Plenarprotokoll 14/201

Deutscher

Stenographischer Bericht

201. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001

Inhalt:

Nachträgliche Glückwünsche zum Geburtstag Tagesordnungspunkt 4: der Abgeordneten Klaus Kirschner und Beschlussempfehlung und Bericht des Fi- Ingrid Holzhüter ...... 19663 A nanzausschusses zu dem Antrag der Abge- Erweiterung der Tagesordnung ...... 19663 A ordneten Dr. Barbara Höll, Dr. , Absetzung von Tagesordnungspunkten . . . . . 19663 D weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS: Einführung einer Steuer auf speku- Abwicklung der Tagesordnung ...... 19663 D lative Devisenumsätze (Tobinsteuer) Nachträgliche Ausschussüberweisung ...... 19663 D (Drucksachen 14/840, 14/2546) ...... 19681 D Dr. PDS ...... 19681 D Tagesordnungspunkt 5: Detlev von Larcher SPD ...... 19682 D CDU/CSU ...... a) Erste Beratung des von den Fraktionen 19684 D der SPD und des BÜNDNISSES 90/ Detlev von Larcher SPD ...... 19685 B DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Terrorismusbekämpfungsgeset- Kristin Heyne BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 19687 A zes Dr. FDP ...... 19688 B (Drucksache 14/7386) ...... 19664 A Brigitte Adler SPD ...... 19689 D Dieter Wiefelspütz SPD ...... 19664 B CDU/CSU ...... 19690 C Hans-Peter Repnik CDU/CSU ...... 19664 C Ursula Lötzer PDS ...... 19691 B Sylvia Bonitz CDU/CSU ...... 19665 D CDU/CSU ...... 19666 D Tagesordnungspunkt 14: (Köln) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN ...... 19669 B – Zweite und dritte Beratung des von den CDU/CSU ...... 19669 D Fraktionen der SPD und des BÜND- NISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrach- Dr. FDP ...... 19671 C ten Entwurfs eines Gesetzes zur Neure- PDS ...... 19673 A gelung des Rechts des Naturschutzes und der Landschaftspflege und zur , Bundesminister BMI ...... 19674 B Anpassung anderer Rechtsvorschrif- (Recklinghausen) ten (BNatSchGNeuRegG) CDU/CSU ...... 19677 B (Drucksachen 14/6378, 14/7469, 14/7490, 14/7481) ...... 19692 B Cem Özdemir BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 19679 A – Zweite und dritte Beratung des von der Alfred Hartenbach SPD ...... 19679 D Bundesregierung eingebrachten Ent- Norbert Geis CDU/CSU ...... 19680 A wurfs eines Gesetzes zur Neuregelung II Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001

des Rechts des Naturschutzes und über die Annahme einheitlicher Be- der Landschaftspflege und zur An- dingungen für die Genehmigung der passung anderer Rechtsvorschriften Ausrüstungsgegenstände und Teile (BNatSchGNeuRegG) von Kraftfahrzeugen und über die (Drucksachen 14/6878, 14/7469, 14/7490, gegenseitige Anerkennung der Ge- 14/7481) ...... 19692 C nehmigung (Drucksache 14/7245) ...... 19706 D – Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Eva Bulling-Schröter, e) Antrag der Abgeordneten Ulrike Flach, Kersten Naumann, weiteren Abgeord- , weiterer Abgeordneter neten und der Fraktion der PDS einge- und der Fraktion der FDP: Vorlage ei- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur nes nationalen Bildungsberichtes Neuordnung des Naturschutzes und (Drucksache 14/7078) ...... 19706 D der Landschaftspflege (Drucksachen 14/5766, 14/7469, 14/7490) 19692 C f) Unterrichtung durch die Bundesregie- Ulrike Mehl SPD ...... 19692 D rung: Bericht zur technologischen Leistungsfähigkeit Deutschlands 2000 Dr. Peter Paziorek CDU/CSU ...... 19694 B und Stellungnahme der Bundesregie- Sylvia Voß BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . 19695 D rung (Drucksache 14/6268) ...... 19706 D Marita Sehn FDP ...... 19696 D in Verbindung mit Eva Bulling-Schröter PDS ...... 19698 B Christel Deichmann SPD ...... 19699 A Zusatztagesordnungspunkt 2: Cajus Caesar CDU/CSU ...... 19701 A Weitere Überweisungen im vereinfach- Jürgen Trittin, Bundesminister BMU ...... 19702 C ten Verfahren Birgit Homburger FDP ...... 19704 B (Ergänzung zu TOP 27) Jürgen Trittin, Bundesminister BMU ...... 19704 D a) Erste Beratung des von den Abgeordne- Sylvia Voß BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . 19705 C ten Alfred Hartenbach, Anni Brandt- Elsweier, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD sowie den Abge- Tagesordnungspunkt 27: ordneten Volker Beck (Köln), Kerstin Müller (Köln), Rezzo Schlauch und der Überweisungen im vereinfachten Ver- Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE fahren GRÜNEN eingebrachten Entwurfs ei- a) Erste Beratung des von der Bundes- nes Gesetzes zur Änderung von Vor- regierung eingebrachten Entwurfs eines schriften über die Bewertung der Kapi- Gesetzes zur Einführung des diagno- talanlagen von Versicherungsunter- seorientierten Fallpauschalensystems nehmen und zur Aufhebung des Dis- für Krankenhäuser (Fallpauschalen- kontsatz-Überleitungs-Gesetzes (Versi- gesetz) cherungskapitalanlagen-Bewertungs- (Drucksachen 14/7421, 14/7461) . . . . 19706 C gesetz) (Drucksache 14/7436) ...... 19707 A b) Erste Beratung des vom Bundesrat ein- gebrachten Entwurfs eines ... Gesetzes b) Antrag der Abgeordneten Birgit zur Änderung des Pflanzenschutz- Homburger, Marita Sehn, weiterer Ab- gesetzes geordneter und der Fraktion der FDP: (Drucksache 14/6753) ...... 19706 C Marktwirtschaftliche Reorganisation der deutschen Abfallwirtschaft c) Erste Beratung des von der Bundes- (Drucksache 14/5676) ...... 19707 A regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über den Schutz von zugangs- kontrollierten Diensten und von Zu- Tagesordnungspunkt 28: gangskontrolldiensten (Zugangskon- trolldiensteschutz-Gesetz) Abschließende Beratungen ohne Aus- (Drucksache 14/7229) ...... 19706 C sprache d) Erste Beratung des von der Bundes- d) Zweite und dritte Beratung des von der regierung eingebrachten Entwurfs eines Bundesregierung eingebrachten Ent- Gesetzes zur Änderung des Gesetzes wurfs eines Dritten Gesetzes zur Än- vom 20. Mai 1997 zur Revision des derung des Fleischhygienegesetzes Übereinkommens vom 20. März 1958 (Drucksachen 14/7153 [neu], 14/7467) 19707 C Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 III e) – Zweite und dritte Beratung des von k) – p) den Fraktionen der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Beschlussempfehlungen des Petitions- eingebrachten Entwurfs eines Ge- ausschusses: Sammelübersichten 311, setzes zur Änderung des Straf- 312, 313, 314, 315, 316 zu Petitionen rechtlichen Rehabilitierungsge- (Drucksachen 14/7364, 14/7365, 14/7366, 14/7367, 14/7368, 14/7369) 19709 B setzes (Drucksachen 14/7283, 14/7476) 19707 C – Zweite und dritte Beratung des von Zusatztagesordnungspunkt 3: den Abgeordneten Dr. Edzard Aktuelle Stunde betr. Haltung der Bundes- Schmidt-Jortzig, Jörg van Essen, regierung zur beschleunigten industriel- weiteren Abgeordneten und der len Auszehrung der neuen Bundesländer Fraktion der FDP eingebrachten angesichts der geplanten Schließungen Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- der Bombardier-Werke in Ammendorf 19709 D rung rehabilitierungsrechtlicher PDS ...... 19709 D Vorschriften (Rehabilitierungsge- setzeänderungsgesetz) , Staatsminister BK ...... 19710 D (Drucksachen 14/6189, 14/7476) 19707 D Günter Nooke CDU/CSU ...... 19712 A f) Zweite und dritte Beratung des von den (Leipzig) BÜNDNIS 90/DIE Abgeordneten Brunhilde Irber, Iris GRÜNEN ...... 19713 B Gleicke, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD sowie den Abge- Cornelia Pieper FDP ...... 19714 C ordneten Sylvia Voß, Ekin Deligöz, Dr. Reinhard Höppner, Ministerpräsident weiteren Abgeordneten und der Frak- (Sachsen-Anhalt) ...... 19715 D tion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- Ulrich Klinkert CDU/CSU ...... 19717 C NEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gaststät- Dr. Winfried Wolf PDS ...... 19718 D tengesetzes Christel Riemann-Hanewinckel SPD ...... 19719 D (Drucksachen 14/4937, 14/7054) . . . . 19708 A CDU/CSU ...... 19720 D g) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Ent- Engelbert Wistuba SPD ...... 19721 D wurfs eines Siebten Gesetzes zur Än- Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach) CDU/CSU 19723 A derung der Pfändungsfreigrenzen (Drucksachen 14/6812, 14/7478) . . . . 19708 B Tagesordnungspunkt 6: h) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Ent- a) Antrag der Abgeordneten , wurfs eines Gesetzes zur Änderung Klaus Hofbauer, weiterer Abgeordneter des Vermögenszuordnungsgesetzes und der Fraktion der CDU/CSU: För- (Drucksachen 14/7035, 14/7428) . . . . 19708 C derung der Grenzregionen zu den Beitrittsländern i) Zweite und dritte Beratung des von der (Drucksache 14/6638) ...... 19723 D Bundesregierung eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zur Umsetzung von b) Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsakten der Europäischen Gemein- Ausschusses für die Angelegenheiten schaften auf dem Gebiet der Energie- der Europäischen Union einsparung bei Geräten und Kraftfahr- – zu dem Antrag der Fraktionen der zeugen (Energieverbrauchskennzeich- SPD und des BÜNDNISSES 90/ nungsgesetz) DIE GRÜNEN: Die Weichen für (Drucksachen 14/6813, 14/7456) . . . . 19708 D die Erweiterung der Europä- ischen Union richtig stellen j) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Ent- – zu dem Entschließungsantrag der wurfs eines Gesetzes zu dem Abkom- Fraktion der CDU/CSU zu der men vom 12. Juli 2001 zwischen der Großen Anfrage der Abgeordneten Bundesrepublik Deutschland und Peter Hintze, Michael Stübgen, der Volksrepublik China über Sozial- weiterer Abgeordneter und der versicherung Fraktion der CDU/CSU: Erweite- (Drucksachen 14/7246, 14/7446) . . . . 19709 A rung der Europäischen Union IV Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001

– zu dem Antrag der Abgeordneten Kersten Naumann PDS ...... 19755 C Dr. , Hildebrecht Heino Wiese (Hannover) SPD ...... 19756 C Braun (Augsburg), weiterer Abge- ordneter und der Fraktion der FDP: Ulrich Heinrich FDP ...... 19758 B Die Bürger für die Osterweiterung Albert Deß CDU/CSU ...... der EU gewinnen 19758 C (Drucksachen 14/5447, 14/5448, 14/5454, 14/6644) ...... 19724 A Tagesordnungspunkt 8: Dr. Friedbert Pflüger CDU/CSU ...... 19724 B a) Beschlussempfehlung und Bericht des Winfried Mante SPD ...... 19725 D Innenausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Günter Baumann, Hans- Dr. Helmut Haussmann FDP ...... 19727 A Dirk Bierling, weiterer Abgeordneter Christian Sterzing BÜNDNIS 90/ und der Fraktion der CDU/CSU: Für DIE GRÜNEN ...... 19728 A mehr Sicherheit an der deutsch- tschechischen Grenze Uwe Hiksch PDS ...... 19729 B (Drucksachen 14/3672, 14/7429) . . . . 19760 A Klaus Hofbauer CDU/CSU ...... 19730 C b) Zweite und dritte Beratung des von der Dr. Christoph Zöpel, Staatsminister AA . . . . . 19731 C Bundesregierung eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag Michael Stübgen CDU/CSU ...... 19733 B vom 19. September 2000 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Tschechischen Republik Tagesordnungspunkt 7: über die Zusammenarbeit der Poli- Beschlussempfehlung und Bericht des zeibehörden und der Grenzschutz- Verteidigungsausschusses zu der Unter- behörden in den Grenzgebieten richtung durch den Wehrbeauftragten: (Drucksachen 14/7095, 14/7429) . . . . 19760 A Jahresbericht 2000 (42. Bericht) Günter Baumann CDU/CSU ...... 19760 B (Drucksachen 14/5400, 14/7111) ...... 19734 C Günter Graf (Friesoythe) SPD ...... 19762 C Dr. Willfried Penner, Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages ...... 19734 D Günter Baumann CDU/CSU ...... 19763 A Werner Siemann CDU/CSU ...... 19736 D Dr. Max Stadler FDP ...... 19764 A Uwe Göllner SPD ...... 19739 A Cem Özdemir BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 19764 D Hildebrecht Braun (Augsburg) FDP ...... 19740 D Ulla Jelpke PDS ...... 19765 C CDU/CSU ...... 19741 A Fritz Rudolf Körper, Parl. Staatssekretär BMI 19766 C BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN ...... 19742 C Tagesordnungspunkt 9: Dr. Winfried Wolf PDS ...... 19743 C a) Erste Beratung des von den Fraktionen , Parl. Staatssekretär BMVg 19744 D der SPD und des BÜNDNISSES 90/ Paul Breuer CDU/CSU ...... 19746 B DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Gleichstellung be- Hans Raidel CDU/CSU ...... 19746 C hinderter Menschen und zur Ände- Verena Wohlleben SPD ...... 19747 D rung anderer Gesetze (Drucksache 14/7420) ...... 19767 D b) Antrag der Abgeordneten Dr. Guido Tagesordnungspunkt 15: Westerwelle, Dr. Heinrich L. Kolb, wei- Antrag der Abgeordneten Helmut terer Abgeordneter und der Fraktion der Heiderich, Dr. Maria Böhmer, weiterer Ab- FDP: Informationsangebot der Bun- geordneter und der Fraktion der CDU/CSU: desregierung barrierefrei gestalten Zukunft für die „grüne“ Gentechnik (Drucksache 14/5985) ...... 19768 A (Drucksache 14/6616) ...... 19749 A Walter Riester, Bundesminister BMA ...... 19768 A CDU/CSU ...... 19749 B CDU/CSU ...... 19769 B Matthias Weisheit SPD ...... 19751 A Volker Beck (Köln) BÜNDNIS 90/ Ulrich Heinrich FDP ...... 19752 D DIE GRÜNEN ...... 19770 D Ulrike Höfken BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 19753 D Dr. Heinrich L. Kolb FDP ...... 19772 C Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 V

Dr. Ilja Seifert PDS ...... 19773 C Tagesordnungspunkt 12: Silvia Schmidt (Eisleben) SPD ...... 19774 C Antrag der Abgeordneten Wolfgang Börnsen (Bönstrup), Dirk Fischer (Ham- Peter Weiß (Emmendingen) CDU/CSU . . . . . 19775 D burg), weiterer Abgeordneter und der Frak- Karl-Hermann Haack (Extertal) SPD ...... 19777 B tion der CDU/CSU: Bildung einer Leit- stelle für Seesicherheit (Drucksache 14/5450) ...... 19786 D Tagesordnungspunkt 16:

– Zweite und dritte Beratung des von der Tagesordnungspunkt 23: Bundesregierung eingebrachten Ent- Zweite und dritte Beratung des von der wurfs eines Gesetzes zur Änderung Bundesregierung eingebrachten Entwurfs des Aufstiegsfortbildungsförderungs- eines Gesetzes zu dem Partnerschaftsab- gesetzes (AFBG-ÄndG) kommen vom 23. Juni 2000 zwischen den (Drucksachen 14/7094, 14/7472, 14/7489) 19778 D Mitgliedern der Gruppe der Staaten in Afrika, im Karibischen Raum und im Pazi- – Zweite und dritte Beratung des von den fischen Ozean einerseits und der Europä- Abgeordneten , Werner ischen Gemeinschaft und ihren Mitglied- Lensing, weiteren Abgeordneten und staaten andererseits (AKP-EG-Partner- der Fraktion der CDU/CSU eingebrach- schaftsabkommen) ten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur (Drucksachen 14/7053, 14/7475, 14/7487) 19786 D Änderung des Aufstiegsfortbildungs- förderungsgesetzes (1. AFBG-Ände- Tagesordnungspunkt 24: rungsgesetz) (Drucksachen 14/4250, 14/7472, 14/7489) 19778 D Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs Wolf-Michael Catenhusen, Parl. Staatssekretär eines Gesetzes zur Neuordnung des Schuld- BMBF ...... 19779 B buchrechts des Bundes und der Rechts- Ilse Aigner CDU/CSU ...... 19780 C grundlagen der Bundesschuldenverwaltung (Bundeswertpapierverwaltungsgesetz) Cornelia Pieper FDP ...... 19782 D (Drucksachen 14/7010, 14/7255, 14/7479) 19787 B Dr. PDS ...... 19784 A Siegmar Mosdorf, Parl. Staatssekretär BMWi 19784 C Tagesordnungspunkt 25: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs Tagesordnungspunkt 10: eines Gesetzes zur Bereinigung des Rechtsmittelrechts im Verwaltungspro- a) Antrag der Abgeordneten , zess (RmBereinVpG) Hans-Joachim Otto (Frankfurt) und (Drucksachen 14/6393, 14/6854, 14/7474) 19787 C weiterer Abgeordneter: Au Pairs von der Sozialversicherungspflicht frei- halten Tagesordnungspunkt 18: (Drucksache 14/7098) ...... 19786 B – Zweite und dritte Beratung des von den b) Antrag der Abgeordneten Karl-Josef Fraktionen der SPD und des BÜNDNIS- Laumann, , weite- SES 90/DIE GRÜNEN eingebrachten rer Abgeordneter und der Fraktion der Entwurfs eines Gesetzes zur Ergänzung CDU/CSU: Rechtssicherheit für Au- der Leistungen bei häuslicher Pflege von pairverhältnisse Pflegebedürftigen mit erheblichem all- gemeinen Betreuungsbedarf (Pflege- (Drucksache 14/7288) ...... 19786 C leistungs-Ergänzungsgesetz) (Drucksachen 14/6949, 14/7473) . . . . 19788 A Tagesordnungspunkt 17: – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Ent- Große Anfrage der Abgeordneten Norbert wurfs eines Gesetzes zur Ergänzung der Geis, , weiterer Abge- Leistungen bei häuslicher Pflege von ordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Pflegebedürftigen mit erheblichem all- Erleichterungen bei der internationalen gemeinem Betreuungsbedarf (Pflege- Vollstreckungshilfe leistungs-Ergänzungsgesetz) (Drucksachen 14/2827, 14/3957) ...... 19786 C (Drucksachen 14/7154, 14/7473) . . . . 19788 A VI Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001

Tagesordnungspunkt 19: Tagesordnungspunkt 26: Antrag der Abgeordneten a) Antrag der Abgeordneten Gerhard (Bayreuth), Hans-Michael Goldmann, wei- Jüttemann, Eva Bulling-Schröter, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion der terer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Fairen Wettbewerb im Luftver- PDS: Mobilfunkstrahlung minimie- kehr bewahren – Sicherheit erhöhen ren – Vorsorge stärken (Drucksache 14/7157) ...... 19788 C (Drucksache 14/7120) ...... 19789 C b) Antrag der Abgeordneten Ilse Aigner, Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach), wei- Tagesordnungspunkt 22: terer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU: Mobilfunkforschung und a) Zweite und dritte Beratung des von der Information vorantreiben Bundesregierung eingebrachten Ent- (Drucksache 14/7286) ...... 19789 D wurfs eines Gesetzes zur Regelung von öffentlichen Angeboten zum Er- Nächste Sitzung ...... 19790 C werb von Wertpapieren und von Un- ternehmensübernahmen Anlage 1 (Drucksachen 14/7034, 14/7090, 14/7477) ...... 19788 C Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 19791 A b) Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses Anlage 2 – zu dem Antrag der Abgeordneten Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung der Entwürfe: Hartmut Schauerte, , weiterer Abgeordneter und der – eines Gesetzes zur Änderung des Auf- Fraktion der CDU/CSU: Fairer stiegsfortbildungsförderungsgesetzes Wettbewerb und Rechtssicherheit (AFBG-ÄndG) bei Unternehmensübernahmen in – eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Europa Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetzes (1. AFBG-ÄndG) – zu dem Antrag der Abgeordneten Ursula Lötzer, Rolf Kutzmutz, wei- (Tagesordnungspunkt 16) ...... 19791 B terer Abgeordneter und der Fraktion Christian Simmert BÜNDNIS 90/ der PDS: Gesetzliche Mitsprache- DIE GRÜNEN ...... 19791 B rechte bei Unternehmensüber- nahmen Anlage 3 (Drucksachen 14/3776, 14/3394, 14/7477) 19788 D Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Anträge: Tagesordnungspunkt 11: – Au Pairs von der Sozialversicherungs- pflicht freihalten Antrag der Fraktionen der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der – Rechtssicherheit für Aupairverhältnisse FDP: Hilfe für die Opfer der Colonia (Tagesordnungspunkt 10 a und b) ...... 19792 B Dignidad (Drucksache 14/7444) ...... 19789 B Erika Lotz SPD ...... 19792 B Walter Hoffmann (Darmstadt) SPD ...... 19792 D Dorothea Störr-Ritter CDU/CSU ...... 19793 C Tagesordnungspunkt 13: Ekin Deligöz BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 19795 A Antrag der Abgeordneten Brunhilde Irber, Annette Faße, weiterer Abgeordneter und Dirk Niebel FDP ...... 19795 D der Fraktion der SPD sowie der Abgeord- Pia Maier PDS ...... 19797 A neten Sylvia Voß, Franziska Eichstädt- Bohlig, weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- Anlage 4 NEN: Den Tourismus im ländlichen Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Raum nachhaltig stärken Antrags: Hilfe für die Opfer der Colonia Dig- (Drucksache 14/7300) ...... 19789 C nidad (Tagesordnungspunkt 11) ...... 19797 D Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 VII

Lothar Mark SPD ...... 19797 D Anlage 8 Klaus-Jürgen Hedrich CDU/CSU ...... 19799 B Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Ergänzung der Hans-Christian Ströbele BÜNDNIS 90/ Leistungen bei häuslicher Pflege von Pflege- DIE GRÜNEN ...... 19800 C bedürftigen mit erheblichem allgemeinen Be- Ulrich Irmer FDP ...... 19801 A treuungsbedarf (Pflegeleistungs-Ergänzungs- gesetz – PflEG) (Tagesordnungspunkt 18) . . . 19818 A Carsten Hübner PDS ...... 19801 C Marga Elser SPD ...... 19818 A Dr. Christoph Zöpel, Staatsminister AA . . . . . 19802 A Eva-Maria Kors CDU/CSU ...... 19818 D Katrin Göring-Eckardt BÜNDNIS 90/ Anlage 5 DIE GRÜNEN ...... 19820 C Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Detlef Parr FDP ...... 19821 D des Antrags: Bildung einer Leitstelle für See- sicherheit (Tagesordnungspunkt 12) ...... 19803 A Dr. Ilja Seifert PDS ...... 19822 B Annette Faße SPD ...... 19803 A Gudrun Schaich-Walch, Parl. Staatssekretärin BMG ...... 19823 C Wolfgang Börnsen (Bönstrup) CDU/CSU . . . 19804 A Helmut Wilhelm (Amberg) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN ...... 19805 D Anlage 9 Hans-Michael Goldmann FDP ...... 19806 B Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Fairen Wettbewerb im Luftver- Dr. Winfried Wolf PDS ...... 19706 D kehr bewahren – Sicherheit erhöhen (Tages- , Parl. Staatssekretärin ordnungspunkt 19) ...... 19824 A BMVBW ...... 19707 B Hans-Günter Bruckmann SPD ...... 19824 A Norbert Königshofen CDU/CSU ...... 19825 B Anlage 6 Albert Schmidt (Hitzhofen) BÜNDNIS 90/ Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung DIE GRÜNEN ...... 19826 B des Antrags: Den Tourismus im ländlichen Horst Friedrich (Bayreuth) FDP ...... 19826 D Raum nachhaltig stärken (Tagesordnungs- punkt 13) ...... 19808 A Dr. Winfried Wolf PDS ...... 19827 C Brunhilde Irber SPD ...... 19808 A Stephan Hilsberg, Parl. Staatssekretär BMVBW ...... 19828 B Annette Faße SPD ...... 19808 D Ernst Hinsken CDU/CSU ...... 19809 D Anlage 10 Sylvia Voß BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN . . . . 19810 D Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: FDP ...... 19811 D – des Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung Rosel Neuhäuser PDS ...... 19812 C von öffentlichen Angeboten zum Erwerb von Wertpapieren und von Unterneh- mensübernahmen Anlage 7 – des Antrags: Fairer Wettbewerb und Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Rechtssicherheit bei Unternehmensüber- Großen Anfrage: Erleichterungen bei der inter- nahmen in Europa nationalen Vollstreckungshilfe (Tagesord- nungspunkt 17) ...... 19813 C – des Antrags: Gesetzliche Mitspracherechte bei Unternehmensübernahmen Alfred Hartenbach SPD ...... 19813 C (Tagesordnungspunkt 22 a und b) ...... 19829 B CDU/CSU ...... 19814 A Nina Hauer SPD ...... 19829 B Helmut Wilhelm (Amberg) BÜNDNIS 90/ Hansgeorg Hauser (Rednitzhembach) DIE GRÜNEN ...... 19815 C CDU/CSU ...... 19830 A Jörg van Essen FDP ...... 19816 A (Berlin) BÜNDNIS 90/ Dr. Evelyn Kenzler PDS ...... 19816 C DIE GRÜNEN ...... 19831 D Dr. Eckhart Pick, Parl. Staatssekretär BMJ 19817 A FDP ...... 19832 C VIII Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001

Ursula Lötzer PDS ...... 19833 A Dr. Uwe-Jens Rössel PDS ...... 19842 D Hans Eichel, Bundesminister BMF ...... 19834 A , Parl. Staatssekretär BMF ...... 19843 C

Anlage 11 Anlage 13 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zu dem Partner- Entwurfs eines Gesetzes zur Bereinigung des schaftsabkommen vom 23. Juni 2000 zwischen Rechtsmittelrechts im Verwaltungsprozess den Mitgliedern der Gruppe der Staaten in (RmBereinVpG) (Tagesordnungspunkt 25) 19844 A Afrika, im Karibischen Raum und im Pazifi- Alfred Hartenbach SPD ...... 19844 A schen Ozean einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten ande- Dr. Jürgen Gehb CDU/CSU ...... 19844 D rerseits (AKP-EG-Partnerschaftsabkommen) Helmut Wilhelm (Amberg) BÜNDNIS 90/ (Tagesordnungspunkt 23) ...... 19835 A DIE GRÜNEN ...... 19845 D (Meschede) SPD ...... 19835 B Rainer Funke FDP ...... 19846 C Dr. CDU/CSU ...... 19836 B Dr. Evelyn Kenzler PDS ...... 19847A Joachim Günther (Plauen) FDP ...... 19837 B Dr. Eckhart Pick, Parl. Staatssekretär BMJ 19847 D Carsten Hübner PDS ...... 19838 B Anlage 14 Dr. Uschi Eid, Parl. Staatssekretärin BMZ 19839 A Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Anträge: Anlage 12 – Mobilfunkstrahlung minimieren – Vorsorge Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des stärken Entwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung des – Mobilfunkforschung und Information vo- Schuldbuchrechts des Bundes und der Rechts- rantreiben grundlagen der Bundesschuldenverwaltung (Bun- deswertpapierverwaltungsgesetz – BWpVerwG) (Tagesordnungspunkt 26 a und b) ...... 19849 A (Tagesordnungspunkt 24) ...... 19840 D Marlene Rupprecht SPD ...... 19849 A Hans Georg Wagner SPD ...... 19840 D Ilse Aigner CDU/CSU ...... 19849 D Hans Jochen Henke CDU/CSU ...... 19841 A BÜNDNIS 90/ Oswald Metzger BÜNDNIS 90/DIE DIE GRÜNEN ...... 19851 C GRÜNEN ...... 19841 D Detlef Parr FDP ...... 19852 B Gerhard Schüßler FDP ...... 19842 B Gerhard Jüttemann PDS ...... 19852 D Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19663

(A) (C)

201. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident : Guten Morgen, liebe 3. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der PDS: Haltung Kolleginnen und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet. der Bundesregierung zur beschleunigten industriellen Aus- zehrung der neuen Bundesländer angesichts der geplanten Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, gratuliere ich Schließungen der Bombardier-Werke in Ammendorf dem Kollegen Klaus Kirschner zu seinem 60. Geburtstag 4. Beratung des Antrags des Bundeskanzlers gemäß Art. 68 des (Beifall) Grundgesetzes – Drucksache 14/7440 – 5. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Helmut Haussmann, und der Kollegin Ingrid Holzhüter zu ihrem 65. Geburts- Dr. , Ulrich Irmer, weiterer Abgeordneter tag. und der Fraktion der FDP: Präventive außenpolitische Kon- (Beifall) zepte gegen den Terrorismus – Drucksache 14/7445 – Überweisungsvorschlag: Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Auswärtiger Ausschuss (f) Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in der Ihnen Verteidigungsausschuss vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt: Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und (B) Entwicklung (D) 1. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der CDU/CSU: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Was beabsichtigt die Bundesregierung angesichts der in der jüngsten Steuerschätzung prognostizierten erheblichen 6. Beratung des Antrags der Fraktion der PDS: Den interna- Einnahmeausfälle von Bund, Ländern und Gemeinden zu tionalen Terrorismus wirksam bekämpfen – den Krieg in tun? Afghanistan beenden – Drucksache 14/7500 – 2. Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfahren (Er- Überweisungsvorschlag: gänzung zu TOP 27) Auswärtiger Ausschuss (f) a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Alfred Hartenbach, Verteidigungsausschuss Anni Brandt-Elsweier, Hermann Bachmaier, weiteren Abge- Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und ordneten und der Fraktion der SPD sowie den Abgeordneten Entwicklung Volker Beck (Köln), Kerstin Müller (Köln), Rezzo Schlauch und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN 7. Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Aus- eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung von wärtigen Ausschusses (3. Ausschuss) zu dem Entschließungs- Vorschriften über die Bewertung der Kapitalanlagen von antrag der Fraktion der PDS zu der Regierungserklärung des Versicherungsunternehmen und zur Aufhebung des Diskont- Bundeskanzlers zu der Beteiligung bewaffneter deutscher satz-Überleitungs-Gesetzes (Versicherungskapitalanlagen- Streitkräfte an der Bekämpfung des internationalen Terro- Bewertungsgesetz – VersKapAG) – Drucksache 14/7436 – rismus – Drucksachen 14/7333, 14/7493 – Überweisungsvorschlag: Sodann ist interfraktionell vereinbart worden: Die in der Rechtsausschuss (f) Finanzausschuss verbundenen Tagesordnung aufgeführten Punkte sollen Ausschuss für Wirtschaft und Technologie mit Ausnahme der Tagesordnungspunkte 5 b – Strafpro- zessordnung –, 20 – Arzneimittelausgaben-Begrenzungs- b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgit Homburger, Marita Sehn, Ulrike Flach, weiterer Abgeordneter und der gesetz –, 21 – Steuerverkürzungsbekämpfungsgesetz – so- Fraktion der FDP: Marktwirtschaftliche Reorganisation wie 28 a bis c – Post- und Postumwandlungsgesetz –, die der deutschen Abfallwirtschaft – Drucksache 14/5676 – abgesetzt werden sollen, heute in veränderter Reihenfolge Überweisungsvorschlag: aufgerufen und beraten werden. Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) Des Weiteren mache ich auf eine nachträgliche Über- Innenausschuss weisung im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerksam: Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Der in der 199. Sitzung des Deutschen Bundestages Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll nachträg- Entwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen lich dem Haushaltsausschuss gemäß § 96 GOBT über- Union wiesen werden. 19664 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001

Präsident Wolfgang Thierse (A) Gesetzentwurf der Fraktionen der SPD und des Oder wollen Sie widersprechen (C) BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN zur Bestim- (Norbert Geis [CDU/CSU]: Ich sage ja: Es mung der Schwankungsreserve in der Renten- kommt darauf an!) versicherung der Arbeiter und Angestellten – Drucksache 14/7284 – und damit sagen, dass Sie Terrorismus nicht bekämpfen überwiesen: wollen? Das kann ich nicht glauben. Ich denke, dass die- Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung (f) ses Terrorismusbekämpfungsgesetz eine breite Zustim- Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und mung im Deutschen Bundestag finden wird. Landwirtschaft Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO Wir reagieren damit auf die Herausforderungen des 11. September, die uns alle weltweit erschüttert haben. Am Freitag soll als einziger Tagesordnungspunkt die Wir müssen in Deutschland innere Sicherheit nicht neu Beschlussempfehlung zum so genannten Afghanistan- erfinden. Die Bundesrepublik Deutschland ist ein sehr Antrag der Bundesregierung in Verbindung mit dem An- freies, weltoffenes und auch sehr sicheres Land. Das kann trag des Bundeskanzlers gemäß Art. 68 des Grundgeset- nicht im Streit stehen. Wir wollen dieses Land nicht ver- zes beraten und abgestimmt werden. ändern. Wir wollen es vor dem Hintergrund der Heraus- Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? – forderungen des 11. September ein gutes Stück sicherer Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. machen. Das ist sachgerecht, das ist notwendig.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 a auf: Präsident Wolfgang Thierse: Gestatten Sie eine Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD Zwischenfrage des Kollegen Repnik? und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN einge- brachten Entwurfs eines Terrorismusbekämp- Dieter Wiefelspütz (SPD): Bitte, gern. fungsgesetzes – Drucksache 14/7386 – Hans-Peter Repnik (CDU/CSU): Herr Kollege Überweisungsvorschlag: Wiefelspütz, wie beurteilen Sie die Tatsache, dass bei der Innenausschuss (f) Beratung über einem der wichtigsten Gesetze, die wir in Auswärtiger Ausschuss dieser Legislaturperiode zum Thema „Terrorismus- Rechtsausschuss Finanzausschuss bekämpfung“ behandeln, der dafür zuständige Innen- Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung minister nicht zugegen ist? Ausschuss für Gesundheit (B) Verteidigungsausschuss (D) Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Dieter Wiefelspütz (SPD): Herr Kollege Repnik, die- Ausschuss für Tourismus ses Gesetz trägt die Handschrift des Bundesinnenministers. Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO (Lachen bei der CDU/CSU) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Der Bundesinnenminister ist auf dem Wege hierher und Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. – Ich höre steht, wie mir gerade gesagt worden ist, im Verkehrsstau. keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich bitte um Verständnis; er wird in wenigen Minuten hier eintreffen. Es ist eine Selbstverständlichkeit, dass der Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen Minister an dieser Debatte teilnimmt. Herr Repnik, er Dieter Wiefelspütz, SPD-Fraktion, das Wort. wird zweifelsfrei auch nachher in dieser Angelegenheit ( [CDU/CSU]: Die Regierungs- das Wort ergreifen. bank ist wieder eindrucksvoll besetzt! Kein ein- Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen in ziger Bundesminister ist da!) Deutschland Sicherheit nicht neu erfinden. Aber wir ha- ben Veranlassung, uns in dem einen oder anderen Bereich Dieter Wiefelspütz (SPD): Herr Präsident! Meine besser aufzustellen und das eine oder andere Defizit ab- sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Die Bundes- zustellen. Deswegen schlagen wir Ihnen vor, eine Reihe regierung bringt heute ein Terrorismusbekämpfungs- von Gesetzen zu verändern, um die Sicherheit in unserem gesetz ein, das das umfassendste Verbrechensbekämp- Lande zu erhöhen. fungsgesetz ist, das jemals eine Bundesregierung im Es ist viel über das Spannungsverhältnis von Sicher- Deutschen Bundestag vorgestellt hat. heit und Freiheit diskutiert worden. Man darf Sicherheit (Beifall bei der SPD – Dr. und Freiheit nicht gegeneinander ausspielen: Es gibt [CDU/CSU]: Hemmungslose Übertreibung!) keine Sicherheit ohne Freiheit und keine Freiheit ohne Si- cherheit. Deshalb sollten wir hier miteinander auch kei- Herr Marschewski und Herr Geis, das mag Ihnen ja nen Popanz aufbauen. peinlich sein: Aber Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der Opposition, werden diesem Gesetzeswerk sicher sehr (Bundesminister Otto Schily betritt den Sit- zungssaal – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] gern zustimmen. [SPD]: Vielleicht entschuldigen Sie sich mal, (Norbert Geis [CDU/CSU]: Das kommt Herr Repnik! – Zurufe von der CDU/CSU: darauf an!) Guten Morgen, Herr Minister! – Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19665

Dieter Wiefelspütz (A) [CDU/CSU]: Wir haben Sie schon im Fern- der Herausforderungen des 11. September werden wir (C) sehen gesehen, Herr Minister! Sie verstehen aber genauer hinschauen, wer aus dem Ausland nach viel von Fußball, aber wenig von innerer Si- Deutschland kommt. Auch hier muss sich niemand cherheit! Das ist ein Skandal!) Sorgen machen, dass wir nun Deutschland abzuschotten begännen. Wir würden uns selbst am meisten schaden, – Können wir die Debatte vielleicht weiterführen? wenn wir dies täten. Wir werden aber genauer hinschauen, (Michael Glos [CDU/CSU]: Das hätte Cicero welche Menschen aus Problemzonen der Welt zu uns nicht gemacht! Cicero wäre da gewesen!) kommen. Ich sage unmissverständlich und zugegebener- maßen etwas verkürzt: Wir wollen nicht, dass Extre- Das Spannungsverhältnis von innerer Sicherheit und misten nach Deutschland kommen. Freiheit wird durch das Terrorismusbekämpfungsgesetz nicht beeinträchtigt. Die Bundesrepublik Deutschland ist (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ein freier und sehr sicherer Staat; daran wird sich selbst- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) verständlich nichts ändern. Wir werden alle rechtsstaatlichen Register ziehen, um si- Wir müssen die Sicherheitsarchitektur unseres Landes cherzustellen, dass keine Extremisten nach Deutschland nicht infrage stellen. Wir brauchen auch keine neuen Struk- kommen, die die Sicherheit unserer Gesellschaft und un- turen, sollten aber die bestehenden Strukturen stärken. Wir seres Landes gefährden. brauchen keine neuen Behörden, sondern sollten die beste- ( [CDU/CSU]: Es geht auch henden, effektiv arbeitenden Behörden personell und säch- darum, ob Sie alles tun, um politische Extre- lich dort noch besser ausstatten, wo dies geboten ist. misten rauszuschmeißen!) (Erwin Marschewski [Recklinghausen] – Wir werden, Herr von Klaeden, zuerst dafür Sorge tra- [CDU/CSU]: Dann mal ran!) gen müssen, dass sie in unser Land nicht hereinkommen. Genau dies wird geschehen. Ich füge hinzu: Diejenigen, die schon da sind, werden die- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ses Land verlassen müssen. Wir werden dafür Sorge tra- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) gen, dass dies im Rahmen rechtsstaatlicher Verfahren ge- schieht. Wir haben es zuwege gebracht, für die innere Sicher- heit nur auf der Ebene des Bundes 500 Millionen DM Im Übrigen, lieber Herr Kollege Marschewski, ist das zusätzlich bereitzustellen, damit wir uns in den verschie- längst geltendes Recht. Schauen Sie doch bitte einmal in densten Bereichen personell und sachlich besser aufstel- das Ausländergesetz hinein! Ein Ausländer, der die innere len und Strukturen verbessern können. Sicherheit Deutschlands gefährdet, kann selbstverständ- (B) lich schon jetzt ausgewiesen werden. Diese Möglichkeit (D) Ich sage sehr deutlich, dass wir vonseiten der SPD- besteht längst. Auch in dem vorliegenden Gesetz sind ei- Bundestagsfraktion überhaupt nichts davon halten, die in- nige zusätzliche Möglichkeiten zur Ausweisung ge- nere Sicherheit zu militarisieren. schaffen worden. Zuständig für das Umsetzen der Ge- (Norbert Geis [CDU/CSU]: Das will auch setze, auch derjenigen, die wir jetzt machen, sind die keiner!) Bundesländer. Es ist völlig abseitig, zu glauben, dass unsere tüchtige (Dr. [FDP]: Es hapert nur Bundeswehr etwas leisten solle und könne, wozu sie bei der Abstimmung!) überhaupt nicht da ist. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Präsident Wolfgang Thierse: Kollege Wiefelspütz, DIE GRÜNEN) gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Bonitz? Sie ist dazu da, äußere Sicherheit zu gewährleisten. Dort Dieter Wiefelspütz (SPD): Gerne, bitte. wird sie auch Aufgaben bei der Terrorismusbekämpfung haben, soweit diese eine internationale Dimension hat. Darüber werden wir morgen in diesem Hause zu reden ha- Sylvia Bonitz (CDU/CSU): Herr Kollege ben. Aber im Bereich der inneren Sicherheit gibt es über Wiefelspütz, wie wollen Sie gerade in Anbetracht zahlrei- das hinaus, was die Verfassung vorsieht, keine weiteren cher Abschiebehemmnisse sicherstellen, dass kriminelle Aufgaben für die Bundeswehr. Wir sollten die bestehen- Ausländer das Land tatsächlich verlassen müssen? Das ist den Strukturen – ich wiederhole es – stärken und keine doch momentan die Kernfrage. Geisterdebatten über Fragen führen, die sich gar nicht stellen. Es gibt im Hinblick auf Amtshilfe da und dort Dieter Wiefelspütz (SPD): Frau Bonitz, wir sollten Möglichkeiten. Aber das ist nicht der Kern der Ausei- uns zuerst darauf verständigen – ich glaube, zwischen Ih- nandersetzung, wenn es darum geht, die innere Sicherheit nen und mir besteht darüber Einigkeit –, dass diejenigen, zu stärken. Das weiß auch jeder, der sich fachlich damit die – ich sage das verkürzt – nachweislich eine Gefahr für beschäftigt. die Sicherheit unseres Landes und unserer Gesellschaft Meine Damen und Herren, die Bundesrepublik darstellen, dieses Land, soweit es sich um Ausländer han- Deutschland ist ein sehr weltoffenes Land. Auch daran delt, verlassen müssen. Ich denke, hier sind wir einer Auf- wollen wir überhaupt nichts ändern. Vor dem Hintergrund fassung. 19666 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001

