der Tat so sein wird. munikationsnetz der Welt. Das ist eine hervorra- Von Herrn Waigel ist in den letzten Sitzungen ver- gende Voraussetzung auch für die wi rtschaftliche schiedener Ausschüsse dieses Hauses zu hören, daß Entwicklung. er daran denkt, die Förderung für Ostdeutschland ab Wir haben mittlerweile 3,5 Millionen Wohnungen 1999 radikal zu kürzen. Dies steht in interessantem entweder neu gebaut oder renoviert. Das entspricht Kontrast zu dem, was Herr Rexrodt heute ausgeführt der Hälfte aller Wohnungen, die es in den neuen hat. Er meinte, ab 1999 würde die Förderung für Ost- Bundesländern gibt. Und wir haben mit der Überfüh- deutschland auf hohem Niveau fortgeführt. Es wäre rung des Sozialsystems in die neuen Länder im Rah- schon ganz spannend zu erfahren, was dies für uns alle bedeutet. men der sozialen Marktwirtschaft die wohl größte Leistung vollbracht, die im Rahmen der Wiederverei- (Detlev von Larcher [SPD]: Das weiß er nigung vollbracht wurde. selbst noch nicht!) Trotz dieser Leistungen haben wir erst die erste - Ja. Hälfte des Weges hinter uns. Wir müssen konstatie- ren, daß die zweite Hälfte keineswegs leichter wird. Ich finde, es ist schon bedeutsam, wenn die Wi rt -schaftsminister aller neuen Bundesländer und der Die Bundesregierung geht in ihrem Jahreswirt- Berliner Wirtschaftssenator über die Parteigrenzen schaftsbericht von einem Wachstum von 2,5 Prozent hinweg gemeinsam fordern, die Wirtschaftsförde- in den neuen Ländern aus. Wenn man diese Wachs- rungsmaßnahmen zumindest auf dem derzeitigen Ni- tumsprognose mit den Zahlen der Wirtschaftsinsti- veau fortzuführen. Ich kann angesichts der fortge- tute vergleicht, wird deutlich, daß es hier noch erheb- schrittenen Zeit eigentlich nur empfehlen, auf diese liche Unsicherheiten gibt. Das heißt: Die Wachstums- Leute zu hören; denn sie wissen immerhin, wovon sie raten werden viel geringer sein, als wir es ursprüng- reden. lich angenommen haben. Zu dem DIW ist heute gesagt worden, daß das, was Dabei bedeuten gleiche Wachstumsraten wie im von ihm prognostiziert wurde, vielleicht nicht ganz so Westen nur, daß sich das Bruttoinlandsprodukt in Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997 14131

Dr.-Ing. Paul Krüger West und Ost in. absoluten Zahlen weiter auseinan- men haben, wo die Eigenkapitalausstattung sehr gut derentwickelt. Um eine Annäherung der Wi rtschaft war und wo genügend investiert wurde. Do rt ist die in einem vernünftigen Zeitraum zu realisieren, brau- Produktivität zum Teil erheblich höher als im Westen. chen wir einen jährlichen Wachstumsvorsprung von mindestens 5 Prozentpunkten. Die hohen überdurchschnittlichen Lohnkosten sind also kein generelles Standortproblem der neuen Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Pro- Bundesländer. bleme in der Wirtschaft in den neuen Bundesländern sind wesentlich differenzie rter als die in den alten (Zuruf von der SPD: Das wichtigste Problem Ländern. Wir haben eine völlig einseitige Unterneh- ist die Bundesregierung!) mensstruktur. Es gibt fast nur kleine und mittelstän- Das ist auch für die Ansiedlung weiterer Unterneh- dische Unternehmen. In ganz Ostdeutschland gibt es men ganz wichtig. Deshalb ist eine produktivitäts- weniger Großunternehmen als im orientierte Lohnpolitik zwar vernünftig und richtig - Köln. insbesondere in den neuen Bundesländern -, aber rve für die Lö- Damit hängt auch zusammen, daß viele Unterneh- darin liegt nicht die ganz große Rese men nicht in der Lage sind, zu exportieren; sie haben sung der wirtschaftlichen Probleme im Osten. eine viel zu schwache Exportkraft. Trotz aller An- (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Das ist richtig!) strengungen gelingt es den Unternehmen nicht, ihre Produkte überregional abzusetzen. Der Anteil der Nötig sind vielmehr gute, innovative Produkte und neuen Länder an den gesamtdeutschen Expo rten be- Dienstleistungen, die sich auch im Wettbewerb in trägt derzeit 4 Prozent. überregionalen Märkten durchsetzen können. Die industrielle Basis ist viel zu schmal. Die Be- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) triebe des verarbeitenden Gewerbes sind stark unter- Die erste Hälfte des Weges beim Aufbau Ost war repräsentiert. Die Eigenkapital- und Liquiditätssitua- vor allem durch die Umstrukturierung einer völlig tion ist noch besonders schwierig. Die Kapitalausstat- maroden sozialistischen Planwirtschaft, durch die tung der Unternehmen ist do rt am problematisch- Privatisierung von Wirtschaftsunternehmen, durch sten, wo überregionale Märkte besonders wichtig eine breitgefächerte Förderung von staatlichen und sind. privaten Investitionen und durch den schrittweisen Die Forschungs- und Entwicklungskapazitäten in Aufbau eines Mittelstandes in den neuen Ländern den neuen Ländern sind zu klein. In den Unterneh- gekennzeichnet. Bei der zweiten Hälfte des Weges men wird - pro Kopf der Bevölkerung gerechnet - für kommt es nun besonders darauf an, in Ostdeutsch- Forschung und Entwicklung nur rund ein Zwanzig- land noch stärker Eigeninitiative zu fördern und vor stel dessen ausgegeben, was in den alten Ländern allem das verarbeitende Gewerbe zu stärken. aufgewendet wird. Der Anteil der Unternehmen aus (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Risikokapital!) den neuen Ländern an forschungs- und entwick- lungsintensiven Exporten beträgt derzeit unter Das bedeutet, Unternehmen zu konsolidieren und 2 Prozent. in ihrem Wachstum stärker zu fördern, weitere indu- strielle Unternehmen anzusiedeln, weitere Unterneh- Die Lohnstückkosten sind im Osten im Durch- mensgründungen anzuregen und die Innovations- schnitt viel zu hoch. Sie liegen im Durchschnitt über kraft der Unternehmen zu stärken, um vor allem den 30 Prozent über denen in Westdeutschland. Beson- überregionalen Absatz stärker zu fördern. Zur Bewäl- ders problematisch ist die Tatsache, daß die Löhne tigung dieser Aufgaben bleibt die „Förderung auf zum Teil schneller gestiegen sind als die Arbeitspro- hohem Niveau" , wie sie der Jahreswirtschaftsbericht duktivität. ankündigt, eine notwendige Voraussetzung. (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Ja, wegen der (Beifall bei der CDU/CSU) blühenden Landschaften!) Ich möchte dies anhand einiger Schwerpunkte Die Ursachen für die geringe Arbeitsproduktivität ausführen. Herr Müller hat ja gefragt, wo wir die sind sehr unterschiedlich. Wir haben eine Ursache in Schwerpunkte denn setzen werden. Ich darf Ihnen den suboptimalen Unternehmensstrukturen - ich also mitteilen, wo zumindest ich bzw. die Gruppe habe die Größe der Unternehmen schon erwähnt. meiner Kollegen die Schwerpunkte sieht. Wir haben in großen Teilen zu geringe Erlöse für die gleichen Leistungen. Und zum Teil haben wir zu Erstens. Ein vorrangiges Ziel unserer Politik bleibt hohe Kosten im Bereich der Energie und des Abwas- die Verbesserung von Ansiedlungsbedingungen. In sers. Nicht zuletzt haben wir durch Eigenkapital- diesem Zusammenhang sehen wir besonders eine schwäche bedingte Investitionsrückstände. kontinuierliche Weiterverfolgung des Aufbaus der Infrastruktur. Deshalb genießen die Verkehrspro- Jedenfalls hat die zu geringe Arbeitsproduktivität jekte deutsche Einheit weiter erste Priorität. Darüber ihre erste Ursache nicht in den Menschen, die die hinaus sind Möglichkeiten für eine weitere Beschleu- Produkte herstellen; sie sind qualifiziert und moti- nigung zu nutzen. Dabei denken wir insbesondere viert. Aber den Unternehmen fehlt ein ausreichender an Möglichkeiten der privaten Vorfinanzierung. Zugang zu überregionalen Märkten. Die deutsche Wirtschaft hat gewissermaßen „Menschen ohne Zweitens ist es notwendig, Existenzgründungen Märkte" geerbt. Anders ist es do rt, wo Unternehmen und insbesondere das Wachstum von Unternehmen ihre Märkte in die neuen Bundesländer mitgenom- zu fördern. Wir wollen deshalb die geltenden Investi- 14132 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997

Dr.-Ing. Paul Krüger tionszulagen nicht nur beibehalten, sondern deutlich und daß wir den Arbeitslosen mehr zumuten müssen, verbessern. als hier eigentlich erforderlich wäre. Drittens. Um Innovationen besser zu fördern, wol- Meine Damen und Herren, mit Recht formuliert len wir eine Innovationszulage nach dem Beispiel der Jahreswirtschaftsbericht: vieler führender Industrienationen einführen. Gemeinsames Ziel bleibt weiterhin eine lei- Viertens. Prioritäre Bereiche der Wirtschaftsförde- stungsfähige ostdeutsche Wirtschaft, die aus ei- rung sind das verarbeitende Gewerbe und die Anbie- gener Kraft am Markt besteht und genügend Be- ter innovativer Dienstleistungen vor allem im mittel- schäftigungs- und Einkommenschancen bietet. ständischen Bereich. Diese Bereiche sind bevorzugt Es ist in der Tat notwendig, daß wir die wirtschaftli- zu fördern. che Situation in Ostdeutschland ernst nehmen. Nur Fünftens. Angesichts des immensen Nachholbe- wenn wir in Ost und West gleichermaßen begreifen, darfs, der bei der Sanierung und Modernisierung wie sehr unsere Wirtschaft in ganz Deutschland von von Wohngebäuden immer noch besteht, sind wei- der Entwicklung in den neuen Ländern abhängt und tere Anstrengungen in diesem Bereich unerläßlich. wie sehr eine langfristige Solidarität not tut, werden Wir werden insbesondere darüber nachdenken müs- wir die vor uns liegenden Herausforderungen erfolg- sen, ob wir nicht von Sonderabschreibungen zu an- reich bewältigen. deren Finanzierungsmodellen kommen und auch auf Meine Damen und Herren von der SPD, hier soll- Zulagen umsteigen müssen. ten Sie gemeinsam mit uns das Notwendige tun, um Sechstens. Nicht zuletzt müssen wir stärker dar- die Probleme zu meistern. über nachdenken, wie wir Überregulierungen ver- Vielen Dank. einfachen und Verwaltungshandeln in den neuen Ländern beschleunigen können. Die Bürokratie hat (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) auch um die neuen Bundesländer keinen Bogen ge- macht. Hier ist auch in Zukunft ganz entschiedenes Das Wort hat Handeln erforderlich. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: jetzt der Kollege Siegmar Mosdorf. Die hohe Arbeitslosigkeit ist nach wie vor das größte Problem in den neuen Bundesländern. Des- Siegmar Mosdorf (SPD): Frau Präsidentin! Meine halb sind arbeitsmarktpolitische Maßnahmen in Ab- Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kolle- hängigkeit von der Entwicklung der Arbeitslosen- gen! Als Herr Rexrodt sein Amt im Januar 1993 an- zahlen weiterhin notwendig. Dabei kommt es beson- trat, hatten wir 2,9 Millionen Arbeitslose; wir haben ders darauf an, durch diese Maßnahmen möglichst jetzt 4,7 Millionen. Sie haben zwar jetzt angekün- vielen Arbeitslosen den Zugang zu einem regulären digt, die Arbeitslosigkeit zu halbieren, haben sie Arbeitsplatz in der Wi rtschaft zu eröffnen. aber erst einmal verdoppelt. Wenn es einen Namen (Beifall bei der CDU/CSU) für einen „Wirtschaftsminister der Arbeitslosigkeit" gibt, dann ist es der Name Rexrodt. In diesem Sinne haben wir als ostdeutsche Bundes- (Beifall bei der SPD) tagsabgeordnete eine ganze Reihe von neuen Vor- schlägen zum Arbeitsförderungs-Reformgesetz einge- Herr Rexrodt, ich glaube, daß Ihnen auch bewußt bracht, die insbesondere Existenzgründungen durch sein muß, daß die Schlüsselfrage für die Beurteilung, Lohnkostenzuschüsse unterstützen und auch den be- ob Ihre Politik erfolgreich ist oder nicht - das ist auch fristeten Zugang von Arbeitslosen zum ersten Ar- heute in der Debatte deutlich geworden -, lautet, wie beitsmarkt über Lohnkostenzuschüsse möglich ma- wir den Arbeitsmarkt in Ordnung bekommen. Das ist chen. Wir sehen, daß wir hier in einem ganz beträcht- eine Schlüsselfrage für die Zukunft. lichen Umfang neue Arbeitsplätze schaffen können. Es wird allein auf diesem Wege einige zehntausend Angesichts der fortgeschrittenen Diskussion neue Arbeitsplätze geben, und nebenbei können wir möchte ich daran erinnern, daß der Jahreswirt- die Wirtschaft nachhaltig stärken. schaftsbericht 1968 von Karl Schi ller eingeführt wor- den ist; das ist fast 30 Jahre her. Wir hatten damals (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) auch ein ganz bestimmtes Niveau der Debatte. Die heutige Debatte über den Jahreswirtschaftsbericht Dieses auf die neuen Länder beschränkte Instru- war durch eine ganze Reihe von Detailfragen ge- mentarium ist ein völliges Novum. Wir haben hier ein kennzeichnet; aber die wi rtschaftspolitische Grund- Zeichen gesetzt, daß man auch in solchen Bereichen satzdiskussion hat eigentlich nicht stattgefunden. innovativ sein kann. Wie wir wirtschaftspolitisch die Zukunft gestalten (Zuruf von der CDU/CSU: Richtig!) wollen, dazu steht im Jahreswirtschaftsbericht eine Menge - das ist wahr -; da hat sich im Jahreswirt- Um so bedauerlicher ist es, daß wir durch die Blocka- schaftsbericht selber auch einiges verändert. Aber dehaltung der SPD zum Arbeitsförderungs-Reform- die Debatte war, was die Zukunftsfragen angeht, ei- gesetz drei Monate Verzug bei der Einführung dieser gentlich eher blaß. Maßnahmen haben Meine Damen und Herren, Herr Stoltenberg, Herr (Zuruf von der CDU/CSU: Auf dem Rücken Solms und andere haben sich immer wieder auf das der Arbeitslosen!) Beispiel Amerika berufen. Ich möchte meine kurze Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997 14133

Siegmar Mosdorf Redezeit zunächst darauf verwenden, ein bißchen auch bei uns eine Anlaufstelle haben, unbürokra- genauer auf das Stichwort Amerika einzugehen, weil tisch behandelt werden und ihnen geholfen wird. sich in Amerika schon eine Menge im Beschäfti- Ein zweites Beispiel: Es ist keine Frage, daß es in gungsbereich getan hat. Es hat ja keinen Zweck, das Amerika in den letzten Jahren natürlich auch einen zu leugnen. Man muß nur einmal genauer hin- erheblichen Reindustrialisierungsprozeß gegeben schauen, welche Strukturen es gibt und woran es im hat. Wer das Detroit von Anfang der 80er Jahre einzelnen gelegen hat. kennt, eine heruntergekommene Industriestadt mit In Amerika hat es in der Tat viele neue und auch den Hauptquartieren der Automobilindustrie, und es zusätzliche Beschäftigungsverhältnisse gegeben. sich heute ansieht, weiß, daß sich do rt enorm viel ge- Bei diesen neuen Beschäftigungsverhältnissen - von tan hat. Reindustrialisierung heißt Modernisierung. 8 bis 9 Millionen sprechen die Experten - sind etwa Es hat Modernisierungen von Fabriken gegeben. Da 20 bis 25 Prozent, so würde ich schätzen, wirkliche sind auch wir in der Politik teilweise gefordert. „bad jobs", also McDonald's-Jobs, Jobs, bei denen Es gibt aber auch eklatante Defizite in der Wi rt ganz simple Tätigkeiten verlangt werden und von -schaft. Leider haben wir heute nicht mehr Schumpe- denen manche Leute sogar zwei oder drei ausüben tersche Unternehmer der Preisklasse eines Gottlieb müssen, um überhaupt leben zu können. Ungefähr Daimler oder eines Robe rt Bosch, sondern wir haben ein Drittel der neuen Jobs, kann man sagen, sind sol- heute mehr Buddenbrooks der dritten Generation. che „bad jobs" . Ich glaube nicht, daß das erstrebens- Wir haben also ein echtes Defizit im Unternehmens- wert ist, auch wenn man klar sagen muß, daß wir na- bereich. Die Politik kann da nur helfen, aber dieser türlich wollen, daß alle Leute einen Job haben und Reindustrialisierungsprozeß hat bei den echten Ferti- notfalls auch einen solchen Job annehmen sollen. gungsarbeitsplätzen in Amerika auch geholfen. Eines ist aber klar: Es gibt einige andere Faktoren, Drittes Beispiel: Wir haben gehört, daß sich bei die für uns noch interessanter sind. Es hat in den letz- Forschung und Technologie in Amerika eine Menge ten Jahren in Amerika in bezug auf ausländische Di- tut. Die Fachleute sprechen davon, daß Amerika wie- rektinvestitionen einen erheblichen Anstieg gege- der zum Zentrum der Kreativität geworden ist. Das ben. Die amerikanische Volkswirtschaft hat enorm ist wahr. Es hat sich eine Menge bei Forschung und viele ausländische Direktinvestitionen angezogen. In Technologie bewegt, während wir in der gleichen Ihrer Regierungszeit, von 1985 bis 1995 - das ist die Zeit den Forschungsetat deutlich abgesenkt und auf neueste Statistik, die Roland Berger gerade veröf- den wichtigen Zukunftsfeldern reduziert haben. Das fentlicht hat -, gab es ausländische Direktinvestitio- gilt für Informations- und Kommunikationstechnik, nen in den USA in Höhe von 477 Milliarden Dollar für Bionik, für Mikrosystemtechnik, für Umwelttech- und in Deutschland von 27 Milliarden Dollar. Da muß nik und für eine ganze Reihe von wichtigen Zu- man jetzt genau hinschauen; es gibt viele Rahmenbe- kunftstechnologien. dingungen, die dabei eine Rolle spielen. Übrigens la- gen auch noch Italien, England, Belgien, Holland Die Elite der deutschen Forschung hat vor weni- und Schweden vor uns. Das heißt, die Frage nach un- gen Tagen ein „Manifest gegen den Niedergang" seren Bedingungen ist schon sehr wichtig. veröffentlicht, in dem es unter anderem heißt: Die Bundesrepublik Deutschland ist in Gefahr, In den nächsten Tagen werden wir ja auch unter entscheidende Zukunftschancen zu verspielen .. . steuerpolitischen Gesichtspunkten über diese Frage Eine Politik, die Ausbildung und Forschung reden. Das ist sicher nur ein Punkt. Dazu gehören keine Priorität einräumt, verspielt die Wettbe- auch manche anderen Fragen wie Genehmigungs- werbsfähigkeit unseres Landes. Sie nimmt der verfahren und viele Dinge, über die wir schon gere- Jugend das Vertrauen in die Zukunft und den det haben und die ausschlaggebend dafür waren, Mut zum vorausschauenden Handeln. daß es im Zuge der Globalisierung eine ganze Menge ausländischer Direktinvestitionen in der ame- Wenn diese Elite der deutschen Forschung fordert, rikanischen Volkswirtschaft gegeben hat, aber bei daß man endlich umdenkt und neue Ansätze findet - uns eben nicht. Insofern gibt es eine Differenz. gerade auch bei Forschung und Technologie, bei In- novation -, dann ist das ein Alarmsignal, das wir auf- Wir haben schon vor zwei Jahren im Wirtschafts- greifen müssen. Wir können die Politik nicht so wei- ausschuß darauf hingewiesen, daß wir uns wirklich tertreiben und die Anstrengungen in bezug auf die stärker und intensiver um ausländische Investoren Schlüsselfragen der Zukunft reduzieren. kümmern sollten, die hier Fabriken bauen wollen. Es wird nämlich eben nicht mehr wie früher klassisch in (Beifall bei der SPD) einer Großfabrik produziert und dann weltweit ex- Das sind Punkte, die wir sehen müssen. portiert, sondern heute wird dezentral produziert. Es ist einmal gut, sich das am amerikanischen Bei- Vor wenigen Wochen haben Sie für Ostdeutsch- spiel vor Augen zu führen. Wir waren früher die Aus- land eine solche Investment GmbH gegründet. Ich bildungsadresse Nummer 1 in der Welt. Wenn Sie halte das für richtig, auch wenn es spät kommt. Ich sich ansehen, wo heute die Eliten von morgen aus Ja- halte es aber auch für Westdeutschland für dringend pan, Indonesien und Indien ausgebildet werden, geboten - wir haben es vor zwei Jahren einmal ange- dann werden Sie feststellen, daß dies überwiegend regt -, damit man klare Bedingungen für solche Inve- in Amerika geschieht. In Amerika werden gegenwär- storen schafft, die wirklich auf dem europäischen tig 80 000 Inder an den Universitäten ausgebildet; Kontinent Arbeitsplätze schaffen wollen, und sie bei uns sind es 800 - unsere deutschen Universitäten 14134 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997

Siegmar Mosdorf sind auch in einem schlechten Zustand. In Amerika Wir haben auf dem Gebiet der Informations- und werden 100 000 Japaner ausgebildet; bei uns sind es Kommunikationstechnik ein Riesenpotential, das wir 1 300. leider viel zu wenig nutzen, nicht nur bei der Haupt- stadtfrage, nicht nur bei dem Umzug, sondern auch (Otto Schily [SPD]: Das ist eine ganz wich bei vielen anderen Fragen wie den Existenzgründun- tige Zahl!) gen. - Das sind ganz wichtige Zahlen, weil man weiß, daß (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- die Auszubildenden von heute die Geschäftspartner ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN von morgen sind. Das ist doch völlig klar. und des Abg. Rolf Kutzmutz [PDS]) (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Rolf Kutzmutz [PDS]) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Gestatten Sie eine Zwischenfrage Ihres Kollegen Otto Schily? Das heißt: Wir haben auf diesem Sektor eine ganze Menge Defizite sich aufstauen lassen, über die wir dringend reden müssen. Siegmar Mosdorf (SPD): Bei mir ist die Uhr schon abgelaufen. Aber natürlich gestatte ich die Zwi- Schauen Sie sich nicht zuletzt einmal die Situation schenfrage. im Bereich der Existenzgründungen an! In Amerika sind die Bedingungen für Existenzgründer, zum Bei- spiel in bezug auf das Risikokapital, wesentlich bes- Otto Schily (SPD): Lieber Kollege Mosdorf, hatten ser. Wir haben auf diesem Sektor einen erheblichen Sie auch den Eindruck, daß der Kollege Fischer mit Nachholbedarf. Deswegen bin ich dafür, daß man seiner Zwischenfrage daran erinnern wollte, daß die das amerikanische Beispiel nicht schwarzweiß malt SPD sehr vernünftige Vorschläge gemacht hat, den und nicht nur auf die „bad jobs" schaut, die es in der Umzug von Bonn nach Berlin im Sinne der Moderni- Tat gibt und die ein soziales Problem darstellen. Aber sierung der Bundesverwaltung zu nutzen, und daß es gibt viele interessante Entwicklungen, auf die wir die Bundesregierung diese Vorschläge leider in den eingehen müssen. In diesem Bereich hat Deutsch- Wind geschlagen und sich dafür eine scharfe Rüge land viel verschlafen. des Bundesrechnungshofes eingehandelt hat? (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Rolf Siegmar Mosdorf (SPD): Ja, das kann ich nur be- Kutzmutz [PDS] - Beifall bei der CDU/CSU) stätigen. (Beifall bei der SPD) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Fischer? Es ist überhaupt keine Frage: Die Chance eines sol- chen Neuanfangs ist nicht genutzt worden. Siegmar Mosdorf (SPD): Ja, natürlich. Herr Schily, lassen Sie mich folgendes hinzufügen und damit zum Schluß kommen: Ich glaube, daß die Chance des Neuanfangs nicht nur im Zusammen- (Frankfurt) (BÜNDNIS 90/DIE Joseph Fischer hang mit der Hauptstadtfrage, sondern allgemein in GRÜNEN): Herr Kollege, stimmen Sie mir zu, daß wir der Wirtschaftspolitik gesucht werden muß. Wir müs- mit dem Hauptstadtumzug, für den sehr viel Geld sen von dem Grundsatz ausgehen, daß wir vor funda- ausgegeben werden muß, eine große Chance hätten, mentalen Veränderungen stehen und daß wir uns eine Lokomotive für den Durchbruch zur Informa- diesen Veränderungen stellen müssen, und zwar mit tionsgesellschaft in diesem Lande zu bekommen? offensiven Konzepten. Wer zu spät die Kosten be- Wie bewerten Sie das, was die Bundesregierung un- rücksichtigt, der ruiniert die Substanz eines Unter- ter (fiesem Aspekt in ihren bisherigen Planungen be- nehmens. Wer zu früh allein die Kosten betrachtet, zogen auf Parlament und vor allen Dingen auch auf der tötet die Kreativität. Mein Eindruck ist, daß die (lie entsprechenden Ministerien gemacht hat? Bundesregierung sowohl zu spät wie auch zu früh handelt, nämlich sowohl die Kreativität tötet wie Siegmar Mosdorf (SPD): Es ist überhaupt keine auch die Kosten über Jahre hat steigen lassen. Frage: Wenn wir über die Zukunft der Wi rtschaft Wir stecken in unserem Land jetzt in einem Re- nachdenken, dann müssen wir nicht nur die Ärmel formstau. Wir kommen aus diesem Reformstau nicht hochkrempeln, wir müssen auch das Denken um- heraus, wenn zu den leeren Kassen auch noch die krempeln. Dazu gehört, daß man versucht, neue leeren Köpfe kommen. Wir kommen nur mit einer Techniken wie die zu nutzen. Informationstechnik neuen und intelligenten Wirtschaftspolitik aus dieser Diese Techniken werden im Zusammenhang mit der Krise heraus. Entscheidung für Berlin als Metropole bis jetzt völlig unzulänglich genutzt. Das ist völlig klar. Es gibt kon- Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. krete Beispiele, mit denen man nachweisen kann, daß man altertümlich reagiert: Man packt alles in (Beifall bei der SPD sowie bei Abg. des den Speditionswagen und zieht dann irgendwann BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des - um; Stichwort: Umzugsunternehmen Deutschland. Abg. Rolf Kutzmutz [PDS]) Man kann die Probleme mit Hilfe der Informations- technik sehr viel einfacher lösen. Da gebe ich Ihnen Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat vollständig recht. jetzt die Kollegin Dr. Sig rid Skarpelis-Sperk. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997 14135

Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk (SPD): Meine sehr ge- schüsse mit unseren östlichen Nachbarn und den ehrten Damen und Herren! Nachdem ich mir diese meisten Ländern Südostasiens. Regierungserklärung und die Debattenbeiträge an- Warum springt also der Funke nicht vom boomen- gehört habe, muß ich eine Anmerkung machen: Wo rt auf die schwache Binnenkonjunktur sind denn eigentlich all die Herren, die verlangt ha- den Expo über, wie das in den Nachkriegskonjunkturen noch ben, daß wir in diesem Parlament miteinander disku- immer der Fall war? Warum gibt es eine Lethargie tieren? Wo ist Herr Schäuble, der gesagt hat, er finde bei den Ausrüstungsinvestitionen? Gerade einmal es nicht gut, wenn hier permanent Reden verlesen 4 Prozent Zuwachs - das sind die schwächsten Inve- werden, statt daß man wechselseitig auf die Debat- stitionen, die wir seit dem Zweiten Weltkrieg in tenbeiträge eingeht? Deutschland und Westeuropa haben, in Ihrer Regie- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) rungszeit. Herr Kohl ist nicht mehr da, Herr Waigel ist nicht (Beifall bei der SPD) mehr da, Herr Schäuble ist nicht mehr da. Auch Herr Stoltenberg, der so dringend angemahnt hat, daß wir Warum gibt es beim Bau einen Produktionsein- mit ihm diskutieren, ist nicht mehr da. Das ist eine bruch, der sich auch 1997 fortsetzen wird, wenn man peinliche Situation. Das ist keine Debattenkultur, wie die weiteren Kürzungen bei den öffentlichen Investi- es die eben genannten Herren, die sie angemahnt tionen sieht, insgesamt um mehr als 2 Prozent? haben, hier präsentieren. Warum bleibt der private Verbrauch mit plus 1,5 Prozent so schwach? Warum wird das Bruttoin- (Zuruf von der CDU/CSU: Wir sind hier! - landsprodukt auch nach den optimistischen Schät- Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: zungen gerade einmal um 2,5 Prozent zunehmen? Herrn Schröder haben Sie vergessen, Frau Kollegin!) Wie wir alle wissen, ist dieses schwache Wachstum weder ausreichend, um ein weiteres Ansteigen der - Sie sind die Regierung, Sie haben die Vorschläge Massenarbeitslosigkeit zu verhindern, noch genü- vorgelegt. Es ist eine Frage der Kultur, ob Sie bereit gend, um das Standortproblem Ostdeutschlands zu sind, mit der Opposition darüber zu reden, oder lösen. Ostdeutschland allein brauchte zehn Jahre nicht. lang Wachstumsraten von 4 bis 5 Prozent, um An- schluß zu finden und um ohne großen Transferbedarf (Beifall bei der SPD und der PDS) auf eigenen Beinen stehen zu können. Bleibt es bei den Vorschlägen, die im Jahreswirt- schaftsbericht vorgelegt und in den Debattenbeiträ- Herr Kollege Krüger, wenn man diese schwachen gen noch einmal verstärkt worden sind - ich will zum Dinge, die im Jahreswirtschaftsbericht stehen, und Kern dieser Frage kommen, nämlich nicht zu den das, was Sie vorgeschlagen haben und was noch phantastischen Vorschlägen für die nächsten fünf bis nicht einmal innerhalb der Koalition konsensfähig zehn Jahre, sondern zu dem, was der Jahreswirt- ist, betrachtet, dann kann man nur sagen: Es wird schaftsbericht zur Konjunkturentwicklung, zu den Nacht in Ostdeutschland, wenn es mit den Vorschlä- Fakten der Arbeitsmarktlage und zur Entwicklung in gen der Koalition so weitergeht. Ostdeutschland sagt -, dann wird es auch in diesem (Beifall bei der SPD und der PDS sowie bei und im nächsten Jahr dramatisch steigende Arbeits- Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE losenzahlen im Vergleich zum Vorjahr geben. Von GRÜNEN) dieser Debatte geht für die Millionen Arbeitslosen in diesem Land kein Zeichen der Hoffnung aus, leider Wenn man sich Ihre Reden anhört und die Lehren kein einziges. der Neoliberalen, nach denen diese Koalitionsregie- rung 15 Jahre lang vorgegangen ist, verfolgt, dann (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne dürfte es dera rtige Arbeitslosenzahlen und eine der- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) artige Investitionslethargie gar nicht geben. Denn an Dabei haben Sie eigentlich günstige weltwirt- den Löhnen kann es nicht liegen. 15 Jahre lang sind schaftliche Bedingungen. Die Konjunktur hat sich die Reallöhne schwächer gestiegen als die Arbeits- von dem Schwächeanfall zu Beginn des letzten Jah- produktivität. Wo sind denn Herr Stoltenberg oder res erholt, wenn auch nur zögerlich. Die Exporte ha- Herr Schäuble? Beide haben hier erzählt, die Tarif- ben schon in 1996 kräftig zugelegt. Im Jahr 1997 löhne seien schuld gewesen. Auf welche Lohnquote, wird es wieder einen kräftigen Zuwachs geben, be- bezogen auf das Bruttosozialprodukt, wollen Sie die sagt der Jahreswirtschaftsbericht und sagen die Insti- Arbeitnehmer denn noch zurückdrängen - zurück tute. 1996 gab es einen neuen Rekord mit über auf das Niveau der 40er Jahre? 100 Milliarden DM Exportüberschuß, und er soll im (Beifall bei der SPD) Jahre 1997 sogar auf 120 Milliarden DM steigen. Denn das Niveau, das Ende der 60er Jahre bestand, Die Gründe für die schwache Konjunktur und die haben Sie bereits erreicht. steigenden Arbeitslosenzahlen liegen also nicht im globalen Wettbewerb, wie uns Minister Rexrodt, Bezüglich der Masseneinkommen sollten auch Sie Herr Stoltenberg und Herr Schäuble weismachen einmal zur Kenntnis nehmen: Sie haben die Einkom-- wollen. Denn die Exportkonjunktur boomt und mensverteilung zugunsten der Unternehmer massiv steigt zu neuen Nachkriegsrekorden weiter an. Sie verbessert. Die Steuerquote beim Bruttoeinkommen liegen auch nicht in der Konkurrenz der Niedriglohn- aus Unternehmertätigkeit und Vermögen liegt mitt- länder, sonst gäbe es keine Handelsbilanzüber- lerweile bei unter 25 Prozent. Es waren Spiegelfech- 14136 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997

Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk tereien und Ablenkungsmanöver, die Ihre Herren Normalverbraucher. Die sollen den Gürtel noch en- hier vorgenommen haben, als sie mit Nominalzahlen ger schnallen und weniger Geld bei längeren Laden- hantiert haben. Sie wissen doch selber, daß Deutsch- öffnungszeiten ausgeben. Diesen Irrwitz soll er ein- land im europäischen Vergleich im Bereich der Un- mal jemandem erklären: Die Leute haben real weni- ternehmensteuern kein Hochsteuerland ist, sondern ger zum Ausgeben, sollen aber während längerer La- im Mittelfeld liegt. Auch das Preisniveau ist stabil. Ei- denöffnungszeiten mehr kaufen. Erklären Sie mir gentlich haben Sie hervorragende Angebotsbedin- einmal, wie das gehen soll! gungen zur Verfügung. Es hat dennoch keine we- sentliche Beschleunigung der Investitionsdynamik ( [CDU/CSU]: Davon verste- gegeben - im Gegenteil. hen Sie nichts!) Ihre Politik aber setzt seit 15 Jahren auf dasselbe - Davon verstehen Sie weiß Gott nichts, wie Leute Pferd: auf die Verbesserung der Angebotsbedingun- mit weniger Geld mehr ausgeben können. Das zei- gen und auf den Expo rt . Sie begreifen eines nicht: gen Sie mir erst einmal; vielleicht schaffen Sie das. Zwei Drittel der Arbeitsplätze in diesem Land hän- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) gen nicht vom Export ab, der wichtig ist, sondern da- von, wie sich die Binnenkonjunktur entwickelt. Die Auf die Idee, daß das die falsche Medizin ist, die kümmert Sie bei all Ihren Erklärungen einen feuch- Sie dem Patienten zehn Jahre lang verordnet und ten Kehricht. eingetrichtert haben, sind Sie allerdings nicht ge- kommen. Deswegen ist das Vernünftigste, was das (Beifall bei der SPD) deutsche Volk derzeit tun könnte: Es sollte sowohl Seit 15 Jahren haben Sie die wirtschaftspolitische den Arzt wie auch die Therapie wechseln. Solange Verantwortung in diesem Land. Trotzdem haben Sie Sie trotz Außenhandelsüberschüssen und neuen Re- die Stirn, mit keinem Wort über eine Binnennach- korden immer nur auf eine Seite starren und verges- frage von gerade einmal 1,5 Prozent Zuwachs zu sen, daß zwei Drittel der Arbeitsplätze im Inland ge- sprechen. Sie haben die Stirn, nicht darüber zu spre- schaffen werden und daß die Stabilisierung der Bin- chen, wie es am Bau, in der Gastronomie, im Textil- nennachfrage einschließlich mehr öffentlicher Inve- bereich und im Tourismus aussieht. Sie haben die stitionen und Zukunftsforschung das eigentliche Pro- Stirn, kein Wort zu den schwachen Bereichen der blem ist, kann man dem Volk nur anraten: Arzt wech- Konsumgüterindustrie und zum Dienstleistungsbe- seln, das heißt, Rücktritt der Bundesregierung und reich zu sagen. eine vollständig neue Therapie. Sie haben 15 Jahre lang Zeit gehabt, vernünftige Wi rtschaftspolitik zu Herr Waigel ist ja nun leider nicht mehr anwesend. machen; aber von Aufschwung zu Aufschwung hat (Staatssekretärin Irmgard Karwatzki: Ich es nur höhere Arbeitslosenzahlen und höhere Staats- sage es ihm!) schulden gegeben. Ich meine, Sie gehören weg, da- mit sich die Situation verbessert. Frau Karwatzki aber kann man nun wirklich eines mitgeben: Es ist doch phantastisch, mit welchen (Beifall bei der SPD und der PDS sowie der Sparhaushalten der Bundesfinanzminister Jahr für Abg. Kristin Heyne [BÜNDNIS 90/DIE Jahr antritt. Er spa rt am Anfang des Jahres. Die öf- GRÜNEN) - Zuruf von der CDU/CSU: Der fentlichen Investitionen sind jedes Jahr insgesamt Beifall ist genauso dürftig wie die Rede!) um 4 Prozent zurückgegangen - in diesem Bundes- haushalt um 6 Milliarden DM. Was ist das Ende? Wir Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Ich schließe da- haben ein negatives Schuldenparadox: je stärker die mit die Aussprache. Kürzungen, desto höher die Arbeitslosigkeit und de- sto größer die Löcher in den Haushalten von Bund, Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen Ländern und Gemeinden. Was Sie im Moment ma- auf den Drucksachen 13/6800, 13/6903 und 13/6200 chen, entspricht der klassischen Politik der 30er an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse Jahre, als man mittels der öffentlichen Fiskalpolitik vorgeschlagen. Der Entschließungsantrag der Frak- die Wirtschaft zurückfuhr und dadurch höhere Ar- tion der SPD, Drucksache 13/6963, soll an dieselben beitslosigkeit erzeugte. Ausschüsse überwiesen werden wie der Jahreswirt- schaftsbericht. Der Entschließungsantrag der Frak- Ich meine: So kommen Sie nicht zu einer Konsoli- tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 13/6966 dierung der Staatshaushalte. Das haben Sie auch im vergangenen Jahr nicht geschafft. So werden Sie zur Großen Anfrage soll zur federführenden Bera- tung dem Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung auch die Maastricht-Kriterien nicht punktgenau er- und zur Mitberatung dem Ausschuß für Wi reichen, sondern zielgenau verfehlen. rtschaft überwiesen werden. Sind Sie einverstanden? - Das (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so be- ten der PDS) schlossen. Ungerührt verkünden die Herren Kohl, Waigel und Wir kommen jetzt zur Abstimmung über die Be- Rexrodt, der Patient Deutschland habe auf die ihm schlußempfehlung des Ausschusses für Wi rtschaft zu verabreichte Medizin nicht angesprochen, ergo dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur- müsse man die Dosis erhöhen. Also noch mehr Steu- Überwindung von Reformblockaden; das ist Druck- ergeschenke an die Oberen, noch mehr kaputtspa- sache 13/5077. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag ren? Sogar Kanzler Kohl - er ist nicht mehr anwe- auf Drucksache 13/3713 abzulehnen. Wer stimmt für send - forde rt eine mehrjährige Lohnpause für Otto diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthal- Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997 14137

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer tungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stim- f) Erste Beratung des vom Bundesrat einge- men der Koalitionsfraktionen und der SPD gegen die brachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und der PDS Änderung des Weingesetzes angenommen worden. - Drucksache 13/6830 —Überweisungsvorschlag: Ich rufe die Tagesordnungspunkte 14 a bis 14 n so- Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten wie Zusatzpunkte 3 a bis 3 e auf: (federführend) Ausschuß für Gesundheit 14. Überweisungen im vereinfachten Verfahren g) Beratung des Antrags des Abgeordneten a) Erste Beratung des von der Bundesregie- Dr. Gregor Gysi und der Gruppe der PDS rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Ausweis der Mittel für den Bundesnach- zes zur Zweiten und Dritten Änderung des richtendienst Europäischen Übereinkommens vom 1. Juli 1970 über die Arbeit des im internationa- - Drucksache 13/6531 — len Straßenverkehr beschäftigten Fahrper- Überweisungsvorschlag: sonals (AETR) Haushaltsausschuß - Drucksache 13/6440 h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Reinhold Hemker, Brigitte Adler, Ernst —Überweisungsvorschlag: Bahr, weiterer Abgeordneter und der Frak- Ausschuß für Verkehr (federführend) tion der SPD Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Reinheitsgebot bei Schokolade Erste Beratung des von der Bundesregie- b) - Drucksache 13/6536 — rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Änderung fahrpersonalrechtlicher Überweisungsvorschlag: Vorschriften Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten (federführend) Ausschuß für für Gesundheit - Drucksache 13/6629 Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent- berweisungsvorschlag:—Ü wicklung Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Ausschuß für Verkehr (federführend) Union Innenausschuß Rechtsausschuß i) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Horst Schmidbauer (Nürnberg), Klaus Kirschner, Petra Ernstberger, weiterer Ab- c) Erste Beratung des von der Bundesregie- geordneter und der Fraktion der SPD rung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zu Rettungsdienst in der gesetzlichen Kran- dem Schengener Übereinkommen vom kenversicherung 19. Juni 1990 betreffend den schrittweisen - Drucksache 13/6578 — Abbau der Kontrollen an den gemeinsa- Überweisungsvorschlag: men Grenzen Ausschuß für Gesundheit - Drucksache 13/6671 — j) Beratung des Antrags der Abgeordneten Überweisungsvorschlag: Wolfgang Bierstedt, Dr. Ruth Fuchs und der Innenausschuß (federführend) Gruppe der PDS Rechtsausschuß Menschenrechtsübereinkommen zur Bio- medizin des Europarates d) Erste Beratung des vom Bundesrat einge- brachten Entwurfs eines ... Gesetzes zur - Drucksache 13/6778 — Änderung der Strafprozeßordnung Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuß (federführend) - Drucksache 13/197 — Ausschuß für Gesundheit Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Tech- nologie und Technikfolgenabschätzung Rechtsausschuß Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union e) Erste Beratung des vom Bundesrat einge- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än- k) Beratung des Antrags des Bundesministe- derung des Beamtenrechtsrahmengesetzes riums der Finanzen Einwilligung gemäß § 64 Abs. 2 Bundes- - Drucksache 13/6619 (neu) — haushaltsordnung in die Veräußerung der Überweisungsvorschlag: Waldmann-Kaserne in München Innenausschuß (federführend) - Drucksache 13/6832 — Rechtsausschuß Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO Haushaltsausschuß 14138 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer l) Beratung des Berichts des Ausschusses für Klimaänderungen über den Sitz des Sekre- Bildung, Wissenschaft, Forschung, Tech- tariats des Übereinkommens nologie und Technikfolgenabschätzung (19. Ausschuß) gemäß § 56a der Geschäfts- - Drucksache 13/6917 — ordnung Überweisungsvorschlag: Technikfolgenabschätzung Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- heit hier: Kontrollkriterien für die Bewertung b) Erste Beratung des von der Bundesregie- und Entscheidung bezüglich neuer rung eingebrachten Entwurfes eines Geset- Technologien im Rüstungsbereich zes zu dem Abkommen vom 5. Mai 1995 - Drucksache 13/6449 — zwischen der Regierung der Bundesrepu- Überweisungsvorschlag: blik Deutschland und der Regierung von Hongkong über den Fluglinienverkehr Auswärtiger Ausschuß (federführend) Ausschuß für Wirtschaft - Drucksache 13/6918 — Verteidigungsausschuß Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Tech- Überweisungsvorschlag: nologie und Technikfolgenabschätzung Ausschuß für Verkehr (federführend) Haushaltsausschuß Finanzausschuß

m) Beratung des Berichts des Ausschusses c) Erste Beratung des von der Bundesregie- für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Tech- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- nologie und Technikfolgenabschätzung zes zum Protokoll II in der am 3. Mai 1996 (19. Ausschuß) gemäß § 56a der Geschäfts- geänderten Fassung und zum Protokoll IV ordnung vom 13. Oktober 1995 zum VN-Waffen Technikfolgenabschätzung übereinkommen hier: „Möglichkeiten und Probleme bei - Drucksache 13/6916 — der Verfolgung und Sicherung natio- Überweisungsvorschlag: naler und EG-weiter Umweltschutz- Auswärtiger Ausschuß (federführend) ziele im Rahmen der europäischen Verteidigungsausschuß Normung" d) Beratung des Antrags der Abgeordneten - Drucksache 13/6450 — Völker Kröning, Uta Zapf, Gernot Erler, wei- Überweisungsvorschlag: terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- heit (federführend) VN-Waffenübereinkommen und Durchset- Rechtsausschuß Ausschuß für Wirtschaft zung eines vollständigen Verbots von Anti- Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Tech- Personen-Minen nologie und Technikfolgenabschätzung Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen - Drucksache 13/6965 — Union Überweisungsvorschlag: n) Beratung des Berichts des Ausschusses für Auswärtiger Ausschuß (federführend) Bildung, Wissenschaft, Forschung, Tech- Verteidigungsausschuß nologie und Technikfolgenabschätzung e) Beratung des Antrags der Abgeordneten (19. Ausschuß) gemäß § 56a der Geschäfts- Kerstin Müller (Köln), Volker Beck (Köln), ordnung Manfred Such und der Fraktion BÜND- Technikfolgenabschätzung NIS 90/DIE GRÜNEN hier: Machbarkeitsstudie zu einem „Fo- Humanisierung der Drogenpolitik (Teil II) rum für Wissenschaft und Technik" - Heroinverschreibung -

- Drucksache 13/6451 — - Drucksache 13/3671 - Überweisungsvorschlag: Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Tech- Ausschuß für Gesundheit (federführend) nologie und Technikfolgenabschätzung Innenausschuß Rechtsausschuß ZP3 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Verfahren Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen (Ergänzung zu TOP 14) an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse a) Erste Beratung des von der Bundesregie- zu überweisen. Sind Sie einverstanden? - Dann sind rung eingebrachten Entwurfes eines Geset- die Überweisungen so beschlossen. zes zu dem Abkommen vom 20. Juni 1996 - zwischen der Regierung der Bundesrepu- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 15a bis 15l so- blik Deutschland, den Vereinten Nationen wie Zusatzpunkt 4 auf. Es handelt sich um die Be- und dem Sekreta riat des Rahmenüberein- schlußfassung zu Vorlagen, zu denen keine Ausspra- kommens der Vereinten Nationen über che vorgesehen ist. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997 14139

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer Zunächst kommen wir zur Abstimmung über Ta- Haushaltsführung 1996; gesordnungspunkt 15 a: Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 11 02 Titel 682 01 - Erstattung von Fahrgeldausfäl- Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat len - eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung eisenbahnrechtlicher Vorschriften - Drucksachen 13/6404, 13/6445 Nr. 4, 13/ 6747 - - Drucksache 13/4386 - Berichterstattung: (Erste Beratung 107. Sitzung) Abgeordnete Dr. Konstanze Wegner Hans-Joachim Fuchtel Beschlußempfehlung und Bericht des Aus- Antje Hermenau schusses für Verkehr (15. Ausschuß) Ina Albowitz - Drucksache 13/6721 - d) Beratung der Beschlußempfehlung des Haus- haltsausschusses (8. Ausschuß) zu der Unter- Berichterstattung: richtung durch die Bundesregierung Abgeordneter Lothar Ibrügger Überplanmäßige Ausgaben bei Kapitel 11 13 Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Titel 656 06 - Zuschuß des Bundes an die Ren- Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Hand- tenversicherung der Arbeiter in den neuen zeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Ländern (einschl. ehemaliges Ost-Berlin) - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit und Titel 656 07 - Zuschuß des Bundes an die den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD Rentenversicherung der Angestellten in den gegen die Stimmen der PDS bei Enthaltung von neuen Ländern (einschl. ehemaliges Ost-Ber- Bündnis 90/Die Grünen angenommen worden. lin) - - Drucksachen 13/6176, 13/6352 Nr. 1.1, 13/ Dritte Beratung 6748 - und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die Berichterstattung: dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erhe- Abgeordnete Dr. Konstanze Wegner ben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Hans-Joachim Fuchtel Gesetzentwurf ist mit dem eben festgestellten Antje Hermenau Stimmverhältnis angenommen worden. Ina Albowitz e) Beratung der Beschlußempfehlung des Haus- Tagesordnungspunkt 15 b: haltsausschusses (8. Ausschuß) zu der Unter- richtung durch die Bundesregierung Beratung der Beschlußempfehlung und des Haushaltsführung 1996; Berichts des Haushaltsausschusses (8. Aus- schuß) zu dem Antrag des Bundesministeri- Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 11 13 ums der Finanzen Titel 656 03 - Beteiligung des Bundes in der knappschaftlichen Rentenversicherung - Einwilligung gemäß j 64 Abs. 2 der Bundes- - Drucksachen 13/6360, 13/6445 Nr. 2, 13/ haushaltsordnung in die Veräußerung eines 6749 - bundeseigenen Grundstücks in Frankfurt/ Main, ehemaliges US-Shopping-Center Berichterstattung: (Teilfläche) Abgeordnete Dr. Konstanze Wegner Hans-Joachim Fuchtel - Drucksachen 13/6456, 13/6847 - Antje Hermenau Ina Albowitz Berichterstattung: Abgeordnete f) Beratung der Beschlußempfehlung des Haus- Susanne Jaffke haltsausschusses (8. Ausschuß) zu der Unter- Kristin Heyne richtung durch die Bundesregierung Jürgen Koppelin Haushaltsführung 1996; Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Ge- Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 10 02 genprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfeh- Titel 656 58 - Zuschüsse zur Förderung der lung ist bei Enthaltung der Gruppe der PDS mit den Einstellung der landwirtschaftlichen Er- Stimmen des übrigen Hauses angenommen worden. werbstätigkeit - (Produktionsaufgaberente) - Drucksachen 13/6361, 13/6445 Nr. 3, 13/6750 - Tagesordnungspunkte 15c bis 15g: Berichterstattung: Abgeordnete Bartholomäus Kalb c) Beratung der Beschlußempfehlung des Haus- Jürgen Koppelin haltsausschusses (8. Ausschuß) zu der Unter- Karl Diller richtung durch die Bundesregierung Kristin Heyne 14140 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer g) Beratung der Beschlußempfehlung des Haus- Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktionen haltsausschusses (8. Ausschuß) zu der Unter- der CDU/CSU und der F.D.P. vor, der die Beschluß- richtung durch die Bundesregierung empfehlung 1, die Eingabe gegen die Verlegung des Katholischen Militärbischofsamtes von Bonn nach Haushaltsführung 1996; Berlin, betrifft. Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 25 02 Der Kollege Dehnel wird diesen Änderungsantrag, Titel 642 01 - Wohngeld nach dem Wohngeld- den Sie in Ihren Unterlagen nicht haben, vortragen. gesetz - Bitte. - Drucksachen 13/6343, 13/6352 Nr. 1.2, 13/6751 - Berichterstattung: Wolfgang Dehnel (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Abgeordnete Dieter Pützhofen Für die CDU/CSU-Fraktion und die F.D.P.-Fraktion Jürgen Koppelin möchte ich einen Änderungsantrag vortragen: Dr. Rolf Niese Oswald Metzger Der Bundestag möge beschließen, die Petition 5-13-14-5821-027004 betreffend Militärbischofs- Wer stimmt für diese fünf Beschlußempfehlungen? amt der Bundesregierung zur Erwägung zu über- - Gibt es Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Das ist weisen. nicht der Fall. Die Beschlußempfehlungen sind mit den Stimmen des ganzen Hauses angenommen wor- den. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Vielen Dank. - Um diesen Änderungsantrag geht es jetzt. Tagesordnungspunkt 15 h: Zur Geschäftsordnung hat sich der Kollege Schmidt gemeldet. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wi rtschaft (9. Ausschuß) zu der Verordnung der Bundes- Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Frau Präsiden- regierung tin! Meine Damen und Herren! Ich wi ll an dieser Stelle das Verfahren monieren, das dazu geführt hat, Aufhebbare Neunzigste Verordnung zur Än- daß wir nun ein unendliches Hin und Her haben. Der derung der Ausfuhrliste Petitionsausschuß hatte eine klare Entscheidung ge- - Anlage AL zur Außenwirtschaftsverord- troffen, nämlich, diese Petition, die von den Mit- nung - arbeiterinnen und Mitarbeitern des Militärbischofs- - Drucksachen 13/5946, 13/6091 Nr. 2.1, 13/ amtes kommt, zur Berücksichtigung zu überweisen. 6785 - Das ist eine sehr starke Form. Das hätten wir heute mit Recht, wie ich finde, auf dem Tisch haben kön- Berichterstattung: nen, und darüber hätten wir abstimmen können. Die Abgeordneter E rich G. Fritz CDU/CSU, die im Ausschuß offensichtlich unterle- Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Ge- gen war, versucht nun, durch einen Nachbesserungs- genprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfeh- antrag wenigstens in die Richtung zu kommen, in die lung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen die Berücksichtigungsvorschläge eigentlich weisen. und der Fraktion der SPD bei Enthaltung der Frak- Wir werden deswegen diesem Änderungsantrag tion Bündnis 90/Die Grünen und der Gruppe der der CDU/CSU und F.D.P. nicht zustimmen können. PDS angenommen worden. Vielmehr finden wir, daß es richtig wäre, diesen An- trag zur Berücksichtigung zu überweisen. Wir wer- Tagesordnungspunkt 15 i: den deswegen gegen den Änderungsantrag, mit Beratung der Beschlußempfehlung des Petiti- dem die Petition zur Erwägung überwiesen werden onsausschusses (2. Ausschuß) soll, stimmen. Sammelübersicht 175 zu Petitionen Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Ebenfalls zur - Drucksache 13/6839 - Geschäftsordnung hat sich die Kollegin Nickels ge- Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Ent- meldet. haltungen? - Die Sammelübersicht 175 ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Christa Nickels (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): der SPD bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte ein we- Grünen und der Gruppe der PDS angenommen wor- nig zur Aufklärung beitragen. Ich rede zur Ge- den. schäftsordnung.

Tagesordnungspunkt 15j: Es gab im Petitionsausschuß eine überwältigende Mehrheit für diesen Berücksichtigungsbeschluß. In- Beratung der Beschlußempfehlung des Petiti- haltlich waren wir uns alle vollkommen einig. Wir ha- onsausschusses (2. Ausschuß) ben gesagt, daß wir es richtig finden, daß die Bun- desoberbehörde Katholisches Militärbischofsamt da Sammelübersicht 176 zu Petitionen zu sein hat, wo das Verteidigungsministerium seinen - Drucksache 13/6840 - ersten Sitz hat, und der ist in Bonn. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997 14141

Christa Nickels Jetzt geht es um die Voten. Der Petitionsausschuß Dazu liegt ein gemeinsamer Änderungsantrag der hat mit Mehrheit beschlossen, diese Petition zur Be- Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen vor, rücksichtigung zu überweisen. Die Mehrheitsver- über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den hältnisse sind klar; es sind die gleichen wie im Ple- Änderungsantrag auf Drucksache 13/6981? - Gegen- num. probe! - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Jetzt bittet die CDU/CSU-Fraktion darum, einen Stimmen der Opposition abgelehnt worden. Erwägungsbeschluß zu fassen. Die Stoßrichtung ist die gleiche. Nur ist „Erwägung" etwas schwächer; Wer stimmt für die Sammelübersicht 178 in der sie ist ein starker Prüfauftrag mit der Maßgabe, Ab- Ausschußfassung? - Gegenprobe! - Gibt es Enthal- hilfe zu schaffen. Warum sich Ihre Meinung in zwei tungen? - Die Sammelübersicht 178 ist mit den Stim- Wochen ändert, können wir nicht beurteilen. Ich bin men der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der aber froh, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition angenommen worden. CDU/CSU, daß Sie einen Antrag nach § 112 unserer Geschäftsordnung gewählt haben, über den wir Zusatzpunkt 4: heute abstimmen können; denn ursprünglich war Beratung der Beschlußempfehlung und des darum gebeten worden, die Petition in den Ausschuß Berichts des Ausschusses für Wi rtschaft zurückzuüberweisen. Das wäre allerdings wirklich (9. Ausschuß) zu der Verordnung der Bundes- ein Präzedenzfall für ein nicht mehr arbeitsökonomi- regierung sches Verfahren gewesen. Aufhebbare Einhundertzweiunddreißigste Ver- Daher stimme ich dem Geschäftsordnungsantrag ordnung zur Änderung der Einfuhrliste zu, Herr Dehnel, diesen Änderungsantrag heute auf- - Anlage zum Außenwirtschaftsgesetz - zusetzen. Unsere Fraktion wird aber bei dem Berück- sichtigungsbeschluß bleiben und Ihren Antrag zur - Drucksachen 13/6161, 13/6352 Nr. 2.1, 13/6976 - Sache ablehnen. Berichterstattung: (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: So Abgeordneter Erich G. F ritz machen wir das!) Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Ge- genstimmen? - Enthaltungen? - Die Beschlußemp- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Damit können fehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen wir jetzt über den eben verlesenen Änderungsantrag ohne Gegenstimmen bei Enthaltung der gesamten abstimmen. Wer stimmt für diesen Änderungsan- Opposition angenommen worden. trag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Ände- rungsantrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfrak- Jetzt rufe ich den Zusatzpunkt 5 auf: tionen gegen die Stimmen der Opposition und eine Aktuelle Stunde Stimme aus der CDU/CSU angenommen worden. auf Verlangen der Gruppe der PDS Wir stimmen jetzt über die Beschlußempfehlung Sorge um Arbeitsplätze und Leistungsabbau des Petitionsausschusses mit der soeben beschlosse- bei der Post nen Änderung ab. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlußempfeh- Ich eröffne die Aussprache. Das Wo rt hat zunächst lung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen der Abgeordnete Gerhard Jüttemann. bei Enthaltung der gesamten Opposition angenom- men worden. Gerhard Jüttemann (PDS): Sehr geehrte Frau Prä- sidentin! Meine Damen und Herren! Die berechtig- Tagesordnungspunkt 15 k: ten Protestdemonstrationen der Beschäftigten der Deutschen Post AG am Montag und die anstehende Beratung der Beschlußempfehlung des Peti- Entscheidung der Regierungskoalition am Dienstag tionsausschusses (2. Ausschuß) machten es aus Sicht der PDS nötig, eine Aktuelle Sammelübersicht 177 zu Petitionen Stunde einzufordern. - Drucksache 13/6841 - Der bisher kursierende Entwurf der Bundesregie- rung für ein neues Postgesetz verhieß sowohl den Be- Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Ent- schäftigten der Deutschen Post AG als auch deren haltungen? - Sammelübersicht 177 ist mit den Stim- Kunden eine wenig erfreuliche Zukunft. Denn für men der Koalitionsfraktionen und der SPD bei Ent- Tausende der ersteren bedeutet dieser Entwurf haltung von Bündnis 90/Die Grünen und PDS ange- schlicht ihre baldige Entlassung, und für Tausende nommen worden. von Postfilialen bedeutet er die Schließung mit ent- sprechenden Folgen für die Bevölkerung. Daraus ist Tagesordnungspunkt 151: nie ein Geheimnis gemacht worden. 35 000 Arbeits- plätze will die Post AG bis zum Jahr 2000 vernichten, Beratung der Beschlußempfehlung des Peti- nachdem seit 1989 schon 70 000 Arbeitsplätze abge- tionsausschusses (2. Ausschuß) wickelt worden sind. Außerdem sollen weitere 7 000 Sammelübersicht 178 zu Petitionen bis 8 000 Postfilialen geschlossen werden. Das alles ist landesweit bekannt. Aber die Bundesregierung - Drucksache 13/6842 - als 100prozentiger Eigentümer der Post denkt gar 14142 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997

Gerhard Jüttemann nicht daran, irgendeinen Versuch zu starten, dieses Sie es hier klipp und klar, damit alle wissen, woran Katastrophenprogramm zu stoppen. sie sind. Ganz im Gegenteil: Am Dienstag dieser Woche hat Wir fordern von der Bundesregierung in dieser ak- sich diese Regierung gedacht „Wenn schon, denn tuellen Stunde fünf Dinge: Erstens. Ein unbef ristetes schon" und noch einen draufgesetzt: Freigabe aller Monopol der Deutschen Post AG für Briefpost ein- Briefe über 100 Gramm für den Wettbewerb. Die Re- schließlich Direktwerbung bis 350 Gramm. aktion der Deutschen Post AG kam prompt. Sie kün- Zweitens. Im Postgesetz müssen für alle Anbieter digte als Konsequenz aus diesem sogenannten Kom- postalischer Dienstleistungen soziale Standards fest- promiß der Bundesregierung einen - ich zitiere - gelegt werden, die ausschließlich sozialversiche- „dramatischen Abbau von Arbeitsplätzen" sowie rungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse zulassen, Portoerhöhungen an. Beides - der dramatische Ab- Tarifbindung und umfassenden Kündigungsschutz bau von Arbeitsplätzen und die Portoerhöhungen - gewährleisten sowie Scheinselbständigkeit aus- war doch sowieso schon anvisiert. schließen. Was erwartet die Bürgerinnen und Bürger und die Drittens. Es müssen Leistungsgarantien festgelegt Postbeschäftigten denn jetzt? Wie viele Menschen werden, die einen qualitativ hochwertigen und flä- werden jetzt über die geplanten 35 000 hinaus zu- chendeckenden Universaldienst zu erschwinglichen sätzlich entlassen? Ich frage das die Damen und Her- Preisen gewährleisten. ren von der Bundesregierung und die Initiatoren die- ses Beschlusses vom Dienstag - die F.D.P. -, die sonst Viertens. Das gegenwärtige Postfilialnetz muß in nicht müde werden, uns Tag für Tag zu erklären, daß vollem Umfang erhalten und durch Erweiterung der sie die Arbeitslosenzahlen bis zum Jahr 2000 halbie- vorgehaltenen Produktpalette um kommunale und ren wollen. Ist der „Postkompromiß" vielleicht Teil private Dienstleistungen kontinuierlich ausgebaut dieses Programms? werden. Sie erklären uns, der sogenannte Wettbewerb Fünftens. Bei der Liberalisierung des Postwesens werde Arbeitsplätze schaffen. Abgesehen davon, daß dürfen sowohl dem Inhalt als auch dem Tempo nach bei Fremdfirmen auch nicht annähernd so viele Ar- in der BRD keine schärferen Kriterien gelten als in- beitsplätze entstanden sind, wie die Post AG vernich- nerhalb der Europäischen Union. tet hat: Haben Sie sich einmal angesehen, was für Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. Arbeitsplätze da entstehen? (Beifall bei der PDS) (Zuruf von der F.D.P.: Denken Sie doch mal an die Kunden!) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat Es sind zum allergrößten Teil prekäre Arbeitsverhält- jetzt der Herr Bundesminister für Post und Telekom- nisse, nicht sozialversichert, weit unter Tarif bezahlt. munikation, Dr. Wolfgang Bötsch. ,,Turnschuhbrigaden" werden diese Beschäftigten, die keine Chance auf ein Normalarbeitsverhältnis mehr haben, von der Deutschen Postgewerkschaft Dr. Wolfgang Bötsch, Bundesminister für Post und genannt. Werden Sie, meine Damen und Herren von Telekommunikation: Frau Präsidentin! Meine sehr den Regierungsparteien, erst Ruhe geben, wenn Sie verehrten Damen und Herren Kollegen! In dieser das ganze Land zu einem „Turnschuhbrigadeland" Woche stand und steht die Post besonders im Schein- gemacht haben? werferlicht der Öffentlichkeit. Die Regierungskoali- tion hat sich vorgestern auf die Grundlinien eines (Beifall bei der PDS) neuen Postgesetzes geeinigt. Am Montag fand eine Großdemonstration der Deutschen Postgewerkschaft Sie erklären uns weiter, ihr Wettbewerb führe zur statt, eine nach Art. 5 unserer Verfassung zulässige Portoabsenkung. Warum weiß die Post das nicht? Vertretung von Meinungen und Interessen. Warum hat sie gerade als Reaktion darauf weitere Portoerhöhungen angekündigt? Warum gibt es auch (Lachen des Abg. Klaus Ba rthel [SPD]) im Paketbereich, der schon seit über 20 Jahren im - Wollen Sie das bestreiten, Herr Kollege Ba rthel? - Wettbewerb steht, keine fallenden, sondern ständig Nein. steigende Preise? Heute beschäftigt sich der Bundestag mit dem Die Europäische Union hat im Dezember vergan- Thema „Sorge um Arbeitsplätze und Leistungsabbau genen Jahres beschlossen, bis zum Jahr 2002 ledig- bei der Post". Das ist das Thema der Aktuellen lich 2 Prozent des gesamten innergemeinschaftlichen Stunde, aber nicht das, was über die Agenturen Zustellverkehrs für den Wettbewerb freizugeben. Sie durch die Pressestelle des Deutschen Bundestages hatte gute Gründe dafür. In der Bundesrepublik da- verbreitet wurde. Herr Kollege Jüttemann, ich kenne gegen sind schon jetzt 5 Prozent freigegeben. Ab Sie aus dem Ausschuß eigentlich als einen sehr um- 1998 wären es nach dem ursprünglichen Postgesetz- gänglichen Kollegen. Und auch bei sonstigen Zu- entwurf 25 Prozent gewesen, jetzt werden es sammenkünften im Ministerium kann man mit Ihnen 43 Prozent sein. Sie wissen, daß das nur das Ende der reden. Deutschen Post AG bedeuten kann - mit all den ka- tastrophalen sozialen Folgen, die ein solcher Nieder- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Es ist gang hervorrufen müßte. Vielleicht ist es ja gerade doch schön, wie sich CSU und PDS verste- das, was Sie eigentlich anstreben. Aber dann sagen hen!) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997 14143

Bundesminister Dr. Wolfgang Bötsch Das steht etwas im Gegensatz zu der Inszenierung bessern heißt das Gebot der Stunde - und nicht Lei- Ihres Auftritts heute. stungsabbau. Ein Unternehmen, das dem Wettbe- werb ausgesetzt ist oder demnächst insgesamt den Lassen Sie mich zunächst einmal auf das Thema Wettbewerb zu bestehen hat, kann sich gar keinen Arbeitsplätze eingehen, den ersten Teil im Titel die- Leistungsabbau erlauben. ser Aktuellen Stunde. Ich will betonen, daß ich für jeden Verständnis habe, der sich Sorgen um seinen (Klaus Barthel [SPD]: Sollte man meinen!) Arbeitsplatz macht, auch für jeden, der deswegen demonstriert. Das gilt für die Beschäftigten der Post Die Post hat hier in den letzten Jahren viel getan. ebenso wie für die Beschäftigten im Kohlebergbau Mit Hilfe von Automatisierung und organisatorischen und viele andere Arbeitnehmer hier bei uns in Änderungen hat sie erreicht, daß 90 Prozent aller Deutschland. Briefe - auch im wiedervereinigten Deutschland - am nächsten Tag zugestellt werden. Verbesserungen (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das bei der Schnelligkeit und der Zustellungsqualität hat machen Sie mal der F.D.P. klar!) sie auch im Frachtbereich erreicht. Allerdings ist die - Ich rede als Postminister, und da sage ich meine Kostensituation nach wie vor derart ungünstig, daß Meinung, Herr Kollege Schmidt. Defizite zu verzeichnen sind. Die Post arbeitet mit Hochdruck daran, ihre Qualität zu verbessern, und Andererseits darf aber kein verantwortungsbewuß- läßt ihr Qualitätsprofil durch externe Institute lau- ter Politiker die Augen vor der Realität verschließen. fend überprüfen. Und diese Realität heißt: Sicher sind mittelfristig nur solche Arbeitsplätze, die sich auch betriebswirt- Wenn die Post heute bestimmte Schalter schließt, schaftlich rechnen. Wer hier mehr verspricht, handelt weil sie aus betriebswirtschaftlichen Gründen nicht unredlich. Auch die Deutsche Post AG kann sich die- aufrechterhalten werden können, so ist das auch dar- sen ökonomischen Notwendigkeiten nicht verschlie- auf zurückzuführen, daß die Kunden - zumindest in ßen. ihrer Mehrheit - diese Leistungen zuwenig in An- Wie Sie wissen, werde ich in der nächsten oder spruch nehmen. Wenn Sie heute in einem Dorf fra- übernächsten Woche einen Entwurf für das neue gen, ob eine Postfiliale im Ort erhalten werden soll, Postgesetz in das Kabinett einbringen. Dieser sieht werden Sie kaum jemanden finden, der mit Nein ant- vor, die Postmärkte ab 2003 vollständig dem Wettbe- wortet, nicht einmal der örtliche Abgeordnete der werb zu öffnen. Das Entstehen von Wettbewerb er- F.D.P. wird mit Nein antworten. folgt aber nicht alleine durch die formale Liberalisie- (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: rung der Postmärkte. Vielmehr sind bereits heute Halt!) viele Postdienstleistungen, auch B riefe, einem inten- siven Wettbewerb ausgesetzt. Telefax und E-mail er- Die örtliche Poststelle nutzen dann aber doch nur we- möglichen das Übersenden von schriftlichen Nach- nige. Vom Verkauf von zwei, drei Briefmarken am richten innerhalb weniger Augenblicke. Es gibt also Nachmittag kann eine Poststelle allerdings wirt- hier schon Wettbewerb. Werbesendungen unterlie- schaftlich nicht betrieben werden. gen auch der Konkurrenz mit anderen Werbemedien, etwa dem Fernsehen. In einem solchen wettbewerb- (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Es lichen Umfeld kann sich die Deutsche Post AG keine ist gut, daß das der Postminister weiß!) unproduktiven Arbeitsplätze erlauben. Irgend jemand muß die Kosten dafür tragen. (Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Weiß das der Zumwinkel?) Das ist eine ähnliche Situation, wie wir sie bei - Der weiß das auch. Streckenstillegungen bei der Bahn zu verzeichnen hatten. Dort gab es Demonstrationen am Ende der Mit der von uns vorgesehenen bef risteten Exklu- Stichbahn, und nach der Demonstration sind die sivlizenz eröffnen wir der Post aber die Möglichkeit, Leute in den bereitgestellten Omnibus wieder einge- den notwendigen Arbeitsplatzabbau sozial verträg- stiegen und zurück in die Kreisstadt gefahren. Sie lich zu gestalten. hätten den Bahnhof überhaupt nicht gefunden, ge- Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen schweige denn, daß sie die Absicht hatten, mit der Sie mich zum Begriff des „Leistungsabbaus", wie es Bahn zurückzufahren. in dem Titel der Aktuellen Stunde heißt, kommen. Eine ähnliche Situation haben wir auch bei der Zunächst möchte ich feststellen, daß ich den Begriff Post. Die Leute erledigen ihre Postgeschäfte einfach „Leistungsabbau" im Zusammenhang mit der Post dort, wo sie arbeiten: im Zentrum. schlichtweg für unzutreffend halte. Sie strukturiert um, und dies ist notwendig. (Dr. Manuel Kiper [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Hans Martin Bury [SPD]: Besuchen Sie ein NEN]: Wenn sie können! Wenn sie mobil mal eine Filiale, wenn Sie noch eine fin sind!) den!) Darauf muß Rücksicht genommen werden. - Die Post ist dabei, sich auf den Wettbewerb einzu- stellen. Dies liegt nicht nur im unternehmerischen In- Man wird hier und da auch auf Agenturen umstel- teresse der Post, Herr Kollege Bury, dies ist vielmehr len. Ich bekenne mich dazu, daß ich ein Anhänger auch politisch so gewollt. Leistung und Qualität ver- des Agenturmodells bin. Das ist für den Kunden bes- 14144 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997

Bundesminister Dr. Wolfgang Bötsch ser, als wenn er eine Poststelle hat, die nur drei Stun- sich CDU/CSU und F.D.P. schon über einen Referen- den geöffnet ist. tenentwurf des Bundespostministers. Schon der Ent- wurf war nicht gut, das Ergebnis des Koalitionsgezer- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) res ist noch schlechter. Da muß er immer die genauen Öffnungszeiten im (Beifall bei der SPD - Anke Fuchs [Köln] Kopf haben. Es ist besser, wenn er eine Agentur hat, [SPD]: Leider wahr!) die - ohne oder mit Änderung der Ladenöffnungszei- ten - den ganzen Tag geöffnet ist, und do rt die posta- Die Fraktion „Feinde der Post" , kurz: FDP, tritt die lischen Leistungen entgegennehmen kann. Interessen von Postkunden und -beschäftigten mit Füßen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie Warum nicht gleich so? - Anke Fuchs [Köln] des Abg. Gerhard Jüttemann [PDS] - [SPD]: Haben Sie die Kunden mal gefragt, Renate Blank [CDU/CSU]: Ich bin ja froh, was sie wollen?) daß Sie uns in Ruhe gelassen haben!) Ich weiß, Frau Kollegin Fuchs, daß man nicht über- Das Monopol, das schleunigst fallen muß, meine all ausschließlich mit bet riebswirtschaftlichen Krite- Damen und Herren, ist nicht das Briefmonopol der rien arbeiten kann. Daher gibt es gegenwärtig auch Post, sondern das Monopol der F.D.P. auf das Bundes- noch Monopol- und Pflichtleistungen, die die Post er- wirtschaftsministerium. bringen muß, auch wenn die Kosten nicht in jedem einzelnen Segment gedeckt werden können. Ich (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Rolf habe im letzten Jahr die Postkundenschutzverord- Kutzmutz [PDS]) nung erlassen, in der genau geregelt ist, mit welcher Die hohlen Phrasen von Liberalisierung und Arbeits- Qualität die Post Leistungen erbringen muß. Auch plätzen helfen uns ebensowenig wie der Glaube der Regelungen zur Schalterdichte sind darin getroffen PDS an Kundenorientierung und Erfolg staatlicher und Regelungen, wie man etwa mit Kommunalpoliti- Behörden in Wettbewerbsmärkten. kern, mit Abgeordneten vor Ort umzugehen hat, wenn man Schließungen beabsichtigt. Herr Kollege Die SPD will eine schrittweise und kontrollierte Bury, ich stehe nicht an, mich bei Ihnen für die Vor- Marktöffnung im Einklang mit der Europäischen stöße zu bedanken, die Sie gerade in dieser Frage Union zum Nutzen der Verbraucher. immer wieder gemacht haben. Ich habe dieser Tage (Zuruf von der F.D.P.: Kontrollierte Offen noch einmal einen B rief des Vorsitzenden der Deut- sive!) schen Post AG erhalten, in dem er mir ausdrücklich bestätigt, daß Anweisung gegeben ist, sich an diese Wir wollen auch in Zukunft flächendeckend zuver- Kriterien zu halten. Ich werde Ihnen den B rief zulei- lässige und preisgünstige, hochwertige Postdienstlei- ten, weil Sie mir einzelne Fälle genannt haben, in de- stungen für alle sicherstellen. Das Unternehmen, das nen dies nicht der Fall war. diesen Infrastrukturauftrag erfüllt, die Deutsche Post AG, muß zur Deckung der bestehenden und entste- Meine Damen und Herren, auch in Zukunft, das henden Sonderlasten einen entsprechenden finan- heißt nach der vollständigen Liberalisierung der ziellen Ausgleich erhalten. Postmärkte, wird es einen Universaldienst geben, der bereitgestellt werden muß. Das ergibt sich aus dem Zu diesem Zweck soll die Deutsche Post AG einen Grundgesetz. Unser Ziel ist es aber, diesen Univer- reservierten Bereich behalten, aus dem sie die not- saldienst mit möglichst wettbewerbskonformen Mit- wendigen Erträge zur Deckung von Defiziten bei der teln sicherzustellen. Erbringung des Universaldienstes erzielt. Meine Damen und Herren, wir werden im Laufe (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: der nächsten Wochen bei verschiedenen Gelegen- Und wer bezahlt das, Herr Kollege?) heiten, in der ersten Lesung, in der zweiten Lesung - Ich komme zu Ihrer Frage, Herr Kollege Weng. - und sicherlich auch in der Öffentlichkeit, Gelegen- Dieser reservierte Bereich muß Briefsendungen und heit haben, über das neue Postgesetz, das notwendig Infopost enthalten. Er darf nicht von vornherein befri- ist, weil unser jetziges am 31. Dezember ausläuft, zu stet sein und soll regelmäßig überprüft und gegebe- diskutieren. Dann werden wir sicherlich auf die De- nenfalls angepaßt werden. tails noch einzugehen haben. Die „Koalition der Posträuber" will das Monopol Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. mit dem Fallbeil beenden, aber Sie wollen nicht da- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P) für verantwortlich sein, daß dann Köpfe rollen. Rei- chen Ihnen 4,7 Mi llionen registrierte Arbeitslose in Deutschland immer noch nicht? Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt der Kollege Hans Ma rtin Bury. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- ten der PDS) - Hans Martin Bury (SPD): Frau Präsidentin! Meine Mit dem SPD-Konzept, das dem Bundestag bereits Damen und Herren! Endlich debattieren wir im Deut- seit Mai letzten Jahres vorliegt, wird ein qualitativ schen Bundestag über die Pläne der Regierungsko- hochwertiges, preisgünstiges und flächendeckendes alition für das neue Postgesetz. Viel zu lange streiten Postangebot für alle Bürger gesichert. Zugleich ge- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997 14145

Hans Martin Bury ben wir dem Unternehmen die Möglichkeit, in den Hauses geteilt. Denn nicht zuletzt die Postreform II, Wettbewerb hineinzuwachsen und die erforderlichen die die Grundlage dafür bildet, daß wir jetzt über ein Anpassungen sozialverträglich vorzunehmen. Wir neues Postgesetz diskutieren müssen, wurde von den retten Arbeitsplätze und soziale Sicherheit für die Be- Regierungsfraktionen und der SPD mit Zweidrittel- schäftigten im Postsektor. mehrheit verabschiedet, meine Damen und Herren. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung vernich- Unbestreitbar bringt die Umwandlung eines Mo- tet weitere Arbeitsplätze. Er provoziert die massen- nopolunternehmens für dessen Beschäftigte in der hafte Ausweitung ungeschützter Arbeitsverhältnisse. ersten Phase Probleme mit sich. Herr Kollege Bury, Herr Kollege Weng, CDU/CSU und F.D.P. belasten man kann eine Umwandlung natürlich nicht verlan- mit ihren Plänen Privatkunden sowie kleine und mitt- gen, ohne sich eine Frist zu setzen, wie Sie es eben lere Unternehmen mit höherem Po rto und schlechte- getan haben. Ein Ziel kann man nur erreichen, wenn ren Postdienstleistungen. Wenn es nach Ihnen geht, man es sich inhaltlich und auch zeitlich klar vorgibt. müssen kleine Leute und Mittelstand zum normalen Wenn Sie die zeitliche Vorgabe weglassen, verwer- Porto in Zukunft noch ein Notopfer Bötsch auf den fen Sie dieses Ziel. Brief kleben, um die Rabatte der Großkunden zu be- zahlen, die die F.D.P. dem Postminister abgenötigt Die Wettbewerbsfähigkeit eines Unternehmens er- hat. gibt sich aus einem guten Verhältnis von Leistung und Preis. Hierfür ist eine Stärkung der Produktivität (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne notwendig sowie eine stärkere Automatisierung. Wir ten der PDS) müssen natürlich bilanzieren, daß von den 380 000 Die Regierungskoalition ist nur eines: konsequent Mitarbeitern, die 1990 bei der gelben Post beschäf- - konsequent in ihrer Politik der wi rtschaftlichen Un- tigt waren, im Jahre 1996 nur noch 290 000 do rt be- vernunft und der sozialen Kälte. 23 000 Postler haben schäftigt gewesen sind. Aber zum einen sollten wir dieser Bundesregierung am Montag in Bonn die berücksichtigen, daß die Umsetzung und Änderung gelbe Karte gezeigt. Es wird höchste Zeit, daß die des Personalstandes sozialverträglich erfolgt ist. Es Menschen in Deutschland Ihnen die rote Karte zei- gab keine Entlassungen. Zum zweiten sollten wir be- gen. achten, daß wir in den Bereichen Infopost und Frachtpost heute bereits Mitbewerber und Konkur- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE renten haben, die über die Arbeitsplätze bei der Post GRÜNEN und der PDS) AG hinaus selbstverständlich auch Arbeitsplätze be- reitstellen. Damit ist genau das eingetreten, was wir angestrebt haben, daß nämlich nicht nur bei der Post Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Dr. Michael Meister. AG Arbeitsplätze existieren, sondern auch bei Wett- bewerbern.