Dieter Wiefelspütz (A) Wir wissen, dass es Abschiebeprobleme gibt, weil im- Lange und zum Teil sehr grob ist über die wichtige (C) mer ein Staat gefunden werden muss, der die abgeschobe- Schnittstelle Bundeskriminalamt – Generalbundes- nen Ausländer aufnimmt. Das ist das Problem. Aber das an-walt diskutiert worden. Das ist ein sensibler Bereich. ist kein Problem des deutschen Rechtes. Das ist vielmehr Ich sage hier sehr deutlich: Es war überhaupt kein Pro- das Problem des Landes, das die Betreffenden aufnimmt. blem – überhaupt kein Problem! –, gemeinsam mit Bun- Weder kann ich Ihnen oder den von Ihrer Partei geführten desinnenminister Schily klarzustellen, dass diese wich- Landesregierungen dieses Problem vorhalten noch können tige Schnittstelle zwischen den Befugnissen der Polizei Sie das Problem sozialdemokratischen Ministerpräsidenten einerseits und den Befugnissen der Justiz andererseits oder Landesinnenministern vorhalten. Dieses Problem ist nicht verschoben wird, weder in die eine noch in die an- schwierig zu bewältigen. Aber auch hier gibt es Fort- dere Richtung, was im Übrigen schon unser Verfas- schritte, weil wir, liebe Kollegin Bonitz, einen Bundesin- sungsrecht verbietet. nenminister haben, der auch die internationale Dimension seiner Arbeit sieht. Wir sorgen dafür – so schwer das auch Wir sind allerdings der Auffassung, dass das Bundes- ist –, dass Rückführungsübereinkommen geschlossen wer- kriminalamt in seiner bereits bestehenden Funktion als den, dass also vertragliche Verpflichtungen eingegangen Zentralstelle noch einmal zusätzlich gestärkt werden werden. Diesen Weg werden wir – hoffentlich, Frau muss und soll. Das halten wir für richtig. Deswegen sehen Bonitz – auch gemeinsam weitergehen. wir eine maßvolle Änderung des Bundeskriminalamtge- setzes vor. Auch insoweit gibt es eine große Diskussion, (Beifall bei Abgeordneten der SPD) die da und dort nicht immer von Sachkenntnis getrübt ist. Lassen Sie mich noch ein, zwei Bemerkungen zum Ich bin der festen Überzeugung, dass auch dies rechts- Datenschutz machen, über den in letzter Zeit – zum Teil staatlich ganz, ganz sauber und korrekt ist. sehr zugespitzt – immer wieder geredet worden ist. Ich sage Ich komme zum Schluss. Ich hoffe auf eine breite Ihnen sehr deutlich: Der Datenschutz ist eine Errungen- Mehrheit für dieses Gesetz. Es wird die Sicherheit unse- schaft des Verfassungsstaates. Er wird von Jahr zu Jahr res Landes erhöhen, aber die Freiheit nicht beeinträchti- nicht unwichtiger, sondern wichtiger, weil wir alle in einer gen. Der Rechtsstaat Bundesrepublik Deutschland ist ein Gesellschaft leben, in der jeder privat und persönlich im- reifer Rechtsstaat, der willens ist und befähigt werden mer mehr Daten produziert. Ich sehe auch überhaupt muss, sich den terroristischen Bedrohungen zu stellen und keinen Gegensatz zwischen effektiver Verbrechensbe- ihnen kämpferisch und entschlossen zu begegnen – mit kämpfung und Datenschutz. Das Grundrecht auf informa- Tatkraft, mit Entschiedenheit, gleichzeitig aber auch mit tionelle Selbstbestimmung bleibt geschützt. Sein Schutz dem gebotenen rechtsstaatlichen Augenmaß. muss und darf kein Gegensatz zu einer effektiven Verbre- (B) chensbekämpfung sein. Wir werden an der einen oder an- Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (D) deren Stelle genau hinschauen müssen, ob unter dem Ge- sichtspunkt Sicherheit und Verbrechensbekämpfung die (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Verhältnisse richtig austariert sind. Aber im Kern, denke DIE GRÜNEN) ich, will niemand den Datenschutz infrage stellen. Es ist da und dort heftige Kritik an der Rechtsstaat- Präsident Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort lichkeit des vorliegenden Gesetzeswerkes geäußert wor- dem Kollegen Wolfgang Bosbach, CDU/CSU-Fraktion. den. Ich bin mir sicher, dass das, was wir hier tun, rechts- staatlich bedenkenfrei ist. Ich bin sehr dafür, dass die Wolfgang Bosbach (CDU/CSU): Herr Präsident! Öffentlichkeit an der Diskussion über diesen Gesetzent- Meine Damen und Herren! Seit den mörderischen An- wurf beteiligt wird. Wir wollen eine öffentliche An- schlägen in den USA vom 11. September, die auch uns ge- hörung. Wir haben überhaupt nichts zu verbergen. Ganz troffen haben, hat der Innenminister eine ganze Reihe von im Gegenteil: Die geplanten Maßnahmen sollen und müs- schneidigen Reden gehalten. Mit markigen Worten, die er sen auf den Prüfstand der Öffentlichkeit. Aber wir haben allerdings besser schon vor diesem Datum hätte benutzen den Wunsch, dass man genau hinschaut, was wir machen, sollen, hat er den zu laschen Umgang mit Kriminellen und und dass man dann kompetente Kritik äußert. Extremisten beklagt sowie einen entschlossenen Kampf Wir haben nach den Beratungen einige Kritikpunkte gegen den Terror gefordert. Kaum ein Bild wurde öfter aufgegriffen. Wir befristen zum Beispiel eine Reihe von publiziert als das des Schutzhelm tragenden und Schlag- besonders sensiblen Gesetzen. Sie bekommen sozusagen stock schwingenden Innenministers. Er lässt sich seit dem ein Verfallsdatum. Nach fünf Jahren muss geprüft werden, 11. September gern als „roter Sheriff“ feiern. Nicht we- ob die entsprechenden Gesetze verlängert werden sollen. nige Bürger haben sich in den vergangenen Wochen von Soweit Nachrichtendienste in sensiblen Bereichen not- diesen Auftritten beeindrucken lassen – dies sicherlich wendige, zusätzliche Befugnisse bekommen sollen, ist deshalb, weil sie zunächst davon ausgingen, dass den die umfassende parlamentarische Kontrolle durch das starken Worten auch starke Taten folgen würden. Davon PKG, das Parlamentarische Kontrollgremium, und durch kann jedoch keine Rede sein. die G-10-Kommission gewährleistet. Die Bürger werden (Beifall bei der CDU/CSU) nachträglich benachrichtigt, wenn die Gefahr vorbei ist, damit auch sichergestellt ist, dass niemand befürchten Leider gilt auch in der Innen- und Sicherheitspolitik muss, dass er ins Visier von Nachrichtendiensten kommt das, was für die gesamte rot-grüne Regierungsarbeit ty- und niemals davon erfährt. pisch ist: Es gibt keinen Mangel an starken Worten, son- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19667

Wolfgang Bosbach (A) dern es gibt einen erkennbaren Mangel an notwendigen unser Mitleid hält sich in Grenzen. Die bisherige Aufga- (C) und längst überfälligen Entscheidungen. benverteilung, wonach der Innenminister für die starken Worte und die Koalition für die schwachen Taten zustän- (Beifall bei der CDU/CSU – Volker Beck [Köln] dig ist, lassen wir Ihnen nicht länger durchgehen. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN], den Gesetzent- wurf zeigend: Und was ist das?) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Die Diskrepanz zwischen den Worten und den Taten des Innenministers ist ebenso unübersehbar wie seine Was ist eigentlich aus Ihrem famosen Vorschlag ge- mangelnde Bereitschaft, in der rot-grünen Koalition das worden, durch die Aufnahme eines Fingerabdrucks so- durchzusetzen, was zum Schutz unserer Bürger dringend wohl in den Personalausweis als auch in den Reisepass die notwendig ist. In einer Koalition muss man gelegentlich Dokumente praktisch fälschungssicher zu machen? Die- Kompromisse machen; das mussten wir früher auch. sen Vorschlag haben Sie noch vorgestern auf einer Tagung (Zuruf von der SPD: Ach nein!) des Bundeskriminalamtes wiederholt. Aber es ist nicht hinnehmbar, wenn, wie hier geschehen, (Zuruf von der CDU/CSU: Hört! Hört!) zugunsten der Koalition und zulasten der Bürger unseres Warum sieht dieser Gesetzentwurf nur abstrakt-theore- Landes Kompromisse in puncto innere und äußere Si- tisch die Möglichkeit vor, diese Maßnahme einzuführen? cherheit gemacht werden. Warum werden dafür nicht sofort die gesetzlichen Voraus- (Beifall bei der CDU/CSU) setzungen geschaffen? Wenn Sie, Herr Innenminister, von der Notwendigkeit (Erwin Marschewski [Recklinghausen] einer Maßnahme überzeugt sind, dann dürfen Sie bei Wi- [CDU/CSU]: Sehr gut!) derstand nicht einknicken, sondern müssen diese Maß- Sie wissen doch selber ganz genau, dass die dagegen vor- nahme durchsetzen. Der vorliegende Gesetzentwurf getragenen Argumente nicht stichhaltig sind. bleibt nicht nur weit hinter dem zurück, was für eine wirklich effektive Bekämpfung der Kriminalität, des Ter- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) rorismus und des politisch oder religiös motivierten Ex- In einem ersten Akt wurde beklagt, dass durch den Fin- tremismus notwendig ist, sondern auch hinter dem, was gerabdruck ein ganzes Volk unter Generalverdacht ge- Sie selber noch bis vor kurzem als richtig und wichtig stellt werde. Mit der gleichen Logik könnte man auch be- proklamiert haben. haupten, dass durch ein Porträtfoto oder die Merkmale Schon ein einziges Beispiel verdeutlicht das merkwür- Größe und Augenfarbe jeder Bürger unter Generalver- (B) dige Treiben der Koalition in puncto Sicherheit. Das Fern- dacht stehe. (D) meldeanlagengesetz gibt den Strafverfolgungsbehörden Als Nächstes wurde dann von einem grünen Experten die Befugnis, bei Telekommunikationsdienstleistern Ver- behauptet, dass man aus einem Fingerabdruck eine gene- bindungsdaten abzufragen, zum Beispiel: Wann hat der tische Disposition ablesen könne. Verdächtige mit wem wie lange telefoniert oder auf an- dere Art und Weise kommuniziert? Das sind für Strafver- (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU – folgungsbehörden sehr wichtige Informationen für die Friedrich Merz [CDU/CSU]: Schwachsinn!) Überführung von Straftätern. Wohlgemerkt, es geht nur Weil jedoch bis heute kein einziger Humanbiologe gefun- um die Erhebung von Verbindungsdaten, nicht etwa um den werden konnte, der bereit und in der Lage ist, diese das Mithören von Gesprächen. Die Regelung ist befristet Behauptung zu bestätigen, wurde das Argument wieder und läuft am 31. Dezember, also in sechs Wochen, aus. Sie eingesammelt. hat sich bewährt, ist unverzichtbar und muss auf Dauer er- halten bleiben. Nun wird behauptet, diese Maßnahme sei in natio- nalem Rahmen nicht sinnvoll, man müsse das europaweit Noch am 1. Oktober, also 20 Tage nach den Anschlägen lösen. Warum aber sollen wir in Deutschland darauf ver- vom 11. September, leitete der Bundeskanzler diesem Haus zichten, wenigstens unsere eigenen Ausweise fälschungs- einen Gesetzentwurf zu, mit dem den Strafverfolgungs- sicher zu machen, wenn andere Staaten noch nicht so weit behörden der Zugriff auf diese Daten zukünftig erschwert sind? Das macht doch keinen Sinn. und nicht etwa erleichtert werden soll. Für die Arbeit der Ermittler soll also eine neue Hürde errichtet werden. (Beifall bei der CDU/CSU – Alfred Hartenbach [SPD]: Das kommt doch! Was hat das mit Ter- Aber selbst die abschließende Beratung dieser Rege- rorismusbekämpfung zu tun?) lung, die heute stattfinden sollte, wurde von der Koalition abgesetzt. Wenn es dabei bleibt, stehen die Strafverfol- Das im wahrsten Sinne des Wortes letzte Argument gungsbehörden am 1. Januar mit leeren Händen da und lautet: Wenn der Staat einmal alle Fingerabdrücke gespei- haben überhaupt keine Möglichkeit mehr, diese Daten zu chert habe, dann werde er sie ganz sicher nicht nur im ge- erheben. setzlichen Rahmen nutzen, nämlich zur Feststellung der Identität, sondern für andere Zwecke, also rechtswidrig. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Hinter dieser Argumentation verbirgt sich ein tiefes Miss- Abgeordneten der FDP) trauen gegenüber unserem Staat und seinen Institutionen, Herr Schily, Ihre Probleme mit den Grünen, aber auch denen wir alle unsere Sicherheit anvertrauen. Dieses mit Teilen Ihrer eigenen Partei sind uns ja bekannt. Aber Misstrauen haben die Mitarbeiter der Justiz und der 19668 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001

Wolfgang Bosbach (A) Sicherheitsbehörden nicht verdient. Sie haben gerade in trag zu mehr Sicherheit leisten können. Darunter sind (C) dieser ausgesprochen schweren Zeit einen Anspruch darauf, auch solche, die von Ihnen bisher immer abgelehnt wur- dass wir ihnen vertrauen und dass wir sie in ihrer verant- den und deswegen längst überfällig sind. Aber Sie sprin- wortungsvollen Arbeit unterstützen und nicht behindern. gen zu kurz: Es fehlt Entscheidendes. (Beifall bei der CDU/CSU) Beispiel Kronzeugenregelung. Gerade beim Kampf gegen die organisierte Kriminalität oder gegen ethnisch Natürlich müssen wir jede einzelne Maßnahme darauf- hin überprüfen, ob sie sinnvoll ist, geschlossene Tätergruppen ist sie ein unverzichtbares Mittel, weil leider oft nur mit der Hilfe von Täterzeugen (Alfred Hartenbach [SPD]: Richtig, Herr andere Täter überführt und vor allen Dingen neue Strafta- Bosbach!) ten verhindert werden können. Rot-Grün hat die alte ob sie zur Abwehr von Gefahren oder zur Aufklärung von Kronzeugenregelung 1999 ersatzlos auslaufen lassen. Straftaten, zur Überführung von Tätern notwendig ist. Das war ein kapitaler Fehler, wie Ihnen erst vor wenigen Tagen im Rahmen einer Sachverständigenanhörung von (Alfred Hartenbach [SPD]: Sehr gut, Herr Fachleuten ausdrücklich vorgehalten wurde. Bosbach!) Die „Süddeutsche Zeitung“ schrieb am 8. Januar die- Wir müssen die Grundrechte und das Verhältnismäßig- ses Jahres: keitsprinzip beachten. Justizministerin bestätigt Vorhaben der Koalition (Alfred Hartenbach [SPD]: Auch richtig!) Regierung plant neue Kronzeugenregelung. Aber es ist einfach falsch, wenn nunmehr schon wieder Das umstrittene Rechtsinstitut soll nach einjähriger behauptet wird, dass durch die notwendigen Maßnahmen Unterbrechung für Neonazis wieder eingeführt wer- beim Kampf gegen den Terror der demokratische Rechts- den. staat in Gefahr ist. Unsere Mitbürger haben doch heute keine Angst vor einem zu starken Staat, sondern sie haben Wahrscheinlich war gemeint: gegen Neonazis. Wieso Angst vor einem zu schwachen Staat, eigentlich nur gegen Neonazis und nicht auch zum Kampf gegen die organisierte Kriminalität oder gegen (Beifall bei der CDU/CSU) den Terror? der nicht alles Zumutbare unternimmt, um die Bürger (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- wirksam vor Kriminalität zu schützen. neten der FDP) Die Argumente sind doch nicht neu. Wir alle kennen Wenn es richtig ist, dass die Regierung seit Anfang des (B) die Argumente, die heute vorgetragen werden, und zwar Jahres an einer neuen Kronzeugenregelung herumbastelt, (D) aus der Zeit der Notstandsgesetzgebung: Wenn die Not- warum war es dann in den vergangenen zehn Monaten standsgesetze kommen, dann ist der demokratische nicht möglich, einen Gesetzentwurf vorzulegen? Welche Rechtsstaat am Ende. Sie kamen und er war nicht am unsichtbaren Mächte in diesem Lande hindern die Regie- Ende. Dann kam die nächste Welle. Beim Kampf gegen rung eigentlich daran, das zu tun, was notwendig und den RAF-Terror wurde behauptet: Wenn wir bestimmte längst überfällig ist? Maßnahmen gegen die RAF ergreifen, dann ist der demo- kratische Rechtsstaat in Gefahr. Wir haben sie ergriffen (Beifall bei der CDU/CSU) und der demokratische Rechtsstaat wurde gestärkt. Dann, Die Identitätsfeststellung bei der Einreise von Auslän- Anfang der 80er-Jahre, kam die Volkszählungshysterie: dern ist eine wichtige, dringend notwendige Maßnahme. Wenn die Volkszählung kommt, dann haben wir den glä- 80 Prozent aller Asylbewerber, die nach Deutschland sernen Bürger und den Überwachungsstaat. Die Volks- kommen, haben keinen Ausweis. Wir können ihre Anga- zählung ist gekommen und wir haben heute einen demo- ben zur Nationalität und Identität lediglich glauben; ob sie kratischen Rechtsstaat, auf den wir stolz sein können. Es wahr sind, das wissen wir nicht und das können wir auch gibt keine Veranlassung, ihn infrage zu stellen. nicht nachprüfen. Wie können wir einen Kriminellen, ei- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- nen rechtskräftig abgelehnten Asylbewerber oder wen neten der FDP) auch immer abschieben, wenn wir gar nicht wissen, wer er ist und woher er kommt? In vielen Fällen werden die Wir wollen auch weiterhin ein freiheitliches Land und Betroffenen aber zuvor bei der Auslandsvertretung ein Vi- eine tolerante Gesellschaft sein. Aber wenn wir das auf sum erhalten und danach, nach erfolgter Einreise, ihren Dauer bleiben wollen, dann müssen wir jene entschlossen Pass vernichtet haben. Hätten wir in der Auslandsvertre- bekämpfen, die diese Toleranz dazu nutzen, unser Land tung den Pass kopiert und einen Fingerabdruck genom- und unsere Gesellschaftsordnung anzugreifen. Recht und men, könnten wir bei der Asylantragstellung in Deutsch- Gesetz – law and order – sind jedenfalls für die rechts- land nachprüfen, ob, unter welchem Namen und mit treuen Menschen in unserem Land – das ist die überwäl- welcher Nationalität der Antragsteller zuvor ein Visum tigende Mehrheit – keine Bedrohung, keine Fesseln, son- beantragt und erhalten hat. dern die unabdingbare Voraussetzung für ein Leben in Sicherheit und Freiheit. (Beifall bei der CDU/CSU) Wir verkennen keineswegs, dass in diesem Gesetzent- Der Regierungsentwurf sieht jetzt die Möglichkeit vor, wurf Maßnahmen enthalten sind, die einen wichtigen Bei- biometrische Merkmale zu erfassen, allerdings nur Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19669

Wolfgang Bosbach (A) dann, wenn ein Ausländer längerfristig nach Deutschland gesetz heute von der Tagesordnung genommen wird. Ich (C) übersiedeln will. kann Sie beruhigen: Sie wird rechtzeitig kommen und am 1. Januar in Kraft treten. (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Das andere geht wieder nur über Schen- (Wolfgang Bosbach [CDU/CSU]: Was steht gen!) denn drin?) Diese Erfassung gilt nicht bei kurzfristigen Aufenthalten Es waren die von Ihnen regierten Länder, die uns dabei unter drei Monaten. Das ergibt überhaupt keinen Sinn. Es behindert haben, das, was wir vorhatten, durchzusetzen, offenbart auch nach wie vor vorhandene Sicherheits- nämlich die Regelungen in § 100 a StPO zur Telefon- lücken. Wieso können nur solche Extremisten gefährlich überwachung und die Regelung des § 100 g miteinander sein, die sich länger als drei Monate in Deutschland auf- zu harmonisieren. halten? (Norbert Geis [CDU/CSU]: Das ist etwas ganz (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) anderes!) Wenn die Bundesregierung meint, diese Sicherheitslücke Herr Beckstein und Herr Bouffier haben die notwendigen allein national nicht schließen zu können, dann muss sie Daten für die Untersuchung, die wir in Auftrag gegeben dafür sorgen, dass dies im Schengen-Verbund geschieht. haben, nicht geliefert. Allein diese wenigen Beispiele zeigen, dass die Koali- (Erwin Marschewski [Recklinghausen] [CDU/ tion nicht das vorschlägt, was notwendig ist, sondern nur CSU]: Sie haben doch keine Ahnung!) das, worauf man sich in der Koalition noch so eben eini- Sie haben damit die Arbeit der Koalition behindert, ob- gen konnte, und das ist erkennbar zu wenig. wohl es uns allen darum geht, auch bei der Telekommu- (Beifall bei der CDU/CSU) nikationsüberwachung in einem rechtsstaatlich vernünf- tigen Sinne die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen. Das Maßnahmenpaket ist notwendig, aber bei weitem nicht ausreichend. Die Bürger haben einen Anspruch da- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN so- rauf, dass nicht nur etwas geschieht, sondern dass alles wie bei Abgeordneten der SPD – Dr. Wolfgang Notwendige geschieht. Sie bleiben auf halber Strecke ste- Gerhardt [FDP]: Ihr behindert euch doch hen und wer das tut, der wird sein Ziel nicht erreichen. selbst!) Danke fürs Zuhören. Zum Thema Kronzeugenregelung haben Sie auf die Anhörung Bezug genommen. Herr Bosbach, im Gegen- (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU – Bei- satz zu Ihnen war ich dort. (B) fall bei Abgeordneten der FDP) (D) (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD) Präsident Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort Dort wurde zwar von einigen Vertretern, die schon immer dem Kollegen Volker Beck, Bündnis 90/Die Grünen. ein Fan der Kronzeugenregelung waren, gesagt, dass sie dieses Baby gerne wieder haben würden – wir diskutieren in der Koalition in der Tat auch über eine Strafzu- Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) messensregelung für Präventions- und Aufklärungsgehil- (vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mit Beifall begrüßt): fen –, aber alle waren der Meinung, dass sie im Kampf Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Man merkt an gegen den Terrorismus, gegen diese geschlossenen den schrillen Tönen des Herrn Bosbach, islamischen Fanatikergruppen, überhaupt nicht helfe. (Zurufe von der CDU/CSU: Oh!) Deshalb hat sie mit dieser Debatte auch gar nichts zu tun. dass Sie doch sehr darunter leiden, dass diese Koalition (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN so- innenpolitisch handlungsfähig ist, wie bei Abgeordneten der SPD – Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Das stimmt ja gar nicht! – (Zurufe von der CDU/CSU: Oh!) Norbert Geis [CDU/CSU]: Das ist ja gar nicht dass sie es geschafft hat, mit diesem Sicherheitspaket die wahr!) notwendige Balance zwischen den Erfordernissen der – Herr Geis, Sie haben es doch selber gehört. Selbst Ihre Sicherheit und der Rechtsstaatlichkeit zu finden. Sachverständigen haben gesagt: Hier hilft die Kronzeu- ( [SPD]: Sehr wahr!) genregelung nicht. Deshalb können Sie hier nur mit unsinnigen und absurden Argumentationen versuchen, den Eindruck zu erwecken, Präsident Wolfgang Thierse: Kollege Beck, gestat- es würde noch irgendetwas fehlen. Wir haben alles Not- ten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Geis? wendige gemacht, aber wir haben es auf das rechtsstaat- lich Vertretbare beschränkt, und das ist auch gut so. Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Aber gerne. sowie bei Abgeordneten der SPD) Herr Bosbach, Sie haben sich besorgt darüber gezeigt, Norbert Geis (CDU/CSU): Herr Beck, würden Sie dass die Nachfolgeregelung zum Fernmeldeanlagen- mir zugeben, dass das, was Sie eben gesagt haben, dass 19670 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001

Norbert Geis (A) die Kronzeugenregelung für den Kampf gegen den Terro- wohl auch von entzündet hatte. In dem (C) rismus ungeeignet sei, nicht stimmt, sondern dass dies nur überholten, etwas flapsig „Otto-Katalog“ genannten Ent- für den verdeckten Ermittler zutrifft? – Sie haben dieses wurf fanden sich Vorschläge, die die Prädikate verhältnis- verwechselt. – Würden Sie mir ebenfalls zugeben, dass mäßig oder gar bürgerrechtsfreundlich aus Sicht meiner gerade auch die von der SPD bestellten Sachverständigen Fraktion in der Tat nicht verdient hatten. Aber – auch das uns dringend geraten haben, die Kronzeugenregelung so sei ehrlicherweise in dieser Debatte gesagt – es handelte schnell wie möglich wieder einzuführen? sich um einen Arbeitsentwurf der Beamten und stellte nur eine Diskussionsgrundlage für die Koalition dar. Wir ha- ben gemeinsam mit dem Innenminister das politisch Ver- Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): nünftige hier in der Koalition formuliert. Herr Geis, ich kann Ihnen das leider nicht bestätigen. Ich biete Ihnen aber als Folge dieser Debatte eine gemein- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- same Lektüre des Ausschussprotokolls an, sobald es vor- SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) liegt. Dann werden wir uns austauschen und wahrschein- Auch die Tauglichkeit hinsichtlich des Gesetzeszweckes lich gemeinsam feststellen, dass genau das gesagt wurde, wurde bei manchen Maßnahmen berechtigterweise in- was ich hier dargestellt habe. Dann sind vielleicht wenigs- frage gestellt. Diese Einwände sind nun bei dem hier vor- tens die Grundlagen klar. liegenden Entwurf obsolet. Meine Damen und Herren, die Anschläge vom Das heute vorliegende Terrorismusbekämpfungsgesetz 11. September stellen quantitativ wie auch qualitativ eine hat in manchen Punkten mit den ursprünglichen Vor- neue Form des Terrorismus dar. Sie haben uns Gefahren schlägen nicht mehr viel gemein. Seriöse Kritiker müssen von einem ungeahnten Ausmaß vor Augen geführt. Mit anerkennen: Die unverhältnismäßigen Spitzen der Ur- dem heutigen Entwurf reagiert die Koalition angemessen sprungsfassung sind gekappt. Zu den wohl umstrittensten und in rechtsstaatlich vertretbarer Weise auf diese Bedro- Maßnahmen im alten Entwurf gehörte eine verdachts- hung. Dieses umfangreiche Maßnahmenpaket – es sind unabhängige Vorermittlungskompetenz des Bundes- über 100 Seiten Gesetzestext, Herr Kollege Bosbach – ga- kriminalamtes. Es wäre wahrlich ein Albtraum, wenn das rantiert ein Optimum an Sicherheit für die Bürgerinnen BKA künftig ohne jeden Anlass Personen befragen und und Bürger. Gleichzeitig aber bleiben Rechtsstaatlichkeit Daten erheben hätte können. Aber dieser Vorschlag ist und Bürgerrechte gewahrt. Wir haben die Balance gefun- nun vom Tisch. Es bleibt bei der geltenden Regelung. den. Es ist nichts geschehen, was als Entwicklung hin zu einem orwellschen Überwachungsstaat gedeutet werden (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) könnte. Es handelt sich um verhältnismäßige Maßnahmen Das BKA kann in seiner Funktion als Zentralstelle nur zur Wahrung der Sicherheit der Bevölkerung. Günter (B) über andere Stellen Daten erheben. Personenbefragungen (D) Grass hat kürzlich gemahnt, jetzt rechtsstaatliche Posi- sind auch künftig nur bei einem konkreten Anfangsver- tionen in unserem Land zu schmälern bedeute quasi, das dacht im Rahmen von strafrechtlichen Ermittlungen Geschäft der Terroristen zu betreiben. Er hat damit im zulässig. Prinzip Recht. Diese Art von Gefallen dürfen und werden wir den Terroristen nicht tun. (Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Unfug!) Es ist jedem klar, dass es in unserer offenen Gesell- schaft niemals lückenlose Sicherheit geben kann. Trotz- Wir verwischen damit nicht die Grenzen zwischen den dem haben die Ereignisse vom 11. September neu die Aufgaben der Strafverfolgung und der Gefahrenabwehr. Frage aufgeworfen, wie viel Sicherheit wir brauchen und Beseitigt werden aber bürokratische Hindernisse, die mit welchen Instrumenten wir sie gewährleisten können. während Ihrer Regierungszeit nicht beseitigt wurden. Es geht um mehr Sicherheit für und nicht gegen die Bür- Das BKA muss künftig nicht mehr bei jeder Anfrage den gerinnen und Bürger. Der Verhältnismäßigkeitsgrund- Umweg über die Länderpolizeien gehen. Rechtsstaatlich satz gehört zu den Kerngedanken des Rechtsstaates. Für vertretbar und sicherheitspolitisch geboten ist auch die den Gesetzgeber bedeutet dies: Wir dürfen nicht mit Ka- Erweiterung der Kompetenzen der Behörde um be- nonen auf Spatzen schießen. Angesichts der neuen Be- stimmte Bereiche der Hochtechnologiekriminalität. Da- drohungslage sind aber auch Maßnahmen erforderlich, zu mit tragen wir dem Umstand Rechnung, dass die Län- denen man unter normalen Umständen, ohne diese Be- derpolizeien hierfür in der Regel nicht die technischen drohung, nicht gegriffen hätte. Das hat der von mir sonst Fähigkeiten haben. sehr geschätzte Ex-Kollege Burkhard Hirsch in seinem In der Öffentlichkeit wurde auch lebhaft die Frage dis- Beitrag in der „Süddeutschen Zeitung“ mit der Über- kutiert, ein so genanntes biometrisches Merkmal wie schrift „Abschied vom Grundgesetz“ leider verkannt. Un- zum Beispiel den Fingerabdruck künftig als zwingend in ser Grundgesetz kennt ja nicht nur Abwehrrechte der Bür- das Personalausweis- und in das Passgesetz aufzuneh- ger gegenüber dem Staat. Es beinhaltet auch den men. Wir haben diese Frage in der Koalition vor dem Hin- Schutzauftrag an den Staat, die Ausübung der verfas- tergrund diskutiert, dass es Mohammed Atta gelungen sungsrechtlich garantierten Freiheitsrechte durch seine war, unter drei verschiedenen Identitäten in die Bun- Bürger zu gewährleisten. desrepublik einzureisen. Vor diesem Hintergrund müssen Dieser Entwurf unterscheidet sich ganz erheblich von wir sagen: Fälschungssichere Ausweise und Personaldo- älteren Diskussionsvorschlägen, an denen sich zu Recht kumente sind ein wichtiges sicherheitspolitisches Anlie- die Kritik von Bürgerrechtlern und Datenschützern und gen. Deshalb unterstützen wir die Ankündigung des In- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19671

Volker Beck (Köln) (A) nenministers, Pässe und Personalausweise künftig mit das für die Sicherheit Notwendige in unserem Land. (C) fälschungssicheren Hologrammen zu versehen. Dies hat (Wolfgang Zeitlmann [CDU/CSU]: Zeigen Sie jedoch nichts mit erkennungsdienstlicher Behandlung im nicht immer mit dem Finger auf uns!) Rahmen von Strafverfahren zu tun. Sie verblüfft es enorm, dass beides zusammen geht, weil (Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Ihre Sicherheitspolitik immer von dem Grundgedanken Der Fingerabdruck tut doch nicht weh!) gekennzeichnet war: Wenn es der Freiheit und der Rechts- Der Fingerabdruck eines Bürgers würde diesen schon staatlichkeit schadet, dann wird es der Sicherheit schon zu einem Tatverdächtigen machen, wenn er sich durch gut tun. Das ist aber eine falsche These. Zufall in der Nähe eines Tatortes befindet. Das wollen wir nicht. Eine zentrale Fingerabdruckdatei aller Bürgerinnen Es gibt ein Spannungsverhältnis. Wenn man aber wie und Bürger wäre der Traum so manches Kriminalisten. diese Koalition sorgfältig arbeitet und diskutiert, dann Für Bürgerrechtler und Datenschützer wäre es in der Tat kann man dieses Spannungsverhältnis vernünftig auflö- ein Albtraum. sen. Weil uns dies gelungen ist, verdient dieser Gesetz- entwurf die Unterstützung des ganzen Hauses. (Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Lauter Unsinn, den Sie hier reden!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Wolfgang Zeitlmann Wir werden in diesem Parlament beim Passgesetz und [CDU/CSU]: Ihre Rede muss man einmal nach- beim Personalausweisgesetz noch einmal gründlich disku- lesen! Eine Witzrede! – Dr. Wolfgang Gerhardt tieren, welches biometrische Merkmal gespeichert werden [FDP]: Habe ich mich verhört? „Sorgfältig“?) soll, wie es gespeichert werden soll und wie wir diese Spei- chermöglichkeiten nutzen. Wenn man aber wirklich Si- cherheit schaffen will, dann muss man dieses Thema seriös Präsident Wolfgang Thierse: Ich erteile dem Kolle- diskutieren. Es macht doch angesichts der Verhältnisse im gen Max Stadler das Wort für die FDP-Fraktion. heutigen Europa, im Schengen-Sicherheitsraum, keinen Sinn, in Deutschland – gemäß Ihrem Wunsch – den Fin- Dr. Max Stadler (FDP): Herr Präsident! Meine sehr gerabdruck als biometrisches Merkmal zu nehmen. geehrten Damen und Herren! Die FDP sieht den Gesetz- (Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/ entwurf der Koalition differenziert. Ich finde, es zeichnet CSU]: Wir fangen einmal damit an!) ein Parlament aus, sich bei komplizierten neuen Gesetzen des Sachverstandes von Praktikern und anderer Experten Die Franzosen nehmen die Handbiometrie und die Bel- zu bedienen. Deshalb wird die FDP-Fraktion ihr Abstim- gier die Gesichtsbiometrie. Es würde also Pässe mit drei (B) mungsverhalten erst nach der Anhörung zu diesem Ge- (D) unterschiedlichen biometrischen Merkmalen geben. Weil setz, die wir alle gemeinsam wollen, endgültig festlegen. wir aber nur die technische Ausrüstung zur Erfassung unseres Merkmals haben, können wir die Merkmale, die (Beifall bei der FDP) in anderen Ländern verwandt werden, nicht lesen. Aber, Herr Minister Schily, es gilt weiterhin die Zusage (Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/ der FDP: Wir stimmen den Maßnahmen zu, die notwen- CSU]: So viel Unsinn gibt es nicht noch einmal, dig sind, die sich als tauglich für die Terrorismusbekämp- Herr Beck!) fung zeigen und die dem Verfassungsgrundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen. Sicherheit ist ein Frei- Dafür sollen wir 10 Milliarden DM investieren? Wir heitsthema und damit ein Thema für eine liberale Partei; könnten sie genauso gut in den Papierkorb werfen. Man denn ohne Sicherheit gibt es keine Freiheit. Die innere Si- muss hier überlegt und abgestimmt handeln. Wir werden cherheit zu gewährleisten ist eine Kernaufgabe des Staa- die entsprechende Diskussion seriös führen. tes. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der FDP) Mit dem Sicherheitspaket muss es jetzt schnell gehen. Weiterhin gilt aber auch das, was wir in den vergangenen Wir haben nicht die Zeit für eine gründliche Diskussion. Debatten im Plenum schon ausgeführt haben: Die wir- Wir haben die Grundlagen für die Einführung der biome- kungsvollste Maßnahme zur Erhöhung der inneren Si- trischen Merkmale bei den Visaunterlagen in dem Bereich cherheit ist die bessere personelle, finanzielle und techni- geschaffen, in dem wir nationale Regelungen einführen sche Ausstattung der Sicherheitsbehörden, insbesondere können. Mit den Ländern im Schengen-Raum werden wir der Polizei und der Dienste. die Regelungen für die anderen Bereiche diskutieren. (Beifall bei der FDP) Diese Koalition – das tut Ihnen als Union natürlich be- sonders weh –, Wir haben in den letzten Wochen in unseren Debatten mit konkreten Beispielen wiederholt auf die Vollzugsde- (Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/ fizite in der Praxis aufmerksam gemacht. Wenn bei den CSU]: Dem Herrn Schily tut das weh! – öffentlichen Haushalten jetzt endlich ein neuer Schwer- Wolfgang Zeitlmann [CDU/CSU]: Niemand punkt innere Sicherheit gesetzt wird und wenn die Poli- nimmt Sie ernst!) zeikräfte sowie die anderen Sicherheitsbehörden wirklich schafft es, die Notwendigkeiten von Bürgerrechten und in die Lage versetzt werden, die schon bestehenden Ge- Rechtsstaatlichkeit zu respektieren. Sie unternimmt aber setze konsequent anzuwenden, dann könnte man guten 19672 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001

Dr. Max Stadler (A) Gewissens etwas zurückhaltender mit neuer Gesetzge- Zweitens. Reicht es aus, dass bei der Überprüfung zum (C) bung sein. Beispiel von Kontobewegungen eine vorrangige Kon- trolle lediglich über das parlamentarische G-10-Gremium (Beifall bei der FDP) stattfinden soll statt der wesentlich effektiveren und dich- Leider sind Bundesregierung und Koalition unserem teren staatsanwaltschaftlichen und richterlichen Kon- Rat nicht gefolgt. Sie konnten der Versuchung nicht wi- trolle? derstehen, die Fachabteilungen des Bundesinnenministeri- Drittens. Ist die Regelung über die nachträgliche Be- ums ihre Zettelkästen leeren zu lassen nachrichtigung Betroffener, so wie sie jetzt vorgesehen (Dr. Wolfgang Gerhardt [FDP]: Das machen ist, bei den neuen geheimdienstlichen Maßnahmen wirk- die gern!) lich ausreichend oder bedeutet die Neuregelung in Wahr- heit einen Verlust an Rechtsschutz? und in einer Art Stoffsammlung neben richtigen und not- wendigen Vorschlägen auch viele Maßnahmen zusam- Viertens. Warum wird in dem Gesetzentwurf hinsicht- menzutragen, die in der Vergangenheit aus guten, immer lich der Aufnahme von Fingerabdrücken in Ausweis- noch gültigen Gründen abgelehnt worden sind und die mit papiere nicht klipp und klar die Errichtung einer so Terrorismusbekämpfung im engeren Sinne auch gar nichts genannten Referenzdatei oder einer zentralen Datei zu tun haben. ausgeschlossen? Die FDP-Bundestagsfraktion hat be- kanntlich ihre Zustimmung dazu signalisiert, dass neue (Beifall bei der FDP) Identifizierungsmerkmale wie etwa Fingerabdrücke in Nicht umsonst hat Herr Kollege Wiefelspütz gestern in ei- Ausweispapiere aufgenommen werden, aber eben nur ner Besprechung selber gesagt: Das war ein hastig zusam- zum Zweck der Identifizierung von Personen. Eine zen- mengestellter erster Entwurf. Daraus ist nun ein immer trale Datei birgt die Gefahr der Verwendung solcher Da- noch umfangreicher Gesetzentwurf geworden. ten über den eigentlichen Zweck hinaus und damit die Ge- fahr des Missbrauchs. Das muss ausgeschlossen werden. Bei einem solchen Vorgehen der Regierung und der Re- Das fehlt bisher in Ihrem Gesetzentwurf. gierungskoalition besteht die Pflicht des Parlaments darin, die Fülle der Vorschläge kritisch zu sichten. Wir wollen zü- (Beifall bei der FDP) gig Entscheidungen treffen, dabei aber die üblichen An- Fünftens. Sind die Tatbestände bei den im Prinzip be- forderungen an eine sorgfältige Beratung einhalten. Des- rechtigten Versagungsgründen für eine Visaerteilung und wegen gehört für uns eine Sachverständigenanhörung damit korrespondierend für Ausweisungsgründe von Ih- dazu mit der ernsthaften Zielsetzung, die Erkenntnisse, die nen wirklich hinreichend präzise formuliert, sodass sie sich daraus ergeben, konkret auszuwerten und in das end- rechtsstaatlichen Anforderungen genügen? (B) gültige Gesetz einfließen zu lassen. (D) Das sind Fragen, die man sorgfältig erörtern muss. Ich (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Wolfgang betone aber noch einmal: Alle sinnvollen Maßnahmen Zeitlmann [CDU/CSU]) werden von uns mitgetragen. Ich nenne etwa die ver- Dies ist nur möglich, wenn dafür ausreichend Zeit vor- stärkte Sicherheitsüberprüfung des Personals, das auf gesehen wird. Wer es mit den Rechten und Pflichten des Flughäfen arbeitet. Ich nenne auch den Austausch von Vi- Parlaments ernst meint, kann es nicht akzeptieren, dass saentscheidungen. Wenn ein Visumsantrag abgelehnt – und so ist bisher Ihr Zeitplan – bereits eine Woche nach wird, dann ist nicht einsichtig, warum diese Ablehnungs- dieser umfangreichen Anhörung die Beratungen abge- entscheidung nicht auch anderen Behörden, die damit schlossen werden sollen, zu einem Zeitpunkt, zu dem noch wieder befasst werden, mitgeteilt werden soll. Ich nenne nicht einmal das Protokoll der Anhörung vorliegen wird. auch die Anfrage beim Verfassungsschutz vor Einbürge- Zu Recht läuft die gesamte Opposition dagegen Sturm. rungen. Das alles dient der Erhöhung der inneren Si- cherheit und dem werden wir die Zustimmung nicht ver- (Beifall bei der FDP – Alfred Hartenbach [SPD]: sagen. Hingehen und zuhören, Herr Stadler! – Ludwig Stiegler [SPD]: Da muss man hingehen!) Aber Kollege Bosbach hat Recht: In der Vergangenheit ist einiges versäumt worden. Hinsichtlich der Regelung in – Herr Stiegler, wir können es den Sachverständigen nicht § 12 des Fernmeldeanlagengesetzes, wann Strafverfol- zumuten, dass wir sie hierher einladen und ihnen dann nur gungsbehörden Telekommunikationsdaten bekommen die Funktion eines Feigenblattes zukommt. Das wollen wir können, hat der Bundestag schon im Jahr 1997 den Auf- als FDP nicht. trag erteilt, diese neu zu fassen, weil sie ausläuft. Es kam (Beifall bei der FDP) in der alten Koalition aus Zeitgründen nicht mehr dazu. Meine Damen und Herren, wir werden in den weiteren (Alfred Hartenbach [SPD]: Haha!) Beratungen vor allem auf folgende kritische Fragen eine Die rot-grüne Regierung hat für eine Neuregelung drei Antwort suchen: Jahre Zeit gehabt und ist jetzt noch immer nicht in der Lage, das Problem zu lösen. Ich bin neugierig, ob Sie Ihr Erstens. Bedeutet es nicht einen Systembruch, wenn Versprechen, das gerade gegeben wurde, wirklich einhal- erstmals private Unternehmen verpflichtet werden, Kun- ten können. dendaten, Telekommunikationsdaten, Daten über Flug- verbindungen, aber auch Daten von Bankkunden an Ge- Es zeigt sich also ein unterschiedliches Bild von sinn- heimdienste hinauszugeben? vollen Maßnahmen, die die Sicherheit erhöhen, aber auch Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19673

Dr. Max Stadler (A) von Maßnahmen, hinter die ein Fragezeichen zu setzen In diesem Paket ist in der Tat wenig von der Politik der (C) ist. Manche haben in der öffentlichen Diskussion gemeint, Grünen enthalten. dass die Vielzahl der Maßnahmen, die jetzt vorgeschlagen Worum geht es tatsächlich in der Flüchtlingspolitik? werden – auch wenn jede einzelne für sich betrachtet ak- In Zukunft wird es im Asylverfahren beispielsweise zeptabel ist –, dazu führt, dass der freiheitliche Charak- Sprachanalysen geben. Die Fingerabdrücke von 14-Jähri- ter unseres Rechtsstaats sich verändern könnte, dass so- gen werden gespeichert. Darüber hinaus wird der Verfas- zusagen die Quantität in eine neue Qualität umschlagen sungsschutz bzw. der Geheimdienst Zugriff auf das Aus- könnte. Diese Besorgnis teile ich nicht. Dennoch müssen länderzentralregister haben. Bei Visumsanträgen werden wir die Einwände sehr ernst nehmen, denn wir haben die Regelanfragen durchgeführt. Wenn die Anhörer in einem Pflicht, die innere Sicherheit zu verbessern und den Ter- Asylverfahren den Verdacht haben, dass es sich bei dem rorismus wirksam zu bekämpfen. Aber wir werden dies Betreffenden um einen Extremisten handelt, dann wird ausschließlich mit rechtsstaatlichen Mitteln tun. Dazu, der Verfassungsschutz ebenfalls an die Daten dieses Men- aber auch nur dazu ist die FDP-Bundestagsfraktion bereit. schen herankommen. (Beifall bei der FDP) (Hans-Peter Kemper [SPD]: Das ist auch in Ordnung!) Präsident Wolfgang Thierse: Ich erteile Kollegin Am Anfang ist davon gesprochen worden, dass noch Ulla Jelpke, PDS-Fraktion, das Wort. mehr Extremisten abgeschoben werden sollten. Ich möchte hier klarstellen: In dem vorliegenden Gesetzespa- Ulla Jelpke (PDS): Herr Präsident! Sehr geehrte Kol- ket – die CDU/CSU unterstützt dies – wird die Genfer leginnen und Kollegen! Seit dem 11. September führen Flüchtlingskonvention verletzt, wenn schon auf einen wir die Debatte darüber, wie der Terrorismus am besten Verdachtshinweis hin Menschen aus unserem Land abge- bekämpft werden kann. Aber angesichts des hier vorlie- schoben werden sollen. genden umfassenden Gesetzespaketes muss man in der (Beifall bei der PDS – Hans-Peter Kemper Tat die Frage stellen: Welche Maßnahmen sind im Kampf [SPD]: Wollen Sie die Extremisten hier gegen den Terrorismus wirklich effektiv? lassen?) Wir haben die Situation, dass unser Innenminister seit Herr Stoiber hat gefordert, dass 30 000 Menschen abge- dem 11. September nahezu in Aktionismus verfällt: Wir schoben werden sollen. Wenn wir uns wirklich für Plura- sollen ständig neue Entscheidungen über Maßnahmen lität und Multikulturalität einsetzen wollen, dann halte ich treffen, die meines Erachtens keineswegs etwas mit dem solche Debatten für wenig sinnvoll. In Wirklichkeit ist (B) Kampf gegen den Terrorismus zu tun haben, sondern die kein Kampf der Kulturen, sondern ein Dialog der Kultu- (D) aus der Mottenkiste kommen, die in diesem Haus schon ren angesagt. vor langer Zeit irgendwann einmal andiskutiert worden (Beifall bei der PDS) sind und die jetzt auf die Tagesordnung gesetzt werden. Dazu gehört auch, dass man, wenn man sich mit extremis- Kampf gegen den Terrorismus – das haben wir mehrfach tischen Strömungen des Islamismus kritisch auseinander deutlich gemacht – heißt natürlich Verfolgung der Täter so- setzen will, Toleranz zeigt und in den Schulen islamischen wie deren Bestrafung. Es heißt aber vor allem, den Abge- Religionsunterricht zulässt. ordneten die Gefahrenanalyse vorzulegen, was von den Si- cherheitsbehörden und auch vom Innenminister bisher Zum Datenschutz. Die Deutsche Vereinigung für den keineswegs gemacht wurde. Stattdessen haben wir heute, Datenschutz hat das Paket, über das wir heute diskutieren, wie gesagt, ein umfangreiches Paket zu beraten, in dem der als nichts Geringeres als die Grundsteinlegung eines Ge- Terrorismus instrumentalisiert wird, um Grundrechte und heimdienststaates bezeichnet. Was wird in Zukunft sein? Bürgerrechte abzuschaffen, in dem der Datenschutz massiv Der Verfassungsschutz wird weit gehende Kompetenzen infrage gestellt wird und in dem viele Punkte enthalten erhalten. Er wird zum Beispiel automatisiert auf sind, die von 16 Bürgerrechtsorganisationen massiv kriti- 16 000 Ausländervereine Zugriff nehmen und Gruppenab- siert werden. Diese Auffassung teilen wir. fragen durchführen können. Ebenso dürfen die Geheim- dienste in Zukunft Postbanken, Fluggesellschaften und Unser ehemaliger Kollege Burkhard Hirsch hat zu die- Telekommunikationsunternehmen abfragen und ohne sem Paket Folgendes gesagt: Keine einzige der vorge- richterliche Kontrolle die Daten dieser Kunden erhalten. schlagenen Maßnahmen wäre geeignet gewesen, das At- Personalsicherheitsüberprüfungen werden in Zukunft tentat von New York zu verhindern. Der Gesetzentwurf hat auch in Krankenhäusern, in der Pharmaindustrie, in der keinen Respekt vor der Rechtstradition unseres Landes; er Fernseh-, Rundfunk- und in anderen Branchen üblich verrät totalitären Geist. – Das ist nicht die einzige Kritik; es sein. Damit werden Millionen von weiteren Daten erfasst kommen viele Kritiken aus Bürgerrechtsorganisationen. werden können. Herr Kollege Beck, Sie haben sich heute hier hinge- In den letzten Monaten haben wir in Deutschland die stellt und von einem großartigen Kompromiss gespro- Rasterfahndung erlebt. Millionen unschuldiger Men- chen. Ich habe allerdings vergeblich die Handschrift der schen, deren Daten erfasst worden sind, sind durch das Grünen gesucht, die einstmals als Bürgerrechtspartei in Raster gejagt worden. diesem Lande gegolten haben. (Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/ (Dirk Niebel [FDP]: Haben sie nie!) CSU]: Das tut doch nicht weh!) 19674 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001

Ulla Jelpke (A) Die Absurdität dieser Rasterfahndung möchte ich Ihnen tige Parlamentsdebatte gekommen, mir nicht meine gute (C) an einem Beispiel deutlich machen: Nach den festgeleg- Laune verderben zu lassen. ten Rasterkriterien wurden so viele Menschen durch Da- (Beifall bei der SPD – Wolfgang Bosbach tenstränge erfasst, dass der Brandenburger Verfassungs- [CDU/CSU]: Vom Hauptstadtstudio!) schutz vor anderthalb Wochen berichten musste, dass er ein Rekrutierungsproblem habe. Es besteht darin, dass die Ich möchte zunächst außerhalb der Tagesordnung in Personen, die der Verfassungsschutz in Brandenburg im meiner Eigenschaft als Sportminister noch einmal Rudi Moment neu einstellen möchte, durch das Raster gejagt Völler und der deutschen Nationalmannschaft zu ihrem werden. Denn es sollen Personen eingestellt werden, die großartigen Erfolg gratulieren. die arabische Sprache sprechen, jung und gut ausgebildet (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sind. Hier zeigt sich die Absurdität der Rasterfahndung, DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der die im Übrigen bis heute nicht dazu geführt hat, dass auch CDU/CSU und der FDP) nur ein einziger Schläfer dingfest gemacht werden konnte. Immerhin hat die deutsche Nationalmannschaft auf diese Weise – sozusagen auf dem zweiten Bildungsweg – die Meines Erachtens ist der gesamte Bereich, den Sie im Teilnahme an der nächsten Weltmeisterschaft errungen. Zusammenhang mit dem Datenschutz neu regeln wollen, eine Verletzung des Rechts auf informationelle Selbstbe- (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der stimmung. Ich denke, dass wir dies nach den bevorste- SPD) henden Anhörungen, in denen wir mit den Positionen der Meine Damen und Herren, ich werde nicht den Versuch Datenschützer und der Bürgerrechtsorganisationen kon- unternehmen, Frau Kollegin Jelpke von ihren Vorurteilen frontiert werden, zu hinterfragen haben. zu Fragen der Sicherheit und Freiheit abzubringen. Kollege Beck und andere haben hier dargestellt, dass (Friedrich Merz [CDU/CSU]: Der Versuch die Kompetenzen und Zugriffsmöglichkeiten des BKA wäre zwecklos!) in rechtsstaatlicher Art und Weise formuliert worden Da halte ich alle Mühen für vergebens. Aber, Frau Kolle- seien. Das vermag ich nicht ganz nachzuvollziehen. Denn gin Jelpke, da Sie hier Argumente der Pluralität und der nach dem Gesetz dürfen nach wie vor Daten von Un- Offenheit gegenüber Kulturen zur Sprache gebracht ha- schuldigen ohne entsprechenden Verdacht gesammelt ben, sage ich Ihnen: Das hat mit der Ausweisung von Ex- werden. Wie absurd das Ganze ist, zeigt sich beispiels- tremisten, die unsere Verfassung nicht achten wollen, weise darin, dass schon jetzt von Energieunternehmen nichts zu tun. Daten über männliche Angestellte zwischen 18 und 40 (B) Jahren beim BKA abgefragt werden. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (D) DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Präsident Wolfgang Thierse: Kollegin Jelpke, Sie müssen zum Ende kommen. Dies ist keine Frage der Multikulturalität, sondern eine Frage der Achtung vor den Werten, auf die wir gemeinsam verpflichtet sind. Ulla Jelpke (PDS): Ja. – Ich möchte zum Schluss den Gedanken des Kollegen Stadler aufgreifen. Vertreter des (Beifall der Abg. [Bremen] Menschenrechtsforums haben gestern in der Anhörung [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) sehr deutlich gesagt, dass wir eine ergebnisorientierte An- Herr Kollege Bosbach, Ihnen muss ich sagen: Ihre hörung und kein Puschen von irgendwelchen Gesetzen Rede hätten Sie vor der Innenministerkonferenz nicht hal- brauchen. Diese Gesetze sind ebenso wie deren Kritik be- ten können. Dort nämlich waren wir uns völlig einig da- reits sehr weit gehend. rüber, dass der Gesetzentwurf, der hier vorliegt, sehr „Der Sinn von Politik ist Freiheit“, wie Hannah wichtig ist und zur Verstärkung der Sicherheit unseres Arendt sagt, und es kann im Moment keineswegs darum Landes beitragen wird. Vorsichtshalber haben Sie zu dem gehen, in einem Schnellverfahren Grundrechte, Bürger- Gesetzentwurf auch so gut wie nichts gesagt, rechte abzubauen und damit die Republik wirklich zu ei- (Lachen bei Abgeordneten der SPD) ner anderen Republik als die, die sie heute ist, zu ma- chen. sondern lediglich den Versuch unternommen, auf andere Rechtsgebiete auszuschwenken. Danke. (Alfred Hartenbach [SPD]: Er war auf dem (Beifall bei der PDS) Irrweg!) Sie haben hier zwei Themen genannt, die mit der heutigen Präsident Wolfgang Thierse: Ich erteile dem Bun- Debatte nun wahrlich nicht unmittelbar verknüpft sind: desminister Otto Schily das Wort. FAG und Kronzeugenregelung. Ich stimme Ihnen aber in- soweit zu, als wir dort etwas zustande bringen müssen. Dies ist ein Appell an die Grünen, sich in dieser Frage et- Otto Schily, Bundesminister des Innern: Herr Präsi- was hurtiger zu bewegen, als dies bisher der Fall war. dent! Meine Damen und Herren Kollegen! Ich bin aus dem Westfalenstadion mit dem festen Vorsatz in die heu- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19675

Bundesminister Otto Schily (A) Ich denke, die Fragen, die dort zu debattieren sind, sind In diesem Punkt bin ich in der Tat anderer Auffassung (C) uns geläufig. Deshalb will ich darauf nicht viele Worte als der Kollege Beck. Wenn Sie behaupten, dass der in ei- verwenden. nem Dokument enthaltene Fingerabdruck quasi ein Volk von Tatverdächtigen generiert, dann müssten Sie eben- Herr Kollege Bosbach, ich muss Sie auf einige Irrtü- falls behaupten, dass alle Menschen, die in den Vereinig- mer hinweisen. Bei der Frage der Visaerteilung überse- hen Sie schlicht, dass dabei unterschiedliche Rechts- ten Staaten von Amerika eine Arbeit aufnehmen und eine systeme beachtet werden müssen. Resident Alien Card bekommen – dazu nämlich wird auch der Fingerabdruck genommen –, von den Vereinig- (Wolfgang Bosbach [CDU/CSU]: Habe ich ge- ten Staaten von Amerika zu Tatverdächtigen erklärt wer- sagt!) den. Das ist schlichtweg falsch. So ist die Erteilung der kurzfristigen Schengen-Visa eine (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) europäische Angelegenheit. Vielleicht ist Ihnen entgan- gen – ich kann Ihnen nicht zumuten, dass Sie alle Proto- Herr Kollege Beck, ich glaube, Sie müssen Ihre Auf- kolle der Innen- und Justizministerkonferenzen nachle- fassung noch einmal überprüfen. Auch die Tatsache, dass sen –, dass es der deutsche Innenminister war, der eine Spanien bei sämtlichen längerfristigen Visaanträgen Fin- Sonderkonferenz der Innen- und Justizminister zustande gerabdrücke nimmt, macht nicht alle, die auf einen länge- gebracht und dort eine Initiative vorgetragen hat, dass wir ren Aufenthalt in Spanien aus sind – darunter sind übri- gerade auch bei den kurzfristigen Visa biometrische gens auch Deutsche –, zu Tatverdächtigen. Davon müssen Merkmale verwenden sollen. Sie sich einmal lösen. (Wolfgang Bosbach [CDU/CSU]: Das habe (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) ich gerade gesagt!) Ich weiß, dass wir es hier mit der emotionalen Gewohn- Ich nehme Ihre Unterstützung gerne in Anspruch, um heit zu tun haben. hierbei auf europäischer Ebene voranzukommen. Meine Damen und Herren, wir alle müssen uns die Si- Ich muss aber auch ganz deutlich zum Ausdruck brin- tuation, in der wir uns befinden, noch einmal vor Augen gen, dass man die Fragen auch von der praktischen Seite führen. Die weltweite Bedrohung durch den islamischen her betrachten muss. Es geht hier nicht um Hunderte, Tau- Terrorismus können wir nun wahrlich nicht mit alltägli- sende oder Hunderttausende, sondern um Millionen von chen Mitteln überprüfen und analysieren. Wir haben es Anträgen. Deshalb bedarf es auch gewisser technischer, mit einer Tiefendimension der Gefahr für unsere offene organisatorischer und finanzieller Voraussetzungen. Gesellschaft zu tun, die unser bisheriges Vorstellungsver- mögen übersteigt. (B) Das Gleiche gilt für Ihre Rüge, dass wir nicht sofort ein (D) Gesetz eingeführt haben, mit dem die Verpflichtung zur Ich sage für unsere Sicherheitsinstitutionen und für Abgabe des Fingerabdrucks bei der Beantragung von mich persönlich: Wir haben nicht erst am 11. September Personalausweisen und Pässen geregelt wird. Ich sage Ih- mit der Bekämpfung dieser Art von Terrorismus begon- nen: Dass wir zunächst einmal die Barrieren im Passge- nen, sondern lange davor. Ich muss hoch anerkennen, dass setz und im Gesetz über Personalausweise beseitigt ha- unsere Sicherheitsinstitutionen bei der Bekämpfung er- ben, ist für mich – zum jetzigen Zeitpunkt – ausreichend, folgreich waren. Das ist zum Beispiel an der Tatsache ab- weil das andere erst der zweite Schritt sein darf. Man lesbar, dass im Dezember des vergangenen Jahres eine muss das schließlich auch unter praktischen Gesichts- Gruppe von Terroristen festgenommen werden konnte, punkten betrachten. die kurz davor stand, einen terroristischen Anschlag in Frankreich zu verüben. Die erste Priorität liegt nicht darin, die Ausweise der deutschen Bevölkerung identitätssicher zu machen. Es (Dieter Wiefelspütz [SPD]: So ist es!) geht zunächst einmal um die Fälschungssicherheit. Herr Ich habe hier schon einmal den früheren Präsidenten des Bosbach, das müssen Sie unterscheiden. Bundesamtes für Verfassungsschutz in Köln erwähnt, der (Wolfgang Bosbach [CDU/CSU]: Sie haben bereits Anfang 1997 darauf hingewiesen hat, dass diese doch mit dem Ausweis herumgefuchtelt!) Bedrohungen zu den größten Gefahren des 21. Jahrhun- derts gehören werden. – Hören Sie doch einmal zu, ich habe Ihnen auch gedul- dig zugehört und sogar meine gute Laune behalten. Las- (Norbert Geis [CDU/CSU]: Genau!) sen Sie mich jetzt argumentieren! Zuhören gehört auch Wir müssen deshalb sehr ernsthaft darüber debattieren. zum parlamentarischen Stil. – Man muss also diese bei- den Dinge unterscheiden. Wir haben jetzt – lange vor dem Eines müssen wir eingestehen: Weder die amerikani- 11. September haben wir damit begonnen – die Ausweise schen Sicherheitsinstitutionen – CIA, FBI – noch die un- und Pässe in Deutschland fälschungssicher gemacht. Die seren oder die der anderen europäischen Institutionen ha- Merkmale – Hologramm und ähnliches –, die wir berück- ben es vermocht, das, was im Blick auf die Verbrechen in sichtigt haben, schließen so gut wie aus, dass diese Doku- New York und Washington vorbereitet worden ist, zu er- mente gefälscht werden können. Es geht aber auch darum, kennen. Das ist ein Faktum, mit dem wir konfrontiert dass Identitäten nicht verschleiert werden. sind. Deshalb mussten und müssen unsere Bemühungen dahin gehen, daran etwas zu ändern. Das und nichts an- (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!) deres ist der Versuch, den wir mit diesem Gesetzespaket Dazu dienen biometrische Merkmale. unternehmen. 19676 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001

Bundesminister Otto Schily (A) Es geht darum einzusehen, dass die Früherkennung Alles, was unter der Regierung von Rot-Grün auf dem (C) solcher Aktionen notwendig ist und dass wir einen Ein- Gebiet der inneren Sicherheit geschehen ist, haben Sie un- blick in die entsprechenden Strukturen gewinnen müssen. terlassen. Sie könnten durchaus ein bisschen bescheidener Aus den bisher durchgeführten Ermittlungen haben wir auftreten, Herr Bosbach, obwohl ich das verstehe: Sie Anhaltspunkte. Um die Hintergründe der verübten An- müssen ein bisschen Trara machen auf dem schwierigen schläge aufzuklären, soweit sie unser Land betreffen, ha- Feld der inneren Sicherheit, wo Sie immer die alleinige ben wir die bislang größte Ermittlungsgruppe eingesetzt. Kompetenz beansprucht haben. Einige der Entführer haben sich ja, wie Sie wissen, zeit- weise in Deutschland aufgehalten. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Wir müssen uns um die Hintergründe kümmern. Es gibt Es tut Ihnen Leid, dass jetzt ein Innenminister amtiert, der Anhaltspunkte; wir sehen Reisebewegungen und Finanz- Fragen der inneren Sicherheit zu seinem Qualitätsmerk- transaktionen. Aus diesen Erkenntnissen können wir ein mal gemacht hat. Das tut Ihnen natürlich Leid, das ver- Profil über das Verhalten der betreffenden Personen bilden stehe ich. und sehen, wie sie im Verborgenen ihre Terroraktionen (Beifall bei der SPD) vorbereitet haben. Wir müssen unsere Sicherheitsinstitu- tionen so ausrüsten, dass sie, dem aufgezeigten Profil fol- Wir müssen die Zentralstellenfunktion des Bundeskri- gend, einen Einblick in diese Strukturen gewinnen können. minalamtes stärken. Das tun wir auf verschiedene Weise, Das ist bisher noch nicht in vollem Umfang möglich. und zwar zum einen dadurch, dass wir ohne den bisheri- Die notwendigen Änderungen vollziehen sich sämtlich gen Umweg über die Länder eine direkte Möglichkeit der in einem rechtsstaatlichen Rahmen. Herr Kollege Beck, ich Informationsgewinnung schaffen, und zum anderen da- verstehe – Sie müssen Ihre Arbeit an Ihre Wählerschaft ver- durch, dass – das ist allerdings nicht Teil dieses Gesetzes- mitteln –, dass Sie sich rühmen, das eine oder andere verän- paktes – wir die Befugnisse des Bundeskriminalamtes bei dert zu haben. Im Grunde sind das, was wir besprochen ha- der Bekämpfung der Geldwäsche erweitert haben. ben, Marginalien. Im Wesentlichen haben wir die Struktur Es geht aber nicht nur darum, eine bessere Früherken- so beibehalten, wie wir sie von Anfang an geplant haben. nung als bisher durch die Verstärkung der Institutionen (Lachen bei der CDU/CSU – Friedrich Merz – Bundesgrenzschutz, Bundesamt für Verfassungsschutz, [CDU/CSU]: Breitseite!) Bundesnachrichtendienst und andere – zu ermöglichen, sondern die bestehenden Daten besser zugänglich zu ma- Ich lasse in diesem Zusammenhang auch keinen Tadel chen. Wir dürfen es nicht länger zulassen, dass einschlä- an meinen Beamten zu. Man darf nicht so tun, als seien gige Dateien nicht für polizeiliche Maßnahmen in An- nennenswerte Veränderungen vorgenommen worden. Es spruch genommen werden können. (B) ist sehr interessant: Herr Beck möchte gern – ebenso wie (D) die Opposition – darauf hinweisen, es sei alles abge- Wir haben auch eine Regelung eingefügt, die es er- schwächt worden. Ich aber halte mich an die Realität, möglicht, besser als bisher im Bereich der Infrastruktur nämlich an das, was im Gesetzentwurf steht. Das wird von die Sicherheit unseres Landes zu gewährleisten. Wie Sie denjenigen, die etwas von Sicherheit verstehen respek- wissen, habe ich nach dem 11. September 2001 begonnen, tiert, anerkannt und gelobt. Darauf verlasse ich mich; ich mit den Leitungen der großen Infrastrukturunternehmen verlasse mich auf den Sachverstand der Institutionen, mit systematisch die Schwachstellen zu überprüfen, die mög- denen ich zu tun habe. licherweise an der einen oder anderen Stelle vorhanden (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Friedrich sind und die eine Einbruchstelle für terroristische Akti- Merz [CDU/CSU]: Eine Ohrfeige nach der an- vitäten sein könnten. deren für die Grünen! Rechts und links fliegt es Dazu gehört natürlich auch, dass wir das Personal ihnen um die Ohren!) überprüfen. Ich bitte um Verständnis, dass diese Maßnah- Das ist für mich der entscheidende Punkt. men durchgeführt werden müssen. Manche überbieten sich in Schreckensszenarien, um darzustellen, wie man im Ich möchte darauf hinweisen, dass wir die Zentral- Kunstflug mehrere Kühltürme umfliegen und dann im stellenfunktion des Bundeskriminalamtes erheblich Steilflug auf die Abdeckung eines Kernkraftwerkes stür- verbessert haben. Übrigens: Was hat denn die Opposition auf diesem Feld gemacht? Herr Bosbach, Sie blasen hier zen könnte. Viel wichtiger ist es, dafür zu sorgen, dass die Backen auf. sich in sicherheitsrelevanten Bereichen von Kernkraft- werken nicht Personen befinden, die von dort möglicher- (Wolfgang Bosbach [CDU/CSU]: Da kann ich weise terroristische Aktionen starten könnten. Auch diese Ihnen nicht das Wasser reichen!) Maßnahme ist für die Verstärkung der Sicherheit unseres Was ist denn eigentlich zu Zeiten der Vorgängerregierung Landes wichtig. auf diesem Gebiet geschehen? Nur in Zusammenarbeit Hier ist mehrfach der von mir persönlich sehr ge- mit der damaligen sozialdemokratischen Opposition ist es schätzte Kollege Burkhard Hirsch zitiert worden. Ich Ihnen gelungen, ein vernünftiges Konzept zur Bekämp- glaube, der Kollege Burkhard Hirsch hat sich in seinen fung der organisierten Kriminalität zustande zu bringen. Äußerungen schlicht vergaloppiert. Ich lasse mir bei der Das haben Sie nur mit unserer Hilfe geschafft und sonst Stärkung der inneren Sicherheit nicht vorwerfen, dass haben Sie wenig geleistet. dies der Anfang eines totalitären Staates sei. Ich lasse mir, (Beifall bei Abgeordneten der SPD) wie dies in wirklich unanständiger Weise geschehen ist, Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19677

Bundesminister Otto Schily (A) nicht vorwerfen, dass durch die Einführung biometrischer Lauschangriff, Gendatei. Das AZR-Gesetz, vor einem (C) Merkmale der gelbe Stern wieder eingeführt wird. halben Jahr von uns eingebracht, haben Sie abgelehnt. Sie übernehmen richtigerweise jetzt unsere Gedanken in (Dieter Wiefelspütz [SPD]: Empörend!) Ihren Gesetzentwurf. Unsere Innen-, Sicherheits- und Ich lasse mir nicht vorwerfen, dass durch solche Maßnah- Rechtspolitik, Herr Schily, waren im Gegensatz zu Ihrer men die Ausländerfeindlichkeit gefördert wird. All das ist Politik bisher erfolgreich. eine unanständige und polemische Diskussion, die den (Beifall bei der CDU/CSU) Gefahren, denen wir gegenüberstehen, nicht gerecht wird. Jetzt haben Sie einen Gesetzentwurf vorgelegt, der not- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten wendige, unseres Erachtens jedoch nicht ausreichende der CDU/CSU) Maßnahmen zur Verbrechensbekämpfung enthält, der Es ist meine tiefe Überzeugung, dass oft ein falscher außerdem den Diensten Erkenntnismöglichkeiten über Gegensatz konstruiert wird. Ich habe das hier mehrfach den Terrorismus verschafft. Das ist ein wichtiges Gesetz. gesagt und betone es sehr bewusst noch einmal: Wer ver- Gerade deswegen, Herr Bundesinnenminister, hätte ich sucht, zwischen Freiheit und Sicherheit einen Gegen- mir gewünscht, dass heute außer Ihnen mehrere Bundes- satz zu bilden, befindet sich auf dem Holzweg. Freiheit minister an dieser Debatte teilnähmen. und Sicherheit sind eng miteinander verbunden. Freiheit (Beifall bei der CDU/CSU) ist die notwendige Garantie für Sicherheit und umgekehrt. Das geht in beide Richtungen. Das muss man wissen. Der Herr Bundesinnenminister, Sie sind der Einzige. Ich halte Schutz des Lebens, der Schutz der körperlichen Unver- das bei diesem so wichtigen Gesetz nicht für richtig. sehrtheit, der Schutz der Freiheit – all das sind Grund- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- rechte, die in die Sicherheit einmünden. Deshalb enthält neten der FDP) die Europäische Grundrechte-Charta, an der wir alle mitgearbeitet haben und die wir als einen großen europä- Eines ist klar, Herr Schily: Gesetze entfalten nur dann ischen Fortschritt bezeichnen, das Grundrecht auf Freiheit volle Wirksamkeit, wenn sie – zum Beispiel durch die und Sicherheit. Dienste – auch tatsächlich umgesetzt werden können, wenn genügend Personal zur Verfügung steht. Herr Diesem Grundsatz folgt der von mir vorgelegte Ge- Dr. Frisch, der ehemalige Präsident des Bundesamtes für setzentwurf. Ich hoffe, dass wir im Rahmen der Beratun- Verfassungsschutz, hatte ja früh gewarnt. Warum fehlen gen in den Ausschüssen zu einem guten Ergebnis kom- denn immer noch Mittel zur strategischen Fernmeldekon- men. Das muss schnell passieren. Ich hoffe, dass es trolle? Denn durch dieses Instrument können die Terrori- gelingt, diesen Gesetzentwurf bis Ende dieses Jahres in (B) sten voll überwacht werden. Was ist mit INPOL neu beim (D) diesem Hohen Haus, aber auch im Bundesrat zu verab- Bundeskriminalamt, Herr Bundesinnenminister? Wann schieden. Ich bitte Sie alle um konstruktive Mitarbeit. kann das denn endlich einmal voll eingesetzt werden? (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Günter Graf [Friesoythe] [SPD]: 1992!) DIE GRÜNEN) Die miserable Lage der Dienste muss ein Ende haben, Herr Schily: Nur so können Vollzugsdefizite beseitigt Präsident Wolfgang Thierse: Ich erteile dem Kolle- werden. gen Erwin Marschewski, CDU/CSU-Fraktion, das Wort. (Beifall bei der CDU/CSU – Günter Graf [Frie- soythe] [SPD]: Ganz ruhig bleiben! Komm wie- Erwin Marschewski (Recklinghausen) (CDU/CSU): der herunter! – Weiterer Zuruf von der SPD: Sie Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! können den Colt stecken lassen!) Herr Bundesinnenminister, ich gönne uns und insbeson- dere Ihnen den 4:1-Sieg der deutschen Fußballnational- Das Bundesamt zur Sammlung von Informationen zu er- mannschaft – schon deswegen, weil Sie uns das letzte mächtigen, die sich gegen die Völkerverständigung oder Mal, als Sie in München waren, kein Glück im Spiel ge- gegen das friedliche Zusammenleben der Völker richten, gen England gebracht haben, das wir leider 5:1 verloren macht doch nur Sinn, wenn das ausgewertet werden kann. haben. Denn dies ist ja gerade der Nährboden für Terrorismus. (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ein Weiteres, Herr Schily: Es ist auch dringend vonnö- ten, extremistische Organisationen verbieten zu können Herr Bundesinnenminister, noch immer steht kein ein- – das ist wahr –, wenn sie gewalttätige oder terroristische ziges von Ihnen initiiertes Gesetz zur Verbrechens- Gruppen durch Spenden oder durch Rekrutierung von bekämpfung im Bundesgesetzblatt. Kämpfern unterstützen und wenn sie die Scharia über un- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) ser Grundgesetz stellen. Denn dies steht im Widerspruch zum Prinzip der Volkssouveränität, zum Gleichheits- Sie werfen uns vor, dass wir in der Vergangenheit nichts grundsatz, zum Mehrheitsprinzip, zur freiheitlich-demo- getan hätten. Ich werde Ihnen sagen, was wir getan haben: kratischen Grundordnung schlechthin. Deswegen, Herr Verbrechensbekämpfungsgesetz 1992 – SPD: Nein, CDU/ Schily, müssen Sie auch Verbote aussprechen. Es darf kei- CSU: Ja; Verbrechensbekämpfungsgesetz 1994 – CDU/ nen Platz für Terroristen in Deutschland geben! CSU: Ja, SPD: Nein; Geldwäschegesetz 1994 – CDU/ CSU: Ja, SPD: Nein. Ich nenne ferner BKA-Gesetz, (Beifall bei der CDU/CSU) 19678 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001

Erwin Marschewski (Recklinghausen) (A) Wir haben immer gesagt, dass die Einreise von Terroristen Durch Ihren Gesetzesvorschlag wird die Abschiebung (C) verhindert werden muss. Und wer sich hier extremistisch von Terroristen nicht erleichtert. Alle Terroristen werden betätigt, muss ausgewiesen werden. Denn dies geschieht wie nach der bisherigen Rechtslage in Deutschland blei- im Dienste der Freiheit und ist keine Einschränkung von ben. Nach ihrer Haftentlassung müssen sie dann auf Kos- Freiheitsrechten. ten der Steuerzahler von 25 Polizeibeamten rund um die Uhr bewacht werden, damit sie ihr schändliches Treiben Sie haben Herrn Hirsch von der FDP zitiert. Er hat Un- nicht fortsetzen können. recht, wenn er sagt, der Gesetzentwurf habe keinen Respekt vor der Tradition dieses Landes, vor der Würde und Privat- Es reicht eben nicht aus – Herr Wiefelspütz, das wissen heit seiner Bürger. Denn, so Hirsch weiter, Ihr Gesetzent- Sie –, Regelausweisungen einzuführen oder den Abschie- wurf verrate totalitären Geist. Dies ist absurd! Das ist mehr, beschutz nach § 51 Ausländergesetz zu verändern, weil Herr Bundesinnenminister, als ein bloßes Vergaloppieren. wegen § 53 niemand abgeschoben werden darf, wenn ihm erniedrigende Behandlung im Ausland droht, auch dann (Beifall bei der CDU/CSU) nicht, wenn er Morde plant und ausführt, die Menschen- Hat denn dieser FDP-Mann eigentlich nicht begriffen, würde und den Schutz menschlichen Lebens ignoriert. (Zuruf von der CDU/CSU: Das begreift bei (Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten der FDP keiner!) [CDU/CSU]: Das ist ein Skandal!) dass die Täter vom 11. September Offenheit und Rechts- Sie wissen, was im Augenblick in England diskutiert staatlichkeit unserer freien Gesellschaft zum Aufbau einer wird. Mit § 23 des dortigen Antiterrorgesetzes soll die Infrastruktur des Terrorismus missbrauchen? Gerade weil Möglichkeit geschaffen werden, verdächtige internatio- wir ein liberales Land und eine tolerante Gesellschaft nale Terroristen festzusetzen. Das ist kein Gesetzentwurf bleiben wollen, müssen wir uns den neuen Herausforde- der Konservativen, sondern ein Gesetzentwurf der La- rungen stellen. Deswegen, Herr Bundesinnenminister, bour-Regierung. Auch hier darf es keine Denkverbote ge- werden wir sicherlich einen Teil Ihres Antiterrorpaketes ben. Großbritannien ist ein Land großer Rechtstradition; unterstützen: weil es eben dem Erkennen von Terrorismus es hat wie wir die Menschenrechtskonvention unterzeich- und Terroristen dient. net. Was in England rechtmäßig ist, kann bei uns nicht un- ter Verwendung falscher Geschichtsbezüge einfach als Aber wir haben insbesondere im ausländerrechtlichen rechtswidrig abgetan werden. Teil Vorbehalte gegen Ihren Gesetzentwurf. Ja, es ist rich- tig: Der Entwurf verschafft den Diensten Erkenntnisse (Beifall bei der CDU/CSU) über den Terrorismus. Er wird aber – ich sage das mit al- Zur Begründung hat die Labour-Regierung ausgeführt, lem Ernst – die Einreise von Terroristen nach Deutsch- (B) die Anforderungen an die innere Sicherheit seien neu zu (D) land kaum verhindern und auch die Abschiebung von Ter- definieren – das sagen wir auch –, der Terrorismus müsse roristen aus Deutschland nicht erleichtern. Warum sind bekämpft werden, ihm müsse jeglicher Nährboden entzo- Sie eigentlich nicht bei Ihrem ursprünglichen Vorschlag gen werden. Auch in Folgendem haben die Briten Recht: geblieben, eine Einreise zu verweigern, wenn Terroris- Selbst wenn Bin Laden unschädlich gemacht worden ist, musverdacht besteht? Wenn tatsächliche Anhaltspunkte ist das Terroristennetzwerk keineswegs zerschlagen. Ich für terroristische Betätigung nicht zu einer Visaverweige- zitiere den englischen Innenminister Blunkett: Terroristen rung ausreichen, werden Terroristen wie ehedem nach dürfen nicht die Sicherheit – er sprach von „safe haven“ – Deutschland kommen. Oder glauben Sie, bei der Visabe- missbrauchen, die wirklichen Flüchtlingen garantiert wird. antragung bei einer deutschen Botschaft – Sie kennen den Betrieb genauso gut wie ich – legt jemand eine Beschei- (Ludwig Stiegler [SPD]: Das steht doch schon nigung vor, aus der hervorgeht, dass er der Hisbollah oder in der UNO-Resolution!) den Volksmudschahedin angehört oder terroristische Ver- Der Labour-Minister Blunkett sagt wörtlich zu diesem einigungen unterstützt? Das ist doch absurd. Wenn der Gesetzentwurf: Verdacht nicht ausreicht, werden all diese Leute nach Deutschland kommen, Herr Bundesinnenminister. Des- Wenn wir jetzt nicht die notwendigen Maßnahmen wegen hat Ihr Gesetzentwurf Mängel. ergreifen, um unsere Bevölkerung zu schützen, wer- den uns künftige Generationen nicht vergeben. (Beifall bei der CDU/CSU) (Ludwig Stiegler [SPD]: Dafür brauchen wir Das Problem besteht darin, dass Sie selbst von der Wir- nicht Labour! Das wissen wir selber!) kungslosigkeit Ihres eigenen Vorschlages überzeugt sind. Sie hatten ja erst einen anderen Vorschlag gemacht. In – Dass Ihnen, Herr Stiegler, dieser Aufruf nicht gefällt, diesem Punkt haben Sie sich nicht als Sachwalter der Bür- weiß ich. gerinnen und Bürger, sondern im Sinne Ihres Kanzlers als (Ludwig Stiegler [SPD]: Das wissen wir alle Sachwalter der brüchigen Koalition von SPD und Grünen selber! Dafür brauchen wir nicht die Englän- erwiesen, mehr nicht. Ihnen als bisher recht unabhängi- der!) gem Minister werfe ich vor allem Folgendes vor: Sie ha- Dass ich aber Minister Blunketts Appell nichts hinzuzu- ben sich zum einfachen Parteisoldaten gemacht, Herr fügen habe, davon sind Sie ohnehin ausgegangen. Minister Schily. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch bei der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19679

(A) Präsident Wolfgang Thierse: Ich erteile dem Kolle- lich, Ausländer ohne richterliche Überprüfung zwei Wo- (C) gen Cem Özdemir, Bündnis 90/Die Grünen, das Wort. chen lang festzuhalten. Wir haben all dies nicht gemacht. (Dr. Max Stadler [FDP]: Das wird schon noch Cem Özdemir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr gefordert werden!) Präsident! Meine Damen und Herren! Ich beginne gleich – Sie haben Recht, Herr Stadler. Vielleicht habe ich einen mit dem Kollegen Marschewski. Fehler gemacht, als ich die Verhältnisse in den USA ge- (Detlev von Larcher [SPD]: Das lohnt nicht!) schildert habe. Vielleicht habe ich damit den nächsten An- trag der Union schon vorformuliert. Insofern haben Sie – Doch, das ist wichtig; das muss gesagt werden, wenn Recht, Kollege Stadler. hier schon vom Sport die Rede war. – Der Kollege Marschewski hat bei einem Skatturnier in Berlin – wenn Ich glaube, dass die Bundesregierung einen Gesetzent- ich mich richtig erinnere – den ersten Platz gemacht. Dazu wurf vorgelegt hat – das kann ich auch als Grüner ohne möchte ich ihm auch namens meiner Fraktion gratulieren. Probleme sagen –, der ausgewogen ist und der das Span- Ich glaube, davon versteht er wirklich was. Aber Sie wer- nungsverhältnis zwischen Schutz unserer freiheitlichen den mir gestatten, wenn ich hinzufüge, dass der Schutz Grundordnung und Terrorismusabwehr in guter Weise unseres Rechtsstaates und die Terrorismusbekämpfung löst. Insofern kann man diesem Gesetzentwurf guten Ge- beim Bundesinnenminister und bei der rot-grünen Koali- wissens zustimmen. tion in sicheren Händen sind und dort auch bleiben sollten. Mir steht leider nicht viel Redezeit zur Verfügung. Des- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN halb möchte ich es ganz kurz machen. Ich möchte nur und bei der SPD) noch auf einen Punkt hinweisen, der mir Sorgen bereitet. In der Allianz zur Abwehr des Terrorismus befinden sich Herr Marschewski, Schuster bleib‘ bei deinen Leisten! Länder – das muss man sagen –, die innenpolitisch nicht Wir kümmern uns um die innere Sicherheit; Sie spielen unproblematisch sind, in denen Menschenrechte verletzt Skat. werden, und die – das finde ich nicht in Ordnung – Tritt- (Wolfgang Bosbach [CDU/CSU]: Das war brettfahrer sind, wenn es um die Unterdrückung der Op- aber primitiv!) position im eigenen Land geht. Das muss auch im Rah- men der Terrorismusabwehr angesprochen werden. Wir Zum Kollegen Stadler: Herr Kollege Stadler hat ge- werden über den Begriff des Terrorismus noch diskutie- sagt, dass die FDP-Fraktion Teilbereiche dessen, was wir ren müssen. Auch in der Bundesrepublik Deutschland hier vorhaben, durchaus begrüße. Aber Sie haben auch brauchen wir eine tragfähige Definition des Terroris- Fragen formuliert. Ich glaube, dass der 3. Dezember und musbegriffs. Es geht nicht, dass wir eine Terroris- (B) die von uns geplante Anhörung der richtige Zeitpunkt und musdefinition von den Staaten übernehmen, die die Men- (D) der richtige Ort sind, um über Ihre Fragen zu diskutieren. schenrechte mit Füßen treten, die Opposition im eigenen Hier gilt das strucksche Gesetz, das besagt, dass Gesetze Land unterdrücken und die Freiheitsbewegungen krimi- nach den Ausschussberatungen eine andere Form haben, nalisieren. Die Terrorismusdefinition solcher Staaten wer- weil sie in dem einen oder anderen Punkt geändert wor- den wir in der Bundesrepublik Deutschland nicht über- den sind. Ich finde, dass die Fragen, die Sie formuliert ha- nehmen dürfen. Sie alle wissen, welche Länder ich meine. ben, es verdienen, geprüft zu werden; denn darunter ist manches, was bedenkenswert ist. Anlässlich des jüngsten Urteils des Berliner Landge- richts im La-Belle-Prozess möchte ich von dieser Stelle Zur Kollegin Jelpke: Wir reden offensichtlich über an- aus – ich glaube, das tue ich im Namen aller – vor allem dere Gesetzentwürfe. Sie haben gesagt, dass der Abschie- den Hinterbliebenen der amerikanischen Soldaten und der beschutz schon bei Verdacht auf terroristische Aktivitäten anderen, die damals umgekommen sind, mein tiefes Mit- nicht mehr gewährleistet sei. Wenn Sie den Gesetzentwurf gefühl aussprechen. Ich finde es gut, dass das Gericht den aufmerksam gelesen hätten, dann hätten Sie festgestellt, Mut hatte, sehr deutliche Worte zu finden und die Verant- dass genau dies nicht der Fall ist. Zu Ihrer Kritik, dass wir wortung Libyens in aller Deutlichkeit anzusprechen. die Genfer Flüchtlingskonvention quasi abschaffen wür- den, sage ich Ihnen: Sie sollten unsere Gesetzentwürfe ge- (Beifall bei der SPD) nauer lesen! Wir haben die Formulierungen der Genfer Letzter Satz – weil ich meine Redezeit schon über- Flüchtlingskonvention nicht nur in den Gesetzen, die zum schritten habe –: Ich hoffe, dass uns unsere amerikani- Sicherheitspaket gehören, sondern auch im Entwurf eines schen Freunde bei der Einrichtung des Internationalen Gesetzes zur Zuwanderung übernommen. Der interna- Strafgerichtshofs helfen werden. Er liegt schließlich tionale Schutz der Menschenrechte wird durch diese Bun- auch in ihrem Interesse. desregierung also nicht ausgehöhlt, sondern, im Gegen- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, teil, gestärkt. Wir haben der Versuchung widerstanden, bei der SPD und der FDP) uns von internationalen Verträgen zu verabschieden. Allen Kritikern möchte ich bei dieser Gelegenheit sa- Präsident Wolfgang Thierse: Ich erteile dem Kolle- gen: Vielleicht sollten wir auch einmal über den nationa- gen Alfred Hartenbach, SPD-Fraktion, das Wort. len Tellerrand hinausschauen. In den USA, die sich si- cherlich in einer sehr schwierigen innenpolitischen Situation befinden, wird gegenwärtig über die Einführung Alfred Hartenbach (SPD): Herr Präsident! Meine von Militärgerichten diskutiert. In den USA ist es mög- sehr verehrten Damen und Herren! Die Bewahrung der 19680 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001

Alfred Hartenbach (A) inneren Sicherheit und die Bewahrung der äußeren Si- Land Niedersachsen eine solche Verringerung stattgefun- (C) cherheit sind unabdingbar miteinander verbunden. Wer den hat. die innere Sicherheit auf die leichte Schulter nimmt, läuft (Norbert Geis [CDU/CSU]: Dann müssen Sie Gefahr, dass seine Ordnung auch von außen bedroht wird. es nachlesen!) Wer glaubt, es gäbe nur Freunde in der Welt, findet sich sehr bald in Unfreiheit wieder. Mir ist auch nicht bekannt, dass dort irgendwelche Ver- säumnisse eingetreten sind. In diesem Zusammenhang passt es sehr gut, Herr Marschewski, einmal darauf hinzuweisen, dass 1996 die da- (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dr. Max malige Regierung beschlossen hat, das Personal des Bun- Stadler [FDP]: Hamburg!) desamts für Verfassungsschutz um 20 Prozent zu verrin- Mir ist aber bekannt, dass durch Ihre Maßnahmen – dabei gern. In diesem Zusammenhang passt es, auch einmal bleibe ich – auf der Bundesebene eine gewisse Nachlässig- darauf hinzuweisen, dass erst aufgrund dieser Maßnahme keit eingetreten ist. Erst unter Führung von Minister Schily – Herr Marschewski, hören Sie einmal zu! – Leute wie Atta hat das insofern wieder eine deutliche Verbesserung erfah- einreisen konnten. Das war zu Ihrer Regierungszeit. ren. Erst dadurch, dass das Bundesamt für Verfassungs- Eine Demokratie muss in der Lage sein, ihre Werte zu schutz in unserer Regierungszeit wieder gestärkt worden verteidigen. Freiheit, Gleichheit, Menschlichkeit sind ist, sind die Ermittlungserfolge möglich gewesen. – Also: hohe und wichtige Güter. Sie geraten in Gefahr, wenn wir Bleiben Sie bei Ihren Leisten! Das wäre besser für Sie. nicht ständig zu ihrer Bewahrung und auch Verteidigung (Beifall bei der SPD – Zuruf von der bereit sind. CDU/CSU: Schwache Antwort!) Am 11. September, meine verehrten Damen und Her- Präsident Wolfgang Thierse: Kollege Hartenbach, ren, haben wir erfahren müssen, dass es Verbrecher in der gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Geis? Welt gibt, denen diese Werte nichts wert sind. Wir haben deshalb heute mit aller Entschlossenheit dagegen vorzu- Alfred Hartenbach (SPD): Zwischenfragen von gehen, um weiteren Schaden von unserem Land abzu- Herrn Geis gestatte ich immer. Halten Sie aber bitte die wenden. Wir haben dazu einen Gesetzentwurf vorge- Uhr an. legt, der sich an den bereits viel zitierten vier Eckpunkten ausrichtet: Ist die Maßnahme erforderlich? Ist das ange- strebte Ziel zu erreichen? Beachten wir das Gebot der Norbert Geis (CDU/CSU): Herr Kollege Hartenbach, Verhältnismäßigkeit? Sind alle Vorschriften mit der Ver- ist Ihnen bekannt, dass der damalige Ministerpräsident fassung im Einklang? Wir unterscheiden uns da deutlich (B) von Niedersachsen, der heutige Bundeskanzler, das Per- (D) von der Vorgängerregierung, in der insbesondere Herr sonal des Verfassungsschutzes in Niedersachsen um Kanther dies nicht immer beachtet hat. 50 Prozent dezimiert hat und dass der damalige Umwelt- minister in Niedersachsen, Herr Trittin, dazu erklärt hat, Wir haben einen Gesetzentwurf vorgelegt, den man als jetzt habe man den Verfassungsschutz endlich an die Kette weiteren soliden Grundstein einer erfolgreichen und an gelegt? der Verfassung orientierten Sicherheitspolitik der rot-grü- nen Koalition und der von ihr getragenen Regierung be- zeichnen darf. Ich bin sehr sicher, dass wir diesen Gesetz- Alfred Hartenbach (SPD): Verehrter Kollege Geis, entwurf auch gemeinsam verabschieden werden. (Erwin Marschewski [Recklinghausen] Ich will an zwei Punkten des Gesetzentwurfs deutlich [CDU/CSU]: Sagen Sie „ja“!) machen, wie klar wir Erforderlichkeit und Verfassungs- wir diskutieren in diesem Hohen Hause über bundespoli- mäßigkeit in Einklang bringen, und zwar an zwei Punk- tische Fragen ten, die für mich als Rechtspolitiker von Bedeutung sind. (Lachen bei der CDU/CSU) Zunächst zur Änderung des Bundeskriminalamtge- setzes. Es ist notwendig und wichtig, dem Bundeskrimi- und nicht über länderpolitische Fragen. nalamt weitere Aufgaben zuzuweisen. (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist doch Bun- (Zuruf von der SPD: Jawohl! Genau!) despolitik!) Das sehen wir vor. Es ist auch wichtig, dass eine klare Sie müssen schon stehen bleiben, Herr Geis; ich bin noch Trennung zwischen den Diensten, also Verfassungs- nicht fertig. schutz, Bundesnachrichtendienst, und dem Bundeskrimi- (Norbert Geis [CDU/CSU]: Ich dachte, Sie nalamt besteht und dass das Verfahren als solches justiz- wären schon fertig!) förmig bleibt. Auch dies ist in dem Entwurf gelungen. Die Ehre müssen Sie mir schon erweisen, verehrter Kol- (Beifall des Abg. Cem Özdemir [BÜND- lege Geis. NIS 90/DIE GRÜNEN]) (Norbert Geis [CDU/CSU]: Immer, immer!) Damit steht die Änderung auf verfassungsmäßig sicherem Boden. – Wunderbar. – Wir diskutieren hier über die Fragen, die wir zu verantworten haben. Mir ist nicht bekannt, dass im (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19681

Alfred Hartenbach (A) Dort, wo die Dienste weitere Aufgaben nötig haben, ist hoffe auf Ihrer aller Unterstützung –, alsbald den betref- (C) es uns gelungen, diese Aufgaben einzufügen und gleich- fenden Vertrag ebenfalls zu ratifizieren. wohl die Verfassungsmäßigkeit zu wahren. Nach Beendi- (Beifall bei Abgeordneten der SPD, des gung der Maßnahme – das ist bereits mehrfach erwähnt BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der worden – muss – das ist wichtig – der Betroffene infor- PDS) miert werden.