Dr. Michael Meister (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Auch entspricht es unserer Zielsetzung, daß unsere Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich möchte, da in Gesetzgebung dafür sorgt, daß wir sozial gesicherte der Überschrift dieser aktuellen Stunde auch vom Arbeitsplätze haben. Sie sollten, wenn Sie das be- „Leistungsabbau bei der Post" die Rede ist, in der Tat streiten, einmal die Konzepte des Kollegen Blüm einen dramatischen Leistungsabbau im Bereich der nachlesen. Er hat sie vor wenigen Wochen, in der Post in Deutschland, meine Damen und Herren von letzten Sitzungswoche, hier vorgetragen. Gerade der PDS, zugeben. Dies betrifft allerdings einen post- zum Thema Scheinselbständige und 610-DM-Ver- fremden Bereich, der sich nicht auf den Transpo rt, träge gibt es klare Vorgaben. sondern auf das Öffnen von B riefen spezialisiert Meine Damen und Herren, die Notwendigkeit hatte. Wir in der Union betrachten es als wesentli- günstigerer Tarife - der Herr Postminister hat es an- chen Fortschritt, daß wir keine staatlich bestellten gesprochen - ergibt sich selbstverständlich auch auf Brieföffner und Briefleser in diesem Lande mehr ha- Grund der internationalen Konkurrenz. Wir haben ben, meine Damen und Herren. vor kurzem das Thema Remailing diskutiert. Das Re- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - mailing zeigt sehr deutlich, daß wir einen Kosten- Dr. Barbara Höll [PDS]: Oh, wie witzig!) druck von internationaler Seite auf die Post AG ha- ben und deshalb natürlich Strukturen schaffen müs- Über diesen Abbau von Leistungen des Staates ha- sen, die konkurrenzfähig sind. Der Postminister hat ben wir allen Grund zur Freude, auch wenn die An- darauf hingewiesen, daß wir mit E-Mail und Fax tragsteller der Aktuellen Stunde dieses gerne verges- elektronische Konkurrenz haben. Wir können, Herr sen machen wollen. Kollege Jüttemann, nicht diesen Wandel in der Welt Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Er- ignorieren und die Augen zumachen, sondern wir fahrungen in allen Wi rtschaftsbereichen zeigen, daß müssen überlegen, wie wir Strukturen schaffen kön- ein fairer Wettbewerb allen am Wirtschaftsprozeß Be- nen, die dieser Wandlung in der Welt Rechnung tra- teiligten, insbesondere unseren Bürgern, nutzt. Die gen. Kunden profitieren von Leistungen und günstigeren (Beifall bei der CDU/CSU) Preisen. Die Arbeitnehmer müssen sich zwar auf Än- - derungen einstellen, diese Veränderungen dienen Ich möchte auf einen weiteren Punkt hinweisen. aber dem Aufbau von produktiven und damit langfri- Die Post AG und auch die Telekom AG haben in stig sicheren Arbeitsplätzen. Diese Zusammenhänge Deutschland allein im Jahr 1995 22 Milliarden DM wurden und werden von einer großen Mehrheit des investiert. Diese 22 Milliarden DM schaffen und 14146 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997

Dr. Michael Meister sichern auch Arbeitsplätze, zwar nicht bei diesen Un- rodt beschimpft die Briefträger - ich habe das ge- ternehmen, aber bei Mittelständlern und anderen stern abend erlebt - als schnöde Besitzstandswahrer, Unternehmen, die diese Investitionen umsetzen. als die Leute von gestern; Effizienz sei angesagt, ma- ximaler Wettbewerb solle Effizienz bringen. (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Deswegen stei gen die Arbeitslosenzahlen!) (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Das ist der neue liberale Zynismus!) Allein im Bereich Frachtpost- und Briefpostzentren werden 8 Milliarden DM investiert. Wenn wir schon - Sehr richtig, Frau Kollegin. über Arbeitsplätze diskutieren, dann müssen diese Investitionen berücksichtigt werden. Richtig ist tatsächlich, auf Teilpostmärkten mittel- und langfristig mehr Wettbewerb zu ermöglichen. (Vorsitz : Vizepräsident Hans-Ulrich Klose) Falsch ist es aber, im Postbereich wie bei der Tele- Letztendlich möchte ich anmerken, daß viele kommunikation auf maximalen und sofortigen Wett- Tante-Emma-Läden, die wir in Deutschland haben, bewerb zu setzen. Die Politik der Bundesregierung ohne die Umwandlung von Postfilialen in Postagen- ist auch deshalb falsch, weil die Postmärkte dauer- turen natürlich auch nicht mehr haltbar gewesen wä- haft völlig anderen Entwicklungen als die Telekom- ren. Diese Arbeitsplätze wären verlorengegangen, munikationsmärkte unterliegen werden. Die schema- wenn wir nicht die zusätzlichen Dienstleistungen der tische Übertragung der Liberalisierung im Telekom- Post AG integriert hätten. Das sind Tatsachen, die munikationsbereich auf den Postsektor ist ein fataler wir vor Ort vorfinden. Ich möchte gar nicht auf die Kurzschluß. Verbesserung der Serviceleistungen eingehen. Die Politik der Bundesregierung ist deshalb falsch, Ich möchte abschließend darauf hinweisen, daß weil die postalische Versorgung buchstäblich täglich wir selbstverständlich Sonderlasten für die Post AG neu auf die Beine gestellt werden muß. Ohne die haben: Infrastrukturleistungen, den Universaldienst, Möglichkeit technischer Innovation, ohne finanzielle die Personalkosten und auch die Pensionszahlungen. Absicherung des Infrastrukturauftrags nach A rt. 87 f Dies allein macht 5 Milliarden DM pro Jahr aus. Wir des Grundgesetzes durch einen reservierten Bereich, sind der Meinung, daß eine gleitende Überleitung ohne all dies hieße Wettbewerb nur Abbau der Kun- der Monopolsituation in den Wettbewerb sinnvoll ist. dennähe, Filialschließungen und Personalabbau bei Wir wollen das verträglich für die Mitarbeiter, ver- der Post AG einerseits und Rosinenpickerei und So- träglich für die Kunden machen. zialdumping bei den Konkurrenten andererseits. (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Tun Sie es doch!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der Aber wir wollen in Zukunft in Deutschland auch hier PDS) wettbewerbsfähige Strukturen. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, die F.D.P. er- Schönen Dank. zwingt diesen Kurs, weil sie die Steuergeschenke für (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) ihre Klientel finanzieren muß. Die F.D.P. setzt auf diese Karte der radikalen Abmagerung der Post AG mit dem Ziel von nur noch 5 000 Eigenfilialen, um Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat der aus dem Verkaufserlös der Post AG die Waigel-Lö- Kollege Dr. Manuel Kiper, Bündnis 90/Die Grünen. cher zu stopfen. Die F.D.P. riskiert mit diesem Kurz- schluß die Entstehung von Waigel-Kratern durch Dr. Manuel Kiper (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): leere Pensionskassen bei der Post AG. Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen Die F.D.P. erzwingt den Personalabbau von weite- und Kollegen! Die Bundesregierung hat mit der Ka- ren 30 000 Mitarbeitern bei der Post; die Post zahlt binettsentscheidung vom 17. Februar den Angriff auf dadurch aber auch weniger in die Pensionskassen. die Substanz der Post AG beschlossen. Der F.D.P.- Die Postreform II ist von dieser Bundesregierung so Wirtschaftsminister hat die kurzfristige völlige Libe- gestrickt worden, daß nunmehr die Finanzlücke bei ralisierung der Post erzwungen. Dies ist eine Nieder- den Postpensionen, die der Bund schließen muß, um lage für Sie, Herr Postminister. Dies ist aber vor allem 21 Milliarden DM auf 75 Milliarden DM anwächst. eine Niederlage für die Garantie der flächendecken- Der Bund ist für die Deckung verantwortlich. Die den und kostengünstigen Versorgung mit postali- F.D.P. beschert diesem Land weitere ungedeckte Hy- schen Leistungen. potheken. Dies muß hier in aller Deutlichkeit gesagt Die Bundesregierung opfert den Versorgungsauf- werden. trag, um Haushaltslöcher zu stopfen. Die Bundesre- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gierung verspricht - Herr Kollege Meister hat das und bei der PDS sowie bei Abgeordneten eben wieder sehr deutlich gemacht -, Wettbewerb der SPD) schaffe Arbeitsplätze. Aber diese Bundesregierung vernichtet Arbeitsplätze unter dem Liberalisierungs- Damit ist klar: Die Turbo-Liberalisierer von der dogma. F.D.P. finanzieren rücksichtslos die Steuergeschenke- für ihre Klientel auf Kosten der Zukunft durch noch (Wolfgang Schulhoff [CDU/CSU]: Quatsch!) größere zukünftige Haushaltslöcher. Die CDU hat Der Bundeswirtschaftsminister setzt auf über- sich in ihrer Postpolitik wieder einmal vorführen las- stürzte Liberalisierung des Postmarktes. Herr Rex- sen. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997 14147

Dr. Manuel Kiper Die Kollegen Bötsch und Müller sagen, es komme das Gegenteil der Fall. Im übrigen ist das auch bei darauf an, den Wettbewerb mit Augenmaß zu gestal- allen anderen Dienstleistungen bisher so gewesen. ten und ihn schrittweise, aber nachhaltig zu fördern. Ähnliches Geschrei gab es, als es darum ging, die Die Bundesregierung wahrt jetzt aber nicht mehr Au- Telekom freizuschalten, als es darum ging, sich im genmaß; vielmehr öffnet sie mit Brachialgewalt und Bereich der Funknetze zu betätigen. weit jenseits des europäischen Gleichklangs die Post- märkte und gefährdet die Grundversorgung und Ta- (Hans Martin Bury [SPD]: Das ist falsch!) rifeinheit im Raume. Am Ende war das Ergebnis, daß wir zusätzliche Ar- Es kommt deshalb jetzt darauf an, erstens den In- beitsplätze hatten und nicht weniger. frastrukturauftrag ernst zu nehmen, die Tarifeinheit (Beifall bei der F.D.P. - Anke Fuchs [Köln] im Raume und Kundennähe der Post zu garantieren. [SPD]: Wo sind die denn?) Das Postamt von gestern kann hierbei nicht der Maß- stab sein. Bürgerservicebüros, wie wir sie vorgeschla- - Die sind im Bereich der Telekommunikation. Das gen haben, Postagenturen oder auch das „Postamt können wir uns ansehen, Frau Fuchs, weil Sie immer an der Haustür" müssen sich flächendeckend ergän- dazwischenschreien. Informieren Sie sich einmal! zen. Dieser Infrastrukturauftrag muß finanziell ange- Ein Monopol nutzt auch dem Kunden nicht. Hier messen und langfristig abgesichert werden. ist vom „Leistungsabbau bei der Post" die Rede. Es Zweitens. Der überstürzte Personalabbau bei der ist ja komisch, wenn wir in der „Frankfurter Allge- Post AG durch Frühpensionierungen zu Lasten des meinen Zeitung" lesen können, daß der Verband der Bundeshaushalts muß eingeschränkt werden. Ange- Postbenutzer schreibt - ich darf das zitieren -: sichts der hohen Arbeitslosigkeit ist eine weiter for- Das alles nur, weil die Politiker nicht die Postkun- cierte Ausdünnung im Postbereich finanz- wie sozial- den vor der Post schützen und den notwendigen politisches Harakiri. Druck auf die Post ausüben, sondern statt dessen Drittens. Die weitere Postreform muß sozial- und Europas teuerster Post zum 1. September 1997 ökologisch verträglich gestaltet werden. Herr Wiss- eine weitere Preiserhöhung um 10 Prozent bei mann muß sein Versprechen halten, 70 Prozent der den Briefen und um bis zu 25 Prozent bei Zusatz- Frachtpost auf die Bahn zu bringen. Effizienz hierzu- leistungen wie Einschreiben genehmigt ha- lande darf nicht heißen, daß Turnschuhbrigaden ben,... ohne Sozialversicherung sozial abgesicherte Arbeits- Ich habe das Gefühl, daß zumindest die Postbenut- plätze ersetzen. zer, denen Sie offensichtlich den Leistungsabbau zu- Meine Damen und Herren, die Post mit ihrem noch muten wollen, das nicht anders sehen - - einzigartigen Schalter- und Zustellnetz verdient eine (Hans Martin Bury [SPD]: Das ist doch die Zukunft und nicht die Abrißbirne der F.D.P. Lobby der Großkunden!) Ich danke Ihnen. - Ja, es sind immer die Lobbyisten, wenn sich die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Leute äußern, die das leidvoll erfahren. Und die wer- bei der SPD und der PDS) den dann auch noch gescholten. (Hans Martin Bury [SPD]: Wie hoch ist denn Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat der der Mitgliedsbeitrag dieses Verbandes?) Kollege Paul Friedhoff, F.D.P. Ich kann Ihnen sagen, daß ich in meinem Unter- nehmen Probleme habe, den Kunden in fernen Län- Paul K. Friedhoff (F.D.P.): Herr Präsident! Meine dern zu erklären, daß wir für das Versenden mehr be- sehr verehrten Damen und Herren! Ich glaube, wir zahlen müssen und deswegen unsere Preise erhö- haben heute eine Sternstunde in diesem Parlament, hen. Es liegt an den Zuschlägen für die Post AG und was die Vorstellungen angeht, wie in Deutschland für die Deutsche Telekom, die wir auch noch haben. die Zukunft gestaltet werden soll, wie wir in Deutsch- Ich kann Ihnen zeigen, was das in der betriebswirt- land mit dem Problem der Arbeitslosigkeit fertig wer- schaftlichen Rechnung eines Unternehmens aus- den wollen. macht, das diese Dienste in Anspruch nimmt und in Anspruch nehmen muß, und Ihnen verdeutlichen, Ich habe heute und auch jetzt gerade wieder ge- daß Monopole dazu führen, daß die Unternehmen lernt, daß Monopole Arbeitsplätze sichern. Das Ge- weniger wettbewerbsfähig sind. genteil ist der Fall. Wenn irgendwo Arbeit vorhanden ist und ich sie monopolisiere, dann wird diese Arbeit (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- in der Regel nicht mit besonderen Leistungsmerkma- ten der CDU/CSU) len gemacht; denn sonst bräuchte ich sie nicht zu mo- nopolisieren, sonst bräuchte der Monopolist keinen Ich will einen weiteren Satz sagen: Monopole füh- Schutz. ren zu Strukturen, die, wenn sie lange genug vorhan- den waren und verkrustet sind, im Wettbewerb nicht Ich stelle fest: Auf der linken Seite des Hauses hö- bestehen können. Davor hat die Post offensichtlich ren wir, daß Monopole Arbeitsplätze sichern. große Angst. Auch hier darf ich noch einmal auf die „Frankfurter" verweisen und einen Satz vorlesen: Wenn Arbeit vorhanden ist, dann muß diese auch ausgeführt werden. Je mehr Nachfrage nach Arbeit Die Post werde im achten Jahr von einem Vor- da ist, desto mehr Arbeit entsteht. Es ist also genau stand geleitet, der nun schon seit sieben Jahren 14148 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997

Paul K. Friedhoff erkläre, sich auf den Wettbewerb vorzubereiten, wahrzunehmen, nämlich die des kulturellen, ökolo- sagt Hübner. - Der Vorsitzende des Verbandes gischen und sozialen Ausgleichs. der Postbenutzer. - Noch sei jedoch nichts ge- schehen. (Paul K. Friedhoff [F.D.P.]: Was? B riefe aus- tragen?) Was ist in den letzten Tagen geschehen? Es gibt - Nein, das sind schon strategische Fragen. eine Vereinbarung, daß 14 Prozent der B riefe ab nächstem Jahr in die Konkurrenz gestellt werden. (Paul K. Friedhoff [F.D.P.]: B riefe austragen Das heißt, in diesem Bereich wird das Monopol auf- ist eine strategische Frage!) gehoben. Was erklären daraufhin sofort nicht nur die Gewerkschaft, sondern sogar die Unternehmenslei- Die großen Konzerne, die großen Versicherungen tung durch ihren Sprecher? und Banken zahlen schon heute keine Steuern mehr, weil sie auf diesen Staat nämlich gar nicht mehr an- (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: gewiesen sind. In dem Moment, in dem Sie die Kom- Das sind ja die gleichen!) munikation, irgendwann auch noch die Straßen, die Bahn und alles privatisiert haben, gibt es hinter dem - Ich unterscheide da noch. - Die Herren erklären: Staat keine ökonomische Kraft mehr. Ein Staat, der Tausende von Arbeitsplätzen gehen verloren, selbst- nur die Rechtsetzungsbefugnis hat, aber keine öko- verständlich müssen wir das Po rto erhöhen. nomische Kraft, wird in seiner Rechtsetzung nicht mehr ernst genommen. Das wird die Folge davon Wenn das das Unternehmertum in Deutschland ist, sein. dann haben Sie mit Ihren häufig an die Unternehmer gerichteten Schimpfkanonaden, daß sie nichts lei- (Beifall bei der PDS) sten, völlig recht. Schützen Sie sie aber bitte nicht da- Nicht alles im Leben rechnet sich. Aber auch die vor, ihre Schularbeiten zu machen; denn dann kom- ältere Frau, die in einem Dorf wohnt, muß die Mög- men wir hier nicht weiter. lichkeit des postalischen Verkehrs haben, und sie (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne muß die Möglichkeit haben zu telefonieren, und ten der CDU/CSU) zwar zu sozial verträglichen Preisen. Ich räume ein, daß sich das nicht rechnet. Es wird kein p rivates Un- Es würde den Verlust von Arbeitsplätzen in Deutsch- ternehmen geben, das diese Dienstleistungen erbrin- land bedeuten, wenn wir zusätzliche Kosten, die gen wird. Sie organisieren das jetzt so, daß wir ir- nicht notwendig sind, der übrigen Wirtschaft auf- gendwann vor der Situation stehen, daß wir reine drücken. Verlustgeschäfte staatlich übernehmen müssen, weil Sie alles, was sich lohnt, privatisiert haben. Sie müssen immer davon ausgehen: Das Geld, das an dieser Stelle zusätzlich gebraucht wird, fällt nicht (Beifall bei der PDS - Widerspruch bei der vom Himmel. Es muß eingesammelt werden. Und der CDU/CSU) Staat kann es diesen Leuten nicht beliebig zuteilen. An staatlichen postalischen Dienstleistungen wer- Ich danke Ihnen. den die hängenbleiben, um die sich kein P rivater kümmert, weil er damit keinen Gewinn erzielt. Das (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne heißt, alles wird über die Steuerzahlerinnen und ten der CDU/CSU) Steuerzahler finanziert. Sie haben nämlich die Aus- gleichsmöglichkeiten gekappt. Die Telekom hat Ge- winn gemacht. Damit hätten wir viele Bereiche in der Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat der gelben Post finanzieren können. Aber genau das, Kollege Dr. Gregor Gysi, PDS. diese Art des Ausgleichs, wollen Sie ja nicht. (Beifall bei der PDS) (PDS): Herr Präsident! Meine Da- Dr. Gregor Gysi Das Problem ist: Sie sind viel ideologischer, als sie men und Herren! Herr Dr. Meister, trotz Ihrer ausge- es der Gegenseite dieses Hauses vorwerfen. sprochen billigen Polemik zu Beginn Ihrer Rede wer- den Sie die Probleme nicht retuschieren können, mit (Beifall bei der PDS) denen wir es gegenwärtig gerade auch bei der Post zu tun haben. Sie haben nur eine Idee. Das ist die Idee der Liberali- sierung und der Privatisierung, und zwar völlig unab- (Beifall bei der PDS) hängig von den Folgen, die Sie damit im einzelnen anrichten. Richtig wäre es, nach den Kriterien der Im Unterschied zur F.D.P. bin ich kein ideologi- Vernunft zu entscheiden. Danach gibt es Fälle, wo es scher Anhänger von Verstaatlichung. Ich räume sinnvoll ist, und Fälle, wo es sinnlos ist. Das ist kein durchaus ein, daß es sinnvolle Privatisierungen gibt. Prinzip, auf dem man reiten kann. Sie aber sind der ideologische Anhänger dahin ge- hend, daß alles, aber auch alles privatisiert werden Sie können das am Beispiel anderer Länder, wo soll und sich der Bund aus allem herauszuhalten hat. das alles schon versucht worden ist, sehen. Was- kommt denn dabei heraus? Es kommt immer dabei Damit sind nur zwei Probleme verbunden. Wenn heraus, daß es Rabatte gibt. Rabatte gibt es immer der Staat dies macht, dann hat er natürlich auch für Großkunden. Natürlich wird es auch bei der gel- nicht mehr die Fähigkeit, seine eigentliche Funktion ben Post Rabatte für Großkunden geben, die Tau- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997 14149

Dr. Gregor Gysi sende Briefe am Tag aufgeben. Aber der einzelne Wunder, daß die PDS diese Aktuelle Stunde bean- Kunde und die einzelne Kundin werden das dann zu tragt hat. bezahlen haben. Deren Gebühren werden erhöht werden. (Beifall bei der PDS) Im übrigen ist es ein starkes Stück, daß Sie sich Es ist Teil ihrer Ideologie, die hier zum Ausdruck hinstellen und sich über Gebührenerhöhungen auf- kommt. Sie ist immer noch mit ihren sozialistischen regen. Dabei gibt es im Augenblick nur einen Eigen- Wurzeln verbunden. Für sie bleibt nach wie vor das tümer, nämlich die Bundesrepublik Deutschland. Zentralverwalten der Wirtschaft das Allheilmittel. Wer hat denn als Eigentümer etwas damit zu tun, (Beifall des Abg. Paul K. Friedhoff [F.D.P.]) was bei der Post geschieht und was do rt nicht ge- schieht? Wenn Sie, lieber Herr Gysi, das auch relativieren wollen, Ihre Sprache demaskiert Sie. (Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Sie sollten Brief taube werden!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P. - Lachen bei der PDS) - Auch wenn Sie das wünschen: Die Verwandlung in Tiere fällt selbst Menschen aus den neuen Bundes- Aber diese Überzeugung gehört auf den Müllhaufen ländern schwer. Deshalb kann ich auch nicht zur der Geschichte. Alle sozialistischen Systeme sind Brieftaube werden. Aber Sie organisieren die Post so, kläglich und unter hohen Verlusten gescheitert. Es daß wir irgendwann wieder auf die Brieftaube ange- nutzt überhaupt nichts, sich heute damit abzugeben. wiesen sein werden. (Gerhard Jüttemann [PDS]: Das ist doch (Paul K. Friedhoff [F.D.P.]: Aber auf p rivate!) Unsinn!) Das ist das eigentliche Problem Ihrer Politik. Sie geben die Antworten von gestern auf die Fragen von heute und morgen. Sie sind rückständig, Sie sind (Heiterkeit und Beifall bei der PDS sowie reaktionär. des Abg. Albert Schmidt [Hitzhofen] (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Lachen bei der PDS) Ich sage Ihnen noch etwas anderes. Die Postlerin- Allerdings wundert es mich, daß sich die SPD die- nen und Postler sind auf die Straße gegangen, weil sem Geschrei anschließt. Regierung und Opposition sie sich - völlig zu Recht - davor fürchten, daß Sie haben bisher erfolgreich die Postreformen I und II über Ihre entsprechende neue Gesetzgebung wie- und die damit verbundene Privatisierung der drei derum Zehntausende Arbeitsplätze abbauen, indem Postunternehmen einvernehmlich umgesetzt. Über Sie nämlich ein Monopol aufheben und damit natür- den einzuschlagenden Weg der Liberalisierung der lich die Dienstleistungen verschlechtern, die im übri- Post sind wir uns doch einig. Warum jetzt diese par- gen schon wesentlich verschlechtert worden sind. teipolitischen Spielchen, die uns in der Sache doch Die Postämter liegen heute schon ein wesentliches gar nicht weiterbringen? Stück vom Wohnort entfernt. Es bringt nichts, daß je- mand aus einem Dorf 40 Kilometer fahren muß, um (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Wegen der einen Brief aufgeben zu können. Aber auch in einer F.D.P.!) Großstadt wie zum Beispiel Berlin sind die Wege we- sentlich länger geworden. Es ist überhaupt nicht Warum, Herr Bury, diese Polemik hier? kundenfreundlich, was Sie da organisieren. Der von der Koalition gefundene Kompromiß zum Die demonstrierenden Menschen fürchten ganz zu geplanten Postgesetz stellt einen sinnvollen Aus- Recht um ihre Arbeitsplätze. Und dann sagen Sie, gleich zwischen den Interessen der Post AG und den Sie würden die woanders schaffen. Das ist genau das Erfordernissen einer notwendigen und erfolgverspre- Versprechen, mit dem Sie seit Jahren auftreten. Wahr chenden Liberalisierung dar. geworden ist immer nur die erste Hälfte, nämlich daß (Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Das ist doch Arbeitsplätze vernichtet werden; wahr geworden ist nicht zu fassen!) noch nie die zweite Hälfte, nämlich daß irgendwo neue Arbeitsplätze entstehen. Auf die Einzelheiten der Vereinbarung ist hier schon eingegangen worden. Deshalb unsere scharfe Kritik an dieser A rt von Postpolitik. (Hans Martin Bury [SPD]: Das glaubt noch nicht einmal der Postminister!) (Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordne ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) - Der Minister hat dazu meiner Ansicht nach hervor- ragend Stellung bezogen.

Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat der Die bisherigen Erfahrungen im Bereich der Tele- Kollege Professor Wolfgang Schulhoff, CDU/CSU. kommunikation haben doch eindeutig gezeigt, daß- branchenbezogen netto keine Arbeitsplätze verlo- rengegangen sind. Ganz im Gegenteil, es entstehen Wolfgang Schulhoff (CDU/CSU): Herr Präsident! immer neue Beschäftigungsmöglichkeiten in diesem Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist kein Bereich, und ein Ende des Booms ist gar nicht abseh- 14150 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997

Wolfgang Schulhoff bar. Andere Branchen bauen ab, und hier wird auf- Zusammengefaßt: Unsere Vorschläge sind interes- gebaut. senpolitisch ausgewogen, mittelstands- und verbrau- cherfreundlich und weisen ordnungspolitisch in die (Hans Martin Bury [SPD]: Das ist doch nicht richtige Richtung. vergleichbar!) Das vorgesehene Postgesetz paßt in doppelter Hin- Meine Damen und Herren, gehen Sie denn mit ge- sicht in das wirtschaftspolitische Konzept der Bun- schlossenen Augen durch die Welt? desregierung. Eine ähnliche Entwicklung zeichnet sich auch im (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Das stimmt! Postdienst ab. Eine zunehmende Arbeitsteilung, na- Mehr Arbeitslosigkeit, das ist klar!) tional wie inte rnational, wird die Nachfrage nach dif- ferenzierten Postdienstleistungen auch in Zukunft Der Wirtschaftsstandort Deutschland soll durch mehr weiter steigen lassen. Zukunftsangst ist hier doch Wettbewerb zukunftsfähig gemacht werden. Gleich- völlig fehl am Platze. zeitig wollen wir wieder an die Erfolgsrezepte der so- zialen Marktwirtschaft stärker anknüpfen. (Lachen bei der PDS) (Zuruf von der PDS: Bla, bla!) Es geht uns nicht um Leistungsabbau bei der Post, sondern um Leistungswettbewerb in einem Wi rt Lassen Sie mich in dem Zusammenhang zum -schaftsbereich, der ein wichtiger Standortfaktor für Schluß Ludwig Erhard zitieren, den Sie ja neuer- die Bundesrepublik Deutschland ist, wie meine Vor- dings auch sehr gerne zitieren. Er schreibt: redner eben so treffend dargestellt haben. Das ist ja gerade das Geheimnis der Marktwirt- (Zustimmung bei der F.D.P.) schaft, und das macht ihre Überlegenheit gegen- über jeder Art von Planwirtschaft aus, daß sich in In der Telekommunikation haben unzählige kleine ihr sozusagen täglich und stündlich die Anpas- und mittlere Betriebe ihre Chance erkannt und bie- sungsprozesse vollziehen, die Angebot und ten innovative, kundenfreundliche und preiswerte Nachfrage, Sozialprodukt und Volkseinkommen Lösungen an. sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Beziehung zu richtiger Entsprechung und so (Hans Martin Bury [SPD]: Aber heute geht auch zum Ausgleich bringen. es um die Post!) Ich habe dem nichts hinzuzufügen. Dort entstehen auch die neuen Arbeitsplätze. Etwas Ähnliches - lieber Herr Bury, Sie werden sich später Ich bedanke mich. noch daran erinnern, was ich heute gesagt habe - wird es auch im Bereich der Post AG geben. Auch (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) hier wird der Mittelstand auf die Bedürfnisse der Nachfrager reagieren und neue Produkte anbieten. Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat die Der Postmarkt wird flexibler, kundenorientierter und Kollegin Christine Kurzhals, SPD. Dienste zu einem günstigeren Preis anbieten. Meine Damen und Herren, es ist doch gar nicht ge- Christine Kurzhals (SPD): Herr Präsident! Liebe sagt, daß die Post AG auf diesem Markt nicht be- Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Schulhoff, stehen kann. Viele Mitarbeiter werden sich im Hin- wir sind der PDS dankbar, daß diese Aktuelle Stunde blick auf die Erfordernisse des Marktes sicherlich stattfindet; obwohl ich, die ich aus dem Osten umstellen müssen. Hoheitliches Denken ist nicht komme, der PDS sonst nicht sehr dankbar bin. Man mehr am Platze. Aber wenn wir der Post AG den not- muß nämlich über diese Probleme reden. Wieder ein- wendigen unternehmerischen Handlungsspielraum mal wedelte der Schwanz mit dem Hund und berei- geben, wird sie sich auch behaupten können. Der tete damit dem Hund unwahrscheinliche Probleme. Vorstand der Post AG hat jedenfalls meiner Ansicht Ich brauche hier nicht zu erklären, wer Hund und nach seine Hausaufgaben gut gemacht. Ich habe wer Schwanz ist. Vertrauen zu ihm und auch zu den Mitarbeitern, daß Wenn es um sogenannte Reformen der Bundesre- sie im Wettbewerb bestehen können. gierung geht - das haben wir den ganzen Tag schon (Beifall bei der CDU/CSU) gehört -, fallen mir eigentlich nach diesen ganzen Debatten nur zwei Worte ein: Kahlschlag und Kata- Klar ist, daß es eine gewisse Reglementierung ge- strophe. ben muß, um den Infrastrukturauftrag im Postbereich weiterhin zu gewährleisten. Um es klar zu sagen: (Beifall bei der PDS - Zuruf von der CDU/ Egal, wie das Postgesetz am Ende der Beratungen CSU: Beifall nur von der PDS!) aussehen wird, die Garantie, daß jeder Bundesbür- Die Koalitionsvereinbarung zum Postgesetz vom ger seine Post zugestellt bekommt, unabhängig da- Anfang dieser Woche fügt sich da nahtlos an. Wahr- von, wo er wohnt, bleibt bestehen, und zwar zu ei- scheinlich sind 4,6 Millionen Arbeitslose nicht genug nem verantwortbaren Preis. Die Kosten für die Bereit- für die Koalition. Mit dieser Koalitionsvereinbarung haltung eines flächendeckenden Vertriebsnetzes wird ein Konsens in Sachen Postgesetz mit den So- müssen solidarisch getragen werden. Sie dürfen zialdemokraten jedenfalls nicht zustande kommen. nicht dem einzelnen Verbraucher, der fern der Bal- lungsgebiete wohnt, angelastet werden. (Beifall bei der SPD) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997 14151

Christine Kurzhals Denn jedesmal, wenn die F.D.P. denkt, sie habe den nicht von vornherein zeitlich begrenzten reservierten marktwirtschaftlichen Stein der Weisen gefunden, Bereich vorsehen. finden Katastrophen auf dem Arbeitsmarkt statt. (Hans Martin Bury [SPD]: Das ist der (Paul K. Friedhoff [F.D.P.]: Der Markt ver Punkt!) hindert Arbeitsplätze? - Gegenruf der Abg. Entsprechend der wirtschaftlichen Lage der Post AG Anke Fuchs [Köln] [SPD]: So wie Sie das und der Marktentwicklung ist dieser reservierte Be- gestalten, ja, Herr Kollege! - Paul reich immer wieder zu prüfen und dann freizugeben. K. Friedhoff [F.D.P.]: Der regulierte Markt ist Das ist der große Unterschied. besser?) (Dr. Barbara Hend ricks [SPD]: So ist es!) Auch diesmal gefährden Sie Zigtausende Arbeits- plätze. Wiederum läßt sich die CDU/CSU auf diesen Übrigens ist das - oder besser gesagt: war das ein- Deal ein und gefährdet damit bewußt einen der größ- mal - die Auffassung der CDU/CSU-Fraktion. So er- ten Arbeitgeber in Deutschland. klärte der postpolitische Sprecher Elmar Müller Ende Dezember 1995: Auch künftig soll die Deutsche Post verpflichtet werden, flächendeckend Infrastrukturleistungen im Die Arbeitsgruppe Post und Telekommunikation Postwesen für alle Bürger zu einheitlichen und er- der CDU/CSU-Bundestagsfraktion schlägt des- schwinglichen Preisen anzubieten. Die Einnahme- halb vor, zur Abgrenzung des Monopolbereiches quellen aber verweigert die Regierung der Post. Sie zwischen B rief- und Massensendungen/Infopost läßt die Post, wie schon Kollege Meister sagte, mit nicht mehr zu differenzieren, sondern den Be- diesen Milliardenbeträgen, die sie an Pensionsver- reich unter 100 Gramm einheitlich für die Deut- pflichtungen aus der Behördenzeit hat, im Regen ste- sche Post AG zu reservieren. Dies erscheint zur hen. Diese Verpflichtungen liegen weit über denen Finanzierung eines preisgünstigen Universal- vergleichbarer eventueller Wettbewerber. Frei von dienstes und angemessener Infrastrukturleistung diesen Lasten werden sich die künftigen Wettbewer- der Post AG ausreichend. ber der Post die lukrativen Nischen heraussuchen (Hans Martin Bury [SPD]: Dann stimmt der können. Müller unserem Antrag zu!) Um wettbewerbsfähig zu sein, muß die Post dann natürlich rationalisieren. Das bedeutet in jedem Fall Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Frau Kollegin, Stellenabbau. Gerade im Osten Deutschlands zählte ich muß einmal ganz vorsichtig auf die Zeit hinwei- die Post als sicherer Arbeitgeber. Dies ist jedoch nur sen. ein schöner Traum gewesen, genauso wie der Traum von den blühenden Landschaften. Alleine in Sachsen (SPD): Ja. sind 7 000 Arbeitsplätze in Gefahr. Christine Kurzhals Ich fordere Sie auf, zu Ihren eigenen Positionen Erschwerend kommt für die ostdeutschen Postan- wieder zurückzukommen. Hören Sie endlich auf, Ar- gestellten noch hinzu, daß Ende des Jahres der Kün- beitsplätze in Deutschland zu vernichten! Wenn Sie digungsschutz ausläuft. Sie befürchten, daß im Osten schon nicht in der Lage sind, Bedingungen für neue verstärkt Stellenabbau von der Post bet rieben wird. Arbeitsplätze zu schaffen, dann ist es Ihre Pflicht, die Hier ist es nämlich leichter, Entlassungen vorzuneh- vorhandenen zu erhalten. men, weil weder im Schalter- noch im Zustelldienst oder sonstwo Beamte eingesetzt sind. Zum Beispiel (Beifall bei der SPD und der PDS sowie bei arbeitet in Ostdeutschland ein Filialangestellter der- Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE zeit durchschnittlich 20 Stunden in der Woche. Bei GRÜNEN) einer Entlassung würde die Höhe seines Arbeitslo- sengeldes weit unter dem Sozialhilfesatz liegen. Das Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat die wäre eine Katastrophe für die Betroffenen. Kollegin Renate Blank, CDU/CSU. Neben den Beschäftigten werden die Bürgerinnen und Bürger als Kleinkunden die Zeche zahlen: weni- Renate Blank (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine ger Filialen, weniger Se rvice, höhere Preise. Damen und Herren! Die Transformation von der Ver- waltungsbehörde zu einem markt- und kundenorien- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne tierten Dienstleister ist das Kernziel der Postreform. ten der PDS) Mit der erzielten Einigung über die Eckpunkte eines Das spüren die Bürger in meinem ländlichen Wahl- neuen Postgesetzes wird die Koalition diesem Ziel kreis jetzt schon. Die Vorschläge der Koalition wür- gerecht. Das ist nicht zuletzt auch ein Verdienst von den diesen Prozeß verschärfen und beschleunigen. Bundespostminister Dr. Wolfgang Bötsch, dem ich bei dieser Gelegenheit herzlich danken möchte. Für die geplante Liberalisierung der Postmärkte (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - brauchen wir einen tragfähigen Rahmen. Mein Kol- Hans Martin Bury [SPD]: Was sagen denn - lege Bury ist darauf schon eingegangen. Bloß, der Stoiber und Wiesheu dazu?) Unterschied zwischen SPD und CDU/CSU, Herr Kol- lege Meister, ist, daß wir den Universaldienst und Der Infrastrukturauftrag gewährleistet flächendek- seine dauerhafte solide Finanzierung durch einen kend angemessene und ausreichende Dienstleistun- 14152 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997

Renate Blank gen, die auch nach Auslaufen des Monopols bzw. der Die Postgewerkschaft hätte wirklich guten Grund, Exklusivlizenz erbracht werden. positiv über das Unternehmen Post zu reden und es konstruktiv in den Wettbewerb zu begleiten. Natür- (Hans Martin Bury [SPD]: Sieht das Ihr lich ist es legitim, eine Demonstration abzuhalten. Ministerpräsident auch so?) Ich glaube aber, wenn die Mitarbeiterinnen und Mit- - Aber natürlich. arbeiter ihre ganze Kraft darauf richten würden, dem Unternehmen Deutsche Post im Wettbewerb zu einer Wie sehen diese Dienstleistungen aus? Ich glaube, Marktspitze zu verhelfen, dann wäre das noch richti- daß die Abholzeiten bei den Briefkästen der Deut- ger. schen Post AG im Interesse der Verbraucher noch verbesserungswürdig sind. Vielleicht sind auch die (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Zustellzeiten noch verbesserungswürdig. Allerdings ist die Schnelligkeit der Beförderung der Deutschen Die Deutsche Post muß in den nächsten Jahren Post AG nach der Formel „E plus 1" unübertroffen. ihre Unternehmenspolitik verstärkt an den Anforde- rungen des Wettbewerbs ausrichten. Hier ist auch (Zuruf von der SPD: Aber kosten darf es die Dienstleistung am Menschen und vom Menschen nichts!) gefragt. Der neue Entwurf für das Postgesetz schafft Diese unübertroffene Schnelligkeit „E plus 1" finde dazu eine kalkulierbare Basis, sowohl für das Unter- ich gerade im Zeitalter des Fax hervorragend. nehmen Post als auch für die Arbeitsplätze der Mitar- beiterinnen und Mitarbeiter und insbesondere für Zum Filialkonzept. Von einem Kahlschlag, wie im- die Kunden. mer behauptet wird, kann überhaupt nicht die Rede sein. Natürlich muß die Post aber sorgfältig abwä- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) gen, wie das Filialnetz veränderten Gegebenheiten angepaßt und eventuell umgestellt werden kann. Das Wort hat der Postagenturen sind dazu eine wirtschaftliche und Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Kollege Klaus Ba rthel, SPD. kundenfreundliche Möglichkeit. Ihre Einrichtung hat sich bewährt. Die Post richtet zunehmend mehr Agenturen ein. Klaus Barthel (SPD): Herr Präsident! Meine Damen Ich möchte in diesem Zusammenhang eine Zahl und Herren! Die Post kommt nicht aus den Negativ- nennen: In Deutschland gibt es noch zirka 17 000 schlagzeilen heraus: Verluste im Frachtbereich, Lö- Postfilialen und Postagenturen. In den USA, die flä- cher in der Pensionskasse, Filialschließungen, Perso- chenmäßig natürlich wesentlich größer als die Bun- nalabbau. Dazu kommt jetzt noch diese Bundesregie- desrepublik Deutschland sind, gibt es 25 000 Post- rung mit ihrem Postgesetzentwurf. stellen. Jeder kann diese Zahlen auf die Fläche bezo- Tagtäglich können wir den Frust bei den Kunden gen umrechnen. und bei den Beschäftigten erleben. Allein aus mei- Ich erwähne noch einmal meine Vision von Nach- nem Wahlkreis und der näheren Umgebung be- barschaftsläden, die in Stadt und Land neben dem komme ich täglich Einladungen, Protestschreiben Einzelhandelssortiment auch Postdienstleistungen und Unterschriftenlisten gegen Filialschließungen vertreiben, Bankgeschäfte abwickeln, Bausparver- und -umwandlungen. Ich gehe sicher nicht fehl in träge abschließen, Lebensversicherungen verkaufen der Annahme, daß bei Herrn Bötsch noch ein paar sowie nebenbei auch noch als Kommunikationszen- mehr solcher Petitionen und Unterschriftensammlun- trum für Gespräche dienen. Das ist aus meiner Sicht gen eingehen. Die Bürgerinnen und Bürger erleben echte Dienstleistung. ein Schwarzer-Peter-Spiel ohnegleichen und das auch noch mit gezinkten Karten. (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Lisa Peters [F.D.P.]) Es gibt zwei Sorten von Postfilialen, Herr Friedhoff. Die einen Postfilialen, die jetzt geschlossen und pri- Auch die Sicherung der Dienstleistung der Post auf vatisiert werden, sind diejenigen, die die Post AG im dem flachen Land ist mit dem Landzusteller gesi- Rahmen - wie es immer so schön heißt - ihrer unter- chert. Seit dem 1. Dezember 1996 haben rund 17 000 nehmerischen und betrieblichen Selbständigkeit Landzusteller der Post eine Postfiliale sozusagen im schließt. Das sind natürlich die Filialen, bei denen die Gepäck. Herr Gysi, wenn Sie sich etwas mehr mit der Regierungspolitiker leider nichts machen können. Post beschäftigt hätten, dann hätten Sie nicht solche Äußerungen gemacht. Dann wäre Ihnen nämlich Es gibt aber dann noch andere Filialen, die zum hinsichtlich der Versorgung auf dem flachen Land Glück erhalten bleiben, zumindest noch eine Zeit- der Landzusteller eingefallen, der ein ungeheures lang. Das sind die Filialen, die durch den persönli- Vertrauen der Bevölkerung genießt. Ich brauche hier chen und heldenhaften Einsatz von Regierungspoliti- nicht die einzelnen Bereiche des Landzustellers auf- kern erhalten werden. Zum Beispiel geschah dies in zuzählen. Das ist ein hervorragender Se rvice der meinem Wahlkreis in Andechs, do rt , wo der heilige Post. Berg mit dem Kloster steht und das gute Bier her- (Dr. Gregor Gysi [PDS]: Welche Zukunft hat kommt. In der Nähe ist der Wohnsitz von Frau Leut- er? Das ist doch die Frage!) heusser-Schnarrenberger. Sie hat versucht, in der Regionalpresse den Eindruck zu erwecken, als wäre - Der Landzusteller hat eine gute Zukunft. Beschäfti- die Filiale durch ihr persönliches Engagement und gen Sie sich doch einmal damit! das des Aufsichtsratsmitgliedes der Post AG Herrn Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997 14153

Klaus Barthel Funke gerettet worden. Wenn das keine marktwirt- destag und Bundesrat anläßlich der Postreform II, schaftliche Politik ist! trotz zwingenden Handlungsbedarfs gibt es bis heute keine Lösung für die Kooperation von Post- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne bank und Post AG. ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS) (Beifall bei der SPD und der PDS) Leider macht die Führung der Post AG aber durch Auch heute ist offensichtlich wieder kein Ergebnis ihr ungeschicktes Agieren der Bundesregierung ihr zustande gekommen. Diese Kooperation wäre aber Doppelspiel leicht. Die Post AG behauptet, sie habe eine unabdingbare Voraussetzung für die bessere ein Filialkonzept, das der Regulierungsrat, also die Auslastung des Filialnetzes und für die Rettung der Politik, abgesegnet habe. Sie behauptet, bei ihrer beiden Unternehmen. Umwandlungs- und Schließungsstrategie werde sie entsprechend den Kundenbedürfnissen und der Statt dessen steht Wo rt gegen Wort. Der Postmini- Nachfrage handeln. Sie behauptet, ihr sogenanntes ster steht bei der Post AG im Wo rt für eine kostenlose Filialkonzept sichere auch im Jahr 2001 noch den Übertragung von 25 Prozent der Postbankaktien an grundgesetzlichen Infrastrukturauftrag und die regu- die Post AG. Die F.D.P. steht bei sich selber und bei latorischen Vorgaben - und das mit 10 000 statt was weiß ich wem im Wort, genau dieses zu verhin- 17 000 Filialen insgesamt, mit 5 000 statt 13 000 eige- dern. Vielleicht gibt es ja bald einmal eine Einigung. nen Filialen. Wir warten seit Jahren darauf. Wahr ist aber: Das Filialkonzept ist kein Filialkon- Die bekanntgewordenen Vereinbarungen der Ko- zept, sondern eine Gebrauchsanweisung zur Selbst- alition hinsichtlich des Gesetzes verspielen womög- demontage. Wahr ist: Das Filialkonzept enthält kei- lich die letzte Chance, der Post eine reelle Grundlage nerlei unternehmerische oder strukturelle Vorgaben zu verschaffen, einerseits im Wettbewerb zu be- und Kriterien. stehen und die Infrastruktur zu sichern und anderer- seits den gemeinsamen Anstrengungen, die es im (Renate Blank [CDU/CSU]: Unternehme Regulierungsrat über die Parteigrenzen hinweg ge- risch muß die Post selber etwas leisten!) geben hat, zum Erfolg zu verhelfen. - Es kann schon rein zahlenmäßig nicht aufgehen, liebe Frau Blank. Eine grobe Schätzung zeigt doch, Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Achten Sie bitte daß im Jahr 2001 von den 15 000 Gemeinden in der auf die Zeit. Bundesrepublik die Hälfte ohne eine Filiale dastehen wird und drei Viertel der Gemeinden ohne eine post- eigene Filiale, also ohne Dienstleistungsangebot. Klaus Barthel (SPD): Dazu noch einmal einige Fak- ten: Vom heutigen Monopolbereich in Höhe von Wahr ist auch, daß sich der Regulierungsrat aus 15 Milliarden DM bleiben nach den Plänen der Koali- gutem Grund mit diesem Konzept gar nicht beschäf- tion gerade noch 9 Milliarden DM übrig. Stellen wir tigt hat. Wahr ist auch, daß die Post AG dazu über- einmal diese 9 Mi lliarden DM den politischen Lasten geht, gerade umsatzstarke und mittelgroße Filialen gegenüber, dann stellen wir fest: Pensionslasten in jetzt zu privatisieren, also solche, die der Regulie- Höhe von 4 Milliarden DM, Kosten des Filialnetzes in rungsrat als Mittelpunktfilialen vorgesehen hat. Sie Höhe von 4,5 Milliarden DM. Das heißt, dies alles straft damit ihre eigenen Reden Lügen. Wahr ist muß letzten Endes aus diesen 9 Mil liarden DM finan- auch, daß von den vielgepriesenen Postagenturen ziert werden. jetzt immer mehr aufgegeben und geschlossen wer- den, die gerade in kleinen Orten mit großem Auf- wand und großem Pomp eröffnet worden sind. Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Herr Kollege, Sie müssen jetzt zum Schluß kommen. Das ist zuviel. (Renate Blank [CDU/CSU]: Sie wissen, daß in Bayern keine geschlossen worden sind!) - Was ich sage, stimmt, Frau Blank. Der Verdacht, Klaus Barthel (SPD): Jawohl, ich bin gleich fertig. daß die Postagentur eine Zwischenstation, sozusagen ein leicht lösliches Bonbon bis zum totalen Abzug der Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Nein, Sie müs- Post aus dem Land darstellt, läßt sich einfach nicht sen jetzt, nicht gleich, zum Schluß kommen. mehr zerstreuen.

Durch sein schneidiges Auftreten und seine Schön Klaus Barthel (SPD): Noch ein Satz. rederei hat der Post-AG-Vorstand oft den Eindruck erweckt, es sei alles in Butter, und die Post AG sei fit für den Wettbewerb. Was sich hinter dieser Glitzer- Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Sie sind bereits fassade verbirgt, wird höchstens den eigenen Be- eine Minute über Ihrer Redezeit. Das ist zuviel. schäftigten vorgeführt, wenn es wieder einmal darum geht, ihnen Verzichtleistungen und Mehrar- (SPD): Entschuldigung. - Wir sind- beit abzupressen. Klaus Barthel froh, daß es heute zu dieser Aussprache gekommen Das heißt, uns wird es schwergemacht, den Men- ist, damit sich die Koalition der Posträuber nicht im schen zu erklären, daß die politischen Vorgaben feh- Schatten der anderen Versagensbereiche - Renten, len oder falsch sind. Trotz des Beschlusses von Bun- Gesundheit und Steuern - davonstehlen konnte, und 14154 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997

Klaus Barthel daß jetzt endlich in der Öffentlichkeit die Diskussion werb geht, ist ja nicht der Bereich, den die Post ver- in Gang kommt. liert, sondern um den muß sie künftig kämpfen. (Beifall bei der SPD und der PDS sowie bei (Beifall des Abg. Dr. Michael Meister [CDU/ Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE CSU]) GRÜNEN) Der Info-Bereich hat es bewiesen. Auch da haben wir seinerzeit, auch von der Gewerkschaft, wirklich re- Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat der gelrechte Horrorzahlen zu Entlassungen usw. gehört. Kollege Elmar Müller, CDU/CSU. Aber nichts hat sich ereignet. Im Gegenteil, der Info- Bereich, der frühere Drucksachenbereich, ist im Um- satz und auch im Gewinn gestiegen. Das hat die Post Elmar Müller (Kirchheim) (CDU/CSU): Herr Präsi- dent! Meine sehr verehrten Damen und Herren Kol- fertiggebracht. Hier hat sie bewiesen, daß sie im legen! Wer einen Vergleich zwischen der Diskussion Wettbewerb bestehen kann. heute morgen bis heute mittag um die Arbeitsplätze Das, was die SPD nun vorschlägt, nämlich ein Mo- und den Wirtschaftsstandort Deutschland und der nopol auf Dauer, ist auch rein rechtlich nicht haltbar. Diskussion von heute nachmittag, wie sie von der lin- Eine Aktiengesellschaft mit einem Dauermonopol ist ken Seite geführt wurden, anstellt, dem muß auffal- nicht möglich. Art . 87 f des Grundgesetzes sagt aus- len, daß heute morgen immerhin einige Redner der drücklich, daß das Postunternehmen und der Wett- SPD sprechen durften, die sich auch mit den moder- bewerb den künftigen Markt bestimmen sollen. nen Strukturen der Wirtschaft befaßt haben (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU (Heiterkeit bei der CDU/CSU) und der F.D.P. - Hans Ma rtin Bury [SPD]: Es - beispielsweise Herr Mosdorf, der uns erst vor gut geht um eine schrittweise Marktöffnung!) einer Stunde vorgeführt hat, was in der Bundesrepu- - Kollege Bury, nicht kleinreden. blik Deutschland notwendig ist, nämlich die Orien- tierung an den Amerikanern, an deren Neugründun- Das, was wir nun als Kompromiß gefunden haben, gen von Unternehmen im Dienstleistungsbereich vor allem im zweiten Teil, nämlich ein fünfjähriger und an deren Senkung der Arbeitskosten, um neuen Übergang, wird nun dafür sorgen, daß sich die Post Arbeitsplätzen Chancen zu geben. Heute nachmittag in der Tat in den nächsten fünf Jahren möglichst durften dann ausschließlich die nach rückwärts Ge- sanft auf den Wettbewerb einrichten kann. Es ist ge- wandten sprechen währleistet, daß sie den Altlastenbereich, vor allem die Pensionslasten, aus ihren Erträgen finanzieren (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) kann. Das finde ich gut. Die Post hat in den vergan- - wie Herr Bury, der in erstaunlicher Weise einen genen Jahren in großartiger Weise 8 Milliarden DM Salto mortale nach hinten gemacht hat. Herr Kollege in die Modernisierung und in Modernisierungskon- Meister hat zu Recht daran erinnert, daß die SPD hier zepte gesteckt. Das Briefkonzept und das Frachtkon- nun den Eindruck erweckt, als ob sie bei der Postre- zept sind Bereiche, die inzwischen greifen, Bereiche, form II nicht dabei war. bei denen sich die Post im Hinblick auf Struktur, Me- chanisierung und Modernisierung schon heute wirk- (Hans Martin Bury [SPD]: Darum geht es lich weit vor künftigen Wettbewerbern befindet. Das doch gar nicht!) war der notwendige Schritt. Diesen Schritt haben Sie mit getan. Nun stehlen Sie Im Gegensatz zu einigen Kollegen hier muß ich sich aus der Verantwortung. ausdrücklich sagen: Hier hat das Unternehmen, an (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) der Spitze Herr Zumwinkel, in hervorragender Weise seine Aufgaben wahrgenommen. Diese Entscheidun- Denn damals haben wir den Schritt gemacht, daß das gen sind noch nicht überall sichtbar. Aber ich glaube, Unternehmen seine Strukturen in Zukunft als Akti- das Unternehmen hat bewiesen, daß es in die Zu- engesellschaft selbst organisieren soll. Das tut es kunft denken kann. auch. Deshalb hat sich die Politik - das wird ihr auch immer wieder vorgeworfen - möglichst aus den Nun hat Frau Kollegin Kurzhals Behauptungen in Strukturen herauszuhalten. die Welt gesetzt, daß der Schwanz mit dem Hund ge- wedelt habe. Möglicherweise meinen Sie damit den Meine Damen und Herren, deshalb denke ich, daß Postminister, nicht zu Unrecht. Ich erinnere daran, das, was wir am Dienstag in der Koalition vereinbart daß er vor anderthalb Jahren im Jahr des Hundes in haben, ein tragfähiger Kompromiß ist, zum Professor auf begrenzte Zeit ernannt wurde. Ich weiß nicht, wie ich Ihre Aussage bewer- (Zuruf von der SPD: Wir werden noch mer ten soll. Ich erinnere mich an eine Bemerkung des ken, ob er tragfähig ist!) früheren CSU-Vorsitzenden Strauß, der zur SPD in der, wie es auf europäischer Ebene vereinbart wor- der sozialliberalen Koalition seinerzeit immer gesagt den ist, bei Briefen einen reservierten Bereich bis zu hat: „Hier wedelt der Schwanz mit dem Dackel." Ich- 350 Gramm vorsieht, der eine Größenordnung im weiß nicht, was angenehmer ist. Umsatz zu den 100 Gramm von etwa 14 Prozent aus- Ich bedanke mich. macht. In Mark und Pfennig sind das plus/minus 1,5 Milliarden DM. Der Bereich, dei in den Wettbe (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997 14155

Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat die Sie uns als Landzusteller anbieten wollen. Das wird Kollegin Anke Fuchs, SPD. mit uns nicht funktionieren. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- Anke Fuchs (Köln) (SPD): Herr Präsident! Meine ten der PDS) Damen und Herren! Nachdem ich den ganzen Tag der Debatte zugehört habe, weil es mich wirklich Wir sollten auch die Kundeninteressen berücksich- umtreibt, was in diesem Land mit der wirtschaftli- tigen. Die F.D.P. ist eine kleine Klientelpartei. Sie chen Entwicklung und der Arbeitslosigkeit vor sich hüpft überall da herum, wo man Geld verdienen geht, muß ich Ihnen sagen, daß ich von dem neuen kann. liberalen Zynismus schon sehr erschüttert bin. (Zuruf von der F.D.P.: Wo wir Arbeitsplätze schaffen können!) (Beifall bei der SPD und der PDS) Aber Sie verkennen, daß es Unsicherheiten bei den Herr Kollege Friedhoff, seit über 15 Jahren stellen Menschen gibt, wenn Postfilialen geschlossen wer- Sie den Wirtschaftsminister. Immer haben Sie uns den, wenn es mit den Postagenturen nicht funktio- Sozialabbau und Arbeitsplatzreduzierung gepredigt, niert und wenn man sich die Frage stellt: Wird bei und nach jeder dieser Wellen ist die Arbeitslosigkeit mir eigentlich noch zugestellt? In einer Zeit mit der- wieder gestiegen. Wann denken Sie eigentlich mit artig vielen Veränderungen wird man keine politi- uns zusammen um und lernen: Für eine beschäfti- sche Akzeptanz bekommen, wenn man die Men- gungsorientierte Wirtschaftspolitik braucht man nach schen auf dem Weg zu den Veränderungen nicht be- Karl Schiller beides: soviel Staat wie nötig und soviel gleitet. Sie können die Menschen nicht immer nur al- Markt wie möglich? Ihr Kapitalismus pur ruiniert un- lein lassen und Leistungen abbauen. Das ist mit uns sere Demokratie. Ich mache mir große Sorgen, wie es nicht zu machen. eigentlich weitergehen soll, wenn Sie solche Kom- plexe wie dieses Postgesetz hier in einer Art und (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- Weise behandeln, daß es einem fast den Magen um- ten der PDS) dreht, wenn man dem zuhören muß. Der dritte Punkt. Es geht um die Frage: Welche (Beifall bei der SPD und der PDS sowie der Auswirkungen hat das auf die Arbeitsplätze? Sie tun Abg. Margareta Wolf [Frankfu rt] [BÜND wiederum so, als ob für die Arbeitsplätze, die hier ab- NIS 90/DIE GRÜNEN]) geschafft werden, an anderer Stelle neue kämen. Ich habe es vorhin schon gesagt: Dieses Lied mit seinen Ich habe auch den Eindruck, Sie verabschieden vielen Strophen kennen wir schon. Aber immer ist sich aus dem Verfassungskonsens. Denn was haben die Arbeitslosigkeit gestiegen. Ich will Ihnen die Be- wir mit der Postreform gemacht? Wir haben gesagt: lastungen durch die Arbeitslosigkeit noch einmal vor Art . 87 f des Grundgesetzes: Infrastrukturauftrag. Da- Augen führen. Die mehr als 4 Millionen arbeitslosen von verabschieden Sie sich, wenn Sie jetzt die Pläne Menschen belasten unser Gemeinwesen mit durchsetzen, die Sie mit dem Entwurf des Postgeset- 160 Milliarden DM. Deswegen muß die Bekämpfung zes auf den Tisch gebracht haben. Es geht doch nicht der Arbeitslosigkeit aus ökonomischen und sozialen darum, daß wir jemandem unternehmerische Ent- Gründen Vorrang haben; sonst kommen wir nicht scheidungen abnehmen wollen, sondern es geht um wieder auf die Beine. die Frage, wie wir das Postgesetz gestalten, ein Ge- setz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- Der Gesetzgeber ist also gefragt, wenn es darum ten der PDS - Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Wie geht: Wie erfüllen wir die Forderung der Europäi- viele Ausbildungsplätze hat die Postge- schen Union, dafür zu sorgen, daß ihre Mitgliedslän- werkschaft?) der eine Postversorgung von hoher Qualität zu er- schwinglichen Preisen vorsehen, deren Finanzierung Wir werden dafür sorgen, daß der Umstrukturie- gewährleistet werden muß? Das ist das erste, was in rungsprozeß, wenn er denn nun in Angriff genom- diesem Gesetzgebungsverfahren geklärt werden men werden muß, nicht zu Lasten der sozialversiche- muß. rungspflichtigen Arbeitsplätze geht. So weit kommt es noch, daß wir sagen müssen: Nehmt das, was euch (Beifall bei der SPD und der PDS) auf dem Arbeitsmarkt angeboten wird. Das sind dann noch mehr 610-DM-Arbeitsverträge. Dazu sage Das zweite ist, daß es einen Infrastrukturauftrag ich: Nein, wir brauchen sozialversicherungspflichtige gibt. Ihn kann man nicht mal eben „locker vom Hok- Arbeitsverhältnisse für die Menschen, die bei der ker" mit Ihren marktwirtschaftlichen Instrumenten Post beschäftigt sind. Ich glaube, man kann in der Li- erfüllen. Vielmehr braucht man auch andere Instru- zenz gewisse Auflagen vorsehen, mit denen man so mente; darüber werden wir im Zusammenhang mit etwas gewährleisten kann. Wir jedenfalls werden dem Postgesetz zusammen mit Ihnen diskutieren. keinen Beitrag dazu leisten, daß ordentliche Arbeits- Wir haben in unserem Antrag „Infrastruktur sichern, plätze abgebaut werden und daß Leute in Turnschu- Wettbewerb fördern - Grundsätze zur Neuordnung hen die B riefe zustellen. Das wird mit den Sozialde-- des Postsektors" im Mai 1996 unsere Vorschläge vor- mokraten nicht zu machen sein. gelegt. Damit wird gewährleistet, daß die Infrastruk- tur des Postwesens erhalten bleibt und wir nicht zu (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- jenen Turnschuhakrobaten übergehen müssen, die ten der PDS) 14156 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997

Anke Fuchs (Köln) Deswegen fordere ich Sie, Herr Minister Bötsch, Heinz-Günter Bargfrede (CDU/CSU): Herr Präsi- auf: Kämpfen Sie einmal gegen die F.D.P.! Machen dent! Meine Damen und Herren! Der Lärmschutz an Sie das mit uns zusammen! Wir sehen uns. Im Bun- Straßen und Schienenwegen in der Bundesrepublik desrat wird darüber diskutiert. Dann sehen wir uns Deutschland kann sich im internationalen Vergleich wieder, und wir werden versuchen, daß wir es hinbe- durchaus sehen lassen. kommen, daß die Regelungen in bezug auf den re- servierten Bereich zeitlich nicht von vornherein befri- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) stet sein müssen. Sie haben unsere Vorstellungen Die heute in Deutschland geltenden Grenzwerte für nicht richtig begriffen. Wir sagen: 100 Gramm für alle Lärmemissionen zählen zu den schärfsten in Europa. Postsendungsarten. Dann müßten vernünftige Aufla- Die Bundesregierung hat durch die kräftige Förde- gen in die Lizenz hineingeschrieben werden. In rung zahlreicher Forschungsvorhaben und durch die diese Richtung kann es gehen. Verabschiedung fortschrittlicher Verordnungen Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion freut wichtige Prioritäten gesetzt. Für Lärmschutzmaßnah- sich, daß die Postler auf die Straße gegangen sind. men an Bundesfernstraßen wurden bis Ende 1995 Wir haben mit ihnen zusammen demonstriert, und rund 4,6 Milliarden DM ausgegeben. Jährlich wer- wir stehen auf ihrer Seite. den für diesen Zweck rund 400 Millionen DM aufge- wendet. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Bisher wurden rund 750 Kilometer Lärmschutz- und der PDS) wälle und Steilwälle sowie rund 1 320 Kilometer Lärmschutzwände errichtet. Zusätzlich finanzierte der Bund rund 600 000 Quadratmeter Lärmschutz- Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Die Aktuelle fenster. Stunde ist beendet. Der Bund leistet darüber hinaus mit der Fertigstel- lung von 29 Ortsumgehungen bzw. Ortsumfahrun- Ich rufe Tagesordnungspunkt 4 sowie Zusatz- gen im Jahre 1996 und weiteren 25 Maßnahmen im punkt 6 auf: Jahre 1997 einen wesentlichen Beitrag, um Lärm und 4. Beratung der Beschlußempfehlung und des Abgase aus den Städten und Gemeinden zu verban- Berichts des Ausschusses für Verkehr nen und die Lebensqualität in den Stadtkernen zu er- (15. Ausschuß) zu dem Antrag der Abgeordne- höhen. ten Elke Ferner, Michael Müller (Düsseldorf), Bis 1994 sind vom Bund an Schienenwegen Lärm- , weiterer Abgeordneter und der schutzmaßnahmen in Höhe von 374,09 Millionen DM Fraktion der SPD getroffen worden. Davon entfielen 348,15 Millionen Minderung des Verkehrslärms an Straßen DM auf aktive und fast 26 Millionen DM auf passive und Schienen Lärmschutzmaßnahmen. - Drucksachen 13/1042, 13/5390 - Mit den beachtlichen Investitionen für Neubau- und Ausbauvorhaben bei der Schiene wird auch die Berichterstattung: Anzahl der Lärmschutzmaßnahmen an der Schiene Abgeordneter Heinz-Günter Bargfrede künftig deutlich erhöht, wodurch immer mehr Schie- nenwege lärmschutzmäßig gesichert sein werden. ZP6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Al- Hinzu kommen die enormen Aufwendungen für bert Schmidt (Hitzhofen), Gila Altmann (Au- lärmmindernde Tunnelbauten und Brückenbauten rich), Michaele Hustedt, weiterer Abgeordne- mit durchgehendem Schotterbett. ter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN Meine Damen und Herren, wir sind der Auffas- sung, daß Lärmschutz vorrangig an der Quelle selbst Vorlage eines Gesetzes zum Schutz vor Ver- ansetzen müßte, das heißt am Fahrzeug und am kehrslärm an Straßen und Schienen Fahrweg. - Drucksache 13/6958 (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) —Überweisungsvorschlag: Bereits 1984 wurde für die weite Verbreitung lärm- Ausschuß für Verkehr (federführend) Ausschuß für Gesundheit armer Lkw der Beg riff „geräuscharmes Kraftfahr- Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zeug" in die Straßenverkehrs-Zulassungs-Ordnung Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau eingeführt. 1996 konnten die Lärmemissionsgrenz- Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technolo- werte für Neufahrzeuge aller Kfz-Klassen EU-weit gie und Technikfolgenabschätzung Ausschuß für Fremdenverkehr und Tourismus deutlich und verbindlich abgesenkt werden. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind Meine Damen und Herren, wir brauchen leisere für die Aussprache anderthalb Stunden vorgesehen. Reifen, und wir brauchen die Weiterentwicklung und den Einsatz lärmmindernder Straßenbeläge. Wir be- Widerspruch? - Das ist nicht der Fall; dann ist so be- - schlossen. grüßen deshalb ausdrücklich die vom Bundesver- kehrsministerium und vom Bundesumweltministe- Ich eröffne die Aussprache. Das Wo rt hat der Kol- rium betreuten Forschungs- und Entwicklungsvorha- lege Heinz-Günter Bargfrede, CDU/CSU. ben auf diesen Gebieten. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997 14157

Heinz-Günter Bargfrede Das Rollgeräusch ist auch die wichtigste Geräusch- Diese Möglichkeiten haben auch die Länder und quelle der Schienenfahrzeuge. Durch konstruktive Gemeinden an den Landesstraßen und an ihren Ge- Verbesserungen können die Geräusche neuer Fahr- meindestraßen. zeuge merklich gesenkt und die Emissionen alter Fahrzeuge mittelfristig vermindert werden. (Elke Ferner [SPD]: Was sie auch tun!) Die technische Entwicklung trägt bereits heute Aber sie machen so gut wie keinen Gebrauch davon, durch folgende Maßnahmen zur Schallvermeidung (Elke Ferner [SPD]: Das stimmt doch über- an der Quelle bei. Scheibenbremsen sind 9 Dezibel haupt nicht!) leiser als Klotzbremsen. Radabsorber verringern das Rollgeräusch um 4 Dezibel. Durch Kapselung der weil ihnen dafür ganz einfach das notwendige Geld Antriebsaggregate kann eine Schalldämmung von fehlt. - Frau Ferner, es mag im Saarland anders sein. bis zu 25 Dezibel erzielt werden. Bei dieselgetriebe- Das Land schwimmt ja bekanntlich geradezu im nen Fahrzeugen kann zum Beispiel der Auspuff- Geld. schall durch Reflexionsschalldämpfer um bis zu 20 Dezibel gesenkt werden. An dem Zustand des fehlenden Geldes würde sich auch durch ein neues Gesetz nichts ändern. Für eine (Elke Ferner [SPD]: Wenn man das jetzt Lärmsanierung an bestehenden Schienenwegen des addiert, hört man gar nichts mehr!) Bundes würden bei einer Pegeldifferenz von 10 dB (A) zwischen Vorsorge und Sanierung Kosten von rund - Toll wäre es, wenn man das alles zusammenziehen 5 Milliarden DM entstehen. Das kann inzwischen et- könnte; das stimmt, Frau Ferner. was mehr sein. Auch bei Fahrzeugen der Straßen-, Stadt- und U- (Elke Ferner [SPD]: Ich denke, es wird Bahnen kann durch eine schalloptimierte Fahrzeug- immer alles weniger!) konstruktion in Verbindung mit ergänzenden Ober- baumaßnahmen eine erhebliche Lärmminderung er- Auf jeden Fall ist klar: Diese Mittel stehen uns zur zielt werden. Zeit nicht zur Verfügung. Wir streben mittelfristig - das möchte ich klar sagen - auch für den Schienen- Verbesserungen an Fahrzeugen müssen durch den weg eine haushaltsgesetzliche Regelung an. Wir Einsatz neuester Technik und moderner Materialien würden gern noch mehr tun, müssen aber als verant- beim Fahrweg ergänzt werden. Allein der Einbau wortungsbewußte Politiker stets auch das finanziell lückenlos verschweißter Gleise führt gegenüber den Machbare und das gesamtwirtschaftlich Verantwort- früheren Stoßlückengleisen zu Pegelverringerungen bare im Auge behalten. von 6 Dezibel. Während ältere Brückenkonstruktio- nen den Schall oft noch verstärkten, erhalten mo- (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!) derne Bauwerke ein durchgehendes Schotterbett. Das mindert den Schall um bis zu 15 Dezibel. Dies sehen übrigens auch SPD-Landespolitiker so, zumindest dort, wo sie in der politischen Verantwor- Auf Antrag der Koalitionsfraktionen hat der Ver- tung stehen. Sie lehnen - genau wie wir - eine ge- kehrsausschuß die Bundesregierung um regelmäßige setzliche Regelung der Lärmsanierung nachdrück- Berichterstattung hinsichtlich der technologischen lich ab. Entwicklung von Fahrbahnbelägen, von Straßen und Schienen sowie bei Fahrzeugen ersucht. Bereits in der Debatte am 18. Mai 1995 habe ich von dieser Stelle aus darauf hingewiesen, daß eine Meine Damen und Herren, gerade beim Lärm- gesetzliche Regelung der Lärmsanierung der Zu- schutz ist es wichtig, daß wir den technischen Fort- stimmung des Bundesrates bedarf. schritt unbedingt ständig im Auge behalten und Neuerungen sofort berücksichtigen, wenn es gilt, (Elke Ferner [SPD]: Dann lassen Sie uns das Baumaßnahmen durchzuführen oder neue Fahr- doch einmal ausprobieren!) zeuge zu bestellen. Wir setzen auf den technischen Ich habe Sie, Frau Ferner und Ihre Kolleginnen und Fortschritt gerade in diesem Bereich und erhoffen Kollegen von der SPD, dringend gebeten, in dieser uns noch weitere Verbesserungen. Sache in den eigenen Reihen endlich einmal Klarheit Auf das Problem der Bündelung von Verkehrswe- zu schaffen. gen, das wir im Ausschuß schon häufig angespro- (Beifall bei der CDU/CSU) chen haben, Diese Klarheit ist inzwischen geschaffen worden, (Elke Ferner [SPD]: Das Sie aber nicht lösen leider nicht durch die SPD-Bundestagsfraktion, son- wollen!) dern durch einen im Bundesrat eingebrachten An- wird im einzelnen in gekonnter Weise mein Kollege trag des Landes Nordrhein-Westfalen. Dieser Antrag Michael Jung eingehen. Das spare ich mir jetzt. zur gesetzlichen Regelung der Lärmsanierung ist am 8. November 1996, also vor wenigen Wochen, im (Beifall bei der CDU/CSU) SPD-dominierten Bundesrat abgelehnt worden, Frau Ferner. Meine Damen und Herren, ich möchte noch einmal unterstreichen, daß der Bund im Rahmen seiner fi- (Zuruf von der CDU/CSU: Hört, hört! - Elke nanziellen Möglichkeiten Lärmsanierung an Straßen Ferner [SPD]: Haben denn die Unionsländer haushaltsgesetzlich vorsieht. zugestimmt, Herr Bargfrede?) 14158 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997

Heinz-Günter Bargfrede - Nein; sie wissen, wie sie mit ihren Finanzen umzu- ständig sämtliche Finanzmittel streichen, bevor Sie gehen haben. uns auffordern, da entsprechend tätig zu werden. Dagegen gestimmt hat unter anderem das Land (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Hamburg, das vom finanzpolitischen Bundesspre- DIE GRÜNEN - Zuruf von der F.D.P.: Jetzt cher der SPD regiert wird. kommen mir Tränen in die Augen!) (Zuruf von der CDU/CSU: Niedersachsen!) Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen. Seit der ersten Lesung dieses Antrages am 18. Mai 1995 hat Abgelehnt hat den Antrag auch das Land Nieder- es fast zwei Jahre gedauert. Über ein Jahr ist seit der sachsen, das vom wirtschaftspolitischen Sprecher der Anhörung zum Verkehrslärmschutz im Januar 1996 Bundes-SPD regiert wird. Die Kollegin Ganseforth ist vergangen. Die Geschichte der Bürgerforderungen heute nicht im Plenum. Vielleicht spricht sie gerade in Sachen Lärmschutz an diese Bundesregierung und mit Herrn Schröder, um ihn noch umzustimmen. Es ihre wechselnden Verkehrsminister, die wir hier im wäre gut gewesen, wenn sie entsprechende Gesprä- Parlament vorgetragen haben, begann 1984. Heute che in Hannover rechtzeitig geführt hätte. werden wir wohl einen weiteren Höhepunkt dieser Meine Damen und Herren von der SPD, es ist nach Entwicklung erleben. Nach dem, was Sie gesagt ha- der Ablehnung im Bundesrat vor wenigen Wochen ben, nehme ich an, daß Sie unseren Antrag ablehnen nur folgerichtig, wenn Sie Ihren Antrag heute zu- werden. rückziehen. (Elke Ferner [SPD]: Sie lernen eben nicht (Elke Ferner [SPD]: Den Gefallen tun wir dazu!) Ihnen nicht!) Bei der Anhörung im Januar 1996 stellten alle Denn eines ist nach dieser Abstimmung klar: Selbst Sachverständigen fest, daß sich zwei Drittel aller wenn wir heute Ihrem Antrag folgten selbst wenn Bundesbürger durch Straßenlärm belästigt fühlen wir ein Gesetz zur Lärmsanierung beschlössen, und ein Sechstel der Bundesbürger, also mehr als würde das anschließend mit den Stimmen SPD-re- 10 Millionen Einwohner dieses Landes, tagsüber ei- gierter Länder im Bundesrat abgelehnt werden. nem Lärmpegel ausgesetzt sind, der weit über der Zumutbarkeitsgrenze von 65 Dezibel liegt. Sie haben (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - weiter festgestellt, daß insbesondere der nächtliche Elke Ferner [SPD]: Das wollen wir erst mal Lärm - auch wenn er nicht bewußt wahrgenommen sehen!) wird - gesundheitsgefährdend ist. Wenn die SPD-Bundestagsfraktion trotz der vor Lärmgeplagte Bürger leiden nach übereinstim- wenigen Wochen erfolgten Klarstellung im Bundes- mender Meinung der Sachverständigen unter Streß- rat heute an ihrem Antrag festhält, dann ist das für reaktionen, Schlaf- und Konzentrationsstörungen, mich der Gipfel unglaubwürdiger Politik. Doppel- Bluthochdruck und Herz-Kreislauf-Erkrankungen. züngiger kann man eine Politik nicht mehr betrei- Zwei Prozent aller Herzinfarkte sind eindeutig lärm- ben. verursacht. Lärmschutz ist also auch Gesundheits- (Elke Ferner [SPD]: Doppelzüngig sind Sie! schutz. Und außerdem, Herr Bargfrede: Wenn das al- Sie versprechen den Leuten Lärmschutz les wahr ist, was die Sachverständigen gesagt haben und tun nichts!) - und ich zweifele nicht daran -, kann es mit der Lärmpolitik dieser Bundesregierung nicht so weit her Wir von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, von sein. den Koalitionsfraktionen halten an unserer verant- wortungsbewußten Politik fest und lehnen deshalb (Beifall bei der SPD - Elke Ferner [SPD]: den Antrag der SPD ab. Übrigens - ich bin nicht Die machen nur viel Lärm um nichts!) mehr dazu gekommen, darauf einzugehen - werden Die Anhörung zum Lärmschutz hat nämlich eines wir auch den Antrag der Bündnisgrünen ablehnen. sehr deutlich gemacht: Die bisherige Politik der Bun- Wir können ihn anschließend im Verkehrsausschuß desregierung ist unverantwortlich, und der Bürger ist noch einmal beraten. der Leidtragende. Die Forderung der SPD nach einer Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. zeitgemäßen, modernen Lärmgesetzgebung - das war das klare Resultat der Sachverständigenanhö- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) rung - ist mehr als berechtigt. Beispielhaft möchte ich hier zwei Grundforderun- Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat die gen anführen: erstens die Änderung der unzurei- Kollegin Angelika Graf, SPD. chenden Rechtsgrundlage im Lärmschutz und zwei- tens die Forderung, die Gesamteinwirkung aller Ver- Angelika Graf (Rosenheim) (SPD): Herr Präsident! kehrsgeräusche zum Maßstab für Lärmschutzmaß- Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Barg- nahmen zu machen. frede, wir werden diesen Antrag selbstverständlich nicht zurückziehen. (Elke Ferner [SPD]: Genau, so ist das!) (Zuruf von der CDU/CSU: Schade!) Ich möchte die Notwendigkeit der Forderung nach einer rechtlichen Grundlage der Lärmsanierung an Ich meine, Sie sollten die Länder erst mit den nötigen allen Verkehrswegen, nach einem Verkehrslärm- Finanzmitteln ausstatten bzw. den Ländern nicht schutzgesetz, mit Zitaten aus dieser Anhörung be- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997 14159