(Dr. Max Stadler [FDP]: Nicht immer!) Präsident Wolfgang Thierse: Kollege Hartenbach, Monatlich muss der Bundesinnenminister vor dem G-10- kommen Sie zum Schluss mit Ihren Forderungen. Kontrollgremium einen Bericht abgeben. Kronzeugenregelung und Gesetz über Fernmelde- Alfred Hartenbach (SPD): Einen Satz noch. – Ich anlagen werden von uns in rechtsstaatlicher Weise recht- fordere, verehrter Herr Präsident – das dürfte auch in zeitig eingebracht. Ihrem Sinne sein –, den Präsidenten Bush auf, von sei- nem Sonderweg – das ist ein Irrweg – der Militärge- (Norbert Geis [CDU/CSU]: Hoffentlich!) richtsbarkeit abzugehen. Es geht nicht an, dass man Ter- Ich weise auf eines hin – gerade Sie, verehrter Kollege roristen vor einem Militärgerichtshof anklagt und damit Geis, sollten es wissen –: Hätten nicht einige Innenminis- wiederum einen neuen, unguten Mythos schafft. Terroris- ter der von Ihnen dominierten Länder, die Herren ten dürfen nicht mit Soldaten in einen Topf geworfen Beckstein, Schäuble und Bouffier – er ist Minister in Hes- werden. Terroristen sind Verbrecher und Verbrecher sind sen –, sich geweigert, uns Zahlen zu geben, hätten wir vor einem normalen Gericht anzuklagen – so wie andere diese Entscheidung längst auf sicherer rechtlicher Grund- Verbrecher auch. Ich hoffe da auf Ihre breite Unterstüt- lage treffen können. zung. (Dr. Max Stadler [FDP]: Sie hatten drei Jahre Vielen Dank. Zeit!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Eines möchte ich allerdings auch noch klarstellen: Ei- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) nen Einsatz der Bundeswehr im Inneren zur Terrorismus- bekämpfung wird es mit uns nicht geben. Präsident Wolfgang Thierse: Ich schließe die Aus- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des sprache. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwur- (B) An dieser Stelle möchte ich Herrn Bundesminister fes auf Drucksache 14/7386 an die in der Tagesordnung (D) Schily für den guten und sachlichen Dialog mit uns Par- aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu an- lamentariern über das Sicherheitspaket II sehr herzlich derweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist danken. In stundenlangen, sicher manchmal auch, Herr die Überweisung so beschlossen. Minister, für uns alle quälenden Ich rufe nunmehr Tagesordnungspunkt 4 auf: (Zuruf von der CDU/CSU: Ja!) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Verhandlungen wurde so aus einem guten Gedankenent- richts des Finanzausschusses (7. Ausschuss) zu wurf ein sehr guter Gesetzesentwurf, der in vollem Um- dem Antrag der Abgeordneten Dr. Barbara Höll, fang geeignet ist, die innere Sicherheit in unserem Land, Dr. Christa Luft, Heidemarie Ehlert, weiterer Ab- den inneren Frieden und auch unsere Freiheit zu wahren. geordneter und der Fraktion der PDS Wir werden damit Erfolg haben. Einführung einer Steuer auf spekulative Devi- (Ludwig Stiegler [SPD]: Sehr wahr!) senumsätze (Tobin Steuer) – Drucksachen 14/840, 14/2546 – Weil wir damit Erfolg haben werden, müssen wir noch einen weiteren Aspekt ansprechen, der mir schon sehr Berichterstattung: wichtig ist. Wir werden mithilfe dieses Gesetzes, mithilfe Abgeordnete unserer Polizei und auch mithilfe unserer Geheimdienste Dr. Barbara Höll mit Sicherheit internationale Terroristen fassen und ding- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die fest machen. Aber dann müssen diese internationalen Ter- Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen, wobei die roristen auch vor einem internationalen Strafgerichts- PDS 10 Minuten erhält. – Ich höre keinen Widerspruch. hof angeklagt und abgeurteilt werden. Dann ist so beschlossen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD, des Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Dr. Dietmar Bartsch, PDS-Fraktion das Wort. PDS – Norbert Geis [CDU/CSU]: Darüber kann man reden!) Dr. Dietmar Bartsch (PDS): Herr Präsident! Verehrte Es sind fast alle 60 Länder beisammen. Nur, es fehlt ein Kolleginnen und Kollegen! Die PDS fordert in dem hier wichtiger Staat; das sind die Vereinigten Staaten. Ich for- zu debattierenden Antrag die Erhebung einer Devisenum- dere die Vereinigten Staaten von dieser Stelle aus auf – ich satzsteuer. Es geht um die Begrenzung spekulativer 19682 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001

Dr. Dietmar Bartsch (A) Finanzströme. Kurzfristige Devisengeschäfte sollen ver- kungen ließen nach und die Volkswirtschaften stabilisier- (C) teuert und damit eingedämmt werden. Angesichts zahlrei- ten sich. cher ruinöser Währungskrisen ist dies ökonomisch sinn- Um dies zu erreichen, hat die PDS einen Antrag mit voll. konkreten Zielen vorgelegt: Wir schlagen einen einheit- (Beifall bei der PDS) lichen Steuersatz vor, wir haben einen Vorschlag für das Die Erhebung der Tobinsteuer ist eine langjährige Forde- Erhebungsgebiet unterbreitet, wir haben – wie es sein rung. Allerdings war die Debatte darüber nie so aktuell sollte – die Steuerschuldner benannt, wir haben Ausnah- wie zum jetzigen Zeitpunkt. Ausgerechnet die tragischen, meregelungen in Bezug auf den grenzüberschreitenden verbrecherischen Ereignisse des 11. September haben Waren- und Dienstleistungsverkehr und den Tourismus dazu geführt, dass sich die öffentliche Debatte heute wie- vorgeschlagen. Das alles soll ein Diskussionsangebot der der mehr mit den sozialen Gegensätzen dieser Welt, mit PDS sein. dem unsagbaren Reichtum und der inakzeptablen Armut, Die Steuereinnahmen sollten vor allem im Rahmen der befasst, die eine der Ursachen des Terrorismus sind. UNO zur Finanzierung von Umwelt- und Entwicklungs- (Beifall bei der PDS) hilfemaßnahmen verwandt werden. Mit dem von uns vor- geschlagenen Steuersatz könnten jährlich zwischen In Zahlen heißt das: 1,3 Milliarden Menschen müssen 300 und 500 Milliarden Dollar eingenommen werden. von weniger als 1 Dollar pro Tag leben. Die Anzahl der Das könnte ein Beitrag zur Lösung von einigen Proble- Länder mit einem jährlichen Pro-Kopf-Einkommen unter men dieser Welt sein. 300 Dollar hat von 25 im Jahre 1971 auf heute 49 zuge- nommen. 850 Millionen Menschen hungern in dieser (Beifall bei der PDS) Welt. Dem steht ein deutliches Anwachsen von Einkom- Ich möchte einen letzten Aspekt vorbringen: Es ist völ- men und Vermögen in den Industrieländern und deren im- mer stärkere Konzentration in wenigen Händen gegen- lig klar, dass Deutschland diese Frage nicht im Alleingang über. Die drei reichsten Menschen dieser Welt besitzen regeln kann. Inzwischen unterstützen viele Gewerkschaf- mehr als das Bruttoinlandsprodukt der 48 am wenigsten ten – der DGB und auch die AFL/CIO in den USA – entwickelten Länder, in denen ein Zehntel der Weltbevöl- ebenso wie viele andere Parlamentarierinnen und Parla- kerung lebt. Die steigenden Einkommen und Vermögen mentarier ein solches Vorgehen. In der Koalitionsverein- wurden in allen Industriestaaten mit sinkenden Steuern barung in Finnland wurde dergleichen erwähnt. Die bel- belastet. Das führte letztlich zu einem massiven Anwach- gische Regierung ist in diesem Sinne aufgefordert sen des verfügbaren freien Kapitals, das weltweit neue worden. Auch Herr Jospin in Frankreich hat sich dazu po- sitiv geäußert. (B) rentable Verwertungsmöglichkeiten sucht. (D) Die Computerisierung der Finanzmärkte und die inter- Meine Aufforderung lautet: Deutschland sollte nicht nationale Vernetzung haben die Landesgrenzen für die nur bei anderen Dingen, sondern auch im Hinblick auf die Kapitalströme faktisch aufgehoben. Auf dem Globus kön- Einführung einer ökonomisch sinnvollen und sozial ge- nen so – weitgehend unbesteuert – immer höhere Kapital- rechten Steuer eine Vorreiterrolle übernehmen, die wirk- einkünfte erzielt werden. Das Ergebnis dieser unbegrenz- lich helfen kann, in den ärmsten Ländern einiges zu be- ten Mobilität des Kapitals ist eine zunehmende wegen. Lassen Sie uns deshalb diesem Antrag Abkopplung der Finanz- von der Realwirtschaft. Rund zustimmen! Lassen Sie uns ihn weiter ausgestalten und 1,5 bis 2 Billionen Dollar werden an den Devisenmärkten debattieren! derzeit täglich umgesetzt. Der Preis dafür, dass einige we- nige an den Finanzmärkten riesige Spekulationsgewinne Danke schön. sichern können, ist immens: eine inflationäre Entwertung (Beifall bei der PDS) von Einkommen, die Verhinderung von Investitionen, Ar- beitsplatzverluste und Armut. Präsident Wolfgang Thierse: Ich erteile dem Kolle- Wir alle wissen: Allein durch die Tobinsteuer können gen Detlev von Larcher, SPD-Fraktion, das Wort. Währungs- und Finanzkrisen nicht unterbunden werden. Dazu ist ein Mix von Maßnahmen erforderlich, zum Bei- (Friedrich Merz [CDU/CSU]: Der ist auch spiel die Einführung von Währungszielzonen und vieles dafür! Jetzt wächst zusammen, was zusammen- andere mehr. Unbestritten ist, dass durch die Besteuerung gehört!) der Devisenumsätze die kurzfristigen Finanzanlagen ver- teuert werden. Detlev von Larcher (SPD): Herr Präsident! Meine (Beifall bei der PDS) Damen und Herren! Selbst den größten Eiferern des Neo- liberalismus, die den Abbau des staatlichen Einflusses Durch die Tobinsteuer würden diejenigen belastet, die und die unbeschränkt weltweite Liberalisierung des Ka- kleinste Zins- und Wechselkursdifferenzen ausnutzen. pital- und Finanzverkehrs predigten, schwant, dass sie Längerfristige Anlagen würden wieder attraktiver, sich auf eine Sackgasse zubewegen. (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Die würden (Zuruf von der CDU/CSU: Das muss er vorle- dadurch belastet!) sen! – Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das ist Kapitalströme verlangsamten sich, Wechselkursschwan- von Marx oder woher?) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19683

Detlev von Larcher (A) – Ich merke, Sie haben von Marx keine Ahnung. Sie soll- schneller als umgekehrt der Produktionsanstieg bei Un- (C) ten ihn einmal lesen. – terbewertung. Das Auf und Ab der Währungen führt da- mit zu einer Vernichtung produktiver Ressourcen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der PDS – Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Die Letztlich handelt es sich bei allen genannten Wegen der Linken sind unbelehrbar!) Beeinträchtigung der Realwirtschaft auch um eine Um- verteilung von Einkommen aus dem produktiven real- Die letzten Jahre haben gezeigt, dass die Entwicklung der wirtschaftlichen Sektor in den Bereich der Finanzmärkte. Wechselkurse – – Genau hier liegt das zentrale Problem. Investitionen in (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Der lebt ja Sachkapital haben im Zuge der Deregulierung der inter- nicht mehr!) nationalen Finanzmärkte gegenüber kurzfristigen Geld- anlagemöglichkeiten immer mehr an Attraktivität verlo- – Sie dürfen ruhig weiter zuhören, auch wenn der Name ren. Auch das ist ein Grund für die nach wie vor geringen von Karl Marx genannt wurde. Bleiben Sie ganz ruhig! Er Sachinvestitionen und damit ein entscheidender Faktor lebt ja nicht mehr. – für die nach wie vor zu hohe Arbeitslosigkeit. (Jochen-Konrad Fromme [CDU/CSU]: Der ist Deshalb gibt es gute Gründe, über Instrumente nach- genauso wenig eine Gefahr wie Sie!) zudenken, die die Spekulation eindämmen und eine Glät- Die letzten Jahre haben gezeigt, dass die Entwicklung der tung der Kursschwankungen am Devisenmarkt bewirken Wechselkurse – können. Der Vorschlag einer Tobinsteuer, also einer Steuer auf Devisenumsätze, kann dazu durchaus beitra- (Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU]: Der ist aber gen. Die große Anzahl der Transaktionen, die auf Mit- immer noch Ihr geistiger Ziehvater!) nahme geringster Zinsdifferenzen und Kursgewinne ge- – Sie können mich gleich widerlegen; jetzt hören Sie ein- richtet ist, könnte damit uninteressant werden. mal zu, dann kommen Sie ans Pult und widerlegen mich – In den letzten Monaten – es wurde gerade erwähnt – der realwirtschaftlichen Entwicklung nur bedingt folgt. hat diese alte Idee des Nobelpreisträgers Tobin immer Deshalb müssen Maßnahmen ergriffen werden, damit es mehr Interesse gefunden. So haben zum Beispiel die nicht zu einer weiteren Kopplung mit all ihren negativen schwedische Vizepremierministerin, der Außenminister Auswirkungen kommt. Finnlands, der indische Premierminister sowie der Präsi- (Friedrich Merz [CDU/CSU]: Geben Sie den dent von Brasilien die Tobinsteuer öffentlich befürwortet. Rest doch zu Protokoll!) Lionel Jospin und Gerhard Schröder, unser Bundes- kanzler, haben ihrerseits ihr Interesse und ihre Sympathie Herr Merz, nur noch 1,2 Prozent der Umsätze auf den in- geäußert. Ein weltweiter Aufruf von europäischen Abge- (B) ternationalen Devisenmärkten entfallen auf die Abwick- (D) ordneten und Mitgliedern des amerikanischen Kongresses lung des internationalen Handels. Mit anderen Worten: hat die Unterstützung von über 690 Parlamentariern aus Auf den Devisenmärkten steht der Realwirtschaft eine der ganzen Welt gefunden. Das kanadische Parlament hat hundertfache Übermacht von Spekulation, Absicherungs- 1999 mit großer Mehrheit beschlossen, die Steuer einzu- geschäften und Geldhandel gegenüber. führen, allerdings zunächst in einer Höhe von 0 Prozent, (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Das können solange andere Staaten nicht nachziehen. Das zeigt eines Sie doch gar nicht trennen! Wie wollen Sie das der großen Probleme. denn trennen?) (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Das ist die Ernstlich ist nicht zu bestreiten, dass größere, insbeson- Nullnummer!) dere kurzfristige Schwankungen vor allem zwischen den – Sie können sich ruhig über das kanadische Parlament drei großen Weltwährungen die Realwirtschaft negativ lustig machen; ich tue das nicht. – Das große Problem ist: beeinflussen. Bei Investoren, Konsumenten und Expor- Diese Steuer kann nicht nur von einigen Ländern erhoben teuren steigt die Unsicherheit. Stabile Kalkulationen und werden; sie müsste an allen großen Finanzplätzen zu- Erwartungen und damit die Sicherung bzw. der Aufbau gleich, ja im Grunde genommen weltweit, eingeführt von Arbeitsplätzen werden schwieriger. werden. Die Devisenspekulation beeinträchtigt die realwirt- Es gibt einige durchaus ernst zu nehmende Einwände schaftliche Entwicklung in mehrfacher Hinsicht. Im Außen- gegen die Einführung der Tobin Tax, die gründlich über- handel können Preise nicht mehr sicher kalkuliert werden. prüft werden müssen: Würden sich die Märkte nicht in die Die Absicherung gegen Kursrisiken führt zu zusätzlichen Offshorezentren, die Steueroasen, verlagern? Das ist eine Kosten, zum Beispiel für Optionen, und behindert damit den Frage. Dabei ist allerdings zu bedenken, dass die Gründe, Welthandel. Die Verteidigung des Wechselkurses gegenüber warum die großen Finanzplätze für den Devisenhandel be- spekulativen Attacken durch die Notenbanken durch kurz- nutzt werden, in den Sicherheitskriterien, den Strukturen fristige Interventionen und durch geldpolitische Maßnah- und den Verbindungen zwischen den Märkten liegen. Die men verursacht erhebliche volkswirtschaftliche Kosten, die Offshorezentren können die großen Börsen nicht ersetzen. die Steuerzahler zu tragen haben. Es wird eingewandt, dass die Tobinsteuer zwar viel- (Beifall bei Abgeordneten der PDS) leicht das Volumen der Transaktionen verringern und die Die Stilllegung von Produktionskapazitäten in Ländern Spekulation bremsen könnte; der Umfang einer solchen mit überbewerteter Währung vollzieht sich in der Regel Steuer wäre aber immer noch zu gering, um im Falle 19684 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001

Detlev von Larcher (A) eines massiven Angriffs auf eine Währung wirklich ent- Voraussetzung für Hilfsmaßnahmen zu fordern. Es gibt (C) scheidend wirken zu können. Instrumente wie die von Chile angewandten Preisein- Es gibt dazu Überlegungen von Professor Spahn, ei- griffe in den grenzüberschreitenden Kapitalverkehr oder nem ehemaligen Berater des Internationalen Währungs- wie direkte Mengenbeschränkungen in Malaysia. Auch fonds. Er schlägt eine Steuer mit zwei unterschiedlichen die nun vom IWF vorgeschlagene Withholding Tax auf Steuersätzen vor. Der erste Steuersatz soll auf sehr niedri- Kapitalimporte ist denkbar. gem Niveau liegen und wie die klassische Tobinsteuer (Dr. Hermann Otto Solms [FDP]: Was ist das eine fiskalische und eine umverteilende Funktion haben. denn jetzt wieder?) Der zweite hingegen soll sehr hoch liegen und in dem Mo- ment greifen, wenn eine Währung aus dem Korridor aus- – Das ist, Herr Solms, eine Steuer auf alle privaten Finanz- bricht, um so den Wiederverkauf der attackierten zuflüsse zum Zeitpunkt der Überweisung und eine Re- Währung zu verhindern. Mit diesem Sicherungs- fund-Provision, die sicherstellt, dass die einbehaltenen mechanismus soll verhindert werden, dass eine Währung Steuern auf Zuflüsse, welche nicht Kapitalimporte betref- in einer Panikphase immer tiefer stürzt. fen, mit inländischen Steuerschulden verrechnet werden. Das Hauptargument, das von den Gegnern der Tobin- Es gibt also noch viel zu untersuchen, es muss noch steuer vorgetragen wird, lautet, eine solche Steuer bringe über vieles nachgedacht werden. Viele Gespräche in der das Risiko mit sich, dass die Kapitalbewegungen zu stark EU und darüber hinaus müssen geführt werden. Ein iso- abgebremst würden. Dieses Argument zeigt allerdings, lierter Beschluss des Deutschen Bundestages wäre ver- dass durchaus mit den Auswirkungen einer Tobin Tax ge- mutlich kontraproduktiv. Die SPD diskutiert ernsthaft rechnet wird. Hier wäre dann die Frage zu stellen, wie über Möglichkeiten, steuernd auf die Finanzmärkte ein- hoch der Steuersatz liegen muss, damit die erwünschte zuwirken. Ein Bericht unserer Kommission „Internatio- Wirkung eintritt, aber kein Übermaß erreicht wird. nale Finanzmärkte“ ist gerade vorgelegt worden. Ein Fa- James Tobin steht seinem Vorschlag heute kritisch ge- zit daraus lautet: Um Stabilität und Wohlfahrtswirkungen genüber – dies aber nicht aus dem Grund, weil er die in den internationalen Finanzmärkten zu erreichen, ist ein Steuer für überflüssig hält, sondern weil seiner Ansicht breiter Ansatz notwendig. In diesem Zusammenhang nach zu viele Finanzminister dagegen seien und sie des- müssen alle Instrumente überprüft werden, auch die halb nicht durchzusetzen sei. Ähnlich äußert sich übrigens Tobin Tax. Auf unserem Parteitag in der kommenden Wo- Herr Soros, der nun wahrhaftig ein Spezialist für Speku- che werden wir auch über diesen Punkt diskutieren. lationen ist. Wir begrüßen den Antrag der EU-Finanzminister an die Nun muss klar gesagt werden, dass die Einführung der EU-Kommission, eine Studie über Globalisierung und (B) Tobin Tax nicht jeglicher Devisenspekulation den Boden Entwicklung vorzulegen, um die Vor- und Nachteile der fi- (D) entziehen würde. Groß angelegte Attacken auf einzelne nanziellen Globalisierung zu bewerten und eine Bilanz der Währungen, wie etwa 1992 auf die italienische Lira und Entwicklungshilfe auf internationaler Ebene zu ziehen. das Pfund Sterling, die ein Herausfallen aus dem Europä- Wir werden also heute den Antrag der PDS-Fraktion ischen Währungssystem zur Folge hatten, hätten sich für ablehnen und die Studie der EU-Kommission abwarten. ihren Initiator trotz einer Tobinsteuer gelohnt. Die Tobin- steuer allein ist mit der Vermeidung von spekulationsbe- Ich danke Ihnen. dingten Finanzkrisen überfordert. Aber die Besteuerung von Devisentransaktionen könnte das i-Tüpfelchen einer (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ umfassenderen Reform des Weltfinanzsystems sein. DIE GRÜNEN) Eine solche Reform muss verbindliche Standards etwa für die Eigenkapitalausstattung von Finanzinstitutionen fest- Präsident Wolfgang Thierse: Ich erteile das Wort legen und mehr Transparenz und damit bessere Kontroll- dem Kollegen Leo Dautzenberg, CDU/CSU-Fraktion. möglichkeiten schaffen. Damit können das Risiko von Finanzkrisen und die Möglichkeit, daraus spekulativ Pro- fit zu ziehen, von vornherein verringert werden. Leo Dautzenberg (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kolle- Grundsätzlich ist grenzüberschreitender Kapital- gen! Mit dem vorliegenden Antrag soll die Bun- verkehr eine notwendige und unverzichtbare Vorausset- desregierung aufgefordert werden, im Rahmen ihrer Prä- zung für den Wohlstand in der entwickelten Welt. Aber sidentschaft innerhalb der EU das Thema der Erhebung auch Entwicklungsfortschritte in den Schwellen-, Ent- einer so genannten Devisenumsatzsteuer, auch Tobin- wicklungs- und Transformationsländern sind ohne diesen steuer genannt, kurzfristig auf die Tagesordnung des Kapitalverkehr nicht denkbar. Es gibt jedoch Umstände, Ecofin-Rates zu setzen und eine Regierungskonferenz an- in denen für einzelne Staaten eine weitreichende zuregen, die einen Vertrag zur Einführung einer interna- Liberalisierung des grenzüberschreitenden Kapitalver- tional einheitlichen Devisenumsatzsteuer erarbeiten soll. kehrs sehr problematisch ist. Für die Entwicklung noch Schließlich wird in dem Antrag der PDS die Bundes- schwach entwickelter Länder kann es förderlicher sein, regierung aufgefordert, sich für eine bestimmte Ausge- die Liberalisierung nicht zu überstürzen. Es ist bemer- staltung des Vertrages einzusetzen. kenswert und sehr zu begrüßen, dass der IWF diese Auf- fassung teilt und langsam davon abrückt, regelmäßig die (V o r s i t z: Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Liberalisierung auf den Kapitalmärkten als unabdingbare Seiters) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19685

Leo Dautzenberg (A) Die Absichten der PDS zielen darauf, eine Art Ent- dämmen. Ministerin Wieczorek-Zeul will durch die Ein- (C) wicklungshilfesteuer einzuführen; denn laut Antrag be- führung der Tobinsteuer kurzfristige Kapitalbewegungen stehe mit den Einnahmen aus der Devisenumsatzsteuer eingeschränkt sehen. Sie meint, durch die Einnahmen aus eine Chance, durch die Kombination von Entschuldungs- dieser Steuer könnten weltweit die Armut bekämpft und und Entwicklungshilfemaßnahmen einen Fortschritt globale Aufgaben finanziert werden. So äußerte sich die wirtschaftlich schwacher Länder zu unterstützen. So weit Ministerin in einem Interview gegenüber der „Frankfurter die Forderungen in dem Antrag. Allgemeinen Sonntagszeitung“ vom 21. Oktober 2001. Herr Kollege von Larcher, ich war schon erstaunt, wie Erwähnt worden ist schon, dass die Gewerkschaften Sie zum Schluss noch die Kurve gekriegt haben und Bundeskanzler Schröder dazu aufgerufen haben, auf eine Gründe für die Ablehnung dieses Antrages dargelegt gemeinsame Position zur Einführung der Tobinsteuer hin- haben. zuwirken. Sie sehen, dass die Diskussion über die Tobin- (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der steuer sehr aktuell ist und eine große Rolle in den Fraktio- PDS) nen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen spielt. Weiterhin stellen wir fest, dass auch innerhalb der Bundesregierung Wenn ich die Diskussionen richtig verfolgt habe, dann keine einheitliche Meinung in dieser Frage besteht. Fi- muss ich feststellen, dass Sie persönlich für die Tobin- nanzminister Eichel und Bundeskanzler Schröder lehnen steuer sind. die Einführung einer solchen Steuer zurzeit noch ab. (Ludwig Eich [SPD]: Sehr sachlich, Herr Worum geht es bei der Tobinsteuer? Die nach dem Kollege!) amerikanischen Ökonomen und Nobelpreisträger James Es gibt auch die Forderung aus der Fraktion des Bündnis- Tobin benannte Steuer stammt aus den Anfängen der ses 90/Die Grünen, noch in dieser Legislaturperiode eine 70er-Jahre. Die Idee wurde von Tobin als Reaktion auf solche Steuer einzuführen. den Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems der fixen Wechselkurse entwickelt. Sie sah vor, eine einheit- liche internationale Steuer auf alle Devisentransaktionen Vizepräsident Dr. h. c. : Herr Kol- zu erheben, wenn bei diesem Geschäft der Umtausch von lege Dautzenberg, gestatten Sie eine Zwischenfrage des einer Währung in eine andere vorgenommen werden Abgeordneten von Larcher? muss, also beim Vorliegen von Kassageschäften. Damit sollte der Handel mit Währungen verteuert werden, um Leo Dautzenberg (CDU/CSU): Ja, Herr Präsident. Spekulationen zu unterbinden. Es ist doch bezeichnend, dass führende Fachleute aus (B) Detlev von Larcher (SPD): Herr Kollege Dautzenberg, der Finanz- und Wirtschaftswissenschaft eine Umsetzung (D) können Sie sich vorstellen, dass auch ein Befürworter der der Tobinsteuer ablehnen. Unter Ihnen befindet sich Tobin Tax zunächst einmal in seiner eigenen Fraktion kein Geringerer als ein weiterer Nobelpreisträger, näm- wirbt? Wenn ein solcher Befürworter heute im Bundestag lich Robert Mundell, der Nobelpreisträger für Wirtschaft spricht, spricht er im Namen seiner Fraktion und nicht als des Jahres 1999. Individualist. Ich habe dies getan, weil ich schon lange in dieser Partei verankert bin und selbstverständlich für die Der Namensgeber selbst – da sollten die Befürworter Fraktion spreche. noch einmal nachlesen – wünscht nicht mehr, dass sein Name mit dieser Steuer in Verbindung gebracht wird, wie (Hans Michelbach [CDU/CSU]: Salto vor- er dies ausdrücklich in einem Interview forderte, das er wärts und rückwärts gleichzeitig!) vor zwei Jahren einem französischen Fernsehjournalisten Ich trete nie als Individualist, sondern immer als Mitglied gab. Tobin präzisiert unter anderem, dass seine Steueridee meiner Fraktion auf. allein als ein Instrument zur Stabilisierung der Finanz- märkte gedacht war und eben nicht als ein fiskalisches (Lachen bei der CDU/CSU) Instrumentarium, um damit Steuereinnahmen zu erzielen. (Detlev von Larcher [SPD]: Ja und?) Leo Dautzenberg (CDU/CSU): Herr Kollege von Larcher, ich kann mir Ihre Rede nur so erklären, dass Ihre Schließlich betont Tobin, dass er auch als Ökonom Ver- Bemühungen in der eigenen Fraktion nicht gefruchtet fechter des Freihandels sei. haben. Es sollte uns doch zu denken geben, wenn sich der (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ideengeber selbst von dieser Form der Steuer, wie Sie sie Ludwig Eich [SPD]: Das war eine harte Kritik! – erheben wollen, distanziert und sich im Grunde mit seiner Detlev von Larcher [SPD]: Darf ich eine Zu- Idee nicht mehr wiederfindet. satzfrage stellen?) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – – Ich möchte weiter ausführen. Detlev von Larcher [SPD]: Sie sollten wirklich genauer nachlesen!) Noch in einer Stellungnahme pro Tobinsteuer in der Zeitschrift „Die Bank“ vom Oktober 2001 bezeichnete Die Steuer müsste, um überhaupt Wirkung entfalten Frau Heyne von den Grünen die Tobinsteuer als sinnvol- zu können, an allen internationalen leistungsfähigen les Instrument, um Wechselkursschwankungen einzu- Finanzzentren der Welt zeitgleich eingeführt werden. 19686 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001

Leo Dautzenberg (A) Geschieht dies nicht, würde sich das Handelsvolumen schaftliche Weltordnung und eine Weltordnungspolitik (C) automatisch auf jene Finanzplätze in der Welt verlagern, auf diesem Gebiet, aber nicht die Tobinsteuer. die auf diese Besteuerung verzichten. Es wurden eben bei (Beifall bei der CDU/CSU – Detlev von Larcher Herrn von Larcher schon Zahlen genannt. Wir haben täg- [SPD]: Wie soll die jetzt aussehen?) lich 1 Billion US-Dollar als Handelsvolumen im Devi- senbereich. Wenn es noch eines Beweises bedarf, so hat der Euro nach den schrecklichen Ereignisses des 11. September (Detlev von Larcher [SPD]: Herr von Larcher seine Bewährungsprobe bestanden. Der Euroverbund ist hat auch gesagt, dass dieser Gedanke richtig bisher für zwölf EU-Länder in Kraft. Wäre das nicht so ist!) gewesen, wäre die Gefahr für zwölf europäische Wäh- Kurzfristige Kapitalströme sind eben keine der Haupt- rungen da gewesen. Der Euroverbund ist eben so stark, ursachen für die starken Schwankungen von Wechselkur- dass er auch diese Schwierigkeiten überwinden konnte. sen. Sie sind nicht ursächlich für Finanzkrisen in Teilen Wenn der Euro – Herr Kollege von Larcher, vielleicht Asiens in den neunziger Jahren oder aktuell in der Türkei stimmen Sie mir da zu – zurzeit gegenüber dem Dollar- entscheidend. Ursächlich für den Rückzug der internatio- raum schwächer ist, dann hat das nichts mit Spekulation nalen Anleger waren wirtschaftliche Fehlentwicklungen zu tun, wie das in den Reihen von PDS, SPD und Bünd- in den Ländern selbst. Die eigentlichen Ursachen von Fi- nis 90/Die Grünen zu hören ist, nanzkrisen sind zumeist in unangemessener Wechselkurs- (Dr. Dietmar Bartsch [PDS]: Wer hat das denn politik, in schwachen, ungenügend überwachten inländi- gesagt?) schen Finanzsektoren und in hohen Außenschulden zu sehen. Die Tobinsteuer ist nämlich wirkungslos gegen sondern vielmehr mit der eigenen Wirtschaftspolitik der hohe kurzfristige Spekulationswellen. Andererseits wür- EU-Länder. den längerfristige Devisentransaktionen über Gebühr ver- (Beifall bei der CDU/CSU) teuert oder sogar ganz verhindert, und zwar gerade solche, die auf Warenhandel begründet sind. Meine Damen und Herren, wenn wir in Europa vom Wachstum her die rote Laterne haben und auf der anderen Die Steuer unterbindet bzw. verteuert genau die Ge- Seite das größte Wirtschaftspotenzial in dieser Gemein- schäfte, die eigentlich zu fördern sind. Sie wirkt damit schaft darstellen, dann können Sie da auch die Gründe kontraproduktiv und beeinträchtigt das Wirtschafts- dafür sehen, dass uns eben der Dollarraum nicht die not- wachstum eines Landes erheblich. wendigen Reformmaßnahmen zutraut, die eigentlich für (Detlev von Larcher [SPD]: Das kommt auf diesen Raum erforderlich wären. den Steuersatz an!) (B) (Beifall bei der CDU/CSU) (D) So können kurzfristige Kapitalbewegungen nicht auch Damit wären auch die Stabilität und der Kurs des Euro grundsätzlich als Spekulation bezeichnet werden. besser, als er jetzt gegenüber dem Dollarraum ist. (Dr. Dietmar Bartsch [PDS]: Das hat niemand (Detlev von Larcher [SPD]: Wie hoch soll er gemacht!) denn werden?) Sie dienen häufig in realen Geschäften auch der Absi- Hier geht ja gerade die Bundesregierung mit schlechtem cherung von Risiken. Devisentermingeschäfte sind im Beispiel voran. Grunde das Gegengeschäft zum Realgeschäft. Wenn auf der anderen Seite gerade Finanzminister (Detlev von Larcher [SPD]: Habe ich ja gesagt! – Eichel und der französische Finanzminister Fabius auch Dr. Dietmar Bartsch [PDS]: Völlig unbestrit- auf europäischer Ebene darüber nachdenken, dass es ten!) zukünftig Ausgabenziele geben soll und nicht mehr die Darüber hinaus sind weiterhin auch Arbitragemöglich- Stabilitätskriterien von Maastricht, gemessen am Brut- keiten zu nutzen, die auch stabilisierend auf das Finanz- toinlandsprodukt, dann ist das eine weitere Maßnahme, system und die Devisenmärkte wirken können. Würde die die die Stabilität des Euros gefährdet statt sie zu stärken. Tobinsteuer eingeführt, so würde dadurch die Nutzung (Beifall bei der CDU/CSU) von Arbitragemöglichkeiten, wie gesagt, eingeschränkt und Invesitionen würden sich weltweit verteuern. Deshalb ist es eine unseriöse Politik, die hier betrieben wird. Die Folge wäre eine Minderung des Wohlstandsni- Es ist Aufgabe von IWF und Weltbank, die ge- veaus. meinsame Zielsetzung in einer klaren Aufgabentren- nung zu erreichen. Dafür brauchen wir eine internati- (Dr. Dietmar Bartsch [PDS]: Nein!) onale Marktwirtschaft, eine klare Ordnungspolitik, eine Es ist in höchstem Maße zu bezweifeln, dass mit der To- international funktionierende Bankenaufsicht und inter- binsteuer die Finanzmärkte stabilisiert werden. nationale Standards. Das sind meines Erachtens und auch aus der Sicht meiner Fraktion die richtigen Maß- Im Gegenteil: Je geringer die Devisenumsätze sind, nahmen, die Aufgaben international in den Griff zu be- desto stärker wirken sich einzelne Geschäftsabschlüsse kommen. aus. Kursschwankungen werden im Grunde genommen zunehmen. Die Globalisierung erfordert eine marktwirt- (Beifall bei der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19687

Leo Dautzenberg (A) Gestatten Sie mir, mit einem Zitat zu enden, und zwar Diese Schwankungen sind dann ihrerseits für den (C) mit den Worten Robert Mundells, des Nobelpreisträgers Außenhandel der betroffenen Länder schädlich. Anderer- für Wirtschaft. Er charakterisiert die Tobinsteuer folgen- seits kann der herdenartige Abzug spekulativen Kapitals dermaßen: Sie ist schlicht eine „idiotische Idee“. und kurzfristiger Anlagen Währungs- und Finanzkrisen erheblich verschärfen. Dies haben wir in der Asienkrise (Beifall bei der CDU/CSU – Detlev von erlebt. Larcher [SPD]: Das machen Sie sich aber wirk- lich sehr einfach, Herr Kollege! Selbst Nobel- Die Währungsumsätze haben sich in den vergange- preisträger sagen manchmal Dummheiten – nen Jahren immer stärker vom Welthandel abgelöst. Es ist Ludwig Eich [SPD]: Das war wüste Polemik!) inzwischen so, dass die Devisentransaktionen jährlich bei 375 Billionen US-Dollar liegen. Der Welthandel liegt bei etwa 11 Billionen US-Dollar. Das heißt, die Devisen- Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters: Ich erteile transaktionen sind um das 34fache höher. Dieses Verhält- der Kollegin Kristin Heyne für die Fraktion des Bündnis- nis zwischen Devisenumsatz und tatsächlich getätigten ses 90/Die Grünen das Wort. Geschäften wieder zu regulieren und die Finanzmärkte zu stabilisieren, dazu könnte die Devisenumsatzsteuer einen Kristin Heyne (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Beitrag leisten. Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben hier über (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einen Antrag der PDS zu entscheiden, der schon ein biss- sowie bei Abgeordneten der SPD) chen ergraut ist. Es ist ein Antrag vom April 1999; Es ist deshalb zu begrüßen, dass die Europäische Zentral- (Dr. Heidi Knake-Werner [PDS]: Ja, eben!) bank und die EU-Kommission vom Ecofin-Rat beauftragt die Beschlussfassung des Ausschusses war bereits im Ja- worden sind, über die Tobinsteuer zu beraten und eine nuar 2000. Dass es der PDS erst jetzt sinnvoll erscheint, Stellungnahme dazu abzugeben. ihn auf die Tagesordnung zu setzen, erweckt ein bisschen Es muss aber auch ganz klar festgestellt werden, dass den Eindruck, als sei es ein Ladenhüter bei Ihnen. die Tobinsteuer nicht das Allheilmittel ist, um Ungerech- Ich glaube, man muss zugeben, dass die Debatte über tigkeiten und Fehlentwicklungen der Globalisierung zu die Tobinsteuer durch Aktivitäten der Globalisierungs- verhindern. gegner, insbesondere der Gruppe ATTAC, wieder auf die (Dr. Dietmar Bartsch [PDS]: Das hat auch nie- Tagesordnung gekommen ist. Es ist gut, dass sie das ge- mand behauptet!) tan haben und dass die Debatte jetzt wieder geführt wird. Dafür sind weitere Instrumente notwendig. So ist es nötig, (B) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) die nationalen Finanzsysteme in den Schwellen- und (D) Entwicklungsländern deutlich zu stärken, um einheimi- Allerdings muss man sehr genau hinschauen: Was kann sche Ressourcen mobilisieren zu können. diese Steuer, was kann sie nicht? Wenn von den Kollegen der PDS Erwartungen geweckt werden, das Armuts- (Detlev von Larcher [SPD]: Sehr wahr!) problem dieser Erde über die Tobinsteuer zu lösen, Es ist notwendig, für diejenigen Länder, deren Entwick- (Dr. Dietmar Bartsch [PDS]: Das haben wir lungsmöglichkeiten blockiert sind, weil sie ihre Über- doch nicht gesagt!) schuldung nicht mehr aus eigener Kraft überwinden kön- nen, ein internationales Insolvenzrecht zu schaffen. dann ist das sicher zu hoch gegriffen. Aber lassen Sie uns Dabei ist sehr zu begrüßen, dass in der Schlusserklärung genau hinsehen, was die Steuer kann. Sie kann ausufernde der WTO auf die Notwendigkeit weiterer Entschuldungs- Devisenmärkte begrenzen, indem sie kurzfristige Devi- initiativen hingewiesen wird. Hier ist, so denke ich, ein sengeschäfte belastet, langfristige aber begünstigt. Damit gutes Ergebnis erzielt worden. ist sie ein Mittel unter anderen, um internationale Finanz- märkte zu stabilisieren. Das Prinzip ist einfach: Es trifft Der Dreh- und Angelpunkt für eine gerechte Gestal- jene hart, die täglich oder gar alle paar Minuten riesige tung der Globalisierung ist die Öffnung der Märkte in Devisenkäufe tätigen. Bei denjenigen aber, die zum Zweck den Industrienationen für Exporte aus den Entwicklungs- von Handel und Tourismus oder für Direktinvestitionen ländern. eine Währung tauschen, fällt ein vorgeschlagener Steuer- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN satz von 0,1 oder 0,2 Prozent dagegen nicht ins Gewicht. sowie bei Abgeordneten der SPD) Auch Arbitragegeschäfte, das heißt Käufe und Ver- Deswegen ist es gut, dass sich die WTO zu einer neuen käufe zur Ausnutzung von Kursdifferenzen rund um die Entwicklungsrunde durchgerungen hat. Diese Ziele soll- Welt, bilden zunächst einmal die Grundlage für den De- ten in dieser Runde verwirklicht werden. visenmarkt und sind nicht bedrohlich. Eine Gefährdung für den Devisenmarkt können die sehr kurzfristigen Ge- (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Dann ist es schäfte werden, die immer stärker zunehmen, ein Wäh- gut, dass wir darüber geredet haben!) rungswechsel im Sekundentakt, der auch minimalste Die Tobinsteuer ist kein Wundermittel gegen die Glo- Kursdifferenzen auszunutzen sucht. Diese kurzfristigen balisierungsangst; aber sie kann zur Stabilisierung der Kapitalströme sind eine der Hauptursachen für starke Finanzmärkte beitragen. Deshalb haben sich die Grünen Schwankungen der Wechselkurse. seit langem mit diesem Instrument beschäftigt, etliche 19688 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001