Angelika Graf (Rosenheim) gründen, die Ihnen eigentlich noch heute in den Oh- Dennoch gehen Sie nicht auf unsere Forderungen ren klingen müßten. Ich beziehe mich zum Beispiel nach einer gesetzlichen Regelung in diesem Bereich auf Redebeiträge des Herrn Professor Dr. Berke ein. mann, Richter am Bundesverwaltungsgericht. Er be- Der Antrag der SPD enthält eine ganze Menge an klagt die Situation für die Bürger und für die Recht- Vorschlägen, die ohne größere Kosten verwirklicht sprechung und ficht für einheitliche Richtlinien an werden könnten. Ich nenne einige Stichworte: Tem- neuen und bestehenden Straßen, ebenso aber auch polimit, Bekämpfung des Verkehrslärms an der an neuen und bestehenden Bahnstrecken und an Quelle beim Fahrzeug, die Verwendung von Flüster- parallel geführten Bahn- und Autobahnstrecken. asphalt usw. Für einen gesetzlichen Anspruch der betroffenen Mieter war der Sachverständige des Bundesumwelt- Wenn Sie, meine Damen und Herren, heute unse- amtes, Herr Gottlob. ren Antrag wieder ablehnen, wird ein weiteres Mal deutlich: Sie handeln wider besseres Wissen. Herr Professor Dr. Schulze-Fielitz von der Uni Würzburg hat ausgeführt: (Elke Ferner [SPD]: So ist es!) Der Gesetzgeber muß handeln. Er ist verpflichtet, Denn bei der Anhörung ist alles ganz klar gesagt Gesundheitsbeeinträchtigungen und Gesund- worden. Wenn Sie keine Lehren aus den wissen- heitsgefährdungen abzubauen. Wie wollen die schaftlichen Anhörungen zu ziehen bereit sind, dann Politiker rechtfertigen, daß ein großer Teil der Be- frage ich Sie: Warum machen wir sie dann eigent- völkerung zunehmend durch Verkehrsbelastun- lich? gen in ihrer Gesundheit beeinträchtigt wird? (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Er fährt wörtlich fo rt: DIE GRÜNEN) Ich halte den Punkt Lärmsanierung für beson- Und noch etwas zum Thema Lärm: Wovor die ders vordringlich, verfassungsrechtlich und poli- Bürgerinnen und Bürger in diesem Lande ebenfalls tisch ... Da muß man vordringlich ansetzen. Schutz brauchen, ist der Lärm um nichts, den Sie in vielen Fällen veranstalten. Wörtlich sagte dazu Professor Berkemann: Der Verkehrsminister wird mir bestätigen, daß Wir haben gar keinen Gesetzgeber im Bereich seine Kollegin Merkel für eine nette, kleine Bro- der Lärmsanierung. Ehrlich gesagt, warte ich ei- schüre Geld ausgegeben hat. Sie heißt „Laut ist out" gentlich seit Jahren auf einen Prozeß, wo ein Klä- und ist im Dezember 1996 erschienen. ger, unterstützt vielleicht von anderen, den Mut hat, diese Frage so tief durchzuloten, daß er dann (Elke Ferner [SPD]: Die Regierung ist out! - auf den Grund der Art. 2 und 14 GG stößt. Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Elke Ferner [SPD]: Ja!) Die Ministerin preist in diesem Zusammenhang auch Verordnungen, Richtlinien, Verwaltungsvorschrif- die Erfolge der Regierung in Sachen Lärmschutz. ten lösen seiner Ansicht nach das Problem nicht. Er Gleichzeitig wird es aber immer lauter in unserer Re- meint, man müsse endlich der Tatsache gerecht wer- publik. Meinen Sie nicht, daß das Geld für die Bro- den, daß bei der Summation von Lärmbelastungen schüre am besten für Lärmschutz ausgegeben wor- die Kosten für den Schutz vor der Belastung durch den wäre? gesetzliche Vorgaben unter denen, die den Lärm emittieren, aufgeteilt werden müßten. Herr Professor (Beifall bei der SPD) Berkemann hat wörtlich gesagt: Schauen wir uns doch als Beispiel einmal das Trau- Man kann dem Bürger nicht zumuten, verschie- erspiel um den Lärmschutz an der neuen ICE- dene Kosten, verschiedene Straßen, Baulastträ- Strecke von Köln nach Frankfurt an. Herr Jung wird ger und Lärmträger sozusagen parallel zu verkla- sicherlich nachher noch etwas dazu sagen. Am gen. 12. Juni 1996, bei der letzten Behandlung des heute anstehenden Antrags der SPD, hat der Berichterstat- Ihm hat sich Helmuth Schulze-Fielitz von der Uni ter der CDU, Sie, Herr Bargfrede, vollmundig erklärt, Würzburg voll angeschlossen: Das Bundes-Immissi- es werde in dem Bereich der Strecke, wo sie mit der onsschutzgesetz, so sagt er, stellt nicht ab auf die Ge- A 3 parallel verlaufe, ein Pilotprojekt mit gemeinsa- samtheit der Emissionen, die von den verschiedenen men Lärmschutzmaßnahmen geben. Die Mittel dafür Verkehrsträgern verursacht werden. Es kommt also würden aus dem Verkehrshaushalt zu Lasten ande- beim Bau einer neuen Autobahn zu der paradoxen rer Maßnahmen aufgebracht. Ich habe mich gefreut Situation, daß es zwar do rt Schallschutz gibt, aber für die Menschen, weil ich auch einmal in diesem die alte Bahnstrecke, die nebendran läuft und auch Wahlkreis war und die Probleme kenne. belastet, in diesen Lärmschutz nicht eingeschlossen wird. (Michael Jung [Limburg] [CDU/CSU]: Schö- ner Wahlkreis!) (Elke Ferner [SPD]: Das ist deren Politik!) Noch im Oktober 1996 haben Sie dies weiter so un-- Das ist perfekter Unsinn, so meine ich. terstrichen. Das ist alles nur leeres Geschwätz, viel (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Lärm um nichts. Es gibt keine einzige Mark mehr als DIE GRÜNEN) ursprünglich vorgesehen. In diesem Titel sind 14160 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997

Angelika Graf (Rosenheim) 439 Millionen DM für den Umweltschutz eingestellt. Was machen wir mit einem schweigenden Ge- Es ist nichts dazugekommen. Ich hatte gehofft, Sie setzgeber, der seinen Schutzpflichten nicht nach- würden zum Beispiel etwas aus dem Transrapid-Titel kommt? herausnehmen. (Zuruf von der SPD: Abwählen!) (Beifall bei der SPD) - Richtig. Wir brauchen eine klare gesetzliche Grundlage für die Finanzierung von Lärmschutz an Schienen. Die Die Antwort wird ihm und Ihnen die nächste Bun- Bürger dürfen nicht abhängig sein vom Goodwi ll und destagswahl geben. dem Kassenstand irgendwelcher Landesregierungen und der DB AG. Wenn die Bahn im internationalen (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Wettbewerb und im Wettbewerb zwischen Straße GRÜNEN und der PDS) und Schiene bestehen will, müssen Sie, meine Da- men und Herren von den Regierungsparteien, dafür Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat der endlich die Voraussetzungen schaffen. Kollege Albert Schmidt, Bündnis 90/Die Grünen. Um beim belasteten Bürger auf Akzeptanz zu tref- fen, gehört dazu auch ein Lärmschutz an der Albert Schmidt (Hitzhofen) (BÜNDNIS 90/DIE Schiene, der dem an der Straße entspricht. Für die- GRÜNEN): Sehr verehrter Herr Präsident! Liebe Kol- sen Lärmschutz muß der Bund die notwendigen Mit- leginnen und Kollegen! Verehrter Kollege Bargfrede! tel bereitstellen. So geht es ja nicht. Sie stellen sich hier vorne hin und (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne erwecken den Eindruck, wir lebten in dem lärm- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) saniertesten Land der Welt oder zumindest Europas und jeder, der etwas anderes erzählt, wisse nicht, wo- Der politische Wille, Lösungen im Lärmschutz zu su- von er spricht. chen und sie in manchen Fällen schnell umzusetzen, muß vorhanden sein. Ich sehe ihn bei dieser Regie- Ich kann Ihnen eines versichern. Ich war gestern rung schlicht und einfach nicht. bei einer Veranstaltung im Landkreis Neuwied bei Koblenz im Nachbarbundesland Rheinland-Pfalz ein- Fest steht für mich eines: Die Kosten, die durch geladen. Ich sage Ihnen: Do rt waren Hunderte von Ihre mangelnde Bereitschaft, gesetzliche Regelun- Menschen, die in einer riesigen Anhörung des Land- gen zu treffen, bisher entstanden sind, belaufen sich kreises mit Sachverständigen quer durch die ge- insgesamt nicht auf fünf-, wie Sie meinen, Herr Barg- samte Landschaft glaubwürdig berichtet haben. frede, sondern auf zweistellige Milliardenbeträge. Bereits einige Millionen davon können meiner Mei- Sie haben nachts in ihren Schlafzimmern an der nung nach zusammen mit den entsprechenden ge- rechtsrheinischen Bahnstrecke zum Teil Lärmpegel setzlichen Grundlagen viele Menschen von den Qua- in Werten von 85 dB(A). Diese Menschen stehen len einer Dauerbeschallung durch Verkehrslärm erlö- nachts senkrecht im Bett. Wenn Sie sich dann hier sen. Das sind wirklich Qualen. Kollegin Müller wird hinstellen und den Eindruck zu erwecken versuchen, sicherlich bei den Petitionen noch entsprechend dar- es gebe kein Problem, dann ist das einfach zynisch, auf eingehen. oder Sie wissen nicht, wovon Sie reden. Außerdem meine ich, daß auch im Tiefbau da- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE durch etliche Arbeitsplätze gesichert werden könn- GRÜNEN und der PDS) ten. Denn die Bauindustrie liegt dank der Politik Ih- rer Regierung ja deutlich darnieder. Ich möchte Ihnen zunächst ein paar schlichte Bei- spiele zur Kenntnis geben, bevor ich über drei (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne Knackpunkte der vorliegenden Anträge sprechen ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) werde. Ökologische Investitionen in die Zukunft nennen wir Es ist eine schlichte Tatsache, daß Lärm zugenom- so etwas. men hat. Es war besagte Umweltministerin , die in der besagten Broschüre, von Kollegin Ist Herr Minister Wissmann da? Graf schon angesprochen, die Umfragen zitiert hat. (Elke Ferner [SPD]: Er ist nicht da! Er Zwei Drittel der Menschen in unserem Land bekla- drückt sich wieder!) gen sich inzwischen vor allem über Straßenlärm. Die Hälfte der Menschen leidet unter dem Fluglärm. Das - Nein, er ist nicht da. Das ist typisch. - Herr Staats- haben wir bereits an anderer Stelle zu diskutieren sekretär, sorgen Sie bitte dafür, daß Herr Minister gehabt. Immerhin ein Fünftel der Menschen beklagt Wissmann endlich handelt, bevor der Berg unerle- sich über Lärm an Bahn- und Schienenstrecken. digter Lärmschutzmaßnahmen noch weiter anwächst und auf die nächste Regierung - hoffentlich unsere - (Zuruf des Abg. [CDU/CSU]) zukommt. Tun Sie etwas! - Herr Kollege Kuhn, machen Sie sich erst einmal Lassen Sie mich mit einem Zitat schließen. Unser kundig, bevor Sie unqualifizierte Zwischenbemer-- oben schon mehrfach zitierter Sachverständiger, kungen machen. Nehmen Sie bitte zur Kenntnis, Richter Berkemann vom Bundesverwaltungsgericht, Herr Kuhn: Es handelt sich nicht nur um Belästigung. fragte im Laufe seiner Ausführungen: Es handelt sich um die Tatsache: Lärm macht krank. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997 14161

Albert Schmidt (Hitzhofen) Jeder von uns hat die Chance gehabt, an der An- von jeweils nur 59 bzw. 49 dB(A) zulässig ist. Dieser hörung des Verkehrsausschusses am 17. Januar letz- Zustand ist unhaltbar. Wir verlangen deshalb in un- ten Jahres teilzunehmen. Do rt haben uns die Sach- serem Antrag: Es darf langfristig keinen Unterschied verständigen vorgetragen. Zum Beispiel hat uns das mehr zwischen Lärmschutz an bestehenden und Umweltbundesamt darauf hingewiesen, daß nach Lärmschutz an neu geplanten Verkehrswegen ge- seinen Schätzungen 2 000 Todesfälle im Gefolge von ben. So einfach ist das. Herz-Kreislauf-Erkrankungen heute auf Verkehrs- lärm zurückzuführen sind. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der PDS) Das sind doch keine Petitessen, von denen man hier spricht. Da besteht ernsthafter Handlungsbe- Wir verlangen mittelfristig eine Senkung der entspre- darf. Von dieser schlichten Tatsache geht sowohl der chenden Werte auf die Werte nach der DIN-Norm Antrag der SPD als auch unser Antrag aus. Dieser 18005 für den Städtebau. Ansatz ist richtig. In geradezu verfassungswidriger Weise aber sind (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) die Anwohnerinnen und Anwohner an Bahnstrecken Er setzt jedoch voraus, daß sich die Bundesregie- beeinträchtigt; Frau Kollegin Graf hat es schon ange- rung mit diesen Anliegen endlich einmal ernst aus- sprochen. Entlang der Schiene gibt es - um das ein- einandersetzt und auch die Anhörung zur Kenntnis mal ganz klar zu sagen -, von wenigen Neubaustrek- nimmt. Denn wer trotz des geballten Sachverstandes, ken abgesehen, bei uns weitgehend überhaupt kei- der dort aufgetreten ist, heute so tut, als ob es keinen nen Lärmschutz. Deshalb häufen sich die Eingaben Handlungsbedarf gibt, setzt sich dem Vorwurf aus, beim Petitionsausschuß. Es sind doch nicht lauter an dieser Stelle mit der Gesundheit der Menschen Verrückte, die die Eingaben schreiben. Die Stapel fahrlässig umzugehen. Anders kann man es nicht sa- von Petitionen kommen von all den Betroffenen ent- gen. lang den Schienenstrecken. Lärm ist weder nur ein technisches noch nur ein Das verrückte Ritual, das sich immer abspielt, ist gesundheitliches Problem. Lärm ist auch ein soziales folgendes. Der Petitionsausschuß erkennt das Anlie- Problem. Diesen Gesichtspunkt möchte ich kurz dar- gen an, sogar der Bundesverkehrsminister erkennt es stellen. Häufig sind es gerade die Schutzbedürftig- an. Aber - jetzt kommt die große Einschränkung - es sten der Gesellschaft, die besonders zu leiden haben. heißt regelmäßig: Wir haben für diese Lärmsanie- Es sind die alten Menschen und die Kinder, weil die rung kein Geld. Das ist ein merkwürdiger Zustand. Nachtruhezeiten nicht entsprechend berücksichtigt Denn das besagt nicht mehr und nicht weniger, als sind. Es sind aber auch Menschen mit niedrigen Ein- daß Belange der gesundheitlichen Vorsorge hinter kommen, die in diesen Lärmslums entlang den Tras- fiskalische Belange zurückgestellt werden. Das darf sen leben, wo infolge der zunehmenden Verlärmung in einem zivilisierten Land doch nicht sein. die Mieten immer niedriger werden, überhaupt noch bezahlbar sind. Hingegen sind die Mieten in Ruhe- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gebieten inzwischen unerschwinglich, so daß wir und bei der SPD) auch hier immer mehr eine Korrelation zwischen so- Daß dies verfassungsrechtlich bedenklich ist, zialem Abstieg und Lärmslums bekommen. möchte ich an einem Zitat von Professor Berkemann (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist ein neues vorführen, den auch Kollegin Graf schon erwähnt Wort!) hat. Er hat in der Anhörung des Verkehrsausschusses vor einem Jahr folgendes gesagt: Ich möchte auf drei Knackpunkte der vorliegenden Anträge kurz eingehen. Der erste Punkt ist die Situa- Das Fehlen eines positiv-rechtlich geregelten tion der Anwohnerinnen und Anwohner an be- Rechtsanspruchs stehenden Verkehrswegen. Wir haben in unserem Land die verrückte Situation, daß es Anspruch auf - also eine gesetzliche Regelung - Lärmsanierung nur bei der sogenannten wesentli- auf Lärmsanierung auch für den Schienenver- chen baulichen Änderung von Straßen oder Schie- kehr ist rechtsstaatlich bedenklich. Es kann nenwegen gibt, also zum Beispiel beim Bau zusätzli- grundrechtlich kein wirklicher Zweifel bestehen, cher Fahrspuren, zusätzlicher Gleise usw. daß ein entsprechender Schutzanspruch - ge- (Horst Friedrich [F.D.P.]: Das ist falsch; denn stützt auf Art. 2 Abs. 2 und Art . 14 Abs. 1 GG - es gibt Lärmvorsorge!) durchaus in Betracht kommt. Es ist dem Gesetz- geber dringlich anzuraten, diesen Anspruch zu Wenn sich aber zum Beispiel das Geschwindig- legeferieren. keitsniveau erheblich verändert, wenn sich das Ver- kehrsaufkommen erheblich steigert und wenn zum - Also auf deutsch gesagt: dieses Gesetz endlich zu Beispiel ein deutlich höherer Lkw-Anteil hinzu- machen. kommt, dann gibt es diese Ansprüche nicht. Wenn es seitens der SPD oder der Bündnisgrünen Bei bestehenden Straßen liegen die Emissions- beantragt wird, dann sagen Sie, es besteht kein grenzwerte für eine Lärmsanierung für reine und all- Handlungsbedarf. Das ist doch aberwitzig. gemeine Wohngebiete bei 70 dB(A) tags und bei 60 dB(A) in der Nacht, also wesentlich höher als beim (Zuruf von der SPD: Wie bei den Arbeits- Neubau von Straßen, bei denen ein Mittelungspegel losen!) 14162 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997

Albert Schmidt (Hitzhofen) In der Tat hat auch der Bundesverkehrsminister, Albert Schmidt (Hitzhofen) (BÜNDNIS 90/DIE und zwar mit Schreiben an den Petitionsausschuß GRÜNEN): Aber gerne. vom 29. März 1994, schon einmal versprochen, „sich ... dafür ein[zu]setzen, eine haushaltsrechtli- Heinz-Günter Bargfrede (CDU/CSU): Herr Kollege che Regelung zur Finanzierung von Lärmsanierungs- Schmidt, Sie sagten eben, daß auch nach Ihren finan- maßnahmen zu schaffen". Auf deutsch gesagt: daß ziellen Vorstellungen dieses Programm etwa zehn bis es für diesen Zweck endlich Geld gibt. Doch was ist zwölf Jahre dauern wird, bis der letzte Anspruch er- knapp drei Jahre nach dieser Ankündigung passiert? füllt ist. Gleichzeitig wollen Sie aber allen Bürgern ab Nichts. In einer Antwort auf eine SPD-Anfrage teilt sofort einen Rechtsanspruch auf entsprechende Sa- derselbe Verkehrsminister bzw. sein Staatssekretär nierungen einräumen. Meinen Sie nicht, daß all die Anfang 1997 mit, daß weiterhin „eine verpflichtende Bürger, die nicht im ersten oder zweiten Jahr dran Rechtsgrundlage fehlt" und - jetzt hören Sie genau sind, sondern erst in sieben oder acht Jahren, mor- zu! - „ein entsprechender Investitionsbedarf nicht" gen auf der Matte stehen und diesen Rechtsanspruch vorliegt. Das heißt im Klartext: Man verspricht, sich einklagen und damit gewaltige Prozeßlawinen auf darum zu kümmern, macht dann die Hausaufgaben Bund, Länder und Gemeinden zukommen? nicht und beklagt nachher schulterzuckend, daß lei- der nichts passiert ist, weil nichts gegangen ist. Auch so kann man natürlich Regierungspolitik machen. Albert Schmidt (Hitzhofen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Lieber Herr Kollege, das Unanständige Ich möchte Ihnen eines aber deutlich sagen: Lärm- an Ihrer Frage, das unausgesprochen mitschwingt, schutz und Lärmsanierung gibt es nicht zum Nullta- ist folgendes: Indem Sie mich dies fragen, geben Sie rif, das ist wohl wahr. Es wäre unredlich, nur zu ver- indirekt zu, daß Sie diesen Rechtsanspruch nicht ein- langen und zu fordern, ohne auch zu sagen, wie dies räumen, weil Sie sonst die Leute mit ihren Rechten finanziert werden soll. Ich mache dazu zuerst eine ernst nehmen müßten; Sie müßten nämlich Geld zur polemische und dann eine sachliche Bemerkung. Verfügung stellen. So ergibt diese Frage einen Sinn. Die polemische Bemerkung, die ich mir an dieser (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Stelle nicht verkneifen kann, ist: Wenn eine Regie- bei der SPD und der PDS) rung glaubt, sich solche Luxusinvestitionsruinen wie Ich will Ihnen aber ganz nüchtern und sachlich den Transrapid leisten zu müssen, wenn unwirt- darauf antworten. Ich habe von einer schrittweisen schaftliche Bahnstrecken in der Qualität der ICE- Angleichung der Grenzwerte, von einer schrittwei- Strecke durch den Thüringer Wald für 8,5 Milliarden sen Reduzierung gesprochen. Ich habe davon ge- DM vergraben werden - auch das wird ein Milliar- sprochen, daß in einem mehrjährigen Programm Gel- dengrab werden -, wenn die Ostsee-Autobahn für der zur Verfügung gestellt werden müssen. Jeder arden projektiert wird und Geld auf diese viele Milli Verwaltungsrichter und jede -richterin in diesem Weise verbraten wird, es beim Lärmschutz aber Lande wird Ihnen bestätigen können, daß zuerst die plötzlich heißt: „Jetzt ist uns leider das Geld ausge- eklatantesten Fälle drankommen müssen, wenn das gangen", dann ist das eine sehr eigenartige Politik. Geld knapp ist, und die weniger eklatanten Fälle der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Reihe nach abgearbeitet werden. Diesen grundsätzli- Horst Friedrich [F.D.P.]: Die war nicht nur chen Einwand als Begründung für das Nichtstun gel- polemisch, die war auch falsch!) tend zu machen, wie Sie mir einreden wollen, ist aber die schlechteste Lösung. - Herr Kollege, das war die polemische Bemerkung. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Jetzt komme ich zu der sachlichen Bemerkung. Es bei der SPD und der PDS) geht bei den Schienenstrecken um ein Investitions- Ich komme zu dem dritten Knackpunkt, den ich Ih- volumen von 4,4 Milliarden DM. Das ist die Zahl, die nen nicht vorenthalten möchte. Das ist die Situation das Verkehrsministerium nennt und die auch die an den sogenannten gebündelten Verkehrswegen. Deutsche Bahn AG in der besagten Veranstaltung Auch das ist schon angesprochen worden. Es ist gestern genannt hat. Auch wir wissen, daß das Geld durchaus vernünftig, daß man bei der Verkehrspla- nicht von heute auf morgen in einem Hauruck-Ver- nung Lärmachsen bündelt und neue Lärmwege par- fahren zur Verfügung stehen kann. Wir schlagen ein allel zu vorhandenen baut, um nicht neue Landschaf- Zehn- oder Zwölfjahresprogramm, gestaffelt in Jah- ten zu verlärmen. resschritte zu 300 oder meinetwegen 200 Mil lionen DM, vor, damit man an den neuralgischsten Stellen Aber im Moment ist die Situation verrückt: Der be- überhaupt einmal anfängt. Mit einem solchen Akti- troffene Bürger und die betroffene Bürgerin müssen onsprogramm Lärmschutz Schiene wäre man nach ihre Betroffenheit durch jeden einzelnen Verkehrs- zehn oder zwölf Jahren ein gutes Stück weiter, als weg nachweisen. Möglicherweise haben sie zum Bei- wir heute sind. Sie werden in den Ausschußberatun- spiel den Autobahnlärm von links und das Kreischen gen Gelegenheit bekommen, sich positiv auf diesen der Güterzüge von rechts; sie sitzen genau dazwi- Vorschlag zu beziehen. schen. Beide Einzelgeräusche sind knapp unter dem Grenzwert. Zusammen sind sie weit über dem Grenzwert. Aber sie können keine Rechtsansprüche Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Herr Kollege geltend machen, weil es sich um die Summe aus Schmidt, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kolle- zwei verschiedenen Geräuschen handelt. So wahn- gen Bargfrede? sinnig ist die Situation im Moment. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997 14163

Albert Schmidt (Hitzhofen) Dabei kann es nicht bleiben. Wir schlagen deshalb Notwendigkeit einer umfassenden Lärmvorsorge vor, daß man hier nicht so lebensfremd verfährt, son und -sanierung leugnen wollen. dern Bezug nimmt auf das, was die Menschen hören, (Beifall des Abg. Albe rt Schmidt [Hitzhofen] und das ist das Geräusch in seiner Summe aus ver- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) schiedenen Verkehrsadern, aus verschiedenen Ver- kehrsachsen. Darauf muß man sich beziehen. Diese Andererseits - das ist die Kehrseite der Medai lle und Ansicht teilt im übrigen auch der Petitionsausschuß gehört mit dazu - lassen sich mit den in den Vorlagen des Bundestages, wenn er sagt, daß dem Geist der erhobenen und auf den ersten Blick, Herr Kollege Immissionsschutzgesetzgebung durch das bisherige Schmidt, durchaus attraktiven Forderungen nach Verfahren widersprochen wird. weitreichenden Maßnahmen zum Lärmschutz sicher- lich einige Punkte auf der nach oben offenen Populi- stikskala machen, Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Herr Kollege, Sie achten auf die Zeit! (Elke Ferner [SPD]: Sie kennen sich da ja bestens aus!) womit sich dann umgekehrt trefflich behaupten läßt, Albert Schmidt (Hitzhofen) (BÜNDNIS 90/DIE daß die böse Koalition die Bürger in der Verkehrs- GRÜNEN): Ich komme zum Schluß. lärmkatastrophe alleine läßt - oder zumindest so ähn- lich. Es gibt noch eine Fülle von Einzelmaßnahmen, die wir vorgeschlagen haben, die Sie im Antrag werden Nicht zu leugnen ist allerdings die Tatsache, daß nachlesen können. Wir werden bei der Ausschußbe- für die teils tauglichen, teils weniger brauchbaren ratung Gelegenheit haben, im einzelnen darüber zu Vorschläge der Opposition, das hochindustrialisierte sprechen. Deutschland mit seiner hohen Verkehrsdichte gewis- sermaßen zu einer Oase der Ruhe zu machen, über Ich finde, sowohl der Antrag der SPD, der heute in das gegenwärtige Niveau hinaus kaum finanzielle abschließender Lesung zur Abstimmung steht, als Mittel zur Verfügung stünden. auch unser Antrag verdienen Unterstützung, wobei Das ist im übrigen kein sonderlich neues Phäno- ich zumindest die Hoffnung habe, daß in Einzelpunk- men; denn auch in der Vergangenheit waren Forde- ten jenseits grundsätzlicher Differenzen Einigung rungen nach mehr Lärmschutz billig und letztlich nur über das eine oder andere möglich ist. Die Menschen dazu da, Erwartungshaltungen zu erzeugen, die aber draußen, die vom Lärm geplagt sind, freuen sich angesichts der Kosten nie und nimmer erfüllt werden über jeden konkreten Einzelschritt, und sei er noch konnten. Das gilt losgelöst von der jewei ligen Regie- so klein, der ihre Situation erleichtert. An sie sollten rungsmehrheit, die das Sagen hatte. wir denken und nicht nur an das Portemonnaie des Finanzministers, der davon auch nicht reicher wird. So verhält es sich auch mit dem vorliegenden Ent- wurf eines Verkehrslärmgesetzes. Er entspringt dem (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, streng staatsgläubigen Politikverständnis von Bünd- bei der SPD und der PDS) nis 90/Die Grünen, daß mit einem Gesetz alle Pro- bleme gelöst werden könnten. (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat der Kollege Horst Friedrich, F.D.P. DIE GRÜNEN]: Das glauben Sie doch nicht im Ernst!) Offenbar unberücksichtigt sind dabei wiederum die Horst Friedrich (F.D.P.): Herr Präsident! Meine Da- finanziellen Folgen geblieben, die ein einklagbarer men und Herren! Der Lärm entwickelt sich ganz of- Rechtsanspruch auf Lärmschutz, wie im Gesetzent- fensichtlich zum Lieblings- und Dauerthema von wurf beziehungsweise im SPD-Antrag vorgesehen, SPD und Bündnis 90/Die Grünen, insbesondere der hervorruft. Verkehrslärm. Der der Beschlußempfehlung des Ver- kehrsausschusses zugrundeliegende Antrag war be- Für die Lärmsanierung an den bestehenden Schie- reits mehrfach Gegenstand von Beratungen im Ple- nenwegen des Bundes würden weit mehr als 4 Mil- num und in den Ausschüssen. Es hat eine umfangrei- liarden DM erforderlich sein. Hinzu kämen mehr als che Anhörung gegeben, die schon zitiert worden ist. 7 Milliarden DM für die Lärmsanierung an Straßen, Es liegt nun auch noch ein Antrag auf Vorlage eines von denen allerdings die Länder, Kreise und Ge- Entwurfs eines Verkehrslärmschutzgesetzes vor. In meinden alleine rund 5,5 Milliarden DM aufzuwen- der letzten Woche haben wir uns über den Fluglärm den hätten. unterhalten. Ich kann mir nicht vorstellen, daß die Mehrheit im Bundesrat diesen Vorschlag mit sehr großer Freude Der Grund für das Lärmen der Opposition ist rela- aufnehmen würde, von den Kommunen ganz zu tiv offensichtlich: Das Thema Lärm ist angesichts des schweigen. Es wäre sicher auch den Bürgern kaum knappen Geldes und der nicht zu leugnenden Bela- zu vermitteln, wenn sie für eine umfassende Lärmsa-- stung durch Verkehrslärm ein für die die Regierungs- nierung neue Belastungen zu tragen hätten. verantwortung tragenden Fraktionen ausgesprochen undankbares. Einerseits nämlich - das muß deutlich Über die negativen Auswirkungen von Verkehrs- gemacht werden - kann niemand in diesem Haus die lärm besteht weitgehend Einigkeit. Zwar werden wie 14164 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Feb ruar 1997

Horst Friedrich immer verschiedene Lärmquellen auf gleichem Ni- Bund an der neuen ICE-Strecke Köln - Rhein-Main, veau subjektiv unterschiedlich beurteilt. Es hängt die nachweislich in Teilen parallel zur bereits existie- auch davon ab, wo der Lärm entsteht: Eine Ge- renden Autobahn A 3 verläuft, erstmals Lärmschutz- räuschkulisse von 60 dB(A) im Urlaub wird immer maßnahmen verwirklichen, obwohl für einen solchen noch als erholsam empfunden, 55 dB(A) in der Nacht Fall - noch - keine gesetzlichen Regelungen existie- sind hingegen störend. Doch trotz unterschiedlicher ren. Ergebnisse entsprechender Untersuchungen zu den Auswirkungen von Lärm auf die Gesundheit scheint So wünschenswert mehr Lärmschutz auch sein festzustehen: Lärmbelastungen stellen unter be- mag, es muß doch auch differenzie rt werden. Nicht stimmten Bedingungen nicht unerhebliche Gesund- immer bringen aktive Immissionsschutzmaßnahmen heitsrisiken dar und können Auslöser sowohl psychi- wie Lärmschutzwände oder -wälle die gewünschten scher als auch physischer Erkrankungen sein. Das ist oder - besser gesagt - erwarteten Effekte. Insbeson- ganz unstrittig. dere an den bestehenden Schienenstrecken, die, wo Es wäre allerdings falsch, den Eindruck zu erwek- sie als Lärmquelle störend wirken, in der Regel in ken, als würde in unserem Land im Bereich Lärm- städtischen Bereichen verlaufen, sind Schallschutz- schutz überhaupt nichts geschehen. Als Mittelpunkt maßnahmen technisch und finanziell nur sehr der Gesetzgebung haben sich das Bundes - Immissi- schwierig zu realisieren. Auch im Bereich des inner- onsschutzgesetz und dessen Durchführungsverord- örtlichen Straßenverkehrs sind dem herkömmlichen nungen weitestgehend bewährt. Auch wenn die Lärmschutz durchaus Grenzen gesetzt. Ich glaube, Bundes-Immissionsschutzverordnung keine Bestim- Mauern durch Städte sollten eigentlich der Vergan- mungen zur verbindlichen Lärmsanierung an be- genheit angehören. stehenden Strecken beinhaltet, zeigt die Summe von immerhin 4,3 Milliarden DM, die bis 1994 für Lärm- Langfristig vielversprechender erscheint uns im schutzmaßnahmen ausgegeben worden ist, daß der Hinblick auf das Minderungspotential die Forcierung Bund nicht untätig bleibt und daß deswegen gewisse der Lärmminderung an den Geräuschquellen selber, Vorwürfe zumindest teilweise ins Leere laufen. Die erst vor wenigen Tagen in Kraft getretene (Beifall der Abg. Lisa Peters [F.D.P.]) Schallschutzmaßnahmenverordnung bringt eine er- neute Verbesserung im Interesse der vom Verkehrs- lärm betroffenen Bürger. Gegenwärtig wird im Um- wobei durch technische Maßnahmen am Pkw oder weltministerium eine neue TA Lärm erarbeitet. Lkw bis zu 8 dB(A), beim Schienenschleifen oder lärmtechnisch optimierten Bau von Schienenfahrzeu- Dennoch gibt es aus Sicht der F.D.P. Bereiche, in gen gar bis zu 20 dB(A) erreicht werden können. denen über die bestehenden Bestimmungen nachge- dacht werden muß. Zwei seien an dieser Stelle ge- (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ nannt: der sogenannte Schienenbonus, der aus unse- DIE GRÜNEN]: Kostet aber auch Geld!) rer Sicht insbesondere auf hochfrequentierten Strek- ken nur bei optimalen technischen Voraussetzungen an Fahrzeugen und Fahrweg gerechtfertigt sein Die Bahn forscht darüber hinaus im Rahmen ihres dürfte, und der bei paralleler Streckenführung von Lärmreduktionsprogramms in zahlreichen Bereichen, Straße und Schiene entstehende Bündelungslärm - um die Lärmemissionen ihrer Züge weiter zu mini- dieser Punkt ist schon angesprochen worden -, dem mieren. Mit Maßnahmen wie dem Einbau elastischer durch die bestehenden, lärmtechnischen unter- Zwischenplatten zwischen Betonunterbau und Gleis schiedlichen Regelungen nicht wirksam begegnet beim festen Fahrweg bis hin zum Gemeinschaftspro- wird. Das ist, glaube ich, ziemlich unstrittig. jekt ,,Low-noise train" sind die Weichen zu einem deutlichen Minus an bahnbedingtem Lärm längst ge- Zudem ist es in der Vergangenheit zu geradezu un- stellt. sinnigen Lärmschutzmaßnahmen an parallel verlau- fenden Strecken gekommen, bei denen die ohnehin knappen Mittel alles andere als wirksam eingesetzt Auch im Straßenverkehr haben sich die Verbin- wurden. dung von berechenbaren europaweiten Grenzwer- ten für Kfz, die seit 1980 insgesamt dreimal ver- (Beifall des Abg. Albe rt Schmidt [Hitzhofen] schärft worden sind, und die Verbesserungen am [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Fahrzeug bewährt. Die letzte Absenkung des Lärm- Die Koalition hat dies allerdings erkannt und im Aus- grenzwertes für Pkw von 77 dB(A) auf 74 dB(A) ent- schuß für Verkehr die entsprechenden Beschlüsse spricht einer Halbierung der Schalleistung. Die gefaßt. Lärmminderung bei den schweren Lkw ist noch ein- drucksvoller: 25 neue Lkw von heute sind so laut wie Durch den von der Bundesregierung vorzulegen- ein einziger aus dem Jahre 1980. Da ab einem Anteil den Bericht über technische Entwicklungen bei Fahr- von 10 Prozent am Straßenverkehr der Schwerlast- wegen und Fahrzeugen wie beispielsweise bei Rei- verkehr bereits die Hauptlärmquelle darstellt, sind fen, Zug- und Wagenrädern, Straßenbelägen und die Fortschritte in dem Bereich besonders wirksam. Gleiskörpern werden wir sicherlich we rtvolle Er- Deswegen ist es, Herr Kollege Schmidt, auch relativ kenntnisse gewinnen, ob und inwieweit der Schie- unsinnig, dauernd Tempobeschränkungen von nenbonus noch gerechtfertigt ist oder gegebenen- 100 km/h auf den Autobahnen zu fordern. In der Re- falls modifiziert werden muß. Darüber hinaus soll der gel ist der Anteil von Lkw auf Autobahnen höher als Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997 14165

Horst Friedrich 10 Prozent. Damit bringen 100 km/h überhaupt denten unterstellt, gebe ich zunächst einem Promi nichts. und dann einem Privilegierten zum Thema Lärm das Wort. Erstes Zitat: (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Sie haben meinen Antrag Nunmehr habe ich, als den ... schändlichsten nicht gelesen! Da steht extra etwas für Lkw! Lärm, das wahrhaft infernalische Peitschenknal- Lesen Sie nach!) len in den hallenden Gassen zu denunzieren, welches dem Leben alle ... Sinnigkeit nimmt .. . Diese pauschalen Forderungen klingen in etwa so, als wenn ich nach einem Mittel rufe, das vom Fußpilz (Horst Friedrich [F.D.P.]: Schopenhauer!) bis zum Haarausfall gegen alles wirken soll. Das klappt nicht. Fuhrknechte, Sackträger, Eckensteher und der- gleichen sind die Lastenträger der menschlichen Durch Anreizmechanismen wie zum Beispiel Fahr- Gesellschaft; sie sollen durchaus human behan- verbotsausnahmen muß auf diesem erfolgverspre- delt werden. Aber ihnen darf nicht gestattet sein, chenden Weg weitergegangen werden. Ich verweise durch mutwilligen Lärm den höheren Bestrebun- auf die Erfahrungen mit den Sta rt- und Landegebüh- gen des Menschengeschlechts hinderlich zu ren am Flughafen. Die seit 1996 europaweit gelten- werden. den neuen Geräuschgrenzwerte für Pkw, Lkw und Busse könnten dabei ebenfalls eine Etappe sein. Zitat Nummer zwei: Zum Abschluß sei noch einmal gesagt: Lärm ist ein Gefährlich, da unerwartet, ist der plötzliche Problem; keiner kann das gering achten. Die F.D.P. Lärm: Schrilles Autohupen ist durchaus in der ist sich dessen bewußt und wird deswegen auch die Lage, die feinen Härchen im Innenohr - die vielfältigen Anstrengungen und Erfolge in den Berei- Transporteure des Schalldrucks - zu zerbrechen. chen der Lärmvorsorge, der Lärmsanierung und der Irreversible Hörschäden sind dann die Folge. Lärmforschung weiterhin unterstützen. Allerdings - Das erste Zitat - es ist gesagt worden - stammt von auch das muß klar sein - wird der Lärmbekämpfung dem Philosophen Arthur Schopenhauer, mit einem Gesetz ohne entsprechende realistische Mittelausstattung allenfalls ein Bärendienst erwie- (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ sen. Deswegen werden wir den Antrag der SPD ab- DIE GRÜNEN]: Sehr gut, Herr Kollege lehnen. Friedrich!) Noch ein Wort zu Ihrem Antrag, Herr Kollege das zweite aus „Profitravel", einer Beilage zur Schmidt. Es wird Sie nicht überraschen, daß wir die- „Wirtschaftswoche", die sich vor allem an Geschäfts- sem Gesetz unsere Zustimmung nicht geben können. reisende wendet. Zwischen beiden Zitaten liegen Ich zitiere einmal aus Ihren Vorschlägen: knapp eineinhalb Jahrhunderte. Straßenlärm ist durch ... die Möglichkeit von Als ich auf der Anhörung des Verkehrsausschusses Fahrverboten ... auf Gemeindestraßen in Kur- zum Thema Verkehrslärm Anfang letzten Jahres vor und Erholungsorten . . ., zeitlich bef ristete Fahr- dem Lärmsachverstand der Nation das Schopen- verbote insbesondere am Wochenende und Stra- hauer-Zitat wiedergab, antwortete Professor Ising ßenrückbau zugunsten niedrigerer Geschwin- vom Umweltbundesamt, es gebe, ergänzend zu digkeiten zu begegnen. Stichstraßen in Erho- Schopenhauer, „auch ein uraltes Zitat über Lärm- lungsgebiete sind grundsätzlich für den motori- schwerhörigkeit"; das „steht in der Bibel" . Er fuhr sierten Individualverkehr ... zu sperren .. . fort : (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ Aber die Menge des Verkehrslärms, also Umwelt- DIE GRÜNEN]: Oberstdorf Innenstadt!) lärm, mit Dauerschallpegeln über 70 und bis zu Das ist eine Greuelliste moderner bündnisgrüner 80 Dezibel, das hat es zu Schopenhauers Zeiten Politik, die unsere Zustimmung nicht finden kann. nirgends auf der Welt gegeben. Damit ist diese Ich bin interessiert daran, wie die anderen Leute, die Lärmbelastung wirklich in eine neue Qualität ge- diesen Gesetzentwurf lesen, tatsächlich über Ihre kommen. Damit wird bei den heutigen Menschen Vorschläge denken. das Leben durch Lärm verkürzt. Herzlichen Dank. Dabei geht es im Grunde gar nicht primär um Lärm im Extrembereich und um Lärmtote. Die neue Quali- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU - tät wird von dem Dauerlärm, dem wir ausgesetzt Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ sind, bestimmt. Seit der Jahrhundertwende hat sich DIE GRÜNEN]: Sie müssen einmal nach der Lärm einer Großstadt mehr als verdreifacht. Oberstdorf in Urlaub fahren! Dann sehen Sie, wie man das macht!) Der Duden kann gar nicht so schnell Krach schla- gen, wie Lärm sich in neuen Vokabeln niederschlägt: „Verlärmung", „Lärmteppich", „akustischer Müll", hat der Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort „Lärmabfall", „Flüsterasphalt", „Schalldruck" - das Kollege Dr. Winfried Wolf, PDS. ist nur eine Auswahl aus dem modernen Lärmlexi- kon. Im übrigen fügt sich das hier debattierte Wo rt Dr. Winfried Wolf (PDS): Werter Präsident! Werte -ungetüm - ich weiß, es geht manchmal nicht anders - Damen und Herren! Die Erlaubnis des Herrn Präsi- eines Verkehrslärm-Schutzgesetzes in die Reihe der 14166 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997

Dr. Winfried Wolf Erweiterung unseres Wortschatzes in Folge fortge- bau stehen überall ganz oben auf den Tagesordnun- setzter Zerstörungsprozesse ein. gen. Demnach müßten Lkw-Verkehr, Flugverkehr und allgemeiner Kfz-Verkehr im Zentrum jeder Apropos Zerstörung, diese trifft auch die Lyrik. Lärmbekämpfung stehen. Wer kann noch glaubwürdig rezitieren: (Horst Friedrich [F.D.P.]: Das ist doch losge- Über allen Gipfeln ist Ruh, löst von der Realität!) in allen Wipfeln spürest du kaum einen Hauch ... Es gibt kostenneutrale und sehr effiziente Forde- rungen zur Entlärmung, die nicht von der Realität Darauf, daß solche Lyrik im Lärm moderner Zeiten losgelöst sind, Herr Friedrich. Geschwindigkeitsbe- untergeht, verweisen recht prosaisch die beiden zur schränkungen, Nachtfahrverbote für Lkw und Debatte stehenden Anträge. Diese stellen fest, daß Nachtflugverbote für Airpo rts sind solche Maßnah- selbst in Erholungsgebieten die Verlärmung über- men. Dies wird hier eher en passant diskutiert, wohl, und unterhalb der abgestorbenen Wipfel enorm zu- weil bekannt ist, daß der Trend in die entgegenge- genommen hat. setzte Richtung geht und zum Beispiel auch unter Dabei könnte der Teufelskreis kaum deutlicher Rot-Grün in Nordrhein-Westfalen der Nachtflugver- werden: Die bisher noch ruhigen Erholungsräume kehr ausgeweitet wird. werden dadurch verlärmt, daß die Menschen unter (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ dem Lärmteppich des Dickichts der Städte hervor- DIE GRÜNEN]: Daran sind wir aber kriechen, in ihre lärmenden Blechkisten steigen, auf unschuldig!) lärmenden Autobahnen und Schnellstraßen - teil- weise entlang von Lärmschutzwänden - in diese Er- Statt diese entscheidenden Maßnahmen ins Zen- holungsräume flüchten, um hier selbst hochtoxischen trum zu stellen, wird ausgiebig über immanent-tech- Lärmsondermüll zu hinterlassen. nische Entlärmungsmöglichkeiten debattiert. Bege- ben wir uns für einen Augenblick konkret auf diese Jetzt also ist das deutsche Parlament aufgefordert, profane Ebene: Allein das Verbot von breiten Reifen in Sachen Lärmschutz aktiv zu werden. Die beiden - oder Lärmemissionsgrenzwerte für Reifen in Ver- zur Debatte stehenden Anträge gehen in die richtige bindung mit Tempolimits - würde eine Lärmminde- Richtung. Wir können beiden zustimmen, auch dem, rung bewirken, die weit mehr als alle anderen tech- was vor mir die Kollegin Graf und der Kollege nisch-immanenten Forde rungen zur Lärmminderung Schmidt ausführten. bringt. Es sind nämlich die Reifen, die ab einer be- Wir sollten uns jedoch als Ausgangsbasis für alle stimmten Geschwindigkeit entscheidend für den Rufe nach „Silentium" vier zentrale Grundlagen der emittierten Lärm eines Kfz sind. Ein abgekapselter Lärmproblematik vor Augen halten: Motor oder ein Auspuff-Schallschutz sind da drittran- gig. Doch wir stellen eine andere, immer mehr Lärm Erstens. Gut die Hälfte des aktuellen Lärmmülls ist produzierende Tendenz fest: Die Reifen werden im- Folge des Straßenverkehrs. mer breiter, es gilt „dick ist schick", auch wenn dies Zweitens. Der Lkw-Verkehr, der „nur" 10 Prozent die Verkehrssicherheit unterminiert - Stichwort des Kraftfahrzeugverkehrsaufkommens ausmacht, ist Aquaplaning - und die Raserei begünstigt. zu rund der Hälfte für den gesamten Kraftfahrzeug- Oder als weiteres Beispiel der Schienenverkehr, verkehrslärm verantwortlich. der, wie ich sagte, ein wesentlicher Lärmemittent ist: Drittens. Rund ein Drittel aller Haushalte, die über Nirgendwo findet sich auch nur ein Wort zur „festen „erhebliche Lärmbelästigung" klagen, macht dafür Fahrbahn". Diese neue, statt im Schotterbett korn- den Fluglärm als wesentlichen Lärmemittenten aus. plett in Beton verlegte Schienenfahrbahn ist nicht nur hinsichtlich der Haltbarkeit und der höheren Ko- Viertens. Der Schienenverkehr ist ebenfalls we- sten problematisch, sie ist auch mit erheblich hö- sentlicher Lärmemittent, was veralteter Technik und heren Lärmemissionen verbunden. Dennoch wird ex- der besonders unzureichenden gesetzlichen Grund- akt diese Schienentechnik trotz entgegenlautender lagen in dem Sektor geschuldet ist. Empfehlung des Bundesrechnungshofes unter ande- rem bei den neuen Hochgeschwindigkeitsstrecken Wenn wir diese vier Erkenntnisse in die Debatte verwandt. Und wieder finden sich die neuen Bundes- einbringen, dann läßt sich doch ganz ruhig und sach- länder in der Rolle der Versuchskaninchen. lich feststellen: (Horst Friedrich [F.D.P.]: Das ist doch gar Der Straßenverkehr im allgemeinen soll laut Bun- nicht wahr!) desverkehrswegeplan weiter wachsen. Diesbezüg- lich ist seit Jahrzehnten Planübererfüllung zu ver- Zum Schluß nochmals zurück zum eingangs ange- melden. Beide zur Debatte anstehenden Anträge be- führten Zitat aus der „Wirtschaftswoche". Do rt heißt handeln übrigens den hieraus resultierenden ent- es auch: scheidenden Aspekt der Verkehrsvermeidung eher stiefmütterlich. Der wahre Gegner der Gesundheit ist der Dauer- lärm. ... Auch vor dem heimischen Aktenberg- Der Lkw - Verkehr wächst gut doppelt so schnell lauern Dezibel überall. Egal welcher Arbeits- wie der Pkw-Verkehr. Er soll sich in den kommenden platz, ob Schreibtisch oder Bildschirm, Lärm . . . 15 Jahren nochmals verdoppeln. Der Luftverkehr ist immer präsent. Selbst das monotone ,Singen' wächst nochmals schneller. Flughafenbau und -aus eines modernen PC, hervorgerufen durch Venti- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997 14167

Dr. Winfried Wolf latoren, ... kann das Gehör nachhaltig strapazie- Hause aber 50 dB(A) bei einem Lkw als sehr lästig ren ... Wer am Bildschirm arbeitet, sollte [daher] empfindet. so oft wie möglich den PC einfach abschalten. (Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Diese Worte richten sich wohlgemerkt an Geschäfts- NEN]: Das ist auch ein ziemlicher Unter- leute, an Profi-Traveller. Wir sind uns alle, insbeson- schied!) dere mit der F.D.P., einig, daß dies eine hochsensible Insofern ist es schwierig, wirklich eine Antwort von Klientel ist, die nicht nur scheu wie ein Reh in ruhige Rechts und Gesetzes wegen zu geben. Steueroasen flüchtet, sondern auch ein offenes Ohr für die eigene Gesundheit betreffende Argumente Es ist sicher so, daß Menschen in unserem Lande hat. durchaus über Jahre, möglicherweise Jahrzehnte, so sehr von Lärm belästigt wurden, daß sie dabei krank In diesem Sinne sollten wir partei-, gruppen- und geworden sind. Auf der anderen Seite stellen wir klassenübergreifend fest, daß sich junge Leute, aber nicht nur junge Leute, Kopfhörer auf den Kopf setzen und ich weiß (Lisa Peters [F.D.P.]: Klassen haben wir nicht wieviel dB(A) sich selbst freiwillig zumuten. nicht mehr!) Man fährt zu Rockkonzerten, den Schlußsatz des Zitats verallgemeinern und in (Elke Ferner [SPD]: Da geht man ja auch aller Ruhe - fernab jeglichen kleinlichen Parteien- freiwillig hin!) gezänks und -lärms, versteht sich - man hört laute Musik und lautes Fernsehen. Wenn (Horst Friedrich [F.D.P.]: Aber nicht allzu ich hier in Bonn an die Heussallee denke, stört mich oft!) manchmal nachts noch ein leiser Fernsehapparat, der von einer anderen Wohnung in mein Zimmer diesen Satz sinngemäß, Herr Friedrich, in Gesetzes- dringt. Ich schätze einmal, daß es sich dabei nur um form gießen: So oft wie möglich „einfach abschal- 10 dB(A) handelt. Aber das ist mir nachts um 1 oder ten" . 2 Uhr auch schon zuviel. Danke schön. (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Jetzt geht's aber schon noch (Beifall bei der PDS und dem BÜNDNIS 90/ zur Sache!) DIE GRÜNEN) Um dem Ernst dieses Themas gerecht zu werden, möchte ich noch einmal darauf hinweisen, daß wir Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat gesetzliche Grenzwerte haben, wie sie in keinem an- jetzt der Parlamentarische Staatssekretär Manfred deren Land Europas bestehen. Das gilt nicht nur für Carstens. den Lärmschutz. Wir haben zwischenzeitlich bei uns ein Qualitätsniveau, zum Beispiel im Bereich des Na- tur- und Umweltschutzes, erreicht, daß man sagen Manfred Carstens, Parl. Staatssekretär beim Bun- kann: Die Gelder, die wir für Lärmschutz, für die Er- desminister für Verkehr: Herr Präsident! Meine ver- haltung von Natur und Umwelt im Zusammenhang ehrten Kolleginnen und Kollegen! Es gibt keinen mit dem Straßenbau ausgeben, stellen für unser Zweifel, daß wir heute ein wichtiges Thema behan- Land ein unvergleichliches Markenzeichen gegen- deln. Es gibt auch keinen Zweifel daran, daß sich über allen anderen Ländern dar. viele Bürger in unserem Lande durchaus durch Ver- kehrslärm belästigt fühlen. Wenn man in den ver- (Zuruf von der F.D.P.: Richtig!) schiedenen Regionen unseres Landes unterwegs ist, Wir halten es für notwendig, das Geld für diese Be- dann spürt und hört man das und möchte manchmal reiche auszugeben. Das wird auch für die weiteren auch mehr helfen, als man dazu in der Lage ist. Jahre gelten. Man muß aber auch wissen, daß wir in unserem Wir wollen darüber hinaus in unserem Land - dar- Lande unwahrscheinlich viel nicht zuletzt gegen den auf ist eben schon von dem Kollegen Bargfrede hin- Verkehrslärm tun, daß bei uns unvergleichlich mehr gewiesen worden; die Bundesregierung hält dies geleistet wird und es mehr gesetzliche Auflagen gibt auch für wichtig - den Lärm vor allen Dingen schon als in irgendeinem europäischen, geschweige denn an der Quelle beseitigen. außereuropäischen Land. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge ordneten der F.D.P.) Das ist das Entscheidende, das nicht nur hier bei uns in Deutschland, sondern überall in der Welt gesche- Wir haben ja bei der Anhörung der Sachverständi- hen muß. Es kann nicht der Weisheit letzter Schluß gen Anfang 1996 gehört, daß das Thema Lärm auch sein, kreuz und quer durch Deutschland an Schie- psychologisch sehr interessant ist. Es ist ja hier schon nenstrecken und an Straßen Lärmschutzwände zu er- der eine oder andere Vergleich angesprochen wor- richten. Es wäre wunderschön, wenn es im Verlauf - den. Ich erinnere mich noch an das Beispiel eines der Jahre gelingen könnte, durch technische und Sachverständigen, der darauf aufmerksam machte, wissenschaftliche Fortschritte zu erreichen, daß die daß ein Urlauber, an einem Wasserfall übernachtend, gesetzlich vorgeschriebenen Werte auch ohne solche 80 dB(A) durchaus als erholsam betrachten könne, zu Lärmschutzwände eingehalten werden könnten. 14168 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997

Parl. Staatssekretär Manfred Carstens

Wieso schließt man das eigentlich aus? Wir haben Neubaustrecke Köln - Frankfurt werde ich gleich doch schon gewaltige Entwicklungen hinter uns. noch gesondert eingehen, wenn es die Zeit zuläßt. Es ist natürlich in erster Linie nicht die Frage des Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Herr Staatsse- Lärms aufgeworfen, wenn man bei einer neuen kretär, gestatten Sie Zwischenfragen - ich frage Strecke eine Betonfahrbahn, also eine feste Fahr- gleich für beide - des Kollegen Schmidt und des Kol- bahn, im Rahmen eines Pilotprojektes realisieren legen Dr. Schuster? will, um dort Erfahrungen zu sammeln. Mit Blick auf die Lärmproblematik, die Sie angesprochen haben, Manfred Carstens, Parl. Staatssekretär beim Bun- möchte ich zum Ausdruck bringen und zusagen, daß desminister für Verkehr: Ja. das, was wir zu dieser Neubaustrecke gesagt haben, auch weiterhin gilt. Wir haben gesagt, daß die Be- wohner an dieser Strecke durch das Anlegen dieser Bitte sehr, Herr Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Neubaustrecke des Schienenweges nicht zusätzlich Kollege Schmidt. durch Lärm belästigt werden, ob mit fester Fahrbahn oder ohne feste Fahrbahn. Das gilt weiterhin auch Albert Schmidt (Hitzhofen) (BÜNDNIS 90/DIE über den heutigen Tag hinaus. GRÜNEN): Herr Staatssekretär, ich habe eine ganz konkrete Zwischenfrage zu Ihrem letzten Satz Ihrer (Beifall bei der CDU/CSU) Rede. Sie haben von den technischen Fortschritten Herr Kollege Schmidt, Sie haben die Frage aufge- gesprochen. Ich frage Sie: Ist Ihnen bekannt - das worfen, ob mir diese technischen Neuerungen be- hat im übrigen auch der Kollege F riedrich ausge- kannt sind. Selbstverständlich sind sie bekannt. Ich führt -, daß es diese technischen Fortschritte gibt, weiß nicht, ob ich auf Anhieb diese Minderung um daß Sie durch einen Mix von Maßnahmen - die be- 20 dB(A) bestätigen kann. Aber es ist eine erhebliche rühmten Lärmschürzen, die am Rand des Güterwag- Minderung. Nicht zuletzt Heinz Dürr ist auf diesem gons angebracht werden, und eine ganz niedrige Gebiet tonangebend gewesen, was er bei einem Be- Lärmschutzmauer in unmittelbarer Gleisnähe, die such anläßlich einer Aussprache im Verkehrsaus- nicht höher ist als 38 Zentimeter - eine Verminde- schuß dargetan hat, um mit dazu beizutragen, daß rung des Lärmes am Güterzug um bis zu 20 dB(A) er- wir durch technische Neuerungen imstande sind, mit reichen können, was eine Absenkung des Lärmni- einem relativ geringen Finanzaufwand zu erhebli- veaus auf nur noch ein Viertel bedeutet? Ist Ihnen be- chen Lärmreduzierungen zu kommen. kannt, daß dies nicht eine Frage der technischen Ent- wicklung - diese technischen Möglichkeiten gibt es; (Gila Altmann [Aurich] [BÜNDNIS 90/DIE sie sind von der DB AG getestet worden -, sondern GRÜNEN]: Warum tun Sie es dann nicht?) eine Frage der Finanzierung ist? Sie müssen Geld da- Wir setzen uns dafür ein. Wir werden auch durchset- für zur Verfügung stellen. zen, mit der Bahn zusammen, daß diese technischen Neuerungen schnellstmöglich umgesetzt werden. Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Herr Staatsse- kretär, sollen wir die Frage von Herrn Dr. Schuster Aber den ersten Teil Ihrer Frage sehe ich noch gleich dazunehmen? nicht so weit, als daß er von heute auf morgen schon umgesetzt werden könnte. Das Anbringen von Ge- räuscheinschränkungsmitteln an der Lokomotive Manfred Carstens, Parl. Staatssekretär beim Bun- und der Bau von niedrigen Lärmschutzwänden, auch desminister für Verkehr: Ja. wenn sie niedriger sind, nahe an dem Fahrweg wird sicherlich von der Bahn bald aufgegriffen werden, Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Bitte. vor allen Dingen bei Vorsorgemaßnahmen. Wenn ich richtig informiert bin, haben wir das auf Dr. R. Werner Schuster (SPD): Ich bedanke mich, der Strecke Hamburg-Berlin im dortigen laufenden Herr Präsident. Planfeststellungsverfahren schon vorgesehen, Herr Staatssekretär, ich kann Ihren Ausführungen (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ nur zustimmen, daß man, wenn irgendwie möglich, DIE GRÜNEN]: Ich dachte, da ist der Trans den Lärm bereits an der Quelle packt. Können Sie rapid!) mir sagen, warum Sie dann ausgerechnet bei der ICE-Schnellbahn Frankfurt-Köln, da Sie doch die so daß ich Ihnen möglicherweise schon in den näch- Probleme kennen, die Betonbahn bauen, die 4 bis sten Tagen schriftlich mitteilen kann, daß auch schon 5 Dezibel Lärm zusätzlich verursacht? Jeder weiß, eine solche technische Neuerung an einer Strecke daß diese feste Fahrbahn anstelle des Schotters - ich der DB AG angewandt wird. Ich bin aber nicht si- bin kein Verkehrspolitiker - erstens zusätzliches cher, das jetzt hier festverbindlich sagen zu können. Geld kostet und zweitens die zusätzlichen 4 bis Aber wenn es dort nicht geschehen ist, dann wird es 5 Dezibel Lärm, die einen Sprung in der Lärmbela- bald sehr schnell in die Tat umgesetzt werden. stung darstellen, ausmacht. Wir haben bei dem Versuch, schon an der Quelle - zu Lärmminderungen zu kommen, erhebliche Fo rt Manfred Carstens, Parl. Staatssekretär beim Bun- -schritte zu vermelden. Es sind eben schon einige desminister für Verkehr: Herr Kollege Schuster, ich Zahlen und Vergleiche genannt worden, zum Bei- möchte mit Ihrer Frage anfangen. Auf das Thema spiel daß zwei Pkw nun nicht lauter sind als vor zehn Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997 14169

Parl. Staatssekretär Manfred Carstens Jahren noch ein Pkw, oder daß zehn Lkw und Omni- Stück, wenn nach den Ausführungen, die die ver- busse vom Baujahr 1994 zusammen nur noch so laut schiedenen Kollegen - und auch ich in den ersten sind wie ein einziger Lkw vom Anfang der 80er fünf Minuten meiner Rede - gemacht haben, noch Jahre. immer gesagt wird, daß nichts getan werde. Entwe- der hört man nicht zu, oder man ist nicht bereit, auf Wir müssen auch in anderen Bereichen weiter auf die Argumente, die vorgetragen werden, einzuge- Innovation setzen, zum Beispiel bei der Entwicklung hen. leiser Reifen und lärmmindernder Straßenbeläge. Da haben wir - der Kollege Bargfrede hat auch das an- (Beifall bei der CDU/CSU) gesprochen - schon bei dem flüsternden Asphalt zwi- Vielleicht bestehen ja auch Hörschäden, oder viel- schenzeitlich eine Reduzierung von 3 dB(A). Das leicht ist man auf andere Weise schon irgendwie müßte es doch eigentlich sein, es beim Fahrweg, an lärmbeeinträchtigt, so daß man das nicht ganz mitbe- den Fahrzeugen, bei den Reifen, bei der Weiterent- kommen hat. wicklung der Technologie zu schaffen, die Lärmbela- stung insgesamt zu mindern. (Elke Ferner [SPD]: Das kommt von Ihrem Lärm!) Ich sage Ihnen schon jetzt hier im Februar 1997: Bei der Position, die der Bundesrat einnimmt und Um das aber einmal aufzugreifen: Wenn man auch bei der Finanzlage des Bundes und auch der glaubt, auf den deutschen Straßen durch Geschwin- Kommunen werden wir nicht imstande sein, zu einer digkeitsbegrenzungen für Pkws - um diese kann es gesetzlichen Neuregelung zu kommen, die die ja nur gehen - zu Lärmminderungen zu kommen, Grenzwerte, die der Bund bei Ländern und Kommu- dann ist man auf dem Holzweg. Da kann man for- nen und auf allen Schienen und Straßen, die wir in schen und Gutachten anfordern, wo immer man wi ll: Deutschland haben, bei der Lärmvorsorge zuläßt. In- Auf den deutschen Autobahnen und Bundesstraßen sofern müssen wir den Versuch unternehmen, an der kommt die Lärmbelastung hauptsächlich von den Quelle dafür zu sorgen, daß der Lärm begrenzt wird. Lkws. Die Pkws - ob sie 80, 90 oder 100 und auf Das bringt für alle Bürger unseres Landes am mei- Autobahnen über 100 Stundenkilometer fahren -, sten. kommen kaum zur Geltung. Insofern ist es eine völ- lige Fehlannahme, wenn man glaubt, auf diese Weise Lärmemissionen beschränken zu können. Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Staatsse- kretär, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage der Die Belastung durch Reifen ist sicher zu beachten. Kollegin Altmann? Es könnte sein, daß das eine oder andere insgesamt zum Tragen kommt. Dazu möchte ich aber auch sa- Manfred Carstens, Parl. Staatssekretär beim Bun- gen, daß das im Vergleich zu den Belastungen, die desminister für Verkehr: Ja. ansonsten durch Lkws entstehen, auf keinen Fall zu einer Entscheidungsfindung führen kann, auf die wir gesetzlich oder rechtlich zurückgreifen sollten. Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Bitte. Wir haben neben dem Bemühen, den Lärm an der Quelle zu reduzieren - man wird ihn nie ganz beseiti- (Aurich) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Gila Altmann gen können -, eine Menge finanzieller Aufwendun- NEN): Herr Staatssekretär, Sie haben gerade darauf gen geleistet. Das haben Sie mit uns zusammen ge- hingewiesen, daß Sie alle Möglichkeiten technischer, tan. Das ist ja kein Geld der CDU/CSU, der F.D.P. aber auch sonstiger Art unter dem Aspekt von finan- oder der SPD, sondern das ist das Geld der Steuer- ziellen Engpässen prüfen und verwirklichen wollen zahler. Dieses Geld setzen wir gemeinsam ein, um und daß der Zeitaspekt eine große Rolle spielt. den Lärm da zu reduzieren, wo er nach unserer Mei- Ich würde von Ihnen gerne wissen, wie Sie den Zu- nung zu hoch ist. sammenhang zwischen Tempolimit und verringerter (Elke Ferner [SPD]: Nach Ihrer Meinung! Reifenbreite beurteilen. Wir wissen, daß es vom Das ist CDU-Meinung!) Lärmverminderungseffekt sehr viel bringt. Es gibt den Großversuch von Heilbronn, der, ich glaube, vor Es sind Beträge in Höhe von 3,6 Milliarden DM für zwei Jahren im Zusammenhang mit Ozon durchge- Lärmvorsorgemaßnahmen an Bundesfernstraßen und führt worden ist. Dabei kam heraus, daß ein Tempoli- von rund 1 Milliarde DM an den Schienenwegen al- mit eine riesige Verringerung des Lärms bewirkt. lein von 1980 bis 1995 aufgewandt worden. (Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Gar nichts Wir haben vor kurzem eine Verordnung in Kraft gebracht hat!) treten lassen: die Verkehrswege-Schallschutzmaß- nahmenverordnung. Sie regelt im Rahmen der Lärm- Zusammen mit einer technischen Neuerung, das vorsorge die Voraussetzungen dafür, daß Bewohner heißt weniger breiten Reifen, bringt das einen Effekt, und Nutzer von Gebäuden, die in der Nähe von Stra- der sofort umzusetzen wäre und weniger kostet. Da- ßen und Schienenwegen stehen, künftig noch wirk- mit haben die ganzen Argumentationen, die hier an- samer vor Verkehrslärm geschützt werden können. geführt werden, nichts zu tun und laufen letztendlich Die neue Verordnung benennt die schutzbedürftigen ins Leere. Räume, zum Beispiel Schlaf-, Unterrichts- und Büro- räume, definiert die Schutzmaßnahmen, zum Bei- Manfred Carstens, Parl. Staatssekretär beim Bun- spiel Schallschutzfenster sowie Verstärkungen an desminister für Verkehr: Es ist schon ein starkes Dächern und Außenwänden, und regelt den Umfang 14170 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997

Parl. Staatssekretär Man fred Carstens der Schutzmaßnahmen. Sie schafft eine Gleichbe- wahrscheinlich ein zweistelliger Milliardenbetrag handlung der Betroffenen und gibt den Bürgern zum Tragen kommen. mehr Rechtssicherheit. (Angelika Graf [Rosenheim] [SPD]: Gebt Wir haben aber auch klare Regelungen für Lärm- den Ländern mehr Geld, dann können sie schutzmaßnahmen an bestehenden Straßen und das auch machen!) Schienenwegen. Das muß gesagt werden. Das ist in Deswegen will ich noch einmal sagen - das gehört Deutschland deswegen nötig geworden, weil das auch dazu, um das Thema zukunftsbezogen in den Bundes-Immissionsschutzgesetz 1974 in Kraft getre- Griff zu bekommen -: Wir müssen es - bei allem ten ist. Bis 1974 sind in Deutschland - anders als bei Geld, das wir aufwenden, um den entstehenden den Schienenstrecken - viele neue Straßen gebaut Lärm zu mindern - noch besser als bisher schaffen, worden. Für diejenigen, in deren Nähe nach 1974 an der Quelle von Anfang an dafür zu sorgen, daß eine Autobahn oder Bundesstraße gebaut wurde, be- überall do , wo Verkehrswege in Anspruch genom- stand eine gesetzliche Regelung, die Lärmschutz- rt men werden, eine so deutliche Lärmreduzierung ein- maßnahmen ermöglichte. Wir als Bundesregierung tritt, daß der Lärm von den Bürgern auch wirklich er- sahen uns veranlaßt, nach Mitteln zu suchen, damit tragen werden kann. So muß der Weg eigentlich auch diejenigen Bürger, die von einer Straße, die vor sein. Solange wir das noch nicht erreicht haben, wer- 1974 gebaut wurde, Lärmbelästigung erfuhren, im den wir für Lärmvorsorgemaßnahmen und Sanierung nachhinein über eine Sanierung den entsprechenden zusätzliches Geld aufwenden müssen. Schutz erhielten. Dieser Schutz ist nicht ganz so gut wie die Lärmvorsorge bei Neubaumaßnahmen. Im Nun habe ich noch die Zeit, um - weil das Thema Vergleich aber zu den anderen Regelungen in Eu- hier auch schon angesprochen wurde - ein paar ropa und sonst in der Welt ist auch die Lärmsanie- Sätze zur Problematik der Neubaustrecke Köln rung ein vorzüglicher Schutz, den wir denjenigen Frankfurt zu sagen. Frau Kollegin Graf, Sie brauchen Bürgern geben, die an deutschen Autobahnen und sich keine Sorgen zu machen. Sie haben zwar recht Bundesstraßen wohnen. damit, daß in die Finanzierungsvereinbarungen noch nicht mehr Geld als die von Ihnen genannten Im Rahmen der Lärmschutzmaßnahmen an Bun- 439 Millionen DM eingestellt wurde. Aber ich darf desfernstraßen haben wir eine Bilanz vorzuzeigen, dazu mit einem Zwischensatz sagen: 439 Mil lionen die sich sehen lassen kann: Insgesamt haben wir DM sind überwiegend für Verkehrslärmschutzmaß- Lärmschutz- und Steilwälle in einer Länge von nahmen zur Verfügung gestellt worden. 750 Kilometern sowie Lärmschutzwände in einer Länge von rund 1 320 Kilometern errichtet. Das sind (Angelika Graf [Rosenheim] [SPD]: Das ist zusammengenommen über 2 000 Kilometer. Man Umwelt im Ganzen!) muß sich einmal vorstellen, was das bedeutet: ein Aufwand in Milliardenhöhe. Zusätzlich finanzierte Stellen Sie sich einmal vor, was das heißt, wieviel der Bund rund 600 000 Quadratmeter Lärmschutz- Geld wir insgesamt für derlei Dinge ausgeben und fenster. was für einen erheblichen Umfang das ausmacht. (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer) Nur, um bei dieser Frage zu bleiben: Wir haben zu- gesagt, daß die Bürger keine zusätzliche Lärmbela- Das ist die Leistung des Bundes, mit Steuergeldern stung erfahren werden. Das ist ein ganz schwieriges bezahlt; das muß gesagt werden. Einigen ist das Thema. Denn es kann durchaus sein, daß der neue schon zuviel, was wir für diese und für andere Dinge Schienenweg, der do rt angelegt wird, teilweise zu aufwenden. Aber es ist gesetzlich festgelegt. Das soll deutlichen zusätzlichen Belastungen führt, weil die so sein und wird auch so bleiben. Nur, das jetzt - ich Werte der Lärmvorsorge, die für das Anlegen eines sage das noch einmal - auf die Länder, auf die Kom- Schienenweges gelten, zwar nicht durch die Gesamt- munen und auf alle Schienenwege, die schon seit belastungen, die neu entstehen, wohl aber im Zu- Jahrzehnten und oft länger bestehen, übertragen zu sammenhang mit der A 3, die größtenteils parallel wollen ist einfach nicht umsetzbar. Das ist einfach läuft, erreicht werden. unrealistisch. (Gila Altmann [Aurich] [BÜNDNIS 90/DIE Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Staatsse- GRÜNEN]: Das erzählen Sie mal den Leu kretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin ten, die darunter leiden!) Graf? Man müßte eigentlich den Kollegen Schröder von Parl. Staatssekretär beim Bun- Niedersachsen einmal bitten - heute morgen war er Manfred Carstens, desminister für Verkehr: Bitte sehr, mittendrin, aber ja hier -, zu erläutern, weswegen Niedersachsen und die Mehrheit des Bundesrates den Antrag, den Nord- okay. rhein-Westfalen in den Bundesrat eingebracht hat, abgelehnt haben. Das haben sie doch nicht gemacht, Angelika Graf (Rosenheim) (SPD): Herzlichen um unsere Bevölkerung zu ärgern oder um zu sagen: Dank, Herr Staatssekretär. Ich möchte Sie darauf hin- Wir haben nichts dafür übrig, daß Lärmschutz betrie- weisen, daß sich der Umwelttitel im Ganzen auf 439 - ben wird. - Nein, sie haben es einfach deswegen ge- Millionen DM beläuft, wobei die Lärmschutzmaß- macht, weil sie das nicht bezahlen können. Das ko nahmen in diesen Umwelttitel hineingerechnet wer- stet Milliardenbeträge. Wenn man das auf die Ge- den müssen. Ich frage mich, wie Sie mit diesem Be- meindewege übertragen würde, dann würde da tray gewährleisten möchten, daß die Belastungen für Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997 14171