Kristin Heyne (A) Anhörungen durchgeführt und einige Anträge hierzu ein- geworfen, um eine Diskussion anzustoßen. Man solle die- (C) gebracht. Die Fraktion der Grünen hat sich übrigens in sen Stein am besten nicht wieder heben. diesem Jahr noch einmal mit der Tobinsteuer beschäftigt. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Sie hat ein Eckpunktepapier beschlossen und eine Initia- der CDU/CSU) tive der EU zur Einführung der Tobinsteuer gefordert. Dies war Anfang September dieses Jahres, also noch vor Er selbst hat damit zugegeben, dass er damals die Aus- dem 11. September. Schon vorher war also klar, dass wir wirkungen seiner Idee nicht so ganz bedacht hatte. solche Instrumente brauchen. (Detlev von Larcher [SPD]: Herr Solms, man (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – muss länger nachlesen!) Dirk Niebel [FDP]: Das war schon vorher Herr von Larcher, ich möchte zitieren, was Ihr Partei- falsch!) freund, der Präsident der Deutschen Bundesbank, Ernst Was allerdings die PDS heute zur Abstimmung stellt Welteke, am 27. September 2001 in der „Financial Times – wie gesagt, der Antrag ist schon ein bisschen in die Jahre Deutschland“ geschrieben hat. gekommen –, halten wir in der Ausführung für übermäßig (Detlev von Larcher [SPD]: Nichts dagegen!) bürokratisch und für unnötig kompliziert. Der aktuelle Stand der Debatte ist leider nicht in diesen Antrag einge- Er beginnt seinen Aufsatz mit dem Satz: gangen. Deswegen werden wir Ihrem Antrag nicht zu- Die Versuchung, einfachen Rezepten zu erliegen, ist stimmen. Wir sollten jetzt die Stellungnahmen der Eu- groß, wenn die Lösung offensichtlicher Probleme zu ropäischen Kommission und der Europäischen komplex ist oder zu lange dauert. Zentralbank abwarten und auf dieser Grundlage weitere konkrete Implementierungsvorschläge entwickeln. Dem ist eigentlich nicht viel hinzuzufügen. Seit dem 11. September 2001 ist deutlich geworden, (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten dass eine faire Gestaltung der Globalisierung nicht nur der CDU/CSU) die Frage der Gerechtigkeit – die natürlich auch –, son- Die Gefahr in der Politik ist, dass man dort auf Schein- dern auch die Frage der Sicherheit in den Industrieländern lösungen schielt, wo einem die Arbeit mit komplexen Pro- beinhaltet. Deshalb sollte es endlich möglich sein, auch in blemen zu kompliziert oder zu unpopulär erscheint. Des- der Finanzwelt heilige Kühe zu schlachten. Die Art, in der wegen kommt man dann auf Abwege. Kollege Dautzenberg soeben sehr massiv betont hat, dass dies eine unsinnige Idee ist, macht deutlich, dass hier ei- (Detlev von Larcher [SPD]: Deswegen schla- nige Emotionen bestehen und dass es sich auch bei der gen Sie den Stufentarif vor!) (B) (D) Ablehnung der Devisenumsatzsteuer um eine heilige Kuh Daher ist es nicht verwunderlich, dass der Wirtschaftsno- handelt, die aus unserer Sicht endlich geschlachtet werden belpreisträger Robert Mundell, den Herr Dautzenberg sollte. bereits zitiert hat, eine solche Idee als idiotisch bezeichnet (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat. und bei der SPD) (Heiterkeit und Beifall bei der FDP und der Herr Tobin sollte endlich zu Ehren kommen. Denn er sagt: CDU/CSU) Gerade in den Zeiten der elektronischen Medien ist diese Zu Recht! Steuer zur Begrenzung des Devisenumsatzes durchaus sinnvoll. Erstens ist die Behauptung falsch, dass der tägliche De- visenhandel die Märkte destabilisieren würde. Im Gegen- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN teil: Er stabilisiert die Wechselkurse, weil der Spekulant und bei der SPD) dadurch gewinnt, dass er gegen den Markt wettet. Deswe- gen führt die Spekulation dazu, dass die Ausschläge ge- Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters: Für die dämpft werden, die Marktpreise also weniger stark aus- Fraktion der FDP spricht jetzt der Kollege Dr. Hermann schlagen. Otto Solms. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Detlev von Larcher [SPD]: Dr. Hermann Otto Solms (FDP): Herr Präsident! Womit hat Soros sein Vermögen gemacht, Herr Meine sehr verehrten Damen und Herren! Im Schlachten Solms?) heiliger Kühe haben die Grünen, wie man aktuell erfah- Damit wird für die Wirtschaftssubjekte, die sich ja vor sol- ren kann, große Erfahrungen. chen Ausschlägen schützen wollen, zusätzliche Liquidität zur Verfügung gestellt. Die Spekulation ist also ausge- (Heiterkeit und Beifall bei der FDP und der sprochen hilfreich und schützt und stellt keine Gefahr dar. CDU/CSU) Die Aussage von Frau Heyne, dass die Steuer zur kurzfris- Ich wünsche Ihnen viel Erfolg bei dieser Politik. tigen Stabilisierung der Finanzmärkte führen könne, ist definitiv falsch. Zur Frage der Einführung der Tobinsteuer sollte man am besten James Tobin selber zitieren. Er hat nämlich ge- Zweitens verzerrt selbst eine geringe Tobinsteuer die sagt, er habe diesen Stein vor etwa 30 Jahren ins Wasser Effizienz der Märkte, weil sie einen Keil zwischen die Er- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19689

Dr. Hermann Otto Solms (A) träge aus in- und ausländischen Anlagen treibt sowie den bevormunden wollen. Das ist die Konsequenz Ihrer (C) Güterhandel und die Fernreisen verteuert. Das mindert die Politik. Wohlstandsgewinne aus der Globalisierung und steigert (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten sie nicht. der CDU/CSU – Detlev von Larcher [SPD]: Wir wissen doch seit Ricardo, also seit rund 200 Jah- Das musste jetzt kommen! Das ist Ihr Glau- ren, dass der internationale Warenaustausch zu Wohl- bensbekenntnis! – Ludwig Eich [SPD]: Sie ha- standsgewinnen aller an diesem Prozess Beteiligten führt. ben ein sehr selektives Verständnis!) Wenn Sie auf die letzten Jahre zurückblicken und auf die Die Märkte reagieren entsprechend darauf. Schwellenländer sowie insbesondere auf die Tigerstaaten in Asien schauen, sehen Sie, wer den Nutzen aus der Glo- Wir müssen daher den mühsamen Weg einer schritt- balisierung zu ziehen versucht. Wer die Chancen der Glo- weisen Verbesserung unserer Finanzsysteme weitergehen balisierung ergreift, hat überproportional hohe Wohl- und der Versuchung eines vermeintlichen Wundermittels stands- und Währungsgewinne. widerstehen. Das ist die Lehre, die aus der Diskussion um die Tobinsteuer zu ziehen ist. (Detlev von Larcher [SPD]: Aber sehen Sie auch die Verlierer, Herr Solms!) Deswegen ist es kein Wunder, dass James Tobin im September dieses Jahres in einem „Spiegel“-Interview Diejenigen, die sich gegen die Globalisierung wehren, auf eine Frage des „Spiegels“, die lautete: wie die rot-grüne Regierung in Deutschland, haben dann Wohlstands- und Arbeitsplatzverluste zu verantworten. Sie bezichtigen Attac Das ist das Problem bei der Behandlung solcher Themen. – das ist eine dieser Globalisierungsgegnergruppen –, (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – ein schlechter Anwalt armer Länder zu sein? Detlev von Larcher [SPD]: Herr Solms!) unter anderem antwortete: Drittens gestehen selbst Anhänger der Tobinsteuer ein, dass sie Finanzkrisen wie die 1997 in Asien nicht ver- Im großen Ganzen sind deren Positionen gut gemeint hindern kann. und schlecht durchdacht. Ich will meinen Namen nicht damit assoziiert wissen. (Detlev von Larcher [SPD]: Habe ich ja gesagt!) Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Damals waren nicht die Finanzmärkte, sondern Regierun- gen, die die chronische Ineffizienz einer im Filz er- (B) stickenden Marktwirtschaft zuließen, schuld. Ab- Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters: Ich gebe der (D) stürzende Wechselkurse sind nicht Krisenauslöser, Kollegin Brigitte Adler das Wort. Sie spricht für die Frak- sondern Symptom schlechter Wirtschaftspolitik. Der un- tion der SPD. taugliche Versuch, Wechselkurse zu glätten, dient nur dazu, untaugliche Regierungen vor den Folgen ihrer Brigitte Adler (SPD): Danke schön, Herr Präsident. – Misswirtschaft zu schützen. Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Tobinsteuer ist Weil das so ist, kommt auch Ihr Parteifreund Ernst ein überlegenswerter Vorschlag. Sicher müssen die Vor- Welteke zu dem Schluss: und Nachteile, das Für und Wider, abgewogen werden. Die Gründe, die für den Wissenschaftler Tobin maßge- Offene Märkte und eine politische Zusammenarbeit, bend waren, eine solche Steuer auf spekulative Devisen- die die Funktion der Märkte unterstützt, sie aber umsätze zu fordern, sind alle nachlesenswert. In der Zwi- nicht ersetzen will, sind Voraussetzungen für eine schenzeit hat sich die Diskussion aber verselbstständigt. funktionsfähige Weltwirtschaft. Wie ein System kommunizierender Röhren funktioniert die Welt- Die Kollegen der PDS schlagen vor, dass Deutschland wirtschaft am besten, wenn die Verbindungskanäle während der EU-Präsidentschaft im Ecofin-Rat einen offen sind. entsprechenden Vertrag zur Einführung dieser Steuer vor- bereiten soll. Verehrte Kollegen, leider ist die Zeit ein we- Hier stimme ich Ernst Welteke voll und ganz zu. nig darüber hinweggegangen. (Detlev von Larcher [SPD]: Ich will auch (Zuruf von der PDS: – Es ist aber hoch keine schließen!) aktuell!) Genau so ist es. Die Tobinsteuer würde aber genau diese Der Antrag wurde im federführenden Ausschuss abge- Kanäle schließen. lehnt. Die konkreten Überlegungen der PDS könnten aber (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten als Material genommen werden, falls über die Einführung der CDU/CSU – Detlev von Larcher [SPD]: der Devisenumsatzsteuer international intensiver disku- Nein!) tiert werden sollte. Schließlich zeigt – viertens – der Vergleich mit der (Zuruf von der PDS: Sehr gut!) Ökosteuer, welcher Glaube Tobins Anhänger auszeich- Als Entwicklungspolitikerin stehe ich zusammen mit net: Es ist die Anmaßung derer, die sich für klüger als die meinen Kolleginnen und Kollegen dieser Steuer positiv Märkte halten, die den Menschen misstrauen und sie nachdenkend gegenüber. Der Charme der Tobinsteuer 19690 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001

Brigitte Adler (A) besteht darin, dass sie auf der einen Seite spekulative Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters: Es spricht (C) Kapitaltransfers erreichen und teurer machen soll und nun der Kollege Otto Bernhardt für die CDU/CSU-Frak- auf der anderen Seite die Möglichkeit eröffnet, entwick- tion. lungspolitische Maßnahmen zu finanzieren. Ob das über den IWF, die Weltbank oder eine andere bestehende Orga- nisation abgewickelt werden sollte, müsste genau abge- Otto Bernhardt (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine wogen werden. Das ist aber nicht der Punkt. Es kommt da- Damen und Herren! Es ist heute der dritte Versuch der rauf an, ob es gewollt wird, dass Spekulanten nicht ständig PDS, eine Mehrheit für Initiativen in Richtung einer De- gegen nationale Währungen spekulieren und keine Ge- visenumsatzsteuer zu finden. winne aus risikoreichen Anlagen in den verschiedensten Interessant ist, dass es bei dem ersten Versuch am Ende Formen – ich nenne Termingeschäfte, Hedge-Fonds und der letzten Legislaturperiode – ich habe in das Protokoll andere Transaktionen – für sich verbuchen können. Die hineingeschaut – noch eine totale Ablehnung bei allen technischen Schwierigkeiten einer solchen Steuer wären Fraktionen des Hauses, mit Ausnahme der Antragstelle- lösbar. Der politische Wille muss aber artikuliert werden. rin, gab. Bei der zweiten Behandlung vor knapp zwei Jah- Der Gedanke, dass eine Abgabe international erhoben ren waren nur noch FDP und Union klar dagegen. Schon werden soll, ist nicht neu. Bereits Mitte der 40er-Jahre hat damals gab es bei den Sozialdemokraten und den Grünen Keynes die Strafsteuer auf Zahlungsbilanzüberschüsse so ein gewisses „vielleicht, aber nicht jetzt“. gefordert. Auch der Brandt-Bericht an die UN enthält Vor- (Detlev von Larcher [SPD]: Wir werden eben schläge zu internationalen Steuern, die Einkommensquel- unterwandert!) len für internationale Zwecke erschließen könnten. Es wurde zum Beispiel über eine Abgabe auf Bodenschätze Ich kann Sie, meine Damen und Herren von der PDS, nur und Rohstoffe diskutiert. Solche Überlegungen sind lei- beglückwünschen: Sie sind ein Stück weiter gekommen. der nicht weiter verfolgt worden. Gegenargumente, die si- (Zuruf von der PDS: Sie kommen da auch cherlich auch zu werten sind, wurden ins Feld geführt. noch hin!) Warum kann nicht unvoreingenommen darüber nachge- dacht werden, ob nicht eine Abgabe auf Rohstoffausnut- Heute sagen die Grünen und die Sozialdemokraten: Im zung erhoben werden soll, damit die Menschen – nicht nur Grundsatz ist das etwas Gutes. einige wenige – in den Entwicklungsländern reich werden Wenn wir nach den Motiven fragen, warum für diese und das Geld im Land verbleibt, um soziale und wirt- Steuer – sie wurde im Einzelnen erläutert, ich brauche das schaftliche Infrastrukturmaßnahmen zu finanzieren? Als daher nicht mehr zu tun – im linken Spektrum zunehmend Beispiel führe ich Nigeria an. Sympathien vorhanden sind, (B) (Beifall bei der SPD – sowie bei Abgeordneten (D) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Zuruf von der SPD: Ist doch klar!) Warum ist es überhaupt notwendig, solche Vorschläge dann lassen sich aus meiner Sicht dafür vor allem zwei zu machen? Die Gelder für entwicklungspolitische Zu- Gründe anführen, und zwar zum einen eine Antiglobali- sammenarbeit werden nicht nur bei uns weniger. Die Ei- sierungssehnsucht. Zum Zweiten sind für einige im linken genanstrengungen der Länder des Südens müssen eben- Lager mehr Steuern und neue Steuern einfach ein Wert an falls einbezogen werden. Auch die tatsächlichen sich, da der Staat alles besser kann und dafür mehr Ein- Ursachen in der weniger entwickelten Welt müssen auf- nahmen braucht, wozu er dem Bürger Geld wegnehmen gearbeitet werden. Dabei spielt Geld natürlich eine Rolle; muss. aber nicht nur. Hunger und Armut sind Folgewirkungen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- von verschiedenen Ursachen, so unter anderem einer ver- neten der FDP – Lachen bei der SPD – Detlev fehlten Land- und Bodenpolitik. Wer über ein Stück von Larcher [SPD]: Das ist unter Ihrem Ni- Land verfügt, kann sich und seine Familie ernähren. veau!) Handwerk und Gewerbe können sich arbeitsteilig ent- wickeln. Nur wer Sicherheiten zu bieten hat, erhält Geld. Herr Kollege Larcher, ich weiß, Sie sind Theologe, kein Frauen sind benachteiligt, wenn ihnen nicht durch Ökonom. Das Problem – ich will es für die Nichtökono- Kleinstkredite geholfen wird. men einmal auf den Punkt bringen – bei dieser Steuer ist dem Problem bei der Ökosteuer ähnlich: Wenn sie Erfolg Es heißt: Geld regiert die Welt. Eine Neuordnung ist hat, finden Spekulationen nicht mehr statt und somit sind angebracht. Die Tobinsteuer ist eine Möglichkeit, anste- dann auch keine Einnahmen für die Entwicklungsländer hende Finanzfragen zu lösen. Mehrere Ministerien, so un- zu erwarten. Von daher liegt ein Systembruch vor. ter anderem auch das Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, haben eine Überprü- (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!) fung in Auftrag gegeben. Warten wir die Ergebnisse ab, Zurück zur Sache: Es gibt im Wesentlichen drei klare bevor wir die Fragen des institutionellen Rahmens, der Gründe, warum die Fachwelt diese Steuer ablehnt, die im Bemessungsgrundlagen und der Verteilung näher erör- Übrigen ein interessantes Denkmodell für Wissenschaft- tern. Gehen wir Schritt für Schritt vor. Die Tobinsteuer ist, ler und die Universitäten darstellt. Ich habe sie mit mei- so denke ich, ein überlegenswerter Vorschlag. nen Studenten immer gern besprochen; man kann viel da- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ raus lernen. Vor allem kann man daraus lernen, dass sie in DIE GRÜNEN) der Praxis nicht umsetzbar ist. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19691

Otto Bernhardt (A) Ich nenne Ihnen die drei entscheidenden Punkte: Tobin selbst – er ist hier vielfach zitiert worden – hat (C) sich nie von dem Nutzen, der Wirksamkeit und der Not- Der erste Punkt ist: Es ist nicht möglich, spekulative wendigkeit dieser Steuer distanziert. Zu diesem Zweck von anderen Devisenumsätzen abzugrenzen. können Sie ihn sicherlich nicht benutzen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall bei Abgeordneten der PDS) neten der FDP – Detlev von Larcher [SPD]: Das wollen wir ja gar nicht!) Nun zu einigen der Argumente: Richtig ist, dass die Tobinsteuer natürlich nicht gegen massive Fundamental- Es gibt keine Möglichkeit. Lassen Sie sich das von einem spekulationen in einer Währung wirken kann. Allerdings Ökonomen sagen. Dieser Grund allein würde schon aus- wirkt sie gegen allmähliche, in kleinsten und kleinen reichen, um Nein zu sagen. Schritten sich aufbauende Spekulationswellen, die in (Zuruf von der SPD: Nein!) große Finanzkrisen münden können. Insofern wirkt sie präventiv, bevor es zu Fundamentalspekulationen und zu Es gibt einen zweiten Grund, den Sie schneller be- Krisen kommt. Das ist ihr Zweck. Der Einwand, der vor- greifen: hin auch hier genannt worden ist, es könne nicht zwischen (Detlev von Larcher [SPD]: Unverschämt- spekulativen und anderen Kapitalströmen unterschieden heit!) werden und die Tobinsteuer werde den internationalen Handel belasten, ist schlichtweg irrelevant. Es gibt fast 200 Länder in der Welt. Wenn Sie, Herr von Larcher, sagen, es reiche, wenn die großen Länder mit- (Beifall bei der PDS) machen, muss ich Ihnen sagen: Wenn zwei oder drei Für Exporte und Direktinvestitionen ist die Kostenbe- kleine Länder nicht mitmachen, verlagern sich die Geld- lastung gering: Erstens. Der Zeithorizont spielt eine ströme dorthin und das System funktioniert nicht. Rolle. Investitionen sind in der Regel nicht kurzfristig. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zu- Zweitens. Sogar die einmalige Belastung könnte durch ruf von der CDU/CSU: Das begreift der nicht! – eine Verringerung oder Erstattung der Einfuhrumsatz- Detlev von Larcher [SPD]: Lesen Sie einmal, steuer um den Satz der Tobinsteuer oder durch eine Ver- was ich gesagt habe!) rechnung mit fälligen Gewinnsteuern oder Steuer- gutschriften bei Direktinvestitionen neutralisiert werden. Der dritte Punkt – um es ganz klar zu sagen –: Die Ein- führung einer solchen Steuer würde eine unendliche neue Ebenso haltlos ist das Argument der technischen Un- Bürokratie bedeuten. Im Rahmen der Globalisierung: möglichkeit und Undurchführbarkeit. Alle Transaktionen nein danke! werden bereits erfasst oder können erfasst werden, erstens (B) im Preisstellungs- und Maklerprozess im Interbankver- (D) Wir brauchen keine neuen Steuern, wir brauchen eine kehr. Bereits jetzt werden dort bis zu 95 Prozent aller bessere Wirtschafts- und Finanzpolitik sowie eine bessere Transaktionen erfasst und elektronisch abgewickelt. Es ist Arbeitsmarktpolitik. ein Leichtes, eine zusätzliche Meldung an die Steuer- (Zuruf von der CDU/CSU: So ist das!) behörde einzuprogrammieren. Die zweite Möglichkeit besteht im tatsächlichen Zahlungsvorgang, bei dem aus In diesem Sinne sollten wir gemeinsam tätig werden. Gründen der Sicherheit im Bankenverkehr zunehmend (Beifall bei der CDU/CSU – Detlev von auf individuelle Erfassung statt Verrechnung von Salden Larcher [SPD]: Geben sich Ihre Studenten da- abgestellt wird. mit zufrieden? Was sind das für Studenten, die Europa könnte ganz aktuell – das fordern wir gemein- sich damit zufrieden geben?) sam mit ATTAC und Gewerkschaften – in der Einführung der Tobinsteuer eine pionierhafte Vorreiterrolle spielen. Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters: Für die (Beifall bei der PDS) Fraktion der PDS spricht die Kollegin Ulla Lötzer. Das scheinbar stichhaltigste Gegenargument bezieht sich auf die Notwendigkeit der gleichzeitigen weltweiten Ein- Ursula Lötzer (PDS): Herr Präsident! Kolleginnen führung. Wir wissen alle: Das ist nichts anderes als ein und Kollegen! Lassen Sie mich wenigstens auf einige der Totschlagargument. Ein gemeinsamer Beschluss der Argumente der heutigen Debatte eingehen, Argumente, wichtigsten Staaten ist schwer herzustellen. Deshalb die von Ihnen, Frau Staatssekretärin, in Ihrer Stellung- würde – das sagten auch viele von Ihnen – das Kapital, be- nahme für den EU-Ausschuss erwähnt worden sind, aber kanntermaßen ein scheues Reh, fliehen, sodass für die auch in der heutigen Diskussion zur Sprache kamen. Stabilisierung nichts gewonnen wäre. Zunächst einmal ein Wort an die Kollegen Solms und Die Kapitalflucht jedoch ist mit Kosten verbunden, die Dautzenberg: Lesen Sie doch zumindest den Zwi- höher als die Tobinsteuer sein können. Offshorezentren schenbericht der Enquete-Kommission, damit Sie auf werden als Fluchtziel genannt. Unserer Meinung nach ist dem Stand der parlamentarischen Debatte sind; wir haben dies mehr ein Argument, dringend Maßnahmen gegen uns dort mit vielen der Argumente auseinander gesetzt. Offshorezentren auch in diesem Sinne und nicht nur zur Bekämpfung der Terrorismusfinanzierung zu ergreifen. (Beifall bei der PDS sowie des Abg. Detlev von Larcher [SPD]) (Beifall bei der PDS) 19692 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001

Ursula Lötzer (A) Eine massive Kapitalflucht ist auch deshalb nicht zu er- der Landschaftspflege und zur Anpassung an- (C) warten, weil der amerikanische Anlagemarkt als Aufnah- derer Rechtsvorschriften (BNatSchGNeuRegG) meregion nicht unbegrenzt zur Verfügung steht. Nach An- – Drucksache 14/6378 – gaben der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich ist der Euro bereits jetzt bei 50 Prozent der Devisengeschäfte (Erste Beratung 179. Sitzung) beteiligt. Der größte Teil der Währungsgeschäfte spiele Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- sich als Euro- und Dollargeschäft ab. Angesichts der ge- regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes stiegenen Krisenanfälligkeit der Wechselkurse zwischen zur Neuregelung des Rechts des Naturschutzes Euro und Dollar seit Einführung der Währungsunion wäre und der Landschaftspflege und zur Anpassung gerade hier eine Stabilisierung durch eine europäische anderer Rechtsvorschriften (BnatSchGNeu- Einführung ein relevanter Bereich zum Nutzen aller Na- RegG) tionen. Der Verteuerung von Devisengeschäften steht im – Drucksache 14/6878 – Übrigen ein vermindertes Wechselkursrisiko gegenüber, das sich in sinkenden Kosten für Wechselkursabsi- (Erste Beratung 190. Sitzung) cherungsgeschäfte niederschlägt. Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord- Nach wie vor würden also auch bei einer europaweiten neten Eva Bulling-Schröter, Kersten Naumann, Einführung weiterhin Geschäfte in Europa gemacht wer- Rosel Neuhäuser, weiterer Abgeordneter und der den können und nicht alles durch Staatsdoktrinismus zum Fraktion der PDS eingebrachten Entwurfs eines Erliegen kommen. Die Entscheidung für oder gegen die Gesetzes zur Neuordnung des Naturschutzes Tobinsteuer bleibt eine politische Entscheidung. Sie ist und der Landschaftspflege möglich. Wir fordern die Bundesregierung deshalb auf, in – Drucksache 14/5766 – diesem Sinne im Ecofin-Rat tätig zu werden. Gerade diese (Erste Beratung 168. Sitzung) Diskussion ist im Ecofin-Rat zu führen. (Beifall bei der PDS) a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- ses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher- Diese Argumente sind alle nicht neu. Setzen Sie sich heit (16. Ausschuss) doch endlich mit ihnen auseinander! Damit Sie dies tun, schlagen wir erneut vor: Machen Sie Anhörungen mit – Drucksachen 14/7469 , 14/7490 – Wissenschaftlern, Bewegungen und NGOs im Rahmen Berichterstattung: dieser Ecofin-Debatte, damit endlich eine produktive Abgeordnete Christel Deichmann Auseinandersetzung mit dieser Argumentation erfolgt. Cajus Cäsar Sylvia Voß (B) (Beifall bei der PDS) (D) Birgit Homburger Ein letzter Satz: Kollege von Larcher, Kollegin Heyne Eva Bulling-Schröter und Kollegin Adler, ich würde es sehr begrüßen, wenn Sie nicht bei der Ablehnung unserer Initiative stehen bleiben, b) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) sondern aus Ihren Reden die Schlussfolgerungen ziehen gemäß § 96 der Geschäftsordnung würden, damit wir in diesem Sinne eine gemeinsame Dis- – Drucksache 14/7481 – kussion als Beitrag zur Ecofin-Debatte, zumindest eine in Anlehnung an die kanadische Initiative, führen können. Berichterstattung: Das wäre einmal ein gemeinsamer Schritt. Abgeordnete Waltraud Lehn (Beifall bei der PDS) Oswald Metzger Dr. Uwe-Jens Rössel Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters: Ich schließe Zu dem Gesetzentwurf zur Neuregelung des Rechts die Aussprache. des Naturschutzes und der Landschaftspflege und zur An- Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Finanz- passung anderer Rechtsvorschriften liegen je ein Ent- ausschusses zu dem Antrag der Fraktion der PDS zur Ein- schließungsantrag der Fraktion der CDU/CSU und der führung einer Steuer auf spekulative Devisenumsätze auf Fraktion der FDP vor. der Drucksache 14/2546. Der Ausschuss empfiehlt, den Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Antrag auf Drucksache 14/840 abzulehnen. Wer stimmt Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Das für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Haus ist damit einverstanden. Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der PDS ange- Dann eröffne ich die Aussprache und gebe das Wort nommen. zunächst der Kollegin Ulrike Mehl für die Fraktion der SPD. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf: Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen Ulrike Mehl (SPD): Herr Präsident! Liebe Kollegin- der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- nen und Kollegen! „Naturschutz ist wirtschaftsfeindlich, NEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur weil er die Wirtschaft behindert und Geld kostet, aber Neuregelung des Rechts des Naturschutzes und keines einbringt.“ „Naturschutz geht immer gegen die Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19693

Ulrike Mehl (A) Landwirtschaft, weil die weltweite Wettbewerbsfähigkeit für die Stromerzeugung durch Offshore-Windkraftanla- (C) eingeschränkt wird.“ „Naturschützer sind Verhinderer, gen, besonders in der Ausschließlichen Wirtschaftszone, weil sie diese Sachverhalte nicht einsehen und überzo- nämlich dem Meeresgebiet zwischen 12 und 200 Seemei- gene Forderungen stellen.“ Das ist nur eine kleine len vor der Küste, große Potenziale gesehen. Folgerichtig Auswahl, eine Kostprobe dessen, was wir uns seit vielen ist dies ein Schwerpunkt in der Nachhaltigkeitsstrategie Jahren anhören müssen. Ich vermute, dass bei einigen der der Bundesregierung; dies begrüße ich ausdrücklich. Kollegen, die vielleicht gerade nicht hier sitzen, schon die Hier bietet sich uns die einmalige Chance, Windener- Hand zum Applaudieren gezuckt hätte. gie in großem Stile auszubauen und dabei Fehler, die an (Heinrich-Wilhelm Ronsöhr [CDU/CSU]: Dass Land leider zum Teil gemacht worden sind, zu vermeiden. wir bei Ihnen applaudieren, können Sie aber (Ulrich Heinrich [FDP]: Aber neue machen!) nicht von uns verlangen!) Klimaschutz durch Energieerzeugung aus Wind kann – Die nicht hier sind, habe ich gesagt. und muss im Einklang mit den Erfordernissen des Natur- (Heinrich-Wilhelm Ronsöhr [CDU/CSU]: schutzes erfolgen. Keine Selbstüberschätzung Ihrer Person!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Es wird Sie sicherlich nicht überraschen, liebe Kolle- DIE GRÜNEN) ginnen und Kollegen, dass ich diese Behauptungen für ge- Nur dann ist die Windenergienutzung tatsächlich nach- nauso grundlegend falsch halte wie die Behauptung, der haltig. Ich denke, hier sind wir uns alle einig. Mond sei grüner Käse. Vielmehr ist Naturschutz notwen- dig, weil wir mit ihm unsere Lebensgrundlagen sichern. Aus diesem Grund haben wir den ambitionierten Ge- setzentwurf der Bundesregierung gezielt durch Regelun- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gen ergänzt, die in der Ausschließlichen Wirtschaftszone, DIE GRÜNEN) AWZ, gleichzeitig den Schutz empfindlicher Ökosysteme Naturschutz ist richtig, weil wir auch für die zukünftigen und den zügigen Ausbau der Offshore-Windenergie er- Generationen existenzielle Grundlagen zum Leben erhal- möglichen werden: Wir schaffen die Möglichkeit, in der ten. Naturschutz ist nützlich, weil er unter anderem für ei- AWZ Flora-Fauna-Habitat- und Vogelschutzgebiete aus- nen sehr wichtigen Wirtschaftszweig, nämlich den Tou- zuweisen und bewirken damit Rechtssicherheit für die rismus, eine wesentliche Voraussetzung ist. Planer und Betreiber der Offshore-Windenergieanlagen. Damit die Ausweisung der Schutzgebiete schnell gesche- Über die ethische Frage hinaus, ob Natur um ihrer selbst hen kann, stellen wir die entsprechenden Haushaltsmittel willen zu schützen ist – diese Frage beantworte ich persön- für zusätzliche Stellen beim zuständigen Bundesamt für (B) lich mit Ja –, ist es für uns alle eine existenzielle Frage, die (D) Naturschutz zur Verfügung. Funktionen des Naturhaushalts zu erhalten und zu schüt- zen. Dies haben wir im Gesetz ausdrücklich klargestellt, Die Windenergieanlagen in der AWZ sind Seeanlagen und wir haben das einmal alle gemeinsam hier beschlossen, und werden folgerichtig nach der Seeanlagen-Verord- als wir den Art. 20 a im Grundgesetz installiert haben. nung genehmigt. Wir haben im Rahmen des Natur- schutzgesetzes diese Verordnung ebenfalls an die neuen Ganz ohne Frage genießen wir alle Natur, wenn sie Erfordernisse angepasst. Dabei werden erstens über die schön und intakt ist. Wir schwärmen davon, wenn wir Ausweisung von Eignungsflächen bevorzugte Bedingun- zum Beispiel in Mecklenburg-Vorpommern auf Radtou- gen für den Windenergie-Ausbau geschaffen und zwei- ren See- und Fischadler beobachten, wenn wir in Polen tens über die Festschreibung der UVP-Pflicht im Rah- Wildpferde und Wisente in freier Natur erleben können men der Genehmigung sowie der Klarstellung, dass bei oder wenn wir in der Eifel Orchideenwiesen bestaunen erheblicher Beeinträchtigung des Vogelzuges die Geneh- können. Erholung in urtümlicher Natur ist immer wieder migung versagt werden kann, die Belange des Natur- ein einzigartiges Erlebnis. Natur tut uns gut. schutzes gestärkt. Doch über diesen genussvollen Naturschutz hinaus: Diese Dualität – Nutzung der Natur ermöglichen und Ohne einen funktionsfähigen Naturhaushalt mit dauerhaft gleichzeitig die Natur so weit wie möglich schützen – intakten Filter- und Puffereigenschaften für Boden, Was- zeichnet das Gesetz, wie wir es hier heute verabschieden, ser, Luft, aber auch stabilen Ökosystemen ist auf Dauer insgesamt aus. Ich nenne zusätzlich drei Beispiele: Wir industrielle und landwirtschaftliche Tätigkeit nicht mög- eröffnen neue Möglichkeiten für Sport, Erholung und lich. Das Prinzip der Nachhaltigkeit gebietet hier den Tourismus in der Natur und schreiben gleichzeitig die Schutz der Natur. Ich betone dies audrücklich, denn allzu Schaffung eines Biotopverbundes vor. Wir ergänzen die oft wird gerade in diesem Zusammenhang der Begriff der Eingriffsregelung um die Beeinflussung des Grundwas- Nachhaltigkeit arg strapaziert und sogar missbraucht. sers und konkretisieren Ausgleich- und Ersatzmaßnah- Vor diesem Hintergrund – Naturschutz und Nachhal- men, gestalten aber gleichzeitig die Ausgleichsregelung tigkeit – hat sich allerdings ein neuer Streitpunkt ent- praktikabler und ermöglichen dadurch eine größere Fle- wickelt, diesmal zu meinem großen Bedauern ein Streit xibilität in der Praxis. Wir betonen die wichtige Rolle der innerhalb des ökologischen Lagers, ein Streit, der eigent- Land-, Forst- und Fischereiwirtschaft als eines Part- lich keiner sein muss und der allzu oft künstlich aufge- ners für den Naturschutz, machen aber auch deutlich, dass bauscht wird: Um das Klimaschutzziel zu erreichen, set- im Sinne des Naturschutzes bestimmte Regeln bei der Be- zen wir auf den Ausbau der Windenergie. Dabei werden wirtschaftung der Flächen, nämlich die gute fachliche 19694 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001

Ulrike Mehl (A) Praxis, eingehalten werden müssen. Deshalb haben wir eingeräumt. Damit wurde den Naturschutzbehörden zur (C) die Neueinrichtung von Strukturelementen wie Hecken Pflicht gemacht, in Sachen Naturschutz mehr als vorher oder Saumstrukturen nicht zum Bestandteil der guten mit den Bürgern zu sprechen. Das war eine richtige Wei- fachlichen Praxis gemacht. chenstellung. Nicht zuletzt wurde die längst überfällige Vereins- Zweitens. Es wurde eine bundeseinheitliche Ausgleichs- klage – früher hieß sie Verbandsklage – endlich auch in verpflichtung für Naturschutzauflagen, die über die gute das Bundesrecht aufgenommen. Es handelt sich hier um fachliche Praxis hinausgehen, eingeführt. Damit wurde den eine Regelung, mit der in der weit überwiegenden Zahl Forsteigentümern und den Landwirten Rechtssicherheit in der Landesgesetze bereits seit vielen Jahren sehr gute Er- finanziellen Fragen des Naturschutzes gegeben. fahrungen gemacht wurden. Dieses Thema ist schon lange überfällig. Ich bin davon überzeugt, dass die Vereinsklage (Beifall bei der CDU/CSU) bei Genehmigungsverfahren auch auf Bundesebene aus- Das Ergebnis der Novellierung durch die CDU/CSU- gesprochen nützlich sein wird. FDP-Bundestagskoalition 1998 war, dass der Streit zwi- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ schen Naturschützern und Naturnutzern im Interesse des DIE GRÜNEN) Naturschutzes begraben wurde; denn die Land- und Forstwirtschaft besitzt nun einmal 80 Prozent der in Ich persönlich habe mich elf Jahre lang für ein neues, Deutschland benötigten Flächen. Sie muss deshalb als gutes, effektives und modernes Bundesnaturschutzgesetz wichtigster Verbündeter für einen dauerhaften Natur- engagiert. Sie werden mir sicherlich glauben, wenn ich schutz gewonnen werden. Damit haben wir 1998 auch Ihnen sage, dass ich mir rein unter Naturschutzgesichts- eine wichtige Grundlage für die Akzeptanz des Natur- punkten noch viel mehr hätte vorstellen können. Wir ha- schutzes in unserer Gesellschaft geschaffen. ben in den vergangenen zwei Jahren viele Gespräche mit Interessengruppen aus allen Bereichen geführt und viele (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Anregungen diskutiert und aufgenommen. Naturgemäß Es gibt nicht einen sachlichen Grund dafür, dass Sie diese kann dabei nicht jeder Wunsch aufgenommen und nicht wichtige Weichenstellung von 1998 mit Ihrem jetzigen jede Kritik berücksichtigt werden. Doch ich finde, dass Gesetzentwurf zurücknehmen. Es ist unverantwortlich, das Gesetz, das wir heute verabschieden, ein gutes Gesetz dass Sie die Fortschritte im Naturschutz, die in den letz- ist. Es ist das Ergebnis unserer gemeinsamen Arbeit, an ten Jahren gemacht wurden, mit Ihrem Gesetzentwurf zer- die wir mit Idealismus und Realitätssinn herangegangen stören. sind. (Sylvia Voß [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es Natur tut uns gut. Mit diesem Gesetz können wir der (B) gab gar keine Fortschritte, die man zerstören (D) Natur Gutes tun. kann!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Was ist der wesentliche Kern Ihres Gesetzentwurfes? – DIE GRÜNEN) Der Inhalt Ihres Gesetzentwurfes ist, das Ordnungsrecht ohne größere finanzielle Ausgleichsverpflichtungen für Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters: Für die den Staat auf Kosten und ohne Mitwirkung der Betroffe- CDU/CSU-Fraktion spricht der Kollege Dr. Peter Paziorek. nen zu stärken. Das halte ich für einen Rückschlag für eine moderne Naturschutzpolitik in Deutschland. Dr. Peter Paziorek (CDU/CSU): Herr Präsident! (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Meine Damen und Herren! Die Bewahrung der Schöp- Damit stärkt der vorliegende rot-grüne Gesetzentwurf fung und der Schutz der natürlichen Lebensgrundla- nicht die Mitarbeit der Bürger im Naturschutz. Er betont gen waren seit jeher Verpflichtung für die CDU/CSU- vielmehr die hoheitlichen Befugnisse der Behörden im Bundestagsfraktion. Jeder weiß, dass die Erfüllung dieser Naturschutz gegenüber den Bürgern und sieht mehr Pla- Aufgaben aber besondere Anstrengungen erfordert; denn nung und Bürokratie vor. Dafür – ganz kurz – vier Bei- der Gefährdung zahlreicher Tier- und Pflanzenarten in ei- spiele: Erstens. Die Einführung einer bundeseinheitlichen nem dicht besiedelten Land wie Deutschland kann nur im flächendeckenden Landschaftsplanung erfordert ein- Zusammenwirken mit allen gesellschaftlichen Kräften fach mehr Personal, gerade auch bei den Kommunen. wirksam Einhalt geboten werden. Dabei ist insbesondere auf die Kooperation mit den Landnutzern, also mit den Zweitens. Die Ausweitung der guten fachlichen Pra- Landwirten und den Forsteigentümern, abzustellen. Die- xis, wie sie in dem vorliegenden Gesetz vorgesehen ist, sem Erfordernis wird Ihr Gesetzentwurf an keiner einzi- parallel zu den Fachgesetzen führt zu Doppelzuständig- gen Stelle gerecht. keiten der Behörden. Es werden große Verwaltungspro- bleme vor Ort folgen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zuruf von der SPD: Sie haben ihn nicht gelesen!) Drittens. Die vorgesehene Verschärfung der Eingriffs- regelung vergrößert die Zahl der Planungsschritte, macht Unter unserer Regierungsverantwortung ist das also mehr Planung bei Maßnahmen zur Verbesserung der Bundesnaturschutzgesetz im Jahre 1998 zuletzt novelliert Infrastruktur notwendig. worden. Dabei wurden zwei ganz entscheidende Wei- chenstellungen vorgenommen: Erstens. Dem Vertrags- Viertens. Die Beibehaltung der wirklich großen Un- naturschutz wurde Vorrang vor dem Ordnungsrecht übersichtlichkeit bei den verschiedenen Schutzgebiets- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19695

Dr. Peter Paziorek (A) kategorien – Sie haben ja nicht gestrafft und zusammen- Ihr Gesetzentwurf enthält in dieser Frage einen großen (C) geführt – wird weiterhin völlig unnötig viel Personal und Webfehler und Sie leisten dem Naturschutz damit einen große Verwaltungskapazitäten binden. Bärendienst, Frau Voß. Dies alles führt nicht nur zu mehr Verwaltungsaufwand (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- und zu mehr Kosten. Es wird auch – das sagen wir Ihnen neten der FDP) schon jetzt voraus – zu Unsicherheiten bei der Anwen- Wir fordern Sie deshalb noch einmal auf: Verlassen Sie dung des Rechts vor Ort, bei den Kommunen und bei den nicht den mit der Novelle von 1998 eingeschlagenen er- Behörden führen, insbesondere dann, wenn Sie pau- folgreicheren Weg schale Rechtsbegriffe wie „Umgebungsschutz“ – wie weit der gehen soll, wird davon abhängen, wie dieser Be- (Sylvia Voß [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: griff vor Ort ausgelegt werden wird – oder „Biotopver- Das war ein falscher Weg!) bund“ einführen – man kann sich trefflich darüber strei- und folgen Sie unserem Entschließungsantrag! Vertragli- ten, was einen Biotopverbund ausmacht und was nicht –, che Absprachen mit dem Bürger und eine Ausgleichsver- ohne dass Sie entsprechende fachliche Kriterien vorge- pflichtung für Nutzungsbeschränkungen sind die Mittel ben. Wenn Sie die Rechtsbegriffe nicht klar abgrenzen, unserer Wahl, um den Naturschutz in Deutschland dann kann man nur sagen: Ihr Gesetzentwurf wird nicht voranzubringen. Das Ordnungsrecht soll nur die notwen- verstärkt die Natur in Deutschland, sondern letztlich nur digen rechtlichen Rahmenbedingungen dafür setzen. Ihre rot-grüne Ideologie in Sachen Naturschutz schützen. Das ist nicht gut für den Naturschutz in Deutschland. Dies bedeutet nicht, wie Sie manchmal behauptet ha- ben, dass der Naturschutz dann unbezahlbar wird. Im Ge- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) genteil. Im Wege der Kofinanzierung stellt Brüssel viele Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Auch Mittel zur Verfügung. Es kommt dabei darauf an, Mittel wir sehen die Notwendigkeit für einen Biotopverbund, extra für Naturschutzmaßnahmen, also über die Einhal- aber in fachlich begründeten schützenswerten Gebietskulis- tung der guten fachlichen Praxis hinaus anzufordern. sen. Deshalb ist klarzustellen, dass die vorhandenen Schutz- Wenn wir jetzt die Schwellenwerte für die gute fachliche gebiete auch durch langfristige vertragliche Vereinbarungen Praxis heraufsetzen, werden wir keine Möglichkeit mehr einbezogen und weiterentwickelt werden können. haben, solche Kofinanzierungsmittel aus Brüssel zu be- kommen. Wir müssen endlich bedenken: Die ländlichen Räume sind in einem dicht besiedelten Land wie Deutschland (Zuruf von der FDP: Richtig!) nicht nur Natur- und Kulturraum, sondern auch – das gilt Damit schädigen Sie die Naturschutzpolitik in Deutsch- zum Beispiel für meine Heimatregion, das Münsterland – land auch finanziell. Deshalb warnen wir Sie davor, Ihren (B) wichtige Wirtschaftsräume. In ihnen müssen für den Ver- Weg in dieser Hinsicht weiterzugehen. (D) braucher qualitativ hochwertige Nahrungsmittel erzeugt werden. Zugleich sind sie Ausgleichsräume und Erho- Der Naturschutz kann nicht auf Kosten der Betroffenen lungsräume für die Menschen in den Ballungsgebieten, betrieben werden. Wer Ihren Gesetzentwurf liest, muss bei uns zum Beispiel aus dem Ruhrgebiet. Diese vielfälti- aber zu der Erkenntnis kommen: Sie wollen das. Das ist gen Funktionen können sie selbstverständlich nur dann für den Naturschutz in Deutschland verhängnisvoll. Aus erfüllen, wenn sie naturnah und nachhaltig genutzt wer- diesem Grund werden wir Ihren Weg nicht mitgehen und den. In Ihrem Gesetzentwurf haben Sie leider nicht er- lehnen diesen Gesetzentwurf ab. kannt, dass sich vor allem in diesen Gebieten und eben (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- nicht nur in den gezielt ausgewiesenen Naturschutzge- neten der FDP) bieten das weitere Schicksal des Naturschutzes entschei- den wird. Es ist deshalb ein Irrglaube, dass allein durch die staatliche Zuordnung weiterer Räume zum Natur- Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters: Für die schutz dem Artenschwund Einhalt geboten werden kann. Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gebe ich das Wort der Kollegin Sylvia Voß. Wir haben Ihnen in den Ausschussberatungen immer wieder gesagt – ich wiederhole es heute noch einmal in aller Eindringlichkeit –: Sylvia Voß (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sehr ge- ehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (Sylvia Voß [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: „Wer durch des Argwohns Brille schaut, sieht Raupen Dadurch wird es auch nicht wahr!) selbst im Sauerkraut“, sagte schon Wilhelm Busch. Der Weg, den Sie jetzt einschlagen, ist der falsche Weg; (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Das kenne denn fachliche Untersuchungen zeigen, dass nicht allein ich schon!) die Verwaltung von Flächen durch die Naturschutzbehör- Herr Paziorek, das trifft auf Sie offensichtlich voll zu. den zu Verbesserungen führt. Wir sagen Ihnen ganz deut- lich: Dieser Gesetzentwurf wird nicht zu mehr, sondern zu Die Folgen der Mittel Ihrer Wahl können wir feststel- weniger Naturschutz führen. Naturschutz kann nicht ge- len: Zwei Drittel der Biotope in Deutschland sind heute ge- gen die Bevölkerung vor Ort gemacht werden. fährdet. Mehr als 50 Prozent unserer Lurche und Reptilien sind ebenfalls gefährdet und stehen auf den Roten Listen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Sylvia Voß [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Zuruf von der CDU/CSU: Die Grünen stehen Machen wir auch nicht!) auch bald auf der Roten Liste!) 19696 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001

Sylvia Voß (A) Das Gleiche gilt für 40 Prozent der Pflanzenarten. Wir ha- ben entsprechende Regelungen in das Gesetz aufgenom- (C) ben in den letzten 25 Jahren eine Fläche für die Natur ver- men. loren, die dreimal so groß ist wie das Saarland. Das kön- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nen Sie nicht bestreiten. Sie haben in Ihrer Politik das und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Freiwillige überbetont. Wir haben gesehen, dass auch PDS) Ordnungsrecht sehr wohl notwendig ist, Wir haben mit den Bestimmungen über Artenschutz (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Ja, aber als und Biotopschutz dafür gesorgt, dass die Zwei-Drittel-Le- Rahmen!) bensraumtypen wirklich geschützt werden. Auch unsere um unsere Lebensgrundlagen zu schützen, um unser na- Kinder sollen noch Sumpfdotterblumenwiesen, Wollgras- tionales Naturerbe zu schützen. wiesen kennen, die Rufe der Unken hören und die Kamm- molche beobachten können. Wir sollten nicht eines Tages Uns ist das Miteinander – Sie werfen uns vor, dass das den Kindern sagen müssen, es gibt keinen Osterhasen bei uns nicht gegeben sei – auch sehr wichtig gewesen. mehr. Dazu gibt es eine wunderschöne Karikatur. Es Wir sind auf wirklich alle Nutzergruppen, auf alle Schutz- kommt eine Ratte mit der Kiepe und sagt: Ich bin die vereine, auf alle Fachleute zugegangen, haben uns im Vor- Osterratte; der Hase ist ausgestorben. Genau das möchten feld sehr wohl informiert und sind fachlich fundiert an wir nicht. Deswegen haben wir gerade in dem Bereich des diesen Gesetzentwurf herangegangen. Artenschutzes sehr viel neu geregelt. Was Sie sagen, ist nicht stichhaltig. Die fachlich fun- Die anderen Dinge sind schon genannt worden: Mee- dierten Zahlen zum Biotopverbund lagen bereits zu Ihrer resnaturschutz oder die flächendeckende Landschaftspla- Regierungszeit vor. Sie haben sie nur ignoriert. nung. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wir haben die Bereiche der Erholung und des Sports und bei der SPD) sehr gut in diesem Gesetz verankert. Das gilt auch für die Wir haben den Biotopverbund im Gesetz festgeschrie- Verbandsklage. ben. Das gilt genauso für die gute fachliche Praxis, mit Ich möchte mich noch einmal ausdrücklich für die kon- der dafür gesorgt wird, dass eine Agrarwende Fuß fassen struktive Zusammenarbeit mit allen, mit dem Bundesrat, kann und dass wir gesunde Nahrungsmittel in einer ge- mit den Ländern, mit den Verbänden und Vereinen, deren sunden Natur, die uns allen, auch den Landwirten, eine Vertreter heute auf der Tribüne sitzen, bedanken. Lebensgrundlage bietet, erzeugen können. In dieser guten fachlichen Praxis gibt es eine Ausnahme – da sind wir auf (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN die Bauern zugegangen –, nämlich die Kleinstrukturen, und bei der SPD) (B) sodass die Bauern beispielsweise auch Hecken pflanzen (D) Ich hoffe, dass dieses Gesetz, wenn es von den Ländern und trotzdem Fördermittel in Anspruch nehmen können. entsprechend umgesetzt wird, für die Bundesrepublik Sie müssen nur den Bericht über das, was wir gemacht ha- beim Naturschutz einen wirklich neuen, großen Schritt ben, richtig lesen. Ich halte Ihnen zugute, dass Sie so von nach vorn darstellt. der Natur begeistert sind, dass Ihnen da einige Passagen entgangen sind. Ich möchte noch etwas in Richtung der CDU/CSU sa- gen, weil Sie es offensichtlich immer noch nicht begriffen Wir haben auch andere Dinge, die wirklich positiv haben. Goethe sagte schon: sind, neu geregelt, und zwar sehr übersichtlich. Sie sagen, Sie blicken da nicht durch. Ich weiß nicht, wo man da Die Flöhe und die Wanzen nicht durchblicken kann. Wir haben die Nationalparke ge- Gehören auch zum Ganzen. stärkt; wir haben dort den Prozessschutz verankert. Wir Danke schön. haben die Biosphärenreservate gestärkt und wir haben die Naturparke als Fundament für einen nachhaltigen Touris- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mus vorgesehen. und bei der SPD – Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Es wuchs eine westfälische Ei- Wir haben sehr viel Gutes und Neues in Bezug auf den che! – Heinrich-Wilhelm Ronsöhr [CDU/ Artenschutz verankert. Ich möchte hier nur den Vogel- CSU]: Ich gebe zu Protokoll: Ich möchte trotz- schutz an Freileitungen erwähnen. Die Freileitungen stel- dem keine Flöhe von ihr haben!) len die Haupttodesursache einiger unserer Großvögel dar. Wir können doch nicht, wie Sie das jahrelang gemacht ha- ben, tatenlos davor stehen. Sie haben aus Angst vor irgend- Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters: Ich gebe das welchen Interessenkollisionen nichts angefasst. Wir haben Wort der Kollegin Marita Sehn für die Fraktion der FDP. die Dinge angefasst und setzen sie jetzt um. Das wird der (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Wie weit Natur, wie es Frau Mehl schon sagte, wirklich gut tun. geht das mit den Flöhen im Bundestag?) Es gibt einen großen Lebensraumschwund, etwa durch Verinselung; das wissen auch Sie. Deswegen ist der Bio- Marita Sehn (FDP): Herr Präsident! Liebe Kollegin- topverbund so wichtig. Ebenso nenne ich den Biotop- nen und Kollegen! schutz im Bereich der Alleen. Das ist etwas völlig Neues, was aber für uns alle, insbesondere für die Menschen vor (Heinrich-Wilhelm Ronsöhr [CDU/CSU]: Sa- Ort, für die das ein Stück Heimat ist, wichtig ist. Wir ha- gen Sie mal was zu den Flöhen!) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19697

Marita Sehn (A) Die Novelle des Bundesnaturschutzgesetzes ist ein klei- nicht einmal weiß, welche Kosten sie ihnen aufbürdet. (C) ner Schritt für die Bundesregierung und ein großer für den Diese Ignoranz ist Arroganz gegenüber den Betroffenen Naturschutz. Nur, er geht in die falsche Richtung. und deren Nöten. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) der CDU/CSU) Die Novelle des Bundesnaturschutzgesetzes ist ein Rück- Frau Mehl, die Bundesregierung hat in ihrer Antwort schritt. Frau Voß, sie ist die Aufkündigung des ökologischen auf unsere Kleine Anfrage – es handelt sich um die Druck- Gesellschaftsvertrages, den die FDP mit begründet hat. sache 14/6733; Sie können das nachlesen – klipp und klar gesagt, dass sie nicht weiß, welche Kosten auf die Betrof- (Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Ein fenen zukommen. Was? Wie hieß das?) (Ulrich Heinrich [FDP]: Die weiß noch mehr Vielleicht noch einmal zu Ihrer Erinnerung: Die alte nicht!) Bundesregierung unter liberaler Beteiligung hat den Vor- rang des Vertragsnaturschutzes vor ordnungsrechtli- Die Bundesregierung verweist sogar lapidar darauf – ich zi- chen Maßnahmen eingeführt. tiere –, dass „sich im Einzelfall zusätzliche Vermarktungs- möglichkeiten für landwirtschaftliche Erzeugnisse erge- (Michael Müller [Düsseldorf] [SPD]: Das ist ben“ können. Etwas viel Konditional, finden Sie nicht? der Vertrag?) Während die Kosten für die Betroffenen sehr real und Herr Müller, wir haben damit ein klares Signal gesetzt: konkret sind, verhält es sich mit den möglichen Einnah- Kooperation vor Konfrontation. Das ist moderner Natur- men genau umgekehrt, Frau Voß. Sie sind höchst unsicher schutz. und hypothetischer Natur. Mit der Aufkündigung des Vor- (Beifall bei der FDP) rangs für den Vertragsnaturschutz beraubt die Bundes- regierung die Landwirte der einzigen echten Einkom- Wir haben damit gezeigt, dass Naturschutz für uns mensperspektive, die es im Naturschutz bislang gibt. nicht nur eine Bringschuld der Land- und Forstwirtschaft ist, sondern ein gesamtgesellschaftliches Anliegen. Na- (Sylvia Voß [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: turschutz geht uns alle an. Das stimmt doch so nicht! Das wissen Sie doch!) (Sylvia Voß [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hat auch niemand bestritten! – Heinrich- Der Naturschutz der Bundesregierung ist vor allem Na- Wilhelm Ronsöhr [CDU/CSU]: Ihr entmündigt turschutz durch andere auf Kosten anderer. Der Natur- (B) die Landwirtschaft!) schutz der Bundesregierung findet folgerichtig vor allem (D) in der Theorie statt. Es ist nicht ausreichend, dem ländlichen Raum den Na- turschutz per Gesetz aufs Auge zu drücken. (Sylvia Voß [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist absurd!) Mit dem Vorrang des Vertragsnaturschutzes hat die da- malige Bundesregierung unter FDP-Beteiligung einen Defizite im Naturschutz sind weniger gesetzgeberisch als ökologischen Gesellschaftsvertrag eingeführt. Der ländli- vielmehr vollzugsbedingt. Auch das wissen Sie. Daran che Raum engagiert sich im Naturschutz. Er stellt Flächen ändert die vorgelegte Novelle herzlich wenig. für die Erholung und für ökologische Zwecke zur Verfü- (Beifall bei der FDP) gung. Im Gegenteil: Den ohnehin überlasteten Naturschutz- (Sylvia Voß [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: behörden werden zusätzliche Aufgaben aufgebürdet. Der Das streitet doch auch keiner ab!) Bund bestellt, gibt aber kein Geld – so sieht grüne Natur- Für die damit verbundenen wirtschaftlichen Einbußen ge- schutzpolitik aus. währt die Gesellschaft einen Ausgleich. Das ist eine sozial Die Novelle des Bundesnaturschutzgesetzes hat des- gerechte Naturschutzpolitik und nicht Ihr „Wir bestellen halb nur eine Alibifunktion: Sie suggeriert einen hohen und die anderen bezahlen“. Stand des Naturschutzes, der in der Praxis aber nicht um- (Beifall bei der FDP – Horst Kubatschka gesetzt werden kann. Ohne mehr Personal und ohne mehr [SPD]: Das haben Sie gemacht!) Geld wird es auch nicht mehr Naturschutz geben. Der Na- turschutz der Bundesregierung findet auf dem Papier statt Der Gesetzentwurf der Bundesregierung ist in diesem und hat mit der Praxis wenig zu tun. Sinne ein Rückschritt. Er setzt auf Konfrontation statt auf Kooperation, auf Verordnen statt auf Überzeugen. Nachhaltigkeit, das ist die Integration ökologischer, ökonomischer und sozialer Aspekte. Nachhaltiger Natur- (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: So ist es! – schutz ist ein integrierter Naturschutz. Heinrich-Wilhelm Ronsöhr [CDU/CSU]: Die SPD entmündigt die deutsche Landwirtschaft!) (Sylvia Voß [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau den machen wir!) Der Naturschutz wird von einem gesamtgesellschaftli- chen Anliegen zu einer Angelegenheit der Land- und Er berücksichtigt die wirtschaftlichen und sozialen Be- Forstwirtschaft degradiert. Ganz besonders bitter muss es lange ebenso wie die ökologischen Aspekte, Frau Voß. Ich dabei für die Betroffenen sein, dass die Bundesregierung glaube, die haben Sie vergessen. 19698 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001

Marita Sehn (A) Die Novelle des Bundesnaturschutzgesetzes ist in die- Das vorgesehene Biotopverbundsystem wird im Re- (C) sem Sinne alles andere als nachhaltig. Sie ist ökologisch gierungsentwurf nur an der untersten Grenze des Mach- unsinnig, da sie einen höheren Stand des Naturschutzes baren festgeschrieben. Es sind nur 10 Prozent der Lan- suggeriert, der in der Praxis, Frau Deichmann, leider nicht desfläche. Ebenso wie viele Naturschutzverbände fordert umgesetzt werden kann. die PDS 15 Prozent, (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der PDS) Sie ist ökonomisch schädlich, da sie wichtige Investitio- davon 10 Prozent verbindlich für die Bundesländer nen und Infrastrukturmaßnahmen im ländlichen Raum (Heinrich-Wilhelm Ronsöhr [CDU/CSU]: Die verzögert, wenn nicht gar verhindert. FDP fordert 18 Prozent!) (Sylvia Voß [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: und 15 Prozent als Sollbestimmung für die Bundesrepu- Das stimmt so auch nicht! Das wissen Sie blik als Ganzes. auch!) (Sylvia Voß [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Bundesregierung schiebt den ländlichen Raum auf Das muss man umsetzen!) das wirtschaftliche Abstellgleis. Sie handelt sozial unge- recht, da sie den Naturschutz entschädigungslos dem Ich meine, das wäre eigentlich machbar gewesen. ländlichen Raum aufbürdet. Im Übrigen sind im PDS-Entwurf ökologisch bedeut- (Beifall des Abg. Hans-Michael Goldmann same Flächen von kommerzieller Privatisierung ausge- [FDP]) schlossen. Das wäre aber notwendig. Ich möchte Sie da- ran erinnern, dass Ihr früherer Minister Waigel von den Den Nutzen des Naturschutzes haben wir alle, während Naturschutzverbänden dafür sogar den „Dinosaurier des die Kosten allein der ländliche Raum trägt. Jahres“ erhalten hat. (Sylvia Voß [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Dr. Christian Ruck [CDU/CSU]: Können Sie Das ist Polemik, mehr nicht!) das bestätigen?) Kurz, die Novelle des Bundesnaturschutzgesetzes ist – Natürlich bestätige ich das. – Die Bundesregierung hat das genaue Gegenteil von Nachhaltigkeit. Die FDP lehnt in einem beschränkten Maß leider auch zur Privatisierung die Novelle des Bundesnaturschutzgesetzes deshalb ab. beigetragen. Wir hätten uns gewünscht, dass alles in Es darf keine Benachteiligung der ländlichen Räume un- Staatseigentum übergeht. ter dem Deckmantel des Naturschutzes geben. Dies brin- gen wir mit unserem Entschließungsantrag zum Aus- Die Eingriffsregelung wird im Koalitionsentwurf in (B) druck. Naturschutz lässt sich nur mit den Menschen und einigen Fällen verschärft. Dennoch wird nichts wesent- (D) nicht gegen sie verwirklichen. lich Neues getan, um der Zersiedlung und Zerschneidung von Natur und Landschaft Einhalt zu gebieten. Die Be- Danke. lange des Naturschutzes werden somit weiterhin bei Bau- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten vorhaben nicht ab-, sondern weggewogen. Schließlich der CDU/CSU – Ulrike Mehl [SPD]: Das ist bit- sind seit der letzten BauROG-Novelle die Kompetenzen ter! Nichts dazugelernt!) für die Abwägung von den Naturschutz- zu den Bauäm- tern übergegangen. Ich möchte noch einmal das Statisti- sche Bundesamt zitieren, das sagt: Wenn so weitergebaut Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters: Ich gebe der wird, ist bis Ende des Jahrhunderts die ganze Bundesre- Kollegin Eva Bulling-Schröter von der Fraktion der PDS publik zubetoniert. Ich denke, das wollen wir alle in die- das Wort. sem Hause nicht. (Heinrich-Wilhelm Ronsöhr [CDU/CSU]: Das Eva Bulling-Schröter (PDS): Herr Präsident! Liebe liegt aber an den Betonsozialisten in der PDS!) Kolleginnen und Kollegen! Um es gleich vorweg zu sa- gen: Gegenüber dem geltenden Bundesnaturschutzgesetz Im Gegensatz dazu will die PDS, unter anderem durch ist der von der Bundesregierung eingebrachte Entwurf ein ein Unterlassungs- bzw. Minimierungsgebot für vermeid- Fortschritt – aber ein bescheidener. bare Eingriffe sowie mit einer Einvernehmensvorschrift zwischen Bau- und Naturschutzbehörden, solche Verfah- (Marita Sehn [FDP]: Ein Rückschritt!) rensweisen stoppen. Ich denke, das ist notwendig. Diesem Das Verhältnis von Naturschutz und Landnutzung, der Ziel dient auch die Ausdehnung der Eingriffsregelung auf Kernpunkt der Auseinandersetzungen, wurde neu geord- den unbeplanten Innenbereich, wo in der Vergangenheit net, dies jedoch nur zaghaft. Im Gegensatz zum PDS-Ent- wertvolle Grünflächen und Biotope verloren gingen. wurf sind die Regeln der guten fachlichen Praxis für uns Die neu eingeführte Verbandsklage ist im Koalitions- zu allgemein. Eine klare Definition dieser Betreiber- entwurf weiterhin von Misstrauen gegenüber den Um- pflichten wäre aber für eine vernünftige Entschädigungs- weltverbänden geprägt. Zum einen kann noch nicht ein- praxis zwingend notwendig. Bis wohin kann beispiels- mal gegen die Vorhaben geklagt werden, an denen weise der Staat bei Naturschutzauflagen unentgeltlich die Verbände im Verfahren beteiligt waren. Die Beschrän- Rücksichtnahme der Bauern einfordern? Ab welcher kung auf eine Klagemöglichkeit bei Planfeststellungsbe- Grenze hat der Landwirt ein Recht auf Entschädigung? schlüssen sowie Befreiungen von Verboten und Geboten Das sind wichtige Fragen. in Schutzgebieten verhindert dies. Mit solch einer Vorge- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19699

Eva Bulling-Schröter (A) hensweise ist die Verfahrensbeteiligung, zum Beispiel bei Viele Kommunen sind nicht mehr bereit, tatenlos zu- (C) Umweltverträglichkeitsprüfungen, für uns nur ein Alibi. zusehen, und haben darum im Oktober letzten Jahres auf Einwände brauchen ohne Klagemöglichkeit nicht ernst europäischer Ebene in Bozen ein Aktionsbündnis, das genommen zu werden. „Boden-Bündnis“ europäischer Städte und Gemeinden gegründet. Ich denke, dass das ein sehr beeindruckendes Weiterhin fehlt es im Regierungsentwurf an einer Kla- Beispiel dafür ist, dass die Gesellschaft dieses Thema gemöglichkeit, die sich über das Naturschutzrecht hinaus doch sehr ernst nimmt. auf das gesamte Umweltrecht erstreckt. Dies wäre aber ein Beitrag zur Behebung von Vollzugsdefiziten im Um- Wir beschließen heute eine umfassende Novelle des weltrecht und ist deshalb genauso Bestandteil des PDS- Naturschutzrechtes. Es wurde von meiner Kollegin Frau Entwurfs wie die Erweiterung der Klagemöglichkeiten Mehl schon gesagt, dass wir uns hätten vorstellen kön- einzelner Bürger. nen, dass mehr getan würde. Wir werden aber, Frau Bulling-Schröter, nicht nachbessern. Wir sind sehr froh, Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Entwurf für das dass wir bis zu diesem Punkt gekommen sind. Ich denke, zukünftige Gesetz ist kein großer Wurf. Ich denke, er es ist gut, wenn wir die jetzt geplanten Vorhaben erst ein- muss nachgebessert werden. Die Diskussion zum Thema mal in die Realität umsetzen und erst dann weitere Ziele Naturschutz und Umwelt wird weitergehen. Wir müssen anstreben. gemeinsam nachbessern. Unser Gesetzentwurf wäre eine Alternative gewesen. Leider haben Sie die abgelehnt. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Danke. Es ist überfällig, den Naturschutz effektiver zu betrei- (Beifall bei der PDS) ben. Viele Arten und Lebensräume sind trotz des bisheri- gen Gesetzes aus dem Jahre 1976 ausgestorben bzw. ver- Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters: Für die loren gegangen. Sie, Herr Paziorek, haben die Novelle SPD-Fraktion spricht die Kollegin Christel Deichmann. von 1998 angesprochen. Das hätten Sie lieber nicht getan. Dabei handelte es sich nämlich um eine richtige Null- Christel Deichmann (SPD): Herr Präsident! Liebe nummer. Kolleginnen und Kollegen! Die Ostseeparlamentarier- (Beifall bei der SPD und dem BÜND- konferenz am 1. und 2. September dieses Jahres in Greifs- NIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Peter Paziorek wald hat sich naturgemäß sehr intensiv mit dem Thema [CDU/CSU]: Das sagen Sie!) Umwelt und Naturschutz beschäftigt. Der norwegische Vertreter machte noch einmal ganz deutlich: Wir haben Sie hat nichts für den Naturschutz gebracht, nicht ein Bun- (B) keine unbegrenzten Ressourcen. Die Menschen müssen desland hat die Vorgaben umgesetzt und sie hat Ihnen – (D) aufwachen; die Welt kann nicht weiter so ausgebeutet darüber bin ich überhaupt nicht traurig – auch als Wahl- werden. Die Bedrohung der Menschheit und der Erde ist geschenk nichts genutzt. unübersehbar. Der Bevölkerung muss bewusst werden: (Ulrike Mehl [SPD]: Genau!) Die Veränderungen sind unumgänglich. Der vorliegende Gesetzentwurf verdeutlicht, wie der Vielen Menschen ist diese Tatsache bewusst. Ich Naturschutz auf ein solides Fundament gestellt werden möchte das an einem Beispiel deutlich machen. kann. Wir schaffen das nötige Rüstzeug, um den Erhalt Ein Themenkomplex, dem leider noch zu wenig Be- der biologischen Vielfalt sicherzustellen. deutung beigemessen wird, ist die Frage des ständig zu- (Heinrich-Wilhelm Ronsöhr [CDU/CSU]: Sie nehmenden Flächenverbrauchs. Die kommunale Ge- stellen morgen auch noch die Grünen unter Na- meinschaft ist in dieser Frage offensichtlich weiter als turschutz!) manch einer hier im Parlament. – Herr Ronsöhr, Sie können es nicht lassen. Hören Sie (Rainer Brinkmann [Detmold] [SPD]: So ist doch einfach einmal zu. Das habe ich Ihnen schon ein paar es!) Mal gesagt. So war in Heft 10 dieses Jahres der kommunalen Monats- (Heinrich-Wilhelm Ronsöhr [CDU/CSU]: zeitschrift „Der Überblick“ zu lesen: Was?) Städte und Gemeinden in ganz Europa kennen das – Zuhören! Wir buchstabieren das nachher einmal. Problem: Durch Flächenversiegelung, Verschmut- zung, Erosion u. a. gehen alljährlich große Flächen (Heinrich-Wilhelm Ronsöhr [CDU/CSU]: Wo der endlichen Ressource Boden verloren. ... Trotz- sollen wir denn zuhören?) dem werden in der Bundesrepublik nach wie vor täg- Nachdem wir viele Jahre über die Grundlagen eines lich 1,3 Millionen m2 überbaut. Das entspricht einer wirklich modernen Naturschutzes diskutiert haben, kön- Fläche von 185 Fußballfeldern, nen wir unsere Erkenntnisse jetzt endlich umsetzen. Wir haben wesentliche Änderungsvorschläge, die in der Sach- die täglich – ich wiederhole es – in der Bundesrepublik verständigenanhörung des Umweltausschusses und in der überbaut werden. Debatte im Bundesrat vorgebracht wurden, aufgegriffen (Sylvia Voß [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: und nach intensiver Diskussion und Abwägung zwischen Das darf so nicht weitergehen!) Nutzerinteressen und den Belangen des Naturschutzes 19700 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001

Christel Deichmann (A) Kompromisse gefunden, die beiden Seiten gerecht wer- Wir haben mit einer weiterentwickelten Definition für (C) den. Wir wollen nämlich – das ist uns besonders wichtig; die Naturparke eine zeitgemäße – ich zitiere aus einem da können Sie behaupten, was Sie wollen, Frau Sehn – Brief des VDN, den ich gestern bekommen habe – „Ziel- Naturschutz mit den Menschen zu unser aller Nutzen, setzung in den Bereichen nachhaltiger Tourismus, dauer- aber erst recht zum Nutzen unserer natürlichen Umwelt. haft umweltgerechte Landnutzung und nachhaltige Re- gionalentwicklung“ aufgenommen. Damit werden wir der (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Bedeutung gerecht, die die Naturparke für eine nachhal- DIE GRÜNEN – Marita Sehn [FDP]: Dann tige Entwicklung des ländlichen Raumes haben. Das ist müssen Sie das auch machen!) genau das Gegenteil dessen, was Sie behauptet haben. – Ein Blick in unser Gesetz erübrigt weitere Fragen an Gerade die Großschutzgebiete sind ein Magnet für die dieser Stelle. erholungssuchenden Menschen, die echte Natur erleben Ich begrüße es sehr, dass im vorliegenden Gesetz das möchten. Davon leben unsere Tourismusregionen wie zum Verhältnis zwischen Naturschutz und Land-, Forst- und Beispiel die Mecklenburgische Schweiz, aber auch die Lü- Fischereiwirtschaft neu geregelt wird. Ich halte es für neburger Heide oder die Schwäbische Alb. Für einen nach- längst überfällig, einen länderübergreifenden Biotopver- haltigen Naturschutz brauchen wir ganzheitliche integra- bund verbindlich festzuschreiben. Es ist auch an der Zeit, tive Strategien und Konzepte. Genau deswegen haben wir die vorgeschlagenen Verbesserungen im Artenschutz – das wurde hier schon ausgeführt – einige Punkte in den durchzusetzen. Ich begrüße die Erweiterung der Liste der Grundsätzen zur guten fachlichen Praxis festgeschrieben. zu schützenden Biotope. Ich freue mich über die Ein- Zum Thema Meeresschutz hat meine Kollegin Ulrike führung einer flächendeckenden Landschaftsplanung. Ich Mehl bereits ausführlich berichtet. Weil ich diese Frage halte es für selbstverständlich, das Verbandsklagerecht für eine der bedeutendsten im Rahmen des Novellie- jetzt auch auf Bundesebene einzuführen. rungsprojekts halte, will ich zur Klarstellung hinzufügen, Einige Dinge möchte ich jetzt noch näher erläutern. Sie, was uns die Dena mit auf den Weg gegeben hat: liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, haben Wenn die Bundesrepublik keine Schutzgebiete in der sicherlich Probleme mit dem Biotopverbund. Die Forde- AWZ ausweist, hätte dies möglicherweise zur Folge, rung, mindestens 10 Prozent – ich unterstreiche: minde- dass in den faktischen oder vorgeschlagenen Natur- stens 10 Prozent – der Landesfläche als Gebiete mit vor- schutzgebieten ... nach dem Vorsorgeprinzip der EU- rangiger Funktion für einen Verbund von Lebensräumen zu Rechtsprechung keine Anlagen errichtet werden sichern, ist nicht neu. Neu ist allein, dass sie als gesetzliche können. Dies würde für die Planer rechtliche Unsi- Regelung in einem Bundesgesetz festgeschrieben wird. cherheit bedeuten durch potenzielle Klagen beim EU-Gerichtshof. (B) Wenn uns die Natur am Herzen liegt, dann müssen wir (D) ihr auch den erforderlichen Raum gewähren. So stellt Wir wissen doch alle: Der ökologische Zustand von nach vorliegenden wissenschaftlichen Erkenntnissen der Natur und Landschaft in Deutschland verschlechtert sich Flächenanteil von mindestens 10 Prozent eben nur einen nach wie vor. Die Daten zur Natur 1999 des Bundesamtes Minimalwert dar. Wir haben festgestellt, dass diese Ver- für Naturschutz und das Gutachten des Umweltsach- netzung nicht abrupt an Landesgrenzen aufhören darf, verständigenrats aus dem Jahre 2000 bestätigen das. Wir und haben das im Gesetz berücksichtigt. Wir bitten die müssen handeln und müssen gesetzliche Grundlagen Bundesregierung von dieser Stelle aus, nach einem Zeit- schaffen, die an der Praxis orientiert sind. Wir werden die- raum von fünf Jahren im Parlament über den Realisie- ses Gesetz deshalb in die Realität umsetzen. rungsstand zu berichten. Es gibt wahrhaftig keinen Anlass, in den Anstrengun- Wir haben die Frage nach der Natur- und Landschafts- gen um den Naturschutz nachzulassen. verträglichkeit von Sport klar beantwortet. Aus zeitlichen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Gründen verweise ich auf die Begründung in unserer Be- DIE GRÜNEN) schlussempfehlung und auf die im Bericht enthaltenen Ausführungen meiner Fraktion. Sportverbände werden Frederic Vester, ein deutscher Biochemiker und Umwelt- auch zukünftig nicht mit Natur- und Umweltschutzver- wissenschaftler des letzten Jahrhunderts, sagte: „Die Ant- bänden gleichgestellt, wenn es um die Vereinsklage geht. worten zu unseren Problemen kommen aus der Zukunft Es ist aber sehr wichtig – auch das haben wir festge- und nicht von gestern.“ Wir haben mit dem vorliegenden schrieben –, dass sie frühzeitig in die Beratung der rele- Gesetzentwurf zukunftsorientierte Antworten gegeben. vanten Fragen einbezogen werden. Stimmen Sie zu! Wir haben den Schutzgebietsteil modernisiert und un- Vielen Dank. ter anderem die bestehende Definition für Biosphärenre- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ servate im Sinne des UNESCO-Programms weiterent- DIE GRÜNEN) wickelt. Das ist zeitgemäß. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters: Für die DIE GRÜNEN) Fraktion der CDU/CSU spricht der Kollege Cajus Julius Caesar. Der Entwicklungsaspekt und auch der Umgebungsschutz spielen für die Zukunft unserer Schutzgebiete eine bedeu- (Horst Kubatschka [SPD]: Sie können gleich tende Rolle. sagen, wo der Rubikon ist!) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19701

(A) Cajus Caesar (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe sonders die Entwicklung des ländlichen Raumes. Auch (C) Kolleginnen und Kollegen! Die CDU/CSU-Bundestags- das wollen wir nicht. fraktion wird den vorgelegten Gesetzentwurf ablehnen, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Michaele Hustedt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Sie wollen ein Biotopverbundsystem mit wahllos ge- NEN]: Ach nein!) griffenen 10 Prozent und unklaren Definitionen für die Be- weil er zu bürokratisch, fachlich sehr fragwürdig und vor troffenen. Diese können so nicht wissen, welche Verbote, allen Dingen nicht zukunftsweisend ist. Gebote und Festsetzungen auf sie zukommen. Das ist so nicht hinnehmbar. Wir wollen Umweltschutz, wir wollen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) einen Biotopverbund, aber wir wollen auch, dass die Be- Mit dieser Vorgehensweise wird die Regierung keinen troffenen wissen, was auf sie zukommt. Und sie sollen Erfolg haben und sie wird den Naturschutz nicht in der ge- auch einen Ausgleich für Einschränkungen erhalten. eigneten, vor allem nicht der gewünschten Art und Weise (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) voranbringen. Bei der guten fachlichen Praxis konnte sich der Bür- Auch das Verfahren der Einbringung war unzumutbar ger vor Ort bisher auf die Fachgesetze verlassen. und abenteuerlich. (Sylvia Voß [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Sylvia Voß [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie können sich immer noch auf Fachgesetze Das ist doch gar nicht wahr!) verlassen!) In den letzten Tagen gab es 74 Änderungsanträge, dann Auch hier gehen Sie einen neuen Weg. Sie formulieren im gab es in der Nacht vor der Sitzung des Umweltausschus- Bundesnaturschutzgesetz wahllos einzelne Bereiche. In ses 30 Seiten Änderungsanträge zu Änderungsanträgen. den schriftlich niedergelegten Aussagen des Experten Das ist in der Tat für die Beratung in den Fraktionen un- Dr. Rieder vom Bundesverband für Natur- und Arten- zumutbar. schutz ist zu lesen, dass dies „schlichtweg unsinnig und (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – laienhaft“ ist. Und weiter heißt es: Heinrich-Wilhelm Ronsöhr [CDU/CSU]: Das Hat das jemand geschrieben, der schon einmal länger hat Rot-Grün gar nicht gelesen!) als eine Stunde auf dem Bauernhof war, oder hat sich das jemand am grünen Tisch ausgedacht? Sie wollen diese Beratungen offensichtlich gar nicht. Aber noch viel schlimmer: Sie wollen offensichtlich die Das steht so im Protokoll der Anhörung. Das können Sie Verbände, Institutionen und Bürger vor Ort nicht weiter in nachlesen. (B) die Beratung einbinden, sonst hätten Sie diese Anträge si- (D) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – cherlich etwas eher vorgelegt. Sylvia Voß [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Lesen Sie doch einmal bei den anderen Exper- Heinrich-Wilhelm Ronsöhr [CDU/CSU]: Aber ten nach!) Trittin war schon immer ein Nacht-und-Nebel- Bei den Saumstrukturen sind Sie ja einen kleinen Mann!) Schritt zurückgegangen. Aber denken Sie doch auch noch Die CDU/CSU kann sich mit ihrer Leistungsbilanz se- einmal darüber nach: Erhalt und Pflege kosten viel Arbeit. hen lassen. Wir haben beim Natur- und Umweltschutz Bei der Pflege – entsprechend der guten fachlichen Praxis vieles vorzuweisen – bei der Luft- und Wasserreinhaltung, formuliert – muss man berücksichtigen, dass es dann beim bei der Abfallwirtschaft, beim Klimaschutz und bei vielen Ausgleich nach dem Kulturlandschaftspflegeprogramm internationalen Vereinbarungen. Wir haben auch bereits ebenfalls Schwierigkeiten gibt. in dieser Wahlperiode eine Reihe von Initiativen einge- Weitere Einschnitte gibt es bei der Grünlandbewirt- bracht. Wir wollen auf diesem Weg im Umwelt- und Na- schaftung. Hier hätten wir gern gesehen, dass die Exten- turschutz weiter voranschreiten. Dafür werden wir uns sivierungsprogramme der Länder weiter vorankommen. auch weiterhin einsetzen. Das zeigen unsere Anträge im Die Einschnitte der fachlichen Praxis erschweren das, ins- Rahmen der Haushaltsplanberatungen. besondere aber bei der Tierhaltung. Hier haben sich die Die SPD und die Grünen wollen das Ordnungsrecht Wirtschaftenden vor Ort darauf verlassen können, dass sie voranstellen. Im Umweltausschuss wurde das von ihnen entsprechend der 1996 erlassenen Düngeverordnung vor- am 10. Oktober so dargestellt: Das Ordnungsrecht – so ha- gehen können. Es ist also ein Ausgleich beispielsweise ben sie gesagt – ist leistungsfähiger und muss Vorrang ha- durch Güllebörsen möglich. Sie haben den Gesetzestext ben vor vertraglichen Vereinbarungen. Das ist für uns der dahin gehend geändert, dass es nur noch in einem engen falsche Weg. Wir gehen einen anderen Weg, einen Weg in betrieblichen Zusammenhang einen Ausgleich geben Richtung auf den Vertragsnaturschutz. darf. Damit treffen Sie insbesondere die kleinen Betriebe; Sie treiben sie in den Ruin. Das muss man an dieser Stelle (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) so deutlich sagen. Ihre gesetzlichen Regelungen betreffen – ja, man muss (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wi- besser sagen: sie treffen – Land- und Forstwirtschaft, derspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Jagd- und Fischereiwirtschaft und sie treffen auch das Pla- – Heinrich-Wilhelm Ronsöhr [CDU/CSU]: Die nungsrecht unserer Kommunen vor Ort. Sie hemmen be- SPD ist die Partei gegen die kleinen Leute!) 19702 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001

Cajus Caesar (A) Auch durch die schlagspezifische Dokumentation zei- Wir müssen auch in diesem Bereich ehrlich mitei- (C) gen Sie, dass Sie für mehr Bürokratie, für mehr Verwal- nander umgehen. Wir wollen nicht Ideologie voranbrin- tung sind. Wenn Sie dann noch die Doppelgleisigkeit hin- gen, wie Sie das in weiten Feldern betreiben. Wir wollen zunehmen – neben den Fachbehörden sollen auch die kein Wegschieben der Verantwortung. Naturschutzbehörden Kontrollfunktionen ausüben –, kann ich Ihnen nur empfehlen: Stellen Sie doch gleich je- (Sylvia Voß [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: dem Betrieb einen Kontrolleur aus dem Fachbereich und Tun wir nicht!) dem Naturschutzbereich an die Seite! Dann haben Sie Wenn Sie beispielsweise in einem der Entwürfe formulie- aber die finanziellen Ressourcen ausgeschöpft. Dies wird ren: Kosten entstehen nicht dem Bund, Kosten entstehen dem praktischen Naturschutz sehr weh tun. den Ländern und den Betroffenen, zeigt auch dies ganz Aber das ist Ihr Weg. In diesem Haushaltsentwurf 2002 eindeutig Ihre Vorgehensweise und wie Sie mit den Men- kürzen Sie bei den praktischen Naturschutzprojekten um schen vor Ort umgehen wollen. 16,1 Prozent und satteln bei den Kongressen und beim Wir setzen auf Miteinander, auf die Einbeziehung der Verwaltungshaushalt drauf. Das zeigt doch: Sie wollen Bevölkerung, der Menschen vor Ort. Wir wollen nicht mehr Theorie und weniger Praxis. mehr Paragraphen, wir wollen Natur erhalten, schützen, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – pflegen, entwickeln und wieder herstellen, im ländlichen Heinrich-Wilhelm Ronsöhr [CDU/CSU]: Kon- Raum eine Chance auf Arbeit und wirtschaftliche Teil- ferenzen! Und wegen der Konferenzen fahren habe sichern, den Naturschutz voranbringen und auf Ko- sie die Frösche tot!) operation statt auf Konfrontation setzen. Das Miteinander wird bei Ihnen infrage gestellt. In § 1 Herzlichen Dank. Abs. 2 werden die soziale Komponente, die wirtschaft- liche Komponente und die Naturschutzkomponente ge- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – geneinander abgewogen. Diese Abwägungsklausel wol- Zuruf von der CDU/CSU: Gute Rede!) len Sie wegfallen lassen. Wir wollen diese Abwägung. Sie nehmen offensichtlich auch keine Kenntnis von der ge- Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters: Ich erteile meinsamen Stellungnahme der Wirtschaft, des Bauern- das Wort dem Bundesminister für Umwelt, Naturschutz verbandes, des Landkreistages und des Städte- und Ge- und Reaktorsicherheit, Jürgen Trittin. meindebundes, die deutlich formuliert haben, dass sie diesen Gesetzentwurf mit großer Sorge betrachten, und fordern, dass die Menschen mehr mitgenommen werden. Jürgen Trittin, Bundesminister für Umwelt, Natur- schutz und Reaktorsicherheit: Herr Präsident! Meine Da- (B) Miteinander heißt auch, die Erholung suchende Bevöl- men und Herren! Frau Abgeordnete Voß hat Goethe zitiert (D) kerung mitzunehmen. und richtig: Goethe war ein großer Naturschützer. Um das (Sylvia Voß [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: noch einmal zu unterstreichen, zitiere ich: Das tun wir! Richtig lesen! Steht alles drin!) Frische Nahrung, neues Blut saug ich aus freier Welt. Sie machen in § 10 Einschränkungen hinsichtlich der Wie ist die Natur so hold und gut, die mich am Bu- Erholung suchenden Bevölkerung und des Tourismus. sen hält. Miteinander heißt ebenso, sportliche Aktivitäten zu för- Insofern haben Sie zu Recht daran erinnert. dern und nicht einzuschränken. Der Sportbund spricht ganz (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, eindeutig davon, dass es zu einer Beweislastumkehr kommt. bei der SPD und der PDS – Heinrich-Wilhelm (Sylvia Voß [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ronsöhr [CDU/CSU]: Früher hat Trittin nur Sie wissen, dass es nicht so ist!) Marx und Mao zitiert, heute zitiert er Goethe! – – Sie haben Recht. Aber Herr Hermann hat beim Sport- Heiterkeit bei der CDU/CSU) bund ein Schreiben unterschrieben, in dem darauf hinge- Angesichts des wie üblich konstruktiven Beitrags des wiesen wird, dass die sportliche Aktivität beeinträchtigt Abgeordneten Ronsöhr will ich mich bei allen bedanken, wird und dass es zu einer Beweislastumkehr kommt. die diese Novelle des Bundesnaturschutzgesetzes mit auf (Sylvia Voß [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: den Weg gebracht haben und sie heute hier im Bundestag Das ist seine persönliche Sache! Aber das verabschieden werden. Das, was wir Ihnen heute vorle- stimmt so nicht!) gen, ist etwas, was Klaus Töpfer und über lange Jahre vergeblich versucht haben, weil sie genau an Jetzt wird er wahrscheinlich nicht einmal anwesend sein. – den Argumenten, die Sie hier vorgetragen haben, ge- Doch, da hinten sitzt er. Ich bin gespannt, wie er gleich scheitert sind. entscheiden wird: ob er zu seiner Unterschrift steht oder zu Ihrem Gesetzentwurf. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU – Sylvia Voß [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er kann ja eine Es ist eine umfassende Novellierung des Bundesnatur- eigene Meinung haben, aber die muss ja nicht schutzgesetzes. Wir wollen die Nutzungsbedürfnisse richtig sein! – Heinrich-Wilhelm Ronsöhr von 80 Millionen Menschen mit der Notwendigkeit des [CDU/CSU]: Der Kanzler stellt die Vertrauens- Schutzes der Natur neu in Einklang bringen. Wir balan- frage!) cieren das neu aus. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19703

Bundesminister Jürgen Trittin (A) Um das aufzugreifen, was Herr Caesar hier zum Besten Diese Praxis hat dazu geführt, dass der Naturschutz zum (C) gegeben hat: Haben Sie eigentlich nicht zur Kenntnis ge- Stillstand gekommen ist. nommen, dass wir erstmalig die Pflicht vorsehen, für (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Sie stellen die stadtnahe Erholungsräume zu sorgen, dass erstmalig das Landwirtschaft als Verursacher dar! Pauschale Bedürfnis, sich in der Natur zu erholen, in diesen Gesetz- Bauernschelte! – Heinrich-Wilhelm Ronsöhr entwurf mit eingeflossen ist? [CDU/CSU]: Gott sei Dank haben die Bauern (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- nicht die Vergangenheit, die Sie haben!) SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) – Die Unruhe zeigt, dass ich Sie an einem richtigen Punkt Haben Sie nicht zur Kenntnis genommen, welche neuen getroffen habe. – Das haben wir in der Tat rückgängig Regelungen gerade im Hinblick auf naturnahe Sportbe- gemacht. tätigungen wir in diesen Gesetzentwurf hineingeschrie- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ben haben? Dabei wollen wir vom Gegeneinander zwi- und bei der SPD) schen Naturnutzern und -schützern wegkommen und ein Miteinander erreichen. Das haben wir in ausbalancierter Auch wenn Sie es immer wieder behaupten: Wir haben Art und Weise festgelegt. beim Vertragsnaturschutz nichts geändert. Schauen Sie sich einmal die alte und die neue Regelung an! Folgende (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Änderung haben wir aber vorgenommen: Wir definieren sowie bei Abgeordneten der SPD – Birgit den Standard einer guten fachlichen Praxis aus Natur- Homburger [FDP]: Das sollten Sie einmal schutzsicht. Herrn Hermann erklären!) (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Und geben Wir haben etwas Weiteres getan – das ist, so glaube ich, kein Geld dafür!) der Kern der Kontroverse, die hier besteht –: Wir haben den Naturschutz aus dem Reservat, aus der eingekästelten Die Landwirte, die etwas darüber hinaus leisten, müssen Fläche herausgeholt. Wir wissen, dass die Sicherung der dann bei entsprechenden Eingriffen entschädigt werden. Artenvielfalt nur erzielt werden kann, wenn sie sich auf (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN die gesamte Fläche bezieht. und bei der SPD – Marita Sehn [FDP]: Na (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- klasse! – Hans-Michael Goldmann [FDP]: So SES 90/DIE GRÜNEN) ein Blödsinn!) Keine Entschädigung kann es für die Formen der Land- Deswegen haben wir zum Beispiel im Rahmen des Biotop- wirtschaft geben, die beispielsweise Bodenerosionen er- verbunds Freiräume belassen und diesen Bereich nicht zeugen, indem in Flusslandschaften bis an den Fluss (B) von oben durchreguliert, wie Sie das immer an die Wand (D) heran Grünlandumbruch betrieben wird. malen. Die Länder sollen gestalten, wie sie den Biotop- verbund auf den Weg bringen. (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Das ist doch längst verboten!) (Heinrich-Wilhelm Ronsöhr [CDU/CSU]: Sie haben das von oben reguliert! – Gegenruf der – Das findet täglich statt, Herr Paziorek. An dieser Stelle Abg. Sylvia Voß [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- will ich Ihnen in aller Ruhe und Gelassenheit sagen: Sie NEN]: Das ist nicht wahr!) haben hier ein schönes Bild Ihrer Herkunftsregion, des Münsterlandes, gezeichnet Wir mussten allerdings an dieser Stelle eine notwen- dige Korrektur Ihrer Politik vornehmen. Frau Sehn, Sie (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Sie kennen haben gesagt, es würden Geschäfte zulasten Dritter ge- die Programme in Nordrhein-Westfalen gar macht. Nein, wir haben die Regelung, die Sie 1998 ein- nicht!) geführt haben und die Geschäfte zulasten Dritter ermög- und haben den Ausdruck der Natur benutzt. Mit Verlaub, lichte, rückgängig gemacht. lieber Herr Paziorek: Ich glaube, dass hier in Wirklichkeit (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- überhaupt keine Differenz besteht. Teile des Münster- SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) landes und Teile der Region Niedersachsen, die dort an- grenzen, Das Geschäft zulasten Dritter im Naturschutz bestand nämlich aus der Abkehr vom Verursacherprinzip. (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Vorsicht, nicht wieder etwas vermischen!) (Marita Sehn [FDP]: Das ist unglaublich!) haben heute aufgrund einer bestimmten Form der indus- Sie haben eine Regelung eingeführt, wonach die schlechte trialisierten Landwirtschaft mit Natur genauso viel zu fachliche Praxis und die Beseitigung der Folgen einer tun wie Schalke. Das ist die Situation. schlechten fachlichen Praxis von den Ländern und Kom- munen zu bezahlen seien. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Dr. Peter (Heinrich-Wilhelm Ronsöhr [CDU/CSU]: Das Paziorek [CDU/CSU]: Ob das Münsterland ist doch die größte Schweinerei, die Sie jemals passt, das ist fraglich! Sie kennen das Münster- erzählt haben! Sie sind in der Tat ein Maoist! land gar nicht! – Wir werden das, was Sie jetzt Das ist sehr beleidigend! – Weitere Zurufe von sagen, im Münsterland verbreiten! – Weitere der CDU/CSU) Zurufe von der CDU/CSU) 19704 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001

Bundesminister Jürgen Trittin (A) – Meine Damen und Herren, ich freue mich über diese für die Umwelt und den Naturschutz zu tun. Sie werden (C) Unruhe. – Deswegen haben wir an dieser Stelle neu defi- vielmehr erreichen, dass sich die Menschen dagegenstel- niert, was eine gute fachliche Praxis ist. len werden. Zum Abschluss lassen Sie mich noch eine Bemerkung (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) machen: Sie haben gesagt, dieser Gesetzentwurf bedeute Wir haben den Begriff der guten fachlichen Praxis in mehr Staat. Das stimmt nicht! den Fachgesetzen definiert. Wir haben die Definition in (Marita Sehn [FDP]: Das stimmt wohl!) den letzten Jahren stets weiterentwickelt. Bei dieser Wei- terentwicklung haben wir auch immer darauf geachtet, Wir haben die Umweltverbände, die diesen Gesetzent- dass der Gedanke des Umweltschutzes mit berücksichtigt wurf übrigens nachhaltig begrüßen – Vertreter der Um- wird. Hier hat sich sehr viel zum Positiven gewendet. weltverbände sitzen da oben auf der Besuchertribüne –, nicht nur über Jahre hinweg besser gefördert, als das bei Indem Sie jetzt zusätzlich zur Definition des Begriffs Ihnen der Fall war, sondern ihnen auch das Recht einge- der guten fachlichen Praxis in den Fachgesetzen eine De- räumt, gegen den Staat zu agieren, indem wir für sie das finition in das Naturschutzgesetz aufnehmen, erreichen Instrument der Verbandsklage eingeführt haben, das Sie Sie für den Naturschutz überhaupt nichts. ihnen über Jahrzehnte verweigert haben. Dieses Bundes- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Lassen naturschutzgesetz bedeutet mehr Bürgerrechte und mehr Sie sich beim nächsten Mal Redezeit geben!) Naturschutz. Stattdessen schaffen Sie dadurch Verwirrung; es ist nicht (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mehr klar, was genau gilt. und bei der SPD) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Zum Abschluss möchte ich in aller Ruhe sagen: der CDU/CSU) (Heinrich-Wilhelm Ronsöhr [CDU/CSU]: Es Herr Minister Trittin, ich will Ihnen zu dem, was Sie wäre gut, wenn die Umweltverbände gegen Sie hier gerade geboten haben, eines sagen: Sie sind jetzt seit klagen würden!) ungefähr drei Jahren im Amt. Nachdem Sie nach 16 Jahren an der Regierung an diesem (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Aber das Projekt der Modernisierung des Naturschutzes gescheitert ist doch jetzt wirklich überzogen, Herr Präsi- sind, haben wir als Rot-Grün mit diesem Gesetz mehr dent! Das kann doch nicht sein!) Schutz für die Natur und mehr Rechte für die Bürger durchgesetzt. Allein dies lohnt diese Koalition. Deswegen Sie haben sich überhaupt nicht für den Naturschutz inte- (B) soll sie weitermachen. ressiert. Sie haben sich die ganze Zeit über in keiner Weise (D) im Bereich des Naturschutzes engagiert. (Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN und bei der SPD) ( [SPD]: Sie müssen sich Redezeit einräumen lassen!)

Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters: Zu einer Nun aber stellen Sie sich hier hin und erklären, Sie wür- Kurzintervention gebe ich der Kollegin Homburger das den mit diesem Gesetz alles besser machen, und be- Wort. schimpfen diejenigen, die Sie vor Ort brauchen. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Jedes (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das Mal das Gleiche! – [SPD]: Erst macht doch gar keiner!) zu spät kommen und dann eine Kurzinter- Sie werden aber Umwelt- und Naturschutz nur erreichen vention!) können – das gilt insbesondere für den Naturschutz –, wenn Sie die Menschen mitnehmen, wenn Sie mit den Betrof- Birgit Homburger (FDP): Herr Präsident! Der Minis- fenen vor Ort kooperieren. Das lehnen Sie ab. Das haben ter hat hier ein Bild gezeichnet, das die Kollegin Voß be- Sie hier noch einmal sehr deutlich gemacht. Damit wer- reits im Umweltausschuss – etwas deutlicher zusammen- den Sie erreichen, dass sich die Situation für den Natur- gefasst – gezeichnet hatte. Das Bild sieht so aus: Die schutz in Zukunft verschlechtert. Diesen Weg gehen wir Landwirte sind schuld am Artenrückgang sowie daran, nicht mit. dass im Naturschutz nichts passiert; die Landwirtschaft ist (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) schuld daran, dass hier etwas schief läuft. Ich kann Ihnen dazu nur sagen: Diese Schuldzuwei- Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters: Zur Erwi- sung an die Landwirtschaft wird bei denjenigen, die bereit derung gebe ich zunächst dem Bundesminister Trittin und sind, Naturschutz zu betreiben anschließend der Kollegin Sylvia Voß das Wort. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist völliger Unsinn!) Jürgen Trittin, Bundesminister für Umwelt, Natur- schutz und Reaktorsicherheit: Herr Präsident! Meine Da- und zu kooperieren, entsprechend ankommen. Sie werden men und Herren! Liebe Frau Kollegin Homburger, mit diesem Gesetz und Ihren Äußerungen hier nicht er- reichen, dass die Menschen in Zukunft bereit sind, mehr (Zuruf von der SPD: Die ist doch nicht lieb!) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19705

Bundesminister Jürgen Trittin (A) ich weiß nicht, ob Sie wirklich präzise zugehört haben. Sylvia Voß (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau (C) Homburger, ich wünsche mir wirklich, dass Sie besser (Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- zuhören. Nehmen Sie bitte zur Kenntnis, dass es sowohl NEN]: Sie war gar nicht da!) hier als auch im Umweltausschuss keinerlei Beschimp- Ich habe nämlich mit Absicht nicht von der Landwirt- fung und Diskreditierung der Landwirte von meiner Seite schaft gesprochen. gegeben hat. (Ulrich Heinrich [FDP]: Von der schlechten (Birgit Homburger [FDP]: Doch!) fachlichen Praxis haben Sie gesprochen!) Im Umweltausschuss habe ich gesagt – das dürfte auch Ich habe mit Absicht von denjenigen gesprochen, die eine Ihnen, wenn Sie sich mit Naturschutz wirklich beschäfti- schlechte fachliche Praxis betreiben. Ich kenne sehr viele gen würden, bekannt sein –, Landwirte – übrigens auch konventionell wirtschaftende Landwirte –, die es leid sind, von bestimmten Funk- (Zuruf von der FDP: Der Minister hat die Bau- tionären und Interessenvertretern unentwegt für die Be- ern beschimpft!) seitigung der Umweltschäden in Anspruch genommen zu dass es durch Ihre Politik und die Industrialisierung der werden, die andere, in der Regel industriell wirtschaf- Landwirtschaft in den letzten Jahrzehnten zu einem Ar- tende, gewerbliche Agrarbetriebe angerichtet haben. Das tenschwund in unserer Kulturlandschaft und in der Land- ist das Problem, über das wir hier reden. schaft allgemein – das ist nachgewiesen – gekommen ist, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN der seinesgleichen sucht. Das sollten auch Sie wissen. Es und bei der SPD) ist nun einmal so, dass es auch durch die Industrialisie- rung der Landwirtschaft zur Vergiftung von Wasser und Dieses Naturschutzgesetz gibt dem Landwirt, der seine Boden sowie zum Artenrückgang gekommen ist. Säume erhält, der sich darum kümmert, dass auch weiter- hin Hecken vorhanden sind, viele Möglichkeiten. Es Es trifft überhaupt nicht zu, dass wir – so, wie Sie es sa- streicht in diesem Bereich sogar Regulierungen, die es in gen – Bauernschelte betreiben. Sie bauen hier einen Popanz dem alten Gesetz gegeben hat, und eröffnet die Möglich- auf. Es gibt heute schon sehr viele Bauern, die eingesehen keit für den Vertragsnaturschutz. haben, dass man gegen die Natur nicht wirtschaften kann. Eines stellen wir damit aber auch klar: Die Agrarfabrik, (Birgit Homburger [FDP]: Machen sie auch die über Jahre hinweg Flüsse begradigt und bis an den nicht! Das haben sie auch die ganze Zeit, nicht Bach heran gewirtschaftet hat, erst seit den Grünen, nicht gemacht!) (Heinrich-Wilhelm Ronsöhr [CDU/CSU]: Wo- Diese bestärken uns in unseren Bemühungen bezüglich (B) von reden Sie eigentlich?) dieses Naturschutzgesetzes, weil wir mit diesem Gesetz (D) und einer neu definierten guten fachlichen Praxis auch die wird nicht beanspruchen können, dass die Wiederherstel- Lebensgrundlage für die Landwirte sichern. Seien Sie lung einer guten fachlichen Praxis mit Steuergeldern ge- sich dessen einmal bewusst! schieht. Die Rückkehr zur guten fachlichen Praxis ist nämlich eine Selbstverständlichkeit. Schönen Dank. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Zuruf von der CDU/CSU: Er und bei der SPD) redet sich um Kopf und Kragen!) (Abg. Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU] meldet Meine letzte Bemerkung betrifft den Naturschutz in sich zu Wort) diesem Land: Es war diese Regierung, die gegen wütende Proteste – schauen Sie sich beispielsweise die Vorgehens- Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters: Ich lasse weise in Brandenburg an – dafür Sorge getragen hat, dass jetzt keine Kurzinterventionen mehr zu, das Tafelsilber der deutschen Einheit – damit habe ich Klaus Töpfer zitiert – nicht irgendwelchen Privatiers zur (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sehr Nutzung überlassen, sondern den Ländern und den Na- gut!) turschutzverbänden zurückgegeben wurde, um diesen möchte aber die Parlamentarischen Geschäftsführer da- einmaligen Schatz der Natur zu erhalten. rauf hinweisen, dass wir uns darauf verständigt haben, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dass Mitglieder der Bundesregierung nicht am Schluss ei- und bei der SPD) ner Debatte das Wort ergreifen. Ich sage nur ganz schlicht: Wer damals dagegen war (Dr. Peter Paziorek [CDU/CSU]: Das ist genau und heute noch dagegen ist, der soll mich gefälligst nicht das Problem! Jetzt kann ich nicht darauf ant- über Naturschutz belehren. worten!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Es ist das Problem jedes amtierenden Präsidenten, dass und bei der SPD) dann die Gefahr besteht, dass sich die Debatte verlängert. (Zuruf von der CDU/CSU: Welches parlamenta- Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters: Zu einer rische Verhalten kann man von den Grünen schon weiteren Erwiderung auf die Kurzintervention gebe ich verlangen? – Gegenruf des Abg. Wilhelm der Kollegin Sylvia Voß das Wort. Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist unglaublich!) 19706 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001

Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters (A) Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstim- a) Überweisungen im vereinfachten Verfahren (C) mung über die von den Fraktionen der SPD und des Erste Beratung des von der Bundesregierung einge- Bündnisses 90/Die Grünen sowie der Bundesregierung brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung eingebrachten Gesetzentwürfe zur Neuregelung des des diagnoseorientierten Fallpauschalensystems für Rechts des Naturschutzes und der Landschaftspflege und Krankenhäuser (Fallpauschalengesetz – FPG) zur Anpassung anderer Rechtsvorschriften, Drucksachen 14/6378 und 14/6878. – Drucksache 14/7421 – Überweisungsvorschlag: Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktor- Ausschuss für Gesundheit (f) sicherheit empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfeh- Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung lung auf Drucksache 14/7469, die genannten Gesetzent- Verteidigungsausschuss Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen- würfe als Gesetz zur Neuregelung des Rechts des abschätzung Naturschutzes und der Landschaftspflege und zur Anpas- sung anderer Rechtsvorschriften in der Ausschussfassung b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung des in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Pflanzenschutzgesetzes Handzeichen. – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Der Ge- setzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stim- – Drucksache 14/6753 – men von SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Überweisungsvorschlag: Stimmen von CDU/CSU und FDP bei Enthaltung der Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft (f) PDS angenommen. Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Wir kommen zur c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- dritten Beratung gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über den und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Schutz von zugangskontrollierten Diensten und Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer von Zugangskontrolldiensten (Zugangskontroll- stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf diensteschutz-Gesetz – ZKDSG) ist in dritter Beratung mit dem gleichen Stimmergebnis – Drucksache 14/7229 – wie in der zweiten Beratung angenommen. Überweisungsvorschlag: (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Innenausschuss DIE GRÜNEN – Albert Schmidt [Hitzhofen] (Federführung offen) (B) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So werden wir Ausschuss für Kultur und Medien (D) weitermachen! – Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Ein schönes rot-grünes Projekt!) d) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung Wir kommen zur Abstimmung über die Ent- des Gesetzes vom 20. Mai 1997 zur Revision des schließungsanträge. Wer stimmt für den Entschließungs- Übereinkommens vom 20. März 1958 über die antrag der Fraktion der CDU/CSU auf Drucksa- Annahme einheitlicher Bedingungen für die che 14/7492? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Genehmigung der Ausrüstungsgegenstände Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen von SPD, und Teile von Kraftfahrzeugen und über die ge- Bündnis 90/Die Grünen und PDS gegen die Stimmen von genseitige Anerkennung der Genehmigung CDU/CSU und FDP abgelehnt. – Drucksache 14/7245 – Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion Überweisungsvorschlag: der FDP auf Drucksache 14/7491? – Gegenprobe! – Ent- Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen haltungen? – Der Entschließungsantrag ist mit der gleichen Mehrheit wie bei der vorherigen Abstimmung abgelehnt. e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion der Flach, Cornelia Pieper, Birgit Homburger, weiterer PDS zur Neuordnung des Naturschutzes und der Land- Abgeordneter und der Fraktion der FDP schaftspflege auf Drucksache 14/5766: Der Ausschuss für Vorlage eines nationalen Bildungsberichtes Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt – Druksache 14/7078 – unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa- che 14/7469, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen- diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, abschätzung (f) um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthal- Finanzausschuss tungen? – Der Gesetzentwurf ist mit den Stimmen des Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Hauses gegen die Stimmen der PDS in zweiter Beratung abgelehnt. Danach entfällt nach unserer Geschäftsord- f) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre- nung die weitere Beratung. gierung Bericht zur technologischen Leistungsfähigkeit Ich rufe die Tagesordnungspunkte 27 a bis f sowie die Deutschlands 2000 und Stellungnahme der Zusatzpunkte 2 a und 2 b auf: Bundesregierung Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19707

Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters (A) – Drucksache 14/6268 – Ich rufe den Tagesordnungspunkt 28 d auf: (C) Überweisungsvorschlag: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- Ausschuss für Bildun, Forschung und Technikfolgen- gierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Ge- abschätzung (f) setzes zur Änderung des Fleischhygienegesetzes Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Kultur und Medien – Drucksache 14/7153 (neu) – Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver- ses für Verbraucherschutz, Ernährung und Land- fahren (Ergänzung zu TOP 27) wirtschaft (10. Ausschuss) a) Erste Beratung des von den Abgordneten – Drucksache 14/7467 – Alfred Hartenbach, Anni Brandt-Elsweier, Berichterstattung: Hermann Bachmaier, weiteren Abgeordneten Abgeordneter Helmut Heiderich und der Fraktion der SPD sowie der Abgeord- Wer dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zu- neten Volker Beck (Köln), Kerstin Müller stimmen möchte, den bitte ich um das Handzeichen. – Ge- (Köln); Rezzo Schlauch und der Fraktion des genprobe! – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN eingebrach- zweiter Beratung mit den Stimmen des Hauses bei Ent- ten Entwufs eines Gesetzes zur Änderung von haltung der FDP angenommen. Vorschriften über die Bewertung der Kapital- anlagen von Versicherungsunternehmen und Wir kommen zur zur Aufhebung des Diskontsatz-Überleitungs- dritten Beratung Gesetzes (Versicherungskapitalanlagen-Be- wertungsgesetz VersKapAG) und Schlussabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf zu- – Drucksache 14/7436 – stimmen möchte, den bitte ich, sich zu erheben. – Gegen- stimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist mit Überweisungsvorschlag: der gleichen Stimmenmehrheit wie in der zweiten Bera- Rechtsausschuss (f) Finanzausschuss tung angenommen. Ausschuss für Wirtschaft und Technolgie Ich rufe den Tagesordnungspunkt 28 e auf: b) Beratung des Antrags der Abgeordneten – Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio- Birgit Homburger, Marita Sehn, Ulrike Flach, nen der SPD und BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- (B) weiterer Abgeordneter und der Fraktion der NEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes (D) FDP zur Änderung des Strafrechtlichen Rehabili- Marktwirtschaftliche Reorganisation der tierungsgesetzes deutschen Abfallwirtschaft – Drucksache 14/7283 – – Drucksache 14/5676 – (Erste Beratung 198. Sitzung) Überweisungsvorschlag: – Zweite und dritte Beratung des von den Abge- Ausschuss für Umwelt, Nauturschutz und Reaktor- sicherheit (f) ordneten Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, Jörg van Innenausschuss Essen, Rainer Funke, weiteren Abgeordneten Rechtsausschuss und der Fraktion der FDP eingebrachten Ent- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie wurfs eines Gesetzes zur Änderung rehabilitie- Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung rungsrechtlicher Vorschriften (Rehabilitie- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen rungsgesetzeänderungsgesetz – RehaÄndG) Union – Drucksache 14/6189 – Ich bitte um ein bisschen Disziplin, weil wir eine Reihe (Erste Beratung 196. Sitzung) von Abstimmungen vorzunehmen haben. Beschlussempfehlung und Bericht des Rechts- Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an ausschusses (6. Ausschuss) die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Die Vorlage auf Drucksache 14/7461 soll an – Drucksache 14/7476 – dieselben Ausschüsse wie die Vorlage auf Drucksa- Berichterstattung: che 14/7421 – Tagesordnungspunkt 27 a – überwiesen Abeordnete Hans-Joachim Hacker werden. Die Vorlage auf Drucksache 14/7229 – Tages- Andrea Voßhoff ordnungspunkt 27 c – soll federführend vom Ausschuss Rainer Funke für Wirtschaft und Technologie beraten werden. Sind Sie Dr. Evelyn Kenzler damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist so be- Der Rechtsausschuss empfiehlt unter Buchstabe a sei- schlossen. ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/7476, den Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 28 d bis p. Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die Es handelt sich um eine Beschlussfassung zu Vorlagen, zu dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzei- denen keine Aussprache vorgesehen ist. chen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der 19708 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001

Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters (A) Gesetzentwurf ist mit den Stimmen des Hauses bei Ent- Berichterstattung: (C) haltung der FDP angenommen. Abgeordnete Margot von Renesse Volker Kauder Wir kommen zur Volker Beck (Köln) dritten Beratung Rainer Funke Dr. Evelyn Kenzler und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zustim- men wollen, sich zu erheben. – Gegenstimmen? – Enthal- Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus- tungen? – Der Gesetzentwurf ist mit dem gleichen schussfassung zustimmen möchten, um das Handzeichen. – Stimmenverhältnis wie in der zweiten Beratung ange- Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Absolute Ein- nommen. mütigkeit im Hause. Der Gesetzentwurf ist in zweiter Be- ratung angenommen. Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion der FDP zur Änderung rehabilitierungsrechtlicher Vorschrif- Dritte Beratung ten auf Drucksache 14/6189. Der Rechtsausschuss emp- und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zustim- fiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung, den men wollen, sich zu erheben. – Gegenprobe! – Enthaltun- Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem gen? – Der Gesetzentwurf ist einmütig angenommen. Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Gegenprobe? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in Tagesordnungspunkt 28 h: zweiter Beratung mit den Stimmen von SPD und Bünd- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- nis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der anderen Frak- gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes tionen abgelehnt. Danach entfällt die weitere Beratung. zur Änderung des Vermögenszuordnungsgeset- zes Ich rufe den Tagesordnungspunkt 28 f auf: – Drucksache 14/7035 – Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord- (Erste Beratung 192. Sitzung) neten Brunhilde Irber, Iris Gleicke, Hermann Bachmaier, weiteren Abgeordneten und der Frak- Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus- tion der SPD sowie den Abgeordneten Sylvia Voß, schusses (6. Ausschuss) Ekin Deligöz, Christa Nickels, weiteren Abgeord- – Drucksache 14/7428 – neten und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE Berichterstattung: GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes Abgeordnete Hans-Joachim Hacker zur Änderung des Gaststättengesetzes Andrea Voßhoff (B) – Drucksache 14/4937 – Hans-Christian Ströbele (D) Rainer Funke (Erste Beratung 146. Sitzung) Dr. Evelyn Kenzler Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- ses für Tourismus (21. Ausschuss) Der Rechtsausschuss empfiehlt auf Drucksa- che 14/7428, den Gesetzentwurf anzunehmen. Wer zu- – Drucksache 14/7054 – stimmen möchte, gebe das Handzeichen. – Gegenprobe! – Berichterstattung: Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Bera- Abgeordnete Brunhilde Irber tung einstimmig angenommen. Wer möchte dem Gesetzentwurf in der Ausschussfas- Dritte Beratung sung zustimmen? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun- und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zustim- gen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den men möchten, sich zu erheben. – Gegenprobe! – Enthal- Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und PDS ge- tungen? – Der Gesetzentwurf ist angenommen. gen die Stimmen von FDP und CDU/CSU angenommen. Dritte Beratung Tagesordnungspunkt 28 i: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- und Schlussabstimmung. Wer zustimmen möchte, den gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes bitte ich, sich zu erheben. – Gegenprobe! – Enthaltungen? – zur Umsetzung von Rechtsakten der Europäischen Der Gesetzentwurf ist angenommen. Gemeinschaften auf dem Gebiet der Ener- gieeinsparung bei Geräten und Kraftfahrzeugen Tagesordnungspunkt 28 g: (Energieverbrauchskennzeichnungsgesetz – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- EnVKG) gierung eingebrachten Entwuf eines Siebten Ge- – Drucksache 14/6813 – setzes zur Änderung der Pfändungsfreigrenzen (Erste Beratung 190. Sitzung) – Drucksache 14/7478 – Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- (Erste Beratung 189. Sitzung) ses für Wirtschaft und Technologie (9. Ausschuss) Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus- – Drucksache 14/7456 – schusses (6. Ausschuss) Berichterstattung: – Drucksache 14/7478 – Abgeordneter Volker Jung (Düsseldorf) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19709

Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters (A) Wer zustimmen möchte, gebe das Handzeichen. – Ge- Sammelübersicht 313 zu Petitionen (C) genprobe! – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in zwei- – Drucksache 14/7366 – ter Beratung mit den Stimmen des Hauses angenommen. Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- Dritte Beratung tungen? – Die Sammelübersicht 313 ist einstimmig ange- und Schlussabstimmung. Ich bitte die Kolleginnen und nommen. Kollegen, die zustimmen wollen, sich zu erheben. – Ge- genprobe! – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in Tagesordnungspunkt 28 n: dritter Beratung einstimmig angenommen. Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- auschusses (2. Auschuss) Tagesordnungspunkt 28 j: Sammelübersicht 314 zu Petitionen Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- – Drucksache 14/7367 – gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 12. Juli 2001 zwischen Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- der Bundesrepublik Deutschland und der hält sich? – Die Sammelübersicht 314 ist mit den Stim- Volksrepublik China über Sozialversicherung men von SPD und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der anderen Fraktionen angenommen. – Drucksache 14/7246 – Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- Tagesordnungspunkt 28 o: ses für Arbeit und Sozialordnung (11. Ausschuss) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- – Drucksache 14/7446 – auschusses (2. Ausschuss) Berichterstattung: Sammelübersicht 315 zu Petitionen Abgeordneter Walter Hoffmann (Darmstadt) – Drucksache 14/7368 – Der Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung emp- Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun- fiehlt, den Gesetzentwurf anzunehmen. Wer möchte zu- gen? – Die Sammelübersicht 315 ist mit den Stimmen des stimmen? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Hauses gegen die Stimmen von CDU/CSU angenommen. Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung angenommen. Wir kommen zur Tagesordnungspunkt 28 p: dritten Beratung Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss) (B) und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem (D) Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Ge- Sammelübersicht 316 zu Petitionen genprobe! – Enthaltungen? – Auch hier Einmütigkeit. Der – Drucksache 14/7369 – Gesetzentwurf ist angenommen. Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- Nun kommen wir zu den Beschlussempfehlungen des tungen? – Die Sammelübersicht 316 ist mit den Stimmen Petitionsausschusses. Zunächst zu Tagesordnungs- des Hauses gegen die Stimmen der PDS angenommen. punkt 28 k: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Damit rufe ich den Zusatzpunkt 3 auf: ausschusses (2. Ausschuss) Aktuelle Stunde Sammelübersicht 311 zu Petitionen auf Verlangen der Fraktion der PDS – Drucksache 14/7364 – Haltung der Bundesregierung zur beschleunig- Wer stimmt dafür? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – ten industriellen Auszehrung der neuen Bun- Bei Enthaltung der PDS und bei Zustimmung aller ande- desländer angesichts der geplanten Schließun- gen der Bombardier-Werke in Ammendorf ren Fraktionen ist die Sammelübersicht 311 angenommen. Ich eröffne die Aussprache. Für den Antragsteller gebe Tagesordnungspunkt 28 l: ich dem Kollegen Roland Claus das Wort. Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss) Roland Claus (PDS): Herr Präsident! Meine sehr ver- Sammelübersicht 312 zu Petitionen ehrten Damen und Herren! Um dies vorab zu sagen: Nie- – Drucksache 14/7365 – mand sollte auf der Wut der Waggonbauer seine politische Suppe kochen. Wer stimmt dafür? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Sammelübersicht 312 ist mit den Stimmen des Hau- (Beifall bei der PDS – Zuruf von der SPD: Sie ses bei Enthaltung der PDS angenommen. auch nicht!) Von uns wird erwartet – der Bundestag hat schon nach- Tagesordnungspunkt 28 m: gewiesen, dass er dieser Erwartung entsprechen kann –, Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- dass wir uns gemeinsam für existenzbedrohte Unter- ausschusses (2. Ausschuss) nehmen einsetzen, in diesem Falle in Halle an der Saale 19710 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001

Roland Claus (A) und in Vetschau. Die Bundespolitik ist hier zuständig, Auch sollte die Produktionszusage von 20 Prozent beim (C) weil die Bahn AG nun einmal zu 100 Prozent in Bundes- ICE 3 eingelöst werden. Die Belegschaft steht außerdem hand ist und weil die Bahn AG der Hauptauftraggeber für zur Produktion der S-Bahn für den Rhein-Neckar-Ver- die Waggonbauer ist oder – wie es in diesem Falle zu kehrsverbund bereit. Es geht also nicht darum, irgend- beklagen ist – nicht bzw. zu wenig ist. Deshalb müssen welche Wunschvorstellungen in die Wirtschaft zu trans- wir schon daran erinnern, dass die Waggonbauer noch im- portieren, sondern darum, diese konkreten Aufträge mer vergeblich auf die Beantwortung ihres Briefes auszulösen. Da kann die Bundesregierung, kann die Poli- warten, den sie dem Bundeskanzler bei dessen Osttour in tik etwas tun. diesem Sommer übergeben haben. (Beifall bei der PDS) In meinem Wahlkreis, in Halle an der Saale, ist der Wag- gonbau Halle der letzte große Arbeitgeber außerhalb des öf- Wir verschließen nicht die Augen davor, dass auch fentlichen Dienstes. Deshalb setzen auch so viele Menschen dann, wenn diese Aufträge erteilt werden, immer noch Hoffnung in die Erhaltung dieses Standortes. Das Span- eine schwierige Situation besteht, da Waggonbau Halle im nende und Wichtige hierbei ist: Wir stehen nicht vor einer Frühjahr und Sommer des nächsten Jahres eine Auftrags- unlösbaren Aufgabe. Eine Lösung ist möglich. Es geht im lücke hat. Nach meiner Kenntnis sind IG Metall und Be- Kern darum, die Auftragslage erheblich zu verbessern. triebsrat bereit, in dieser schwierigen Situation ihren Teil zur Wahrnehmung der Verantwortung beizutragen. Des- (Beifall bei der PDS – Peter Dreßen [SPD]: halb will ich Sie hier nochmals um Unterstützung bitten. Das ist aber leicht gesagt!) Lassen Sie uns gemeinsam dafür eintreten, diese Stand- – Das ist leicht gesagt. Ich werde es Ihnen aber noch orte zu erhalten, damit wir hier im Bundestag eines Tages konkret erläutern. – Leider wurde nach meiner Kenntnis mit Fug und Recht sagen können: Die neuen Länder sind in der Debatte zum gleichen Thema im Landtag von Sach- kein Jammertal für diese Republik, sondern ein Zukunfts- sen-Anhalt heute sehr viel von dieser Chance vertan, weil faktor Ost. CDU und SPD sich vorrangig in Schuldzuweisungen Vielen Dank. begeben haben. (Beifall bei der PDS) Was geschieht eigentlich, wenn ein Hersteller von Kurzstreckenflugzeugen einen Bahnproduzenten über- nimmt? Die Globalisierungsromantiker werden sagen: Die Vizepräsidentin Dr. : Das Wort hat Flieger werden ihre Liebe zur Bahn und ihr soziales Herz jetzt der Herr Staatsminister Rolf Schwanitz. entdecken und das alles wird einvernehmlich geschehen. Wir müssen ihnen an dieser Stelle sagen: Der Glaube an Rolf Schwanitz, Staatsminister beim Bundeskanzler: den Segen der Globalisierung führt nicht nur sozialpoli- (B) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Um es völ- (D) tisch in die Sackgasse. Er führt, wie wir sehen, auch zu lig klar vorab zu sagen: Die Planungen, die Bombardier wirtschaftspolitisch verhängnisvollen Entscheidungen. am Dienstag vorgestellt hat (Beifall bei der PDS) (Günter Nooke [CDU/CSU]: Am Sonnabend Deshalb ist hier in der Tat die Politik gefragt. Es gilt nicht war es in der Zeitung!) die Losung, die gerne zitiert wird, dass die Wirtschaft nur in der Wirtschaft stattfindet. Wenn wirtschaftliche Erfolge und die natürlich mit der Fusion, mit der Neustruk- anstehen, nimmt die Politik sie gerne für sich in Anspruch. turierung des Unternehmens und mit der Absicht, die Dann aber muss sie sich auch in diesem Falle des Miss- Werke in Ammendorf und Vetschau zu schließen, ein- erfolges der Verantwortung stellen. hergehen, könnten schwerste Auswirkungen in der Re- gion haben. Darauf werde ich noch zurückkommen. Ich will an dieser Stelle auf einen bislang wenig beachteten Fakt hinweisen: Im Rahmen des Antiterrorpake- Eine weitere Vorbemerkung zum Titel der Aktuellen tes, das gegenwärtig den US-amerikanischen Abgeordneten Stunde: Herr Claus, trotz Ihres auf Konsens ausgerichte- vorliegt, nimmt eine erhebliche staatliche Investförderung ten Redebeitrages ist im Titel von einer „beschleunigten für die Bahn einen enormen Platz ein. – Dass Staatsminister industriellen Auszehrung der neuen Bundesländer“ die Schwanitz gestern in Halle war, denke ich, ist ein erster Rede. Meine Damen und Herren, ich bin sehr froh – ich Schritt, um hier Verantwortung wahrzunehmen. sage das zurückhaltend –, dass in den neuen Bundeslän- dern seit mehreren Jahren das glatte Gegenteil passiert. Worin könnte die Lösung liegen? Es handelt sich beim Waggonbau Ammendorf – das muss klargestellt sein – um (Beifall bei Abgeordneten der SPD – ein sehr leistungsfähiges Unternehmen; es war bereits zu Dr. Winfried Wolf [PDS]: Da lacht der ganze DDR-Zeiten sehr leistungsfähig und ist durch Investitio- Osten! – Günter Nooke [CDU/CSU]: Seitdem nen in Höhe von über 200 Millionen DM, die in den letz- Sie regieren, ist das nicht mehr der Fall!) ten Jahren getätigt wurden, noch leistungsfähiger gewor- Dass sich Ostdeutschland in einer strukturellen Verän- den. Deshalb müssen wir uns dafür einsetzen, dass es jetzt derung weg von der Bauwirtschaft und hin zum verarbei- tatsächlich zu Auftragserteilungen kommt. Im Bereich der tenden Gewerbe befindet, ist völlig klar. Dass 1998 in Neigetechnikwaggons zum Beispiel kann ein Auftrag für Ostdeutschland zum ersten Mal nach den Abbrüchen An- mehr als 200 Waggons erteilt werden. fang der 90er-Jahre wieder mehr Menschen in der Indus- (V o r s i t z: Vizepräsidentin Dr. Antje trie als in der Bauwirtschaft gearbeitet haben – bis dahin Vollmer) war es immer umgekehrt –, ist eine gute Entwicklung. Das Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19711

Staatsminister Rolf Schwanitz (A) hängt nicht nur mit den schmerzlichen Arbeitsplatzverlus- keine Illusionen verbreitet –, dass die Entscheidung über (C) ten im Bau zusammen, sondern auch damit, dass neue die Schließung der Werke noch nicht gefallen ist. Das ist Arbeitsplätze in der Industrie entstehen. In den letzten ein wichtiger Punkt. Es sind lediglich Planungsabsichten drei Jahren erhöhte sich die Zahl der Arbeitsplätze in der von Bombardier geäußert worden. Deswegen begrüße ich Industrie um 1 bis 3 Prozent. Das ist ein guter Trend. Wir als allererstes die Initiative von Ministerpräsident können darüber streiten, dass das noch nicht reicht; in die- Reinhard Höppner, der vorgeschlagen hat, dass Experten sem Punkt sind wir wahrscheinlich nicht auseinander. zusammen mit Vertretern von Bombardier die Faktenlage Aber ich bitte doch herzlich darum, dass die Bilder nicht und die Argumentationslinien vor Ort prüfen sollen. Ich überzeichnet werden, wenn man eine solche Aktuelle möchte klar sagen: Dort, wo wir helfen können, werden Stunde seriös führen will. wir diese Prüfung unterstützen. Eine erste Bemerkung, meine Damen und Herren: Zur Viertens. Das Unternehmen argumentiert – Herr Claus Ehrenrettung von Bombardier – ich sage gleich noch et- hat es angesprochen – mit der Auslastung des Werkes. Die was zu den Standorten – muss man auch würdigen, was Frage der Auftragslage ist also alles entscheidend. Ich bin Bombardier jetzt im Hinblick auf die neuen Bundesländer mit Herrn Claus völlig einer Meinung: Wir müssen mit tut. Während es in anderen europäischen Ländern künftig der Bahn – ich werde das auch tun – in Gespräche eintre- nur noch zwei Standorte geben wird, werden es in ten, um auszuloten, ob es noch Handlungsspielräume gibt. Deutschland neun sein, fünf davon in den neuen Bundes- ländern. Dabei wird man zusehen müssen, dass die Ar- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) beitsplatzbilanz für die neuen Länder ausgeglichen sein Diese Frage kann nicht kurzfristig beantwortet werden wird. Es war ja sogar von Arbeitsplatzzuwächsen die und nur die Bahn kann sie beantworten. Aber es ist völlig Rede. Hier wird also von Bombardier ein gutes Signal an klar, dass solche Gespräche nur dann einen Sinn machen, die Adresse der neuen Ländern gegeben. wenn das Unternehmen selbst solche Gespräche will und Zweite Bemerkung: Für beide Standorte, für Vetschau, sie schließlich zu einer standortbezogenen Vergabe der aber natürlich auch für Ammendorf, vor allen Dingen für Aufträge führen. die Stadt Halle, kommen die Planungen – ich sage das, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ohne etwas zu beschönigen – aus zwei Gründen einer re- DIE GRÜNEN) gionalen Katastrophe gleich. Zum einen ist Halle seit den Wegbrüchen und strukturellen Aderlässen im industriel- Denn Auftragnehmer sind nicht die Werke in Ammendorf len Bereich, vor allem in der chemischen Industrie, An- oder in Vetschau. Auftragnehmer sind vielmehr ein Kon- fang der 90er-Jahre eine geschundene Region. Zum ande- sortium und auch Bombardier selber. Es liegt gar nicht in ren – Herr Claus, hier sind wir in der Bewertung nicht deren Handlungsoption, einen entsprechenden Auftrag an (B) (D) auseinander – hat das Werk in Ammendorf in den letzten einen bestimmten Standort zu vergeben. Deswegen richte Jahren einen schweren, aber erfolgreichen Weg zurückge- ich meinen Appell an den Eigentümer, sich den Hin- legt. Heute weist es eine Toptechnologie und hervorra- weisen auf strukturpolitische Verwerfungen solcher gend qualifizierte und motivierte Mitarbeiter auf. Die Pro- Entscheidungen, wie sie jetzt anstehen, nicht zu ver- duktivität in diesem Werk kann dem Vergleich mit jedem schließen, über die Konsequenzen und auch darüber zu re- anderen Werk standhalten. den, welche Veränderungen an der Planung gegebenen- Meine Damen und Herren, die regionalen Auswirkun- falls die logische Konsequenz sein müssen. gen sind mehr als schwer. Man kann erwarten – auch ich Zum Abschluss appelliere ich – Herr Claus, ich nehme erwarte dies –, dass sich das Unternehmen in konstruktive das gern auf – auch an uns selbst. Gespräche über diese regionalen Auswirkungen einlässt. ( [CDU/CSU]: Das müssen Sie (Beifall bei der SPD) auch tun, weil die Regierungsbank leer ist! Un- Deswegen bin ich nicht Ihrer Auffassung, Herr Nooke; ich verschämtheit! – Roland Claus [PDS]: Wo ist habe Ihre Pressemitteilung vom 13. November gelesen, in denn Herr Bodewig?) der Sie sich bedauernd über die Schließungsabsicht Denn alle, die hier sprechen und handeln, müssen ihre äußern, woraufhin der schlanke Satz kommt: eigenen Worte und Taten daraufhin prüfen, ob es ihnen um Jetzt gilt es umso mehr, die Wettbewerbsfähigkeit Bewegung in der Sache oder nur um die eigene kleine der noch vorhandenen anderen Unternehmensstand- parteipolitische Münze geht. Letzteres würde weder den orte in Ostdeutschland zu stärken. Arbeitnehmern noch den Standorten in Ammendorf oder Vetschau ein Gramm nützen. Das ist ein wichtiger Appell Das Signal eines solchen Satzes ist völlig klar: Das ist die an uns selbst. Aufgabe dieser beiden Standorte. Das aber ist nicht das Gebot der Stunde. Schönen Dank. (Ulf Fink [CDU/CSU]: Was macht denn die (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Bundesregierung! – Zuruf von der CDU/CSU: DIE GRÜNEN – Ulf Fink [CDU/CSU]: Ganz Was machen Sie denn dagegen?) schön mager, Herr Schwanitz!) Drittens. Ich möchte etwas dazu sagen, was man tun kann, welche Möglichkeiten die politische Ebene hat zu Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat handeln. Es ist völlig klar – darüber hat auch Herr Claus jetzt der Abgeordnete Günter Nooke. 19712 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001

(A) Günter Nooke (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsi- Dass Bombardier aus Gründen der Wettbewerbsfähig- (C) dentin! Verehrte Damen und Herren! Das Schließen des keit all seine Fertigungsstätten in Europa neu ausrichten Standortes Ammendorf wäre ein Rückschlag für den Auf- wollte, ist seit langem bekannt. Ich verstehe auch, dass bau Ost, und zwar industriepolitisch, arbeitsmarktpoli- Neuausrichtung und betriebliche Optimierung zusam- tisch und psychologisch. Er wäre eine weitere Quittung mengehören. für das Nichtstun bei der Chefsache Aufbau Ost und eine Bombardier hatte vor einiger Zeit zum Beispiel die Re- schlimme Quittung für die Bundesregierung sowie für die duzierung seiner Kapazitäten in der Schweiz vor. Offen- sachsen-anhaltinische Landesregierung. sichtlich gab es kein Tabu, darüber nachzudenken. Dem (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Vernehmen nach wurden diese Überlegungen aber nicht Widerspruch bei der SPD) weiter verfolgt, weil es politische Unterstützung für den Standort in der Schweiz gab. Herr Schwanitz, wenn Sie Mut gehabt hätten, dann wären Sie schon Dienstagabend zu der Belegschaftsver- (Ulf Fink [CDU/CSU]: Genauso war es!) sammlung der 700 von der Schließung des Werkes Be- Die Arbeitslosenquote beträgt dort 2 Prozent. troffenen gefahren und hätten nicht erst Mittwoch die kleine Runde besucht. Ich erinnere auch an den Kampf für den Standort Kassel. Dort werden Lokomotiven gebaut. Auch dort gab (Christel Riemann-Hanewinckel [SPD]: Das es breite politische Unterstützung, um den Standort zu si- war keine kleine Runde, Herr Nooke! Da irren chern. Sie sich!) (Zuruf von der SPD: Nehmen Sie mal die Ihre Reaktionszeiten sind unzureichend. Hand aus der Tasche!) Dass ausgerechnet die PDS – das muss ich natürlich Die Bundesregierung und die Landesregierung von auch sagen – diese Aktuelle Stunde beantragt hat, ist sehr Sachsen-Anhalt könnten sich doch einmal ein Beispiel interessant, an der Einsatzbereitschaft des damaligen hessischen (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Warum Ministerpräsidenten und Wahlkreisabgeordneten Hans haben Sie sie nicht beantragt?) Eichel nehmen. bestimmt doch die PDS im Bundesland Sachsen-Anhalt (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- die Wirtschaftspolitik und damit quasi auch die Standort- neten der FDP) politik mit – den Vorwurf müssen Sie sich schon gefallen Wenn nun Bombardier seine Fertigung neu strukturiert lassen –, eine Wirtschafts- und Standortpolitik, die die (B) und im Rahmen dessen den Standort Ammendorf schließt, (D) höchste Abwanderungsrate Ostdeutschlands, die gerings- dann stellt sich für uns doch die Frage, ob sich in diesem te Selbstständigenquote und einen beängstigenden Nega- Fall die Bundesregierung und die sachsen-anhaltinische tivsaldo bei den Gewerbean- und Gewerbeabmeldungen Landesregierung überhaupt in ausreichendem Maß ge- aufweist. Seit Beginn dieses Jahres ist sogar das kümmert haben. Nach dem, was ich weiß, sage ich ganz Wirtschaftswachstum rückläufig. Es wies im ersten Halb- klar: nein. jahr ein Minus von 1,8 Prozent auf. Schlechtere Wachs- tumszahlen hat nur noch das rot-rot regierte Mecklen- (Zuruf von der CDU/CSU: So ist das!) burg-Vorpommern. Die Aufklärung, die ich gefordert habe, haben Sie nicht Worum geht es bei dem in Rede stehenden ostdeut- gegeben, Herr Schwanitz. schen Standort Ammendorf, wie auch bei den anderen ost- Die schlechte gesamtwirtschaftliche Lage schlägt auf deutschen Standorten Vetschau, Hennigsdorf, Bautzen, die noch weitgehend fragilen Wirtschaftsstrukturen im Görlitz und Berlin-Marzahn? Bei fast allen Standorten Osten voll durch. Wir müssen um jeden Arbeitsplatz und handelt es sich um langjährige Standorte des Schie- um jeden Betrieb kämpfen. Was Sie hier vorgetragen ha- nenfahrzeugbaus in Deutschland, die eine Tradition von ben, war aber eher ruhig und wenig engagiert, wie wir das 100 bis 150 Jahren aufweisen, Standorte, die wegen ihrer von Ihnen kennen. Tradition und der hohen fachlichen Kompetenz der Be- schäftigten international einen Namen haben. Nach dem (Siegfried Scheffler [SPD]: Das hätten Sie mal Zusammenbruch der DDR sind diese Standorte mit hohen seit 1992 machen müssen, Herr Nooke! Wo wa- Investitionen und vielen Millionen Fördermitteln, mit viel ren Sie denn da?) Engagement und Elan der Mitarbeiter und der Region so- Diesen Kampf um jeden Arbeitsplatz und um jeden Stand- wie auch durch Personalabbau nach marktwirtschaftli- ort hat die Bundesregierung und hat auch die sachsen- chen Erfordernissen ausgerichtet und wettbewerbsfähig anhaltinische Landesregierung nicht aufgenommen. gemacht worden. Eine gute Auslastung der Betriebe auch heute noch ist ein Beleg für die Wettbewerbsfähigkeit der Auch wenn es um wesentliche Fragen ostdeutscher Produkte. Der Schienenfahrzeugbau ist die einzige Bran- Wirtschaftspolitik geht, kümmert sich diese Regierung che, deren Produktionsschwerpunkt noch – so muss ich meines Erachtens nicht. Manchmal ist die Naivität – so wohl leider sagen – in Ostdeutschland liegt. Dabei handelt muss ich sagen –, mit der agiert wird, sogar beängstigend. es sich um hoch qualifizierten Metallbau und zum Teil so- Ich nenne nur die Vergabe des Auftrags für fast 100 Mil- gar um Hochtechnologie. lionen DM für Straßenbahnen in Halle. Da hat man gar Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19713