Angelika Graf (Rosenheim) die Bürger nicht höher werden. Ich bitte Sie, mir Abschließend möchte ich noch sagen, daß sich na- ganz konkret zu beantworten, welche Maßnahmen türlich jetzt die Frage stellt, wie es in Zukunft die Sie hierfür vorsehen. DB AG und die Bundesregierung bei vergleichbaren Strecken halten. Weil das eine sehr wichtige Frage ist, deren Lösung sehr ins Geld gehen kann, müssen Parl. Staatssekretär beim Bun- Manfred Carstens, wir darauf bestehen, daß es zunächst eine Einzelf all desminister für Verkehr: Frau Kollegin Graf, ich habe -regelung ist, daß es sich um ein Pilotprojekt handelt. gerade gesagt, daß diese 439 Millionen DM nicht da- Aber wir müssen natürlich davon ausgehen, daß eine für eingesetzt werden, sondern daß der Bund zuge- solche Regelung, die wir dort finden, auch gegebe- sagt hat, dafür zusätzliches Geld zur Verfügung zu nenfalls in anderen, vergleichbaren Fällen ange- stellen. wandt wird, die es in Zukunft in Deutschland noch (Elke Ferner [SPD]: Wo steht das denn im geben wird. Deswegen bitte ich, an die Lösung die- Haushalt?) ser Fragen mit Bedacht heranzugehen. Ich war gerade dabei, zu erläutern, wie schwierig Wir drücken uns nicht und betreiben auch kein es ist, dies in die Tat umzusetzen, aber nicht der Fi- Versteckspiel. Vielmehr bekommt der Verkehrsaus- nanzen wegen, sondern der Technik wegen. schuß die Vorlage in nächster Zeit. Dann werden wir das Ganze in aller Offenheit diskutieren; wir werden (Elke Ferner [SPD]: Haushaltsstelle!) vortragen, was es kostet. Dann haben wir auch eine Denn wenn zum Beispiel die Bahn jetzt insgesamt gute Grundlage für die Entscheidung, ob und wie gar nicht den Faktor erreicht, der bei der Lärmvor- wir diese Lösung auf vergleichbare Fälle übertragen sorge normalerweise erreicht werden müßte, wird und dort anwenden können. aber durch die Bündelung möglicherweise der Ge- Die Bundesregierung tut wirklich, was sie kann. In samtwert überschritten, und es kommt zu einer Zu- der Frage der Lärmreduzierung und der Lärmbeseiti- satzbelastung. gung tut sie es in den Fällen, wo sie dazu beauftragt (Elke Ferner [SPD]: Das ist ja genau der ist und wo sie Verantwortung und eine Verpflichtung Punkt!) übernommen hat. Auch die Lösung dieser Frage soll ein Markenzeichen unseres Landes und der Bundes- Dann kann es durchaus sein - das ist sogar in den regierung bleiben. meisten Fällen so -, daß in diesem Fall besser eine Lärmschutzvorrichtung an der A 3 angebracht Danke schön. würde. Denn wenn man im Rahmen einer kleinen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Maßnahme Lärmschutzeinrichtungen an der A 3 an- bringt, bringt das mit einem relativ niedrigen finan- ziellen Aufwand viel mehr, als wenn man Millionen- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Zu einer Kurzin- beträge einsetzte, um die Lärmemissionen an der tervention hat sich die Kollegin Barbara Hend ricks Bahnstrecke noch um einige dB (A) zu reduzieren. Es gemeldet. ist also ein Riesenpaket. Es muß in jedem Einzelfall untersucht werden. Dr. Barbara Hendricks (SPD): Die Bundesregierung tut was sie kann, aber sie kann eben nicht viel. So ist Sie dürfen nicht vergessen, daß es nicht eilig ist. Es das, Herr Staatssekretär. gibt die politische Zusage, daß es gemacht wird. Sie steht. Es gibt zusätzliche finanzielle Mittel. Wir wer- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) den schon in wenigen Wochen von der Bahn AG die entsprechende schriftliche Vorlage bekommen, und Sie, Herr Carstens, haben in Ihrer Rede ausgeführt, die werden wir dann rechtzeitig dem Verkehrsaus- daß Sie es rundweg ablehnen, Lärmsanierungsmaß- schuß des Deutschen Bundestages zur Verfügung nahmen an bestehenden Schienenstrecken vorzu- stellen. Gar keine Frage. nehmen. Das ist ja nicht neu; das wissen wir im Parla- ment. Das bekommen wir jedes Jahr im Haushalts- (Elke Ferner [SPD]: Sofort!) ausschuß zu hören. Ich möchte Sie stellvertretend für die Bundesregierung bitten, jedenfalls nicht mit zwei Aber es muß doch in jedem einzelnen Fall darge- Zungen zu sprechen. legt werden, welche Lösung die günstigste ist. Dar- auf besteht ja nicht zuletzt auch die Opposition zu Ich habe persönliche Erfahrungen aus meinem Recht; das verstehe ich. Aber es muß dann auch dar- Wahlkreis. Die sogenannte Betuwe-Linie, also die gelegt werden, bis wann das umgesetzt wird. Die geplante Güterverkehrsstrecke von Rotterdam in Bahnstrecke wird etwa im Jahr 2004 fertiggestellt Richtung Ruhrgebiet, geht von Emme rich an durch werden. Das heißt, die Lärmschutzmaßnahmen, die meinen Wahlkreis. Dabei handelt es sich um eine be- an der Strecke vorzusehen sind, müssen spätestens stehende Schienenstrecke, an der nach Ihren Aussa- bis dahin umgesetzt sein. Die Bürger vor Ort sollen gen keine Lärmsanierungsmaßnahmen vorgenom- sehr schnell Klarheit darüber bekommen, wie man men werden. Immer wieder, bei allen möglichen Bür- die einzelnen Maßnahmen umsetzen will, daß sie be- gerforen, sagen Vertreter des Bundesverkehrsmini- zahlt werden und daß der Bund die Zusage einhält, steriums - das geht hin bis zu ausgewachsenen Ab- daß es durch diese neue Bahnstrecke zwischen Köln teilungsleitern -: Ja, der Bundesverkehrsminister ist und Frankfurt zu keiner zusätzlichen Lärmbelastung für Lärmsanierungsmaßnahmen an bestehenden für die Bürger in dieser Region kommt. Wir haben Schienenstrecken; wir werden uns auch in Zukunft unser Wort gegeben; die Zusage gilt. dafür einsetzen. - Hinterher hat es ihnen dann halt 14172 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997

Dr. Barbara Hendricks leid getan, daß die Haushaltsmittel nicht zur Verfü- troffen. Den Menschen geht es schlecht, sie werden gung gestellt worden sind. krank. Hören Sie also bitte endlich mit dieser Doppelzün- (Horst Friedrich [F.D.P.]: Wer hat denn was gigkeit auf, und sorgen Sie dafür, daß den Bürgerin- von „merkwürdig" gesagt?) nen und Bürgern vor Ort das gesagt wird, was Sie zu Wir haben daher die verdammte Pflicht und Schul- tun bzw. zu unterlassen gedenken. digkeit, uns hier mit diesem Thema zu befassen und (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nach Abhilfe zu suchen. DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN - Horst Friedrich [F.D.P.]: Die Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Wollen Sie ant- einzige, die „merkwürdig" gesagt hat, sind worten, Herr Carstens? Sie!) Der Lärm in diesem Land hat ein unerträgliches Manfred Carstens, Parl. Staatssekretär beim Bun- Ausmaß angenommen. Große Teile Deutschlands desminister für Verkehr: Ich weiß gar nicht, wie man sind verlärmt und, wenn man der Anhörung Glauben von Doppelzüngigkeit reden kann, wenn man sich schenkt, gesundheitspolitisch eigentlich unbewohn- das angehört hat, was ich gesagt habe. Auf irgend bar. Mehr als die Hälfte der Bundesbürger ist durch- jemanden, der irgendwo im Lande etwas gesagt ha- schnittlich einem Lärmpegel von 55 dB am Tag und ben soll, hier im Bundestag zurückzugreifen, halte 10 Millionen Menschen sind einem Lärmpegel von ich nicht für anständig. 65 dB in der Nacht ausgesetzt. Schon bei 50 dB - so die Mediziner - ist der Schlaf erheblich gestört. Unsere Abteilungsleiter kennen die Aussagen des Ministers und des Parlamentarischen Staatssekre- Ich will noch einmal auf die Fakten eingehen, die tärs. Es stimmt, daß wir uns schon seit einigen Jahre in der Sachverständigenanhörung im Bundestag ge- bemühen, Finanzmittel zur Verfügung gestellt zu be- rade von den Medizinern genannt wurden. Ver- kommen. Das ist uns nicht gelungen; das tut uns leid. kehrslärm ist einer der Hauptverursacher von Herz- Aber dazu stehe ich auch. Ich habe mich hier nicht und Kreislaufbeschwerden. Lärm erhöht den Blut- auf den Finanzminister berufen, sondern habe nur druck, die Blutfettwerte. Das Herzinfarktrisiko von erklärt, daß wir dazu nicht imstande waren. Menschen in lärmgeplagten Regionen liegt deshalb um 10 Prozent höher als in ruhigen Gegenden. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Das Bundesgesundheitsamt geht davon aus, daß 2 Prozent aller Herzinfarkte durch Verkehrslärm ver- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat ursacht werden. Kollege Schmidt hat die Zahl 2 000 jetzt die Kollegin Jutta Müller. genannt. Wir haben ausgerechnet, daß es 2 250 Tote auf Grund von Herzinfarkten, also mehr als Drogen- Jutta Müller (Völklingen) (SPD): Frau Präsidentin! tote, im Jahre 1996, gab. Liebe Kolleginnen und Kollegen! Stellen Sie sich vor, Verkehrslärmgeplagte Menschen leiden häufiger bei Ihnen am Haus fahren jeden Tag 1 000 Menschen unter Schlaflosigkeit, Kopfschmerzen und Depressio- vorbei und schütten Ihnen 1 Tonne Müll vor die nen. Menschen, die ständigem Lärm ausgesetzt sind, Haustür. Unverschämt, würden Sie denken. Aber ge- altern schneller. nau das passiert hier jeden Tag millionenfach; denn dieser Müll ist akustischer Abfall: Straßenlärm, Amerikanische und Schweizer Studien haben be- Schienenlärm, Fluglärm. wiesen, daß Kinder in lauten Straßen in ihrer Lern-, Schreib- und Leseentwicklung schwächer sind als Herr Friedrich, da Sie Ihre Rede damit begonnen andere Kinder. Menschen können sich an Lärm ein- haben, daß Sie es etwas merkwürdig finden, daß das fach nicht gewöhnen. Er führt früher oder später un- Thema Lärm offensichtlich zum Lieblingsthema der weigerlich zu psychosomatischen Krankheiten. Der SPD und der Grünen geworden ist, muß ich Sie fra- Lärm verursacht jedes Jahr riesige volkswirtschaftli- gen: Was glauben Sie eigentlich, wozu Sie hier sit- che Kosten. Der Deutsche Arbeitsring zur Lärmbe- zen? kämpfung hat 25 Milliarden DM ausgerechnet. (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Wenn Abgeordnete des Deutschen Bundestages GRÜNEN und der PDS) eine Expertenanhörung machen, müßte man meinen, daß sie dies tun, um etwas daraus zu lernen und um Sie sitzen hier als Parlamentarier, um die Probleme und Nöte der Menschen im Land aufzunehmen und Konsequenzen zu ziehen. um sich um Besserung der jeweiligen Situation zu (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ bemühen. DIE GRÜNEN]: Das sollte man meinen!) (Elke Ferner [SPD]: So ist das!) Für die Koalitionsparteien kann man dazu nur sagen: Weit gefehlt. Hier gilt: Viel gehört, nichts gelernt. Wenn das Thema Lärm Sie nicht interessiert und Beim Ziehen von Konsequenzen: komplette Fehlan- Sie meinen, wir liefen irgendwelchen Dingen hinter- zeige. her, kann ich Ihnen nur sagen: Tausende von Men- schen - das sehen wir auch an den Zuschriften an (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ den Petitionsausschuß - sind von diesem Problem be- DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997 14173

Jutta Müller (Völklingen) Ich glaube, Herr Bargfrede und auch Herr Staats- schutz geht oder bei denen sich die Petenten diesbe- sekretär, wenn Sie sagen, wir hätten in diesem Be- züglich Hilfe von uns versprechen, wieder in ähnli- reich so ungeheuer viel getan, dann haben Sie die chem Ausmaß dabeisein. Das heißt, es ist immer Tragweite der Problematik noch immer nicht richtig noch nichts passiert. erkannt: Lärm ist gesundheitsschädlich. Frau Merkel hat in ihrer schönen Broschüre auch Wir haben jede Menge Eingaben. Deshalb haben geschrieben, daß der Bund dafür zuständig ist, in wir uns als Petitionsausschuß an den Verkehrsaus- Rechtsvorschriften Grenzwerte festzulegen, bei de- schuß gewandt mit der Bitte: Macht doch einmal eine ren Überschreiten die Bürger Anspruch auf Maßnah- Anhörung! Nehmt euch dieses Themas an! Denn wir men zur Lärmminderung haben. Schön! Aber genau brechen unter all den Eingaben zusammen. Es tut das ist das, was Sie nicht tun. Sie verschleppen die uns auch nicht gut, wenn wir das als Mate rial immer Novelle zum Lärmschutzrecht nun schon seit Jahren. an die Regierung überweisen. Mir ist aufgefallen, daß Ihnen sowohl im Umweltaus- schuß, der mitberatend war, als auch im Verkehrs- (Elke Ferner [SPD]: Die tut nichts! Weil sie ausschuß keine sachlichen Gründe gegen unseren nichts tun will!) Gesetzentwurf eingefallen sind. - Die tut nichts. Aber den Menschen wird suggeriert: (Elke Ferner [SPD]: So ist das! - Angelika Jawohl, das Parlament hat eure Not erkannt. Wir Graf [Rosenheim] [SPD]: Immer nur fiskali- werden euch helfen. sche!) Wir haben die Dinge sogar nicht nur als Mate rial Es sind Ihnen nur finanzielle Gründe eingefallen. Es überwiesen. Ich erinnere einmal an die uralte Ge- hat immer geheißen, es sei kein Geld da. Sachlich schichte betreffend die Schienenstrecke Hanno- hat eigentlich niemand etwas dagegen gesagt. ver-Lehrte. Diese Petition haben wir zur Berücksich- tigung überwiesen. (Beifall bei der SPD) (Elke Ferner [SPD]: Einstimmig im Plenum!) Ich denke, da muß man sich den Haushalt einmal ein bißchen anschauen. Ich persönlich meine, es Ich sage einmal: Im Petitionsausschuß sitzen nicht wäre eventuell schon Geld da. Es ist nicht genug nur dumme Leute, auch wenn es manchmal ein biß- Geld da, um alles auf einmal zu machen. Das ist völ- chen so dargestellt wird. Immerhin war damals Frau lig richtig; da sind wir uns einig. Aber meiner Mei- Dempwolf Berichterstatterin. Sie ist ja sogar zur nung nach könnte man aus dem Straßenbautitel Staatssekretärin aufgestiegen, kann also nicht so noch einiges freischaufeln. dumm sein. Ich fand es bezeichnend, daß Sie den größten Teil Herr Carstens, natürlich gibt es technischen Fort- Ihrer Rede auf das Thema Straße verwandt haben. schritt. Es ist auch viel getan worden. Der Lkw ist Die Schiene ist kaum vorgekommen. Mein Gott, Herr heute bei weitem nicht mehr so laut wie der vor 20 Carstens, Sie sind doch nicht Staatssekretär für Stra- oder 30 Jahren. ßenbau, sondern Sie sind Staatssekretär für Verkehr. (Elke Ferner [SPD]: Es rollen aber doch viel Für Straßenbau würde ein Abteilungsleiter reichen. mehr!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Aber das Problem ist, daß es durch die ständige Zu- DIE GRÜNEN) nahme der Quellen für die Menschen immer mehr Ich meine, Sie müssen sich in diesem Zusammen- wird, daß sie sich dem Lärm überhaupt nicht mehr hang auch mit der Schiene und vor allen Dingen mit entziehen können. Daß Deutschland beispielsweise den bestehenden Schienenwegen beschäftigen. Was sehr viel dichter besiedelt ist als andere europäische Ihre Haltung in den Ausschüssen betrifft - die Kolle- Staaten, hat auch ein bißchen damit zu tun. Sie müs- gin Elke Ferner hat es vorhin gesagt; das war genau sen auch sehen, daß die technischen Fortschritte, die der richtige Ausdruck -, so reagiert man wie folgt: Es gemacht wurden, durch die Zunahme an Quellen gibt viel zu tun. Lassen wir es liegen. einfach aufgefressen werden. (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD) DIE GRÜNEN]: Genau so ist das!) Da helfen auch Broschüren nicht. Ich habe die Bro- Deshalb glaube ich, daß es nicht nur eine Frage des schüre „Laut ist out" gelesen und fand sie wirklich Geldes, sondern auch eine Frage des fehlenden poli- toll. Das ist eine schöne Broschüre. Schön wäre es, tischen Willens ist. Wenn der da wäre, dann könnten wenn der Titel stimmen würde. Aber leider ist das wir uns sicherlich einig werden. Gegenteil der Fall. Sie haben als Bundesregierung den Amtseid gelei- In 1995 haben sich wieder mehr als 20 000 Men- stet, Schaden vom deutschen Volk abzuwenden. schen an den Petitionsausschuß gewandt, um gegen Wenn ich mir das ansehe, was die Gesundheitsexper- Verkehrslärm zu protestieren. Sie haben uns ihre in- ten in der Anhörung gesagt haben, dann meine ich, dividuellen Situationen geschildert. Es sind daß Sie diesen Eid in der Frage der Lärmschutzpoli- schlimme Fälle dabei. Das sind nur die Zahlen aus tik brechen werden. 1995. Ich rede also nicht von dem, was wir in 1994, 1993 usw. hatten. Ich kann Ihnen schon jetzt sagen: Ich möchte noch auf eines zurückkommen, was ich Auch im Bericht 1996, der zur Zeit in Vorbereitung sehr wichtig finde - das hat der Kollege Schmidt von ist, werden die Petitionen, bei denen es um Lärm- den Grünen vorhin angesprochen -, nämlich daß der 14174 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997

Jutta Müller (Völklingen) Verkehrslärm auch ein soziales Problem ist. Ruhe Sensibilität gegenüber der Lärmbelästigung ist grö- und Stille, das wird immer mehr zu einem Luxusgut. ßer geworden und steigt permanent. Das können sich nur noch Wohlhabende leisten, die ein Haus im Grünen haben. (Elke Ferner [SPD]: Wenigstens einer, der das sieht!) (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS) Die Empfindungen unserer Bevölkerung sind ja bereits angesprochen, die Zahlen dazu genannt wor- Da das die Klientel der F.D.P. ist, beschäftigt sie sich den. Dem ist nichts hinzuzufügen. Ich glaube auch, nicht mit Lärm und sieht das nicht. daß wir uns in diesem Haus über die wesentlichen, (Horst Friedrich [F.D.P.]: Es gibt kein Argu prinzipiellen Dinge einig sind, die wir machen müs- ment, das nicht doof genug ist, um nicht sen. Da besteht wohl kein Dissens. von Ihnen gebracht zu werden!) Probleme und das Bedürfnis nach Lösungen sind - Ich kenne doch Ihre Politik. unbestritten - es muß etwas geschehen. Wir müssen nur nach Wegen und Möglichkeiten suchen. Frau Diese Leute müssen natürlich, wenn sie vom Grü- Müller, wenn Sie jemandem hier aus diesem Haus nen in die Stadt wollen, um ihre Geschäfte zu erledi- unterstellen, daß er das nicht mit dem nötigen Ernst gen, ihr Auto benutzen und lärmen dann vor der sieht, dann ist das sehr bösartig. So sollte man in die- Haustür anderer Leute herum. sem Haus nicht miteinander umgehen. (Horst Friedrich [F.D.P.]: Kommen Sie mal zur Sache!) (Beifall bei der CDU/CSU) Die Masse der sozial Schwächeren mit geringem Ich meine, mit Polemik kommen wir nicht weiter. Einkommen bleibt dem Verkehrslärm ausgeliefert. Wir müssen nach dem Machbaren suchen. Wir müs- Dieser Lärm rückt diesen Menschen immer mehr auf sen uns die Frage stellen: Was ist der Preis für unsere die Pelle. Es gibt eine Untersuchung der Bundesan- Mobilität? Wir können nicht auf der einen Seite per- stalt für Landeskunde und Raumordnung, auf die ich manent diese Mobilität einfordern und auf der ande- aus Zeitgründen nicht näher eingehen will, in der ren Seite die Rechnung aufstellen: Sie ist mit Lärm ausgerechnet worden ist, daß man mit den Autobah- verbunden, also lehnen wir sie ab. Wir müssen durch nen immer näher an die Häuser heranrückt. ein vernünftiges Bündel von verkehrspolitischen, technischen, aber auch städtebaulichen Maßnahmen Die Experten der Anhörung haben beispielsweise versuchen, die Lärmbelästigung auf ein erträgliches, auch gefordert, man möge Ruhe- und Lärmschutzzo- vernünftiges Maß zurückzuführen. nen einrichten, in denen sich die Menschen erholen können. Weil dies heute mehrmals angesprochen wurde: Ich will hier eine Lanze für den Güterkraftverkehr (Horst Friedrich [F.D.P.]: Wer ist denn für brechen, der immer als Hauptübeltäter hingestellt die Planung vor Ort zuständig?) wird. Meine Damen, meine Herren, denken Sie ein- Diese Forderung ist zwar nachvollziehbar, bedeutet mal an die volkswirtschaftliche Bedeutung unseres für mich aber eine Kapitulation vor dem heute exi- Güterkraftverkehrs. Da müssen Sie doch einfach ein- stierenden Verkehrslärm. Das klingt so ein bißchen sehen, daß wir ihm auch die Möglichkeit des Einsat- nach Sciencefiction und George Orwell. Denn es zes geben müssen. vermittelt ja die Botschaft: Leute, ertragt diesen gei- (Beifall des Abg. Heinz-Günter Bargfrede stestötenden Lärm, und wenn ihr ganz lieb seid, [CDU/CSU]) dann dürft ihr am Wochenende auch einmal in die Schutzzone. Hier ein Nachtfahrverbot zu fordern, halte ich - man (Elke Ferner [SPD]: Ja!) sehe es mir persönlich nach - für Schwachsinn. Das würde den Tod unserer Volkswirtschaft bedeuten. So So weit darf es, denke ich, nicht kommen. Ich for- kommen wir nicht weiter. dere die Regierungsparteien und die Bundesregie- rung auf, endlich etwas zur weiteren Reduzierung (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) des Verkehrslärms zu tun. Unser Antrag, den wir heute vorlegen, ist ein guter Ansatz, kann helfen, mit Gerade im Lkw-Bereich ist in technischer Hinsicht dem zu beginnen, was notwendig wäre. Ich fordere sehr viel getan worden. Denken Sie alleine an das Sie auf: Stimmen Sie heute unserem Antrag hier zu, Kraftfahrzeugsteueränderungsgesetz von 1994. Es oder stimmen Sie in Zukunft im Petitionsausschuß sind da doch Erfolge durch Berücksichtigung neuer anders ab! Aspekte zu verzeichnen. Also prügeln Sie doch nicht immer auf ein und demselben Tatbestand herum. (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS) Es wird heute sehr viel von Lärm in Verbindung mit der sozialen Frage gesprochen. Früher, als es um die Pkw-Besteuerung gegangen ist, haben wir diese Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat Elemente doch gerade nicht hineinbringen wollen, - jetzt der Abgeordnete Wolf Bauer. weil wir sozial Schwache damit nicht noch zusätzlich belasten wollten. Also können Sie uns doch auch hier Dr. Wolf Bauer (CDU/CSU): Frau Präsidentin! keine soziale Kälte nachsagen. Genau das Gegenteil Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Die von dem, was Sie permanent behaupten, ist der Fall. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Feb ruar 1997 14175

Dr. Wolf Bauer Wir müssen uns über die Probleme unterhalten, Dann ist es für das kommende Jahr in Aussicht ge- wir müssen nach Lösungen suchen. Es gibt gute Lö- stellt worden, und dann war wieder nichts. Wir sind sungen; der Staatssekretär und einige Vorredner ha- jetzt schon im siebten Jahr, wo ich zumindest an der ben sie aufgezeigt. Gerade wenn man daran denkt, Diskussion beteiligt bin. Sagen Sie uns doch einmal daß im Bereich der Lärmsanierung sehr viel getan bitte, wann „mittelfristig" ist und wann wenigstens worden ist, obwohl kein Rechtsanspruch besteht, einmal ein Einstieg in die Lärmsanierung an be- dann muß man doch zum Schluß kommen: Das ist stehenden Schienenwegen gemacht wird. einfach gute Arbeit unseres Verkehrsministeriums, seiner Mitarbeiter und des Ministers selbst. Dr. Wolf Bauer (CDU/CSU): Die Frage ist relativ (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ leicht zu beantworten. Wir haben aus verschiedenen DIE GRÜNEN]: Keiner klatscht! Warum Gründen, nicht zuletzt auch wegen der Wiederverei- nicht?) nigung, einen finanziellen Einschnitt, und da mußten andere Prioritäten gesetzt werden. - Na ja, das ist nicht so schlimm. (Gila Altmann [Aurich] [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall des Abg. [CDU/ GRÜNEN]: Ach, das gibt es nicht!) CSU] - Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜND NIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt ist einer aufge - Ob das Ihnen paßt oder nicht, das ist eine Tatsache. wacht!) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - Wir haben uns über viele Dinge bereits unterhal- Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ ten; vieles wäre auch eine Wiederholung. Aber in der DIE GRÜNEN]: Schmeißen Sie doch einmal ganzen Diskussion ist kurz angeklungen, daß immer den Transrapid als erstes raus!) geklagt wird, daß in der Vergangenheit vieles ver- nachlässigt worden sei. Meine Damen, meine Her- Ich kann mich genauso wie Sie daran erinnern, ren, warum ist von der Härtefallregelung, die zehn daß wir mit dem Einstieg in die Lärmsanierung be- Jahre Gültigkeit hatte, nicht ausreichend Gebrauch ginnen wollten. Wir haben es selbst vorgeschlagen. gemacht worden? Das waren finanziell andere Zei- (Gila Altmann [Aurich] [BÜNDNIS 90/DIE ten. Da hätte man etwas tun können, aber es ist GRÜNEN]: Statt dessen werden wieder wahrscheinlich verschlafen worden. Hier hätten neue Lärmherde geschaffen!) doch die Länder und die Kommunen Anträge stellen können und in diesem Bereich weiterkommen kön- - Es gibt doch Vorschläge von uns. Unser verkehrs- nen. Aber damals ist nichts geschehen. Man muß politischer Sprecher, Dirk Fischer, hat das damals doch einsehen, daß wir jetzt finanzielle Probleme ha- selbst vorgeschlagen. ben - die Gründe sind klar -, und kann nicht fordern, was einfach finanziell nicht möglich ist. Aber dann kamen diese Schwierigkeiten im finan- ziellen Bereich, und wir sind zu der Überzeugung ge- Es ist auch gesagt worden: Ziel der Bundesregie- kommen, daß es im Moment nicht finanzierbar ist. rung ist es, mittelfristig auch Lärmsanierung an be- Die Härtefallregelung betraf die Zeit davor. Ich for- stehenden Eisenbahnstrecken durchzuführen. Wir dere nur ein, daß es damals hätte gemacht werden werden sie dabei tatkräftig unterstützen. Es ist letzt- können. Damals waren die finanziellen Möglichkei- endlich auch wichtig, daß wir zu einer Verbesserung ten noch vorhanden. der Akzeptanz der Schiene kommen, weil das ein Anliegen sowohl des Gesetzgebers als auch der (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ Bahn AG ist. DIE GRÜNEN]: Und jetzt?) Nehmen Sie doch Ihr Forderungsprogramm. Da Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Kollege, wird zum Teil externe Anlastung gefordert. Die Erhö- gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Fer- hung der Mineralölsteuer wird gefordert. Das sind ner? doch alles nicht die Rezepte, die wir in dieser Zeit brauchen. Wir wollen keine weiteren Abgaben für unsere Bevölkerung. Es ist auch nicht sinnvoll, das Dr. Wolf Bauer (CDU/CSU): Gerne, Frau Kollegin jetzt zu machen. Wir werden das verhindern und in Ferner. dieser Form nicht mittragen. Wir bleiben immer wieder bei dem Problem hän- Elke Ferner (SPD): Herr Kollege Bauer, ich kann gen: Wer soll das Ganze letztendlich bezahlen? mich zumindest seit der Haushaltsberatung 1991 daran erinnern, daß wir Jahr für Jahr über Lärmsa- (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ nierung an bestehenden Schienenwegen diskutiert DIE GRÜNEN]: Was bedeutet jetzt „mittel- haben. fristig"? Das hat sie wissen wollen!) Bisher gab es die unterschiedlichsten Begründun- - Sobald wir mittelfristig die Möglichkeit haben, gen für Ihr Nichthandeln. Mal war es zuwenig Geld, finanzielle Ressourcen bereitzustellen, werden wir- mal war es zuviel Geld. das tun. (Dr. Klaus Röhl [F.D.P.]: Zuviel Geld kann (Elke Ferner [SPD]: Ab 1998 machen wir nicht sein!) das!) 14176 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997

Dr. Wolf Bauer - Okay. Da müssen Sie aber vorher die Wahl gewin- vernünftige Politik, dafür zu sorgen, da möglichst nen, und das schaffen Sie nicht. schnell weiterzukommen.

(Beifall bei der CDU/CSU - Elke Ferner (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) [SPD]: Das werden wir sehen!) Ich will ganz schnell noch auf die Problematik ein- gehen, wer letztendlich bezahlen soll. Soll nun der Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Kollege, Bund bezahlen, sollen die Länder bezahlen, oder sol- gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen len die kommunalen Gebietskörperschaften bezah- Oesinghaus? - Die Zeit ist dann aber auch bald ab- len? Ich möchte Ihnen noch einmal die Zahlen zu den gelaufen. öffentlichen Straßen sagen: Wir haben über 11 000 Kilometer Bundesautobahnen und fast 42 000 Kilo- meter Bundesstraßen. Das sind 53 000 Kilometer. Günter Oesinghaus (SPD): Herr Kollege, empfin- Demgegenüber haben wir jeweils zwischen 80 000 den Sie es nicht geradezu als zynisch, wenn Sie hier und 90 000 Kilometer Land- und Kreisstraßen, und es einerseits beklagen, wie arm diese Bundesregierung kommen über 420 000 Kilometer Gemeindestraßen ist, um Lärmschutz zu finanzieren, wo Sie anderer- hinzu. Das macht fast 600 000 Kilometer. Das Ver- seits aber vor einigen Wochen die Vermögensteuer in hältnis ist ganz grob 1 : 10. Höhe von zirka 9 Milliarden DM für die Reichsten und Superreichen in dieser Gesellschaft abgeschafft Daran können Sie schon erkennen, warum die ge- haben? Wäre da nicht Spielraum für zirka setzlichen Grundlagen bisher am Bundesrat geschei- 200 Millionen DM als Einstieg für eine Lärmsanie- tert sind. Die nachgeordneten Gebietskörperschaften rung gewesen? sind nämlich gar nicht in der Lage, das finanziell zu leisten. Wer das forde rt, verhält sich einfach unred- (Beifall bei der SPD) lich, weil er genau weiß, daß das nicht so ist.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Dr. Wolf Bauer (CDU/CSU): Auch wenn ich mir Man kann sich natürlich hinstellen und erklären: eine Rüge der Präsidentin zufüge: Aber auf so einen Ja, der Bund soll alles bezahlen. Das ist eine einfache Schwachsinn möchte ich nicht antworten. Lösung. Aber so einfach ist es nun auch wieder nicht (Zuruf von der SPD: Sie machen es sich zu machen. aber einfach!) Ich unterstütze das, was der Kollege Bargfrede vor- hin gesagt hat; denn er hat recht. Der SPD-domi- - Natürlich ist das einfach. Ich kann hier alles anfüh- nierte Bundesrat wird diese gesetzlichen Regelungen ren. Sie können auch den Jäger 90 bringen und was alle ablehnen. Er wird da einfach nicht mitspielen. weiß ich nicht alles. Wir können alles bringen, natür- lich. Aber das hilft uns doch nicht weiter. (Elke Ferner [SPD]: Lassen Sie uns das doch erst einmal da hinbringen! - Gila Altmann (Zuruf von der F.D.P.: Die Steinkohle!) [Aurich] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Pro bieren Sie das doch einmal aus!) - Ja, die Steinkohle bringen wir auch noch. Es nützt auch wenig, wenn die Frau Graf kritisiert, Lassen Sie uns die Polemik einmal herausnehmen daß eine unzureichende Rechtsgrundlage vorhanden und wirklich zur sachlichen Auseinandersetzung ist. Ich meine, es sind eine ganze Reihe von Beispie- kommen, aber das scheint mit dieser Opposition len, über die man sich noch unterhalten müßte, was wohl kaum möglich zu sein. - Frau Präsidentin, ich Sie in Ansätzen in Ihrem SPD-Antrag angesprochen höre sofort auf. haben. Ich höre heute in fast allen Oppositionsbeiträgen (Angelika Graf [Rosenheim] [SPD]: Die immer etwas vom Transrapid. Nehmen Sie doch ein- Sachverständigen waren das!) mal die Lärme, die durch den Transrapid entstehen. Leider kann man nicht mehr auf alles eingehen. Sie sind alle nachgewiesenermaßen niedriger als bei ICE-Strecken. Über neue Technologien haben Sie zum Beispiel kaum gesprochen. Wir hätten gewaltige Möglichkei- (Elke Ferner [SPD]: Das stimmt doch gar ten, auch was den Lärm angeht, mit einem besseren nicht, Herr Bauer! In der Spitzengeschwin- und stärkeren Einsatz von Telematik mehr zu errei- digkeit ist er lauter! Er soll doch nicht mit chen. 200 fahren!)

(Angelika Graf [Rosenheim] [SPD]: Siehste!) - Ja, dann lügen die Gutachten. Sie stimmen im - Sie lachen darüber, weil sie noch nicht nachvollzie- Zweifelsfall, Frau Ferner, nur nicht, weil sie Ihnen hen konnten, welche Perspektiven überhaupt in der nicht passen. Aber das kann man doch letzten Endes Telematik stecken. nicht machen. - Ich habe eine Zahl gefunden, die hochinteressant Man könnte den Antrag noch zerpflücken und ist. Eine Verringerung bzw. Beseitigung des Stop- noch vieles dazu sagen, aber meine Redezeit ist ab- and-go auf unseren Straßen würde uns eine Verrin- gelaufen. Ich bedanke mich sehr herzlich für Ihre gerung bis zu 15 dB(A) bringen. Das wäre doch eine Aufmerksamkeit und hoffe, daß wir zu einer guten Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997 14177

Dr. Wolf Bauer Lösung im Sinne einer Lärmverminderung für unsere Lärmsanierung an bestehenden Straßen und Schie- Bevölkerung kommen. nen bestimmt sein muß. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - Fest steht: Die gegenwärtige Praxis ist unzurei- Elke Ferner [SPD]: Wenn wir eine andere chend. Diesen Zustand, der das Ergebnis einer unzu- Regierung haben, schaffen wir das!) länglichen Rechtsgrundlage ist, dürfen wir im Inter- esse der Menschen und um des Schutzes der Umwelt willen nicht länger hinnehmen. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt der Kollege Berthold Wittich. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Berthold Wittich (SPD): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Erlauben Sie mir, daß ich kurz Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Gestatten Sie, ein Zitat aufgreife, das meine Kollegin Angelika Graf Herr Kollege, eine Zwischenfrage des Kollegen in die Debatte eingeführt hat. Sie zitierte einen Sach- Friedrich? verständigen mit der Frage: Was machen wir mit dem schweigenden Gesetzgeber, der seinen Schutz- Berthold Wittich (SPD): Bitte, Herr F riedrich. pflichten nicht nachkommt?

Herr Kollege Bargfrede, Sie haben zwar die Lei- Horst Friedrich (F.D.P.): Herr Kollege Wittich, ich stungen des Gesetzgebers rheto risch geschickt, wie frage Sie einmal als hessischer Abgeordneter. Wenn ich zugeben möchte, bejubelt, aber zur Schutzpflicht Sie das so darstellen und tatsächlich so meinen: des Gesetzgebers haben Sie geschwiegen. Das ist Warum setzen Sie sich dann nicht dafür ein, daß die uns zuwenig. hessische Landesregierung etwas mehr Autobahn- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ausbau genehmigt, wo dann Lärmschutz nach der DIE GRÜNEN) Lärmvorsorgeverordnung möglich wäre, und warum zwingen Sie wegen dieser Verweigerungshaltung Ich schiebe eine weitere Frage nach: Wo bleibt ei- den Verkehr weiterhin mitten durch die Orte und gentlich in Ihren Überlegungen der lärmgestreßte über die Bundesstraßen, wo es, wenn überhaupt, um Mensch? Wo bleibt die geschundene Umwelt? Wir Vorschriften über Lärmsanierung geht? dürfen doch die Vorstellung einer menschenwürdi- gen Gesellschaft, einer humanen und umweltgerech- (SPD): Herr Kollege F riedrich, die ten Verkehrspolitik nicht den Gesetzen der reinen Berthold Wittich Grundsatzentscheidung in der Frage der A 44 ist ge- Ökonomie unterwerfen. Da machen wir Sozialdemo- fallen. Sie allerdings sind mit der Trassenführung kraten nicht mit. nicht einverstanden, weil Sie nämlich Ihr politisches (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Süppchen kochen wollen. DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD) Daß die lärmenden Blechlawinen nicht selten Le- Ich bin auch dagegen, daß man dauernd auf Landes- bensqualität und Gesundheit der Anrainer unter sich regierungen verweist. Wir sind in die Pflicht genom- begraben, möchte ich aus der Sicht des persönlich men, Beispiel zu geben und Zeichen zu setzen, Zei- Betroffenen, aus der Perspektive eines nordhessi- chen für unsere Bereitschaft, die Probleme anzupak- schen Bürgers darstellen. In unserer Region verdich- ken. ten sich wie in einem Brennglas die Verkehrspro- bleme unserer Gesellschaft, vor allem im Transitver- (Beifall bei der SPD - Otto Regenspurger kehr nach der Öffnung der innerdeutschen Grenze. [CDU/CSU]: Rot-Grün in Hessen ist richtig! Auf den Straßen hat sich das Verkehrsaufkommen Da geschieht überhaupt nichts!) verdoppelt, in vielen Teilabschnitten vervierfacht, auf der A 4 - dem Abschnitt zwischen Kirchheim und Ei- Erlauben Sie mir, daß ich auf einen weiteren senach - mindestens verzehnfacht. - Sie wissen das, Aspekt unseres Antrags aufmerksam mache, wie- Sie waren vor kurzem in unserer Region. derum aus der Sicht des Betroffenen. Meinen Wohn- ort durchquert die B 27. Auf dieser Straße verdichtet Besorgniserregend hoch ist der Anteil des Güter- sich der Verkehr in der Nord-Süd-Relation immer und Schwerlastverkehrs. Die do rt lebende Bevölke- mehr, weil in Fulda bzw. in F riedland die Lkw-Fahrer rung wird mit unzumutbaren Belastungen konfron- diese Bundesstraße durch das Fulda- und Werratal tiert: mit verpesteter Luft, schleichender Vergiftung bevorzugen, um die Steigungen der A 7 im hessi- und unerträglichem Lärm. Das ist inhuman. schen Mittelgebirge zu umfahren. Die Bürgerinnen und Bürger, die in unmittelbarer Nähe der B 27 woh- Meine Damen und Herren, diesen betroffenen nen, erfahren, besser gesagt: erleiden alltäglich den Menschen helfen keine Berichte, diesen betroffenen Infarkt des Verkehrssystems Straße. Menschen hilft kein Pilotprojekt, wie es in der Be- schlußempfehlung der Regierungsparteien vorgese- Das Ziel einer massiven Reduzierung der Lärmbe- hen ist. Wer diesen lärm- und streßgeplagten Anwoh- lastung kann nicht erreicht werden, denn parallel zur nern ein Stück Lebensqualität zurückgeben will, der B 27 verläuft die Bahnstrecke Frankfurt-Erfurt, die ist aufgefordert, vor allem im Bereich der Lärmbe- Hessen und Thüringen verbindet und als Schienen- kämpfung eine Kurskorrektur zu verwirklichen, de- weg eine wichtige Brückenfunktion zwischen Ost- ren Richtung durch verbindliche Regelungen der und Westdeutschland wahrnimmt. Diese Magistrale 14178 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997

Berthold Wittich verlärmt jedoch die Transitregion total, rund um die doch nur ein Aspekt des Problems. Ein Tempolimit Uhr, und bedroht existentiell Gesundheit und Leben würde auch die Anzahl und Schwere der Unfä lle sen- der an der B 27 lebenden Bevölkerung. Wegen der ken, schnellen Zugfolge verlangen die betroffenen Men- schen die Einleitung von Sofortmaßnahmen zur Be- (Elke Ferner [SPD]: So ist das!) kämpfung des aus dem Schienenverkehr resultieren- würde den Kraftstoffverbrauch reduzieren und die den Lärms. Umwelt schonen. Wer menschliches Leben retten Wenn wir den Sorgen der betroffenen Bürgerinnen und die Umwelt schützen will, muß sich für die und Bürger Rechnung tragen wollen, sind wir aufge- Durchsetzung eines Tempolimits stark machen. Es fordert, Mittel für ein Lärmsanierungsprogramm an kostet nichts und wirkt sofort. der Schiene einzustellen, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD) DIE GRÜNEN) um dem gesundheitsgefährdenden Ausmaß der In diesem Zusammenhang darf ich daran erinnern Lärmbelastung erfolgreich zu begegnen. Unverzügli- - hier bin ich anderer Auffassung als Herr Dr. Bauer -, ches Handeln ist angesagt. Wir machen uns schuldig, daß auch die vermehrte Umsetzung von Nachtfahr- wenn wir unserer Verantwortung für die Betroffenen verboten geeignet ist, einen entscheidenden Beitrag nicht gerecht werden und die Lösung des Problems zur Reduzierung des Lärmstresses zu leisten. auf die lange Bank schieben. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Meine Damen und Herren, an diesem konkreten BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Beispiel, das auf persönlichen Erfahrungen beruht, wird in besonderem Maße die Lärmschutzproblema- Diese Maßnahme trägt dem Erholungs- und Ruhebe- tik eng beieinanderliegender paralleler Verkehrs- dürfnis der Menschen in den Abend- und Nachtstun- wege sichtbar. Wir müssen endlich mit der unzuläng- den sowie am Wochenende Rechnung. Das ist ein lichen Praxis Schluß machen, den Lärm jedes Ver- Stück Humanität, das wir an die Betroffenen zurück- kehrsweges isoliert zu erfassen. Die Summe der von reichen müssen. Hier steht die Politik in der Pflicht. diesen Verkehrswegen ausgehenden Lärmemissio- (Beifall bei der SPD) nen muß Kriterium und Voraussetzung für die zu er- greifenden Schutzmaßnahmen sein, um die Lärmein- Weil die Anhörung der Sachverständigen am wirkungen zurückzudrängen und den betroffenen 17. Januar 1996 schonungslos aufgedeckt hat, daß Kindern, Männern und Frauen eine Perspektive für permanente Lärmeinwirkung die an Straßen und die Zukunft zu eröffnen, eine Perspektive, die dem Schienen lebenden Bürgerinnen und Bürger, insbe- im Grundgesetz verankerten Anspruch auf men- sondere Kinder und alte Menschen, krank macht, schenwürdiges Leben und körperliche Unversehrt- werden wir Sozialdemokraten die Bundesregierung heit gerecht wird. aus ihrer Verantwortung nicht entlassen, die Bevöl- kerung wirksam vor Verkehrslärm zu schützen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) In diesem Zusammenhang möchte ich Sie, die Ab- geordneten der Regierungsparteien, bitten, unserem Weil ich dem Recht auf Leben und körperliche Un- Antrag zuzustimmen und damit unmißverständlich versehrtheit oberste Priorität zuordne, unterstütze ich deutlich zu machen, daß Sie den Interessen von Mil- die Einführung einer Geschwindigkeitsbegrenzung, lionen Menschen und deren Gesundheit im weite- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des sten Sinne Vorrang einräumen. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Falls Sie sich dieser zentralen Aufgabe entziehen, wie sie in Punkt 4 und 5 unserer Eckpunkte für ein verstärken Sie die Politikverdrossenheit in unserer umfassendes Programm zur Minderung des Ver- Gesellschaft und ruinieren das Vertrauen der Bürge- kehrslärms gefordert wird. Unbest ritten rinnen und Bürger in das demokratisch verfaßte Ge- meinwesen. (Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Lächer lich! ) Lassen Sie uns heute handeln, ehe es zu spät und der Vertrauensverlust zu groß ist! - das ist nicht lächerlich - (Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Weil (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ unwirksam!) DIE GRÜNEN) und wissenschaftlich erwiesen ist, daß ein Tempoli- mit zur Verstetigung und Verlangsamung des Ver- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat kehrsflusses führt. jetzt der Abgeordnete Michael Jung. (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Ganz ohne Telematik! - Michael Jung (Limburg) (CDU/CSU): Frau Präsi- Gila Altmann [Aurich] [BÜNDNIS 90/DIE dentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren- GRÜNEN]: Das kostet nichts!) Kollegen! Ich habe die Debatte sehr aufmerksam ver- folgt und muß sagen, daß ich über das eine oder an- Im Falle der Realisierung wäre die Absenkung des dere an polemischen Zwischentönen deswegen über- Verkehrslärms die logische Konsequenz. Aber das ist rascht bin, weil auch durch die Redner der Koalition Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997 14179

Michael Jung (Limburg) deutlich geworden ist, daß die Frage des Lärms für nicht beachten, nur weil es angesichts der Frage der uns ein wichtiges Thema ist Finanzierung eine außerordentlich schwierige Pro- blematik ist. (Elke Ferner [SPD]: Sie tun doch nichts!) Ich muß Ihnen sagen: Ich kann es nicht mehr hö- - Frau Kollegin Ferner, hören Sie sich doch zumin- ren, wenn jedesmal dieselben abgedroschenen alten dest den ersten Satz an - und daß wir uns deswegen Stichworte kommen. Da soll die Vermögensteuer, soll sachlich damit auseinandersetzen wollen. Wir kön- der Transrapid zur Finanzierung dienen. Das tragen nen es uns nicht so einfach machen, wie Sie es getan Sie am Tag zehnmal für verschiedene Ausgabelük- haben. Das hängt natürlich damit zusammen, daß Sie ken vor, die Sie schließen wollen. Das ist genauso un- keine Verantwortung tragen. Dann nämlich würde glaubwürdig. sich das Ganze hier vollkommen anders ausnehmen. Um bei dem Stichwort zu bleiben, das wir im Ver- Ich war doch sehr überrascht, daß die Kollegin kehrsausschuß intensiv behandeln: Gerade beim Müller vorhin gesagt hat, im Straßenbautitel gebe es Transrapid haben wir in den jüngsten Tagen durch doch noch ausreichend Luft für dera rtige Maßnah- Anfragen aus den USA und aus Australien gesehen, men. Von Ort zu Ort ziehen die SPD-Politiker, die in Bonn den Straßenbauhaushalt abgelehnt haben, und (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ werfen der Regierung vor, sie sei schuld, daß die je- DIE GRÜNEN]: Aus Warschau! - Heiterkeit weilige Maßnahme vor Ort nicht realisiert werden bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) könne. wie sehr unsere Absichten, ihn zu einem Expo rt (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) -schlager zu machen, durch die Realität getragen wer- den. Das ist doch doppelzüngig: Auf der einen Seite leh- nen Sie es ab und fordern eine Reduzierung dieser (Beifall bei der CDU/CSU) Mittel, auf der anderen Seite sagen Sie vor O rt, die Regierung sei schuld, daß es nicht genug Mittel gibt. So machen Sie das landauf, landab. Ich könnten Ih- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Kollege, nen eine Fülle konkreter Beispiele nennen. gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Gila Altmann? (Elke Ferner [SPD]: Sie sind doch Weltmei ster im Doppelzüngigsein! Das ist doch eine (Limburg) (CDU/CSU): Wenn es Verdrehung der Tatsachen!) Michael Jung nicht von der Zeit abgeht, Frau Präsidentin, gerne. - Daß Sie nervös werden, wenn man den Finger in die Wunde legt, verstehe ich. Hören Sie aber trotz- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Sicher nicht. dem weiter zu. Das kann durchaus helfen.

Ein zweiter Punkt, der die Doppelzüngigkeit be- Gila Altmann (Aurich) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sonders unterstreicht - deswegen sage ich das auch NEN): Herr Kollege Jung, wären Sie nicht bereit, sich in einer Deutlichkeit -: Wie verhalten sich denn Ihre vom Transrapid nicht nur unter finanziellen Gesichts- Kommunalpolitiker und Landespolitiker do rt, wo sie punkten - es geht immerhin um 5,6 Milliarden DM Verantwortung tragen? Warum hat der Bundesrat, plus das, was sonst noch hinzukommt; Robin Wood wo die SPD die Mehrheit hat, diese Initiative abge- hat in seinen Berechnungen sogar von 11 Milliarden lehnt? Warum haben Bundesländer wie Niedersach- DM gesprochen; damit könnte man schon eine ganze sen und andere diese Initiative abgelehnt? Menge machen -, sondern gerade unter Lärmge- (Elke Ferner [SPD]: Wir reden jetzt über die sichtspunkten zu verabschieden, und könnten Sie Initiative hier im Deutschen Bundestag und nicht gleichzeitig zur Kenntnis nehmen, daß der nicht im Bundesrat!) Transrapid bei 500 Stundenkilometern 104 Dezibel an Lärm erzeugt und bei 400 Stundenkilometern im- - Frau Kollegin Ferner, Sie reden doch sonst über mer noch 93 Dezibel? Das sind Meßwerte, die bei La- Einheitlichkeit in der Politik. Was Sie hier fordern, then gemessen worden sind. sollten Sie doch mal dort umsetzen, wo Sie die Mehr- heit haben. Nur dann wird das glaubwürdig, nicht anders. Michael Jung (Limburg) (CDU/CSU): Frau Kolle- gin, wenn Sie bereit wären, Ihre Vorurteile über Bord (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) zu werfen, vielleicht auch mal auf der Versuchs- strecke zu fahren und Erfahrungen zur Kenntnis zu Diese Bundesländer wissen sehr wohl, daß nehmen, daß gerade die Umweltverträglichkeit des 80 Prozent der Straßen in Deutschland keine Bundes- Transrapid eines der Argumente für die Kaufabsich- straßen sind und daß diese Forde rungen dann auch ten anderer ist, dann könnten Sie nicht zu einer sol- bei ihnen umgesetzt werden müßten. Sie wissen aus chen Fragestellung kommen. der Verantwortung heraus, die sie do rt tragen, daß es die notwendigen Finanzmittel derzeit nicht gibt. Das (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) ist der Punkt. - Im übrigen muß ich sagen: Wir sind sehr wohl dar- Man sollte sich hier nicht hinstellen und sagen, wir auf angewiesen, unsere Exportfähigkeit unter Be- wären verantwortungslos und würden Vorschriften weis zu stellen. Das hängt mit dem Thema zusam- des Grundgesetzes, die körperliche Unversehrtheit, men, das wir heute morgen debattiert haben. 14180 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Feb ruar 1997

Michael Jung (Limburg) Ich nenne auch die anderen Dinge: Geschwindig- heren Lärmbelästigung ausgesetzt werden als keitsbegrenzung, Tempolimit - das sind die Laden- vorher. hüter, die wir schon x-mal gehört haben und die zur (Elke Ferner [SPD]: Werden sie aber!) Lösung der Probleme nichts beitragen, Das heißt, der summierte Lärmpegel soll den Wert (Elke Ferner [SPD]: Der Ladenhüter sind der Lärmvorbelastung nicht überschreiten. Sie!) Ihre Frage zum Thema der Mittel in der Vereinba- genausowenig wie die Forderung, generell innerorts rung zwischen Bund und Bahn AG von vorhin, Frau 30 km/h einzuführen. Wir haben bewußt eine Rege- Kollegin Graf, umfaßte deswegen nur den halben lung gewählt, nach der vor Ort entschieden werden Teil der Wahrheit, weil es weiter heißt, daß selbstver- kann, ob man 30-km/h-Zonen einrichtet und ob die ständlich dann der Bund der Bahn AG zusätzliche vom Bürger angenommen werden. Das ist vor Ort Mittel zur Verfügung stellen müsse, viel besser zu beurteilen, als wenn das der Bundes- (Elke Ferner [SPD]: Ich wollt', die Mittel gesetzgeber generell für alle Gemeinden vorschrei- hätt' sie schon!) ben würde. weil die Bahn AG nämlich Maßnahmen ergreift, die (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) aus ihrer Sicht und objektiv betrachtet rechtlich nicht In den wenigen Minuten, die ich noch habe, geboten sind. möchte ich zu einem speziellen Thema etwas sagen, das mir, Frau Kollegin Graf, sehr am Herzen liegt, Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Kollege weil ich der direkt gewählte Abgeordnete des wun- Jung, gestatten Sie - - derschönen Wahlkreises - Sie haben ihn ja besucht - Rheingau-Taunus-Limburg bin, durch den die Neu- baustrecke führen wird. Michael Jung (Limburg) (CDU/CSU): Frau Präsi- dentin, eine Zwischenfrage meines Wahlkreiskolle- (Elke Ferner [SPD]: Versprechen Sie nichts, gen Schuster lasse ich selbstverständlich gerne zu. was Sie nachher nicht halten können!) (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Damit ihr alle - Man formuliert Fragen immer aus eigener Erfah- beide in die Heimatzeitung kommt!) rung, Frau Kollegin Ferner. Bei mir ist es immer so, daß ich etwas sage, das ich hinterher halten kann. Dr. R. Werner Schuster (SPD): Ich kann mir nicht (Eduard Oswald [CDU/CSU]: So ist es! vorstellen, Herr Kollege, daß man mit einem solchen Dafür ist er bekannt!) Zwischenruf in die Heimatzeitung kommt. Dafür ist das Problem der Betroffenen viel zu groß. Deswegen möchte ich dazu folgendes klar sagen: Ei- Herr Kollege Jung, dankenswerterweise hat der nes der Argumente für die Führung entlang der A 3 Herr Staatssekretär auf meine Zwischenfrage hin war ein ökologisches, nämlich die Verkehrsadern zu noch einmal betont, daß diese Einzelfallregelung ein- bündeln - in diesem Fall die A 3 und die neue treten wird und eine zusätzliche Finanzierung in Schnellbahn. Aussicht gestellt wird. Meine Frage an Sie lautet, da (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ ich mir die finanzielle Entwicklung unabhängig da- DIE GRÜNEN]: Das ist ja auch vernünftig!) von, wer in Bonn regiert, vorstellen kann: Wären Sie für eine Übergangsphase bereit, einer Geschwindig- Wenn dies eines der Argumente war, dann ist es un- keitsreduktion der Schnellbahn von 300 km/h auf sinnig - ich sage das in aller Deutlichkeit -, die bei- 200 km/h zuzustimmen, falls das entsprechende Li- den Verkehrswege bei der Berechnung des Lärms mit überschritten wird? Denn Ihnen und mir liegt isoliert zu betrachten. eine interne Studie der Bundesbahn vor, wonach die (Beifall des Abg. Albe rt Schmidt [Hitzhofen] Reduktion von 300 km/h auf 200 km/h 12 Dezibel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) ausmacht. Der Zeitverlust - das hat Herr Carstens vor Jahren einmal schriftlich beantwortet - beträgt auf Deswegen ist die Summation ein Problem, mit dem der Strecke von Frankfu rt nach Köln 5 Minuten - wir uns beschäftigen müssen. Dazu habe ich in der 53 Minuten statt 48 Minuten. Wären Sie bereit, sich Anhörung wichtige Fragen gestellt. Daher bin ich für diese 5 Minuten Zeitverlust zugunsten des Lärm- dankbar, daß die Bundesregierung das auf Grund schutzes einzusetzen? meiner Initiative in der Arbeitsgruppe, Herrn Staats- sekretär Carstens, aufgenommen hat und an dieser Michael Jung (Limburg) (CDU/CSU): Herr Kollege Strecke in einem Pilotprojekt modellhaft überprüfen Schuster, diese Frage stellt sich so einfach deswegen wird, wie das mit der Summation und der nicht nicht, weil diese zusätzlichen Lärmschutzmaßnah- höheren Belastung der Bevölkerung funktioniert. men rechtzeitig zur Inbetriebnahme dieser neuen Die Einzelfallregelung möchte ich Ihnen noch ein- Schnellbahn - egal, ob sie jetzt in die Zeit fällt, die mal ausdrücklich vorlesen. Sie lautet wie folgt: der Herr Staatssekretär mit dem Jahre 2004 genannt hat, oder ob sie früher stattfindet, wie wir hoffen - - Durch zusätzliche und damit über die Anforde- (Elke Ferner [SPD]: Nicht, wenn Sie an der rungen der Verkehrslärmschutzverordnung hin- Regierung bleiben!) ausgehende Lärmschutzmaßnahmen soll dafür gesorgt werden, daß die Anwohner keiner hö realisiert sind. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Feb ruar 1997 14181

Michael Jung (Limburg) Ich möchte aber noch einmal die Darstellung der einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist diese Beschlußlage vervollständigen, weil ich darin unter- Überweisung so beschlossen. brochen worden bin. Es gibt für die genannten Auf- gaben zusätzliche Mittel durch die Bundesregierung, Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a und 5 b so- die sie zur Verfügung stellen muß. Die Deutsche wie Zusatzpunkt 7 auf: Bahn AG ist beauftragt, die Anwendungsfähigkeit dieses Konzeptes für alle in Betracht kommenden 5. a) Zweite und dritte Beratung des von der Einzelfälle entlang der Neubaustrecke Köln-Rhein- Bundesregierung eingebrachten Entwurfs Main zu prüfen, damit wir diese Erfahrungen - wie eines Gesetzes über die Anpassung von es die Bundesregierung eben ausgeführt hat - dann Dienst- und Versorgungsbezügen in Bund für andere, vergleichbare Fälle nutzen können. und Ländern 1996/1997 (Bundesbesol- dungs- und -versorgungsanpassungsgesetz Dabei wird auch ein Thema auftauchen, das ich für 1996/1997 - BBVAnpG 96/97) wichtig halte. Mein Vorredner hat über Nordhessen gesprochen. Wir sind uns sicher darüber einig, daß - Drucksache 13/5983 - die südhessische Region noch stärker verkehrlich (Erste Beratung 135. Sitzung) belastet ist: durch die große A 3, durch Fluglärm, zu- sätzlich durch die Bahn usw. Do rt handelt es sich um aa) Beschlußempfehlung und Be richt des Ballungsgebiete. Da stellt sich natürlich auch die Innenausschusses (4. Ausschuß) Frage der Lärmsanierung zum Beispiel an der Auto- - Drucksache 13/6892 - bahn. Berichterstattung: Gerade im Bereich der A 3 gibt es einige Fälle, bei Abgeordnete Otto Regenspurger denen die Grenzwerte zur Lärmsanierung in Kürze Thomas Krüger wohl überschritten werden. Ich hielte es für fatal, Rezzo Schlauch wenn wir jetzt nur auf einige Monate und nicht auf Dr. Max Stadler den Zeitpunkt schauten, zu dem die Bahn fertigge- Maritta Böttcher stellt sein wird und die Grenzwerte überschritten werden. Es ist ja überaus vernünftig - das ist vorhin bb) Bericht des Haushaltsausschusses auch ausgeführt worden -, Lärmschutzmaßnahmen (8. Ausschuß) gemäß § 96 der Ge- zu ergreifen, die gleichzeitig Bahn und Autobahn be- schäftsordnung rücksichtigen und dann, wenn es um den Neubau - Drucksache 13/6989 - der Bahn geht, auch an der Autobahn realisiert wer- den können. Auch das hat die Bundesregierung ge- Berichterstattung: sagt, und das halte ich für absolut vernünftig. Abgeordnete Dr. Klaus-Dieter Uelhoff Ina Albowitz Meine Damen und Herren, über die restlichen Fra- Uta Titze-Stecher gen werden wir uns sicherlich weiterhin intensiv Oswald Metzger auch im Ausschuß unterhalten. Die Bereitschaft der Union, alles zu tun, was sie auch angesichts der fi- b) Beratung der Unterrichtung durch die Präsi- nanziellen Umstände tun kann, um für den Schutz dentin des Deutschen Bundestages der Bürger zu sorgen, ist eindeutig und wird hoffent- lich auch von Ihnen nicht in Frage gestellt. Bericht der Präsidenten des Deutschen Bundestages über die Entwicklung der Be- Vielen Dank. züge der hauptberuflichen Amts- und Man- datsträger auf Bundes-, Landes- und Ge- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) meindeebene sowie bei öffentlichen Ein- richtungen

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Ich schließe da- - Drucksache 13/6637 — mit die Aussprache zu diesem Punkt. Überweisungsvorschlag: Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluß- Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäfts- empfehlung des Ausschusses für Verkehr zu dem ordnung (federführend) Haushaltsausschuß Antrag der Fraktion der SPD zur Minderung des Ver- kehrslärms an Straßen und Schienen; das ist Druck- ZP7 Erste Beratung des von den Abgeordneten Pe- sache 13/5390. ter Conradi, Norbe rt Gansel, Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast, weiteren Abgeordneten und Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksa- der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs che 13/1042 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be- eines Gesetzes zur Änderung des Bundesmi- schlußempfehlung des Ausschusses? - Gegenstim- nistergesetzes und des Gesetzes über die men? - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist Rechtsverhältnisse der Parlamentarischen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Staatssekretäre Stimmen der gesamten Opposition angenommen worden. - Drucksache 13/6452 — Überweisungsvorschlag: Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Innenausschuß (federführend) Drucksache 13/6958 an die in der Tagesordnung auf- Rechtsausschuß geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO 14182 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer Zum Bundesbesoldungs- und -versorgungsanpas- DM. Diese Entlastung ist angesichts der äußerst an- sungsgesetz liegen zwei Änderungsanträge der gespannten finanziellen Situation der öffentlichen Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. Haushalte unerläßlich. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für Für die Betroffenen bedeuten die Maßnahmen hin- die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - gegen einen nicht unerheblichen zusätzlichen Spar- Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlos- und Konsolidierungsbeitrag, der nur wegen der wirt- sen. schaftlichen und finanziellen Gesamtsituation gerade noch zumutbar erscheint. Ich eröffne die Aussprache. Das Wo rt hat zunächst der Abgeordnete Otto Regenspurger. Es müssen aber wenigstens zwei Punkte besonders herausgestellt werden, um nicht in Vergessenheit zu geraten: Otto Regenspurger (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren, Kollegin- Erstens. Der seit 1975 bei den Beamten und Ver- nen und Kollegen! Was lange währt, wird hoffentlich sorgungsempfängern entstandene Rückstand bei der endlich gut, könnte man das Gesetz überschreiben, Einkommensentwicklung vergrößert sich weiter auf das wir heute in zweiter und dritter Lesung beraten. deutlich über 12 Prozent. Das Gesetz über die Anpassung der Dienst- und Ver- Zweitens. Die im gleichen Zeitraum erzielten be- sorgungsbezüge in Bund und Ländern, über das wir scheidenen realen Einkommenszuwächse für diesen heute befinden, berücksichtigt weitestgehend das Personenkreis verringern sich wieder auf knapp 11 Tarifergebnis für die Arbeitnehmer des öffentlichen Prozent. Sie erreichen damit nicht annähernd die ver- Dienstes vom 20. Juni 1996 und die Entwicklung der gleichbaren Steigerungen der Gesamtwirtschaft von allgemeinen wirtschaftlichen und finanziellen Ver- über 24 Prozent. Erst recht können sie nicht mit de- hältnisse. nen der gewerblichen Wirtschaft von über 30 Prozent Die Besonderheiten dieses Gesetzes liegen unter konkurrieren. anderem darin, daß es, wie schon das Anpassungsge- Ich sage das sehr bewußt, weil wir nämlich immer setz 1988, Maßnahmen zur Verbesserung der Bezüge wieder darüber diskutieren müssen, wie gut der öf- über einen längeren Zeitraum, nämlich jetzt für zwei fentliche Dienst besoldet sei. Es ist eben nicht so, daß Jahre, beinhaltet. Den öffentlichen Haushalten brin- es im öffentlichen Dienst nur Beamte der höheren gen derartige Regelungen nicht zuletzt die notwen- Einkommensgruppen gibt, sondern wir haben sehr dige Planungssicherheit. viele im einfachen und mittleren Dienst, die hier Zu den Maßnahmen des Gesetzes im einzelnen: auch ihren Beitrag leisten. Für das Jahr 1996 sollen Bezügeempfänger mit auf- Unberücksichtigt bleiben soll schließlich auch steigenden Gehältern eine einmalige Zahlung von nicht, daß die Anpassungsmaßnahme angesichts der 300 DM erhalten. Die Zahlungen wurden bereits vor- vom Sachverständigenrat, den Wirtschaftsf or- genommen. Sie entsprechen einer Bezügeverbesse- schungsinstituten und der Bundesregierung progno- rung von jahresdurchschnittlich rund 0,5 Prozent stizierten Rahmendaten für das laufende Jahr nicht und liegen damit um ein Vielfaches unter den Neu- die volle Angleichung der Bezüge an die allgemeine abschlüssen der gewerblichen Wi rtschaft von rund wirtschaftliche Entwicklung sicherstellt. So wird 1,8 Prozent. Da die jährliche Sonderzuwendung wei- 1997 übereinstimmend von einem Wirtschaftswachs- terhin nur auf dem Niveau von 1993 gewährt und zu- tum von bis zu 2,5 Prozent und einer Preissteigerung dem die Arbeitszeit verlängert wurde, ist weitestge- um 1,5 Prozent ausgegangen. hend eine Kompensation der Mehrkosten für die Ein- malzahlung eingetreten. Die Nichtberücksichtigung der Beamtenanwärter bei den Anpassungsmaßnahmen 1996 und 1997 folgt Für das laufende Jahr 1997 sieht das Gesetz unter allein dem Tarifergebnis vom 20. Juni 1996. Zeit- und anderem Einkommensverbesserungen ab 1. März inhaltsgleich mit diesem Ergebnis sieht das Gesetz um 1,3 Prozent vor; bei Empfängern von Bezügen der hingegen eine Anhebung des Bemessungssatzes Besoldungsordnung B, der Besoldungsgruppen C 4 nach der zweiten Besoldungsübergangsverordnung und R 3 bis R 10 dagegen erst ab 1. Juli. Die im Ver- vor. Zum 1. September 1997 werden die Bezüge in gleich zum Tarifabschluß für den öffentlichen Dienst den neuen Bundesländern auf das Niveau von überwiegend um zwei Monate verzögerte Bezüge 85 Prozent der für das bisherige Bundesgebiet gel- verbesserung entspricht einer Anhebung von nur tenden Bezüge angehoben. Auch wenn nicht ver- noch jahresdurchschnittlich 1 Prozent. kannt wird, daß bereits in über 50 Tarifbereichen die Zusätzlich hat die Bundesregierung 1997 den Weg- volle Angleichung der Bezüge in den neuen Bundes- fall beider Arbeitszeitverkürzungstage inzwischen ländern an das Westniveau wirksam oder für die durch eine eigene Rechtsverordnung geregelt. Das nahe Zukunft vereinbart worden ist, darunter unter führt bei den Bundesbeamten rein rechnerisch be- anderem auch der öffentliche Dienst in Berlin, war reits zu einer echten Null-Runde. eine weitere Verbesserung der wirtschaftlichen und finanziellen Entwicklung im Beitrittsgebiet leider rt nicht der erwartete Konsoli- Durch die Verschiebung der allgemeinen Bezüge- nicht möglich. Bevor do - erhöhung und der erneuten Festschreibung der jähr- dierungsprozeß eingesetzt hat, lassen sich auch lichen Sonderzuwendung auf dem Stand von 1993 heute noch keine seriösen Perspektiven für weitere ergeben sich für die öffentlichen Haushalte 1997 so- Angleichungen aufzeigen. Wir sind aber gewillt, dies g Minderausgaben von mehr als 1,3 Milliarden so bald wie möglich zu tun. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997 14183 Otto Regenspurger Das Gesetz sieht ferner die Aussetzung einer An- chen um Vorschriften zur Verteilung der Versor- passung von Amtsbezügen vor. Die Mitglieder der gungslasten für den Beamten- und Soldatenbereich Bundesregierung und die Parlamentarischen Staats- sowie um die Geltung der Ermächtigungsgrundlage sekretäre des Bundes setzen damit neben der bereits zum Erlaß besoldungs- und versorgungsrechtlicher bestehenden Absenkung ihrer Amtsbezüge ein wei- Übergangsregelungen in den neuen Bundesländern. teres persönliches Zeichen ihres Sparwillens. Außerdem galt es, die Feststellung des Bundesver- (Peter Conradi [SPD]: Aber nur für ein Jahr! fassungsgerichtes über die Verfassungswidrigkeit Dann springt es wieder hoch!) bestimmter Vorschriften in § 55 Bundesbesoldungs- - Jahr für Jahr haben sie es aber getan, Herr Con- gesetz auch mittels Übergangsregelung möglichst radi. Sie haben die Erhöhung der Amtsbezüge aus- umgehend umzusetzen. gesetzt. Eine Fortführung wird dem weiteren Verfah- Auch zu diesen Ergänzungen und Änderungen ren überlassen bleiben. Sie haben auf jeden Fall auf des Gesetzes wird hier - ich bitte darum - Ihre Zu- die Erhöhung der Amtsbezüge verzichtet. Ich emp- stimmung erwartet. fehle den Ländern, die das bis jetzt noch nicht ge- macht haben, dies auch zu tun. Mit der heutigen zweiten und dritten Lesung geht ein Gesetzgebungsverfahren zu Ende, das im Ablauf (Beifall des Abg. Dieter Wiefelspütz [SPD]) sicherlich nicht zu den Sternstunden des Parlamen- Es wäre an der Zeit, daß nicht immer auf das Bundes- tes zählt. gesetz Bezug genommen wird, sondern es sollten (Dieter Wiefelspütz [SPD]: Wieso eigentlich auch diejenigen, die immer wieder in den Ländern nicht, Herr Regenspurger?) munter meckern, selbst handeln und verzichten, wie es vom Bund vorgemacht wird. Ich kann das so nicht - Deshalb nicht, weil ich einige Verquickungen sehe. mehr ertragen. Es ist allerdings gut - das sage ich deutlich -, daß es (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. im Parlament auch möglich ist, etwas, das in Aus- sowie des Abg. Dieter Wiefelspütz [SPD]) schüssen festgeschrieben wurde, aber nicht die Mehrheit des Hauses findet, wieder zurückzuüber- Deshalb haben wir in einer Entschließung die Län- weisen. Das ist eine gute parlamentarische Sache. der aufgefordert, die Amtsbezüge der Mitglieder der Aber manche Überlegungen, die in diesem Zusam- -Landesregierungen und der hauptamtlichen Amts menhang eine Rolle gespielt haben, kann ich nicht und Mandatsträger - auch im kommunalen Bereich akzeptieren. soll das gelten - künftig durch Landesrecht ohne dy- namische Verweisung auf Bundesrecht eigenständig (Peter Conradi [SPD]: Sie hätten es besser zu regeln. kippen sollen!) (Zuruf von der F.D.P.: Sehr gut!) - Aber Herr Conradi, wollen Sie den kleinen Leuten wirklich die Besoldungsanpassung wegnehmen? Dies wäre ein wichtiger Beitrag im Rahmen des föde- rativen Aufbaus unseres Staates. ( [SPD]: Nein, das wollen wir nicht!) Dieses Gesetz verlangt von den Empfängern von Dienst-, Versorgungs- und Amtsbezügen insgesamt - Wenn Sie das Gesetz gekippt hätten, wäre es aber einen besonderen, aber noch angemessenen Spar- so gewesen. beitrag. Es berücksichtigt mit maßvollen Anpas- sungsvorhaben die schwierige finanzielle Situation der öffentlichen Haushalte, und zwar aller öffentli- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Gestatten Sie chen Haushalte. Die Vorhaben sollten daher heute eine Zwischenfrage des Kollegen Conradi? die Zustimmung aller finden, damit sich der Erhö- hungsbetrag auf dem Gehaltszettel schnellstmöglich Otto Regenspurger (CDU/CSU): Ja, bitte. wiederfindet. Ich denke hier ganz besonders an die Bezieher kleiner Einkommen, die auf jeden Pfennig angewiesen sind. Peter Conradi (SPD): Erinnern Sie sich, Herr Abge- ordneter, daß wir hier in zweiter Lesung eine Mehr- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) heit gegen das Gesetz hatten und daß ich mich auf Das ursprüngliche Gesetzeswerk mußte allerdings Bitten der Parlamentarischen Geschäftsführer mit der entgegen früheren Gepflogenheiten noch um wei- Rücküberweisung in der Erwartung einverstanden tere Vorhaben angereiche rt werden. Es ist ein Stil- erklärte, daß das Gesetz substantiell geändert bruch im Vergleich zu früher, als wir im Zuge von Be- würde? soldungsanpassungen nichts angereichert, sondern (Ina Albowitz [F.D.P.]: Ist es ja auch!) alles so belassen haben. So waren die Ergänzungs- wünsche des Bundesrates zur Angleichung der Äm- Dann haben aber die Fraktionsvorstände und der In- terstruktur für Professoren an den Pädagogischen nenausschuß erst einmal gesagt: Es wird überhaupt Hochschulen in Baden-Württemberg durch Strei- nichts geändert. Da habe ich mich allerdings ver- chungen des Professorenamtes in Besoldungsgruppe geigt gefühlt. Erst unter dem Druck, das Gesetz mög- C 2 ebenso zu berücksichtigen wie die Verlängerung licherweise auch beim zweiten Mal hier scheitern zu der für das Beitrittsgebiet geltenden Sonderregelung lassen, sind Sie zu einer minimalen Änderung bereit um drei Jahre. Es handelte sich dabei im wesentli- gewesen. 14184 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997

Otto Regenspurger (CDU/CSU): Herr Kollege Ich will hervorheben, daß die Anhebung der Besol- Conradi, ich erkenne ohne weiteres an, daß Sie mit dung für die Beamten mit linear 1,3 Prozent sicher- Ihrer Rücküberweisung das Gesetz damals gerettet lich sehr maßvoll ist. In unserer Fraktion war insbe- haben. Damit ist den Beziehern kleiner und mittlerer sondere der Sparbeitrag der wirklich gutbezahlten Bezüge kein Schaden entstanden. Dafür danke ich Beamtinnen und Beamten umstritten. Da hätten sich Ihnen an dieser Stelle. manche von uns noch ein bißchen mehr vorgestellt angesichts der Tatsache, daß Beamte einen sicheren (Ina Albowitz [F.D.P.]: Da müssen Sie ihm Arbeitsplatz haben und die Bezüge relativ hoch sind. nicht danken! Da müssen Sie mir danken!) Es gab einen Vorschlag zur Kappungsgrenze. Wir ha- - Das mache ich gerne, Frau Albowitz, das ist über- ben uns darauf geeinigt, daß für bestimmte höhere haupt keine Frage. Ich danke allen, die mitgewirkt Besoldungsgruppen die lineare Besoldungsanpas- haben, daß die Leute endlich ihr Geld kriegen. sung erst am 1. Juli 1997 erfolgen soll. Das ist sicher- lich ein vernünftiger, vertretbarer Kompromiß, der Ich möchte auch einmal einen Dank an den öffent- uns allen geholfen hat. lichen Dienst insgesamt aussprechen. Der öffentliche Uns war sehr wichtig, daß wir noch einmal darüber Dienst ist nicht so schlecht, wie er ständig dargestellt nachdenken, was denn eigentlich den Unmut im wird. Das soll an dieser Stelle auch einmal gesagt Hause - nicht nur in unserer Fraktion, sondern frak- werden. In den Fällen, in denen die öffentlich Be- tionsübergreifend - hervorgerufen hat. Dieser Unmut diensteten angepflaumt werden, stellen wir uns als liegt darin begründet, daß sich die Bundesländer ein- Politiker vor sie und sagen danke schön für das, was fach an die Entscheidungen des Bundesgesetzgebers sie leisten. angekoppelt haben. Das wäre vielleicht noch ver- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD ständlich. Aber insbesondere die Spitzen dieser Bun- sowie bei Abgeordneten der F.D.P.) desländer nehmen für sich in Anspruch, was sie ei- nem anderen Verfassungsorgan, nämlich dem Deut- Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich schen Bundestag, vollmundig abgesprochen haben. möchte in den Dank natürlich auch meine Mitbe- richterstatter einbeziehen, und zwar ganz besonders (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!) Herrn Stadler und Herrn Krüger, die in den Vorge- Das hat natürlich zu einigen Überlegungen ge- sprächen und auch in den Beratungen - da gab es führt. Es ist dem Bundesinnenministerium zu dan- keine Auseinandersetzungen, auch das muß ich sa- ken, daß dort auch verfassungsrechtliche Überlegun- gen - konstruktiv miteinander gearbeitet haben. gen stattgefunden haben. Wir beraten heute erneut Auch den Mitarbeitern, die mitgewirkt haben, sage vor leeren Bänken des Bundesrates. Wir können na- ich ein Dankeschön. hezu übereinstimmend in diesem Hause feststellen: Es gab sicherlich hektische und aufgeregte Situa- Wir, der Deutsche Bundestag, sind der Auffassung, tionen. Lassen Sie uns heute nicht weiter in Hektik daß die Entscheidungen über die Amtsbezüge insbe- und Aufregung miteinander streiten, sondern lassen sondere der Beamten der Landesregierungen und Sie uns die Sache gemeinsam angehen. Heute gilt es: anderer Spitzenbeamter auf der Landesebene - kom- Lassen wir den Entwurf zum Gesetz werden. munaler Wahlbeamter, Oberbürgermeister, Land- räte - durch den jeweiligen Landesgesetzgeber zu (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) treffen sind. Es gilt dabei nicht die automatische An- passung an die Entscheidung des Bundesgesetzge- bers. Das sorgt für Klarheit und für klare verfassungs- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat rechtliche Verantwortlichkeiten. jetzt der Kollege Dieter Wiefelspütz. (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Dieter Wiefelspütz (SPD): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Kollege Regenspurger hat Herr Staatssekretär Waffenschmidt, wir erwarten die Details des Gesetzentwurfs zutreffend wiederge- von Ihrem Hause, daß auch Sie im Rahmen Ihrer Zu- geben; das muß ich nicht wiederholen. Herr Regens- ständigkeiten darauf achten - Sie sind von seiten der purger, in aller kollegialen Wertschätzung, ich muß Bundesregierung in besonderer Weise für die Verfas- Ihnen doch widersprechen: Ich würde im Zusammen- sung mitverantwortlich -, daß der Bundesrat, das hang mit diesen Beratungen zwar nicht von einer heißt: die Länder, diese Überlegungen in die Tat um- Sternstunde des Parlamentes reden wollen, aber dem setzen. Wir können die Länder nicht zwingen; sie ha- Kollegen Conradi ist in der Tat zu danken, daß er es ben sich bei uns angekoppelt. Wir können uns nicht ganz alleine in offener Feldschlacht - ich kenne nur abkoppeln, sondern die Abkopplung kann nur von einen Kollegen, der das schafft; das ist eben Peter den Ländern selber vorgenommen werden. Conradi - geschafft hat, diesen Gesetzentwurf kurz Dies ist ein wichtiger Punkt. Das Plenum und der vor Beendigung der Beratung noch einmal zur Bera- Innenausschuß werden nachhaken. Wir haben die tung in den Innenausschuß zurückzuüberweisen, um herzliche Bitte, daß auch von Ihrer Seite nachgehakt sicherzustellen, daß einiges präzisiert und klarge- wird. Sie haben ja entsprechende Möglichkeiten, mit stellt wird. Darauf wird hier noch einmal einzugehen den Ländern in den geeigneten Gremien darüber zu sein. Es ist ganz gut, zu erwähnen, daß wir ohne diskutieren. diese Initiative heute nicht da ständen, wo wir, durchaus auch einvernehmlich, stehen. Das war sehr Nach Abschluß der Beratungen im Innenausschuß konstruktiv. sind wir insgesamt gesehen zu vernünftigen Ergeb- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997 14185

Dieter Wiefelspütz nissen gekommen, so daß ich heute zum Abschluß derungen im Rentenbereich, die die Beamten nicht meines Beitrages sagen kann: Nach intensiver Dis- betreffen. kussion sind wir - die SPD-Bundestagsfraktion - der Auffassung, daß wir diesem Bundesbesoldungsan Umgekehrt ist es so, daß Bund, Länder und Ge- passungs- und -versorgungsgesetz in der geänderten meinden hier vor einer absehbaren gewaltigen La- Form zustimmen werden, weil das Ganze so vertret- wine von Kosten stehen, die kaum zu bewältigen bar erscheint. Wir sind der Auffassung, daß Tarifver- sein wird. Von heute bis zum Jahr 2040 werden sich einbarungen im öffentlichen Dienst im Prinzip auch die Versorgungskosten den Schätzungen zufolge auf den Bereich der Beamtenschaft übertragen wer- versechsfachen. Ich denke, daß dies Anlaß ist, um den sollten - mit gewissen Abschwächungen insbe- gründlich darüber nachzudenken, ob es so weiterge- sondere dort, wo es sich die betreffenden Beamten hen kann. Wir haben im Rahmen dessen, was wir und Beamtinnen auch relativ gut leisten können. heute hier debattieren, wenigstens an einer Stelle den Versuch machen wollen, einzugreifen, indem wir Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. gefordert haben, bei den B-Bezügen eine Nullrunde einzulegen und nur bei den niedrigeren Beamtenein- (Beifall bei der SPD und der F.D.P. sowie bei kommen die Erhöhung greifen zu lassen. Wir haben Abgeordneten der PDS) uns bedauerlicherweise damit nicht durchgesetzt.

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat Was ich aber nun vor allen Dingen ansprechen jetzt der Kollege Gerald Häfner. will, was auch die SPD mit ihrem Antrag beabsichtigt und was, wie ich heute den Zeitungen entnommen habe, auch in der Bundesregierung intensiv zur De- Gerald Häfner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau batte steht, ist - das ist längst überfällig - die Frage Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei der der Anpassung der Übergangsgelder bzw. der Al- heutigen Debatte sind einige Tagesordnungspunkte tersbezüge bei Regierungsmitgliedern. Lassen Sie verbunden worden, die im Grunde genommen wenig mich hier sehr deutlich sagen: Ich bin nicht bereit, miteinander zu tun haben. Ich habe ein bißchen die dies alles in einen Topf zu werfen, also hier von „der Sorge, daß wieder einmal alles vermischt wird. politischen Klasse" oder von den „Parlamentariern" zu sprechen, wenn Regierungsmitglieder gemeint Vielleicht hat jemand gestern abend das „Nacht- sind. Wir haben vor einiger Zeit in einer schmerzhaf- journal" bei RTL gesehen. ten Diskussion und Entscheidung in diesem Hause (Dr. Max Stadler [F.D.P.]: Leider nicht!) etwas erklärt, was meines Erachtens selbstverständ- lich sein sollte, nämlich daß Übergangsgelder ihren Ich habe in dieser Sendung ein Interview Sinn darin haben, eine vorübergehende Berufs- oder (Heiterkeit) Einkommenslosigkeit auszugleichen. Ich denke, sie haben Sinn, wenn ich mir manche Kollegen an- - das war nicht der Punkt, auf den ich hinauswollte; schaue, die acht, zwölf oder sechzehn Jahre hier in ich wollte Ihnen nur schildern, was ich do rt am eige- diesem Haus sehr viel Arbeit geleistet haben und nen Leibe erlebt habe - zum Thema „Übergangs- dann in einen Beruf zurückkehren, in dem das, was gelder bei Regierungsmitgliedern" gegeben. Durch sie an Erfahrung mitbringen, längst nicht mehr Stand die Moderation seitens des Senders ist daraus etwas des Wissens und der Technik ist. Sie brauchen im geworden, was sich mit Übergangsgeldern der Parla- Grunde enorm viel Zeit und Kraft, um das aufzuho- mentarier beschäftigt hat. Kein Mensch, der diese len, was sich in der Zwischenzeit an Entwicklungen Sendung verfolgt hat, konnte erkennen, daß es bei vollzogen hat, um überhaupt wieder in den Beruf dem, was da gesagt wurde, um ein völlig anderes hineinzukommen. Dafür sind Übergangsgelder ge- Thema ging, weil man offensichtlich noch immer dacht. nicht bereit ist, die Bezüge der Parlamentsmitglieder und die der Mitglieder der Bundesregierung ausein- (Beifall bei der SPD) anderzuhalten. Ich denke, dies gibt heute Anlaß, dar- Wer aber Übergangsgelder als ein Zubrot zu einem über zu sprechen. ohnehin schon enormen Einkommen oder, wie im Auch ich danke ausdrücklich Herrn Kollegen Con- Falle einer Kollegin des Hauses, zu zwei ohnehin radi für diese Initiative, die den Finger in eine offene schon enormen Einkommen versteht, der hat das Wunde gelegt hat. Ich schließe mich dem an, was nicht nur mißverstanden, sondern diese Praxis scha- hier gesagt wurde, daß es dringend notwendig ist, det uns allen, dem Ansehen des Parlaments und dem daß dieses Verstecken im Rahmen der Gesamtanpas- Ansehen der Politik in unserem Land. sung und dieser Automatismus endlich beendet wer- den und daß Bund und Länder in je eigenen Geset- Ich erinnere deshalb daran, daß unsere Fraktion zen die Bezüge auch der Regierungsmitglieder re- schon in der 11. Legislaturperiode, zuletzt aber auch geln. in dieser Legislaturperiode, am 25. November 1995, einen Antrag eingebracht hat, der genau diese Sache Ich möchte nur kurz auf das Thema Besoldungsan- zu regeln versucht. Ich finde es schon ausgesprochen passung eingehen: Wenn stimmt, was Peter Grottian ärgerlich, daß die Bundesregierung in diesem Be-- errechnet hat, dann ist es so, daß in vergleichbaren reich, der nun wirklich ihr ureigenster Regelungsbe- Bereichen die Bezüge bzw. die Nettoeinkommen der reich wäre, eine solche Regelung bis heute vermie- Beamten wieder deutlich stärker als die der Ange- den hat. Das, was der Bundesregierung als Apparat stellten gestiegen sind - dies erst recht durch die Än- zur Verfügung steht, um dera rtige Fragen zu regeln, 14186 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997

Gerald Häfner ist verglichen mit dem, was dem Parlament zur Ver- den Appell, zu sparen und mit öffentlichen Geldern fügung steht, ein Vielfaches. sinnvoll umzugehen, ernst nimmt. (Dr. Max Stadler [F.D.P.]: Wie hat das denn Ich danke Ihnen. das Land Hessen geregelt?) (Beifall bei der SPD) - Herr Stadler, man hat doch unheimlich viel unter dem Aspekt „Wir müssen sparen" und „Wir müssen den Gürtel enger schnallen" gemacht. Der Bundes- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat kanzler ist immer das lebende Gegenbeispiel, aber jetzt der Abgeordnete Dr. Max Stadler. das sind doch die Parolen. Man hat unter diesem Aspekt unzählige Gesetze vorbereitet, manchmal (F.D.P.): Frau Präsidentin! Meine über Nacht, bis hin zur Kürzung der Lohnfortzahlung Dr. Max Stadler sehr geehrten Damen und Herren! Mit der heutigen im Krankheitsfall. Aber diesen ungeheuren Wild- zweiten und dritten Lesung geht ein Gesetzgebungs- wuchs im Bereich der Regierungsmitglieder, der uns allen wirklich schadet, hat man nicht beseitigt. verfahren zu Ende, das ohne weitere Wertung in sei- nem Verlauf als eigentümlich bezeichnet werden So ist es eben bis heute so, daß schon nach sehr darf. kurzer Zeit der Mitgliedschaft in der Bundesregie- rung Ansprüche für Übergangsgelder, die sich auf (Dieter Wiefelspütz [SPD]: Das ist wahr!) gewaltige Summen und lange Zeiten erstrecken, und Zunächst waren für die Anpassung der Dienstbezüge Ansprüche für eine Altersversorgung, für die kein von Beamten, Richtern und Soldaten zwei Grund- Mensch mehr Verständnis hat, erworben werden. sätze allgemein unstrittig: Erstens. Der öffentliche Andere Bürgerinnen und Bürger müssen Jahrzehnte Dienst muß in finanziell schwierigen Zeiten seinen in die Rentenkasse einzahlen, um auch nur einen Anteil an der Einsparung von Haushaltsmitteln lei- Bruchteil dessen zu erwerben, was Regierungsmit- sten. Zweitens. Gleichwohl haben auch Beamte, glieder bereits nach einem oder zwei Jahren erreicht Richter und Soldaten sowie die Versorgungsempfän- haben. ger des Bundes, der Länder und Gemeinden ein An- Ich meine, daß es dringend nötig ist - nicht nur, recht auf Anpassung ihrer Bezüge entsprechend der weil ich höre, daß das Gesetz gerade vorbereitet Entwicklung der allgemeinen wirtschaftlichen und fi- wird, und deswegen die Hoffnung habe, daß man nanziellen Verhältnisse. noch eine Anregung geben kann -, daß jetzt nicht Diesen beiden Prinzipien hat der ursprüngliche nur das geregelt wird - - Gesetzentwurf der Bundesregierung entsprochen. Er (Dieter Wiefelspütz [SPD]: Loben Sie doch sah eine lineare Anhebung der Dienst- und Versor- mal den SPD-Entwurf! - Peter Conradi gungsbezüge um 1,3 Prozent sowie die Gewährung [SPD]: Wir machen doch die Gesetze, nicht einer Einmalzahlung in Höhe von 300 DM für 1996 die Regierung!) vor. Dies entsprach einer Übernahme des Ergebnis- ses der Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst. - Wir stimmen heute über den SPD-Entwurf nicht ab, wir werden ihn überweisen, aber wir haben keinen So schien es zunächst, als würde im Dezember im Dissens mit diesem Entwurf; wir werden ihn ganz Plenum lediglich ein Routinebeschluß zu fassen sein. und gar unterstützen. Daß dies nicht so kam, war das Verdienst des Kolle- gen Conradi, der mit seinem damaligen Beitrag den (Dr. Uwe Küster [SPD]: Ganz klare Äuße berechtigten Ärger über die Verweisungsregelun- rung! Danke!) gen in den Ländergesetzen zum Ausdruck gebracht hat. Dieser Ärger ist deswegen berechtigt, weil die Es gibt aber eine Reihe weiterer Fragen, die noch Bundesländer, genauer gesagt: die Landesregierun- geklärt werden müssen, etwa bei den Altersbezügen gen und damit die Ministerpräsidenten und auch von Regierungsmitgliedern, bei der Frage der An- kommunale Wahlbeamte, über sogenannte dynami- rechnung von Übergangsgeldern auf private Ein- sche Verweisungen an dem Anteil haben, was der künfte und bei der Frage, ob es denn zum Beispiel Bundestag beschließt. In Wahrheit aber geht es richtig ist, Herr Wiefelspütz, daß die Übergangsgel- selbstverständlich um Regelungen, die eigenständig der bei Regierungsmitgliedern und Staatssekretären und vor allem in einem transparenten Verfahren von ebensolange gezahlt werden, wie man Mitglied der den Landtagen der Bundesländer zu treffen wären. Regierung war. Sie wissen, daß das bei Abgeordne- ten ungleich viel kürzere Zeiträume sind. Ich finde es Eigentümlich war aber wiederum unser Verfahren schwer begründbar, warum das bei der Regierung so der Zurückverweisung an den Innenausschuß des- ungleich viel länger ist. Ich finde auch schwer be- wegen, weil damit die allgemeine Erwartung verbun- gründbar, warum bei den Altersbezügen die Summe den worden war, wir könnten an diesem unguten Zu- höher ist und die Zeiten, in denen Anwartschaften stand der Verweisungsregelungen der Länder etwas erworben werden, ungleich viel kürzer sind: Im Bun- ändern. destag muß man acht Jahre Mitglied sein, um An- wartschaften zu erreichen, in der Bundesregierung (Ina Albowitz [F.D.P.]: Ja, leider nicht!) - nur zwei Jahre. Die sorgfältige Beratung im Innenausschuß hat aber Hier ist vieles, was geändert werden könnte, damit ergeben, daß dies nicht in unsere Zuständigkeit fällt, auch die andere Seite endlich einmal nachzieht und so daß uns nur der Appell an die Bundesländer Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997 14187

Dr. Max Stadler bleibt, dies in eigener Zuständigkeit in Ordnung zu herauszugreifen, wie dies Bündnis 90/Die Grünen bringen. gewünscht haben. (Ina Albowitz [F.D.P.]: Herr Eichel kann mit Weil meine Redezeit abläuft, möchte ich nur kurz gutem Beispiel vorangehen!) auf das Thema eingehen, auf das Herr Häfner mehr Zeit verwendet hat. Die Eckpunkte, die gestern vom Ich habe diesbezüglich bereits einen Briefwechsel Kabinett verabschiedet worden sind, wonach private mit der bayerischen Staatskanzlei geführt, vor allem Einkünfte, jedenfalls berufliche Einkünfte, auf die deswegen, weil der Freistaat Bayern ja zu denjeni- Übergangsgelder angerechnet werden, finden die gen Bundesländern gehört, die in ganz besonderer Billigung der F.D.P.-Fraktion. Einen entsprechenden Weise immer auf ihre Eigenstaatlichkeit pochen. Wie Gesetzentwurf, zu dem der Innenminister gestern nicht anders zu erwarten war, teilt die bayerische aufgefordert worden ist, werden wir unterstützen. Staatskanzlei nicht die Auffassung des Bundesinnen- ministeriums, diese Verweisungen, mit denen man Vielen Dank. eine Länderentscheidung praktisch auf den Bund de- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) legiert, seien verfassungswidrig. Unter Bezugnahme auf einige Rechtsprechungen des bayerischen Ver- fassungsgerichtshofs wird die Verfassungsmäßigkeit Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat dieses Zustands betont, aber auch behauptet, der jet- jetzt die Kollegin Maritta Böttcher. zige Zustand sei verfassungspolitisch richtig. Dem möchte ich hier entschieden entgegentreten. Maritta Böttcher (PDS): Sehr geehrte Frau Präsi- (Beifall im ganzen Hause) dentin! Meine Damen und Herren! Ich finde es in Ordnung, wenn die Anpassung von Dienst- und Ver- Es bleibt uns nur der Appell an die Bundesländer, in sorgungsbezügen dem Bundestag zumindest eine dem Sinne zu verfahren, wie es Herr Wiefelspütz Diskussion we rt ist und nicht, wie bisher üblich, ohne schon ausgeführt hat. Debatte verabschiedet wird. Das hat letztlich Herr Es wäre aber der falsche Weg gewesen, wegen die- Conradi bewirkt, wofür ich ihm dankbar bin. ses Bund-Länder-Konflikts nun die Besoldungserhö- Die Arbeitslosen, Kranken, Behinderten, Auslän- hung insgesamt scheitern zu lassen. Das wäre zu La- derinnen und Ausländer, BAföG-Studierenden usw., sten der Beamten gegangen. Das wäre völlig unan- denen mit der Sparpolitik der Bundesregierung eine gemessen gewesen. Insofern war das Verfahren ei- Kürzung nach der anderen zugemutet wird, haben gentümlich, als der Innenausschuß gar nicht anders ein Recht darauf, zu erfahren, daß auch in anderen konnte, als im Prinzip bei der ursprünglichen Geset- Bereichen über mögliche Einsparungen zumindest zesfassung zu bleiben. Daß nun im Kompromißwege nachgedacht wird. Dabei kommen aber einige - wie zum Nachteil der Angehörigen der Besoldungsord- ich meine: nicht ganz unberechtigte - Fragen auf. nung B bzw. der Besoldungsgruppen C 4, R 3 bis R 10 Auf der einen Seite müssen Arbeitslose ihren Le- (Peter Conradi [SPD]: Bitte ein Taschentuch! bensunterhalt teilweise aus Abfindungen bestreiten, Mir werden die Augen feucht!) während auf der anderen Seite Parlamentarische nicht nur wie bei den Angehörigen der anderen Be- Staatssekretäre oder Parlamentarische Staatssekretä- soldungsgruppen eine weitere Verschiebung der An- rinnen mit vergleichsweise astronomischen Abfin- passung - im Vergleich mit dem Tarifbereich - um dungssummen von einem gut dotierten Job in einen zwei Monate, sondern eine Verschiebung auf den anderen - vielleicht sogar besser dotierten - Job 1. Juli beschlossen worden ist, ist etwas, was mit der wechseln. ursprünglichen Streitfrage, wie sie im Dezember im Auf der einen Seite werden Lernbehinderte in das Plenum erörtert worden ist, nicht das geringste zu soziale Aus getrieben, weil Förderlehrgänge nicht tun hat. mehr finanziert werden können, während auf der an- (Zurufe von der SPD: Doch!) deren Seite manche keine größeren Sorgen haben, als über die Wahrung ohnehin nicht zu knapp be- Ich bin der Auffassung, daß es eine sachliche Be- messener Besitzstände zu verhandeln. Auch hierzu gründung für diese Ungleichbehandlung kaum gibt. ist bereits ein Beispiel genannt worden. Wir hatten dies aber im Rahmen des Kompromisses zu akzeptieren, weil sonst eine Mehrheitsbildung Die Liste sozialer Ungerechtigkeiten ließe sich be- nicht möglich gewesen wäre. liebig erweitern. Aber damit bin ich auch schon bei einem Problem, nämlich den Motiven, auf Grund de- Die Änderungsanträge der Grünen dagegen wa- ren hier heute diskutiert wird. Mehrere Abgeordnete ren für uns nicht akzeptabel. Das gilt auch für den erklärten ihre Ablehnung des Gesetzentwurfs in der Antrag, in dem gefordert wird, die Sicherheitszulage Sitzung am 12. Dezember damit, daß den Amts- und zu streichen. Ich möchte aber die Gelegenheit benut- Mandatsträgern in Deutschland in der laufenden Ta- zen, um anzukündigen, daß die Koalition das Zula- rifrunde ein dem der Bundestagsabgeordneten ver- genwesen insgesamt durchforsten will und schon als- gleichbares Opfer abverlangt werden müsse und daß bald ein Gesamtkonzept dafür vorlegen wird, welche sich die Zurückhaltung bei der Einkommensentwick- Zulagen heute noch gerechtfertigt erscheinen und lung nicht nur auf die Mitglieder des Bundestages welche Zulagen ihren ursprünglichen Sinn verloren und der Bundesregierung beschränken dürfe. Diese haben. Es ist aber nicht der richtige Weg, jetzt, in die- Erklärungen lassen vielleicht auch einen Umkehr- sem Gesetzgebungsverfahren, eine einzelne Zulage schluß zu. Wäre die Diätenanpassung turnusmäßig 14188 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997

Maritta Böttcher erfolgt, hätte hier möglicherweise niemand ein Pro- setzes und des Gesetzes über die Parlamentarischen blem gehabt - und das Gesetz wäre wie gewöhnlich Staatssekretäre. ohne Debatte durchgegangen. Fangen wir beim Übergangsgeld an: Das Über- Wie die Stellungnahmen von Gewerkschaften und gangsgeld soll den Übergang von einer zeitlich befri- Beamtenbund zeigen, gibt es noch ganz andere steten politischen Tätigkeit in eine andere berufliche Gründe, weswegen man gegen das vorliegende Ge- Tätigkeit erleichtern. Das hat Herr Häfner hier schön setz sein könnte. Das sind die zeitliche Abkopplung dargelegt. Aber in vielen Fällen war das Übergangs- der Besoldung von der Bezahlung im öffentlichen geld nicht für den Übergang in einen anderen Beruf Dienst, die Forderung nach Bereitstellung zusätzli- notwendig, sondern es hat den Abschied vom Amt cher Ausbildungsplätze für die Nichtanpassung der versüßt. Anwärterbezüge entsprechend dem Tarifergebnis und nicht zuletzt die Zementierung von Ungleich- Der Bundestag hat aus dieser Entwicklung seine behandlung von Besoldungsempfängerinnen und Konsequenz gezogen. Wir haben das für uns geän- -empfängern in Ost und West. dert: Zukünftig werden ab dem zweiten Monat nach dem Ausscheiden alle Erwerbs- und Versorgungs- Ich will auch nicht verhehlen, daß ich noch ein wei- einkünfte aus öffentlichen und aus nichtöffentlichen teres Problem sehe. Die aus dem Obrigkeitsstaat Kassen angerechnet. stammenden Grundsätze des Beamtentums zielen darauf ab, den staatlichen Verwaltungsapparat mit- Die Bundesregierung ist diesem Beispiel des Hau- tels spezifischer Demokratieeinschränkungen und ses nicht gefolgt. Sie wollte vom goldenen Hand- Privilegien gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern schlag zum bitteren Abschied vom süßen Amt nicht abzuschotten und so unter allen Bedingungen funkti- lassen. Als ich im letzten Herbst vorschlug, das Bun- onsfähig zu halten. Wenn jetzt auch von Regierungs- desministergesetz zu ändern, war die Begeisterung seite der Beamtenstatus teilweise in Frage gestellt auch in meiner Fraktion gering. Das ist verständlich; wird - das tun Sie ja -, insbesondere für Lehrerinnen denn wir rechnen nicht nur damit, daß wir alle 1998 und Lehrer, so geschieht das vor allem aus finanziel- wiedergewählt werden, sondern die meisten von uns len Gründen. Im Grunde genommen soll der Beam- hoffen, daß sie für die Regierung auserwählt werden. tenstatus jedoch dauerhaft gewahrt werden. Aus un- (Beifall bei der SPD) serer Sicht sollte es aber weniger um die Bewahrung eines solchen abgeschotteten Apparates gehen als Es ehrt meinen Fraktionsvorstand, daß er meinem vielmehr - längerfristig - um eine transparente, bür- Vorschlag gefolgt ist. Spötter behaupten allerdings, gernahe Verwaltung, die den abgehobenen Staats- er sei dem Vorschlag in der Hoffnung gefolgt, die Ko- apparat wieder vom „Herrn" zum „Diener" macht. alition werde ihn ablehnen. (Otto Regenspurger [CDU/CSU]: So war es Wir haben Ihnen im letzten Herbst angeboten, ge- mal in der DDR, aber nicht bei uns!) meinsam das Ministergesetz zu ändern. Wir haben mit Herrn Minister Bohl gesprochen, und wir haben Ich möchte abschließend an noch etwas erinnern, mit den Koalitionsfraktionen gesprochen. Sie haben meine Damen und Herren. Es ging in der Rede von das abgelehnt. Jetzt haben Sie den Schaden und sind Herrn Conradi in der Sitzung im Dezember eben blamiert. Die Bundesregierung kündigt hastig an, sie doch um etwas anderes, Herr Stadler: Es ging um die wolle das alles ändern. Herr Staatssekretär Waffen- B- und R-Besoldung. Das ist nicht angemessen be- schmidt, die Gesetze ändert der Bundestag und nicht handelt worden. die Bundesregierung. Wir sehen Ihren Initiativen ge- (Ina Albowitz [F.D.P.]: Gott sei Dank!) spannt entgegen. Deshalb stimmen wir beiden Grünen-Anträgen zu. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- ten der PDS) Zum Schluß möchte ich sagen: Da die Anpassung Aber lassen Sie uns das Gesetz so ändern, daß das für die unteren und mittleren Besoldungsgruppen Übergangsgeld dann wirklich auch ein Übergangs- unbedingt erforderlich ist - Herr Stadler, Sie haben geld in eine neue Erwerbstätigkeit ist und nicht ein gesagt, die Menschen brauchen diese Bezüge drin- goldener Handschlag. gend -, werden wir uns bei der Abstimmung über den Gesetzentwurf der Stimme enthalten. Da gibt es zwei Fragen, die schwierig sind und die man klären muß: Das eine ist, was eigentlich mit je- (Beifall bei der PDS) mandem geschieht, der vom Amt in den Ruhestand geht. Wozu braucht der noch ein Übergangsgeld? Ich Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat zum Beispiel gehe nächstes Jahr mit 66 Jahren vom jetzt der Kollege Peter Conradi. Amt des Abgeordneten in den Ruhestand. Da brau- che ich doch kein Übergangsgeld mehr. Ich meine, das sollten wir neu regeln. Peter Conradi (SPD): Frau Präsidentin! Meine Da- men und Herren! Ich spreche nicht zum Besoldungs Das andere ist: Eine Änderung der Regelung zum anpassungs- und -versorgungsgesetz. Dazu möchte Übergangsgeld ist nach meiner Rechtsauffassung- ich nachher vor der Abstimmung eine Erklärung auch rückwirkend möglich. Das Argument, alle nach § 31 der Geschäftsordnung abgeben. Ich spre- Rechtstatbestände bei Amtsantritt dürften während che jetzt im Namen meiner Fraktion zum Entwurf ei- der Amtszeit nicht geändert werden, ist erstaunlich. nes Gesetzes zur Änderung des Bundesministerge- Dann dürfte die Bundesregierung nicht einmal die Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997 14189

Peter Conradi Beihilfeverordnung ändern. Natürlich gibt es einen sie würden im Parlament die Interessen des zah- hohen Vertrauensschutz hinsichtlich der Versor- lenden Arbeitgebers ... vertreten und nach Mög- gungsansprüche; darüber besteht kein Zweifel. Aber lichkeit durchzusetzen versuchen. Einkünfte die- wenn das Übergangsgeld häufig gar nicht seiner ser Art Zweckbestimmung entsprechend gezahlt wird, son- dern nur als Zubrot zum Ausscheiden, dann muß das - so das Verfassungsgericht - geändert werden können, notfalls auch für Abgeord- sind mit dem unabhängigen Status der Abgeord- nete. neten und ihrem Anspruch auf gleichmäßige fi- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne nanzielle Ausstattung in ihrem Mandat unverein- ten der PDS) bar. Ich will nun einige kritische Anmerkungen zum (Zuruf von der SPD: Hört! Hört!) Fall Yzer machen. Ich finde es erstaunlich, daß eine vom Volk gewählte Abgeordnete Zeit hat, neben der Die Koalitionsfraktionen wollten vor zwei Jahren Arbeit als Abgeordnete als Geschäftsführerin eines unserem Antrag auf Offenlegung dieser Nebenein- Verbandes für 400 000 DM im Jahr - so hört man un- künfte nicht folgen. Damals haben sie einen Ent- widersprochen - tätig zu sein. Offensichtlich gibt es schließungsantrag durchgesetzt mit dem Inhalt, der hier zwei Arten von Abgeordneten: Die einen neh- Geschäftsordnungsausschuß solle die Verhaltensre- men ihre Arbeit ernst, für die anderen dagegen ist geln prüfen und feststellen, ob nicht Änderungen der das Abgeordnetengehalt gerade ein Zubrot zu dem Anzeigepflichten über Nebentätigkeiten und Ein- Gehalt aus einem anderen Beruf, den man in einem künfte im Hinblick auf potentielle Interessenkon- Verband ausübt. Frau Yzer ist nicht die einzige, auf flikte notwendig seien. die das zutrifft. So furchtbar ernst hat die Koalition es nicht ge- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) meint. Denn: In dem Antrag stand, der Geschäftsord- Das Grundgesetz schreibt eine angemessene Be- nungsausschuß solle vor dem Sommer 1996 sein Prü- fungsergebnis vorlegen, damit das Haus entscheiden zahlung der Abgeordneten vor. Angemessen wäre - darüber sind wir uns einig - die Besoldung eines könne. Die Frist ist längst verstrichen; nichts liegt Bundesrichters. Die haben wir noch lange nicht er- vor. Wir sollten die Koalitionsmehrheit im Geschäfts- reicht. Aber wenn wir das mit dem hohen Anspruch, ordnungsausschuß mit allem Nachdruck auffordern, mit der hohen Belastung und auch der hohen Verant- ihre Arbeit zu tun und uns jetzt Vorschläge zu unter- wortung unseres Amtes begründen, dann nimmt uns breiten, wie man solche Interessenkonflikte zukünf- das doch niemand mehr ab, wenn eine Bundestags- tig behandeln will. abgeordnete neben ihrem Abgeordnetenmandat mit (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE 135 000 DM im Jahr für 400 000 DM in einem Ver- GRÜNEN und der PDS) band tätig ist. (Beifall bei der SPD) Unser Gesetzentwurf will die Gehälter für Mitglie- der der Bundesregierung von der Beamtenbesol- dung abkoppeln. Seit 1990 - das ist hier bereits ge- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Gestatten Sie sagt worden - hat die Bundesregierung viermal dar- eine Zwischenfrage des Kollegen Lattmann? auf verzichtet, an der Besoldungserhöhung teilzu- nehmen. Aber urn das deutlich zu machen: Immer Peter Conradi (SPD): Ja. wenn das Jahr vorbei war, sprangen die Gehälter au- tomatisch wieder in die B-Besoldungstabelle. Das heißt, es war immer nur ein Verzicht für ein Jahr - Herbert Lattmann (CDU/CSU): Herr Kollege Con- anders als der Verzicht der Abgeordneten, die letztes radi, ich stimme einem Teil Ihrer kritischen Bemer- Jahr mit ihrem Verzicht auf jährlich 6 300 DM im kungen ausdrücklich zu. Können Sie mir Ihrerseits Jahr einen Verzicht auf viele Jahre geleistet haben. darin zustimmen, daß das von Ihnen Gesagte nicht nur dann gelten darf, wenn es um Geschäftsführer Die heimliche Anpassung der Gehälter der Mit- von Arbeitgeberverbänden geht, sondern daß man glieder der Bundesregierung entspricht nicht der ver- bei allen Verbandstätigkeiten - bis hin zu den Ge- fassungspolitisch gebotenen Transparenz. Sie sind werkschaften - die gleichen Maßstäbe anlegen muß keine Beamte, auch wenn einige von ihnen sich wie und daß wir da ein großes Problem in Gänze haben - Beamte aufführen. Wir sollten ihre Bezüge deshalb nicht nur bezogen auf diesen Fall? von der Beamtenbesoldung trennen. Wir nennen deshalb im Gesetz die heutigen D-Mark-Beträge. Peter Conradi (SPD): Darüber sind wir nicht im Streit. Dem stimme ich zu. - Das Bundesverfassungs- Damit mich niemand mißversteht: Wir sind nicht gericht hat in seinem „Diäten-Urteil 1975" im fünften der Meinung, die Mitglieder der Bundesregierung Leitsatz gesetzliche Vorkehrungen dagegen gefor- seien zu hoch bezahlt. Im Verhältnis zu den weit überhöhten Spitzengehältern in der Wi dert - jetzt zitiere ich -: rtschaft - man muß sich darüber klar sein, daß Frau Yzer zusammen- ... daß Abgeordnete Bezüge aus einem Ange- mit ihrem Abgeordnetengehalt mehr als der Bundes- stelltenverhältnis ohne die geschuldeten kanzler bekommt - sind die Gehälter in der Politik Dienste zu leisten, nur deshalb erhalten, weil von gewiß nicht überhöht. Als Oppositionsabgeordneter, ihnen im Hinblick auf ihr Mandat erwartet wird, der viel vom Leistungsprinzip hält, würde ich dem ei- 14190 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997

Peter Conradi nen oder anderen Bundesminister, etwa dem Herrn gung in einem sachdienlichen Maße gerecht wird. Bundeswirtschaftsminister, gerne das Gehalt kürzen, Bei der gegenwärtigen angespannten finanziellen Si- tuation aller öffentlichen Haushalte kommt der Ent- (Beifall bei der SPD und der PDS - Ina wicklung der Personalausgaben ganz herausragende Albowitz [F.D.P.]: Na!) Bedeutung zu. Den größten Einfluß auf die Entwick- aber ich will einräumen, daß andere Minister, etwa lung haben, wie Sie alle wissen, die linearen Erhö- Norbert Blüm, mit dem wir ja viel streiten müssen, hungen. Was heute verabschiedet wird und ein ech- gewiß ihr Geld we rt sind. ter Sparbeitrag ist, hilft, die Ausgabendynamik abzu- bremsen. (Ina Albowitz [F.D.P.]: Zensuren verteilen wir nicht, Herr Conradi! - Zuruf des Abg. Wie schon bei vorangegangenen Gesetzen dieser Dieter Wiefelspütz [SPD]) Art bewegen wir uns natürlich zwischen zwei Span- nungspolen: einerseits für die Beamten das Notwen- - Ich will sie jetzt nicht alle aufführen. Ich habe das dige zu tun, die mit Recht verlangen, an die allge- auch nicht im Namen meiner Fraktion gesagt; das meine Einkommensentwicklung angekoppelt zu war meine persönliche Meinung. sein, aber andererseits für die Arbeitgeber - Bund, Ich bin sicher, der Bundestag wird, wenn wir die Länder und Gemeinden - die Ausgaben in einer Amtsbezüge für Mitglieder der Bundesregierung von sachgerechten Weise im Lot zu halten. den Bezügen der Beamten abkoppeln, die Bundesre- Meine Damen und Herren, ich möchte, wie es hier gierung nicht im Regen stehen lassen. Wir werden schon angeklungen ist, bei dieser Gelegenheit aus- auch ihre Bezüge regelmäßig erhöhen, am besten zu- drücklich - es ist mir sehr wichtig, dies für die Bunde- sammen mit den Abgeordnetenbezügen. Darüber regierung auszusprechen - unseren Mitarbeiterinnen wollen wir mit Ihnen in den Ausschüssen reden. und Mitarbeitern im öffentlichen Dienst, insbeson- Wir sind auch für andere Lösungen offen. Der Ab- dere den vielen in den unteren und mittleren Ge- geordnete und die Vizepräsidentin haltsgruppen, herzlich Dank sagen für ihre sachge- Antje Vollmer haben beispielsweise vorgeschlagen, rechte Arbeit, die sie für die Bürgerinnen und Bürger die Amtsbezüge aller politischen Ämter auf Bundes- in unserem Lande leisten. Ich meine, bei einem sol- ebene durch ein Amtsbezügegesetz zu regeln. Das chen Gesetzgebungsakt sollte man das auch zum hat vieles für sich; das muß man überlegen. Vielleicht Ausdruck bringen. kommen wir uns in den Ausschüssen da näher. Wir (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und sind also nicht festgenagelt auf das, was wir hier vor- der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS) schlagen. Wir sind verhandlungsbereit. Oft wird in einer geradezu billigen, populistischen Der Fall Yzer hat nicht nur dem Ansehen der Bun- Weise über den öffentlichen Dienst hergezogen. Ich desregierung geschadet; er schadet dem Ansehen denke - man darf das auch einmal im Parlament sa- des ganzen Hauses. Lassen Sie uns diesen Schaden gen -, die Bürgerinnen und Bürger in unserem Lande rasch gemeinsam aufarbeiten! dürfen, auch wenn man einmal Vergleiche mit ande- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE ren Ländern zieht, ein gutes Stück dafür dankbar GRÜNEN und der PDS sowie des Abg. sein, daß ihnen für viele öffentliche Dienstleistungen, Dr. Max Stadler [F.D.P.]) die sie erwarten - im kommunalen Bereich, im Lan- desbereich und im Bundesbereich -, eine gut ausge- bildete und insgesamt gesehen fleißige Beamten- Das Wort für die Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: schaft, ein gut funktionierender öffentlicher Dienst Bundesregierung hat jetzt der Parlamentarische zur Verfügung steht. Dafür wollen wir dankbar sein. Staatssekretär Horst Waffenschmidt. Das dient unserem Staat auch insgesamt. Das sollte man aus diesem Anlaß sagen. Dr. Horst Waffenschmidt, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister des Innern: Frau Präsidentin! Meine (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst zum Kollege Conradi und andere haben noch zusätzli- Besoldungsanpassungsgesetz. Ich möchte für die che Punkte hier eingebracht. Ich will in der Kürze Bundesregierung gerne noch einmal sagen: Mit die- der uns zur Verfügung stehenden Zeit nur folgendes sem Gesetz wird ein wesentlicher Beitrag zur Ein- sagen. Meine Damen und Herren, es ist mir wichtig, schränkung der öffentlichen Ausgaben geleistet. Wie darauf hinzuweisen, daß die Bundesregierung ge- in den vergangenen Jahren erbringen auch in die- stern Eckpunkte zum sogenannten Übergangsgeld sem Jahr Beamte, Richter, Soldaten und Versor- beschlossen hat. gungsempfänger einen eigenständigen, zusätzlichen Sparbeitrag. Beamte, Richter, Soldaten und Versor- (Rezzo Schlauch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gungsempfänger mit Festgehältern leisten durch die NEN]: Zu spät!) halbjährliche Verschiebung noch einen weiteren Auf das Übergangsgeld für ausscheidende Mitglie- Sparbeitrag, um auch auf diese Weise zur Konsoli- dierung der Staatsfinanzen beizutragen. der der Bundesregierung und auch für Parlamentari- sche Staatssekretäre wurden bereits bisher Einkom- Ich will in diesem Zusammenhang auch noch men aus dem öffentlichen Dienst angerechnet. Bei ei- gerne darauf hinweisen, daß die Anpassungsnovelle, nigen ist das in der Berichterstattung untergegan- die heute endlich verabschiedet werden soll, den An- gen. Nicht vorgesehen war bisher eine Anrechnung forderungen an Wirtschaftswachstum und Beschäfti- von Erwerbseinkünften aus privater Berufstätigkeit. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997 14191

Parl. Staatssekretär Dr. Horst Waffenschmidt Für die Anrechnung von Erwerbseinkünften aus als bisher Beruf und Mandat miteinander verbinden privater Berufstätigkeit auf das Übergangsgeld wird können, damit wir noch besser als bisher zu einer nun die volle Anrechnung vorgesehen. Das heißt, wirklich breiten Volksvertretung kommen. Das wird das Übergangsgeld wird künftig um den vollen Be- uns allen guttun. trag der Erwerbseinkünfte aus p rivater Berufstätig- (Beifall des Abg. Otto Schily [SPD]) keit gekürzt. Die Anrechnung beginnt ab dem zwei- ten Monat eines eventuellen Bezugs von Übergangs- Ich denke, wir sollten jetzt nicht nur die Situation geld. Das gilt auch - das wurde von einigen Diskussi- einer parlamentarischen Staatssekretärin anführen. onsrednern hier angesprochen - für alle amtierenden Wir müssen etwas tiefer pflügen. Das, was wir heute Mitglieder der Bundesregierung und Parlamentari- verabschieden, das, was ich für die Bundesregierung sche Staatssekretäre. Es gilt also nicht nur für die Zu- bezüglich des Übergangsgeldes angekündigt habe, kunft, sondern auch die gegenwärtigen Amtsinhaber und das, was die Kollegen aus allen Fraktionen vor- haben sich hier in die Pflicht genommen. Meine getragen haben, sind Anregungen, die wir verfolgen Damen und Herren, der Bundesminister des Innern sollten. Wir alle sind aufgerufen, uns den aktuellen wird hierzu unverzüglich einen Gesetzentwurf vorle- Herausforderungen zu stellen. Was wir heute tun, gen. wird dem, was uns aufgetragen ist, in einem hohen Maße gerecht. Ich bin zuversichtlich, daß wir das Herr Kollege Conradi, lassen Sie mich zum Ab- auch in den anderen Bereichen schaffen. schluß noch etwas zu Ihren allgemeinen Bemerkun- gen sagen, die im wesentlichen das Parlamentsrecht Herzlichen Dank. angehen. Da aber eine ehemalige Staatssekretärin von Ihnen besonders angesprochen wurde, möchte (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) ich auch dazu noch etwas sagen. Zu einer Kurzin- Wissen Sie, wenn man den Bereich Wirtschaftsver- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: tervention erteile ich dem Kollegen Wiefelspütz das band anspricht, in dem ein Mitglied dieses Hauses Wort. jetzt tätig ist, muß man fairerweise auch alle anderen Bereiche anleuchten, in denen Kolleginnen und Kol- legen neben ihrem Mandat tätig sind. Dieter Wiefelspütz (SPD): Herr Kollege Waffen- schmidt, ich will Sie auf folgendes hinweisen: Wir (Zurufe von der CDU/CSU: Jawohl!) wollen das Thema Nebentätigkeiten wirklich nicht Wenn wir gerecht diskutieren wollen, können wir parteipolitisch instrumentalisieren. Das hat auch Kol- nicht nur über eine Person sprechen, die seit kurzem lege Conradi nicht getan. Er hat das ausdrücklich in einem Wirtschaftsverband tätig ist. hervorgehoben. (Zurufe von der CDU/CSU: Jawohl!) Aber ich denke, Herr Kollege Waffenschmidt, wir sind in einem Punkt einer Meinung: Wir wollen im Wir müssen auch über die reden, die hauptamtliche Parlament nicht nur, nicht ausschließlich den Berufs- Gewerkschaftsführer sind und die viele andere Posi- politiker haben. Es ist völlig klar: Wir müssen uns tionen innehaben. darüber Gedanken machen, wie man Mandat und Lassen Sie mich auf Grund der kurzen Zeit, lieber eine berufliche Tätigkeit miteinander in Verbindung Kollege Conradi, das eben einmal zusammenfassend bringen kann. ausführen. Ich will aber auf eines hinweisen, worüber wir ebenfalls, glaube ich, einer Meinung sind: Als Volks- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Heißt das, daß vertreter schulden wir unserem Amte den Hauptteil Sie keine Zwischenfrage des Kollegen Wiefelspütz unserer Arbeitskraft. zulassen wollen? (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- ten der CDU/CSU und der F.D.P.) Parl. Staatssekretär beim Dr. Horst Waffenschmidt, Mitglied des Deutschen Bundestages zu sein ist eine Bundesminister des Innern: Im Augenblick nicht. Ich Vollzeitbeschäftigung. Wenn jemand dazu noch eine bin dem Kollegen Conradi eben schon in anderer bestimmte berufliche Tätigkeit ausübt, dann kann Weise entgegengekommen. Er wird das verstehen. das nur ein Nebenamt sein; es darf nicht Hauptbe- Ich möchte die Anregung geben: Wenn wir schon schäftigung sein. Darüber sollten wir uns einig sein. aus Anlaß des Falles, der mehrfach angesprochen (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) wurde, diskutieren, dann rate ich uns, auch darüber nachzudenken, wie man Mandat und Beruf ein Das hat nichts mit irgendeiner parteipolitischen Prä- Stück weit mehr miteinander verbinden kann. Es ferenz zu tun. Das gilt für Christdemokraten genauso hilft nicht, wenn wir an anderer Stelle, immer wieder wie für Sozialdemokraten. klagen, daß zu viele aus dem öffentlichen Dienst im Deutschen Bundestag sitzen und Arbeiter sowie Be- Schönen Dank. schäftigte aus der Wirtschaft, dem Mittelstand kaum (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- die Möglichkeit haben, ein Mandat zu übernehmen. ten der CDU/CSU und der F.D.P.) Ich möchte uns alle aufrufen - jeder in seiner Par- tei -, mit dafür zu sorgen, daß wir die Arbeit des Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Ich schließe da- Deutschen Bundestages so gestalten, daß wir mehr mit die Aussprache. 14192 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer Wir kommen zur Abstimmung über den von der ziehbarkeit gefordert. Soll das für ihre eigenen Ge- Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf über hälter nicht zutreffen? die Anpassung von Dienst- und Versorgungsbezü- gen in Bund und Ländern 1996/1997 auf Drucksa- Ich werde .dem Gesetzentwurf trotz aller Bedenken chen 13/5983 und 13/6892, Buchstabe a. zustimmen, weil der Bundestag mit der Zurückver- weisung und Änderung dieses Gesetzentwurfs ein Der Kollege Conradi möchte nach § 31 unserer Ge- wenig von der Selbstachtung zurückgewonnen hat, schäftsordnung eine Erklärung zur Abstimmung ab- die wir in den elenden Diätendebatten 1995 und geben. Bitte. 1996 verloren haben. Damals hatte ich gehofft, un- sere „Oberen", das Präsidium, die Bundesregierung, die Fraktionsvorsitzenden, die Ministerpräsidenten, (SPD): Ich habe im Dezember das Peter Conradi die alle auch Abgeordnete sind, würden sich ange- Gesetz angehalten und möchte heute begründen, sichts dieser perfiden, giftigen Debatte in einer ge- warum es mir schwerfällt, dem Gesetz in der vorlie- meinsamen Erklärung vor die Abgeordneten und vor genden Form zuzustimmen. Was nun vorliegt, ist unsere Arbeit stellen, so wie sie erwarten, daß wir keine substantielle Änderung, sondern allenfalls uns vor sie stellen, wenn sie zu Unrecht angegriffen Kosmetik. Der Innenausschuß hat eine kleine Ände- werden. Wer Loyalität einfordert, muß Loyalität zei- rung vorgenommen. Die Gehaltserhöhung für alle gen. Besoldungsgruppen von B 3 an aufwärts - da sind die Ministerpräsidenten, Landräte und Oberbürger- Wenn das Hin und Her um diesen Gesetzentwurf meister eingeschlossen - wird um vier Monate ver- bei unseren „Oberen" diese Einsicht ein wenig ver- schoben. Das bedeutet bei einem Wahlbeamten in B 3 tieft hat, dann hat der Streit möglicherweise doch - er bekommt im Jahr 135 000 DM, also soviel wie ein eine heilsame Wirkung gehabt. Bundestagsabgeordneter - für 1997 einen Einkom- mensverlust von ganzen 600 DM. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der F.D.P. und der PDS) Nur zum Vergleich und zur Erinnerung: Die Abge- ordneten leisten für den gleichen Zeitraum durch den Verzicht, der letztes Jahr hier beschlossen wor- Vizepräsidentin Michaela Geiger: Liebe Kollegin- den ist, 6 300 DM an Sparbeitrag. 6 300 DM für den nen und Kollegen, wir kommen jetzt endgültig zur Abgeordneten, 600 DM für den Beigeordneten einer Abstimmung über den von der Bundesregierung ein- Gemeinde bei gleichem Einkommen! gebrachten Gesetzentwurf über die Anpassung von Dienst- und Versorgungsbezügen in Bund und Län- Die Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf fällt mir dern 1996/1997, Drucksachen 13/5983 und 13/6892 schwer, weil die fraktionsübergreifende Wohltätig- Buchstabe a. Dazu liegen zwei Änderungsanträge keit des Innenausschusses gegenüber den Beamten - der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor, über die manchmal könnte man glauben, es handele sich um wir zuerst abstimmen. einen Unterausschuß des Deutschen Beamtenbunds - nach dem Prinzip von Kaiser Wilhelm II. - ich müßte Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksa- sagen: Willfried I. - „Ich kenne keine Parteien mehr, che 13/6957? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der ich kenne nur noch Beamte" entschiedenere Ein- Änderungsantrag ist mit den Stimmen der CDU/ schnitte verhindert hat. Ich hätte einen größeren CSU, F.D.P. und SPD gegen die Stimmen von Bünd- Sparbeitrag der Beamten aus den höheren Einkom- nis 90/Die Grünen und PDS abgelehnt. mensgruppen gewünscht: eine Nullrunde und die Verpflichtung, für das eingesparte Geld neue Stellen Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Druck- im öffentlichen Dienst für junge Menschen zu schaf- sache 13/6977? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der fen. Das hätte viele Menschen im Land überzeugt. Änderungsantrag ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition abgelehnt. (Beifall bei der SPD und der PDS) Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in Ich bin traurig darüber, daß sich dafür in diesem der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Haus keine Mehrheit findet. Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltun- Ich werde dem Entschließungsantrag zustimmen. gen? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Bera- Wir sind es leid, mit der Beamtenbesoldung Jahr für tung mit den Stimmen der Koalition und der Mehr- Jahr die Gehälter von Politikern zu erhöhen, die heit der SPD gegen einzelne Stimmen der SPD, ge- sonst immer auf die Souveränität ihrer Länder, auf gen die Stimmen des Bündnisses 90/Die Grünen bei den Föderalismus und das Selbstverwaltungsrecht Enthaltung der PDS angenommen. der Gemeinden pochen, sich aber dann, wenn es an die eigenen Gehälter geht und unangenehm wird, Dritte Beratung unter dem warmen Mantel der Beamtenbesoldung und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die verstecken wollen. dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erhe- (Vorsitz : Vizepräsidentin Michaela Geiger) ben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen der CDU/CSU Als es um die Abgeordnetendiäten ging, haben sich und F.D.P. sowie der Mehrheit der SPD bei wenigen die Ministerpräsidenten - der Freistaat ausgenom- Gegenstimmen der SPD, gegen die Stimmen von men; das wollen wir lobend erwähnen - massiv ein- Bündnis 90/Die Grünen und bei Enthaltung der PDS gemischt und Offenheit, Transparenzangenommen. und Nachvoll- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997 14193

Vizepräsidentin Michaela Geiger Der Innenausschuß empfiehlt unter Buchstabe b Bundesregierung, wonach Anträge aus einem soge- seiner Beschlußempfehlung auf Drucksache 13/6892 nannten sicheren Herkunftsstaat als offensichtlich die Annahme einer Entschließung. Wer stimmt für unbegründet abzulehnen sind - Punkt, Schluß, aus. diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthal- Doch die Art und Weise, wie die Asylgründe des tungen? - Damit ist die Beschlußempfehlung einstim- Herrn Valcu von den Verantwortlichen geprüft wur- mig angenommen. den, wirft für diejenigen, die sich ernsthaft mit die- sem Fall befaßt haben, Fragen auf. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorla- gen auf den Drucksachen 13/6637 und 13/6452 an Das Vorhandensein einer Liste sicherer Herkunfts- die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse länder enthebt die Behörden und die Ge richte ihrer vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das bisherigen Aufgabe, jeden Einzelfall individuell zu ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so be- prüfen. Dementsprechend ist die Erstellung dieser schlossen. Liste durch den Gesetzgeber allerdings mit großer Verantwortung verbunden. Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 6 auf: Wichtig wäre also zu wissen: An Hand welcher Kri- Beratung der Beschlußempfehlung des Petiti- terien wird diese Liste, der die Behörden oft blind onsausschusses (2. Ausschuß) vertrauen, erstellt? Nutzt die Bundesregierung tat- sächlich, wie ihr vom Bundesverfassungsgericht vor- Sammelübersicht 39 zu Petitionen gegeben, alle zur Verfügung stehenden Erkenntnis- (Weiterer Aufenthalt im Bundesgebiet für ab- quellen über die Situation in einem Land? Zum drit- gelehnte Asylbewerber) ten: Wer überprüft diese Listen in welchem Abstand? - Drucksache 13/1411 - Festzustellen ist: Bisher handelt die Regierung zum größten Teil nach eigenem Ermessen und Gutdün- Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der ken. Eine regelmäßige Überprüfung der sicheren SPD vor. Herkunftsstaaten im Innen- oder im Auswärtigen Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für Ausschuß findet nicht statt. die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich Dabei war der Auftrag des Bundesverfassungsge- höre keinen Widerspruch. Dann ist dies so beschlos- richtes an den Gesetzgeber im Urteil vom 14. Mai sen. letzten Jahres eindeutig. Er soll die Entwicklung der Ich eröffne die Aussprache. Frau Abgeordnete allgemeinen politischen Verhältnisse, die Rechtslage Christel Hanewinckel hat das Wo rt. und -anwendung in den entsprechenden Ländern beobachten und entsprechend reagieren. Christel Hanewinckel (SPD): Frau Präsidentin! Das Bundesinnenministerium ist auf diesem Ohr Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich rede heute zum leider taub. Knapp vier Wochen nach dem Urteil ließ Änderungsantrag der SPD-Bundestagsfraktion zu ei- es verlauten, nach wie vor gebe es keinerlei Hand- ner Petition - das möchte ich vorwegschicken -, bei lungsbedarf. Also läuft alles weiter wie bisher. Ent- dem es nicht darum geht, die Aufenthaltserlaubnis scheidend sind die Berichte des Auswärtigen Amtes. für einen Asylbewerber zu erreichen, sondern Deren Grundton ist naturgemäß schon durch die di- darum, etwas genauer hinzusehen, wie die Praxis in plomatische Rücksichtnahme geprägt. Keine kleine diesem Lande ist, wenn es um die Prüfung von Asyl- Rolle spielt sicher auch das Interesse daran, die Zahl anträgen geht. der Asylbewerber möglichst gering zu halten. So le- sen sich die Auskünfte des Ministeriums oft nicht Bei der Petition des Rumänen Cornel-Ion Valcu hat mehr wie objektive Berichte zur Menschenrechtssi- der Ausschuß am 17. Mai 1995 mit der Mehrheit der tuation, sondern wie ein Schriftsatz der Bundesrepu- Abgeordneten aus CDU/CSU und F.D.P. für Ab- blik Deutschland zur Abwehr potentieller Asylbe- schluß gestimmt. Das ist nichts Neues, wird bei Peti- werber. tionen abgelehnter Asylbewerber doch meist blind- lings der Argumentation des Bundesamtes für die (Ulla Jelpke [PDS]: Genauso ist es!) Anerkennung ausländischer Flüchtlinge gefolgt. Doch nicht nur, daß die Lageberichte des Auswär- Neu ist übrigens auch nicht, daß die SPD wie in tigen Amtes der einzig maßgebliche Anhaltspunkt diesem Fall gut 20 Monate - 20 Monate, meine lieben für die Entscheider des Bundesamtes sind; sie sind Kolleginnen und Kollegen, das sind fast zwei Jahre - darüber hinaus regelmäßig veraltet. Der Bescheid darum gekämpft hat, ihren Änderungsantrag end lich des Bundesamtes im Falle des Petenten stammt vom im Plenum debattieren zu dürfen. August 1993. Der - wohlgemerkt: damals neueste - Bericht des Auswärtigen Amtes, der do rt zitiert wird, (Otto Schily [SPD]: Hört! Hört!) stammt vom Dezember 1991. Das heißt, die dem Be- Seit der Einreise des rumänischen Asylbewerbers scheid zugrunde liegenden Informationen waren sind somit rund sieben Jahre vergangen, seit seiner 20 Monate alt. Abschiebung bereits zwei Jahre. Die andere wichtige Frage, die sich mir im Falle Das Asylverfahren von Herrn Valcu war von An- des Petenten stellte, lautet: Gibt es überhaupt eine fang an reine Formsache. Das Bundesamt für die An- Möglichkeit für den als „sicher" abgestempelten erkennung ausländischer Flüchtlinge folgt in der Be- Asylbewerber, eine politische Verfolgung bzw. un- urteilung seines Asylantrages nur der Vorgabe der menschliche oder erniedrigende Behandlung zu be- 14194 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Feb ruar 1997

Christel Hanewinckel weisen? Oder ist die derzeitige Praxis nicht vielmehr Und: darauf angelegt, daß er diese Möglichkeit gar nicht hat? Obwohl seit dem Sturz von Präsident Ceausescu im Dezember 1989 Verbesserungen im Men- Der Asylbewerber, der aus einem Listenland schenrechtsbereich zu verzeichnen sind, unter- kommt, hat seinen Antrag offensichtlich unbegrün- ließ es die rumänische Regierung bisher völlig, det gestellt. Will er nun seine individuelle Verfolgung die Vorschriften der internationalen und europäi- glaubhaft machen, werden ihm vom Bundesamt schen Menschenrechtsabkommen, die sie unter- abermals die bei sicheren Herkunftsstaaten durch- zeichnet hat, wirksam umzusetzen und tatsäch- weg positiven Lageberichte des Auswärtigen Amtes lich zu realisieren. entgegengesetzt. Ähnlich schildern auch andere Menschenrechtsor- Herr Valcu hatte das Pech, aus einem sogenannten ganisationen die Menschenrechtssituation in Rumä- sicheren Herkunftsland zu kommen. In seinem Fall nien im April 1991. Die Berichte dieser international wurde daher kurzer Prozeß gemacht. Seine Schilde- anerkannten Gruppen weisen viele Parallelen zu den rung, er sei nach f riedlichen Demonstrationen für Angaben des Petenten auf. Ich finde es daher äußerst seine demokratische Pa rtei dreimal verhaftet wor- bedenklich, bei der Prüfung eines Asylbewerbers den, davon einmal für drei Tage ohne Zugang zu ei- aus einem sogenannten sicheren Herkunftsland der- nem Anwalt und mit Schlägen seitens der Polizisten, art an der Oberfläche zu bleiben wie im vorliegenden war für die Entscheider unbeachtlich. Ich zitiere aus Fall. Eine regelmäßige Überprüfung der sicheren der Entscheidung des Bundesamtes vom 11. August Herkunftsstaaten auf Grund aktueller Daten und un- 1993: ter Hinzuziehung von international anerkannten Menschenrechtsorganisationen sollte unser Standard Teilnehmer an Demonstrationen, die gegen die werden. Politik der derzeitigen Regierung gerichtet sind, müssen nicht mit politischer Verfolgung rechnen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Punkt, aus, vorbei. Von individueller Prüfung kann und der Abg. Ulla Jelpke [PDS]) hier überhaupt keine Rede sein. Das Asylverfahren ist einfacher geworden. Wir Doch was heißt das eigentlich für unsere Praxis? sollten aufpassen, daß wir es uns nicht zu einfach ma- Bedeutet es, daß Asylbewerber in der Haft halb tot- chen. Deshalb soll diese Petition der Bundesregie- geschlagen werden und sich diesen Zustand bis zur rung als Material und den Fraktionen zur Kenntnis Anhörung in Deutschland bewah rt haben müssen? überwiesen werden, damit die entsprechenden Vor- Reichen wiederholte Verhaftungen auf Grund der gehensweisen der Bundesregierung im Blick auf die Zugehörigkeit zu einer demokratischen Partei, sogenannten sicheren Herkunftsstaaten in Zukunft Schläge in der Haft, Drohanrufe, die Kinder umzu- überprüft werden können und die Praxis endlich bringen, wenn kein Parteiaustritt erfolgt, usw. nicht eine andere werden kann. aus, um die Aufmerksamkeit der Behörden zu wek- ken? Vielen Dank. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Ulla (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- Jelpke [PDS]) ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS) Ein Blick in die von Amnesty International zur Ver- fügung gestellten Unterlagen hätte genügt, um eine Ich erteile jetzt andere Sicht der Verhältnisse im damaligen Rumä- Vizepräsidentin Michaela Geiger: dem Kollegen Norbert Röttgen das Wort. nien zu bekommen. Im Be richt zur Menschenrechts- lage vom Mai 1995 heißt es: Norbert Röttgen (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Menschenrechtsverletzungen nehmen in Rumä- Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sehr ge- nien kein Ende, obwohl die politische Führung ehrte Kollegin Hanewinckel, ich habe es schade ge- dieses Landes im Oktober 1993 bei der Auf- funden, daß Sie in weiten Teilen Ihrer Rede sehr all- nahme in den Europarat zugesichert hat, den gemeine Verdächtigungen ausgesprochen haben, Menschenrechten gemäß international aner- ohne sie zu konkretisieren, und in entscheidenden kannten Grundsätzen Geltung zu verschaffen. Stellen schlicht sachlich falsche Behauptungen auf- Immer wieder erhält amnesty international Be- gestellt haben. Das finde ich angesichts des Themas, richte ... über Folter und Mißhandlung von Ver- um das es hier geht, nämlich um Asylanträge, sehr hafteten sowie über zweifelhafte Todesfälle in schade. Deshalb will ich mich bemühen, konkret auf Polizeigewahrsam. diesen Fall einzugehen; denn nur wenn wir konkret Das geschieht immer in Fällen von gewaltloser politi- den Sachverhalt würdigen, werden wir dem Thema scher Demonstration. und dem Schicksal, das hinter diesen Asylanträgen steht, gerecht. Ich zitiere weiter: Zunächst einmal müssen wir sehen, in welcher Das ... Problem wird dadurch verschärft, daß Si- Weise dieser Asylantrag in Deutschland geprüft wor- cherheits- und Ordnungskräfte in Rumänien mit den ist. Zunächst hat ein Verwaltungsverfahren Straflosigkeit rechnen können, wenn sie Men- stattgefunden. Das Bundesamt für die Anerkennung schenrechtsverletzungen begehen. ausländischer Flüchtlinge hat entschieden, daß ein Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997 14195

Norbert Röttgen Asylgrund nicht bestehe. Dagegen haben die Peten- Vizepräsidentin Michaela Geiger: Sie lassen sie ten dann den einstweiligen gerichtlichen Rechts- also jetzt nicht zu, Herr Abgeordneter? schutz eingeholt. Ihr Antrag ist von einem deutschen unabhängigen Ge cht als offensichtlich unbegrün- ri (CDU/CSU): Im Anschluß daran. det zurückgewiesen worden. Nach dem Verfahren Norbert Röttgen des einstweiligen gerichtlichen Rechtsschutzes hat Ich habe kritisiert, daß Sie diese falsche Behaup- dann der gerichtliche Rechtsschutz in der Hauptsa- tung aufgestellt haben, und ich möchte jetzt auch sa- che vor dem Verwaltungsgericht stattgefunden. gen, warum sie definitiv falsch ist. Auch das deutsche Verwaltungsgericht hat den Asyl- grund mit dem Hinweis auf die zutreffenden Ausfüh- Das Auswärtige Amt erstellt zur Zeit Berichte über rungen des Bundesamtes eindeutig verneint. die menschenrechtliche Lage und die sogenannte Asyllage in 54 Ländern dieser Welt. Nach einer Um- Ich finde es sehr selbstgerecht, sich hier hinzustel- frage bei den Landesinnenministern gibt es unter- len und zu sagen, das sei alles blindlings und leicht- schiedliche zeitliche Abstände, in denen diese Be- fertig gemacht worden. Wie Sie sich über das Urteil richte erstellt werden. In ganz besonders problemati- eines unabhängigen deutschen Gerichtes hinwegset- schen Ländern wird alle drei Monate ein neuer Asyl- zen, finde ich sehr selbstgerecht und der Justiz ge- lagebericht erstellt. Alle drei Monate! Kollegin Hane- genüber auch nicht in Ordnung, zumal Sie Ihre Auf- winckel behauptet, es gebe nur veraltete Berichte. In fassung nicht begründet haben, sondern nur sehr etwas weniger problematischen Ländern werden alle pauschal geblieben sind. sechs Monate neue, aktuelle Berichte erstellt. Bei ei- ner dritten Kategorie von Ländern - dazu zählt Ru- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge mänien, über das wir gerade reden - wird jährlich ordneten der F.D.P.) ein Bericht zur Lage der Menschenrechte in dem je- Wir haben es also mit einem Fall zu tun, der vor weiligen Land erstellt. ungefähr 3 Jahren rechtskräftig gerichtlich abge- Diese Berichte werden natürlich auch den Landes- schlossen worden ist. Auch von Ihnen ist keine kon- innenministern und dem Bundesamt für die Aner- krete Beanstandung an dem Verfahren vorgetragen kennung ausländischer Flüchtlinge zugesandt, damit worden. Darum ist dieser Asylantrag zu Recht abge- sie mit diesen aktuellen Informationen arbeiten kön- lehnt worden. Wir müssen - wenn überhaupt - kon- nen. Es ist also wirklich zu kritisieren, wenn in so kret kritisieren. Ein paar Kritikpunkte werden von Ih- wichtigen Fragen falsche Behauptungen aufgestellt nen ja auch vorgetragen. Auf diese Kritikpunkte werden. Sie müssen sich informieren. Die Bundesre- möchte ich eingehen. gierung, auch die Koalitionsfraktionen nehmen die Beobachtung der asylrelevanten Lage in den Län- Zunächst wird gesagt, das Bundesamt habe bei sei- ner Entscheidung im Jahr 1993 auf einen veralteten dern sehr ernst. Bericht des Auswärtigen Amtes - auf den Asyllage- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- bericht aus dem Jahr 1991 - zurückgegriffen. Auf ordneten der F.D.P.) den ersten Blick mag diese Kritik auch plausibel klin- gen. Das Vorgehen findet seine sachliche Rechtferti- Es wird sorgfältig beobachtet, und die Behörden, die gung aber darin, daß das Ereignis, auf das die Peten- über die Asylanträge entscheiden, werden aktuell in- ten ihren Asylantrag gestützt haben, aus dem Jahr formiert. Darum ist Ihre Kritik in der Sache falsch, 1990 stammt. Darum mußte der zeitnahe Asyllagebe- und Ihr Antrag ist darum auch ohne jegliche Grund- richt aus dem Jahr 1991 berücksichtigt werden. Es lage. nützt nichts, das im Asyllagebericht 1994 nachzule- Das dritte, was Sie angesprochen haben, betrifft sen. Sie müssen den Asyllagebericht wählen, der auf die Frage der allgemeinen Situation in Rumänien die Ereignisse Bezug nimmt, auf die der Petent sein und die Qualifizierung Rumäniens als sicherer Her- Asylbegehren stützt. Was Sie kritisiert haben, ist in- kunftsstaat im Sinne des Art. 16a Abs. 3 GG. Diese sofern sachwidrig. Vom Bundesamt für die Anerken- Einordnung basiert auf den Erkenntnissen des Aus- nung ausländischer Flüchtlinge ist genau der rich- wärtigen Amtes. Das Auswärtige Amt schöpft natür- tige Asyllagebericht verwendet worden. lich alle verfügbaren Quellen aus, es macht sich ein Ich möchte mich auch ganz entschieden gegen die eigenes Bild. Es werden politische Oppositionspar- Kritik wenden, die Bundesregierung, das Auswärtige teien befragt, es werden die Berichte von Amnesty Amt, auch die Behörden würden ihren Entscheidun- International ausgewertet, es werden andere EU-Bot- gen keine aktuellen Asyllageberichte zugrunde le- schaften konsultiert. Es wird also ein umfassendes gen. Diese Behauptung haben Sie, Frau Kollegin Ha- Bild der menschenrechtlichen Lage erstellt. Sie ha- newinckel, aufgestellt. Daß Sie diese falsche Behaup- ben gesagt, hier sei Einseitigkeit in der Politik der tung aufgestellt haben, finde ich in hohem Maße un- Bundesregierung vorhanden. Das Gegenteil ist der erfreulich, um es einmal sehr zurückhaltend zu sa- Fall: Es wird alles an Informationsquellen ausge- gen. schöpft, was vorhanden ist. Das war die zweite Falschbehauptung, die Sie aufgestellt haben. (Abg. Christel Hanewinckel [SPD] meldet sich zu einer Zwischenfrage) Auf dieser Bewe rtung der Lage in Rumänien be-- ruht die Qualifizierung als sicherer Herkunftsstaat. Aber ich nutze die Gelegenheit, um Sie in meinem Ich halte das übrigens auch, nachdem ich in Vorbe- Beitrag über die Situation aufzuklären. Vielleicht reitung dieser Debatte noch einmal den Menschen- stellen Sie im Anschluß daran Ihre Frage. rechtsbericht von Amnesty International für das Jahr 14196 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997

Norbert Röttgen 1996 gelesen habe, für zutreffend. Selbstverständlich ten sich zunächst genauer über die Sache informie- befindet sich Rumänien im Übergang von einer Dik- ren und dann erst Ihre moralischen Urteile treffen. tatur zu einem Rechtsstaat. Zu glauben, daß Sie die Die fallen dann nämlich im Ergebnis anders aus. faktische Verfassung, aber auch die rechtliche Situa- tion in einem Land von heute auf morgen per Knopf- Herzlichen Dank für Ihr Zuhören. druck verändern können, ist eine Illusion. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)) Aber zugleich ist eine deutlich positive Entwick- lung in Rumänien festzustellen, wenn auch mit an- Vizepräsidentin Michaela Geiger: Ich erteile jetzt dauernden Defiziten in der rechtlichen Praxis. Das das Wort der Kollegin Christel Hanewinckel zu einer will ich überhaupt nicht bestreiten. Selbst dann, Kurzintervention. wenn Asylgründe mit Blick auf dieses Land nicht be- stehen, ist damit die menschliche Situation über- (SPD): Ich bin erstaunt über haupt noch nicht erfaßt; das ist mir völlig bewußt. Christel Hanewinckel das Talent des Herrn Kollegen Röttgen. Offenbar hat Aber eine dem Staat zurechenbare politische Verfol- er eine Menge von dem vergessen, was im Petitions- gung findet in Rumänien nicht mehr statt. Es gibt ausschuß auf der Tagesordnung stand. Ausschreitungen einzelner Beamter etwa im Straf- vollzugsbereich; eine dem rumänischen Staat zure- Nur ein Beispiel: Vielleicht erinnern Sie sich nicht chenbare politische Verfolgung ist hingegen nicht daran, daß wir eine Anhörung zur Lage in Zaire hat- feststellbar. Das müssen wir zur Kenntnis nehmen. ten. Dabei wurde uns sehr deutlich gesagt, daß sich Wenn im übrigen die SPD oder andere in diesem das Auswärtige Amt nicht in der Lage sieht, zu die- sem Land einen entsprechenden Be Haus nicht dieser Auffassung sind, möchte ich darauf richt zu erstellen. hinweisen, daß die Qualifizierung als sicherer Her- Sie haben ja behauptet, daß das Auswärtige Amt alle kunftsstaat kein Exekutivakt der Regierung ist. Das Länder genauestens überprüft, die entsprechenden ist ein Gesetz, das dies so qualifiziert. Es ist das Asyl- Menschenrechtsorganisationen einbezieht und dann den Beri verfahrensgesetz, das nur mit Zustimmung des Bun- cht erstellt. Ich denke, Sie können es im Pro- tokoll destages und des Bundesrates zustande kommt. nachlesen, daß damals klipp und klar gesagt wurde, daß sich das Auswärtige Amt in diesem Fall, Wenn also die SPD der Auffassung ist, Rumänien wie auch in einigen anderen Fällen - das haben wir sei kein sicherer Herkunftsstaat, dann muß sie einen in den letzten sechs Jahren immer wieder zu hören Gesetzentwurf einbringen. Sie müssen dieses aber bekommen -, nicht in der Lage sieht, eine richtige klar bekennen und auch die SPD-Mehrheit im Bun- und entsprechende Einschätzung der Lage vorzu- desrat davon überzeugen, daß hier eine andere Be- nehmen. wertung angemessen ist. Nach meiner Überzeugung ist die Einstufung als sicherer Herkunftsstaat und die Sie erinnern sich vielleicht auch nicht daran, daß realistische Bewe rtung der Situation in Rumänien zu- gerade der Punkt im Petitionsausschuß schon ziem- treffend lich oft gerügt worden ist - nicht nur von meiner Seite -, daß das Auswärtige Amt veraltete Lagebe- Eine letzte Bemerkung: Selbst wenn ein Land als richte zur Verfügung stellt. sicherer Herkunftsstaat eingruppiert ist, bedeutet das nicht, daß Anträge von Asylbewerbern aus die- Ich erinnere Sie noch an einen weiteren Punkt: Es sen Ländern von vornherein ohne Aussicht auf Erfolg ist selbst uns Abgeordneten ausgesprochen schwer sind. Diese Eingruppierung bedeutet lediglich eine gemacht worden, überhaupt eine Möglichkeit zur ei- Vermutung, und zwar eine widerlegbare Vermutung. genen Überprüfung zu erhalten und Lageberichte Der Asylbewerber aus diesen Ländern, die als si- zur Kenntnis zu bekommen. Das ist inzwischen unter chere Herkunftsstaaten gelten, kann diese Vermu- der Bedingung möglich, daß wir versprechen, nie- tung widerlegen und sagen: In meinem Einzelfall ist mandem etwas aus diesen Berichten zur Kenntnis zu es tatsächlich so, daß ich politisch verfolgt bin. geben. Darum ist auch hier eine widerlegbare Vermutung Mein nächster Punkt: Wenn Sie mir vorwerfen, daß gegeben, und der Anspruch auf Asyl kann im Einzel- ich mich nicht genug darum gekümmert hätte und fall nachgewiesen werden. hier etwas Falsches miteinander verglichen hätte, Als letztes, Kollegin Hanewinckel, wi ll ich Ihnen dann kann ich diesen Vorwurf gut zurückgeben. Sie sagen, daß mich die Selbstgerechtigkeit, haben das gleiche getan, indem Sie feststellen, daß die Situation 1996 in Rumänien eine andere ist. Na- (Ulla Jelpke [PDS]: Die Sie an den Tag türlich, aber das war überhaupt nicht mein Punkt. legen!) Mein Punkt war, daß der Asylbewerber 1990 gekom- men ist, 1993 sein Asylverfahren begann und er 1995 der Monopolanspruch auf Moral und die kritische abgeschoben wurde. Es macht in der Tat nicht viel Bewertung in diesen Fragen sehr gestört haben. Sie Sinn, wenn ich mir dann einen Lagebericht sowohl haben den anderen Fraktionen im Petitionsausschuß vorgeworfen, für die Entscheidung als auch für die Abschiebung heranziehe, der für den Zeitpunkt, zu dem die Ab- (Wolf-Michael Catenhusen [SPD]: Nicht schiebung passierte, einfach nicht zutreffend ist. Das allen anderen!) haben Sie selber, so denke ich, sehr gut gesagt, nur- haben Sie andersherum argumentiert. dort blindlings alles nachzuvollziehen, was das Bun desamt entscheidet. Sie haben der Bundesregierung Mein letzter Punkt: Es geht doch nicht - das müß- in der Sache falsche Tatsachen vorgehalten. Sie soll ten Sie als Jurist eigentlich besser als ich wissen - um Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997 14197

Christel Hanewinckel ein Gesetz, in dem sichere Herkunftsstaaten festge- zwar insbesondere der Umgang mit den sogenann- schrieben sind. Es gibt eine entsprechende gesetzli- ten sicheren Herkunftsländern. che Regelung, auf die sich dieses Haus geeinigt hat, gemäß der es eine Liste von sicheren Herkunftsstaa- Diese Einstufung als sicheres Herkunftsland, auch ten geben soll. Aber welches Land auf dieser Liste wenn es - wie Herr Röttgen richtig sagt - im Einzel- steht, lieber Herr Kollege Röttgen, ist wahrlich nicht fall eine widerlegbare Feststellung ist, zementiert im Gesetz geregelt. Das ist vielmehr der Punkt, den von vornherein ein Vorurteil und veranlaßt die Ent- ich hier eingefordert habe, daß diese Liste immer scheider dazu, wie in diesem Rumänien-Fall auch ge- wieder genauestens überprüft und überarbeitet wer- schehen, offensichtliche Verfolgungstatbestände zu den muß. Vielleicht können Sie das aufgreifen, auch ignorieren und abzuwerten. Um dies deutlich zu ma- wenn Sie weiterhin Bonbons verteilen. chen, möchte ich aus dem Bescheid des Bundesam- tes zitieren. Massive körperliche Übergriffe gegen Vielen Dank. den Petenten werden darin nicht einmal bestritten, aber folgendermaßen bewe rtet: (Beifall bei der SPD und der PDS) Auch das Vorbringen, es sei im Rahmen behördli- cher Maßnahmen zur Anwendung körperlicher Vizepräsidentin Michaela Geiger: Herr Kollege Röttgen, Sie haben das Recht zu antworten. Gewalt gekommen, kann nicht zu einer Anerken- nung führen. Hierin ist kein vom rumänischen Staat motiviertes Vorgehen der Behörden gegen Norbert Röttgen (CDU/CSU): Ich möchte nur ganz bestimmte Einzelpersonen zu sehen. Vielmehr kurz die Wiederholung einer Falschbehauptung kor- handelt es sich um einmalige Ausschreitungen rigieren. Es war gut, daß ich das Protokoll der Anhö- von Exekutivorganen ... Einzelne Angehörige rung von Staatsminister Hoyer im Petitionsausschuß der Polizei- und Ordnungskräfte ... halten trotz mitgebracht habe. Sie haben behauptet, er habe dort des demokratischen Wandels an alten Gepflo- anderes berichtet. Ich darf darum aus dem Protokoll, genheiten fest. das Sie mir ja zur Lektüre empfohlen haben, kurz vorlesen. Es geht um die Asyllageberichte. Zitat Abgesehen davon, daß dies von vornherein schon Staatsminister Hoyer: eine Verharmlosung ist, weil es sich um keine einma- lige Ausschreitung handelt und der Petent mehrfach Diese würden gegenwärtig bezogen auf 52 Län- brutal zusammengeschlagen und inhaftiert wurde, der erstellt, muß man feststellen, daß folgendermaßen argumen- - heute sind es 54 - tiert wird: Es ist ein sicherer Herkunftsstaat, also muß der Asylantrag offensichtlich unbegründet sein und und zwar mindestens einmal jährlich. Etwa 30 abgelehnt werden. würden tatsächlich jährlich und etwa 10 halbjähr- lich erstellt. Eine ganze Reihe von Ländern seien Gestatten Sie darüber hinaus in noch kürzeren Abständen Ge- Vizepräsidentin Michaela Geiger: eine Zwischenfrage? genstand der Berichterstattung. Teilweise ge- schehe dies ad hoc oder auf den konkreten Fall bezogen ... Die Berichte bezögen sich natürlich Amke Dietert-Scheuer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- auf alle Informationsquellen, die dem Aus- NEN): Ja. wärtigen Amt zur Verfügung stünden. Dies schließe selbstverständlich auch Informationen Vizepräsidentin Michaela Geiger: Bitte. von amnesty international und von den im jewei- ligen Lande tätigen politischen Parteien mit ein. Wolfgang Dehnel (CDU/CSU): Frau Kollegin, jetzt Dies ist also die Bestätigung genau dessen, was ich muß ich einmal eine Zwischenfrage stellen. Sie ha- gesagt habe, und die Wiederlegung Ihrer Behaup- ben behauptet, daß dieses Land praktisch unsicher tung. Sie müssen sich mehr mit der Sache befassen wäre. Sie behaupten das immer wieder in Ihren Dar- und dann zur Moral kommen. stellungen. Wäre es nicht angesichts der Besucher, auch der Parlamentarier, die hier zu Gast waren, bes- Danke sehr. ser gewesen, daß sich dieser Asylant an die dortigen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Behörden und an den dortigen Petitionsausschuß, den es dort natürlich im Parlament gibt, gewandt hätte? Das wäre sinnvoller gewesen, als in die Bun- Das Wort hat Vizepräsidentin Michaela Geiger: desrepublik zu kommen und sich hier um Asyl zu be- jetzt die Kollegin Amke Dietert-Scheuer. mühen.

Amke Dietert-Scheuer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Zuruf von der SPD: Das ist ja zynisch!) NEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kol- legen! Wie schon gesagt worden ist: Da die Petenten Amke Dietert-Scheuer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- im Laufe des langen Verfahrens und vor allen Din- NEN): Erstens ist dazu zu sagen, daß der von Ihnen gen auf Grund der Verzögerungen, die bei der Auf- angesprochene Petitionsausschuß zu dem Zeitpunkt, setzung von Asylpetitionen zur Debatte vorgenom- als der Petent geflohen ist, noch nicht existierte. men werden, inzwischen bereits abgeschoben sind, Zweitens will ich gerne zugestehen, daß es inzwi- kann es in dieser Debatte nur noch darum gehen, die schen auch in Rumänien ab dem Zeitpunkt, als diese Fragwürdigkeit des Verfahrens zu beleuchten, und Vorfälle passierten und der Petent geflohen war, wei- 14198 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997

Amke Dietert-Scheuer tere Entwicklungen gegeben hat. Wie sogar im Bun- sicheren Herkunftsländern und auch für das unselige desamtsbescheid selbst gesagt worden ist, war es Flughafenverfahren verantwortlich ist, in das Asylbe- verbreitet, daß Polizei und Ordnungskräfte noch an werber nicht zuletzt darum geraten, weil sie aus sol- sogenannten alten Gepflogenheiten festhielten. chen angeblich sicheren Herkunftsländern stammen.

Drittens ist es so gewesen, daß diese Ordnungs- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN kräfte auch noch ganz massiv von ehemaligen Secu- und der PDS sowie bei Abgeordneten der ritate-Angehörigen durchsetzt waren. Genau darauf SPD) führt der Petent seine Verfolgung auch zurück. Inso- fern muß man sagen, daß zumindest zu dem Zeit- punkt solche innerstaatlichen Abhilfen äußerst frag- Vizepräsidentin Michaela Geiger: Das Wort hat würdig gewesen wären. jetzt der Kollege Günther Nolting. Außerdem sage ich nicht, Rumänien sei generell und für alle unsicher. Ich bin allerdings grundsätzlich der Meinung, daß es unsinnig ist, ein Land von vorn- Günther Friedrich Nolting (F.D.P.): Frau Präsiden- herein als sicher zu bezeichnen; denn das Asylrecht tin! Meine Damen und Herren! Ich will noch einmal ist ein Individualrecht, es muß daher im Einzelfall ge- darauf hinweisen: Wenn ein Asylbewerber einen An- prüft werden. trag stellt und der Antrag rechtskräftig abgelehnt wurde, so ist dieser Asylbewerber grundsätzlich zur (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Ausreise verpflichtet. Frau Kollegin Dietert-Scheuer, Wolfgang Dehnel [CDU/CSU]: Die Prüfung ich weiß, daß Sie dieses so nicht akzeptieren und daß hat auch stattgefunden!) Sie gerne den Petitionsausschuß als weitere Instanz einrichten möchten. Aber dies ist nicht der Fall. Ich - Ja, aber von daher ist es unsinnig, von vornherein glaube, es ist auch richtig so, daß der Petitionsaus- Vorurteile festzulegen und es den Asylbewerbern da- schuß sich auf seine Aufgabe konzentriert, nämlich mit weiterhin zu erschweren. Die Tendenz, Asylbe- parlamentarische Kontrollinstanz der Entscheidun- werbern nicht zu glauben und alles abzutun, ist so- gen des Bundesamtes für die Anerkennung ausländi- wieso vorhanden. Das muß man nicht noch dadurch scher Flüchtlinge zu sein. verstärken, daß man von vornherein sagt: Der Staat ist sicher. Grundsätzlich und auch im Falle Rumänien (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) ist das in dem Sinne ganz bestimmt nicht gegeben. Ihr Kollege Röttgen hat das selbst zugestanden. Er Auch der Petitionsausschuß kann, Frau Kollegin hat gesagt, es handele sich dabei um einen Staat, der Dietert-Scheuer, keine Härtefall- oder Gnadenent- in einem Übergangsprozeß von einer Diktatur zu ei- scheidungen erwirken. Ich glaube, auch dies ist rich- ner Demokratie ist. Das ist sicherlich richtig; aber ge- tig. Es gibt für uns als F.D.P.-Fraktion keine Anhalts- nau darum kann man nicht davon reden, das Rechts- punkte, auf Grund deren das Bundesamt aufgefor- system des Staats sei grundsätzlich sicher. Man hat dert werden könnte, seine Entscheidungen abzuän- durchaus mit der Möglichkeit zu rechnen, daß es dern. Kollege Röttgen hat richtigerweise darauf hin- gewiesen, daß die Entscheidung des Bundesamtes in auch weiterhin politische Verfolgung gibt - wenn auch ganz bestimmt nicht in dem Maße wie vorher einem Urteil des Verwaltungsgerichtes Osnabrück unter dem Regime von Ceausescu. Gerade der Hin- als rechtmäßig bestätigt wurde. weis auf die Existenz von staatlichen Übergriffen Frau Kollegin Dietert-Scheuer, Sie haben nicht dar- macht deutlich, daß es noch politische Verfolgung auf hingewiesen, daß es auch eine zweite Anhörung gibt. gegeben hat. Auch an dieser zweiten Anhörung ist Es reicht auch nicht aus zu sagen, die Übergriffe nichts zu beanstanden. Ich bin sogar der Auffassung, lägen nicht im Willen des Staates. Alle menschen- daß dies für die Fairneß und die Sicherheit unserer rechtsverletzenden Staaten sagen, sie seien für die Verfahren spricht. Ich weise also an dieser Stelle die Übergriffe nicht verantwortlich. Aber selbst wenn es, Kritik der Berichterstatter der Opposition zurück. Ich objektiv gesehen, nicht im Interesse des Staates ist, teile sie nicht. hilft das dem Flüchtling wenig. Die Aufgabe des Staates ist es dann nämlich, solche Übergriffe zu ver- Ich kann auch die von Ihnen, Frau Kollegin Hane- hindern. Auch die Rechtsprechung des Bundesver- winckel, vorgetragene Kritik überhaupt nicht teilen, fassungsgerichts sagt: Politisch verfolgt ist man ent- wenn es darum geht, einen Herkunftsstaat als sicher weder, wenn die Verfolgung vom Staat ausgeht oder oder unsicher einzustufen. Es besteht für uns kein wenn der Staat nicht willens oder in der Lage ist, der- Zweifel, daß die entsprechenden Berichte der Bun- artige Übergriffe zu verhindern. Von daher sind dem desregierung, die wir in dieser Hinsicht erhalten, Staat unabhängig von jeglichen Absichtserklärun- auch zuverlässig sind. Ich denke, alles Weitere kann gen Übergriffe von Exekutivorganen zuzurechnen. ich mir hier auch aus Zeitgründen ersparen. Herr Kollege Röttgen hat dazu alles gesagt. Zu der Problematik der sicheren Herkunftsländer habe ich vorhin schon das Nötige gesagt. Diese Ein- Frau Kollegin Hanewinckel, einen Vorwurf möchte stufung ist ein unsinniges Instrument. In diesem Fall ich noch zurückweisen. Das betrifft die heutige pau- muß ich allerdings auch die SPD daran erinnern - so- schale Kritik an den Geschäftsführern. Wenn Sie sehr wir auch den Antrag als solchen als Schritt in darauf hinweisen, daß dieses Verfahren im Parla- die richtige Richtung begrüßen -, daß gerade sie na- ment so lange gedauert hat, dann wenden Sie sich türlich maßgeblich für die Einführung der Listen mit doch bitte dahin gehend an Ihren eigenen Geschäfts- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997 14199

Günther Friedrich Nolting führer, daß er sich nicht rechtzeitig um Ihr Anliegen die Rücknahmeabkommen gibt und daß die Men- gekümmert hat, schen aus Polen, die Asylanträge stellen wollen, ab- geschoben werden, weil sie aus Polen, also einem so- (Zurufe von der CDU/CSU: Hört, hört!) genannten Drittstaat, kommen. wenn es denn so wichtig ist, wie Sie es hier vorgetra- Wie gesagt, wir werden diesem Antrag zustimmen. gen haben. Ich sehe, meine Redezeit ist auch schon abgelaufen. Ansonsten will ich abschließend darauf hinweisen, (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist gut!) daß wir der Beschlußempfehlung des Petitionsaus- schusses zustimmen und den Änderungsantrag der - Sie sind ein Demagoge. SPD ablehnen werden. Danke. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) (Beifall bei der PDS und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Michaela Geiger: Ich erteile der Kollegin Ulla Jelpke das Wort . Vizepräsidentin Michaela Geiger: Damit schließe ich die Aussprache. Ulla Jelpke (PDS): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich muß schon sagen, daß ich diese Dis- Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluß- kussion hier ziemlich zynisch finde. Zum Fall der Fa- empfehlung des Petitionsausschusses zur Petition milie Valcu sind zunächst einmal zwei Punkte festzu- zum weiteren Aufenthalt abgelehnter Asylbewerber stellen: Erstens hat das Asylrecht hier überhaupt im Bundesgebiet, Drucksache 13/1411. nichts mehr mit Humanität zu tun. Zweitens zeigt es Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der sich auch hier, daß ein humanes Umgehen mit Altfäl- SPD vor, über den wir jetzt zuerst abstimmen. Wer len im Grunde ebenfalls nicht praktiziert wird. Denn stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 13/ diese Familie hat hier fünf Jahre gelebt. Die Kinder 6979? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Da- sind fünf Jahre lang erfolgreich hier in die Schule ge- mit ist der Änderungsantrag mit den Stimmen der gangen. Letztendlich hat man die Familie nach Ru- Koalition gegen die Stimmen der Opposition abge- mänien ausgewiesen mit der Hauptbegründung - lehnt. das ist hier schon genannt worden -, daß dies ein si- cherer Herkunftsstaat sei. Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Petiti- onsausschusses? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Ich teile das Anliegen in dem Antrag der SPD und Die Beschlußempfehlung ist bei den gleichen Mehr- auch das, was die Kollegin Hanewinckel hier vorge- heitsverhältnissen angenommen. tragen hat, voll und ganz. Ich könnte stundenlang Beispiele dafür geben, daß das Auswärtige Amt bei- Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 7: spielsweise Berichte nicht zur Verfügung stellt. Ein Beispiel stelle ich hier in den Raum: Bosnien-Herze- Beratung der Beschlußempfehlung des Petiti- gowina. Über dieses Land werden sogar monatlich onsausschusses (2. Ausschuß) Berichte erstellt. Sie sind aber vertraulich und nicht Sammelübersicht 88 zu Petitionen einmal Mitgliedern des Innenausschusses - als sol- (Zahlung einer Entschädigungsrente nach ches spreche ich hier heute - zugänglich. Das heißt, dem Entschädigungsrentengesetz) wir müssen dort erst selber hinfahren, um uns schlau zu machen, wie die Situation vor Ort ist. Dann erfah- - Drucksache 13/3149 - ren wir das, was das Auswärtige Amt schon seit Mo- naten in Berichten verfaßt hat. Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD vor. Ich möchte außerdem hinzufügen, daß nicht nur „amnesty international" über Rumänien umfangrei- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für che Informationen, was Menschenrechtsverletzun- die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist dies so gen angeht, veröffentlicht hat. Es gibt auch das Berli- ner Institut für Flüchtlings- und Migrationsf or- beschlossen. schung, das eine ganze Studie über die Situation der Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kol- letzten Jahre in Rumänien verfaßt hat. Wenn sich das lege Helmut Heiderich. Bundesamt tatsächlich hätte informieren wollen, dann wäre das meines Erachtens kein Problem ge- (CDU/CSU): Frau Präsidentin! wesen. Helmut Heiderich Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die vorlie- Zur SPD möchte ich noch sagen, daß die genaue gende Petition greift in den schwierigen Bereich der Untersuchung, was sichere Herkunftsländer sind, ein Entschädigungsregelung im Rahmen des Entschädi- Punkt ist. Der zweite Punkt ist, daß wir auch unsere gungsrentengesetzes ein. Es geht um Opfer des Na- Nachbarländer, die sogenannten Drittstaaten, be- tionalsozialismus aus dem Gebiet der ehemaligen trachten müssen. Wir haben vor kurzem aufgedeckt, DDR. Dort erhielt die Mehrzahl von ihnen eine soge- daß Menschen, die in Polen ein Asylverfahren bean- nannte Ehrenpension für Kämpfer gegen den Fa- tragt haben, kein korrektes Asylverfahren erhalten. schismus oder als Opfer des Faschismus. Oft war al- Ich denke, auch das muß überprüft werden. Das geht lerdings der Bezug dieser Leistungen nur durch eine in eine ähnliche Richtung. Denn Sie wissen, daß es besondere Treue zum SED-Staat zu erlangen. Nicht 14200 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997

Helmut Heiderich zuletzt aus diesem Grund mußte mit dem Entschädi- zur Berücksichtigung überflüssig, weil auch dieser gungsrentengesetz, das 1992 - übrigens in breitem Gedankengang damals berücksichtigt worden ist politischen Konsens von CDU/CSU, F.D.P. und SPD - und in die Formulierung der Bestimmungen mit ein- verabschiedet wurde, eine Lösung gefunden werden, gegangen ist. die sowohl den Ansprüchen der Verfolgten gerecht wird als auch den Grundsätzen von Menschlichkeit (Beifall bei der CDU/CSU) und Rechtsstaatlichkeit genügt. Das Gesetz sorgt Die Härtefallregelung nach § 8 des Gesetzes deshalb grundsätzlich dafür, daß den Betroffenen die kommt übrigens auch für den Antragsteller in Be- bisherigen Leistungen fortgezahlt werden. tracht. Interessant ist, daß der Petent diesen Weg Für zwei Bereiche bedurfte es aber zusätzlicher aber bisher nicht in Anspruch genommen hat, ob- Festlegungen. Zum einen wurde sichergestellt, daß wohl ihm das vom Ausschuß mehrfach vorgeschla- auch diejenigen Personen Leistungen erhalten, de- gen worden ist. Er beharrt weiterhin auf der Aner- nen man im Arbeiter- und Bauernstaat den Anspruch kennung nach dem allgemeinen § 3, der eigentlich verweigert hatte, weil sie sich nicht entsprechend re- nur für diejenigen vorgesehen ist, die ihren Wohnsitz gimetreu verhalten hatten. Eine solche Benachteili- im Gebiet der ehemaligen DDR beibehalten haben. gung ist durch dieses Gesetz jetzt ausgeschlossen. Wenn man die Petition genauer studiert, hat man Auf der anderen Seite wurde aber auch die Mög- den Eindruck, daß es dem Petenten offenbar gar lichkeit geschaffen, diejenigen vom weiteren Lei- nicht um seine persönlichen materiellen Bedingun- stungsbezug auszuschließen, die gegen die Grund- gen geht, sondern daß es ihm darum geht, dieses sätze der Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit Entschädigungsrentengesetz zu kritisieren als - ich verstoßen hatten oder aber ihre Stellung im DDR-Sy- zitiere - „ein Instrument zur Wahrung von P rivilegien stem in schwerwiegendem Maße, wie es im Gesetz ehemaliger SED-Anhänger". Er zieht daraus seine heißt, zum eigenen Vorteil oder zum Nachteil ande- Schlußfolgerungen und schreibt, es sei ein Gesetz rer mißbraucht hatten. zur „Mißachtung der Interessen und Ideen ehemali- ger Gegner der DDR" . Ihm geht es offensichtlich um Schon an dieser Formulierung können Sie erfas- eine politische Beurteilung dieses Gesetzes. Das läßt sen, daß es eine schwierige Abgrenzung war, die da- sich auch deutlich den weiteren Darstellungen ent- mals im Gesetzgebungsverfahren erörtert und abge- nehmen, die in seiner Petition zu finden sind. Das stimmt werden mußte. Umfangreiche Verhandlun- mag vielleicht - ich möchte das an dieser Stelle er- gen vor der Gesetzesentwicklung wurden gerade wähnen - an seiner für einen Verfolgten eigentlich über diesen Punkt durchgeführt. Man einigte sich untypischen Vita liegen. Der Petent ist 1944 in Frank- am Ende auf diese eben genannte bewußt weite Aus- reich geboren und ist erst Ende der 50er Jahre in die legung. DDR übergesiedelt. Er ist dort später dann als Sohn eines Verfolgten selbst als Verfolgter des Nationalso- Über diese beiden eben genannten Korrekturmög- zialismus anerkannt worden. Das wurde ihm 1976 lichkeiten hinaus ist zusätzlich und ausdrücklich wieder aberkannt, weil er einen Ausreiseantrag ge- noch eine Härtefallregelung in § 8 des Gesetzes ver- stellt hat und weil er als Regimekritiker zu einer Ge- einbart worden. Danach können auch Personen, die, fängnisstrafe verurteilt worden ist. 1977 konnte er in obwohl sie Verfolgte des Nationalsozialismus sind die Bundesrepublik ausreisen. oder als solche anerkannt sind, weder Anspruch auf Entschädigungsrente nach diesem Entschädigungs- Ich meine, ihm geht es letztlich wohl um die Frage, rentengesetz haben noch eine Entschädigung nach in welchem Umfang das millionenfache Unrecht ei- dem Bundesentschädigungsgesetz erhalten, trotz- nes totalitären Staates durch nachfolgende Rechts- dem gleichwertige Entschädigungsleistungen auf staatlichkeit aus der Welt geschafft oder wiedergut- Grund entsprechend nachgeschalteter Richtlinien er- gemacht werden kann. Aber auch über diese Frage halten. Dies sind die bekannten „Richtlinien für eine ist vor der Verabschiedung des Gesetzes mit den Be- ergänzende Regelung über Entschädigungen für Op- troffenen - ich nenne hier insbesondere den Zentral- fer des Nationalsozialismus im Beitrittsgebiet" . rat der Juden - lange gesprochen und verhandelt worden. Man war sich darüber einig, daß Willkür Ich glaube, man macht es sich auch zu leicht, wenn und Diskriminierung des SED-Staates letztlich mit man vor diesem Hintergrund sagt: Hätte man damals keinem rechtsstaatlichen Mittel völlig ungeschehen gewußt, daß es noch ganz besondere Fälle wie bei- gemacht werden können. spielsweise den in der vorliegenden Petition gibt, dann hätte man sich anders entschieden. Wenn man Ich möchte einen Punkt herausgreifen. Allein um die Entscheidungsfindung und die Debatte von da- sicherstellen zu können, daß nach dem Gesichts- mals verfolgt, dann kann man feststellen, daß auch punkt der SED-Nähe niemand zu Unrecht eine Lei- die heute vorliegende Problematik bereits do rt aus- stung bezieht - das wird ja vom Petenten kritisiert -, führlich erörtert und besprochen wurde. hätte man eine generelle Überprüfung jedes einzel- nen Falles vornehmen müssen. Doch allen Seiten ist Nach den eben genannten Richtlinien ist im übri- schon bei der Beratung des Gesetzentwurfes klarge- gen auch derjenige rentenberechtigt, der die DDR worden, daß eine solche Vorgehensweise unzumut- nach dem 30. Juni 1969, das heißt nach Auslaufen bar für alle wirklich Verfolgten gewesen wäre. des Bundesentschädigungsgesetzes verlassen hat und seinen Wohnsitz im Bundesgebiet nach dem Der damalige SPD-Berichterstatter hat in diesem Stand vom 2. Oktober 1990 genommen hat. Auch aus Hause ausdrücklich erklärt, daß eine über die Geset- diesem Grunde ist eine Überweisung dieser Petition zesregelung hinausgehende Regel - oder Einzelfall- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997 14201

Helmut Heiderich prüfung für ihn nicht akzeptabel sei und daß man ei- Reinhold Hiller (Lübeck) (SPD): Frau Präsidentin! ner Unterscheidung zwischen guten und schlechten Meine sehr geehrten Damen und Herren! Als lang- Verfolgten eine Absage erteilt habe. jähriges Mitglied des Petitionsausschusses bin ich enttäuscht, welche schlimmen Folgen eine Gesetzge- Daß in der damaligen DDR genau diese Unter- bung für die Bürgerinnen und Bürger hat und wie scheidung gemacht wurde, daß vielen Betroffenen groß daraus der Vertrauensverlust für unsere Demo- dadurch erneutes Unrecht entstanden ist, wurde im kratie häufig werden kann. Die hier in Rede ste- Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens ausdrücklich hende Petition ist dafür ein besonders krasses Bei- berücksichtigt. Es bestand auch kein Zweifel, daß spiel. Zunächst möchte auch ich aus meiner Sicht die dies nicht in jedem einzelnen Punkt nachträglich Fakten darstellen. ganz genau korrigiert werden kann Der Petent jüdischer Herkunft wurde in der DDR Von einer Gesetzeslücke kann dennoch nicht die 1959 als Hinterbliebener eines Verfolgten des Nazi- Rede sein. Die Härtefallklausel stellt eine Gleichbe- regimes anerkannt. Diese Anerkennung war in der handlung von Personen, denen kein Anspruch nach DDR mit wesentlichen Vorteilen verbunden. 1 500 der allgemeinen Vorschrift des § 3 zusteht, mit den Mark monatlich bei einer Pensionierung mit nach diesem Gesetz Anspruchsberechtigten sicher. 62 Jahren lagen deutlich über dem damaligen Durch- schnitt. Die DDR wollte sich damit auch ideologisch Das Anliegen des Petenten ist wegen seiner grund- von den Verhältnissen in der Bundesrepublik ab- sätzlichen Ausrichtung - er orientiert sich nicht an grenzen, wo die Aufarbeitung des NS-Regimes lange seinem persönlichen Entschädigungsrecht, sondern auf sich warten ließ und viele Nazis einflußreiche Po- stellt das Gesetz grundsätzlich in Frage - sowohl von sitionen erhielten. der Kommission als unbegründet zurückgewiesen wie auch von dem Petitionsausschuß als nicht erfüll- Gleichzeitig erhielten überproportional viele Mit- bar abgewiesen worden. glieder der Nomenklatura der DDR diese Rente. Im Zuge der Einheit wurden durch das Entschädigungs- In dem konkreten Fall liegt kein Anspruch auf Lei- gesetz Teilrenten für diesen Personenkreis aner- stungen nach dem ERG vor, da der Betroffene bereits kannt. Diese Teilrenten begünstigten die Verfolgten 15 Jahre im alten Bundesgebiet wohnte, als das Ge- des Naziregimes, aber auch viele linientreue Staats- setz in Kraft trat, und damit seine Ansprüche nach bürger der DDR, auch die der Partei- und Staatsfüh- dem Territorialprinzip verloren hatte. Der Petent hat rung, sofern ihnen keine Menschenrechtsverletzun- - darauf will ich ausdrücklich verweisen - jedoch gen nachgewiesen werden konnten. nach wie vor die Möglichkeit, beim Bundesministe- Nun zurück zu dem Petenten. Nach seiner Aner- rium der Finanzen einen Antrag auf Bewilligung von kennung als Verfolgter hat sich der Petent gegen das Entschädigungsleistungen auf der Grundlage der SED-Regime aufgelehnt. Der Preis war hoch: Er er- von mir bereits erwähnten Richtlinien - im Rahmen hielt 1977 eine Freiheitsstrafe. Gleichzeitig wurden der Härtefallregelung - zu stellen. Somit besteht aus ihm seine Ehrenrechte aberkannt und damit auch die meiner Sicht kein Anlaß, die Gesetzeslage von 1992 VdN-Rente. Danach übersiedelte er in die Bundesre- nachträglich zu verändern. publik. Hier schrieb er mehrere Bücher über das SED-Regime, eines herausgegeben von dem Osteu- Der Weg zu diesem Gesetz war äußerst steinig. ropaexperten Professor Leonhard. Viele Untiefen mußten ausgelotet und überbrückt werden. Es wäre auch unter diesem Gesichtspunkt, Nach der Einheit stellte auch der Petent einen An- denke ich, nicht richtig, dieses Gesetzesverfahren trag auf Entschädigungsrente. Er wollte die gleiche wegen des Anliegens des Petenten noch einmal auf- Rente bekommen, wie sie für diejenigen gezahlt zurollen. wird, die bis zum Fall der DDR mitunter die Diktatur linientreu unterstützten. In dem vorliegenden Fall verhindern es nach mei- ner Auffassung nicht mangelhafte Rechtsvorschrif- Warum wurden die Anträge des Petenten abge- ten, den möglichen Weg zu persönlicher Entschädi- lehnt? Die Kommission zum Entschädigungsrenten- gung zu beschreiten. Es liegt beim Petenten selbst, gesetz teilte dem Petenten mit, daß diese Regelung, diesen Weg zu beschreiten. Dies können wir ihm die 1992 in Kraft getreten ist, nur für diejenigen aber weder abnehmen noch vorschreiben. Deswegen gelte, die zum Zeitpunkt der Vereinigung Bürger der plädieren wir nach wie vor dafür, das Petitionsverfah- DDR waren. ren abzuschließen. Die Argumente und Positionen Später wurde dem Petenten mitgeteilt, es fehle ein sind ausreichend ausgetauscht, die Möglichkeiten Attest für einen etwaigen Körperschaden für den geprüft. Es ergeben sich auch durch Wiederholun- Zweck des Bezuges der VdN-Teilrente. Dieses wurde gen keine neuen Beurteilungen. sogar rückwirkend für 1990 verlangt. Später stellte Schönen Dank. die obengenannte Kommission fest: Die generelle Unzufriedenheit an den dortigen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen rechtfertigt nicht, diesen Zurechnungszusam- menhang zu verneinen. Vizepräsidentin Michaela Geiger: Vielen Dank, Herr Kollege Heiderich. Jetzt hat das Wo rt der Kol- Dieser Zurechnungszuammenhang bedeutet, daß lege Reinhold Hiller. der mit der Ausreise verbundene Entzug der VdN- 14202 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997

Reinhold Hiller (Lübeck) Rente keine rechtsstaatswidrige Entscheidung der meiner Altersklasse in der Tat freiwillig, nämlich DDR-Stellen beinhalte. mit einem Reisepaß in der Tasche in der DDR ge- blieben waren. Sie hatten freiwillig und treu ere- Meine Damen und Herren, ersparen Sie mir die geben bis zu letzten Minute ihrem sozialistischen weitere Darstellung der juristischen Begründungen. Staat gedient und lassen sich heute ihre Treue Diese Juristerei läßt Menschlichkeit ebenso vermis- vom bundesdeutschen Feindstaat entlohnen. sen wie die Kenntnis über die Unmenschlichkeit des SED-Regimes in diesem konkreten Fall. Das betone Und jetzt kommt der entscheidende Punkt, Herr ich. Herr Kollege Heiderich, Sie haben darauf hinge- Kollege Heidrich - das ist wieder ein Zitat -: wiesen, wie das Gesetz zustande gekommen ist. Da- von will ich mich in keiner Weise distanzieren. Ich Wäre ich als ein SED-Anhänger in der DDR ge- mache mir aber die Aussage des Petenten zu eigen - blieben, dann würde mir heute niemand die Ent- ich zitiere -: schädigungsrente streitig machen. Es ist ... sehr gewagt, von einer Freiwilligkeit Das ist der entscheidende Punkt, bei dem das Gesetz meiner Ausreise zu sprechen. nur eine unbef riedigende Antwort gibt. Schließlich hat sich der Petent öffentlich gegen die (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DDR gewandt und wurde inhaftiert. Wer hier von DIE GRÜNEN - Zuruf von der CDU/CSU) Freiwilligkeit spricht, hat von der DDR nichts begrif- fen. - Ich habe doch gesagt, daß ich anerkenne, wie das Gesetz zustande gekommen ist. Nur, das ist nicht Sa- Heute muß man resigniert feststellen, daß Opfer che des Petitionsausschusses. Hier geht es darum, benachteiligt werden, während Täter begünstigt Einzelfälle zur Kenntnis zu nehmen und auf sie zu werden können. Unabhängig davon, wie man die reagieren. Das ist unsere Aufgabe. Wir sind nicht der Frage der Renten für SED-Verantwortliche beurteilt, Innenausschuß. darf es nicht sein, daß Anhänger des DDR-Regimes ihre Renten behalten dürfen und diejenigen, die auf (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Grund ihrer Opposition ihr Land verlassen mußten GRÜNEN und der PDS) oder im Gefängnis gesessen haben, ihre Renten als jüdische Hinterbliebene von Verfolgten des Naziregi- Dieser Fall ist mehr ein politischer als ein juristischer. mes verlieren. Widerstand wird in diesem Fall be- Für Politik sind wir zuständig. straft; Linientreue kann sich lohnen. Diese Formel darf es, auch wenn sie juristisch noch so klug be- So schreibt der Petent - noch einmal Zitat; Herr gründet wird, nicht geben. Heiderich, ich habe Ihnen zugehört und bitte Sie des- halb, das jetzt zur Kenntnis zu nehmen; dann werden (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Sie auch verstehen, warum wir unterschiedliche Posi- DIE GRÜNEN) tionen haben -: Nachdem wir gesehen haben, daß die Koalitions- Im übrigen meine ich, daß Gesetze, auch das Ent- fraktionen nicht bereit sind, sich in diesem Fall zu be- schädigungsrentengesetz, von Menschen für wegen, werde ich diese Angelegenheit an das Berli- Menschen gemacht wurden und daß sie deshalb ner Büro von Frau Bohley weiterleiten, damit sie die- kein unumstößliches Abstraktum sind. Wenn also sen Fall in die Gespräche mit Bundeskanzler Kohl ein Fall auftaucht, der beim Konzipieren eines einbeziehen kann. Gesetzes gar nicht bedacht wurde, oder wenn (Beifall bei der SPD) sich die Rahmenbedingungen ändern, sollte das Gesetz von denjenigen durchdacht werden, die Wir alle sollten uns engagieren - das ist unsere es konzipiert und beschlossen haben, und die sit- Aufgabe im Petitionsausschuß -, um diese Ungerech- zen, wie ich meine, im Bundestag. Das ist der ei- tigkeiten, sofern wir sie erkennen, auch an Hand von gentliche Grund, weshalb ich mich mit meiner Einzelfällen zu beseitigen. Dies ist wichtiger als die Angelegenheit an den Petitionsausschuß des Briefe des Bundesjustizministers an den lieben Onkel Bundestages gewandt habe. Vielleicht können Herbert von Arnim, in denen es darum geht, eventu- Sie mir doch noch helfen. ell zu späterer Zeit große Teile Brandenburgs wieder in den Besitz der Familie von Arnim zu bringen. Die SPD-Bundestagsfraktion ist dazu bereit. Sie hat im Petitionsausschuß einen Antrag auf Berück- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne sichtigung gestellt. Darüber stimmen wir heute ab. ten der PDS) Es wäre schön, wenn wir zumindest einsähen, daß es Zum Schluß möchte ich Ihnen ein weiteres Zitat nicht in Ordnung ist, wenn dieses Gesetz Viten, wie des Petenten vortragen: hier beschrieben, produziert. Im nachhinein wird mein Engagement für die Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Menschen in der DDR, das wohl Beweis genug für die Unfreiwilligkeit meiner Ausreise ist, (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE ... von den Mitgliedern der Kommission lächer- GRÜNEN und der PDS) - lich gemacht, während andere mir bekannte VdN-Anerkannte Vizepräsidentin Michaela Geiger: Ich erteile das - darunter auch Familienangehörige - Wort jetzt dem Abgeordneten Volker Beck. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997 14203

Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Hier scheitert jemand an den engen Voraussetzun- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Diese gen. Petition ist wieder ein gutes Beispiel für die Kleinlich- keit des bundesdeutschen Entschädigungsrechts für Eines, Herr Heiderich - ich verstehe es wirklich nicht -, müssen Sie mir erklären: Wenn der Petent die Opfer des Nationalsozialismus - eine Kleinlich- keit, die im krassen Gegensatz zu der Großzügigkeit tatsächlich nach den außergesetzlichen Richtlinien bei der Kriegsopferversorgung steht, bei der Versor- die gleichen Leistungen bekommen kann, warum gung auch mancher Täter. Antragsschlußfristen, wird bei der Ablehnung nicht automatisch die Akte Wohnsitzvoraussetzungen, ein Regelungsdschungel abgegeben und dafür gesorgt, daß er diese Rente er- - all das kennzeichnet das Entschädigungsrecht und hält, wenn dem so ist? Warum muß man die Opfer verhindert oftmals, daß den Opfern des National- durch die Instanzen treiben, von Pontius zu Pilatus sozialismus zu ihren rechtmäßigen Ansprüchen ver- schicken und immer ein anderes Amt zuständig ma- holfen werden kann. chen?

(Beifall der Abg. Christa Nickels [BÜND Die Leute empfinden jede Ablehnung als Demüti- NIS 90/DIE GRÜNEN]) gung, als Abwertung ihres Verfolgtenschicksals. Deshalb sollten wir diese Dinge einmal aus der Per- Welch Unterschied zwischen den Regelungen für spektive der Opfer und nicht aus der Perspektive der die Kriegsopfer, dem Bundesversorgungsgesetz, und abwimmelnden Verwaltungen sehen und hier ent- Bundesentschädigungsgesetz oder dem Entschädi- sprechend großzügig und für die Opfer gerecht ver- gungsgesetz! Während hier überall Schlußfristen fahren. Ich kann nicht sehen, daß das in diesem Fall greifen, kennt das Bundesversorgungsgesetz diese geschehen ist. Deshalb muß die Bundesregierung Schlußfristen nicht. Ich habe gerade die Information meiner Meinung nach über diese Praxis nachden- bekommen, daß holländische ehemalige SS-Angehö- ken. Darum bin ich für eine Berücksichtigung dieser rige in den letzten zwei Wochen vermehrt Anträge Petition. bei der Landesversorgungsanstalt in Aachen stellen: Renten nach Kriegsopferversorgungsrecht. Diese (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, werden ihre Rentenansprüche realisieren können; bei der SPD und der PDS) die Opfer des Nationalsozialismus scheitern an eng- herzigen, komplizierten Regelungen, wie der hier Vizepräsidentin Michaela Geiger: Das Wort hat vorliegende Fall beweist. jetzt der Abgeordnete Günther Nolting. Insgesamt ist die Öffnungsregelung beim Entschä- digungsrentengesetz offensichtlich höchst unbefrie- Günther Friedrich Nolting (F.D.P.): Frau Präsiden- digend. Die letzten Zahlen des Bundesfinanzministe- tin! Meine Damen und Herren! Ich sehe, daß die Ent- riums von 1994 zeigen: Bei 1 143 Anträgen auf Neu- scheidung des Petitionsausschusses, das Anliegen bewilligungen nach dem Entschädigungsrentenge- des Petenten nicht zu unterstützen, vom Einsender setz gab es damals 580 Entscheidungen; davon wa- als bitter empfunden werden muß. Dennoch sind wir ren lediglich 36 positiv. Alle anderen scheitern an der Auffassung, daß die Grundsätze unseres Sozial- den engen Voraussetzungen. staats diese Entscheidung rechtfertigen. Im vorlie- Wir als Grüne und das Land Hessen haben diese genden Fall besteht zunächst kein Zweifel daran, engen Voraussetzungen schon damals im Bundesrat daß die Aberkennung der Ehrenpension in der ehe- mit einem Antrag kritisiert und für eine Öffnung plä- maligen DDR im Jahr 1976 mit rechtsstaatlichen diert. Grundsätzen unvereinbar gewesen ist, lagen ihr doch vor allem die regimekritischen Äußerungen des Denn wir haben auch die eigentlich gescheiterte Petenten zugrunde. Herr Kollege Hiller, ich denke, Trennung zwischen den anerkannten NS-Opfern, die hier besteht Übereinstimmung. unter das Bundesentschädigungsgesetz fallen, und Klar ist aber auch - dies ist hier von entscheiden- denjenigen, die allenfalls Leistungen nach dem All- der Bedeutung -, daß die Zahlung einer Ehrenpen- gemeinen Kriegsfolgengesetz Westdeutschlands be- sion in der ehemaligen DDR grundsätzlich daran ge- kommen können, nachvollzogen. Auch diese Trenn- knüpft war, daß der Betroffene auch in der ehemali- linie, die wir eigentlich schon als politisch falsch er- gen DDR lebte. Herr Kollege Hiller, Herr Kollege kannt hatten, haben Sie bei der Abfassung des Ent- Beck, Sie hätten darauf hinweisen sollen, daß dieses schädigungsrentengesetzes dummerweise nochmals Prinzip wie in den meisten Staaten auch in der Bun- nachvollzogen. desrepublik Deutschland gilt. Ich finde diesen Einzelfall auch besonders schok Herr Kollege Hiller, ich will es noch einmal sagen: kierend, weil seine Behandlung gegen den Geist des Der Petent hatte zum Stichtag - das war der 30. April Gesetzes verstößt. Mit der Öffnungsklausel wurde ei- 1992 - seinen Wohnsitz bereits seit fast 15 Jahren in gentlich bezweckt, daß diejenigen, die aus politi- der Bundesrepublik Deutschland. schen Gründen in der DDR aus den Regelungen der Ehrenpension herausgefallen sind, diese nachträg- (Andreas Krautscheid [CDU/CSU]: Hört! - lich bekommen können, um NS-Opfer, die auch Hört!) SED-Opfer geworden sind, nicht aus der Regelung auszugrenzen und sie gleichberechtigt in das Ent- Auch das Entschädigungsrentengesetz läßt leider schädigungswerk für Ostdeutschland einzubeziehen. keine andere Entscheidung zu. 14204 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997

Günther Friedrich Nolting Dem Petitionsausschuß ist auch darin zuzustim- 30. April 1992, bis zu dem Wiederherstellungsan- men, daß eine Gesetzesänderung unter Vertrauens- träge gestellt werden konnten, nicht - wie es im schutzgesichtspunkten, durch die dem Anliegen des Amtsdeutsch so schrecklich heißt - im Beitrittsgebiet Petenten entsprochen werden könnte, nicht geboten gewohnt hat. ist. Der Grund dafür ist, daß der Petent bei Inkrafttre- ten des Entschädigungsrentengesetzes schon mehr Die dadurch entstandene Situation, daß er als ein- als ein Jahrzehnt in der Bundesrepublik Deutschland stiger DDR-Kritiker nun ohne Entschädigungsrente gelebt hat. Er konnte daher nicht erwarten, daß ihm für erlittenes Unrecht in der Nazizeit dasteht, im Un- nach dem Mauerfall nunmehr eine solche Rente nach terschied zu den in der DDR Gebliebenen, halten den Grundsätzen der ehemaligen DDR zugeprochen auch wir rechtlich für problematisch. Insofern unter- würde. stützen wir den Änderungsantrag der SPD zur Be- schlußempfehlung des Petitionsausschusses, die Peti- Mir ist bewußt - Herr Kollege Hiller, Sie haben dar- tion der Bundesregierung wegen der entstandenen auf abgezielt -, daß all dies für die Betroffenen juristi- Gerechtigkeitslücke zur Berücksichtigung zu über- sche Fragen sind. Sie entsprechen jedoch den weisen. Grundsätzen, die dem deutschen Sozialstaat zu- grunde liegen. Wenn der Petent allerdings beklagt, daß er die Kommission als unpolitische soziale Rentenstelle er- Herr Kollege Hiller, da Sie schon lange Mitglied im lebt habe, so trügt der Schein. Diese Kommission Petitionsausschuß sind, haben Sie uns darauf auf- wirkt sehr wohl politisch, allerdings in eine andere merksam gemacht, daß wir diese Grundsätze zu be- Richtung als die vom Petenten erwartete. achten haben. Seit 1992 werden durch diese Kommission ohne Gestatten Sie mir noch einen Hinweis. Es wäre der Unterlaß per Verwaltungsakt mit sofortiger Wirkung Sache angemessener gewesen - wenn es denn so Ehrenpensionen bzw. Entschädigungsrenten aber- ernst ist, wie Sie es dargestellt haben -, wenn Sie die kannt. Polemik in Ihrer Rede weggelassen hätten. Vielen Dank. Berufliche Stellungen und Positionen in der DDR müssen per se für den Nachweis von Menschen- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU - rechtsverletzungen herhalten. Antifaschistisches En- Zuruf von der SPD: Nein, das war gerade gagement wird damit relativiert. Kein gutes Zeichen richtig!) in diesen Tagen! (Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordne- Vielen Dank, Vizepräsidentin Michaela Geiger: ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Herr Kollege Nolting. Das Wort hat jetzt die Kollegin Petra Bläss. Vizepräsidentin Michaela Geiger: Verehrte Kolle- ginnen und Kollegen, damit schließe ich die Ausspra- Petra Bläss (PDS): Frau Präsidentin! Liebe Kolle- che. ginnen und Kollegen! Sicher braucht das Sozialrecht zeitliche und territoriale Kriterien für die Bewilli- Zur Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses gung oder den Ausschluß von Leistungen. Das liegt zu Petitionen zur Zahlung einer Entschädigungs- sozusagen in der Natur der Sache. Zu welch skurri- rente nach dem Entschädigungsrentengesetz, Druck- len Entscheidungen das jedoch im Prozeß der deut- sache 13/3149, liegt ein Änderungsantrag der Frak- schen Einheit führen kann, zeigt uns der heute vor- tion der SPD vor, über den wir zuerst abstimmen. liegende Fall. Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksa- che 13/6980? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltun- Die Bundesrepublik und die DDR haben zwar gen? - Der Änderungsantrag ist mit den Stimmen der 40 Jahre autark agiert, aber sie waren doch nicht frei Koalition gegen die Stimmen der Opposition abge- von Bewegungen der Bürgerinnen und Bürger lehnt. „zwischen den Welten". So der Petent, der nach Aus- reiseantrag und Haft im Jahre 1977 von der DDR in Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Petiti- die Bundesrepublik übersiedelte. Die Ehrenpension onsausschusses? - Gegenprobe! - Enthaltungen? als Verfolgter des Naziregimes war ihm im Zusam- Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der menhang mit dem Prozeß 1976 aberkannt worden. Koalition gegen die Stimmen der Opposition ange- Nun, nach der staatlichen Einheit wandte er sich nommen. an die Kommission, die im Zusammenhang mit der Überleitung der Ehrenpensionen in Entschädigungs- Ich rufe Zusatzpunkt 8 auf: renten 1992 gebildet wurde. Diese rehabilitierte ihn de facto politisch, stellt aber den Wiederbezug der Beratung der Beschlußempfehlung und des Entschädigung nicht wieder her, weil der Petent Berichts des Ausschusses für Umwelt, Natur- nicht alle Bezugskriterien erfüllt. schutz und Reaktorsicherheit (16. Ausschuß) zu der Verordnung der Bundesregierung - Allerdings ist nicht das Kriterium ausschlagge- bend, das der Petent benennt: das Fehlen der Bestäti- Zustimmungsbedürftige Verordnung zur Um gung eines 20prozentigen Körperschadens aus dem setzung der Richtlinie 80/68/EWG vom Jahre 1990, sondern daß der Petent zum Stichtag 17. Dezember 1979 über den Schutz von Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997 14205

Vizepräsidentin Michaela Geiger Grundwasser gegen Verschmutzung durch Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlos- bestimmte gefährliche Stoffe sen. - Drucksachen 13/6902, 13/6971 - Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat unser Kollege Roland Sauer. Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Norbert Rieder Susanne Kastner Roland Sauer (Stuttgart) (CDU/CSU): Frau Präsi- Dr. Jürgen Rochlitz dentin! Meine Damen und Herren! Der Entwurf ei- Günther Bredehorn nes Nichtraucherschutzgesetzes wurde von 136 Abgeordneten aus CDU/CSU, SPD und F.D.P. Interfraktionell ist vereinbart worden, die Redebei- eingebracht. Diese Anzahl ist für eine Gesetzesinitia- träge zu Zusatzpunkt 8 zu Protokoll zu geben.*) Sind tive, die nicht von einer Fraktion, sondern von einzel- Sie mit dieser Abweichung von der Geschäftsord- nen Parlamentariern ausgeht, außergewöhnlich nung einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist dies hoch. Viele Kolleginnen und Kollegen, die noch nicht mit der erforderlichen Mehrheit so beschlossen. zu den Unterzeichnern des Gesetzentwurfs gehören, Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluß- wollen sich im Laufe der Beratungen erst noch ihre empfehlung des Ausschusses für Umwelt, Natur- Meinung bilden. Dies ist ihr gutes Recht. Ich hoffe, es schutz und Reaktorsicherheit zum Schutz des werden noch viele der derzeit Unentschiedenen zu Grundwassers gegen Verschmutzung, Drucksachen uns stoßen. 13/6902 und 13/6971. Wer stimmt für diese Beschluß- empfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Da- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU mit ist die Beschlußempfehlung mit den Stimmen der sowie bei der SPD) CDU/CSU, F.D.P. und SPD bei Enthaltung des Bünd- Bei diesem Thema gehen verständlicherweise die nisses 90/Die Grünen und der PDS angenommen. Emotionen hoch. Ich möchte aber gleich klarstellen: Es gibt keinen Krieg gegen die Raucher. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a und 8 b auf: (Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: Na, na!) a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Ro- land Sauer (Stuttgart), Uta Titze-Stecher, Sie werden nicht an den Pranger gestellt, sie werden Dr. Burkhard Hirsch und weiteren Abgeordne- nicht stigmatisiert oder kriminalisiert. Es gibt kein ten eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes absolutes Rauchverbot. Wir wollen nur do rt den zum Schutze der Nichtraucher (Nichtraucher- Nichtraucherschutz durchsetzen, wo Nichtraucher

schutzgesetz - NRSG) zwangsläufig mit Rauchern zusammentreffen müs- sen, nicht ausweichen können und zum unfreiwilli- - Drucksache 13/6100 gen Mitrauchen gezwungen sind, —Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Gesundheit (federführend) (Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Sie rennen mit Innenausschuß dem Schafspelz herum!) Rechtsausschuß Ausschuß für Wirtschaft also in öffentlichen Räumen, in Verkehrsmitteln und, Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten was ganz wichtig ist, am Arbeitsplatz. Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU Ausschuß für Verkehr Ausschuß für Fremdenverkehr und Tourismus sowie Beifall bei der SPD und der PDS) b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Ge- Der Grund dafür liegt neben der Belästigung in der rald Häfner, Volker Beck (Köln), Cem Özde- nachgewiesenermaßen erheblichen gesundheitli- mir, weiteren Abgeordneten und der Fraktion chen Schädigung durch das Passivrauchen. Der BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Tabakrauch enthält ca. 4 000 Schadstoffe, davon Entwurfs eines Gesetzes zum Schutz der 50 krebserzeugende Substanzen. Auch im Neben- Nichtraucher in der Öffentlichkeit (Nichtrau- strom und nicht nur im Hauptstrom sind krebserzeu- cherschutzgesetz) gende Substanzen vorhanden. Der überwiegende Teil der Wissenschaft, das Deutsche Krebsfor- - Drucksache 13/6166 - schungszentrum, die Deutsche Krebsgesellschaft, die Überweisungsvorschlag: Deutsche Krebshilfe, die Deutsche Herzstiftung so- Ausschuß für Gesundheit (federführend) wie das frühere BGA und die WHO, die Weltgesund- Innenausschuß heitsbehörde, haben mehrfach vor den Gesundheits- Rechtsausschuß Ausschuß für Wirtschaft risiken des Passivrauchens gewarnt. Darum haben Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten auch jetzt wieder viele Gesundheitsorganisationen, Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Gesellschaften sowie namhafte Wissenschaftler an Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend den Bundestag appelliert, diesem Nichtraucher- Ausschuß für Verkehr Ausschuß für Fremdenverkehr und Tourismus schutzgesetz zuzustimmen. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für Erst dieser Tage haben Sie von der Heidelberger die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. - Erklärung gehört, in der 28 namhafte deutsche For- schungseinrichtungen und Gesundheitsorganisatio- nen den Bundestag auffordern, diesem Nichtraucher- *) Anlage 3 schutzgesetz zuzustimmen. Wollen wir dies als ver- 14206 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997

Roland Sauer (Stuttgart) antwortliche Politiker in den Wind schlagen, so wie Zweitens. Wir wollen in Einrichtungen der Verfas- das manche Kollegen machen? sungsorgane des Bundes, zum Beispiel bei Behörden und Gerichten, ein Rauchverbot durchsetzen. Die Nach Studien des Deutschen Krebsforschungszen- Länder und die Kommunen werden durch unsere trums ist das Lungenkrebsrisiko um 30 bis 40 Prozent Rahmengesetzgebung für ihre Einrichtungen gleich- höher, wenn Nichtraucher mit Rauchern zusammen- gerichtete Gesetze erlassen. leben müssen. Jährlich sterben in Deutschland nicht nur über 100 000 Menschen durch das Aktivrauchen, Drittens. Bei öffentlichen Verkehrsmitteln, zum sondern nachgewiesenermaßen - wenn das die Ta- Beispiel bei der Bahn, bei Reisebussen, beim Luftver- bakindustrie auch bestreitet - auch 400 Menschen an kehr wollen wir dies ebenfalls durchsetzen. Hier gibt den Folgen des Passivrauchens. es zwar schon gewisse, aber nicht ausreichende Teil- Die Tabakindustrie wird auf die Dauer die vielen lösungen. Im übrigen - das haben sehr viele Gegner wissenschaftlichen Studien und diese Schadensbi- unserer Initiative offensichtlich übersehen - gibt es lanz nicht bestreiten können. Sie sollte deshalb ihre schon seit 1928 eine Verordnung die die Schaffung Werbekampagnen stoppen und der Wahrheit die von Nichtraucherabteilen in Eisenbahnzügen vor- Ehre geben. schreibt. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU (Ulrich Heinrich [F.D.P.] und Günther Fried- und der SPD sowie Beifall bei der PDS) rich Nolting [F.D.P.]: Es geht auch ohne Gesetz!) Für wie dumm halten eigentlich die Werbemanager der Zigarettenindustrie unsere Bürger, wenn sie ih- Wenn wir heute einen Zug besteigen, ist es zu einer nen weismachen wollen, Kekse sei gefährli- Selbstverständlichkeit geworden, zwischen Nicht- cher als Passivrauchen? Dümmer und blöder geht es raucher- und Raucherabteilen wählen zu können. nicht mehr. (Günther Friedrich Nolting [F.D.P.] und (Beifall bei Abgeordneten aller Fraktionen Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Ohne Gesetz!) sowie Beifall bei der PDS) Genau dies wollen wir, weil es anders nicht geht, In 90 Ländern der Erde gibt es bereits einen Nicht- auch im öffentlichen Bereich durchsetzen. raucherschutz. Es ist also weltweit anerkannt, Nicht- raucherschutz durchzusetzen. 14 EU-Staaten haben (Beifall bei Abgeordneten aller Fraktionen eine gesetzliche Regelung des Nichtraucherschutzes. sowie Beifall bei der PDS) Die EG hatte bereits 1989 die Mitgliedstaaten aufge- fordert, die Voraussetzungen für einen gesetzlichen Wer würde da noch auf die Idee kommen, wie es die Nichtraucherschutz zu schaffen. Dies hatte ebenfalls Gegner des Gesetzes vorschlagen, in jedem einzel- der Bundesrat 1992 und 1993 gefordert. nen Abteil mit den Mitreisenden auszuhandeln, ob und wieviel geraucht werden darf? Das ist ein Vor- Wir ziehen daraus nun mit einem moderaten Ge- schlag der Gegner unserer Initiative. setzentwurf die Konsequenzen - moderat, weil wir neben Nichtraucherzonen auch Raucherzonen vorse- (Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Es gibt keine abge- hen, weil wir zu einem fairen Miteinander von Rau- stimmte Meinung, Herr Kollege! - Otto chern und Nichtrauchern beitragen wollen. Hauser [Esslingen] [CDU/CSU]: Die Eisen- bahn hat früher auch gedampft!) Dieser neue, überarbeitete Entwurf hat gravie- rende Änderungen erfahren. Wir nehmen im Gegen- satz zu den Grünen die Gaststätten aus der gesetzli- Vizepräsidentin Michaela Geiger: Herr Abgeordne- chen Regelung heraus, nachdem uns der Deutsche ter Sauer, gestatten Sie eine Zwischenfrage? Hotel- und Gaststättenverband erklärt hat, er werde bei einer freiwilligen Lösung eine große Aktion für die Einrichtung attraktiver Nichtraucherzonen in Roland Sauer (Stuttgart) (CDU/CSU): Ja. Bitte deutschen Gaststätten starten. schön. (Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Sehen Sie! Es geht ohne Gesetz! Wunderbar!) Vizepräsidentin Michaela Geiger: Bitte. Wir akzeptieren das. Wir werden dies allerdings nach einer gewissen Zeit, Herr Kollege Hein rich, überprü- fen. Dr. Barbara Höll (PDS): Herr Sauer, ich habe zwei Fragen. Ich, bis vor einem Jahr Raucherin, stelle sie Was wollen wir? als Nichtraucherin.

(Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Ehrlich sein!) Sie haben die Züge angesprochen. Mir ist aufgefal- Erstens. Wir wollen ein Rauchverbot in Innenräu- len, daß gerade die IC-Züge so gestaltet sind, daß es men, die öffentlichkeitsorientiert sind oder als Ar- zwar eine Abteilung zwischen Raucher- und Nicht- beitsplatz genutzt werden. raucherbereich gibt, aber dieser Übergang offen ist, so daß der Rauch hinüberzieht. Warum kann man da (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU nicht Einfluß nehmen? Hätte man das vielleicht im und der F.D.P.) Prozeß der Privatisierung tun sollen? Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997 14207

Dr. Barbara Höll Eine andere Frage. Ich finde es andererseits nicht Rücksichtnahme. - Dies ist sicher ein vernünftiger gut, wenn Raucher sozusagen in Käfige gesperrt Gedanke. Wir haben dies über Jahre hinweg ver- werden, sucht und haben geglaubt, dies wäre eine Lösung. Aber dagegen - das sage ich noch mal - spricht die (Otto Hauser [Esslingen] [CDU/CSU]: Sehr große Zahl von Prozessen, in denen sich Arbeitneh- gut!) mer ihren rauchfreien Arbeitsplatz erstreiten müssen. also in Glaskästen, wo es dann gar keine Belüftung Dies muß man sehen, wenn man den Gesetzentwurf mehr gibt, so daß die Raucher nicht nur ihren Rauch mit dem Argument der Toleranz abtun will. einatmen müssen, sondern den Rauch der anderen Nach Auskunft renommierter Wissenschaftler sind im potenzierten Maße mit. Ich denke, das kann nicht 60 Prozent der Raucher nikotinabhängig. Sie können im Interesse der Raucher sein. Wenn man mit dem verständlicherweise von Leuten, die abhängig sind, Problem so umgeht, läuft es in Richtung einer Krimi- keine Rücksicht und Toleranz erwarten. Das ist leider nalisierung. nicht möglich. Deswegen brauchen wir in dieser Sa- (Beifall der Abgeordneten Uwe Lühr [F.D.P.] che ein Gesetz. und Ulrich Irmer [F.D.P.]) Nun gibt es kein absolutes Rauchverbot. Die Argu- mentation, durch das Nichtraucherschutzgesetz Roland Sauer (Stuttgart) (CDU/CSU): Sie haben si- würde es zu einem Steuerausfall von 23 Milliarden cher recht, daß die Abteilung der Raucher von den DM sowie zu einem Verlust von 500 000 Arbeitsplät- Nichtrauchern nur durch halbhohe Glasscheiben in zen kommen, steht auf sehr wackeligen Beinen. Wie den neuen IC-Zügen keine Lösung ist; denn durch kann man denn so kurzsichtig sein, wenn es um die Zirkulation verteilt sich der Tabakrauch im gan- Menschenleben geht und die volkswirtschaftlichen zen Waggon. Deswegen müssen wir uns natürlich Kosten des Rauchens mit, von den Wissenschaftlern schon bemühen, bei der Deutschen Bahn, wenn wir ausgerechnet, rund 80 Milliarden DM jährlich zu Bu- dieses Nichtraucherschutzgesetz durchgebracht ha- che schlagen? ben - ich bin sehr optimistisch, daß wir hier eine Ich sage es nochmal: Es handelt sich doch nicht um Mehrheit bekommen -, eine andere Regelung durch- ein absolutes Rauchverbot, sondern um ein Gesetz zusetzen. Ich glaube, daß uns das gelingen wird. zum Schutze des Nichtrauchers. Das heißt im Klar- Letztlich wollen wir ein Rauchverbot am Arbeits- text: Jeder kann nach wie vor so viel rauchen, wie er platz durchsetzen, da die bestehenden gesetzlichen will. Lediglich in öffentlichen Räumen, in Verkehrs- Regelungen, § 5 der Arbeitsstättenverordnung sowie mitteln und am Arbeitsplatz sollen Nichtraucher vor die TA Luft, nicht ausreichen. Daher gibt es auch so dem unfreiwilligen Mitrauchen, dem Passivrauchen, viele arbeitsrechtliche Auseinandersetzungen, in de- bewahrt werden. nen die Arbeitnehmer ihr Recht auf einen rauch- (Beifall bei der CDU/CSU) freien Arbeitsplatz einklagen. Dies ist der Fall, wenn zum Beispiel der Personalrat oder der Bet riebsrat das Der gebotene Nichtraucherschutz wird durch ei- Anliegen eines Arbeitnehmers auf einen gesunden, nen fairen Kompromiß zwischen den Interessen der rauchfreien Arbeitsplatz nicht aufgreift und dem Ar- Raucher und der Nichtraucher erreicht. Er sieht vor, beitgeber bzw. Dienstherrn diesen Wunsch nicht na- daß in bestimmten Innenräumen Raucher- und hebringt und durchsetzt. Deswegen sind viele der Nichtraucherzonen eingerichtet werden. Das Rau- Arbeitnehmer gezwungen zu klagen. chen wird also nicht verboten, sondern lediglich auf die Raucherzonen beschränkt. Kritiker des Gesetzentwurfes wenden ein, die be- stehenden gesetzlichen Regelungen reichten aus. Über 75 Prozent haben sich bei TED-Umfragen Die Praxis spricht auf Grund der hohen Zahl an Kla- von Fernseh- und Rundfunkanstalten für unser gen eindeutig gegen diese Behauptung. Der Ge- Nichtraucherschutzgesetz ausgesprochen. Ein Aus- sundheitsschutz am Arbeitsplatz ist in der Frage des reißer ist die „Bild"-Zeitung, die dies reißerisch auf- Passivrauchens nicht eindeutig geklärt. Daher bleibt gemacht hat. Dabei kam ein anderes Umfrageergeb- dem Arbeitnehmer, wie gesagt, nur der Klageweg. nis heraus. Bei allen anderen seriösen Zeitungen, bei Fernseh- und Radiosendungen ist das Ergebnis ein- Da 70 Prozent der Arbeitnehmer wie im übrigen deutig: 75 Prozent der deutschen Bevölkerung sind auch 70 Prozent der Bevölkerung Nichtraucher sind, für diesen Nichtraucherschutz. ist es höchste Zeit, am Arbeitsplatz Rechtsklarheit und Rechtssicherheit zu schaffen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der PDS) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS und des Wir wären gut beraten, dieses Votum zu beachten. Abg. Dr. Burkhard Hirsch [F.D.P.]) Ich bitte Sie, unser moderates Nichtraucherschutz- Im übrigen haben mehrere Ge richte den Deut- gesetz zu unterstützen. schen Bundestag als Gesetzgeber schon mehrfach (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, dem aufgefordert, hier eine klare gesetzliche Grundlage BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS zu schaffen, damit wirklich jedermann sein Recht be- sowie bei Abgeordneten der F.D.P.) kommen kann. Weiter wird gesagt: Eine gesetzliche Reglementie- Vizepräsidentin Michaela Geiger: Das Wort hat rung ist unnötig. Wir lösen alles mit Toleranz und jetzt unsere Kollegin Uta Titze-Stecher. 14208 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997

Uta Titze-Stecher (SPD): Frau Präsidentin! Liebe hat die damalige Bundesregierung in der Drucksa- Kolleginnen und Kollegen! Als ich heute abend die- che 7/2070 folgenden Standpunkt vertreten: sen Raum betreten wollte, erschreckten mich die schwarz befrackten Herren vor der Tür mit der Hiobs- Obwohl bislang nur höchst ungenügende Daten botschaft: „Frau Titze-Stecher, die Debatte zum über die tatsächliche Gefährdung ... durch Nichtraucherschutzgesetz ist abgesetzt worden. " „Passivrauchen" vorliegen, muß als Analogie- Aber auch das hätten wir verkraftet. Zur Vorge- schluß zugelassen werden, daß es diese Gefähr- schichte seien mir ein paar Anmerkungen gestattet. dung tatsächlich gibt, Mit der heutigen Debatte - also mit der ersten Le- „auch wenn es der Verband der Zigarettenindustrie sung des Entwurfs eines Nichtraucherschutzgeset- bis heute nicht glaubt und abstreitet" , könnte man zes - machen wir bereits den zweiten interfraktionel- hinzusetzen. len Versuch, ein solches Gesetz auf den Weg zu brin- Der Rat der Europäischen Gemeinschaften hat in gen. Beim ersten Versuch in der letzten Legislaturpe- einer Entschließung aus dem Jahre 1989 all seine riode sind wir unter wesentlich ungünstigeren Vor- Mitgliedstaaten aufgefordert, in öffentlich frequen- zeichen gestartet. tierten und zugänglichen Räumen und Verkehrsmit- Zum einen gab es den ungünstigen Zeitpunkt; das teln den Nichtraucherschutz gesetzlich zu veran- war der Sommer 1994. Wie jeder in diesem Hause kern. Selbst diese Bundesregierung hat 1990 ein Ak- weiß, waren wir damals mitten im Bundestagswahl- tionsprogramm zur Förderung des Nichtrauchens kampf. Keiner in der engeren Fraktionsführung hatte und knapp zwei Jahre später die Konzeption zur Ver- angesichts von Millionen von rauchenden Wählern besserung der Luftqualität in Innenräumen beschlos- ein Interesse daran, diese Wähler mit diesem Gesetz sen. zu konfrontieren. Die Länderregierungen - auch das ist erwähnt Das zweite war - das muß ganz klar gesagt wer- worden - haben bereits zweimal, nämlich 1992 und den - der Unwille der Fraktionsführungen, ein Ge- 1993, die Bundesregierung um entsprechende Nicht- setz dieser Art zu beraten und zu verabschieden. Wie raucherschutzinitiativen ersucht. bekannt, wird nirgends so viel geraucht und gepafft Die überwiegende Mehrheit, wie vom Kollegen wie in der Politik und in den Redaktionsstuben. An Sauer durch TED-Umfragen belegt, wünscht einen letzterem liegt es natürlich auch, daß unser durchaus gesetzlichen Nichtraucherschutz. Unter der überwie- ernst gemeinter erster Versuch zum Teil von den Me- genden Mehrheit befinden sich natürlich auch Rau- dien lächerlich gemacht und abgemeiert worden ist. cherinnen und Raucher. Im Vergleich dazu ist der zweite Versuch mit einer Inzwischen ist die Bundeskompetenz in diesem Be- komfortablen Unterstützungsgruppe ausgestattet. reich einwandfrei und klar erwiesen, so daß die Der Kollege Sauer hat die 134 Kolleginnen und Kolle- Bringschuld der Bundesregierung offenbar ist. Wir gen genannt bieten einen ve ritablen, komfortablen, ausgearbeite- ten Gesetzentwurf an, auf den die Bundesregierung (Roland Sauer [Stuttgart] [CDU/CSU]: 136!) nur zurückzugreifen braucht. - 136? Also noch zwei mehr! -, die sich für den inter- Zum Anliegen des Gesetzentwurfes selbst: Der Ti- fraktionellen Gesetzentwurf ausgesprochen haben. tel ist Programm. Es geht um den Schutz des Nicht- Wenn ich die sechs namentlich genannten Kollegen rauchers, nicht um ein Totalverbot des Rauchens der Bündnisgrünen dazuzähle - ich nehme an, daß oder gar um eine Diskriminierung von Rauchern. dahinter die Mehrheit der grünen Fraktion steht -, dann ist die Gesamtanzahl ein Beweis dafür, daß (Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Na, na!) zwei Jahre intensiver Vorbereitung und Diskussion die Gruppe der Unterstützer haben verbreitern kön- Der Unterschied zu anderen vergnüglichen Lastern nen. Wir stehen dabei erst am Beginn eines Diskussi- ist allerdings augenfällig. onsprozesses, der im federführenden Gesundheits- (Klaus Dieter Reichardt [] [CDU/ ausschuß und in den mitberatenden Ausschüssen CSU]: Das wollen wir nicht wissen!) weitergeführt werden muß und der unter Umständen dazu führt, daß eine öffentliche Anhörung das Be- - Ja, das können Sie ruhig wissen, Herr Kollege, weil wußtsein für die Notwendigkeit eines gesetzlich ver- der Unterschied nämlich die Notwendigkeit des Ge- ankerten Nichtraucherschutzes herbeiführt. Meine setzentwurfes klar macht. Aber Sie brauchen sich ja Hoffnung ist, daß am Ende dieses Diskussionsprozes- nicht betroffen zu fühlen. Alkohol schädigt nur Ihre ses das so dringend notwendige Gesetz noch in die- eigene Leber. Exzessives Essen erhöht das eigene ser Legislaturperiode erlassen werden kann. Gewicht. Zu viel Arbeiten macht die Nerven krank, aber nur die eigenen. Riskante Sportarten können Das ist also - wie der Kollege Sauer ausgeführt den eigenen Körper verletzen. - Ich hatte ja gehofft, hat - keine spinnige Idee von Abgeordneten, die daß Herr Möllemann als dezidierter Gegner des Rau- „nichts Besseres zu tun haben oder nichts zu tun ha- chens hier sitzt. Den nehme ich bei den Sportarten ben" - so die Schelte von Kollegen in einem A rtikel aus, denn vom Fallschirmspringen scheint er etwas der „Zeit". Wir wissen genau, wer das gesagt hat, zu verstehen. Kollege Sauer. Vielmehr verlangen relevante Gre- mien seit Jahren einen gesetzlichen Nichtraucher- (Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Nicht nur davon schutz. Ich erwähne in aller Schnelle: Bereits 1974 versteht er etwas!) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997 14209

Uta Titze-Stecher Der wesentliche Unterschied zum Rauchen ist bei Nun gibt es das Argument der Gegner des Nicht- den vergnüglichen Lastern nur der: Zum Rauchen raucherschutzes: Wie seid ihr blöd! Durch dieses Ge- entscheide ich mich freiwillig. Das heißt, die Gesund- setz wollt ihr, daß weniger geraucht wird. Dann wer- heitsschädigung gehe ich bewußt ein. Der Mitrau- den weniger Steuern in die Kasse von Herrn Waigel cher hingegen wird dazu gezwungen. Genau da fließen. Außerdem werden Arbeitsplätze in der Ta- wird die Argumentation der Gegner löcherig. bakindustrie gefährdet. Das sind unseriöse, weil f al- sche Behauptungen. (Beifall bei der SPD) Wenn immer die Rede von der Freiheit des Indivi- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- duums und dessen Recht auf dieses oder jenes ist, ten der CDU/CSU und der F.D.P. - Klaus dann hat das da seine Grenzen, wo ein anderer nach- Dieter Reichardt [Mannheim] [CDU/CSU]: gewiesenermaßen geschädigt wird. Das ist hier der Reine Polemik! So argumentiert doch nie- Fall. Deswegen ist das Anliegen dieses Gesetzent- mand!) wurfes, dem der Gesundheitsschutz vor die Gesund- heitsschädigung geht, ausgesprochen notwendig. Wir verbieten ja nicht das Rauchen, sondern wir beschränken es. Wie schon gesagt, jemand, der Rauchen soll, wie gesagt, weiterhin erlaubt sein. raucht, muß sich daran gewöhnen müssen, daß er Rauchen kann, wer will, so viel er will, bloß nicht das nicht jederzeit und an jedem Ort kann. Aller- mehr überall, wo es ihn gerade juckt. Die Begrün- dings wissen auch wir, daß es die rauchfreie und dung liegt auf der Hand: Rauchen ist schädlich, Pas- rauschfreie Gesellschaft niemals gegeben hat, nicht sivrauchen infolgedessen logischerweise auch. gibt und niemals geben wird. Genau darauf nimmt unser Gesetzentwurf auch entsprechend Rücksicht. Nun stellt sich die Frage, was eigentlich das Rau- chen so schädlich macht. Auch auf diese Frage ist Ein paar Fakten zur Herr Kollege Sauer eingegangen. Im Tabakrauch Schädigung durch Rauchen kann ich Ihnen nicht ersparen: Rauchen ist ursäch- sind fast 4 000 Schadstoffe enthalten, darunter 50 lich verantwortlich für 80 bis 90 Prozent der Lungen- Kanzerogene, unter anderem solche Stoffe wie Di- erkrankungen, 80 bis 90 Prozent der chronischen oxine, als Seveso-Gift bekannt, Furane und Formal- Atemwegserkrankungen, 25 Prozent aller Herzer- dehyd. krankungen und gute 30 Prozent aller Krebserkran- (Die Rednerin hustet - Klaus Dieter Reich kungen, von der Akutbelästigung gar nicht zu reden. ardt [Mannheim] [CDU/CSU]: Sie rauchen Es verursacht also - in einem Satz, Krebs, Herz- und zu viel! Heimlich!) Gefäßkrankheiten, schädigt auch die Gesundheit von Föten im Mutterleib. Das ist nicht neu. - Nein, nein, ich rauche nicht heimlich.

(Klaus Dieter Reichardt [Mannheim] [CDU/ Seit 1989 schreibt eine EU - Richtlinie vor, daß ge- CSU]: Unheimlich?) nau diese Tatbestände auf die Zigarettenpackung aufgedruckt werden. Wer es also wissen wollte, der - Wenn, dann würde ich so etwas offen machen. Zu konnte es wissen. Außerdem haben Raucher - viel- Lastern muß man auch stehen, liebe Kolleginnen und leicht kann das manchen Raucher vom Rauchen ab- Kollegen. halten - gemäß einer Notiz in der „Süddeutschen Zeitung" von Anfang Februar nur eine 42prozentige (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der Chance, 73 Jahre alt zu werden. Im Gegensatz dazu F.D.P.) haben Nichtraucher eine doppelte Chance. Das ist Im übrigen sage ich hier einmal etwas außerhalb das Ergebnis einer wissenschaftlichen Studie des des Protokolls. Royal Free Hospital über die Langzeitfolgen bei 8 000 männlichen Rauchern. (Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Hier wird alles pro (Uwe Hiksch [SPD]: Wie ich gelesen habe, -tokolliert!) - Außerhalb meiner vorbereiteten Rede. Das Fatale gibt es doch erst mit 72 Rente!) ist ja folgendes: Die meisten meiner Freunde rau- chen. Ich akzeptiere das, nur nicht in meinen eige- Nun gut, ich könnte Ihrem Geschrei entnehmen, Sie nen Räumen. Das wiederum wird auch seitens der wollen ja gar nicht 73 Jahre alt, vielleicht zum Pflege- Raucher akzeptiert. Aber darauf, weshalb trotzdem fall und zur Last für Ihre Familie und Umgebung wer- ein Gesetz notwendig ist, komme ich gleich noch zu den. Aber Raucher sollen wenigstens wissen, wel- sprechen. ches Risiko sie eingehen und in welches mittelbare Risiko sie Nichtraucher stürzen. Daß das Thema so emotional abgehandelt wird, ist klar. Es handelt sich um eine Sucht, und betroffen Die Deutsche Hauptstelle für Suchtgefahren hat sind Millionen von Rauchern. Das ist eine relevante am 11. Dezember letzten Jahres bei der Vorlage ihres Bevölkerungsgruppe. Immerhin rauchen 37 Prozent Jahrbuches geschätzt, daß im letzten Jahr über der Männer und 22 Prozent der Frauen. Sie rauchten 100 000 Menschen, nämlich 95 000 Männer und im letzten Jahr 165 Milliarden Zigaretten, ließen sich 17 000 Frauen an den Folgen des Rauchens verstor-- diesen Spaß 36 Milliarden DM kosten - es sei ihnen ben sind. In Europa schätzt man diese Zahl auf gegönnt, nur nicht uns Nichtrauchern -, und es flos- 800 000. Das heißt: Durch Rauchen sterben mehr sen in die Kassen von Herrn Waigel 20,7 Milliarden Menschen als an Aids, Unfällen, Mord, Selbstmord DM an Tabaksteuer. und illegalen Drogen zusammengenommen. Wenn 14210 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997

Uta Titze-Stecher das kein Grund ist, ein Gesetz zu machen, heiße ich erkämpfen müssen, der Beweis für die Notwendig- Emma. keit eines entsprechenden Gesetzes sind, durch das ein Bezugspunkt geschaffen wird; das heißt, nur (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne durch so ein Gesetz wird Rechtssicherheit und -klar- ten der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/ heit geschaffen. DIE GRÜNEN, der F.D.P. und der PDS) Nicht verhehlen will ich, daß es mir persönlich Die amerikanische Environmental Protection nicht nur bekannt ist, sondern ich auch Verständi- Agency hat Tabakrauch in Umgebungsluft zusam- gung zwischen Rauchern und Nichtrauchern, also ei- men mit so schlimmen Stoffen wie Asbest, Arsen, nen fairen Interessensausgleich jenseits von Geset- Benzol und Radongas in die Liste der Humankanze- zen, erfahren habe - rogene der Klasse A aufgenommen. Für all diese Stoffe gilt: Es gibt keine unschädliche Konzentration. (Beifall der Abg. Lisa Peters [F.D.P.]) Die Mengen summieren sich verlustlos bis hin zur Er- - ja, aber hören Sie mal weiter zu -, allerdings nur krankung. Tabak kann also durchaus als Umweltgift da, wo man sich in kleinen und übersichtlichen Nr. 1 gelten. Gruppen kennt und wo ich jemanden ansprechen Zum Gesetzentwurf selbst: Der Kollege Sauer hat kann. Das Beispiel Flugzeug habe ich Ihnen ja schon ausgeführt, daß wir nur da regelnd eingreifen, wo vorgebetet. Das heißt: In anonymen Gruppen, wie in sich Raucher und Nichtraucher begegnen und ein der U- und S-Bahn und im Flugzeug, ist es einfach gesetzlicher Interessensausgleich notwendig ist, unzumutbar, sich persönlich zu bemühen, rauchfreie weil es in meinen und unseren Augen unzumutbar Luft zu erhalten. ist, daß sich Raucher diskriminiert fühlen, wenn der (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- Appell erfolgt: „Nun drück einmal deine Zigarette ten der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/ aus, sie stört mich! " oder „Ich bin allergisch! ". Ich DIE GRÜNEN, der F.D.P. und der PDS) finde es auch menschenunwürdig und unzumutbar, daß ein Nichtraucher jedes Mal bitten, betteln und Ich halte die Sanktionen in unserem interfraktio- appellieren und auf Verständnis hoffen muß. nellen Gesetzentwurf für die Verstöße gegen das ge- setzliche Rauchverbot für zivil: Rauchen außerhalb (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne der Raucherzonen wird mit 100 DM Bußgeld, die ten der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/ Verstöße des Hausrechtsinhabers gegen die Aufla- DIE GRÜNEN, der F.D.P. und der PDS) gen des Gesetzes werden mit 100 bis 5 000 DM ge- Ich benutze bei dieser Gelegenheit in Inte rviews ahndet. Auch die Gurtpflicht hat sich erst dann ein- immer folgendes Bild: Wenn ich einmal im Cha rter- gebürgert, als der Griff in das Po rtemonnaie drohte. flugzeug - wie auch Sie vielleicht in Urlaub fliege, Das ist sozusagen der kleine Biß, mit dem wir das Ge- dann ist mir doch nicht zuzumuten, daß ich von setz bewehren. Reihe 15 oder 18, ab der das Rauchen erlaubt ist, bis Die von den Medien und auch Teilen der Kollegen- zum Schluß gehe und jedem meine persönliche Lei- schaft hochgespielte Vorstellung einer Raucherpoli- densgeschichte erzähle. Bis ich durch bin, bin ich zei weisen wir natürlich zurück. Die Polizei hat an- schon längst am Fe rien- oder Zielort angekommen. dere Dinge zu tun. Außerdem denke ich, daß bei (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der Rauchern eine persönliche Ansprache möglich ist. CDU/CSU und der PDS) Mir erscheint die Vorstellung, daß ein Raucher be- wußt in einer gekennzeichneten Nichtraucherzone Der Gesetzentwurf regelt also nur das Verhalten in raucht, einfach zu theoretisch. Wenn er es denn ein- öffentlich orientierten Räumen, Behörden, Kranken- mal tut, dann ist ihm offensichtlich die neue Geset- häusern usw., in Verkehrsmitteln und am Arbeits- zeslage noch nicht bekannt. Dann kann man ihn dar- platz. Die Behauptung, daß wir in Räume ohne Publi- auf hinweisen. Jeder hat Mund und Verstand. Ich kumsverkehr regelnd eingreifen - berühmt der al- denke, daß Raucher dieses Gesetz mit der Zeit ge- leine in seinem Lkw sitzende Fahrer -, stellt eine aus- nauso respektieren und einhalten, wie es sein muß, gesprochene Polemik dar. Da, wo kein Regelungsbe- da sie nicht weniger gesetzestreu sind als die Nicht- darf besteht, weil etwa nur ein Raucher den Raum raucher. besetzt und darin ohne Publikumsverkehr arbeitet, Der Gesetzentwurf der Grünen regelt in einer A rt kann jeder machen, was er will. Artikelgesetz weit mehr Bereiche als der interfraktio- Logische Konsequenz: Im Gesetzentwurf haben nelle Gesetzentwurf. Ich denke, daß der Kollege Häf- wir im Gegensatz zum Gesetzentwurf von vor zwei ner dazu seine Ausführungen machen wird. Jahren den Gaststättenteil abgehängt. Herr Sauer Ich möchte nur drei Punkte ansprechen: Der ge- hat dazu das Notwendige gesagt. Man wird überprü- samte Gaststättenteil, den wir nach reiflicher Diskus- fen müssen, ob das Versprechen der DEHOGA, für sion abgehängt haben, wird durch die drei Ausnah- ein ausreichend erhöhtes Angebot für Nichtraucher men, Herr Häfner, die Sie anbieten, verwässert. in Hotels und Gaststätten zu sorgen, auch erfüllt Wenn ich das mache, dann brauche ich gar nichts zu wird. Bestehende betriebsinterne Vereinbarungen - machen. Ich denke, Sie wären auf dem besten Wege, darauf weisen uns die Gewerkschaft Nahrung, Ge- wenn Sie mit uns den Kompromiß suchten. - nuß, Gaststätten und auch die Bet riebsräte immer wieder hin - reichen nicht. Auch dazu ist schon aus- Die ärztliche Aufklärungspflicht halte ich für über- geführt worden, daß gerade die Anzahl der Prozesse, flüssig; denn ein Arzt, der seinen Beruf ernst nimmt, in denen sich Nichtraucher die gute Luft gerichtlich wird dies jetzt schon tun; das heißt, Eltern über die Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997 14211

Uta Titze-Stecher Schäden von Passivrauchen bei Kindern aufklären. - Völlig richtig. Das ist bei der gegenwärtigen Politik Außerdem steht der Großteil der Ärzte hinter diesem wahrscheinlich eine noch sehr viel kurzfristiger wir- Anliegen. kende Schädigung. Danke für den Hinweis. Über den Ausgleichsfonds für gesundheitliche Trotzdem verteidigen wir gemeinsam eine Gesell- Aufklärung und über das Werbeverbot für Tabaker- schaft, in der dieses Recht besteht, sich - egal, ob zeugnisse kann man reden. Auch die Abschaffung durch falsches Wählen oder durch das Anstecken der Automaten muß man sowohl im Gesundheits- als von Zigaretten - selbst zu schädigen. auch im Wirtschaftsausschuß debattieren können. (Brigitte Baumeister [CDU/CSU]: Jetzt Es ist verständlich, daß die ökologische Pa rtei mit reicht es aber! - Zuruf von der CDU/CSU: Maximalforderungen in den Ring steigt. Aber ich Sie bestimmen, was richtig ist!) denke, daß es angesichts der von Herrn Sauer er- - Jetzt haben Sie doch ein bißchen Humor, junger wähnten Heidelberger Erklärung von dieser Woche Mann. dringend notwendig ist, ein nationales Programm zur Tabakprävention für Kinder und Jugendliche aufzu- (Lachen bei der CDU/CSU - Zuruf von der legen. Neben dieser Erklärung muß auch betont wer- CDU/CSU: Das müssen Sie gerade sagen!) den, daß der interfraktionelle Gesetzentwurf der Ein- stieg in einen gesetzlich verankerten Nichtraucher- Die Liberalität hört allerdings an der Stelle auf, an schutz ist. der ein Mensch, der für sich entschieden hat, Gift zu nehmen, dieses Gift z. B. gegen deren Willen ande- Ich bitte Sie, dieses mitzutragen. Guter Wi lle aller ren aufzwingt. Wenn ich also zum Beispiel im Ge- Beteiligten vorausgesetzt, wäre eine Verabschiedung tränk gelöstes Gift zu mir nehme, geht das nieman- noch in dieser Legislaturperiode möglich. den etwas an. Wenn ich es aber auch in die Getränke anderer Menschen rühre, dann würde zu Recht die Polizei bzw. der Strafrichter auf den Plan gerufen Vizepräsidentin Michaela Geiger: Frau Kollegin, und müßte erklären: Das ist nicht mehr zulässig, da jetzt ist Ihre Redezeit wirklich zu Ende. müssen wir einschreiten. So verhält es sich meines Erachtens mit dem Pro- Uta Titze-Stecher (SPD): Zum Schluß noch ein Wo rt blem, über das wir heute sprechen. Es geht nicht um des Dankes an den Kollegen Sauer. Es wäre eine das Rauchen an sich, sondern es geht um das Passiv- Zierde für dieses Haus, wenn wir öfter so loyal und rauchen, um das unfreiwillige Mitrauchen. „Rauchen kollegial zusammenarbeiten würden, wie wir dies in gefährdet Ihre Gesundheit" steht auf jeder Zigaret- allen Phasen der Entstehung dieses Gesetzentwurfes tenschachtel. Ich finde, das ist falsch. Rauchen ge- gemacht haben. fährdet eben nicht nur die Gesundheit des Rauchers. (Beifall im ganzen Hause) Dieser Spruch wiegt auch den sozial verantwortli- chen Raucher in der trügerischen Sicherheit, er würde damit nur sich selbst schädigen, und damit sei Vizepräsidentin Michaela Geiger: Ich erteile jetzt das doch schließlich seine Privatangelegenheit. Des- dem Kollegen Gerald Häfner das Wort. halb reagieren auch viele Raucher so erstaunlich al- lergisch auf Bitten von Nichtrauchern, doch vorüber- gehend auf das Rauchen zu verzichten, weil sie mei- Gerald Häfner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau nen, das sei doch ihre ganz persönliche Angelegen- Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau heit. Sie meinen, es wolle ihnen irgend jemand rein- Titze-Stecher hat es schon gesagt: Tabakrauch ist für reden, sie bemuttern oder ihnen Vorschriften ma- 80 bis 90 Prozent aller chronischen Atemwegserkran- chen. Nein: Rauchen gefährdet eben nicht nur ihre kungen und für 80 bis 85 Prozent aller Lungenkrebs- Gesundheit, sondern auch die Gesundheit ihrer Mit- erkrankungen - ich erspare Ihnen die anderen menschen! Das ist die Realität. Das wissen wir heute. Krankheitsfolgen - verantwortlich. Laut Statistik - Und weil wir es wissen, sehen wir uns veranlaßt, hier das ist eine erschreckende Zahl - müssen etwa einen solchen Gesetzentwurf vorzulegen. 500 Millionen Menschen der gegenwärtigen Weltbe- völkerung damit rechnen, an den Folgen des Tabak- Erst in den 80er Jahren hat man nämlich über- rauches zu sterben. Raucher haben im mittleren Al- haupt begonnen, systematische Untersuchungen ter, also zwischen 35 und 69 Jahren, eine dreimal hö- über das Passivrauchen anzustellen. Seither wissen here Todesrate als Nichtraucher. Ich denke, das wir immer mehr zum Beispiel über die Zusammen- dürfte an Zahlen reichen, um die Gefahren des hänge zwischen Passivrauchen und Lungenkrebs so- Tabakrauchs unmißverständlich deutlich zu machen. wie all den anderen Schädigungen. So wissen wir zum Beispiel - das haben Frau Titze-Stecher und Trotzdem wollen wir niemandem das Rauchen ver- Herr Sauer ebenfalls angesprochen -, daß etwa bieten. Das muß jeder für sich selbst entscheiden. Es 400 Lungenkrebstote im Jahr nachweislich auf Pas- gehört meines Erachtens zu einer liberalen Gesell- sivrauchen zurückgehen. schaft, daß sich ein Mensch sogar selbst schädigen darf, wenn er es möchte, ohne daß dies den Staat Wir wissen - und das ist ebenfalls eine erschrek- oder den Gesetzgeber angeht. kende Tatsache -, daß nur 20 Prozent des Zigaretten- rauches vom Raucher selbst eingeatmet und etwa (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Alle die, die 80 Prozent an die Umgebung abgegeben werden. CDU wählen!) Dabei haben amerikanische Untersuchungen ge- 14212 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997

Gerald Häfner zeigt, daß 34,5 Prozent der Nichtraucher mindestens dazu haben wir Vorschläge im Gesetzentwurf ge- zehn Stunden am Tag dem Tabakrauch ausgesetzt macht. sind und daß '70 Prozent aller Kinder in Wohnungen Wir wollen eine Verstärkung der mit mindestens einem Raucher leben. Und wir wis- gesundheitlichen und zwar durch einen eigenen Fonds, sen, daß dort die Konzentrationen - das muß auch Aufklärung, den wir aus einer besonderen Abgabe von 10 Prozent uns als Grüne aufrütteln - bestimmter Schadstoffe oft des Werbeetats der Zigarettenhersteller speisen wol- dasjenige um ein Vielfaches übersteigen, was etwa len. Diese Idee habe ich übrigens in Kalifornien ken- nach den MAK-Grenzwerten am Arbeitsplatz zuläs- nengelernt. Do rt wird eine ganz ähnliche Regelung sig ist. Bezogen auf einzelne Schadstoffe kann beim schon angewandt, und zwar außerordentlich erfolg- Passivrauchen gelegentlich sogar das 100fache der reich. zulässigen Schadstoffkonzentration am Arbeitsplatz erreicht werden. Lassen Sie mich zum Schluß noch folgendes sagen: Wer über diese Zahlen und Zusammenhänge Be- scheid weiß, muß etwas tun. Denn es geht eben beim Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Ja, aber kurz. Passivrauchen nicht nur um Belästigung. Es geht da- bei um massive gesundheitliche Gefahren und Schä- Gerald Häfner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich digungen. begrüße den Gruppenantrag außerordentlich. Ich (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) freue mich, daß er zustande gekommen ist. Ich freue mich aber auch, daß sich unsere Fraktion als einzige Der Gesetzgeber muß zum Schutz der Passivraucher dazu durchgerungen hat, ein solches Gesetz, von al- etwas tun, aber nicht etwa um das Rauchen zu ver- len Fraktionsmitgliedern getragen, vorzulegen. Ich bieten oder zu kriminalisieren; wir wollen keinen erinnere daran, daß - laut Forsa - 69 Prozent der Be- Staat, der seinen Bürgern vorschreibt, was sie um ih- völkerung und übrigens sogar 49 Prozent der Rau- rer selbst willen zu tun oder zu lassen haben. Viel- cher ein derartiges Nichtraucherschutzgesetz begrü- mehr wollen wir Schutzrechte, Abwehrrechte gegen ßen. Das bedeutet, daß, um wenigstens ein dem ver- Gefährdungen für die Bürgerinnen und Bürger. gleichbares Ergebnis im Deutschen Bundestag zu er- zielen, in den anderen Fraktionen offenbar noch Konkret bedeutet das nach unserem Entwurf ein sehr, sehr viel zu tun ist. Rauchverbot in öffentlichen Räumen, in öffentlichen Gebäuden und Verkehrsmitteln. Ich wünsche mir zum Schluß, daß sich alle diejeni- gen in diesem Hause, die Interesse daran haben, daß Am Arbeitsplatz dagegen wollen wir kein generel- es nun endlich - wir sind in diesem Bereich in Europa les Rauchverbot, weil es keinen Sinn machen würde, fast das Schlußlicht - zu einer maßvollen und ange- etwa drei Rauchern das Rauchen zu untersagen, messenen gesetzlichen Regelung kommt, bald zu- wenn sie sich zusammen ein Büro teilen und sich nie- sammensetzen und versuchen, gemeinsam die best- mand gestört fühlt. Vielmehr wollen wir einen indivi- mögliche Lösung zu finden, damit wir dann endlich duellen Anspruch, einen einklagbaren Anspruch auf aus dem Parlament herausgehen und sagen können: einen rauchfreien Arbeitsplatz für jede und jeden Ar- Wir nehmen Art. 2 des Grundgesetzes - die Ver- beitnehmer im Gesetz verankern. pflichtung zum Schutz der körperlichen Unversehrt- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS heit - auch im Hinblick auf das Problem des Passiv- SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) rauchens ernst und wägen deshalb die verschiede- nen Interessen und Rechtsgüter in einem Gesetz ge- Wir wollen im Gaststättenbereich - und das unter- geneinander ab. Ein solches Gesetz wollen wir nicht scheidet uns nun erneut von den Autorinnen des nur ein-, sondern auch durchbringen. Gruppenentwurfs; aber ich weiß ja, daß Sie das ur- sprünglich auch wollten; nun lassen Sie uns doch Ich möchte an alle appellieren, dies nach Kräften einmal sehen, wie weit wir damit kommen -, daß die zu unterstützen. Ausweisung von Nichtraucherräumen, Nichtraucher- Danke sehr. bereichen gesetzlich vorgeschrieben wird - nicht für die kleinen Eckkneipen, nicht für die sogenannten (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Stehausschänke in München oder Hamburg, son- sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der dern für die größeren Gaststätten ab 50 Plätzen, do rt , SPD und der F.D.P.) wo das auch praktisch möglich ist. Das Wort zu ei- Weiter wollen wir Werbebeschränkungen im öf- Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: fentlichen Raum mit dem Ziel eines stärkeren Kin- ner Kurzintervention hat der Kollege Catenhusen. der- und Jugendschutzes, also keineswegs ein gene- relles Werbeverbot. Wir wollen die Werbung zum Wolf-Michael Catenhusen (SPD): Herr Kollege Häf- Beispiel nicht einschränken im Kino bei Filmen für ner, ich möchte zunächst sagen, daß ich persönlich Erwachsene, nicht in den Zeitschriftenläden. Aber mit Ihnen in der Forderung nach dem Verbot des da, wo vor Schulen auf den Straßen riesige Plakat- Aufstellens von Zigarettenautomaten sehr überein- wände mit Zigarettenwerbung hängen, wo Kinder stimme. Wir müssen uns darüber im klaren sein: Kein- und Jugendliche vorbeigehen, wollen wir stärkere anderes Suchtmittel ist in unserer Gesellschaft derar- Einschränkungen. Wir wollen künftig deshalb auch tig privilegiert. Der Zugang zu keinem anderen eine Einschränkung der Zugänglichkeit von Zigaret- Suchtmittel wird so leichtgemacht, wie es bei Ziga- tenautomaten für Kinder und Jugendliche - auch retten geschieht. Im Umkreis von 200 Metern um ein Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997 14213

Wolf-Michael Catenhusen Haus kann ich bei drei Zigarettenautomaten Tag und ten worden, und zwar seinerzeit mit dem Argument Nacht Zigaretten erwerben. Warum machen wir so des Jugendschutzes. Wegen des Jugendschutzes etwas nicht mit Alkohol? Warum machen wir so et- darf Alkohol nur noch durch Menschen im Geschäft, was nicht auch mit anderen Suchtmitteln? am Kiosk oder in der Kneipe verkauft werden. Etwas ganz ähnliches wollen wir endlich auch im Hinblick (Beifall des Abg. Ulrich Irmer [F.D.P.]) auf die Zigarettenautomaten durchsetzen. Wir wol- Das hat Gründe. Ich denke, es gibt sachlich keinerlei len diese gar nicht verbieten. Wenn der Zigaretten- Rechtfertigung, an dieser Praxis festzuhalten. automat in der Kneipe neben dem Tresen hängt, ist das völlig in Ordnung; wenn er aber neben der (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Schule hängt, wäre das künftig nicht mehr in Ord- Herr Häfner, ich möchte aber noch etwas zu dem nung. Problem der Raucher in den Fraktionen sagen. Ich finde, Sie können mit Stolz vermerken, daß die Rau- (Zustimmung des Abg. Wolf-Michael Caten- husen [SPD]) cher Ihrer Fraktion auch heute nicht anwesend sind, aber offenkundig - ich nenne das einmal so - ihren - Ja, ich weiß, darin stimmen wir überein. guten Willen gezeigt haben, indem sie den Antrag haben passieren lassen. In einem anderen Punkt erlaube ich mir aber, Ih- Wir sollten aber ehrlicherweise sagen: Der Um- nen leicht zu widersprechen. Das betrifft nicht nur gang mit Raucherinnen und Rauchern der Grünen, meine Fraktion, sondern hoffentlich auch alle ande- der Sozialdemokraten und der Christdemokraten ist ren. In meiner Fraktion nämlich - und darauf bin ich auch bis in das Parlament hinein sehr schwierig. stolz - haben diesem Gesetzentwurf Nichtraucherin- Denn sie alle eint eines: Wer bereit ist, sich selber - in nen und Nichtraucher genauso wie Raucherinnen Kenntnis der Folgen - so zu schädigen, wie es Rau- und Raucher zugestimmt. Auch hier in der Debatte cher an sich selbst tun, von dem kann man nicht von sitzen gegenwärtig in den Reihen meiner Fraktion - vornherein erwarten, daß er gegenüber anderen ich weiß das bei den meisten, lieber Herr Kollege Ca- wirklich Rücksicht übt. Es gibt bei vielen Raucherin- tenhusen - einige Raucher. Das mag ja doch auch bei nen und Rauchern, die uns gegenüber immer be- Ihnen so sein. Lassen Sie uns doch bitte das Anliegen teuern, sie seien doch rücksichtsvoll, eine Selbsttäu- des Nichtraucherschutzes nicht als eine Frage be- schung. Man kann sie jede Woche dabei ertappen, greifen, die Raucher und Nichtraucher spaltet, son- daß sie offenkundig in einer gewissen Schizophrenie dern als etwas, bei dem alle einigermaßen rück- leben. sichts- und verantwortungsvollen Menschen - egal ob Raucher oder Nichtraucher - zusammenstehen Kolleginnen und Kollegen, ich meine deshalb, die und sagen müssen: Bestimmte elementare Regeln Debatte hier im Parlament würde erst richtig span- und Schutzrechte wollen wir alle gemeinsam in die- nend, wenn sich die Raucherinnen und Raucher - da- sem Land vereinbaren, damit wir andere nicht über von gibt es leider Gottes viel zu viele - mit uns auf Gebühr und unnötig schädigen. diese Diskussion auch wirklich einlassen würden. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wir werden darüber eine wunderbare Debatte und Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat der eine wunderbare Ausschußberatung führen. Am Kollege Ulrich Heinrich, F.D.P. Schluß wird die schweigende Rauchermehrheit - so fürchte ich ein bißchen - den Gesetzentwurf abblok- ken. Ulrich Heinrich (F.D.P.): Herr Präsident! Meine lie- Also versuchen wir, die Raucherinnen und Raucher ben Kolleginnen und Kollegen! Ich gestehe: Ich bin in diese Debatte einzubeziehen. Vielleicht meldet Gelegenheitsraucher - ich bin nicht nikotinabhän- sich hier ja noch einer zu Wort. Erst dann wäre es gig -, stimme aber gegen das Nichtraucherschutzge- eine ehrliche und spannende Debatte. setz. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) CDU/CSU)

All die Argumente, die hier vorgetragen worden Herr Kollege Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: sind, empfinde ich ein bißchen als Schattenboxen. Es Häfner. bestreitet doch überhaupt niemand die Gefährlich- keit des Rauchens. Es ist doch völlig unnötig, das Gerald Häfner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Lie- hier als Gegenposition darzustellen, die nicht Ihren ber Herr Kollege Catenhusen, ich will Ihnen darauf Antrag mittragen will. Wir stimmen sehr wohl mit kurz erwidern: Zum einen: Die wenigsten werden dem Bereich überein, der in dem Lösungsvorschlag sich daran erinnern, daß es vor langer Zeit in der in den ersten zwei Absätzen des Gesetzentwurfs be-- Bundesrepublik tatsächlich noch möglich war, Alko- zeichnet worden ist. Nur, die Konsequenz, die wir holerzeugnisse auch aus Automaten zu kaufen. Es letztendlich daraus ziehen, ist eine andere als die gab damals an vielen Orten Schnaps- oder auch Bier- Ihre. Denn wir sind nicht der Meinung, daß wir eine automaten. Sie sind aber dann durch Gesetz verbo staatlich-gesetzliche Regulierung brauchen, sondern 14214 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997

Ulrich Heinrich wir sind der Meinung, daß eine gegenseitige Rück- Vizepräsident Hans - Ulrich Klose: Ich muß Sie fra- sichtnahme wichtig ist, gen, ob Sie eine Zwischenfrage gestatten. Gestatten Sie? - Bitte. (Wolfgang Dehnel [CDU/CSU]: Das ist doch nicht wahr!) Dr. Wolfgang Wodarg (SPD): Meine Frage geht in daß man in einem Bereich, in dem man schon heute die Richtung, was Sie zum Beispiel in der Bahn ma- große Erfolge hat, in dem man weiß, daß es Möglich- chen wollen. Das ist ja ein öffentlicher Raum. Do rt keiten gibt, zum Beispiel in öffentlichen Verkehrs- gibt es Verbote. Da gibt es Nichtraucher- und Rau- mitteln und in anderen öffentlichen Einrichtungen, cherabteile. Sie sagen, diese Reglementierung sei nicht zwangsläufig auf Konfrontationskurs gehen nicht nötig. Wie stellen Sie sich denn vor, daß Nicht- muß, sondern daß man sehr wohl vernünftig mitein- raucher in der Bahn geschützt werden, wo man ja ander umgehen kann, nicht ausweichen kann? (Beifall der Abg. Lisa Peters [F.D.P.] und des (Uta Titze-Stecher [SPD]: Die sollen nicht Abg. Klaus Dieter Reichardt [Mannheim] Bahn fahren! - Zuruf von der CDU/CSU: [CDU/CSU]) Das ist doch gut geregelt!) um dem Nichtraucher, der sich tatsächlich belästigt - Ich möchte Sie fühlt, entsprechend Rechnung zu tragen. Vizepräsident Hans Ulrich Klose: fragen, ob Sie auch dem Kollegen Dr. Gysi eine Zwi- (Beifall bei der F.D.P.) schenfrage gestatten. Dann machen wir das gleich mit, damit wir ein bißchen vorankommen. Das, was Sie hier tun, ist illiberal. Es ist ein Setzen auf zusätzliches staatliches Handeln, wo wir eigent- Ulrich Heinrich (F.D.P.): Ja, mit Blick auf die Uhr ist lich die Verantwortung der Menschen für ihre eigene das sicher sinnvoll. Umgebung verlangen

(Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der Dr. Gregor Gysi (PDS): Herr Kollege, ich wollte nur CDU/CSU) der Ehrlichkeit halber zunächst darauf hinweisen, daß ich sicherlich das bin, was man einen abhängi- und das in deren eigener Reglementierung und eige- gen Raucher nennt. Ich rauche nicht nur gelegent- ner Verantwortung geregelt haben wollen. lich. (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der (Klaus Dieter Reichardt [Mannheim] [CDU/ CDU/CSU) CSU]: Havanna!) Es entspricht nicht meiner Auffassung - ich ver- Ich möchte aber zusätzlich darauf hinweisen, daß ich trete hier die übergroße Mehrheit meiner Fraktion - gerade deshalb davon überzeugt bin, daß wir den von Demokratie und Liberalität, daß die Freiheit des Schutz der Nichtraucherinnen und Nichtraucher ge- einzelnen durch den Staat do rt eingeschränkt wer- rade als Raucher permanent verletzen, wenn wir den darf, wo es nicht unumgänglich ist. nicht staatliche Gebote bekommen, die uns klar auf diesen Schutz orientieren. (Wolf-Michael Catenhusen [SPD]: Da wird sich aber die Tabakindustrie freuen!) (Dr. Wolfgang Weng [Geringen] [F.D.P.]: Vor Gysi muß man geschützt werden! Das Herr Sauer, ich habe mich über Ihre wirklich sehr stimmt!) sachliche Einführung gefreut. Der Herr Kollege Ca- tenhusen hat hier eine Schärfe hereingebracht, die ich eigentlich gar nicht verstehen kann. Vizepräsident Hans - Ulrich Klose: Das ist jetzt aber genug an Hinweis. Jetzt die Frage! (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) Wir sind uns der Gefährlichkeit des Rauchens doch Dr. Gregor Gysi (PDS): Meine Frage ist: Wenn Ihre alle bewußt. Das ist eine Frage, wie wir miteinander Logik stimmt, dann müßten Sie eigentlich auch für umgehen und ob wir hier wirklich den Staat brau- die Freigabe von Rauschmitteln etc., auch von sol- chen. Von den Grünen erwarte ich nichts anderes, chen aus anderen Ländern, sein, weil Sie der Mei- als daß sie alles reglementieren wollen. Das ist völlig nung sind, daß Überzeugung reicht und daß man klar. Das ist die Art, die wir von ihnen aus anderen nicht mit Verboten zu operieren braucht. Bereichen gewohnt sind. Meine zweite Frage: Könnte es nicht sein, daß Sie weniger Liberalismus und Demokratie bewegen als die Interessen der Tabakindustrie? - Danke schön. Vizepräsident Hans - Ulrich Klose: Herr Kollege Heinrich, können Sie einmal eine Pause machen? (Beifall bei der PDS und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der (Dr. [F.D.P.]: Zigaretten- SPD) pause!)

Ulrich Heinrich (F.D.P.): Mit den Interessen der Ta- Ulrich Heinrich (F.D.P.): Ich mache gerne eine bakindustrie habe ich nichts zu tun. Wir sind traditio- Pause. nell, durch die Historie unserer Gesellschaft, mit dem Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997 14215

Ulrich Heinrich Tabak vertraut. Wir sind nicht mit dem vertraut, was Kinder, die in den Bahnabteilen sitzen, verantwort- Sie „andere Rauschmittel" genannt haben. lich sind. (Dr. Barbara Höll [PDS]: Das stimmt nicht!) (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS sowie bei Abgeord- Deshalb ist es grundsätzlich nicht akzeptabel, daß neten der CDU/CSU) Sie das eine mit dem anderen vergleichen. Zwar sind beide Suchtmittel, aber mit dem einen können wir Unsere Kinder müssen nämlich mitrauchen und be- umgehen - das haben wir gelernt -, mit dem anderen kommen keinen Schutz von der Bahn AG und bisher nicht. Von der Gefährlichkeit möchte ich gar nicht re- auch nicht vom Staat. den. Hier handelt es sich doch um völlig andere Di- mensionen, die es uns verbieten, Rauschgift- und Ta- Weiterhin möchte ich fragen: Ist Ihnen bekannt, in bakkonsum in einen Topf zu werfen. Herr Gysi, das welchem Maße Kinder geschädigt werden, wenn sie ist die Antwort auf Ihre Frage. sich über viele Stunden in einem Raucherabteil auf- halten müssen, weil es dazu keine Alternative gibt? Zu der Frage von Herrn Dr. Wodarg in bezug auf die Bahn. Wir haben festgestellt, daß es beim Luftver- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE kehr heute Nichtraucherflüge gibt. Das ist möglich GRÜNEN und der PDS sowie bei Abgeord- gewesen. Das gleiche müßte auch bei der Bahn mög- neten der CDU/CSU und der F.D.P.) lich sein, wenn die Bahn AG das will. Die Bahn AG braucht kein Nichtraucherschutzgesetz, um in ihren Ulrich Heinrich (F.D.P.): Daß Sie dazu verurteilt Waggons das Rauchen vollständig zu verbieten. sein sollen, mit Kindern, insbesondere mit Kleinkin- (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) dern, in einem Raucherabteil zu sitzen, das sehe ich nicht ein. Wenn heute eine Familie eine Reise unter- Ich spreche mich nicht dafür aus; ich lege nur dar, ob nehmen will, dann kann sie sehr wohl ein Nichtrau- gesetzlicher Handlungsbedarf hier gegeben ist. Das cherabteil buchen. ist keine Frage für den deutschen Gesetzgeber; es ist eine Frage für die Deutsche Bahn AG, nämlich die, (Wolf-Michael Catenhusen [SPD]: Die sind ob sie hundertprozentig Nichtraucherwaggons will doch alle voll!) oder nicht. Insofern ist das als Antwort auf Ihre Frage Sie bekommen eine entsprechende Reservierung, eine klare Aussage. und dann können Sie im Nichtraucherabteil fahren. (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. - (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der Roland Sauer [Stuttga rt] [CDU/CSU]: Wir CDU/CSU) sind so tolerant, daß wir das gar nicht wol len! - Gegenruf des Abg. Dr. Wolfgang Tun Sie doch nicht so, als ob die Deutsche Bahn AG Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Sauer will nur entsprechende Reservierungen nicht berücksichti- zum Fenster hinaus rauchen! - Zuruf von gen würde. Solche Reservierungen sind doch mög- der SPD) lich. - Was das soll? Das war die Antwort auf die Frage, (Dr. Wolfgang Wodarg [SPD]: Meine Kinder wie man in öffentlichen Verkehrsmitteln einen ent- können auch nicht zur Schule fliegen, Herr sprechenden Schutz vorsehen kann. Ich sage, daß es Kollege!) möglich ist, ohne Gesetz einen hundertprozentigen Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist ja erst die Schutz zu haben. Wir sehen das bei den Flügen der erste Lesung. Wir können uns ja noch intensiv unter- Lufthansa und anderen innerdeutschen Flügen. halten. Ich finde es auch hochspannend, wie die Dis- (Zuruf von der CDU/CSU: Gehen Sie ein kussion weitergeht. mal zum Arbeitsplatz!) Ich möchte zum Abschluß noch einmal ganz deut- lich sagen, daß wir Liberalen erst dann auf gesetzli- Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Herr Kollege che Regelungen setzen, wenn es eine eindeutige Heinrich, es gibt weitere Wünsche nach Zwischen- wissenschaftliche Datenlage gibt. fragen. Ich rate aber dem Haus, diesen Wunsch künf- tig etwas zu dämpfen, damit wir die vorgesehene (Zuruf von der CDU/CSU: Wo leben Sie Zeit einigermaßen einhalten können. denn?) Bitte schön, Herr Kollege. Herr Sauer, Sie selber haben gesagt, daß es noch keine eindeutige wissenschaftliche Datenlage in be- zug auf die Gefahren des Passivrauchens gibt. Hildebrecht Braun (Augsburg) (F.D.P.): Wenn Sie gestatten, Herr Präsident: Das ist meine erste Zwi- (Roland Sauer [Stuttga rt] [CDU/CSU]: Das schenfrage. Ich bin nicht für diejenigen verantwort- stimmt nicht! Das habe ich nicht gesagt!) lich, die vor mir möglicherweise die Zeit überzogen Wir werden eine gesetzliche Regelung für eine sol- haben. che Konfliktsituation, wie sie jetzt vorliegt, auf kei-- Ich möchte ganz einfach meinen lieben Kollegen nen Fall mittragen. Heinrich fragen, ob es wirklich nur eine Frage ist, die Herzlichen Dank. an die Bahn AG zu richten ist, oder nicht auch eine Frage an diejenigen, die für die Gesundheit unserer (Beifall bei der F.D.P.) 14216 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997

Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort zu ei- Ich habe über Jahre miterlebt, wie man bei der ner Kurzintervention hat die Kollegin Matthäus- Lufthansa um einen Flug betteln mußte, auf dem Maier. nicht geraucht wurde. (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist doch vor- bei!) Ingrid Matthäus - Maier (SPD): Herr Kollege Hein- rich, Sie haben gesagt, es gebe keine gesicherte wis- - Das ist doch egal. Es ist doch nur vorbei, weil wir senschaftliche Datenlage in bezug auf die Gefähr- gedrängt und gedrängt haben. Dies ist eine Station, lichkeit des Passivrauchens. Ich bin anderer Ansicht, an der das Drängeln weitergeht. und alle medizinischen Fachleute bestätigen die Ge- fährlichkeit des Passivrauchens. Bis heute können Sie bei der Lufthansa noch im- mer keine Interkontinentalflüge bekommen, auf de- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE nen nicht geraucht wird. Bei den amerikanischen GRÜNEN und der PDS sowie bei Abgeord Airlines geht das. Warum auch nicht? neten der CDU/CSU und des Abg. Dr. Burkhard Hirsch [F.D.P.]) Die Beweislast muß bei dem liegen, der rauchen will. Die Beweislast soll nicht bei dem liegen müssen, Aber ich möchte ausdrücklich sagen: Selbst wenn der einen Raucher darum bittet, endlich mit dem das nicht nachgewiesen wäre - das ist es -, reicht für Rauchen aufzuhören. mich schon die Belästigung der Nichtraucher. Wie (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE oft sind wir Nichtraucher in öffentlichen Gebäuden, GRÜNEN und der PDS sowie bei Abgeord- in politischen Sitzungen, auf Parteitagen, bei Ge richt neten der CDU/CSU und der F.D.P.) oder wo auch immer damit konfrontiert worden, daß Raucher nicht bereit waren, mit dem Rauchen aufzu- hören? Vizepräsident Hans - Ulrich Klose: Herr Kollege Heinrich. Es gibt viele rücksichtsvolle Raucher. Sie haben auf die Rücksichtnahme abgestellt. Ich kenne viele (F.D.P.): Ich möchte nur noch ein- rücksichtsvolle Raucher, die, wenn man sie darum Ulrich Heinrich mal unterstreichen, daß ich durchaus zugestehe, daß bittet, aufhören zu rauchen. Aber es gibt auch die an- es Belästigungen gibt. Das ist gar keine Frage. Was deren. Ich möchte verhindern, daß immer die Nicht- uns trennt, ist Ihr Ansatz, daß Sie eine Lösung per raucher dazu getrieben werden, zu quengeln und zu Gesetz wollen. Wir setzen auf die Einsicht. Das ist nörgeln, daß sie es sind, die bitten müssen: Hören Sie vielleicht mühsamer; das dauert vielleicht länger. doch bitte auf zu rauchen. (Widerspruch bei der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS sowie bei Abgeord - Doch, wir haben Fortschritte erzielt. Der Hotel- und neten der CDU/CSU und der F.D.P.) Gaststättenverband hat freiwillig einer klaren Rege- lung zugestimmt. Das zeigt doch, daß es möglich ist. Das will ich nicht mehr. Ich belästige andere Leute Verzweifelt doch nicht gleich, sondern seht zu, daß auch nicht. es in diesem Bereich Fortschritte gibt. (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Daß der Hotel- und Gaststättenverband mittler- Doch, gewaltig!) weile Nichtraucherzimmer anbietet und ermöglicht, daß Sie im Frühstückszimmer in aller Ruhe, ohne Be- - Mit meinen Reden zu Ihren Haushaltslöchern viel- lästigung durch Raucher frühstücken können - was leicht; das gebe ich zu. ich jedem zugestehe; ich verstehe das doch -, zeigt, daß wir kein Gesetz brauchen, um dieses Problem zu (Heiterkeit und Beifall bei der SPD) regeln. Dieses Beispiel macht ganz deutlich, daß es ohne gesetzliche Regelung geht. Ich möchte keinen Raucher missionieren, wie es in den USA geschieht. Wenn Raucher rauchen wollen, Ich glaube, die grundsätzlichen Haltungen und dann sollen sie es auch dürfen. Ich möchte aber Ansätze können wir heute nicht auflösen. Wir sind nicht, daß andere dadurch belästigt werden. für eine liberale Rücksichtnahme gegenseitiger A rt. Sie wollen ein Gesetz. Sie wollen das Ganze par or- Wir wollen uns bei den rücksichtsvollen Rauchern dre du mufti. Sie wollen mehr Bürokratie. Sie wollen bedanken. Es gibt aber auch die anderen. Deswegen ein Ordnungsrecht. Sie wollen all das, was wir nicht möchte ich - ich bin Juristin; deswegen benutze ich wollen. Wir wollen nicht mehr Staat, sondern wir das Wort - die Notwendigkeit, dies erklären zu müs- wollen weniger Staat im unmittelbaren Verantwor- sen, im Grunde umdrehen: Derjenige, der nicht be tungsbereich des einzelnen, wo es auch ohne geht. pafft werden will, hat auch das Recht darauf und muß nicht die anderen darum bitten, das Rauchen zu (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU - unterlassen - wenn man Kinder dabei hat, erst recht Wolf-Michael Catenhusen [SPD]: Liberal ist, nicht. wenn man rauchen kann, wo man will! - - Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Eine Perver- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sion des Liberalismusbegriffs ist das! - DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Gerald Häfner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- F.D.P.) NEN]: Liberal ist das Recht des Stärkeren!) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997 14217

Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort für einatmen zu müssen ist nicht nur lästig. Nach den eine weitere Kurzintervention hat die Kollegin Höll. vorliegenden medizinischen und wissenschaftlichen Erkenntnissen kann an der Gesundheitsschädlich- keit des Passivrauchens wohl nicht mehr gezweifelt Dr. Barbara Höll (PDS): Herr Kollege, darf ich Sie darauf hinweisen, daß Sie, wenn Liberalität Ihr ober- werden. Zwangsweises Inhalieren des in die Umge- bungsluft entweichenden Tabakrauchs verursacht stes Prinzip in der Politik ist, das dann aber auch auf Augenbrennen, Kopfschmerzen, Übelkeit, Atem- alle Rauschmittel anwenden müßten? Ansonsten ist wegserkrankungen, Durchblutungsstörungen und das, was Sie vorgetragen haben, sehr unlogisch. Herzleiden. Ich möchte Sie darauf hinweisen, daß Haschisch noch um die Jahrhundertwende ein legales Rausch- Das Deutsche Krebsforschungszentrum hat wie- mittel in Deutschland war und die Menschen damals derholt auf die zirka 50 krebserregenden Substanzen sehr wohl wußten, damit umzugehen. Daß es verbo- im Tabakrauch und die jährlich 400 infolge Passiv- ten wurde, hatte andere, wirtschaftliche Gründe. Das rauchens an Lungenkrebs sterbenden Menschen steht im Zusammenhang mit der Erfindung des Ein- verwiesen. satzes des Heroins. Das war schon damals von sehr starken wirtschaftlichen Gründen bestimmt. Das gilt Bemerkenswert finde ich die Feststellung des Bun- auch für die weitere Verdrängung von Hanf in der desgesundheitsamtes, wonach das Krebsrisiko Produktion und Verarbeitung zum Beispiel von durch Passivrauchen mindestens hundertmal höher Schiffstauen. ist als das in Räumen mit einer Asbestkonzentration von 1 000 Fasern je Quadratmeter. Insofern hat der Sie haben gesagt, die Menschen müssen den Um- Slogan des Bundes gegen Zwangsmitrauchen durch- gang damit lernen. Dann stellt sich für mich die aus seine Berechtigung: „Viel Angst, viel Furcht vor Frage: Warum verbieten Sie dann den Umgang und dem Asbest - doch Tabakrauch stinkt wie die Pest selbst eine sachgerechte Information zu den anderen und gibt uns ebenso den Rest." Rauschmitteln? Dazu gehören ein freier Zugang - zu- mindest bei Haschisch - und eventuell auch eine (Beifall bei der PDS) Probe. Auf Grund dessen, was Sie vorhin gesagt ha- ben, muß ich annehmen, daß Sie mit anderen Auf jeden Fall rechtfertigen die Risiken passiven Rauschmitteln ebenfalls so frei umgehen können. Zwangsmitrauchens für Nichtraucherinnen und Nichtraucher Maßnahmen zum Schutz des Rechts Dazu gehört ein Eintreten zum Beispiel gegen die auf Gesundheit sowie ein Rauchverbot an Arbeits- Suggestivwerbung. Es handelt sich ja nicht einfach plätzen und in öffentlichen Einrichtungen. Bekannt- nur um eine Werbung für Tabakwaren, sondern um lich zeigen Appelle und Bitten nach Rücksichtnahme eine wahre Suggestivwerbung. Eine solche gibt es von Raucherinnen und Rauchern kaum eine Wir- noch immer bei Kinder- und Jugendvorstellungen im kung. Der Schutz von Nichtraucherinnen und Nicht- Kino, wo nach der Werbung auf einer schwarzen rauchern ist nur über den gesetzlichen Weg durchzu- Leinwand steht: „Rauchen ist gefährlich für Ihre Ge- setzen. sundheit" - und das bei Disney-Filmen, wenn also Kinder im Kino sind, die noch nicht einmal lesen kön- An dieser Stelle sei auf die EG-Richtlinie von 1989 nen. über das Rauchverbot in öffentlich zugänglichen und frequentie rten Räumen verwiesen, in der die Mit- Ich denke, wir müssen der Fürsorgepflicht des gliedstaaten aufgefordert werden, im Wege der Ge- Staates in vollem Umfang Rechnung tragen. Es geht setzgebung Maßnahmen zu treffen, die ein Rauch- nicht an, daß auf der einen Seite Verbote ausgespro- verbot in öffentlich zugänglichen und frequentie rten chen werden, auf der anderen Seite aber, wenn es geschlossenen Räumen sowie in allen öffentlichen einem nicht paßt, Liberalität gepredigt wird. Verkehrsmitteln beinhalten und die in den genann- (Beifall bei der PDS) ten Einrichtungen gegebenenfalls abzugrenzende Raucherbereiche und außerhalb dieser Bereiche im Konfliktfall das vorrangige Recht des Nichtrauchers Vizepräsident Hans - Ulrich Klose: Das Wort hat auf Gesundheit vorsehen. jetzt die Kollegin Petra Bläss, PDS. Gesetzlicher Nichtraucherinnen- und Nichtrau- Petra Bläss (PDS): Herr Präsident! Liebe Kollegin- cherschutz entlastet durch einen geringeren Kran- nen und Kollegen! Inzwischen füllen sie buchstäb- kenstand das Gesundheitswesen und die Wirtschaft, lich Bände - wissenschaftliche Untersuchungen, die verbessert durch verminderte Schadstoffkonzentra- auf die Folgen des Passivrauchens aufmerksam ma- tionen in Innenräumen den Umweltschutz, entspricht chen, Lösungsvorschläge von Verbänden und Initia- den Anforderungen an einen modernen Rechts- und tiven - ich erinnere nur an den Gesetzentwurf, den Sozialstaat und ist nicht zuletzt eine Angleichung an die Nichtraucherinitiative Deutschlands uns Abge- internationale Standards. Sie haben in der Debatte ordneten schon 1992, in der 12. Legislaturperiode, heute vormittag gebetsmühlenhaft das amerikani- zugestellt hat -, Aufforderungen von Nichtraucherin- sche Beispiel beschworen. Ich denke, hier sollte sich nen und Nichtrauchern, als Gesetzgeber endlich tä- die Bundesregierung tatsächlich etwas an dem ame- tig zu werden. rikanischen Vorbild orientieren. Lange genug, denke ich, wurde das Passivrauchen (Beifall bei der PDS sowie der Abg. Uta verniedlicht. Unfreiwillig den giftigen Tabakcocktail Titze-Stecher [SPD]) 14218 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997

Petra Bläss Insofern sind - auch wenn sie gewiß noch nicht Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Würden Sie jetzt weit genug gehen - die beiden heute zur Debatte bitte Ihren letzten Satz sagen? Frau Kollegin, ich stehenden Gesetzentwürfe zu begrüßen. Übrigens meine es ernst. Sie können nicht sagen, Sie kämen finde ich es lächerlich, bei diesem zweifellos Frakti- zum Schluß, und unentwegt weiterreden. Sie haben onsgrenzen sprengenden Thema nicht auch auf jetzt mehr als eine Minute überzogen. Das kann ich PDS-Abgeordnete zuzugehen. nicht hinnehmen. (Beifall bei der PDS) Petra Bläss (PDS): Ich denke, bei solch einem Bekanntlich gibt es in Sachen Rauchen auch bei uns Thema kann man vielleicht - - solche und solche, wobei ich Ihnen sagen will, daß sowohl die einen als auch die anderen bei uns für ei- nen gesetzlichen Nichtraucherinnen- und Nichtrau- Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Es tut mir leid. cherschutz eintreten. Ich habe Regeln, die ich zu beachten und durchzu- setzen habe. Am weitergehenden Entwurf der Bündnisgrünen begrüße ich besonders die geforderte Begrenzung der Raucherzonen auf ein Viertel, was im übrigen Petra Bläss (PDS): Lassen Sie uns dieses Gesetz dem Anteil der Raucherinnen und Raucher an der zum diesjährigen Weltnichtrauchertag, dem 31. Mai, Bevölkerung entspricht, den vorgesehen Ausgleichs- in Kraft setzen. Es wäre nur der erste Schritt zum fonds für gesundheitliche Aufklärung und das festzu- Nichtraucherinnen- und Nichtraucherschutz. schreibende Werbeverbot für Hörfunk, Fernsehen (Beifall bei der PDS sowie der Abg. Uta und öffentliche Flächen. Titze-Stecher [SPD]) Den in der Begründung der Grünen gegebenen Hinweis darauf, daß Rauchverbote in der Praxis sehr Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat der schwer durchsetzbar sind, finde ich wichtig. Berech- Kollege Peter Basten, CDU/CSU. tigt ist auch der Hinweis der Bündnisgrünen, daß Rauchende nicht das Recht haben, andere zu schädi- gen, indem sie ihre Rechte auf Kosten Dritter durch- Franz Peter Basten (CDU/CSU): Herr Präsident! setzen, und daß das Recht der Nichtraucher vorzuge- Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich bin hen habe. „Die Raucher dürfen als 29-Prozent-Mehr- Nichtraucher - mit gelegentlichen Einschränkungen. heit bestimmen, wo sich die Nichtraucher als 70-Pro- Der Tabakgenuß löst bei mir weder Sucht noch Lei- zent-Minderheit aufhalten dürfen." denschaft aus. Ich bin nicht abhängig, aber, so gebe ich zu, ich genieße.

Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Frau Kollegin, In diesem Zusammenhang möchte ich auf eine Be- Ihre Zeit. merkung Bezug nehmen, die vorhin gemacht worden ist: Tabak ist ein Genußmittel und kein Rauschmittel.

Petra Bläss (PDS): Ich bin sofort fertig. - „Durch (Klaus Dieter Reichardt [Mannheim] [CDU/ Zwangsberauchung habe ich als gesunder Mensch CSU]: So ist es!) Behindertenstatus", formulierte treffend die Berliner Ich bitte darum, die Debatte so fair zu führen, daß wir Kämpferin gegen das Zwangsmitrauchen Irm Seu- die Debatte über Rauschmittel unter gegebenen Um- fert. ständen als solche führen, aber hier über Genußmit- Meine Damen und Herren, als Abgeordnete tragen tel reden. Man sollte das fairerweise, um der Sache wir Verantwortung für die Gesundheit der Bürgerin- willen, nicht miteinander vermischen. nen und Bürger und, so denke ich, speziell für die (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - der Kinder, die als Passivraucherinnen und Passiv- Wolf-Michael Catenhusen [SPD]: Wie ist raucher ganz besonders betroffen sind. denn das mit Alkohol?) (Brigitte Baumeister [CDU/CSU]: Jetzt wis - Das ist auch ein Genußmittel. sen wir es!) (Dr. Burkhard Hirsch [F.D.P.]: Und Haschisch?) Da es in der Tat genügend Argumente für einen gesetzlichen Nichtraucherinnen- und Nichtraucher- Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich bin schutz gibt, appelliere ich an Sie: Der Worte sind ge- auch kein Lobbyist der Tabakindustrie. Das Genuß- nug gewechselt, lassen Sie uns endlich Taten sehen! mittel meines Wahlkreises ist im übrigen viel schöner als Tabak, nämlich Wein. Dennoch bin ich ein ent- schiedener Gegner beider Vorlagen zum Nichtrau- Frau Kollegin, Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: cherschutz. bitte.

Herr Kollege Ba- (PDS): Die vorliegenden Entwürfe sind Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Petra Bläss sten, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen so etwas wie der kleinste gemeinsame Nenner. Des- - Häfner? halb könnten wir die parlamentarischen Beratungen in entsprechendem Tempo erfolgreich beenden. Wir sollten ein Zeichen setzen und - - Franz Peter Basten (CDU/CSU): Bitte schön. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997 14219

Gerald Häfner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Die Begründung des Entwurfs auf Drucksache 13/ Kollege Basten, darf ich Ihre Argumentation, es han- 6100 läßt die Katze aus dem Sack. Do rt heißt es: dele sich bei Tabak doch nicht um ein Rausch-, son- dern nur um ein Genußmittel, entnehmen, daß Sie an Angesichts der Gesundheitsschädlichkeit des den Drogen offensichtlich der Rauch stört und nicht Rauchens wäre ein absolutes Verbot von Tabak- die gesundheitsschädigende Wirkung? Denn das ist erzeugnissen an sich die richtige Konsequenz. ja wohl das gleiche. Es geht offensichtlich nicht nur um Nichtraucher- (Beifall des Abg. Wolf-Michael Catenhusen schutz. Die Raucher sollen gezwungen werden, we- [SPD]) niger zu rauchen. Ich will aber nicht vor mir selbst geschützt werden, lieber Gesetzgeber. (CDU/CSU): Die gesundheits- Franz Peter Basten (Wolf-Michael Catenhusen [SPD]: Wie ist schädigende Wirkung der Drogen ist um ein vielfa- denn das mit der Anschnallpflicht, Herr Kol- ches größer und hat ganz andere Wirkungen als die lege?) gesundheitlichen Schäden von Genußmitteln. Auch das ist wissenschaftlich erwiesen. Herr Kollege Häf- Zu den Entwürfen im einzelnen. Ich bleibe beim ner, ich glaube, darüber brauchen wir heute gar Entwurf auf Drucksache 13/6100. Der grüne Entwurf nicht zu diskutieren. ist keinen Deut besser. Er setzt lediglich noch ein Ich erkenne ausdrücklich an, daß Nichtraucher paar Skurrilitäten drauf. Sie wollen gleich auch noch Rücksicht verdienen. Aber müssen wir denn die Aus- eine Abgabe erheben. übung menschlicher Anstands- und Rücksichts- pflichten ausdrücklich kodifizieren? Die beiden vor- Hier ein paar praktische Fälle - da geht es selbst gelegten Entwürfe sind der sichtbare Beweis dafür, über die hier beschriebene Zielsetzung weit hinaus -: daß wir uns nicht mehr zutrauen, als mündige, selb- Ich sitze in der Kanzlei und bearbeite morgens Akten ständige und vernünftige Menschen - rauchende und berate mittags Mandanten. Zumindest nach dem und nichtrauchende - unterschiedliche Interessen Gruppenentwurf auf Drucksache 13/6100 gilt für und Lebensgewohnheiten in Eigenverantwortung zu meinen Arbeitsraum ein ganztägiges Rauchverbot. koordinieren. Müssen wir zur Erreichung dieser Wenn sich das Arbeitszimmer in das Wahlkreisbüro Ziele den Weg gesetzlicher und administrativer Ent- verwandelt, gilt das gleiche. Ich meine, eine vernünf- mündigung gehen? tige Verständigung - so praktiziere ich es auch - mit Mandant und Petent könnte das Problem auch ohne Meine Vorstellung von freien Menschen, die ver- gesetzliche Regelung lösen, und sie löst es auch. antwortlich in einer freien Gesellschaft leben, ist, daß wir nicht von der Wiege bis zur Bahre nach dem (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Staat rufen. Und es gehört im übrigen ja auch gar ordneten der F.D.P.) nicht zu unseren Grundüberzeugungen, so zu ver- fahren. Im Gegenteil: Wir proklamieren immer wie- Oder ein anderer Fall: Drei Schreibkräfte sitzen in der die Freiheit. Gleichzeitig jedoch verregulieren einem Arbeitszimmer - zwei Raucher, ein Nichtrau- wir alle Lebenssachverhalte. cher. Der Nichtraucher sagt: Mich stört Zigaretten- rauch überhaupt nicht; ich mag ihn. Er kann nicht Ich will, daß die rechts- und regelungsfreien auf seine Kosten kommen. Der Gesetzgeber sagt Räume möglichst groß sind, daß wir nur do rt regeln, nämlich: Rauchen verboten. Ich frage: Weshalb wi ll wo ein unabweisbares Regelungsbedürfnis besteht. der Gesetzgeber diesen Nichtraucher zu seinem Glück eigentlich zwingen? Das ist auch die Folge (Beifall des Abg. Uwe Lühr [F.D.P.]) dieses Gesetzentwurfs. Das muß man einmal deutlich Ich sehe im vorliegenden Falle ein solches unabweis- sehen. bares Regelungsbedürfnis überhaupt nicht. Sie haben hier Dinge formuliert, die weit über das (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU hinausgehen, was Sie als Ihre Ziele propagieren. Es und der F.D.P.) ist ein schlecht gemachter Gesetzentwurf, auch ge- Im Gegenteil: Wir schaffen zusätzliches Konflikt- setzgeberisch technisch schlecht gemacht. Überar- potential zwischen Rauchern und Nichtrauchern. beiten Sie ihn, bevor wir in weiteren Lesungen dar- über noch einmal reden. Vor allen Dingen schaffen wir eine gesetzliche Re- gelung, die niemand einhält, die niemand kontrollie- (Ulrich Heinrich [F.D.P.]: In der nächsten ren kann und will, weil die Leute - lassen Sie mich Legislaturperiode!) das so salopp sagen - auch gar nicht so bekloppt sind, wie wir manchmal glauben. Ich verweise auf Glaubt denn einer der Gesetzesinitiatoren, so ein das fehlgeschlagene Expe riment in Frankreich. mittelständischer Unternehmer oder Selbständiger Frankreich hat eine solche Gesetzgebung, und kein verfüge über so viel Raumkapazität, daß er noch ge- Mensch hält sich daran. Die Folge bei uns wird eine sonderte Raucherzimmer einrichten könne? Wer rau- ähnliche sein. Wir machen uns mit einer solchen Initi- chen will, muß auf die Straße. Doch das darf er nicht, ative bei der Bevölkerung nur lächerlich. Glauben weil er während der Arbeitszeit seinen Arbeitsplatz Sie es mir, meine verehrten Kolleginnen und Kolle- nicht einfach verlassen darf. gen. Wie soll die Einhaltung des Gesetzes kontrolliert (Beifall bei der CDU/CSU) werden? Wie soll sie überwacht werden? Soll der 14220 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997

Franz Peter Basten Chef in regelmäßigen Abständen Kontrollgänge durch freiwillige Vereinbarung regeln könnte. Wozu durchführen und fragen: Wer hat hier geraucht? macht man eigentlich ein Gesetz? (Klaus Dieter Reichardt [Mannheim] [CDU/ (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P., der CSU]: Schnuppern!) SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS) Das erinnert mich an meine Zeit als Internatsschüler. Rechtssätze sind Konfliktnormen, also Regelungen Der unzufriedene Nichtraucher, der auf dem Ge- für die Fälle, in denen es kein Einvernehmen gibt. So setz besteht, kann natürlich auch die Polizei rufen. schützt der Gesetzgeber deswegen bestimmte Inter- Die schreitet ein, nimmt die Ordnungswidrigkeit auf essen und Rechtsgüter durch seine Entscheidung, und leitet ein Verfahren ein. Da kann ich Ihnen nur weil sie wichtig sind, weil man Vereinbarungen nur sagen: Gute Nacht, Frieden am Arbeitsplatz! Gute zwischen gleichen Partnern treffen kann und weil er Nacht, dereguliertes Deutschland! es dem einzelnen in vielen Fällen nicht zumuten will, Ich kann Ihnen, meine sehr verehrten Damen und sich um Vereinbarungen zu bemühen, bei denen die- Herren, die Sie diese Gesetzentwürfe vorgelegt ha- ser den anderen unterlegen ist oder in denen dieser ben, nur zurufen: Ziehen Sie Ihre Gesetzentwürfe zu- einfach keinen Pa rtner findet, mit dem man etwas rück, und lassen Sie die Tassen im Schrank! vereinbaren kann. Wie soll ich in einer Behörde mit Publikumsverkehr vereinbaren, ob do rt geraucht (Beifall bei der CDU/CSU - Zuruf von der werden darf oder nicht? SPD: Die Zigaretten in der Schachtel!) Ein Blick in die arbeitsrechtliche Rechtsprechung, Herr Kollege, zeigt in aller Einzelheit, daß es eben Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat dann nicht angeht, dem einzelnen Arbeitnehmer ei- Herr Kollege Burkhard Hirsch, F.D.P. nen Arbeitsgerichtsprozeß mit allen Folgen, die das im Erwerbsleben hat, zuzumuten, wenn es sich um etwas wirklich Schädliches handelt. Dr. Burkhard Hirsch (F.D.P.): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich bin meiner (Beifall bei der F.D.P., der SPD, dem BÜND- Fraktion für die Minuten dankbar, die sie mir ein- NIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS) räumt, um für die Minderheit der Fraktion zu spre- chen. Deswegen sage ich gleich am Anfang: Es gilt Deswegen muß man eindringlich darauf hinwei- auch das geschriebene Wort, weil ich kürzen muß, sen, daß es hier nicht um irgendeine Läßlichkeit geht was ich sagen will. oder darum, auf gesetzgeberischem Weg Höflichkei- ten zu erzwingen. Vielmehr geht es um den Schutz Ich kann die Emotionen nicht verstehen. Es wird der Gesundheit von Menschen, die ohne eine solche eine ernsthafte Debatte darüber beginnen, ob das Entscheidung gezwungen sind oder gezwungen Passivrauchen wirklich schädlich ist - dessen sind werden, am Arbeitsplatz, in Verkehrsmitteln, in Be- wir uns sicher - und in welchem Umfang. Allein da- hörden gegen ihren Willen mitzurauchen oder sich von sollten wir die endgültige Entscheidung abhän- sonst durch Arbeitsgerichtsprozesse hindurchzuquä- gig machen, wie wir uns in dieser Frage verhalten. len und sich der Anfeindung derjenigen auszuset- zen, die vom Nikotin abhängig sind und das verdrän- Meine Fraktion sagt, das gehe auch alles im Wege gen. von freiwilligen Vereinbarungen. Das ist aber schon deswegen nicht überzeugend, weil es die Raucher Wer rauchen will - da stimme ich Ihnen völlig und und die Nichtraucher schlechthin, mit denen man ohne jede Einschränkung zu -, soll es tun, bis er um- Vereinbarungen schließen könnte, gar nicht gibt. Es fällt. Das ist mir egal. Sie können es wirklich machen. gibt vielmehr eine Vielzahl von Menschen, die rau- Aber es gibt kein Recht, andere gesundheitlich zu chen oder nicht rauchen, die sich vernünftig verhal- schädigen. ten oder nicht, die Rücksicht nehmen oder denen die Interessen anderer völlig gleichgültig sind. (Beifall bei der F.D.P., der SPD, dem BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS sowie Wenn alle Menschen sich verantwortungsbewußt bei Abgeordneten der CDU/CSU) oder wenigstens vernünftig verhalten würden, könnte man selbst auf den größten Teil der Zehn Ge- Deswegen wollen wir für das Recht derjenigen ein- bote verzichten, bestimmt auch auf fast alle Bestim- treten, die nicht rauchen wollen und die nicht dazu mungen des Bürgerlichen Gesetzbuchs oder des gezwungen werden dürfen. Das ist das, was wir wol- Ehegesetzes. len. (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. sowie Wenn Sie uns im Laufe der Gesetzgebung Vor- bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜ schläge machen wollen und können, wie man den NEN und der PDS) Text verbessern kann: Herzlich willkommen. Sie sind dazu eingeladen. Ich bin seit fast 30 Jahren verheiratet und habe die familienrechtlichen Bestimmungen des Bürgerlichen Meinem lieben Kollegen Heinrich möchte ich sa- Gesetzbuches noch nie gebraucht. So wird es den gen: Lieber Kollege, wir sollten nicht am Anfang ei-- meisten von Ihnen auch gehen. Aber wir kämen ner Beratung eines Gesetzes sagen: Das lehnen wir doch deswegen nicht auf die Idee, diese Bestimmun- ab. Vielmehr sollte man erst einmal sehen: Was zei- gen aufzuheben und zu sagen, daß man das auch gen die Beratungen, kann man es verbessern, han- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Feb ruar 1997 14221

Dr. Burkhard Hirsch delt es sich um eine Lappalie oder um Gesundheits- gen, obwohl die Voraussetzungen, daß wir do rt nicht fragen? Dann erst sollte man entscheiden. mehr sachkundig exakt Auskunft geben können, darin liegen, daß es keine Erfassung über Reichtum Ich werde dafür eintreten, möglichst viele Kollegin- und Vermögen gibt, die es ermöglicht, solche Vor- nen und Kollegen dafür zu werben, diesem Gesetz schläge seriös zu unterbreiten und hinsichtlich der zuzustimmen, damit wir dafür eine Mehrheit bekom- Folgen auch zu berechnen. - Das ist der eine Grund, men. weshalb wir diesen Antrag gestellt haben. (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. sowie Der zweite hängt natürlich mit den Veränderungen bei der SPD und der PDS) dieser Gesellschaft zusammen. Seit Jahren ist es so, daß auf der einen Seite der Reichtum in der Gesell- Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Ich schließe die schaft wächst, auf der anderen Seite wächst Armut, Aussprache. zum Teil auch Not. Es gehört einfach zu einem kom- pletten Bild der Gesellschaft, daß man nicht nur Ar- Interfraktionell wird die Überweisung der Gesetz- mutsberichte abgibt - wobei übrigens die Kirchen, entwürfe auf den Drucksachen 13/6100 und 13/6166 wie ich finde, eine sehr positive Rolle spielen -, son- an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse dern daß man sich natürlich auch mit dem Reichtum in vorgeschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vor- einer Gesellschaft befaßt. Dies ist auch erforderlich, schläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Über- um zu wissen: Was ist eigentlich zum Verteilen da? weisung so beschlossen. Nimmt der Reichtum zu? Konzentriert er sich in immer weniger Händen, oder nimmt er ab? Wird er, durch Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 9 auf: welche Umstände auch immer, gerechter verteilt? Beratung des Antrags der Gruppe der PDS Weil es in diesem Hause überhaupt nicht üblich ist, Kontinuierliche Berichterstattung über Ein- einen Reichtumsbericht abzugeben, über die Vermö- kommens- und Vermögensreichtum in der gensentwicklung, auch über die Konzentration von Bundesrepublik Deutschland (Reichtumsbe- Geld und anderen Vermögenswerten in der Gesell- richt) schaft etwas zu sagen, halten wir es erforderlich, daß der Bundestag die Bundesregierung auffordert, jähr- - Drucksache 13/6527 — lich auch einen Reichtumsbericht diesem Bundestag Überweisungsvorschlag: vorzulegen. Dieser Reichtumsbericht könnte dann Finanzausschuß (federführend) für uns die Grundlage sein, zu bewe rten, ob es viel- Ausschuß für Wirtschaft leicht einen Zusammenhang zwischen der Zunahme Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung von Armut und der Zunahme von Reichtum gibt, und Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für er könnte die Grundlage sein, Veränderungen in der die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wo- Verteilung des Reichtums innerhalb dieser Gesell- bei die Gruppe der PDS fünf Minuten erhalten soll. - schaft zu fordern. Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so be- Ich bleibe dabei, daß derjenige, der wirksam Ar- schlossen. mut bekämpfen will, auch Reichtum begrenzen muß. Ich eröffne die Aussprache. Das Wo rt hat der Kol- Anders wird es nicht gehen. lege Dr. Gregor Gysi, PDS. (Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordne- ten der SPD) Dr. Gregor Gysi (PDS): Herr Präsident! Meine Da- Aber dazu muß man etwas wissen, und dazu müssen men und Herren! Die Abgeordnetengruppe der PDS wir den Reichtum in der Gesellschaft kennen. In dem hat einen Antrag vorgelegt, der in gewisser Hinsicht Maße, wie Sie die statistischen Erhebungen dazu zu- auch vorbeugende Wirkung haben soll. rückziehen, werden wir diesbezüglich auskunftsun- Wie wir wissen, hat die Koalition die Vermögen- fähiger. Dabei kann es nicht bleiben. steuer am 1. Januar 1997 abgeschafft, natürlich unter Ich nenne Ihnen nur noch ein Beispiel. Wir haben anderem mit der Folge, daß es künftig keine statisti- einmal versucht, herauszubekommen, wie eigentlich schen Erhebungen mehr über Vermögen geben wird, die Entwicklung der Zahl der Einkommensmillionäre weil dieses nicht mehr erfaßt ist. ist. Die Statistik reicht bis in das Jahr 1989. Danach Eine der Folgen davon wird sein, daß, wenn zum erfahren Sie von Bundesbehörden nichts, Sie sind Beispiel die Opposition Vorschläge zu steuerrechtli- auf Schätzungen von wissenschaftlichen Instituten chen oder anderen Veränderungen einbringt und angewiesen, die uns sagen, daß zum Beispiel die versuchen will, zu berechnen, welche Folgen das in Zahl der Einkommensmillionäre um 40 Prozent zuge- der Gesellschaft haben kann, sie allein auf unse riöse nommen hat. Wenn ich das hier sage, können Sie es Schätzungen angewiesen ist, weil es überhaupt natürlich bestreiten und sagen: Das stimmt gar nicht. keine statistischen Erhebungen über Reichtum und Ich kann dann auch Ihre Aussage nicht widerlegen, Vermögen in der Gesellschaft gibt. weil es dazu keine statistischen Erhebungen gibt. Dabei kann es unmöglich bleiben. Eine Gesellschaft Dann würde im übrigen die Koalition kommen und ist verpflichtet, statistisch die Armut zu erfassen, sie - sagen, daß diese Forderung zur steuerrechtlichen ist verpflichtet auch das Lebensniveau des gesamten Änderung entgegen den Annahmen der Opposition Volkes zu erfassen. Dazu gehört aber auch die Erf as viel weniger oder gar nichts einbringen würde, und ung von Reichtum, um Möglichkeiten zur Umvertei--s würde uns sozusagen des Dilettantentums beschuldi lung zu erschließen. 14222 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997

Dr. Gregor Gysi Hier wollen wir aber noch gar keine Umverteilung die es ihm ermöglichen, sein Leben individuell zu ge- fordern, hier geht es nicht um eine soziale Gesetzge- stalten und auch zu Vermögen zu kommen. bung. Hier geht es nur darum, daß die Bundesregie- rung verpflichtet wird, künftig einmal jährlich einen Reichtumsbericht vorzulegen. Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Herr Kollege Seiffert, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kolle- (Beifall bei der PDS) gen Heuer, PDS? Wenn Sie dazu nein sagen sollten, dann sage ich (Brigitte Baumeister [CDU/CSU]: Nein!) Ihnen gleich, daß es dafür nur einen einzigen Grund geben kann: daß Sie sich des Reichtums in dieser Gesellschaft und erst recht seiner Zunahme schä- Heinz-Georg Seiffert (CDU/CSU): Nein. - Wir wer- men. den diese Politik auf jeden Fall fortsetzen und die Rahmenbedingungen zur Vermögensbildung - ich Danke schön. sage es noch einmal - auf breiter Basis weiter verbes- (Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordne sern. ten der SPD) Bei allen Problemen von Armut, die wir auch in der Bundesrepublik Deutschland haben, lassen sich Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat der diese gottlob nicht mit denen in den Armutsregionen Kollege Heinz Seiffert, CDU/CSU. der Welt vergleichen, wie Sie es in Ihrem Antrag an- sprechen. Auch die sogenannten Reichtumsquellen in diesen Ländern, die zum Teil auf wenig demokrati- Heinz-Georg Seiffert (CDU/CSU): Herr Präsident! schen Strukturen beruhen, erlauben keinen Ver- Meine Damen und Herren! Herr Gysi, Sie sagen, gleich mit der Vermögensbildung in unserem Rechts- man muß wissen, was zum Verteilen eigentlich da ist. staat und in dieser sozialen Marktwirtschaft. Ein sol- -Sie sagen „Reichtum begrenzen". In dieser Freiheits cher Vergleich spräche unserem Sozialstaat und un- und Wirtschaftsordnung ist p rivates Eigentum und serem in der Welt anerkannten sozialen Netz hohn. Privatvermögen ein konstitutives Element. Es ist des- Ihn zu fordern zeugt von wenig Kenntnissen der tat- halb eine der wichtigsten Aufgaben veranwortungs- sächlichen Situation. voller Politik, die Rahmenbedingungen dafür zu set- zen, daß möglichst jeder Eigentum und Vermögen Es wäre gerade in Deutschland, das die Antragstel- bilden kann. Hiervon hängt ab, inwieweit der ein- ler selber als eines der reichsten Länder der Erde be- zelne dann eigenverantwortlich sein Leben gestalten zeichnen, bitter nötig, einen allgemeinen Konsens kann oder ob er auf Unterstützung durch den Staat für eine Politik herzustellen, in der Eigenverantwor- angewiesen ist. tung und eigene Leistung im Vordergrund stehen und in der der Sozialstaat do rt eingreift, wo die Ei- Mit der Garantie, sich nach eigenen Kräften Eigen- genverantwortung Probleme nicht zu lösen vermag. tum zu schaffen und zu erhalten, nimmt das Grund- gesetz soziale und ökonomische Ungleichheiten (Dr. Gregor Gysi [PDS]: Das ist kein einzi- ganz bewußt in Kauf. Natürlich sind die Möglichkei- ges Argument gegen einen Reichtumsbe- ten und der Wille des einzelnen zur Bildung von Ver- richt!) mögen unterschiedlich verteilt. Wir versuchen dies mit der Reform der Einkommen- (Zuruf von der PDS: Ja, ja!) und Körperschaftsteuer. Dies unternehmen wir in der Vermögensbildung resultiert aus der allgemeinen Gesundheitsreform und mit einer Reform des Renten- Handlungsfreiheit eines jeden Menschen und kann systems. doch nicht politisch verordnet oder zugeteilt werden. Wenn der Staat nicht mehr für alles und jedes ein- Politik in der sozialen Marktwirtschaft muß sich stehen soll und die dafür erforderlichen Mittel seinen fragen, inwieweit solche Unterschiede toleriert wer- Bürgern beläßt, dann verbessern wir die Chancen je- den können oder inwieweit die Politik aufgerufen ist, des einzelnen Bürgers in allen Einkommensgruppen Korrekturen für eine sozial noch gerechtere Eigen- erheblich, sich selber Vermögen zu bilden. tumsordnung anzubringen. Dies ist der Weg, wie wir den Wohlstand für alle in Dies fordert im übrigen auch die Sozialbindung unserer sozialen Marktwirtschaft mehren wollen. des Eigentums und den Sozialstaat heraus. Wir stel- Dazu brauchen wir keinen weiteren bürokratischen len uns dieser Herausforderung. Bericht. Neue Statistiken bringen keine gerechtere Vermögensverteilung, zumal in einer Zeit, wo wir Unsere Politik ist gekennzeichnet vom Bestreben, dringend auf den Abbau von Bürokratie angewiesen Rahmenbedingungen für eine gerechtere Verteilung sind. der Vermögen zu schaffen. Das gilt für die Bildung von Geldvermögen - hier verweise ich auf die staat- Wir lehnen diesen Antrag also ab, weil er zur Pro- liche Vermögensbildung -, dies gilt für die Verbesse- blemlösung völlig ungeeignet ist. Wir lehnen ihn aber- rung der schulischen wie außerschulischen Bildung auch ab, weil er eine Haltung offenbart, die wir kei- durch Ausbildungsförderung, duales Bildungssy- nesfalls mittragen können und wollen. Er zielt in der stem, neuerdings sogar das Meister-BAföG. Hier Wirklichkeit nicht auf die Lösung sozialer Probleme werden für den einzelnen Bedingungen geschaffen, ab, sondern auf die Erzeugung einer Neidideologie Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997 14223 Heinz-Georg Seiffert und auf die Wiederbelebung eines längst überwun- daß die „Zahl der Woche" des Statistischen Bundes- denen Klassendenkens in unserer Gesellschaft. amtes vom 12. November 1996 die PDS veranlaßt hat, Ihren Antrag auf Drucksache 13/6527 zu stellen. Die (Zuruf von der PDS: Verschleierung!) Gruppe der PDS hat einen Antrag zu einem Reich- Auch die Damen und Herren Antragsteller müssen tumsbericht in sage und schreibe 17 Zeilen als Auf- sich daran gewöhnen, auch wenn es ihnen offen- forderung an die Bundesregierung formuliert. sichtlich schwerfällt, daß es in der Rechts- und Ge- (Zurufe von der PDS) sellschaftsordnung dieses Grundgesetzes keine wi ll -kürliche Sozial- und Wirtschaftslenkung gibt, wie es - Diese Begründung steckt aber dahinter. anderswo - wie man weiß, ohne größeren Erfolg - der Fall gewesen ist. Wir Sozialdemokraten haben diesem Thema be- reits in der 12. Wahlperiode, besonders aber in der Auch Sie von der PDS müssen sich daran gewöh- jüngsten Zeit durch viele Kleine und Große Anfragen nen, daß Eigentum und Vermögen im Rechtsstaat unsere besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Grundlagen der Privatautonomie sind. Das privatnüt- zige Streben und Gestalten des einzelnen brauchen Die Erstellung von zuverlässigen Daten über Ein- wir zur Erhaltung und zur Gestaltung der Rechts- kommen, über Vermögen, die Aussagen über Ar- und Gesellschaftsordnung. beitsplätze, Arbeitslosigkeit und die sich daraus er- gebenden sozialpolitischen Folgen sind äußerst Der Staat kann nur, wie wir es tun, versuchen, mit wichtige Themen. Diese Fragen können nicht nur seiner Politik die Rahmenbedingungen zu gestalten, unter bundespolitischen Aspekten gesehen werden. die es jedem ermöglichen, Vermögen zu bilden, aber Nein, sie müssen auch unter europäischen, vielleicht auch Anreize geben zur Vermögensbildung. Der sogar unter weltweiten Aspekten gesehen werden. Hauch des Klassenkampfes, der durch diesen Antrag weht, kann dies mit Sicherheit nicht leisten. Die mit Wir Sozialdemokraten haben unter anderem in un- diesem Antrag angestrebte Politik würde nur noch serem letzten Antrag zu diesem Thema vom 29. Juni mehr dazu beitragen, daß Vermögen in andere Län- 1995 in einer Kleinen Anfrage die „Effektive Bela- der abwandert und uns in der Bundesrepublik stung der Steuerpflichtigen durch die Einkommen- Deutschland für die Investitionen nicht mehr zur Ver- steuer" hinterfragt. In einer Kleinen Anfrage vom fügung steht. 20. September 1995 haben wir die „Entwicklung der Aufkommen bei der Vermögen- und Erbschaft- (Christina Schenk [PDS]: Alte Kamellen!) steuer" hinterfragt. In einer Großen Anfrage vom Eine solche Politik vergißt, daß p rivates Vermögen 21. September 1995, „Entwicklung der Vermögen nicht etwa ein auszumerzendes Übel, sondern eine und ihre Verteilung", haben wir Sozialdemokraten zwingende Notwendigkeit für unsere Unternehmen uns ebenfalls mit diesem Thema ausführlich beschäf- zur Schaffung von Arbeitsplätzen ist. Auch deshalb tigt. werden wir den Antrag natürlich ablehnen. (Andrea Fischer [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - GRÜNEN]: Das gibt ein Fleißkärtchen! - Dr. Gregor Gysi [PDS]: Wissen muß man es Heiterkeit) trotzdem!). - Das ist natürlich ein Fleißkärtchen we rt. Da haben Sie recht. Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Ich erkläre es lie- ber gleich öffentlich, liebe Kolleginnen und Kolle- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gen: Es gab einen Antrag auf eine Kurzintervention. DIE GRÜNEN) Alle hier im Hause wissen, daß die CDU/CSU eine Außerdem gibt es weitere Anträge und Anfragen, Fraktionssitzung hat. Auf solche Dinge nehmen wir wie zum Beispiel die Kleine Anfrage über „Die wirt- üblicherweise Rücksicht, indem wir die Deba tten schaftliche Situation von Kindern und Familien", die nicht verlängern. beim Reichtum ebenfalls eine äußerst wichtige Rolle (Brigitte Baumeister [CDU/CSU]: Vielen spielen. Dank, Herr Präsident!) Es ist eindeutig festzustellen, daß neben der wich- Deshalb mache ich von meinem Ermessen Gebrauch: tigen und unerläßlichen nationalen Bedeutung eine Der Präsident kann Zwischenbemerkungen zulas- internationale Be trachtung viel Sinn macht. Von be- sen; er muß aber nicht - und er tut es nicht. sonderer Bedeutung ist aber nicht nur der Reichtum. Von besonderer Bedeutung ist die Armut in der rei- (Dr. Gregor Gysi [PDS]: Ich habe gar keinen chen Bundesrepublik. Antrag gestellt!) Erstaunlicherweise wurden im November 1996 - Ich habe Sie nur deswegen angeguckt, weil Sie der diesbezüglich statistische Daten des Jahres 1992 ver- Chef sind. öffentlicht. Dies veranlaßt mich zu der Frage, ob denn das Statistische Bundesamt in der Erstellung Das Wort hat jetzt der Kollege Herbe rt Meißner, von so wich SPD. tigen statistischen Daten immer mehrere Jahre hinterherhinkt. Das ist eine aus meiner Sicht beeindruckende Negativleistung eines Bundesam- Herbert Meißner (SPD): Herr Präsident! Meine sehr tes. Man muß tatsächlich erschrocken sein, wenn die verehrten Damen und Herren! Ich gehe davon aus, Bundesregierung anhand derartiger Daten ihre Auf- 14224 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997

Herbert Meißner gaben zu lösen versucht, und das tut sie nach unserer In Ihrer unendlichen Weisheit sind die Verringe- Auffassung wohl manchmal. rung von Sozialleistungen und jetzt auch noch die Besteuerung von Renten Ihre neuesten Rezepte. Ge- Wenn also Zahlenmaterial mit mehrjähriger Rück- gen demographische Veränderungen, die es zweifel- ständigkeit benutzt wird, kann man nur Schlimmes los gibt, ist unverände rt die Verlängerung der Le- befürchten. Dennoch ist die „Zahl der Woche" beein- bens-. und Wochenarbeitszeit Ihr ernsthaftes Rezept. druckend, insbesondere wenn die PDS dazu von der Sie betreiben eine Politik der sozialen Kälte. Sie be- Bundesregierung einen Reichtumsbericht forde rt. treiben eine Umverteilung von unten nach oben. Von den Einkommensmillionären, deren Zahl von 1989 bis 1992 - sie wird nach Angaben des Amtes (Beifall bei der SPD) nur alle drei Jahre erhoben - um 38 Prozent auf über In dieser Aussage liegt der eigentliche Knack- 25 000 gestiegen ist, sind etwa 300 aus den neuen punkt der Zusammenhänge. Das zeigt die Notwen- Bundesländern. digkeit von Erhebungen zuverlässiger statistischer Bereits im Februar 1996 gab es nach seriösen Daten über Armut und Reichtum in der Bundesrepu- Schätzungen etwa 150 000 Millionäre in der Bundes- blik Deutschland. republik Deutschland. Heute dürfte die Zahl der Ein- kommens- und Vermögensmillionäre die Marke Es ist von besonderer politischer Bedeutung, wenn 200 000 bereits überschritten haben. die Gruppe der PDS einen Antrag zu einem Reich- tumsbericht an die Bundesregierung stellt. In einem Dieser sprunghafte Anstieg von Millionären in Reichtumsbericht kann die CDU ganz wunderbar Deutschland auf der einen Seite hat auf der anderen feststellen, daß es Reichtum in der Bundesrepublik in Seite einen dramatischen Anstieg von Haushalten im Hülle und Fülle gibt. sogenannten Armutsbereich, sicherlich auch von So- zialhilfeempfängern zur Folge. Dieser mittelbare Zu- (Andrea Fischer [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE sammenhang zwischen Reichtum und Armut in der GRÜNEN]: Ist das Sa tire?) Bundesrepublik führt neben vielen gesellschaftli- chen Verwerfungen auch zu einer gefährlichen, aber Bei nahezu 200 000 Millionären ist diese Tatsache tatsächlichen Spaltung der Gesellschaft. für viele Bereiche der Wirtschaft als Arbeitsbeschaf- fungsmaßnahme von besonderer A rt zu erkennen. Betrachten wir die Situation weiter, so kann man Die Kürzungen der Mittel für Forschung und Bildung nur sorgenvoll in die Zukunft schauen. Bei über führen unter anderem zu einem weiteren Arbeits- 4,6 Millionen Arbeitslosen - Tendenz: immer noch platzabbau für Professoren an Fachhochschulen und steigend - werden auch die Zahlen der Armen und Universitäten. Ob aber der Zuwachs an Mitteln für Sozialhilfeempfänger weiter steigen. Professoren an Eliteschmieden in Arlington oder Cambridge oder an den eidgenössischen Privatschu- Ich möchte noch einmal auf unsere Große Anfrage len in der Schweiz eine Verbesserung für deutsche zur Armut in der Bundesrepublik Deutschland zu- Professoren hervorruft, ist fraglich. rückkommen. Wenn in unserer Gesellschaft, die über einen enormen Reichtum verfügt, immer mehr Men- (Andrea Fischer [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE schen in existentielle Not geraten, dann ist eine ge- GRÜNEN]: Ist das jetzt gerade Thema?) sellschaftliche Schieflage entstanden, die Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren der Regierungs- Außerdem ist es eine Arbeitsbeschaffungsmaß- koalition, zu verantworten haben. nahme für Immobilienbeschaffer oder Makler, natür- lich weltweit. Und es kann auch als Arbeitsbeschaf- In Ihrer Antwort, die Sie dazu gegeben haben, stel- fungsmaßnahme für besonders findige Steuerberater len Sie aber fest, daß Armut und soziale Ausgren- gelten, um weitere Steuerschlupflöcher für Vermö- zung für die Politik der Bundesregierung eine beson- gende zu finden. Natürlich werden auch die Secu- dere Herausforderung bedeuten. Sie behaupten wei- rity-Firmen von den weiteren Beschaffungsmaßnah- ter, daß Sie in der Vergangenheit Ihre Beiträge zur men profitieren, denn sie müssen den Reichtum mit Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung immer mehr Leuten schützen. Das gilt natürlich auch geleistet haben und auch in der Zukunft leisten wer für die Branche der Bodyguards, die für den Schutz den. ganzer Familienstämme notwendig ist. Sie stellen weiter fest, daß Armut in der Bundesre- publik allerdings nicht als Mangel an Mitteln zur Be- Nicht erst seit heute wissen wir, daß der Generalse- friedigung von Grundbedürfnissen, wie Nahrung, kretär der CDU, Hintze, bei seiner Suche nach even- Kleidung und Unterkunft, zu verstehen ist. An ande- tuellen Gesinnungsgenossen nicht nur das bekommt, rer Stelle heißt es wörtlich: „Auch die Zahl der So- was er gerne haben möchte, sondern auch - wie erst zialhilfebezieher ist kein Armutsindikator. " Ich gebe jüngst passiert - das nimmt, was er bekommen kann. Ihnen den Rat: Gehen Sie doch einmal zum Haupt- Nicht nur wir, sondern auch die Damen und Herren bahnhof Bonn. Sie werden in kürzester Zeit feststel- der Presse sind bereits jetzt neugierig, ob eine neue len können, daß do rt Armut vorhanden ist, die es textile Farbkombination mit rot-schwarzen Ringel- nach Ihrer Definition überhaupt nicht geben dürfte. söckchen in Frage kommt. (Beifall bei Abgeordneten der PDS) Wir lehnen diesen Antrag zunächst ab. Oder sind das alles Wohlhabende, die nach ein paar (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Groschen betteln? PDS) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997 14225

Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat die Es ist noch gar nicht so lange her, daß einige füh- Kollegin Andrea Fischer, Bündnis 90/Die Grünen. rende Ökonomen dieses Landes in der „Wirtschafts- woche" geschrieben haben, sie verfügten nicht über Andrea Fischer (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ein sie selber als Ökonomen befriedigendes statisti- NEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! sches Instrumentarium, um diese Angaben zu erstel- Ich habe der Debatte mit wachsender Fassungslosig- len. Die Deutsche Bundesbank, die eine der wenigen keit gelauscht. Quellen dafür ist, sagt ebenfalls, daß sie nicht in der Lage ist, Daten herauszugeben, die man eigentlich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN befriedigend fände. und der PDS) Ich darf Sie auch noch einmal daran erinnern, daß Auch ich bin der festen Überzeugung, daß man wir meiner Kenntnis nach hier im Bundestag über von der PDS immer die finstersten Machenschaften Anträge und nicht über deren Begründungen ab- erwarten muß. Als ich die Rede des Kollegen Seiffert stimmen. Ich teile auch nicht alles, was die PDS in gehört habe, habe ich mich gefragt, ob die jetzt ge- ihrer Begründung geschrieben hat. Aber die Forde- rade den Sozialismus ausrufen. Daraufhin habe ich rung nach einem solchen Be richt ist doch nicht ab- noch einmal den Antrag der PDS zur Hand genom- surd. men. Kollege Seiffert, die forde rn einen Bericht über Einkommen und Vermögen. Sie können dazu sagen, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN das sei Ihnen zu viel Arbeit; aber Sie müssen sich und bei der PDS) deswegen doch nicht zum Apologeten des Reichtums und der Reichtumskonzentration machen. Machen Wir haben in unserem Land große Entscheidungen Sie hier doch einmal halblang! in der Wirtschafts-, Sozial- und Finanzpolitik zu tref- fen. Für diese Entscheidungen ist die Verständigung (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, über Gerechtigkeitsideen sowie darüber, ob die Ver- bei der SPD und der PDS) teilung angemessen ist, wich tig. Was soll ich davon Die haben nichts anderes als einen schlichten Be richt halten, daß Sie bereits bei der Forderung nach einem gefordert. Bericht derartig verschreckt sind? Herr Kollege Meißner hat dann den Rechenschafts- (Lachen bei der CDU/CSU) bericht seiner Fraktion abgeliefert und erzählt, wie viele Anfragen sie schon gestellt hat. Die können alle Das ist mir völlig unverständlich. Ich kann dem nur in den Bericht eingehen. Wir haben ja festgestellt, entnehmen, daß Sie offensichtlich das fürchten, was daß die Datenlage dürftig ist. Dann haben wir ja viel- dabei herauskommen kann. leicht schon etwas Material. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ und bei der PDS) NEN) Aber das kenne ich ja. Es ist noch nicht lange her, Ich möchte noch einmal feststellen, daß wir hier daß wir in diesem Hause darüber diskutiert haben, über die schlichte Forderung reden, über die Vertei- ob wir einen Armutsbericht machen. Ich sage es hier lung von Einkommen und Vermögen in diesem noch einmal: Es geht dabei nicht um Datenfriedhöfe, Lande statistisch va lide zu berichten. nicht um neue Bürokratie und irgendwelche über- (Wolf-Michael Catenhusen [SPD]: Das hat flüssigen Statistiken. Wenn aber eine Gesellschaft so vor Ihnen niemand gemerkt! - Ulrich Hein zentrale und bedeutende Fragen zu behandeln hat, rich [F.D.P.]: Das war gut getarnt!) wie es bei uns derzeit der Fall ist, dann muß sie auch eine Grundlage haben, auf der sie sich verständigen Ich kann kein Skandalon daran entdecken. kann: zum Beispiel über das Maß an Ungleichheit, Meine Damen und Herren von der Koalition, wir das sie hinzunehmen und nicht mehr hinzunehmen haben seit 1963 ein Gesetz zur Bildung eines Sach- bereit ist. Ein solcher Reichtumsbericht könnte ähn- verständigenrates - - lich wie ein Armutsbericht dafür eine Grundlage bie- ten. (Zuruf des Abg. Heinz-Georg Seiffert [CDU/CSU]) In diesem Sinne bitte ich, jetzt zu dem Antrag zu- - Ich habe das besser gelesen als Sie. rückzukommen, der hier vorliegt, und nicht mehr über Schimären zu debattieren. (Zuruf von der CDU/CSU: Seit 1963?) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Seit 1963 haben wir ein Gesetz zur Bildung eines und bei der PDS sowie bei Abgeordneten Sachverständigenrates zur Begutachtung der ge- der SPD - Heinz-Georg Seiffert [CDU/ samtwirtschaftlichen Entwicklung. CSU]: Was machen Sie denn jetzt? Stimmen (Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Da hat es die Grü Sie zu? - Gegenruf der Abg. Andrea Fischer nen noch gar nicht gegeben!) [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja klar! Haben Sie das nicht gemerkt?) - In diesem Gesetz wird unter anderem festgelegt, daß eine der Aufgaben dieser sogenannten Fünf Weisen darin besteht, über die Verteilung von Einkommen Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat die und Vermögen zu berichten. Kollegin Professor Gisela Frick, F.D.P. 14226 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Feb ruar 1997

Gisela Frick (F.D.P.): Herr Präsident! Meine Damen daß eine Gesellschaftsordnung allen möglichst und Herren! Frau Fischer, die Frage hätte ich jetzt gleichmäßig die Chancen einräumt, auch Wohlstand vom Podium aus auch gestellt. Es war leider nicht zu erwerben. Was der einzelne daraus macht, ist na- klar, ob Sie zustimmen oder nicht. Wir haben es türlich unterschiedlich und hängt von den Begabun- schon häufig erlebt, daß die Argumenta tion so und gen und anderen Möglichkeiten ab. die Schlußfolgerung nachher eine andere ist. Aber das haben Sie jetzt klargestellt; Sie stimmen also zu. (Widerspruch bei der PDS) Wir können damit keine Ergebnisgleichheit errei- Meine Kollegen von der PDS, mit Ihrem Antrag auf chen. Das suggerieren Sie nämlich durch die Anfor- die Erstattung eines Reichtumsberichtes haben Sie derung eines solchen Berichtes. Deshalb lehnen wir sich selbst ein Armutszeugnis ausgestellt. von der F.D.P. diesen Antrag ab. (Beifall der Abgeordneten Carl-Ludwig Danke schön. Thiele [F.D.P.] und Heinz-Georg Seiffert [CDU/CSU]) (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- ten der CDU/CSU - Wolf-Michael Catenhu- Warum? Herr Gysi, Sie haben in erfrischender Offen- sen [SPD]: Das wundert uns aber wirk lich!) heit gesagt, daß dieser Be richt die Aufgabe haben soll, darzustellen und zu zeigen, was zum Verteilen da ist. Mit anderen Worten heißt das: Sie haben Ihre Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Ich schließe die alte Umverteilungsideologie immer noch nicht auf- Aussprache. gegeben und immer noch nicht erkannt, daß die Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Wirtschafts- und Gesellschaftsordnungen, die auf ei- Drucksache 13/6527 an die in der Tagesordnung auf- nem solchen Umverteilungssystem basieren, nicht zu geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit mehr Wohlstand in der Bevölkerung führen einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Über- (Beifall bei der F.D.P. sowie des Abg. Heinz weisung so beschlossen. Georg Seiffert [CDU/CSU]) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf: und insbesondere auch nicht zu mehr Wohlstand in den einkommensschwächeren Bevölkerungsschich- Beratung der Großen Anfrage der Abgeordne- ten führen, sondern daß ganz im Gegenteil alle diese ten Angelika Beer, Winfried Nachtwei, Chris tian Systeme, die auf Umverteilung beruhen, in den letz- Sterzing und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE ten Jahren kaputtgegangen sind und eine verhee- GRÜNEN rende Bilanz hinterlassen haben. Wir haben mittler- Neue Sicherheitspolitik der Bundesrepublik weile alle Mühe damit, sie wieder herzurichten. Deutschland (I) Diese Systeme führen nicht zu Wohlstand. Das hät- - Drucksachen 13/4287, 13/5181 - ten Sie doch in der Zwischenzeit einsehen können. Sie haben es offensichtlich immer noch nicht verstan- Dazu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion den. Deshalb muß ich jetzt sagen: Wir brauchen ei- Bündnis 90/Die Grünen vor. nen solchen Reichtumsbericht nicht. Interfraktionell ist vereinbart worden, die Redebei- (Uwe Hiksch [SPD]: Sie kennen die Leute träge zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu alle besser!) geben. Es handelt sich um die Beiträge der Kollegin- nen und Kollegen Krautscheid, Zumkley, Beer, Nol- Insofern waren nämlich die Ausführungen des Kol- ting, von Einsiedel und für die Bundesregierung des legen Meißner ganz aufschlußreich. Eines der letzten Parlamentarischen Staatssekretärs Wilz. *) Sind Sie Fleißkärtchen hat sich nämlich die SPD ziemlich ge- mit dieser Abweichung von der Geschäftsordnung nau vor einem Jahr verdient. Da haben Sie eine sehr einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das mit der umfangreiche Anfrage gestellt. Diese ist sehr um- erforderlichen Mehrheit so beschlossen. fangreich und sehr ordentlich beantwortet worden. Von daher haben wir sehr viel Mate rial vorliegen. Es Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Ent- gibt dabei also überhaupt keine Klagen. schließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grü- nen auf Drucksache 13/6978. Wer stimmt für diesen Sie müssen verstehen, daß unser Gesellschaftssy- Entschließungsantrag? - Die Gegenprobe! - Enthal- stem gerade darauf beruht, daß man unter anderem tungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stim- auch Reichtum erwerben kann. men der Koalitionsfraktionen und der SPD gegen die (Dr. Gregor Gysi [PDS]: Man kann doch Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und der wenigstens darüber reden!) Gruppe der PDS abgelehnt. Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tages- - Ja natürlich, wir reden ja auch darüber. Das ist ordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deut- doch gar nicht das Problem. Ich habe Ihnen nur ge- schen Bundestages auf morgen, Freitag, den sagt, daß Sie diesen Be richt wollen, um nachzuwei- 21. Februar 1997, 9 Uhr ein. sen, was zu verteilen ist. Die Sitzung ist geschlossen. (Heinz-Georg Seiffert [CDU/CSU]: Was zu - holen ist!) (Schluß der Sitzung: 22.09 Uhr) Das ist die absolut falsche Fragestellung. Eben das versuche ich Ihnen hier zu erklären. Es geht darum, *) Anlage 4 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997 14227*

Anlagen zum Stenographischen Bericht

Anlage 1 Anlage 2

Liste der entschuldigten Abgeordneten Antwort des Parl. Staatssekretärs Dr. Paul Laufs auf die Frage entschuldigt bis Abgeordnete(r) des Abgeordneten Wolfgang Behrend (SPD) (Druck- einschließlich sache 13/6931 Frage 3): Beck (Bremen), BÜNDNIS 20. 2. 97 Wird die Bundesregierung auf die Deutsche Post AG einwir- Marieluise 90/DIE ken, um zu verhindern, daß Postgüter zukünftig ausschließlich per Lkw und nicht mehr per Bahn transportiert werden, und wie GRÜNEN steht die Bundesregierung zu dem Vorschlag, den Bahnverkehr ebenso wie die Luftfahrt und die Binnenschiffahrt durch eine Be- Blunck, Lilo SPD 20. 2. 97 freiung von der Mineralölsteuer zu begünstigen? Brandt-Elsweier, Anni SPD 20. 2. 97 Die Auswahl der geeigneten Transportwege für Fischer (Unna), Leni CDU/CSU 20. 2. 97 Postgüter unterliegt nach der Postreform des Jahres 1994 ausschließlich der unternehmerischen Entschei- Grießhaber, Rita BÜNDNIS 20. 2. 97 dungskompetenz der Deutschen Post AG. 90/DIE Nach Angaben der Deutschen Post AG werden GRÜNEN derzeit werktäglich ca. 20 % der Frachtsendungen Gysi, Andrea PDS 20. 2. 97 auf der Schiene transportiert, am Wochenende ca. 60 %. Es läßt sich derzeit nicht absehen, in welchem Hartmann, Hanns-Peter PDS 20. 2. 97 Umfang die wachsenden Ansprüche der Postkunden Hasenfratz, Klaus SPD 20. 2. 97 an Laufzeitqualitäten eine weitere Verlagerung auf die Straße bewirken werden. Kanther, Manfred CDU/CSU 20. 2. 97 Für Brieftransporte macht die Deutsche Post AG Körper, Fritz-Rudolf SPD 20. 2. 97 geltend, daß die von der Post-Kundenschutzverord- Kolbe, Manfred CDU/CSU 20. 2. 97 nung seit 1. Januar 1996 geforderte Laufzeitqualität mit dem bisherigen Angebot der Deutschen Bahn Dr.-Ing. Laermann, F.D.P. 20. 2. 97 AG nicht erreicht werden kann, weil die zeitlichen Karl-Hans Rahmenbedingungen des Brieftransports (Abgang Leidinger, Robert SPD 20. 2. 97 gegen 21.15 Uhr, Eingang im Zielgebiet spätestens um 4.15 Uhr) von der Deutschen Bahn AG nicht er- Lüth, Heidemarie PDS 20. 2. 97 füllt werden. Dr. Mayer (Siegertsbrunn), CDU/CSU 20. 2. 97 Gleichwohl wird die Deutsche Post AG auf Martin Wunsch der Bundesregierung in weiteren Gesprä- chen mit der Deutschen Bahn AG eine Fortführung Möllemann, Jürgen W. F.D.P. 20. 2. 97 der Zusammenarbeit prüfen. Opel, Manfred SPD 20. 2. 97 Zur Frage nach einer möglichen mineralölsteuerli- Poppe, Gerd BÜNDNIS 20. 2. 97 chen Begünstigung des Bahnverkehrs ist zu sagen, 90/DIE daß die Bundesregierung nicht die Absicht hat, eine GRÜNEN Mineralölsteuerbefreiung für den Bahnverkehr ein- zuführen. Sie tritt vielmehr dafür ein, die Begünsti- Reschke, Otto SPD 20. 2. 97 gung des Luftverkehrs abzuschaffen und wird dafür Schoppe, Waltraud BÜNDNIS 20. 2. 97 eine einheitliche Lösung für die Europäische Union 90/DIE im Zuge der bis zum 31. Dezember 1997 geplanten GRÜNEN Überprüfung der Steuerbefreiung durch die ein- schlägigen EWG-Richtlinien anstreben. Schultz (Everswinkel), SPD 20. 2. 97 Reinhard Seib, Marion CDU/CSU 20. 2. 97 Anlage 3 Tauss, Jörg SPD 20. 2. 97 Zu Protokoll gegebene Reden Vergin, Siegfried SPD 20. 2. 97 zum Zusatztagesordnungspunkt 8 Voigt (Frankfurt), SPD 20. 2. 97 (Beschlußempfehlung zu der Verordnung Karsten D. zur Umsetzung der Richtlinie 80/68/EWG Vosen, Josef SPD 20. 2. 97 vom 17. Dezember 1979 über den Schutz von Grundwasser gegen Verschmutzung Wallow, Hans SPD 20. 2. 97 durch bestimmte gefährliche Stoffe) Willner, Gert CDU/CSU 20. 2. 97 Susanne Kastner (SPD): Die Bundesregierung wi ll Zwerenz, Gerhard PDS 20. 2. 97 mit der jetzt im Eilverfahren durch den Bundestag 14228* Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997

gebrachten Grundwasserverordnung end lich die hält der Entwurf keine Regelung zum Schutz des EG-Grundwasserrichtlinie vom 17. Dezember 1979 Grundwassers vor Nitrat und vor Pestiziden. In der vollständig umsetzen. Wir könnten ihr dazu eigent- Richtlinie von 1979 werden in der Stoffliste II neben lich nur gratulieren, wären die Umstände nicht so anderen Stoffen nur Biozide, Ammoniak und Ni trate traurig. Man muß sich die Entwicklung dieser Ver- aufgeführt, deren Ableitung ins Grundwasser verhü- ordnung noch einmal deutlich vor Augen halten, um tet werden soll. Die heute besonders oft auftretenden die Ernsthaftigkeit, mit der diese Bundesregierung und nachteiligen Grundwasserbelastungen mit Pesti- europäische Richtlinien zur Gesundheitsvorsorge ziden und Nitrat aus der landwirtschaftlichen Pro- und Urteile des Europäischen Gerichtshofes umsetzt, duktion sind aber im Prinzip mitgemeint. auch richtig würdigen zu können. Um dies klarzustellen, hat die SPD in einem Ände- Im Dezember 1979 wird die EG-Grundwasserricht- rungsantrag zur Grundwasserverordnung im Um- linie verabschiedet, und damit ist die Bundesrepu- weltausschuß gefordert, eine erläuternde Anmer- blik Deutschland laut EG-Vertrag verpflichtet, diese kung im Anhang der Verordnung aufzunehmen, die in deutsches Recht umzusetzen. Im Februar 1991, feststellt, daß die in Liste II aufgeführten Biozide also 12 Jahre später, entscheidet der Europäische Ge- auch die Pestizide und die Stoffe Ammoniak und Ni- richtshof, daß die Bundesrepublik Deutschland ge- trite sowie deren Umwandlungsprodukt Nitrat um- gen diese Verpflichtung verstoßen hat, weil noch fassen. Diese Klarstellung ist auch deshalb notwen- nicht alle erforderlichen Maßnahmen umgesetzt dig, da in der im Entwurf vorliegenden EG-Rahmen sind. Was folgt daraus für diese Bundesregierung? Wasserrichtlinie ein Einleitungsverbot für Biozide Nichts 1 Sechs Jahre lang ignoriert die Bundesregie- und Pflanzenschutzmittel und Ni trat geregelt werden rung dieses Urteil und verweist darauf, daß die Ziele soll. Es wäre Ihre Aufgabe gewesen, liebe Frau Mer- dieser EG-Richtlinie ja im Prinzip schon gängige Pra- kel, auf diese Klarstellung zu achten. Daß sie dies xis sind. Ich bestreite gar nicht, daß die zur Abstim- nicht getan haben, zeigt Ihr Engagement in der gan- -mung stehende Verordnung zur Umsetzung der EG zen Angelegenheit. Um aber eine weitere Beratung Grundwasserrichtlinie nur formale Bedeutung hat, im Bundeskabinett und damit eine weitere zeitliche aber was ist das für eine Auffassung von Recht, die Verzögerung zu vermeiden, wurde dies jetzt in einer Sie da seit Jahren praktizieren? Wissen Sie, wenn Protokollnotiz der Beschlußempfehlung des Umwelt- diese Rechtsauffassung der Bundesregierung zur ausschusses aufgenommen. Da die Verordnung aber gängigen Praxis in dieser Republik würde, dann auch noch im Bundesrat beraten und beschlossen wäre das Ende von Recht und Ordnung, auf die Sie werden muß, erwarte ich, daß das Bundeskabinett doch sonst so gerne pochen, bald erreicht. bis dahin auch unserem Änderungsantrag zuge- Es ist dabei auch kein Trost, daß sich die allermei- stimmt hat und diese Klarstellung dann beschlossen sten Bundesländer nicht viel besser verhalten als die wird. Bundesregierung, wie die anderen Anklagen wegen Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang aber der Nichtumsetzung der Vogelschutzrichtlinie und auch einmal etwas Grundsätzliches zu den Gesetzge- der Richtlinie zum Schutz der Oberflächengewässer bungsverfahren in der Europäischen Union sagen. zeigen; denn ein Vorbild ist die Bundesregierung ja Dieses und viele andere Beispiele zeigen, daß die nun wirklich nicht. Gesetzgebung in der EU dringend aus den bürokrati- Ich kann die Entscheidung der Europäischen Kom- schen, undemokratischen und für die Öffentlichkeit mission, zum erstenmal in der Geschichte der EU we- undurchschaubaren Gremien, wie den hinter ver- gen fortdauernder Nichtumsetzung eine Verurtei- schlossenen Türen tagenden Fachausschüssen und lung zu Zwangsgeldern zu beantragen, gut verste- Ministerräten, herausgeholt werden müßte, um eine hen. „Wir sind nicht nur verantwortlich für das, was solche Mißachtung des Rechts der Gemeinschaft, wie wir tun, sondern auch für das, was wir nicht tun" - es die Bundesregierung zum wiederholten Male vor- treffender als Molière hätte ich es auch nicht aus- führt, zu verhindern. Die Behandlung der BSE-Seu- drücken können. Für Sie, liebe Frau Merkel, ist dies che oder die Zulassung von gentechnisch veränder- eine schallende Ohrfeige und für die Europapolitik tem Mais und Soja zeigen, daß die Verbraucher- und dieser Bundesregierung eine Blamage erster Klasse. Gesundheitsinteressen in der EU nicht den notwen- digen Vorrang vor wi rtschaftlichen Interessen genie- Wenn es bei den nunmehr drohenden Zwangs- ßen. Einigen fortschrittlichen EG-Richtlinien zum geldern in Höhe von rund 500 000 DM täglich nicht Umweltschutz stehen viele von der Wirtschaftslobby um Steuergelder ginge, sondern diese S trafe vom verhinderte, überfällige Regelungen auf dem Gebiet Verursacher selbst, also von den Mitgliedern der der Umwelt-, Agrar-, Energie-, Verkehrs- und Wi rt Bundesregierung und den zuständigen Beamten im -schaftspolitik gegenüber. Nur wenn Umweltschutz- Ministerium persönlich gezahlt werden müßte, hät- anforderungen im Gewässerschutz, Artenschutz oder ten Sie sich ja ruhig noch mehr Zeit lassen können. Klimaschutz auf hohem Niveau durchgesetzt und in So aber muß tatsächlich schnell gehandelt werden. die Fachpolitikbereiche integriert werden - wie es Die SPD-Fraktion wird der vorliegenden Verordnung der Vertrag von Maastricht vorsieht - können die deshalb zustimmen. großspurigen Beschlüsse über die nachhaltige um- weltverträgliche Entwicklung in Deutschland, in Da die Bundesregierung aber die EG-Grundwas- - Europa und weltweit verwirklicht werden. serrichtlinie nach dem neuen § 6 a des Wasserhaus- haltsgesetzes nur streng formal mit dieser zustim- Die SPD-Fraktion hat mit ihrem Antrag im Um- mungsbedürftigen Verordnung umsetzen wi ll, ent welt- und Europaausschuß die Bundesregierung auf- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997 14229* gefordert, unverzüglich die Umsetzung des europäi- war es nicht mehr möglich, rudimentäre Verbesse- schen Umweltrechts zu gewährleisten. Außerdem rungen wie beispielsweise den Schutz vor hormonell soll die Öffentlichkeit über das bestehende europäi- und cytotoxisch wirkenden Chemikalien im Grund- sche Umweltrecht besser informiert werden. Dies wasser vorzunehmen. In einer Nacht- und Nebel- wurde von allen Fraktionen im Bundestag unter- aktion muß statt einer planvollen parlamentarischen stützt. Sie, liebe Frau Merkel, und die Bundesregie- Beratung die Verordnung schnell durch alle Gremien rung insgesamt sollten sich deshalb dringend daran- gepeitscht werden. Gestern Umweltausschuß, heute machen, dies jetzt auch end lich zu tun. Weitere Ver- Plenum - diese Hetze hatten wir schon bei der ver- urteilungen durch den Europäischen Gerichtshof späteten Umsetzung der europäischen Öko-Audit- und weitere Androhungen von Zwangsgeldern we- Richtlinie. gen Mißachtung können wir uns nicht leisten, es sei denn, die Bundesregierung würde diese dann tat- Und angesichts der Tatsache, daß zur Zeit aus der sächlich einmal aus der eigenen Tasche bezahlen. Zuständigkeit der Umweltministerin neben den 15 verspäteten noch zig andere europäische Richtlinien auf rechtzeitige Umsetzung harren, läßt diese Ver- Dr. Jürgen Rochlitz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): weigerungshaltung Schlimmes ahnen. Vielleicht soll- Ob wir dem Herrn Bundeskanzler zuhören oder der ten wir uns angesichts des künftigen Arbeitsanfalls Frau Umweltministerin, stets erzählen Bundesregie- gleich um Bonn als neuen Sitz des Europäischen Ge- rung und Koalitionsredner die Mär vom deutschen richtshofs bemühen. Immerhin halten wir bereits Spitzenreiter, insbesonders in der europäischen Um- heute den traurigen Europarekord von 21 Ver- weltpolitik. In Wirklichkeit jedoch ist die Bundesre- tragsverletzungsverfahren. publik schon lange nicht mehr Motor, sondern Brem- ser. Der große Europäer Helmut Kohl entpuppt sich so im Detail als Hinterbänkler der europäischen Um- Wir jedenfalls haben an der Rolle des deutschen weltpolitik. In einer beispiellosen Mischung aus Per- Musterknaben seit geraumer Zeit erhebliche Zwei- fektion im Unwichtigen und Schlamperei im Wichti- fel: 123 europäische Richtlinien, so teilte das Wi rt gen hat seine Ministerialbürokratie in ganz Europa -schaftsministerium Mitte Januar mit, seien bisher inzwischen negative Umweltschlagzeilen gemacht. nicht rechtzeitig umgesetzt worden, davon 15 aus Aber wer die Umweltpolitik in seinem eigenen Land dem Zuständigkeitsbereich des Umweltministeriums. nicht pflegt, kann bekanntlich auf Dauer auch in Die Bundesregierung selbst sprach Mitte November Brüssel nicht glänzen. Dabei warten gerade die klei- noch von insgesamt 161 Fällen. Eine Diskrepanz, die neren, aber progressiveren Mitgliedstaaten darauf, die Frau Ministerin übrigens dem Parlament einmal daß die Bundesrepublik endlich wieder Lokomotiv- erklären sollte. funktion in der europäischen Umweltpolitik über- nimmt. Auch wenn heute abend mit der Grundwasser richtlinie eine weitere europäische Direktive umge- Bei der Umsetzung der Grundwasserrichtlinie setzt sein sollte, das Dilemma mit den europäischen wählte die Koalition aus Furcht, für ihr Versäumnis Richtlinien bleibt bestehen: Zu den nicht rechtzeitig mit einem Tages-Zwangsgeld in Höhe von knapp umgesetzten Richtlinien gesellen sich nämlich noch 530 000 DM belangt zu werden, ein Express-Verfah- die Vertragsverletzungsverfahren aufgrund mangel- ren, bei dem eine Einwirkung auf die Listen der ge- hafter Umsetzung. Ich nenne hier nur das deutsche fährlichen Stoffe nicht mehr möglich war. Zu solcher Umweltinformationsgesetz. Die Beanstandungen der Flickschusterei können wir uns nur enthalten. Europäischen Kommission sind vollkommen begrün- det. Um dem abzuhelfen, hat fast auf den Tag genau vor einem Jahr unsere Fraktion eine Gesetzesände- Günther Bredehom (F.D.P.): Die von der SPD bean rung zum UIG eingereicht, an deren Beratung die -tragte heutige Debatte ist eigentlich überflüssig, Koalition jedoch trotz gerichtlichen Drucks kein In- denn inhaltlich ist der Verordnungsentwurf der Bun- teresse hat. desregierung zum Schutz des Grundwassers relativ unstrittig. Dies hat die gestrige Sitzung des Umwelt- Nach Auskunft der Bundesregierung liegt der ausschusses gezeigt, in der der Verordnung bei nur Grund für die nicht rechtzeitige Umsetzung der zwei Stimmenthaltungen mit den Stimmen der SPD Richtlinien in der langwierigen Abstimmung mit den einstimmig zugestimmt wurde. Ländern und dem Bundesrat. Doch der wahre Grund ist, daß Sie von der Bundesregierung sich elementar- Mit der Novellierung des Wasserhaushaltsgesetzes sten ökologischen Zwängen verweigern, daß Sie eine zu Ende des vergangenen Jahres hat die Bundesre- Umweltpolitik der Konfrontation mit Opposition und gierung die Rechtsgrundlage für eine Umsetzung der Ländern durchziehen, statt eine mögliche Abstim- EG-Richtlinie zum Grundwasserschutz in na tionales mung auf hohem Niveau zu suchen. Ob Öko-Audit- Recht geschaffen. Der Bundesrepublik drohen auf Gesetz, Beschleunigungsgesetze oder Wasserhaus- Grund der bisherigen Nichtumsetzung der EG-Richt- haltsgesetz, immer häufiger landen Sie mit Ihrem linie vom Europäischen Gerichtshof Zwangsgelder Konfrontationskurs im Vermittlungsausschuß. in erheblichem Umfang. Deshalb muß die Grundwas- serschutzverordnung schnellstmöglich verabschie-- Auch bei der heute vorliegenden Verordnung zur det und umgesetzt werden. Dabei bedaure ich sehr, Grundwasserrichtlinie waren Abstimmung und Mit- daß wir die Thematik unter einem so großen Zeit- arbeit nicht gefragt. Obwohl technisch und wissen- druck erörtern müssen. Es wäre doch erfreulich ge- schaftlich längst nicht mehr auf der Höhe der Zeit, wesen, wenn dies ohne den Druck der Strafgeldan- 14230* Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997

drohung geschehen wäre. Ich fordere die Bundesre- in Sicht sind oder weil der Bundesregierung der poli- gierung - aber auch uns als Parlament - auf, hier zu- tische Wille fehlt, ihren Pflichten nachzukommen. künftig etwas zielstrebiger und effektiver europäi- sche Richtlinien in nationales Recht umzusetzen. So beispielsweise bei der Flora-Fauna-Habitat- Richtlinie, die nun irgendwann mit der Nove lle zum In diesem Zusammenhang weise ich ausdrücklich Naturschutzgesetz umgesetzt werden soll, welches darauf hin, daß die Umsetzung der Richtlinie den wiederum ebenfalls ein Jahrzehnt auf seine drin- Grundwasserschutz der Bundesrepublik Deutsch- gende Novellierung warten mußte. Hier geht es um land nicht grundsätzlich ändern wird. Die Umset- materielle Umsetzungen, die scheinbar unbequem zung ist ein rein formaler Akt. Denn mit der Verord- sind und deshalb immer wieder auf die lange Bank nung sollen die Vorschriften des Wasserhaushaltsge- geschoben werden. setzes zum Grundwasserschutz und die Vorschriften des Abfallrechtes hinsichtlich bestimmter gefährli- Zurück zur Grundwasserrichtlinie. Der Antrag der cher Stoffe im Sinne der Richtlinie 80/68/EWG SPD und die Hinweise von Professor Jürgen Rochlitz rechtsförmlich präzisiert und konkretisiert werden. zeigen, daß die EU-Richtlinie mittlerweile 17 Jahre auf dem Buckel hat. Begriffe werden heute anders Ich begrüße es sehr, daß wir uns im Umweltaus- verwendet, neue Stoffgruppen als gefährliche Stoffe schuß mit der SPD schnell einigen konnten. Dadurch eingeordnet. Kurzum, die EU-Richtlinie ist selber no- wird es möglich, den mit der Novellierung des Was- vellierungsbedürftig, und die EU-Behörden haben ja serhaushaltsgesetzes im letzten Spätherbst gesteck- auch schon seit 10 Jahren den Auftrag, einen Novel- ten Zeitplan einzuhalten. Das Risiko der Strafzahlun- lierungsvorschlag zu erarbeiten. gen haben wir somit gemindert. Nun sind der Bun- desrat und insbesondere die SPD-geführten Länder Wir sind der Auffassung, daß es die Bundes- gefordert, die Verordnung auch weiterhin schnell- republik mit der vorliegenden Verordnung in gewis- stens auf den Weg zu bringen. ser Weise verpaßt hat, ein Zeichen zu setzen, um ihre abgetretene Vorreiterrolle in Sachen Gewässer- und Abschließend weise ich darauf hin, daß noch zwei Grundwasserschutz in der EU wiederzuerlangen. weitere Strafverfahren durch den Europäischen Ge- richtshof auf Grund der Nichtumsetzung in einigen Sie hätte durchaus die von SPD und BÜNDNIS 90/ Bundesländern drohen. Zum einen wurde bislang DIE GRÜNEN geforderten Formulierungsänderun- die Richtlinie für die Trinkwassergewinnung (75/440) gen direkt in die Verordnung hineinschreiben kön- trotz EuGH-Urteil aus dem Jahr 1991 auf Grund des nen - auch wenn das deutsche materielle Recht diese Widerstandes des Saarlandes und Niedersachsens Regelungen schon enthält. Sie hätte neben den noch nicht in allen Bundesländern umgesetzt. Auch Fremdstofföstrogenen beispielsweise auch die Agro- die EU-Bestimmung zum Schutz wildlebender Vo- chemikalien aufnehmen können. gelarten wurde noch nicht in das Landesjagdrecht Dies wäre ein Beitrag gewesen, die notwendige des Saarlandes übernommen. Der Bund hat seine Novellierung des Grundwasserschutzrechtes auf EU- Hausaufgaben gemacht. Nun sind die Länder gefor- Ebene voranzutreiben. dert, ihren Verpflichtungen nachzukommen.

Ulrich Klinkert Parl. Staatssekretär bei der Bundes- Eva Bulling-Schröter (PDS): Der vorliegende Ge- ministerin für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsi- setzentwurf setzt EU-Recht in na tionales Recht um. cherheit: Wir beschließen heute über eine zeitlich äu- Wir haben ja eben schon mehrfach gehört, daß in der ßerst dringliche Vorlage. Zeitdruck ist sicher nichts Bundesrepublik dieses Recht schon lange in mate- Ungewöhnliches in diesem Hohen Hause, hier ist er rielles Recht umgesetzt wurde und es nur um einen aber von besonderer, bisher unbekannter Art: die formalen Rechtsakt geht. Zwangsgeldandrohung wegen Nichtbefolgung eines Dennoch ist es irgendwie seltsam, daß erst eine Urteils des Europäischen Gerichtshofs. halbe Million DM pro Tag Strafgelder angedroht Die vorliegende Grundwasserverordnung setzt werden müssen, damit sich die Bundesregierung eine Richtlinie der EU vom Dezember 1979 um. nach 18 Jahren endlich bewegt. Wenn es wirklich Warum, so drängt sich die Frage auf, so spät? Die nur um Formalien geht, ist dies um so unverständli- Richtlinie ist zunächst durch Verwaltungsvorschrif- cher. ten der Länder umgesetzt worden, und zwar inhalt- Die EU-Grundwasserrichtlinie ist nur eine von lich ohne Beanstandungen durch die Kommission. 123 EU-Richtlinien, die bis zum 1. März letzten Jah- Nach kontroversen Diskussionen über die richtige res oder früher hätten umgesetzt werden müssen, in Rechtsform der Umsetzung hat der EuGH am Deutschland aber noch auf eine rechtliche Umset- 28. Februar 1991 entschieden, daß wesentliche Teile zung warten. Im Verantwortungsbereich des BMU der Richtlinie durch eine Rechtsnorm in deutsches sind dies 15 Richtlinien. Nur sieben davon exis tieren Recht transformiert werden müssen. Insofern bringt schon als Verwaltungsvorschriften, müssen also - wie die Verordnung in der Sache nichts Neues. Zunächst bei der vorliegenden Grundwasserrichtlinie - ledig- mußte aber im Wasserhaushaltsgesetz die gesetzli- lich formal in eine Rechtsnorm umgesetzt werden. che Ermächtigung zum Erlaß von Rechtsverordnun- gen zur Umsetzung von EG-Recht geschaffen wer- Die anderen acht Richtlinien liegen jedoch teil- den. Das Gesetzgebungsverfahren konnte erst mit weise seit mehreren Jahren auf Eis, weil im Gezerre Inkrafttreten der 6. Novelle zum Wasserhaushaltsge- zwischen EU, Bund und Ländern keine Einigungen setz am 19. November 1996 abgeschlossen werden. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997 14231*

Ich kann an dieser Stelle auf Einzelheiten nicht ein- dem Sinn dieser Ins trumente, nach dem interessen- gehen, möchte aber doch deutlich machen, daß das politischen Hintergrund fragt kaum jemand mehr. federführende Umweltministerium alle Beteiligten Deshalb ist es wichtig, auf den Hintergrund dieser von Anfang an auf den durch das EuGH-Urteil ent- Neuorientierung einzugehen. Denn es geht ganz ein- standenen Zeitdruck hingewiesen und auf eine fach um Machtpolitik. Die neue deutsche Außenpoli- schnellere Verabschiedung der Novelle - notfalls so- tik soll militärisch fundiert werden, damit die Bun- gar unter Beschränkung auf die politisch unstreitigen desregierung in den allianzinternen Konflikten ihre europapolitischen Teile - gedrängt hat. Position stärkt. Sie ist für eine Einbeziehung der mili- Um so mehr freue ich mich, daß wir nach der end- tärischen Strukturen WEU in die Europäische Union, lich zustande gekommenen Einigung über die WHG- weil sie hofft, auch darüber ihren Einfluß auszu- Novelle sehr rasch die Grundwasserverordnung ver- bauen. Und es werden gerade Interventionskräfte abschieden können. Nicht nur die Bundesregierung aufgebaut, weil die Militäreinsätze der Industriestaa- hat rasch gehandelt, sondern auch der nach § 59 des ten in Zukunft interventionistischer Natur sein wer- Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetzes zu beteili- den. Diese Politik soll der Durchsetzung der seit 1989 gende Bundestag. Für die zügige Beratung und neu definierten sogenannten nationalen Interessen breite Zustimmung möchte ich allen danken. Beson- dienen. ders hervorheben möchte ich das Verständnis der Der Bundesverteidigungsminister hat es - und hier SPD-Fraktion, die, um das Verfahren nicht zu verzö- muß ich ihm ein Kompliment machen - geschickt gern, einen Antrag zur Änderung der Verordnung verstanden, die Neuorientierung der deutschen Au zurückgezogen und sich damit einverstanden erklärt en- und Sicherheitspolitik und insbesondere die hat, ihrem Anliegen durch eine Protokollnotiz im Be- Rolle der darin zu verkaufen. Schritt für richt des Umweltausschusses Rechnung zu tragen. Schritt hat er den militärischen Handlungsspielraum Der Weg ist damit frei für den letzten Schritt, die der Bundesrepublik erweitert und dabei nach allen Zustimmung des Bundesrates. Wenn diese, wie ich Regeln der PR seine Politik in der Öffentlichkeit ver- hoffe, am 14. März 1997 erteilt wird, können wir mit harmlost. der Verkündung der Verordnung noch im März Voll- In der öffentlichen Debatte wehrt sich der Verteidi- zug des EuGH-Urteils melden und damit vermutlich gungsminister gegen Vorwürfe, die wir ihm gar nicht sogar noch die Erhebung der Klage abwenden. Fi- gemacht haben. Wenn wir den Aufbau der Krisenre- nanzieller Schaden entsteht nicht, der europapoliti- aktionskräfte kritisieren, dann behaupten wir nicht, sche Schaden wird in Grenzen gehalten. Künftig daß Alleingänge" der Bundesrepublik zu erwarten muß es uns - die Rechtsgrundlagen hierfür sind jetzt sind. Das wäre eine verharmlosende Darstellung der vorhanden - möglich sein, ohne Verzug EU-Recht Entwicklung. umzusetzen. Im Gegenteil, gerade die multilaterale S trategie Bleibt mir als letztes die wiederholte Bitte an die des Verteidigungsministers führte zur Erweiterung Bundesländer, die in ihre Zuständigkeit fallenden des militärischen Handlungsspielraums der deut- Umsetzungsaufgaben ebenso rasch voranzutreiben schen Außenpolitik. Die Strategie ist eine der flexi- wie der Bund. Nur wenn es uns insgesamt in blen Einsatzmöglichkeiten, und zwar nicht nur im Deutschland gelingt, die Verhängung von Zwangs- operativen Sinn, sondern gerade auch im multilatera- geldern zu verhindern, können wir uns weiterhin in- len Rahmen, mal in der NATO, mal in der WEU, mal tional mit Anspruch auf Glaubwürdigkeit dafür terna bilateral und nicht immer im UNO-Auftrag. einsetzen, unsere Umwelt nachhaltig zu schützen. Das Bundesverfassungsgericht hat zu letzterem im wahrsten Sinne des Wortes Schützenhilfe geleistet, indem es die Ergebnisse einer jahrelangen völker- rechtlichen Diskussion und die interna tionale Reali- Anlage 4 tät beiseite wischt und die NATO zu einem System kollektiver Sicherheit erklärt. Die Regierung hat in Zu Protokoll gegebene Reden der Konsequenz erklärt, daß ein Einsatz der Bundes- zu Tagesordnungspunkt 10 wehr durch ein Militärbündnis nicht unbedingt einer (Große Anfrage: Neue Sicherheitspolitik vorherigen Zustimmung der UNO bedarf. Daraus der Bundesrepublik Deutschland - I -) muß ich folgern, daß ein Beschluß der NATO für ei- nen Einsatz genügen kann. Angelika Beer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Prioritäten bei der Umsetzung sind innenpoli- Wenn ich mir die Entwicklung der deutschen Außen- tisch klar gesetzt und lassen sich zum Beispiel an den und Sicherheitspolitik in den letzten Jahren so an- Haushaltsdebatten zeigen. Der Militärhaushalt wird, sehe, die im Parlament auf ein Minimum reduziert verglichen mit anderen, verschont. Das kann man wurde, dann beunruhigt mich vor allem eines: Es daran sehen, daß genug Geld für den Aufbau neuer gibt kaum mehr Stimmen, die sich der bedrohlichen Kapazitäten vorhanden ist. Entwicklung entgegenstemmen. Die Sozialdemokra- -ß tie hat inzwischen die Neuausrichtung der deutschen In Calw wird - was der Verteidigungsminister Außenpolitik unter Kohl und Rühe akzeptiert nach nicht in der Öffentlichkeit breittritt -, die zukünftige dem Motto: Wenn die Instrumente denn schon da Elitetruppe der Bundeswehr, das Kommando Spezial- sind, dann können sie auch genutzt werden. Nach kräfte aufgebaut. Von der sma rten Kämpfertruppe 14232* Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997 dringen nur die freundlichen Aufgaben nach außen, zum einen sicherlich Ausfluß eines tiefsitzenden Miß- wie „Retten und Befreien" von Geiseln. Die proble- trauens gegenüber der Ins titution Bundeswehr, aber matischen Aspekte mußten wir dem Verteidigungs- zum anderen auch ein Mißtrauen gegenüber dem minister durch mehrfaches Nachfragen erst aus der grundgesetzlich verankerten Primat der Politik. Die Nase ziehen. Denn die Brisanz beim KSK liegt auf Bundeswehr ist unzweifelhaft ein Instrument deut- drei Ebenen: zum einen in der Aufgabenstellung, scher Sicherheitspolitik, aber beileibe nicht das ein- zweitens bei den rechts- und innenpolitischen Fol- zige. Unser vordringliches Ziel ist und bleibt das Be- gen und drittens im außenpolitischen Aspekt: Die treiben einer präventiven Sicherheitspolitik, die als deutschen Sicherheitspolitiker wollen inte rnational Querschnittsaufgabe vieler Politikbereiche zu verste- auch an der kämpfenden Spitze dabeisein. hen ist. Kontinuierliche sicherheitspolitische Wirkun- gen ergeben sich durch eine verläßliche Diploma tie, Bereits auf Grund der jetzt vorliegenden Informa- die Stabilität fördert, Spannungen abbaut und Ver- tionen muß befürchtet werden, daß das Parlament im trauen schafft, durch eine Entwicklungspo litik, die Regelfall erst nachträglich informiert wird. Armut bekämpft, Migrationsursachen vorbeugt und Die Elitetruppe bildet die Avantgarde einer Drei- gleiche Entwicklungschancen ermöglicht, durch eine Klassen-Armee: An erster Stelle die Soldaten des Menschenrechtspolitik, die demokratische Struktu- KSK, dann die Krisenreaktionskräfte und unter fer- ren entwickelt, Meinungsfreiheit fördert und Minder- ner liefen die Hauptverteidigungskräfte (HVK). Dies heitenrechte durchsetzt, durch eine Außenwirt- drückt sich auch ganz konkret in den Finanzen aus. schaftspolitik, die allen Ländern die faire Chance der Das KSK bekommt, was es braucht, die Kosten sind eigenen Entwicklung gibt, durch die Vereinbarung weit höher, als in der Antwort auf unserer Kleine An- von vertrauensbildenden Maßnahmen, die Bedro- frage angegeben, die Krisenreaktionskräfte haben hungsängste abbauen und Rüstungswettläufe ver- bei Materialbedarf und Ausbildung die Priorität, und hindern, und durch die Erarbeitung internationaler die Hauptverteidigungskräfte sind im nächsten Jahr- Konventionen, die weitere Abrüstungsschritte er- hundert dran. möglichen und Proliferation bekämpfen.

Die smarten Kämpfer sind die ausgereifteste Form Auf all diesen Gebieten kann auch die Bundes- des Soldaten neuen Typs, der von Herrn Willmann wehr eine wichtige Rolle spielen. Wer nicht erkennt, propagiert wird, und sie stehen als Symbol für die mi- daß unsere Streitkräfte durch die Überwachung ei- litärische Fundierung der neuen deutschen Außen- nes Waffenembargos, durch die Sicherung humanitä- politik. rer Hilfe oder durch ihre schiere Präsenz helfen kön- Dieser neuen deutschen Außenpolitik setzen wir nen, Konflikte zu schlichten und Frieden zu sichern, unsere Politik der Abrüstung und der Zivilisierung der hat die Realitäten moderner Sicherheitspolitik entgegen. Was Europa heute benötigt, ist eine Politik nicht verstanden. Wer die Bundeswehr stets nur in der zivilen, sozial gerechten und ökologischen Inte- den Kontext kriegerischer Auseinandersetzungen gration. stellt, der redet nicht über moderne Sicherheitspoli- tik, sondern operiert mit einem veralterten Verständ- nis von Militärpolitik. Andreas Krautscheid (CDU/CSU): Wir haben uns hier zu später Stunde zu versammeln, um über eine Zweitens. Auch bei den Fragen zur internationalen der Lieblingsneurosen grüner Sicherheitspolitik zu Sicherheitskooperation tritt wieder derselbe intellek- debattieren, nämlich über die vielbeschworene an- gebliche „Militarisierung der deutschen Außenpoli- tuelle Kurzschluß auf. So werden NATO und WEU tik". Denn nichts anderes steht hinter vielen der Fra- pauschal als „Militärbündnisse" einsortiert, was den gen und Unterstellungen, auf die die Bundesregie- sicherheitspolitischen Charakter dieser Organisatio- rung zu antworten ha tte. nen völlig verzerrt. Die NATO - und dies haben ihre Kritiker nie verstanden - ist kein militärisches Eine erste Durchsicht der Grünen-Anfrage hat Zwangsbündnis, sondern der freiwillige Zusammen- mich zunächst veranlaßt, auf das Datum der Erstel- schluß von Staaten mit einer gemeinsamen Werte- lung dieses Papiers zu schauen. Die gestellten Fra- orientierung. Diese politische Funktion zeigt sich bei gen und die damit über weite Strecken verbundenen Einsätzen wie in Bosnien, wo die beteiligten Natio- Beschreibungen grüner Sicherheitspolitik lassen nen in Übereinstimmung mit dem NATO-Vertrag nämlich vermuten, daß das Papier nicht im März gleichzeitig auch ihre eigenen Verpflichtungen als 1996, sondern zehn Jahre früher entstanden sein Mitglieder der Vereinten Nationen erfüllen. muß. Jedenfalls scheint die Uhr in der Grünen-Frak- tion - zumindest was die sicherheitspolitische Dis- Daß die Vereinten Nationen gerade die NATO um kussion angeht - irgendwann in der Zeit des Kalten Unterstützung in Bosnien gebeten haben, ist Beweis Krieges stehengeblieben und eingerostet zu sein. für deren Ansehen und Leistungsfähigkeit im Einsatz Lassen Sie mich dies an einigen Punkten erklären: für Demokratie und Frieden. Auch wenn dabei m an -ches geliebte Vorurteil zerbricht: Die NATO ist der- Erstens. Zu der absurden Unterstellung einer zeit das einzig funktionierende Sicherheitsbündnis. „Militarisierung der Außenpolitik" kommen die Grü- Sie ist zudem die einzige Organisa tion, die hinrei- nen auch in diesem Fragenkatalog dadurch, daß sie chend flexibel und offen ist, um mit Streitkräften an- die Beantwortung jedweder sicherheitspolitischen derer Staaten freundschaftlich zu kooperieren, sei es Fragestellung automatisch mit einem vermeintlichen in Einsätzen wie in Bosnien oder in Programmen wie Bundeswehreinsatz in Verbindung bringen. Dies ist Partnership-for-peace. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997 14233*

Drittens. Besonders unver antwortlich erscheint mir Hier haben wir zusammen mit unseren Bündnis- der Fragenkomplex der Bündnisgrünen hinsichtlich partnern ein großes Defizit! Zur Behebung dieses der neuen sicherheitspolitischen Risiken. Da ist im Mangels müssen Mittel bereitgestellt werden und in- vorliegenden Text der Grünen die Rede davon, Re- ternationale wirksame Vereinbarungen, z. B. im Rah- gierung und Bundeswehrführung entdeckten men der UNO und der OSZE, getroffen werden! „weltweit neue Risiken, deren Reiz sich aus ihrer Un- bestimmtheit ergebe". Teil der Sicherheitsvorsorge des umfassenden An- satzes für den Erhalt von Sicherheit sind Streitkräfte, Diese Formulierungen strotzen vor Zynismus und also auch unsere Bundeswehr. Zur Begründung der Unverantwortlichkeit. Denn der Vorwurf lautet in sei- Bundeswehr brauchen wir keine konkrete Bedro- nem Kern: Bundesregierung und Bundeswehr „er- hung oder gar ein Feindbild. Die Grundvorsorge für finden" Risiken, um die Existenz der Bundeswehr zu Landes- und Bündnisverteidigung ist abhängig von legitimieren. Nachrichten von Massenmorden, ethni- der sicherheitspolitischen Lage, höher oder niedriger. schen Säuberungen, Flüchtlingsströmen oder von va- Zur Zeit kann sie erfreulicherweise wesentlich nied- gabundierenden Massenvernichtungswaffen müßten riger sein als noch vor 10 Jahren. Streitkräfte können aber mittlerweile selbst dem wirklichkeitsresistenten im Hinblick auf Stärke und Ausrüstung aber nicht Ostermaschierer zu denken geben. Wer hier vom beliebig in kurzer Zeit nach unten oder oben organi- „Reiz der Risiken" redet, der zeigt, daß er zur Über- siert werden. Deshalb brauchen wir eine über die nahme außenpolitischer Verantwortung nicht fähig Zeitachse angemessene Planung und Rea lisation. ist. In der Vergangenheit waren deutsche Streitkräfte Die Fragen und Formulierungen der Großen An- auf den Einsatz zur Verteidigung insbesondere des frage zeigen, daß der pazifistische Teil der Grünen eigenen Landes, aber auch des Bündnisgebietes opti- noch immer mit dem Verlust des Feinbildes „Bun- miert. Künftig können Konfliktverhütung und Krisen- deswehr" ringt. Die Antworten der Bundesregierung bewältigung in einem erweiterten geographischen belegen aber, daß unser Land in den letzten Jahren Umfeld unter einem völkerrechtlich legitimierten über die traditionellen Elemente der Sicherheits- und Mandat auch Teil unserer Sicherheitsvorsorge, aber Verteidigungspolitik hinaus ein breit gefächertes In- auch Solidarität mit anderen geschundenen Völkern, strumentarium entwickelt hat, um auf die neuen Her- insbesondere bei gravierenden Menschenrechtsver- ausforderungen zu reagieren. letzungen oder gar Völkermord, sein. Eine derartige Sicherheitsvorsorge muß als erwei- Peter Zumkley (SPD): Sicherheit zu bewahren ist terte Schutzfunktion verstanden werden. Der Einsatz nicht mehr in erster Linie Sache der Streitkräfte. Inso- militärischer Mittel als „Ultima ra tio" ist nur im Ver- fern besteht, glaube ich, Konsens über die Bedeu- teidigungsfall sowie vorübergehend mit einem kla- tung eines übergeordneten Sicherheitsbegriffs. Vor- ren UN-Mandat zur Aufrechterhaltung von Sicher- beugende Sicherheit kann u. a. durch Wirtschafts- heit und Frieden zu vertreten. Und dies nach stren- hilfe, Bekämpfung von Hunger und sozialem Elend, ger Einzelfallprüfung des vorgesehenen Einsatzes, durch Vermeidung von Umweltzerstörung und durch die eine konstitutive Zustimmung des Parlamentes Bekämpfung von organisierter Kriminalität verbes- zusätzlich zwingend erforderlich macht. sert werden. Dies gilt insbesondere dann, wenn be- troffene Staaten bereits selbst Anstrengungen in die- Für den „Ultima-ratio"-Einsatz, aber auch aus ser Hinsicht unternehmen. Gründen einer von anderen Staaten beachteten und anerkannten vorsorglichen Verteidigungsfähigkeit Mehr denn je sind wir auf eine präventive Sicher- im Bündnis brauchen wir unsere Bundeswehr. Sie heitspolitik angewiesen. Dies gilt besonders ange- dient nach wie vor der Kriegsverhütung! Sie muß die sichts der heute stattfindenden kriegerischen und Mittel zur Verfügung bekommen, die sie für ihre Auf- mörderischen Auseinandersetzungen mit Tausenden gaben benötigt. Und auch hier setzt unsere Kritik an. von Toten, Verfolgungen und Zerstörungen von le- Wir plädieren für eine leistungsfähigere Bundes- benswichtigen Infrastrukturen. Man liest die Antwort wehr. Für Investitionen, Ausrüstung und Bet rieb ste- der Bundesregierung bezüglich der Notwendigkeit hen nicht genügend Mittel zur Verfügung. Wir brau- von präventiver Krisen- und Konfliktverhütungen chen eine neue, solide Streitkräfte- und Finanzpla- gerne. nung. Auftrag und Mittel stimmen derzeit nicht über- Aber was wird denn dafür getan? ein - zu Lasten der Soldaten der Bundeswehr, die häufig improvisieren müssen, beispielsweise vor Die Bundesregierung muß sich intensiver als bis- fehlender Ersatzteilversorgung stehen und dadurch her mit der zivilen Krisenprävention und Konfliktre- teilweise keinen interessanten und anforderungsrei- gelung auseinandersetzen. Wir werden, weil von der chen Dienst gestalten können. Bundesregierung wenig hierzu kommt, konkrete An- träge stellen, die geeignet sind, Ihre richtigen Über- Generalmajor a. D. Graf von Kielmannsegg - als schriften mit Inhalten zu versehen. Oppositionspolitiker nicht verdächtig - urteilt - ich zitiere -: „Es ist kein Geheimnis, daß es der Bundes- Haben wir genügend Instrumente, die uns bei der wehr insgesamt nicht gut geht. Sie ist in den letzten Früherkennung von aufkeimenden Konflikten und Jahren aus Geldmangel, trotz bestem Willen der Sol- Krisen zur Verfügung stehen und dadurch vorbeu- daten und auch gegen ihn, weniger reformiert, wie gende Maßnahmen ermöglichen? es oft beschönigend heißt, sondern - vor allem mate- 14234* Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997

riell - schlicht heruntergewirtschaftet worden." Zitat von Amerika in Europa und bei uns in Deutschland. Ende. Die sicherheitspolitische Zusammenarbeit zwischen den Staaten der NATO, der Russischen Föderation, Dieser Kritik brauche ich nichts hinzuzufügen. aber auch der Ukraine ist in diesem Zusammenhang Wir brauchen eine wirkliche Reform der Bundes- besonders bedeutsam. Über all diese sicherheitspoli- wehr, die für unsere Streitkräfte und unsere Sicher- tischen Zusammenhänge und Notwendigkeiten hin- heitsvorsorge die Zukunftsfähigkeit sichert. Reform- weg gehört es zu einer verantwortlichen „Vorsorge- schritte müssen mittel- und langfristig geplant und politik", weitere Abrüstungsschritte und Verringe- umgesetzt werden, damit sie auch sozialverträglich rung der Waffenarsenale in Europa in erheblichem für die betroffenen Menschen gestaltet werden kön- Umfang zu vereinbaren. nen. Eine derartige Politik zeichnet sich ab. Sie muß von Eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, der Bundesregierung auch im Zusammenhang mit wie in Maastricht vereinbart, muß auch zu weiteren der NATO-Erweiterung aktiv betrieben und unter- militärischen Integrationsschritten in Europa führen. stützt werden. Dies könnte dann wiederum für die Ob es dabei zu gemeinsamen europäischen S treit- Bundeswehr mittel- und langfristig zu Veränderun- kräften kommt, hängt von der Verwirklichung einer gen von Struktur der Streitkräfte, der Bundeswehr- politischen Union ab, von der wir noch weit entfernt verwaltung, des Personalumfanges der Soldaten und sind. Bis dahin sollten europäische Streitkräfte, bei zivilen Mitarbeiter führen. Über mögliche Op tionen Führung durch integrierte Stäbe, aus engverzahnten im Rahmen internationaler Vereinbarungen muß be- und nationalen „Bausteinen" zusammengesetzt sein. reits jetzt nachgedacht werden. Die Bundeswehran- Die heute teilweise schon existierenden multinatio- gehörigen müssen zur gegebenen Zeit in die Überle- nalen Verbände, in denen die deutschen Streitkräfte gungen einbezogen werden. Verunsicherungen in besonders eingebunden sind, können hier Vorbild der Truppe lassen sich vermeiden, wenn dies beach- sein. tet wird. Eine offene sicherheitspolitische Diskussion mit der Erörterung von langfristigen Optionen, ohne Eine Unterstellung geschlossener nationaler Ver- sich dabei sofort festzulegen, dient der Sache mehr bände unter integriertes Kommando ist sinnvoll. als zu vorsichtige Zurückhaltung oder Ausgabe von Auch politische Erwägungen sprechen dafür: Orga- „Durchhalteparolen". nisiert man eine nicht mehr entflechtbare Vermi- schung von unterschiedlichen nationalen Verbän- Dem Entschließungsantrag der Fraktion BÜND- den, könnten divergierende politische Entscheidun- NIS 90/DIE GRÜNEN können wir in der Forderung gen einer der Partnerstaaten zur Handlungsunfähig- nach Stärkung der vorbeugenden Maßnahmen zur keit führen. Nur auf Basis austauschbarer Kontin- Konfliktverhütung beipflichten. Diese Forderung ist gente sind nationale, politische und parlamentari- aber nur ein Teil von verantwortlicher Sicherheits- sche Vorbehalte zu realisieren, läßt sich eine unkon- und Friedenspolitik. Alle anderen Anträge in dieser trollierbare Einsatzautomatik vermeiden. Entschließung teilen wir nicht. Dazu gehören insbe- sondere die ungerechtfertigte Behauptung der Mili- Europäische Streitkräfte können aus Wehrpflichti- tarisierung der deutschen Außenpolitik und die For- gen und/oder Freiwilligen bestehen. Jeder Staat in derung nach Abschaffung der Wehrpflicht - und dies der EU sollte seine eigene Wehrform festlegen. Wir darüber hinaus als großen Abrüstungsschritt zu be- sollten an der Wehrpflicht festhalten. zeichnen -, dazu gehört die Reaktionskräfte auch in begrenztem Umfang nicht aufzustellen und damit Die Konzeption der NATO, bestimmte Aufgaben keine Möglichkeit zu haben, geschundenen Völkern mit Hilfe von Combined Joint Task Forces wahrzu- nach entsprechendem UN-Mandat solidarisch zu nehmen, eröffnet die Möglichkeit einer weitergehen- helfen und den Frieden zu sichern. Darüber hinaus den Integration und Stärkung der nordatlantischen gäbe es keinen Anteil vollpräsenter Kräfte, die zur Streitkräfte. Diese Konzeption kann auch Nicht Landes- und Bündnisverteidigung sofort zur Verfü- NATO-Staaten einschließen und stellt damit eine zu gung stehen würden. begrüßende wesentliche Änderung der bisherigen NATO-Doktrin dar. Die in der Begründung des Antrages durchgehend formulierten Zweifel an dem Primat der Politik und Die Kooperation unserer Streitkräfte mit den neuen das Mißtrauen gegenüber führenden Repräsentanten Partnerstaaten im Osten unserer Landesgrenze ebnet der Bundeswehr teilen wir ganz und gar nicht. den Weg nach Europa. Die Programme zur militäri- schen Ausbildungshilfe und Zweijahrespläne mit Die Bundeswehr hat sich seit ihrer Gründung 1955 konkreten Maßnahmen erleichtern nicht nur den als demokratisch, zuverlässig und den Primat der Neuaufbau von Streitkräften in den neuen Demokra- Politik achtend erwiesen - und dies bei wechselnden tien und deren zivile Kontrolle, sondern sie bringen Bundesregierungen und Parlamentsmehrheiten. auch die Menschen einander näher und wecken das Auch die weiteren inhaltlichen Begründungen des Verständnis für die Probleme der anderen Seite. Antrages sind häufig weit von der Realität entfernt. Deshalb werden wir den Entschließungsantrag von Über eine Europäische Verteidigungsfähigkeit hin- - aus sind die Aufrechterhaltung und Pflege der trans- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ablehnen. atlantischen Bindungen ein wich tiges Gebot für die Sicherheit Europas. Wir brauchen die militärische Günther Friedrich Nolting (F.D.P.): Ja: Es gibt eine Unterstützung und Präsenz der Vereinigten Staaten „neue Sicherheitspolitik der Bundesrepublik"! Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997 14235*

Aber nicht in dem Sinne, den die Fraktion BÜND sachliche Verständnisprobleme haben, wenn Sie bei- IS 90/DIE GRÜNEN mit ihrer Vorbemerkung und spielsweise fragen, ob die Bundeswehr auch politi- ihrer Fragestellung zu suggerieren versucht! sche (!) Führungsaufgaben übernehmen kann (Fra- ge II.12), oder wenn Sie Systeme kollektiver Sicher- Es ist doch schließlich selbstverständlich, daß sich heit oder kollektiver Verteidigung als „Militärbünd- die Außen- und Sicherheitspolitik unseres Landes nisse" bezeichnen (Frage 11.14). den veränderten Rahmenbedingungen anpaßt und nicht statisch an einem Punkt verharrt. Dies ist nor- In der Antwort wird zu Recht darauf hingewiesen, mal, selbstverständlich und trifft übrigens auch auf daß es sich bei keiner der von Ihnen genannten Insti- alle anderen Politikbereiche zu. tutionen um ein Militärbündnis handelt; denn es gilt in allen der Primat der Politik. Sie zielen mit Ihrer Anfrage auf den Wandel ab, der den Umwälzungen von 1989/90 gefolgt ist. Sie Das Fazit meiner Fraktion zu Ihrer Anfrage lautet: fragen also heute nach Entwicklungen, die bereits Auch in der Sicherheitspolitik sind Sie politikunfä- Anfang der 90er Jahre in Gang gekommen sind. hig. Die weitgehende Eindimensionalität in der Sicher- Vielen Dank. heitspolitik, die bis zum Ende des Kalten Krieges ge- herrscht hat, ist seitdem vorbei. Sie war politisch ein- Heinrich Graf von Einsiedel (PDS): Wie allgemein deutig und leicht verständlich, sogar für Sie von den bekannt, deckt sich die Haltung der PDS zur neuen Grünen. Sicherheitspolitik der Bundesrepublik weitgehend Die Dimension der sicherheitspolitischen Aufga- mit dem Entschließungsantrag von Bündnis 90/Die ben hat sich seit vielen Jahren erweitert bis hin zu Grünen und seiner Begründung. Ich brauche da- wirtschafts- und umweltpolitischen Faktoren. Es ist her die Argumente für diesen Entschließungsantrag bezeichnend, daß gerade Sie dies nicht begreifen. hier nicht zu wiederholen, ich möchte sie aber ergän- zen. Ihre Große Anfrage ist geprägt von altem Denken! Sie unterstellen der deutschen Sicherheitspolitik, Wenn man Sicherheitspolitik mit militärischer den Streitkräften und einer Organisa tion wie der Machtpolitik gleichsetzt, wie es die Bundesregierung NATO rein militärische Funktionen. leider in hohem Ausmaße tut, dann war die bisherige Sicherheitspolitik der Bundesrepublik und ihrer In Wahrheit ist die NATO und ist auch die Bundes- westlichen Verbündeten ohne Zweifel äußerst erfolg- wehr heute noch politischer als sie es früher schon reich. waren, die Sicherheitspolitik ist - wie gesagt - mehr- dimensionaler, gerade was auch die gewandelten Das über Jahrhunderte gewachsene russische Anforderungen betrifft. Reich ist auf den Zustand seiner demütigendsten Niederlage in der Geschichte zurückgeworfen, auf Es ist ja auch schon merkwürdig, Frau Kollegin den Frieden von Brest-Litowsk. Schon jetzt kann Beer, daß Sie sich bei Truppenbesuchen sehr wohl man das militärische Machtverhältnis zwischen Ruß- fühlen. land und der NATO rein quantitativ gesehen - von Vor Ort bei den Soldaten äußern Sie sich positiv Qualität will ich erst gar nicht reden - mit 1 zu 4 bis 1 (wie gerade im „Spiegel" zu lesen war), in Ihren zu 5 beziffern. Dennoch ist die NATO-Erweiterung öffentlichen Äußerungen reden Sie dann aber stän- bis an die Grenzen Rußlands das A und O der angeb- dig von einer vorgeblichen „Militarisierung der Au- lich neuen Sicherheitspolitik. Kein Zweifel, Rußland ßenpolitik". wird diese NATO-Erweiterung zähneknirschend hin- nehmen müssen. Aber erhöht das wirk lich unsere Si- Sie lehnen alles ab und fordern regelmäßig die Ab- cherheit? schaffung der Bundeswehr (z. B. in der PR-Erklärung zum 40jährigen Bestehen der Bw heißt es: „Erst George F. Kennan, einer der herausragendsten dann, nach der Abschaffung der Bundeswehr, haben Rußland-Kenner Amerikas, hat sich kürzlich dazu in wir einen wirklichen Grund zum Feiern"). der ZEIT geäußert, ich zitiere: Ein weiterer wichtiger Punkt besteht darin, daß Sie Solch eine Entscheidung - so steht zu erwarten - von den Bündnisgrünen und andere interessierte wird die nationalistischen antiwestlichen und Gruppen immer wieder versuchen, die strukturellen militaristischen Tendenzen in der öffentlichen Grenzen zwischen Systemen kollektiver Verteidi- Meinung Rußlands anheizen. Sie wird sich nach- gung und Systemen kollektiver Sicherheit zu verwi- teilig auf die Entwicklung der russischen Demo- schen, wenn Sie immer wieder den Eindruck erwek- kratie auswirken. Und die russische Außenpoli- ken, militärische Missionen von UNO oder OSZE tik in eine Richtung zu treiben, die uns ganz und würden oder sollten in den Vordergrund rücken. gar nicht gefallen dürfte. Nicht zuletzt wird die NATO-Erweiterung es erschweren, wenn nicht Dies ist nicht so und wird von uns auch ausdrück- gar unmöglich machen, die Ratifizierung des lich abgelehnt. START-II-Abkommens durch die DUMA sicher- zustellen und einen weiteren Abbau der Nukle--N Insgesamt muß man abschließend festhalten, daß arwaffen zu erreichen. Sie einerseits die politischen Anforderungen der Zeit nach dem Kalten Krieg noch nicht bewäl tigt haben, Es ist besonders unglücklich, Rußland mit einer andererseits aber offenkundig auch noch elementare solchen Herausforderung just zu einem Zeit- 14236* Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997

punkt zu belasten, in dem sich seine Staatsmacht und Partnern, auf die aktive Mitwirkung in der Nord- in einem höchst unsicheren, fast gelähmten Zu- atlantischen Allianz, der Europäischen Union und stand befindet. Die Entscheidung ist doppelt un- der Westeuropäischen Union sowie in den Vereinten glücklich, weil für sie überhaupt keine Notwen- Nationen und den regionalen Organisationen. Die digkeit besteht. NATO ist und bleibt Rückgrat unserer Sicherheit und Fundament für europäische Handlungsfähigkeit. Un- All die dialektischen Piroue tten, die Minister Rühe sere Nachbarn und Partner erwarten zu Recht, daß dreht, um Rußland, uns und sogar den beitrittswilli- das vereinte Deutschl and seine gewachsene Verant- gen Ländern einzureden, die NATO-Erweiterung wortung wahrnimmt und an der Gestaltung einer richte sich nicht gegen Rußland, diene nicht militäri- friedlichen Zukunft für ganz Europa teilnimmt. scher Machtausdehnung, sondern schlicht nur einem Werte- und Stabilitätsexport - wobei man sich aller- Die Bundeswehr ist nur ein Instrument der deut- dings fragen darf, ob sich hinter dem Begriff Wer- schen Sicherheitspolitik von vielen. Der erweiterte teexport nicht schlicht und einfach Rüstungsexport Auftrag unserer Streitkräfte ist insgesamt differen- verbirgt -, werden diese verhängnisvollen Folgen, zierter geworden. Er spiegelt die Anforderungen ei- die sie in Rußland haben wird, nicht abmildern kön- ner neuen Zeit wider. Europa ist freier und geeinter nen. als je zuvor in seiner Geschichte. Demokra tie, Markt- Ich weiß, die Würfel sind gefallen. Sie haben die wirtschaft und Rechtsstaatlichkeit sind die Grund- Erweiterung beschlossen und können nicht mehr zu- prinzipien, nach denen sich ganz Europa heute aus- rück, obwohl sich auch innerhalb des NATO-Esta- richtet. Aber es bleiben Risiken und Gefahren, die blishment erhebliche Zweifel an der Weisheit dieses auch unsere Sicherheit betreffen. Landes- und Bünd- Entschlusses regen. Das Ob ist also wohl entschie- nisverteidigung bleiben Kernauftrag der Bundes- den, es geht nur noch um das Wie. Ex-NATO-Gene- wehr. Zugleich helfen sie mit, Frieden und Sicherheit ral Schmückle hat kürzlich im „Spiegel" daran erin- im Rahmen internationaler Einsätze zu sichern. Un- nert, daß Jelzin ja noch knapp vor einem Jahr einen sere Streitkräfte tragen durch Integra tion im Nord- möglichen Kompromiß signalisiert hat. Rußland atlantischen Bündnis und Kooperation mit neuen könne eventuell die politische Assoziation der bei- Partnern zu Sicherheit und Stabilität in Europa bei. trittswilligen Länder akzeptieren, aber nicht die Multinationalität hat große politische Wirkung. Mul- praktische Ausdehnung militärischer Macht. tinationale Streitkräfte tragen zu Vertrauen und Zu- sammenwachsen der beteiligten Staaten bei. Multi Ich beschwöre Sie, betreten Sie wenigstens diese -nationalität stärkt die europäische Handlungsfähig- Eselsbrücke, um einen drohenden Rückfall in die At- keit der NATO und vertieft die transatlantische Part mosphäre des Kalten Krieges zu vermeiden. -nerschaft.

Bernd Wilz, Parl. Staatssekretär beim Bundesmi- Die Bundeswehr nimmt maßgeblich an der Koope- nister für Verteidigung: Die Bundesregierung hat am ration mit unseren Partnern im Osten Europas teil. 28. Juni 1996 die Große Anfrage der Fraktion BÜND- Sie unterstützt den Aufbau der Streitkräfte in den NIS 90/DIE GRÜNEN vom 20. März letzten Jahres jungen Demokratien Mittel- und Osteuropas. Für das zur „Neuen Sicherheitspolitik der Bundesrepublik Jahr 1996 wurden mit 17 Ländern bilaterale Jahres- Deutschland" schriftlich beantwortet. programme für die Zusammenarbeit auf militäri- schem Gebiet vereinbart, die insgesamt 495 Maßnah- Die Grundlinie unserer Politik hat sich nicht verän- men umfaßten. Im Jahr 1997 sind fast 600 Maß- dert. Um es auf eine knappe Formel zu bringen: nahmen vereinbart. Kernziel deutscher Sicherheits- und Verteidigungs- politik war, ist und bleibt es, zum Frieden in der Welt Jedes einzelne Vorhaben ist ein Baustein für das beizutragen. vereinte, freie und friedliche Europa. Der gemein- Frieden praktisch zu sichern bedeutet für die Bun- same Brückenschlag von deutschen und polnischen desregierung, im umfassenden Sinne für Stabilität zu Pionieren über die Oder ist dafür eindrucksvolles sorgen. Stabilitätspolitik entspricht deutscher Ver- Symbol. antwortung und deutschen Interessen. Stabilität ge- winnen wir heute nicht mehr durch die Balance riva- Engagement und Verantwortung Deutschlands für lisierender Mächte und auch nicht mehr - wie in der Frieden und Stabilität in Europa zeigen sich in der Ära des kalten Krieges - durch das Gleichgewicht Beteiligung der Bundeswehr an der Absicherung der gegeneinander gewichteter militärischer Potentiale. Friedensvereinbarung für das frühere Jugoslawien Frieden und Stabilität entstehen, wo Menschen- ganz konkret. rechte gelten, wo gefestigte demokratische Struktu- ren existieren, wo es wirtschaftliches Wachstum und Unsere Soldaten helfen mit, das Wiederaufflam- soziale Gerechtigkeit gibt. Stabilität im äußeren men von Kampfhandlungen zu verhindern und ein wächst aus guter Nachbarschaft und Kooperation, sicheres Umfeld für die zivile Implementierung der aus der Integration von kleineren und größeren Län- Friedensvereinbarung zu schaffen. Der gemeinsame dern als gleichberechtigten Partnern. Einsatz von deutschen und französischen Soldaten im Rahmen von SFOR ist ein Beispiel für die friedens- Ein solch umfassender Ansatz ist nur durch ein ge- stiftende Integra tion der Streitkräfte in Europa und meinsames internationales Vorgehen zu leisten, das ein Vorbild für dauerhafte Versöhnung zwischen sich abstützt auf die Zusammenarbeit mit Freunden Feinden von früher. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 157. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 20. Februar 1997 14237*

Haltung und Können unserer Soldaten finden in- Herzegowina hat nichts mit deutscher Machtpolitik ternational - vor allem auch vor Ort - Zustimmung zu tun. Er zielt nicht auf sogenannte globale Inter- und Anerkennung. Ihre Leistung hat dazu beigetra- ventionsfähigkeit. Das ist Unfug. Es geht um einen gen, daß sich der Konsens in unserem Land über den zerbrechlichen Frieden - es geht um ganz reale Ver- erweiterten Auftrag der Bundeswehr erfreulich gefe- antwortung. Es geht um Sicherheit und Stabilität auf stigt hat. Der Bundeswehreinsatz in Bosnien und dem Balkan und für Europa.