Günter Nooke (A) nichts weiter besprochen, was die Arbeitsplätze der Re- es spezielle Probleme mit Überkapazitäten; wir wissen (C) gion betrifft. auch, von welcher Seite die geschaffen wurden –, ein Wachstum von 2,5 Prozent gibt. (Christel Riemann-Hanewinckel [SPD]: Was Sie erzählt haben, ist geradezu dummes (Manfred Grund [CDU/CSU]: Das ist aber Zeug!) toll!) – Fragen Sie mal Frau Häußler! Das kann ja wohl keine industrielle Auszehrung sein. Es geht doch darum, sich zur rechten Zeit und im Vor- (Manfred Grund [CDU/CSU]: 2,5 Prozent!) feld einzusetzen. Auch bei Ihnen, Herr Ministerpräsident Wenn Sie die Globalisierungsromantiker angreifen, die Höppner, habe ich aber den Eindruck, dass Sie überhaupt bei Bombardier ihre Weltpläne schmieden, dann frage ich erst begriffen haben, worum es geht, als die Entscheidun- Sie bei der Gelegenheit: Sind die Kollegen Kutzmutz und gen schon öffentlich wurden. Und dann nehmen Sie aus Jüttemann auch Globalisierungsromantiker, da sie im parteitaktischen Gründen – Herr Schwanitz hat es ange- letzten Jahr in Montreal bei der Firma Bombardier waren sprochen – nicht einmal die Unterstützungsangebote der und sich dort erkundigt haben? CDU an, wie sie zum Beispiel vom ehemaligen Bahnchef Ludewig gemacht wurden. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Hört! Hört!) So kann man den Aufbau Ost nicht voranbringen. Das geht auch nicht mit ruhiger Hand, sondern nur mit „Ärmel Ich habe mir, Herr Kollege Kutzmutz, das aufschlussrei- hochkrempeln“. che Protokoll von dieser Reise noch einmal angeguckt. (Dr. Uwe Küster [SPD]: Arbeiten Sei doch mal (Roland Claus [PDS]: Ein schlagender Be- mit beiden Händen und nicht nur mit einer in Ih- weis!) rer Hosentasche! – Weiterer Zuruf von der SPD: – Sie müssen bei einer solchen Aktuellen Stunde viel- Nehmen Sie erst einmal Ihre Hand aus der Ta- leicht auch einmal zuhören. sche!) Der stellvertretende Generaldirektor von Bombardier Das Einzige, was jetzt zählt, ist, dass die Entscheidung Transportation, Jean-Pierre Goyer, hat Ihnen gesagt, dass für oder gegen Ammendorf in den Konzerngremien noch die Firma im Moment große Schwierigkeiten hat, weil nicht gefallen ist. Herr Schwanitz, Sie haben Recht, Sie sich die Märkte in Osteuropa und in Europa insgesamt haben noch alle Chancen. Ziehen Sie das Sakko aus, nicht so entwickelt haben, wie man das erhofft hatte, dass krempeln Sie die Ärmel hoch, dann machen wir es ge- das mit großen, schmerzhaften Umstrukturierungen ver- meinsam! bunden sein wird, die auch auf uns in Deutschland zu- (B) (D) Danke. kommen werden, dass die Auftragslage zwar im Moment nicht so günstig ist, man aber mittelfristig mit relativ (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) günstigen Aussichten für den Schienenfahrzeugbau rech- net. Sie haben das alles gewusst oder Sie hätten das wis- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat sen können. Ich frage Sie: Wo sind denn Ihre Vorschläge jetzt der Abgeordnete Werner Schulz. gewesen? Wo war Ihre Reaktion im Vorfeld? Wo haben Sie etwas getan? Werner Schulz (Leipzig) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Zuruf des Abg. Rolf Kutzmutz [PDS]) NEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kol- Sie greifen die Bundesregierung an. Nun muss ich sa- lege Claus, Sie haben mit einem vernünftigen Satz be- gen: Die Regierung hat nicht mehr wie zu Zeiten von gonnen. Sie haben nämlich gesagt, dass es nicht an- Günter Mittag die Möglichkeit, in den VEB Schienen- gebracht ist, auf dem Rücken der Kollegen in Ammendorf fahrzeugbaukombinat einzugreifen. und Vetschau ein politisches Süppchen zu kochen. Dabei muss ich aber sagen, dass dieses Bild ein bisschen schief (Widerspruch bei der PDS) ist, weil das ja gar nicht geht. Sie haben eine Vorstellung von Wirtschaftspolitik, von der (Christel Riemann-Hanewinckel [SPD]: Das ich sagen muss, dass sie einfach nicht realistisch ist. Es stimmt!) sind hier unternehmerische Entscheidungen getroffen worden, die sehr schmerzhaft sind. Die Wortwahl im Titel der von Ihnen beantragten Ak- tuellen Stunde „beschleunigte industrielle Auszehrung Im Übrigen hat Bombardier im Gespräch mit Bundes- der neuen Bundesländer“ unterstellt, dass wir dort eine wirtschaftsminister Müller von Anfang an zugesichert, industrielle Auszehrung haben. dass die Arbeitsplatzverschiebung – man kann noch nicht einmal von Arbeitsplatzabbau sprechen – sozial verträg- (Dr. Winfried Wolf [PDS]: Haben wir doch!) lich stattfinden wird. Man rechnet sogar mit einer Er- Wenn Sie sich zu dem Problem Ammendorf einmal an das höhung der Zahl der Arbeitsplätze in Ostdeutschland und in der Nähe gelegene Institut für Wirtschaftsforschung in Deutschland insgesamt. Die Arbeitsplätze werden le- Halle wendeten und mit dem sehr klugen und in dieser diglich an anderen Standorten konzentriert. Materie bewanderten Professor Pohl sprächen, würden Wenn Sie fragen: „Was kann die Bundesregierung Sie erfahren, dass es dort, wenn man die Bauindustrie bei tun?“, dann frage ich zurück: Was haben Sie in den letz- der Betrachtung der Konjunkturlage ausnimmt – dort gibt ten drei Jahren hier überhaupt mitbekommen? – Diese 19714 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001

Werner Schulz (Leipzig) (A) Bundesregierung hat permanent Partei für den Schienen- Cornelia Pieper (FDP): Frau Präsidentin! Meine Da- (C) verkehr und den Schienenfahrzeugbau ergriffen. men und Herren! Manche Debatten im Deutschen Bun- (Beifall bei der SPD) destag gehen nicht ohne Emotionen an einem vorbei. Wir haben das eben an den Beiträgen von Werner Schulz und Wir haben allein für die Deutsche Bahn AG für die Zeit anderen gemerkt; das geht auch an mir nicht ohne Emo- von 2001 bis 2005 tionen vorbei. (Manfred Grund [CDU/CSU]: 2 Milliarden, Auf der Zuschauertribüne sitzen heute viele Betrof- die noch umzusetzen sind!) fene – Waggonbauer –, die extra aus Halle angereist sind, ein Investitionsprogramm in Höhe von 80 Milliarden DM um sich diese Debatte anzuhören. Wir reden heute nicht vorgesehen. nur über die Zukunft einer Industrieregion, sondern auch (Manfred Grund [CDU/CSU]: 2 Milliarden an über menschliche Schicksale. Investitionen kriegt ihr nicht unter!) (Peter Dreßen [SPD]: Das sollten Sie sich ein- Über 10 Milliarden DM davon werden in die Modernisie- mal merken!) rung des gesamten Wagenparks fließen. Es handelt sich Wir reden über leistungsbereite, hoch motivierte Mitar- um umfangreiche Aufträge, die da erteilt werden. Wenn wir uns hier in Berlin mit der Freien Demokratischen Par- beiter, Frauen und Männer, die um ihren Arbeitsplatz ban- tei über die Verkehrspolitik streiten, ob etwa das Straßen- gen. Ich finde schon, dass wir uns in diesem Haus, was das bahnnetz ausgebaut werden soll, dann stehen am Ende Thema „Chefsache Aufbau Ost“ angeht, endlich einmal vielleicht Aufträge für Bombardier. Wir tun das, was eine einig sein sollten. Opposition, Bundesregierung, Landes- Regierung in einem solchen Moment überhaupt nur tun regierung, aber auch die Wirtschaft sollten im Einklang kann: Wir steigern die Nachfrage. eine Strategie entwickeln, damit es mit Industrie und Mit- (Günter Nooke [CDU/CSU]: Das hat noch kei- telstand in den neuen Ländern nicht mehr abwärts, son- ner gespürt!) dern aufwärts geht. – Dir, Günter Nooke, sage ich: Du meldest dich perma- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) nent und hast offensichtlich alles ausgeblendet. Wir haben Kollege Schulz, die Bundesregierung hat eine Ver- die Chefsache Ost nicht beim Stande null übernommen, pflichtung, sich darum zu kümmern, dass sich Bombardier um dir das einmal deutlich zu sagen. aus Halle an der Saale und aus Vetschau nicht zurückzieht. (Beifall bei der SPD – Manfred Grund [CDU/ Auch im Falle Holzmann hat sich der Bundeskanzler in die CSU]: Was ist denn hinzugekommen?) Unternehmensbelange sehr stark eingemischt. Vielmehr war die Privatisierung der Deutschen Wag- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (B) gonbau ein Beispiel für eine Privatisierungspolitik, die der CDU/CSU – Widerspruch bei der SPD und (D) völlig daneben gegangen ist. dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Manfred Grund [CDU/CSU]: Was ist Neues Ist denn die Zukunft von Halle-Ammendorf oder von Vet- hinzugekommen? Nichts!) schau weniger wert? – Nein! An diesem Punkt sind die Wir können in einer gewissen Weise froh sein, dass ein Chefsache Aufbau Ost und das politische Mitspracherecht Unternehmen wie Bombardier hier eingestiegen ist, mo- gefordert. dernisiert und investiert hat. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Manfred Grund [CDU/CSU]: Was ist dazuge- der CDU/CSU – Zuruf von der CDU/CSU: Wo kommen? Was ist zum Stande null hinzuge- ist Schröder?) kommen? Nichts!) Wenn es darum geht, dass wir alle um diesen Standort rin- In Richtung der PDS-Fraktion sage ich, ungeachtet ih- gen, sage ich: Da müssen sich alle zusammentun. – Das rer Motive für die Beantragung dieser Aktuellen Stunde: tut der Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt. Ich wäre Ich finde es gut, dass wir die Debatte über die Zukunft der dankbar, wenn der Ministerpräsident von Sachsen einmal Waggonbaustandorte Halle-Ammendorf und Vetschau den lächerlichen Streit aufgeben könnte, wo denn die mo- heute im Deutschen Bundestag führen; dernen S-Bahn-Wagen gebaut werden, die zwischen Leip- (Beifall bei Abgeordneten der PDS) zig und Halle fahren sollen. (Siegfried Scheffler [SPD]: Wegen der Tritt- denn das gibt uns die Gelegenheit, nicht nur über einen bretthöhe!) hervorragenden Industriestandort mit einer 175-jährigen Tradition, sondern auch über die tatsächliche Situation in Man könnte also durchaus konkrete Beiträge liefern. Viel- den neuen Ländern zu sprechen. leicht könnte man das einmal in den Reihen der CDU klären. (Siegfried Scheffler [SPD]: Wir müssen über Wir tun das äußerst Mögliche. Mit billiger Rhetorik, die Schienenfahrzeugindustrie insgesamt spre- Kollege Claus – um Ihnen das noch einmal zu sagen –, ist das nicht zu schaffen, auch auf diesem Gebiet nicht. chen und nicht nur über einzelne Standorte!) (Beifall bei der SPD – Roland Claus [PDS]: Mitteldeutschland mit seinem Herzen Halle-Leipzig Billige Rhetorik haben Sie doch gebracht!) gehörte immer zu einer aufstrebenden, erfolgreichen In- dustrieregion im Hinblick auf den Schwermaschinen- bau und die Chemieindustrie. Seit der Wende haben Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat durch den Strukturwandel allein in der Chemieindustrie jetzt die Frau Kollegin Cornelia Pieper. 100 000 Menschen ihren Arbeitsplatz verloren. Großin- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19715

Cornelia Pieper (A) vestitionen der Chemieindustrie, wie die von Elf Aqui- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Frau Kollegin, (C) taine, Dow Chemical oder Bayer-Bitterfeld – Sie alle denken Sie daran, dass Sie in der Aktuellen Stunde nur kennen sie –, vom Anfang der 90er-Jahre haben zum fünf Minuten sprechen können. Überleben dieser Industrieregion beigetragen. Allein auf dem Industriegelände Leuna-Merseburg sind einschließ- Cornelia Pieper (FDP): – Frau Präsidentin, ich lich derer bei der Zulieferindustrie circa 13 000 neue komme gleich zum Ende meiner Rede –, dass Bombardier Arbeitsplätze entstanden – und das ist gut so! Überkapazitäten abbauen muss. Von elf Standorten sollen (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten neun übrig bleiben. Ich frage mich nur, warum ausge- der CDU/CSU) rechnet die Standorte in den neuen Bundesländern abge- baut werden müssen. Das muss verhindert werden, meine Ich sage Ihnen aber auch: Die Standortentscheidungen Damen und Herren. der Chemieindustrie sind vor allem von einem aktiven Werben der damaligen Bundesregierung für den Standort (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie neue Bundesländer begleitet worden. bei Abgeordneten der PDS) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Auch die Landesregierung ist hier in die Pflicht zu neh- der CDU/CSU) men. Der Ministerpräsident wird dazu reden. Ich wundere mich nur, dass die Landesregierung im Gegensatz zum Ohne die damalige Offensive für die Ansiedlung der In- Land Brandenburg so lange gewartet hat, ehe sie handelt. dustrie in den strukturschwachen neuen Bundesländern wäre diese Entscheidung nicht so ausgefallen. Deswegen (Christel Riemann-Hanewinckel [SPD]: Sie ist es so wichtig, dass wir darüber im Deutschen Bundes- sind schlecht informiert, Frau Pieper! – tag sprechen und die Bundesregierung auffordern, unse- Dr. Uwe Küster [SPD]: Sie reden viel und sagen ren Vorschlägen zu folgen. nichts, Frau Pieper!) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Ich sage dazu: Wir können nur alles daran setzen, dass der CDU/CSU) Ammendorf eine Zukunft hat. Waggonbau Ammendorf darf nicht geschlossen werden. Ich werde nicht müde, dem Bundeskanzler das zu sa- gen. Übrigens, ich habe ihm in der Sache Waggonbau Halle-Ammendorf persönlich geschrieben. Das war vor Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Frau Kollegin, über einem Jahr, nämlich im September des vergangenen es ist jetzt wirklich über die Zeit. Wir müssen schon auf Jahres. Ich will hier festhalten: Ich habe keine Antwort die Redezeitbegrenzung achten. (B) bekommen. Ich wundere mich schon, sehr geehrter Herr (D) Schwanitz – Sie mögen sich in der Sache zwar engagie- Cornelia Pieper (FDP): Dieses Thema sollte uns ei- ren –, dass die Regierungsbank ausgerechnet bei einem nen, nicht entzweien. solchen Thema wieder total leer ist. Vielen Dank. (Beifall bei der FDP und der PDS sowie bei Ab- geordneten der CDU/CSU – Wilhelm Schmidt (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten [Salzgitter] [SPD]: Das ist doch so billig, Frau der CDU/CSU) Pieper!) Ist das Ihre Chefsache Aufbau Ost? Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Christel Riemann-Hanewinckel. Es wurde schon darauf hingewiesen, dass die Bombar- dier-Werke in Halle-Ammendorf zu den modernsten Un- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Erst Mi- ternehmen für Waggonbau in Europa gehören; deswegen nisterpräsident Höppner!) muss Halle-Ammendorf eine Zukunft haben. 1993 ist es – Ich höre gerade, dass das geändert worden ist. Ent- gelungen, die Jahrzehnte andauernde Monostruktur zu schuldigung! Dann spricht jetzt erst der Ministerpräsident überwinden, die Einseitigkeit des Waggonbauens für das des Landes Sachsen-Anhalt, Reinhard Höppner. riesige russische Reich zu durchbrechen und durch eine Palette moderner Schienenfahrzeuge zu ersetzen, zum (Günter Nooke [CDU/CSU]: Wir hätten aber Beispiel durch den Bau des ICE. Es wäre doch wirklich gern die Meinung der Fraktion gehört! Die eine Ironie des Schicksals, wenn dieser Betrieb jetzt we- trauen sich nicht!) gen der schlechten Auftragslage geschlossen würde. Es geht nicht nur um die fast 1 000 Arbeitsplätze im Unter- Dr. Reinhard Höppner, Ministerpräsident (Sachsen- nehmen, sondern auch um all die Arbeitsplätze beim Anhalt): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen Handwerk und bei der Zulieferindustrie, die von den und Herren! Lassen Sie mich zu dieser Aktuellen Stunde Bombardier-Werken abhängen. von mir aus – als einer, der gerade von einer aktuellen De- batte zu diesem Thema im Landtag von Sachsen-Anhalt Der Waggonbau Halle-Ammendorf ist der letzte große kommt – acht Punkte beitragen. Industriebetrieb in der größten Stadt Sachsen-Anhalts. In dieser Stadt liegt die Arbeitslosigkeit bei rund 20 Prozent. Erstens. Bei dem Standort Ammendorf handelt es sich In Vetschau sind die Probleme nicht anders. Zur Wahrheit nicht um irgendein Unternehmen, sondern es handelt sich gehört, wie hier schon gesagt wurde, aber auch – um eines der modernsten Werke im Schienenfahrzeugbau 19716 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001

Ministerpräsident Dr. Reinhard Höppner (A) innerhalb Europas. Es handelt sich um ein Unternehmen Viertens. Dieser Standort ist – das richtet sich nun auch (C) mit hervorragend ausgebildeten Arbeitskräften, die hoch an das Unternehmen – in den letzten Jahren mit erhebli- motiviert arbeiten und die übrigens auch bereit wären, in chen öffentlichen Mitteln gefördert worden. diesem Zusammenhang Opfer zu bringen, gerade für die (Günter Nooke [CDU/CSU]: Das haben wir kritische Zeit des Jahres 2002, das vor uns liegt. Ich finde, auch schon gehabt!) das ist eine Leistung, die deutlich macht, wie engagiert die Belegschaft um ihre Arbeitsplätze kämpft. Sie tut das Dabei handelt es sich nicht nur um die Investitionsförde- schon seit Jahren. rung. In den ersten Jahren wurde die Produktion an die- sem Standort – und damit dieser Standort selbst – mit rie- (Günter Nooke [CDU/CSU]: Das kann man sigen Hermes-Bürgschaften gesichert. Wenn ein von der Landesregierung nicht sagen!) Unternehmen so viel öffentliche Unterstützung erhalten Deswegen hat sie unsere Unterstützung verdient. hat, ist nach meiner Auffassung auch das Unternehmen selber verpflichtet, der Verantwortung, die daraus er- (Beifall bei der SPD) wächst, gerecht zu werden. Zweitens. Es handelt sich nicht um irgendeine Region, (Beifall bei der SPD und der PDS sowie bei Ab- sondern es handelt sich um eine Region, geordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- (Manfred Grund [CDU/CSU]: Um eine NEN) schlecht regierte Region!) Ich weiß nicht, ob dem Unternehmen das klar ist. Im Übri- in der die Umstrukturierungsprozesse der letzten zehn, elf gen möchte ich in dem Zusammenhang noch einmal for- Jahre in besonderer Härte zugeschlagen haben. Alle wissen, mal darauf hinweisen, dass die Förderung selbst eine Ar- Sachsen-Anhalt war das Land, das durch die großen Kom- beitsplatzbindung bis zum Jahre 2004 beinhaltet. Mit binate – oder, wie man heute sagen würde: Konzerne – anderen Worten: Das Unternehmen muss auch mit Rück- gezeichnet war. Wir waren das Land, das am längsten mit forderungen rechnen. Im Hinblick auf das Vertrauen zwi- Treuhandprivatisierungen zu kämpfen hatte. schen öffentlicher Hand und Unternehmen wäre es wirk- lich schlimm, wenn plötzlich solche Zusagen nicht (Günter Nooke [CDU/CSU]: Die haben das eingehalten werden. meiste Geld gekriegt!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Wir waren also das Land, das den Abbau von Arbeitsplät- DIE GRÜNEN – Günter Nooke [CDU/CSU]: zen – gewissermaßen über Nacht – in einem Umfang hin- Wann haben Sie denn einmal mit dem Unter- nehmen musste, wie das keine andere Region im Osten nehmen geredet?) (B) Deutschlands erdulden musste. (D) Fünftens. Wir haben es mit einem Unternehmen zu tun, (Beifall bei der SPD – Hartmut Büttner [Schö- das erheblich von öffentlichen Aufträgen abhängig ist. nebeck] [CDU/CSU]: Sie regieren doch schon Die öffentlichen Aufträge, die wir erteilt haben, zum Bei- acht Jahre, Herr Höppner! Was haben Sie denn spiel Straßenbahnaufträge, haben wir natürlich mit der in diesen acht Jahren gemacht? Sagen Sie doch Erwartung verbunden, dass entsprechende Aufträge auch dem deutschen Volk mal, was Sie gemacht ha- nach Ammendorf gehen. ben! Was hat denn diese Landesregierung ge- tan?) (Günter Nooke [CDU/CSU]: Das wissen wir auch!) Das heißt, wir stehen im Blick auf diese Region in einer besonderen Verantwortung. Arbeitsplatzabbau in diesen Dass die Straßenbahnen nicht in Ammendorf, sondern in Größenordnungen muss für diese Region ein Ende haben. Bautzen gebaut werden, ist eine unternehmerische Ent- scheidung, in die ich nicht hereinreden möchte. Mit der (Beifall bei der SPD – Hartmut Büttner [Schö- öffentlichen Förderung war aber die Erwartung verbun- nebeck] [CDU/CSU]: Tun Sie doch was dage- den, dass der Standort Ammendorf erhalten bleibt. An gen! Sie haben doch im Bund und im Land al- dieser Erwartungshaltung halten wir weiter fest und wer- les in einer Hand!) den sie auch zur Sprache bringen. Drittens. Es handelt sich dabei in der Tat um ein Thema (Beifall bei der SPD) der zukünftigen Entwicklung im Osten Deutschlands. Sechstens. Ich weise noch einmal darauf hin, dass es (Manfred Grund [CDU/CSU]: Das ist schön sich derzeit um Pläne und nicht um Beschlüsse handelt. gesagt! Salbungsvoll, wie bei der Synode!) Mit anderen Worten heißt das: Jetzt muss beraten werden. Das muss jedem klar sein. Ich bin außerordentlich dank- Wer hier behauptet, das Land hätte diesen Diskussions- bar dafür, dass wir auch in dieser Angelegenheit die Un- prozess nicht seit Jahren begleitet, hat sich entweder terstützung der Bundesregierung im Kampf um den Erhalt überhaupt nicht informiert oder redet wider besseres der Arbeitsplätze haben. Wissen. (Beifall bei der SPD – Hartmut Büttner [Schö- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nebeck] [CDU/CSU]: Hoffentlich bringt das DIE GRÜNEN – Günter Nooke [CDU/CSU]: endlich mal was! Das habt ihr alles in einer Ich kenne kein Spitzentreffen zwischen Ihnen Hand!) und dem Betrieb!) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19717

Ministerpräsident Dr. Reinhard Höppner (A) – Das ist ein Zeichen dafür, dass Sie, Herr Nooke, über- Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich bin außer- (C) haupt nicht informiert sind. ordentlich dankbar dafür, dass wir auch die Unterstützung der Bundesregierung haben. (Günter Nooke [CDU/CSU]: Ich habe mich sehr gut informiert!) (Manfred Grund [CDU/CSU]: Machtvolle Un- terstützung von Herrn Schwanitz! – Hartmut Am 10. Oktober bin ich mit dem Vorstand zusammenge- Büttner [Schönebeck] [CDU/CSU]: Eure kommen und habe all diese Anliegen auch dementspre- Früchte!) chend vorgetragen, um bloß einmal ein Datum aus dieser ganzen Geschichte hervorzuheben. Ich bin hoffnungsvoll, dass auch die Abgeordneten dieses Hauses die Problematik und die Herausforderung erken- Siebtens. Wir haben in der jetzigen Situation und ange- nen und dafür sorgen, dass andere Pläne verwirklicht wer- sichts der nun auf dem Tisch liegenden Pläne auch konkrete den als die, die derzeit auf dem Tisch liegen, damit das ge- Schritte vereinbart. Ich war am Montag beim Vorstands- lingt, was der Arbeitsauftrag der Arbeitsgruppe vorsitzenden Lortie gewesen. Wir haben vereinbart, dass beinhaltet, nämlich Produktion und Arbeitsplätze in Am- eine Arbeitsgruppe eingesetzt wird, die zur Aufgabe hat mendorf zu sichern. – das will ich noch einmal ganz deutlich sagen, darauf habe ich nämlich bestanden –, Produktion und Arbeitsplätze am Herzlichen Dank. Standort Ammendorf zu sichern. Mit anderen Worten: Wir (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ verhandeln – jedenfalls ist das die Grundlage, von der ich DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der ausgehe – nicht über die Schließung, sondern über die Si- PDS) cherung von Produktion und Arbeitsplätzen an diesem Standort. Das unterstreicht noch einmal, dass es sich um Pläne handelt. Ich hoffe, dass bessere Pläne auf den Tisch Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat kommen. Wir werden versuchen, dazu beizutragen, jetzt der Abgeordnete Ulrich Klinkert. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Ulrich Klinkert (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bei Bombardier handelt es sich um übrigens auch dadurch – da bin ich mir sicher –, indem in einen weltweit agierenden Konzern mit insgesamt rund diesem Zusammenhang über die Frage der Auftragslage 79 000 Mitarbeitern. In einer Pressemitteilung des und die Möglichkeiten, Aufträge von unserer Seite zu si- Unternehmens ist zu lesen, dass Bombardier kapitalinten- chern, geredet wird. sive Aktivitäten in spezialisierten Werken bündeln Achtens. Lassen Sie mich zum Schluss noch sagen: Sie möchte. Man kann dieser Mitteilung weiter entnehmen, (B) alle können sich darauf verlassen, dass die Region um dass deshalb die Reorganisation des Unternehmens vor al- (D) Halle in dieser Angelegenheit zusammensteht. Da gibt es len Dingen in Deutschland, aber auch in Schweden und ein breites Aktionsbündnis aus Bevölkerung, Gewerk- Großbritannien ansteht und dass demzufolge drei Werke schaft, Stadt und weiteren Gruppen. geschlossen werden sollen. An die Adresse der CDU/CSU gerichtet sage ich, weil Was schon nicht mehr ausdrücklich in der Pressemit- ich von Ihrer Seite heute einige Dinge im Landtag hören teilung zum Ausdruck kommt, ist die Tatsache, dass sich musste: zwei der drei zu schließenden Werke in Deutschland be- finden, dass 960 der 1100 betroffenen Mitarbeiter ihren (Manfred Grund [CDU/CSU]: Was wollen Sie Arbeitsplatz zurzeit in den neuen Bundesländern haben denn?) und dass nach aktuellen Presseberichten weitere 450 Ar- Wer an dieser Stelle Zwist untereinander anzettelt, der beitsplätze am Standort Hennigsdorf gefährdet sind. schwächt, wie auch immer er ihn inszeniert oder rechtfer- Da drängt sich schon die Frage auf, ob ausschließlich tigt, die Region und stärkt sie nicht. Rationalisierungsgründe entscheidend dafür sind, dass (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE ausgerechnet in Deutschland die Werke geschlossen und GRÜNEN und der PDS) die meisten Arbeitsplätze abgebaut werden, oder ob dies nicht ein weiterer Beweis für die ständig geringer wer- Uns muss es jetzt aber darum gehen, alle Kräfte in dieser dende Attraktivität des Wirtschaftsstandortes Deutsch- wichtigen und teilweise gestraften Region Ostdeutsch- land ist. lands zu stärken. (Werner Schulz [Leipzig] [BÜNDNIS 90/DIE (Günter Nooke [CDU/CSU]: Warum haben Sie GRÜNEN]: Ach!) denn unsere Angebote nicht angenommen?) Sie können es wenden und drehen, wie Sie wollen: Sie Was macht denn ein Unternehmen, wenn es sieht, dass werden nicht leugnen können, dass in den drei Jahren rot- man mit irgendwelchen billigen parteipolitischen Absich- grüner Wirtschaftspolitik die Wirtschaftslokomotive ten versucht, sich gegenseitig die Beine wegzuziehen? Da Deutschland zum Schlusslicht innerhalb der Europä- lacht es sich doch ins Fäustchen – Entschuldigung, wenn ischen Union geworden ist, was die wirtschaftliche Ent- ich das hier einmal so salopp sage. Deshalb sollten wir das wicklung betrifft. angesichts dieser wichtigen, Menschen und Existenzen betreffenden Frage tunlichst vermeiden. (Ulf Fink [CDU/CSU]: Ja, genau!) (Manfred Grund [CDU/CSU]: Sie regieren, Was die kommenden Monate angeht, haben Ihnen die nicht wir!) Wirtschaftsweisen gestern eine äußerst düstere Prognose 19718 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001

Ulrich Klinkert (A) vorgelegt. Den rund 1 000 Betroffenen von Bombardier Sie sollten endlich begreifen, dass die Zeit der Sonntags- (C) werden Zigtausende in die Arbeitslosigkeit folgen. Die reden vorbei ist, dass Sie an Ihren Ergebnissen gemessen Zahl der Arbeitslosen wird auf rund 4 Millionen im Jah- werden – und die sind mehr als dürftig. Sie stehen hier als resdurchschnitt ansteigen. Das heißt, in diesem Winter er- einer der erfolglosesten Ministerpräsidenten Deutsch- warten wir Zahlen, die deutlich über 4 Millionen liegen. lands. Das Wirtschaftswachstum wird magere 0,7 Prozent betra- (Hartmut Büttner [Schönebeck] [CDU/CSU]: gen. Von Aufschwung keine Spur! Spätestens jetzt müsste So ist das, leider!) eigentlich die ruhige Hand des Bundeskanzlers anfangen zu zittern. Was Herrn Schwanitz betrifft, so ist es einfach zu bil- lig – Herr Schwanitz, Sie können einem ja Leid tun, wie (Cornelia Pieper [FDP]: Genau!) Sie immer so mutterseelenallein auf der Regierungsbank Er hat zwar Aktivitäten entwickelt, aber nicht zur Verbes- sitzen –, den Anstieg der Arbeitslosigkeit lediglich mit serung seiner Wirtschaftspolitik, sondern in der Organisa- dem Rückgang der Baukonjunktur zu begründen. Von ei- tion schnellstmöglicher Neuwahlen. ner überhitzten Baukonjunktur in den neuen Bundeslän- dern, Herr Schwanitz, kann man nämlich schon lange (Dr. Ditmar Staffelt [SPD]: Ihre Unsachlich- nicht mehr reden. Wenn Sie das immer noch darauf keit ist wirklich unerträglich!) zurückführen, dann hat man den Eindruck, dass Sie einige Besonders betroffen von den Stilllegungen Bombar- Wahrnehmungsschwierigkeiten in Ihrem ureigenen Ver- diers sind wieder einmal die neuen Bundesländer; beide antwortungsbereich haben. Sie sollten sich hier nicht län- Werke, Vetschau und Ammendorf, liegen dort. Auch Hen- ger als Gesundbeter der Bundesregierung betätigen, son- nigsdorf liegt bekannterweise in den neuen Bundeslän- dern endlich konkrete Maßnahmen zur Belebung der dern. Aber Bombardier macht nur nach, was Unterneh- Wirtschaft in den neuen Bundesländern vorschlagen. mensphilosophie im Staatskonzern Deutsche Bahn ist, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) nämlich Kahlschlag Ost. Herr Schulz hat in seiner Rede den Satz geprägt: Wir (Beifall bei der CDU/CSU – Werner Schulz – also die rot-grüne Koalition –, haben die Chefsache Ost [Leipzig] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Oh!) nicht bei Null übernommen. – Das ist sicherlich richtig, Im Aufsichtsrat dieses Staatskonzerns sitzen Vertreter der Herr Schulz. Aber Sie haben sie dazu gemacht. wackligen rot-grünen Koalition, die das alles mit zu ver- Vielen Dank. antworten haben. Wenn Sie das nicht glauben: Wie be- (Beifall bei der CDU/CSU) werten Sie dann die Tatsache, dass die neuen Bundeslän- (B) der überproportional von den Schließungsplänen (D) Mehdorns betroffen sind? Herr Mehdorn unterscheidet Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat bei seinen Schließungsplänen ja nicht mehr nur nach Ost jetzt der Abgeordnete Winfried Wolf. und West, sondern in der Zwischenzeit interessanterweise auch nach Nord und Süd. Ein Beweis dafür ist, dass zum Dr. Winfried Wolf (PDS): Sehr geehrte Frau Präsi- Beispiel in Sachsen alle vier Bahnwerke mit Tausenden dentin! Werte Kolleginnen! Werte Kollegen! Als Bundes- von Mitarbeitern von der Schließung bedroht sind, was tagsabgeordneter aus Mannheim, wo sich das größte wiederum Tausende von Arbeitsplätzen bei den Zuliefe- Adtranz-Werk, jetzt Bombardier-Werk, im Westen befin- rern gefährdet. Da drängt sich schon der Verdacht auf, det, möchte ich sagen: Was wir hier bei Ammendorf und dass der Staatskonzern Deutsche Bahn die Länder bestra- Vetschau erleben, ist wahrscheinlich nur ein Teil des Pro- fen will, die wirtschaftlich am erfolgreichsten sind. Das blems. Die schlimmsten Befürchtungen, die wir als PDS sind – sowohl bei den neuen als auch bei den alten Bun- bei der Übernahme von Adtranz durch Bombardier desländern – nicht zufällig die unionsregierten Länder im geäußert haben, scheinen wahr zu werden. Ich glaube, wir Süden. müssen heute über eine Bankrotterklärung der Politik des (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Bombardier-Managements, aber auch der Verkehrspolitik des Bundes diskutieren. Dies möchte ich mit drei Punkten Ich möchte dies für die neuen Bundesländer mit weni- begründen: gen Zahlen bezüglich des Wirtschaftswachstums belegen. Wir haben in Sachsen noch ein Wirtschaftswachstum von Erstens. Es gibt kein Gesamtkonzept, in dem festgelegt 0,7 Prozent. Das ist ungefähr der Bundesdurchschnitt. wird, was mit den Arbeitsplätzen der Bahnindustrie in Herr Kollege Nooke wies darauf hin, dass in Sachsen-An- West- und in Ostdeutschland weiter passieren soll. Was halt ein Rückgang der Wirtschaftsaktivität um 1,8 Prozent jetzt angeboten wird, dass Kollegen von Vetschau nach und in Mecklenburg-Vorpommern sogar um 2,7 Prozent Siegen und von Ammendorf nach Aachen fahren sollen, um dort zu arbeiten, wird nicht angenommen werden. zu verzeichnen ist. Herr Höppner, wenn Sie diese Ent- wicklung allein auf die Probleme der Vergangenheit (Werner Schulz [Leipzig] [BÜNDNIS 90/DIE zurückführen, dann ist das dem Ernst der Lage nicht an- GRÜNEN]: Auch Bautzen und Görlitz!) gemessen. Das, was Sie heute hier geboten haben, war Vor allem kann man, so glauben wir, jetzt insgesamt auch nicht mehr als eine Sonntagsrede. schon absehen, Herr Schulz, dass im Konzern ganz kon- (Hartmut Büttner [Schönebeck] [CDU/CSU]: kret und gezielt ein viel größerer Arbeitsplatzabbau ge- So ist das!) plant ist: Man geht davon aus – Stichwort technische Ka- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19719

Dr. Winfried Wolf (A) pazität, ein Begriff des Bombardier-Managements –, dass Der Kanzler war zwar bei Holzmann fix, aber bei der (C) zukünftig in allen Bombardier-Werken im Zweischicht- Bahntechnik tut er nichts. betrieb gearbeitet werden könnte. Das bedeutet noch ein- (Frank Hempel [SPD]: Machen Sie doch mal mal einen erheblichen Arbeitsplatzabbau. Darüber hinaus einen Vorschlag! Einen einfachen Vorschlag!) konzentriert sich der Plan dessen, was abgebaut werden soll, nur auf die so genannten „industrial units“, das heißt, Morgen will der Kanzler 3 900 Arbeitsplätze ohne Zu- der Bereich der „business units“ steht noch aus. Zum Bei- kunft erpressen, während er hier 1 000 Arbeitsplätze mit spiel Henningsdorf: Die Kolleginnen und Kollegen aus Zukunft sichern könnte. Hennigsdorf, die hier anwesend sind, wissen nicht, ob der (Beifall bei der PDS) jetzige angefangene Umbau in Hennigsdorf nicht viel- leicht bedeutet – was wir hier schon einmal debattiert ha- Wir sagen deswegen als PDS, dass wir uns strikt gegen ben –, dass das Werk insgesamt gefährdet ist. Deswegen die Schließungen der Werke in Vetschau und Ammendorf sagen wir: Wir sind strikt gegen jede Art von Werks- und für den Erhalt aller Bahntechnikwerke als Option für eine nachhaltige Verkehrstechnik aussprechen. Das gilt schließung, solange kein Gesamtplan vorliegt und wir auch für Hennigsdorf, für Bautzen und für Mannheim, für keine Gesamtperspektive haben. alle Bombardier-Werke. Wir verlangen einen Gesamtplan (Beifall bei der PDS) für die gesamte Bahntechnikindustrie in Deutschland. Wir sagen, dass hier die Bundespolitik gefordert ist, dass der Zweitens. Gerade die Bahntechnik in Ostdeutschland, Verkehrsbericht 2000 von Herrn Bodewig in Bezug auf früher Mitteldeutschland, hat eine riesige Tradition. Um- die Bahntechnik unterfüttert werden muss, indem gesagt so schlimmer ist es, dass gerade hier ein Kahlschlag statt- wird, was das bedeutet. Herr Bodewig, der nicht da sein findet. Kollege Schulz und Herr Schwanitz, was Sie be- kann, und der Kanzler, der nicht da sein will, sind in die- haupten, nämlich dass in eben diesen Bereichen keine ser Frage gefordert. industrielle Auszehrung stattfinde, stimmt nicht. Seit SPD und Grüne regieren, ist kein Anstieg der Zahl der Arbeits- Danke schön. plätze im Osten und ab dem Jahr 2000 sogar ein leichter (Beifall bei der PDS) Anstieg der Arbeitslosenzahlen – und damit eine wach- sende Kluft zwischen Ost und West bei gleichzeitiger wei- terer beschleunigter Abwanderung von Ost nach West – Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Jetzt hat die Ab- geordnete Christel Riemann-Hanewinckel das Wort. zu verzeichnen. Das nenne ich eine Auszehrung, die im Osten stattfindet. Christel Riemann-Hanewinckel (SPD): Frau Präsi- (Beifall bei der PDS) (B) dentin! Kolleginnen und Kollegen! Herr Nooke und Herr (D) Drittens. Bahntechnik hat – Kollege Claus hat das schon Klinkert, Sie machen es sich wirklich sehr leicht. Ich bin gesagt – sehr viel mit Politik zu tun hat. Ich nenne nur fol- tatsächlich einmal einer Meinung mit meinem Kollegen gende Stichworte: Es gab Subventionen der Länder, auch Claus, dass es hier nicht unbedingt darum geht, sich par- von Sachsen-Anhalt zum Beispiel. Die Deutsche Bahn AG teipolitisch auseinander zu setzen. befindet sich zu 100 Prozent im Bundeseigentum. In den (Günter Nooke [CDU/CSU]: Warum machen Nahverkehr gelangen jedes Jahr Regionalisierungsgelder Sie das nicht?) in Höhe von 13 Milliarden DM. Herr Bodewig, der heute wieder einmal nicht da ist, sagt, der Personenverkehr solle – Dazu muss ich Ihnen gleich etwas sagen; hören Sie viel- um 40 Prozent gesteigert werden, der Güterverkehr um leicht erst einmal zu. Es geht überhaupt nicht anders, als 100 Prozent. Trotzdem geht Bombardier von einem Rück- dass ich auf das, was Sie hier abgeliefert haben, reagiere, gang aus. Da stellt sich die Frage: Hat Bombardier ein Miss- und zwar aus drei Gründen. management oder ist der Verkehrsminister unglaubwürdig? Punkt eins. Wenn Sie sich intensiv mit dem Thema be- Möglicherweise gilt beides. schäftigt hätten, dann wüssten Sie vielleicht, dass bis 1998 die CDU/CSU und die FDP bundesweit regiert ha- (Beifall bei der PDS) ben, und Halle gehört zur Bundesrepublik Deutschland. Man muss auch betonen, Kollege Schulz, dass gerade In der Zeit von 1990 bis 1998 ist der Arbeitsplatzab- die Bahntechnikindustrie in Gesamtdeutschland in den bau beim Waggonbau in Ammendorf von 4 900 auf letzten zehn Jahren zum Spielball des Turbokapitalismus 1 044 Arbeitsplätze vorangetrieben worden. Wenn Sie geworden ist. Bedenken Sie, wie die DWA von Advent jetzt hier lauthals fordern, dass die Bundesregierung ihre in Boston übernommen wurde, wie dann Daimler- Pflicht tut, dann kann ich das unterstützen; sie tut das Chrysler bei Adtranz einstieg, wie Bombardier Adtranz auch. Aber Sie müssen sich dann auch daran erinnern las- übernahm, dass Bombardier die Gelder primär bei sen, dass Sie offensichtlich genau dieser Pflicht nicht Regionalflugzeugen und im Finanzgeschäft verdient nachgekommen sind. und dass Bombardier ein Konzern ist, der strikt nach (Manfred Grund [CDU/CSU]: Sie haben einen Shareholder-Value-Prinzip arbeitet. Bei all dem sage gesicherten Standort übernommen, der jetzt in- ich: Gnade uns Gott, wenn Bombardier diese Politik frage steht! – Gegenruf des Abg. Dr. Uwe fortsetzen kann! Küster [SPD]: So viel dummes Gewäsch!) (Beifall bei der PDS) – Moment, ich bin noch lange nicht fertig. 19720 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001

Christel Riemann-Hanewinckel (A) Punkt zwei. 1992 hat der Waggonbau Ammendorf das Trotzdem kann ich auch den kanadischen Konzern (C) Ministerium für Wirtschaft und die Bundesregierung auf- Bombardier nicht aus der Verantwortung entlassen. Er hat gefordert, just bei diesem Standort in Forschung zu inves- es sich nämlich mit seinen Schließungsabsichten relativ tieren, weil nämlich Ammendorf dafür bekannt war, dass leicht gemacht. Denn es war dem Konzern in der Vergan- dort hervorragend produziert wurde. Vor allen Dingen genheit nicht möglich, in Ammendorf die Produktführer- aber war der Standort dafür bekannt, dass dort zu 100 Pro- schaft für ein bestimmtes Fahrzeug vorzusehen, weil das zent für die GUS-Staaten produziert wurde. Das Geld ist die CDU/CSU und die FDP verwehrt haben. ihm damals nicht zugestanden worden. Deshalb ist der Waggonbau Ammendorf noch heute ein Betrieb, der nicht (Cornelia Pieper [FDP]: Das ist doch Quatsch, für ein Produkt zuständig ist, weil ihm das verwehrt wor- Frau Riemann-Hanewinckel! Bleiben Sie doch den ist, obwohl die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bei den Tatsachen!) ihre Fähigkeiten nachgewiesen haben. Das haben Sie da- Der Standort Halle-Ammendorf – ich bin erst gestern mals nicht mit finanziert. dort gewesen – ist nicht nur ein hochmodernes Werk. Dort Punkt drei; das ist nun wirklich eine aktive Be- sind vor allem Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer be- erdigung. Wenn ich mir Ihre Pressemitteilung durchlese, schäftigt, die zu wirklich fast allem bereit sind. Diese brauchen unser aller Unterstützung, also die aller Abge- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Ja! Die ordneten, und nicht nur die der deutschen Bundesregie- entlarvt!) rung und des entsprechenden Landes. Dazu fordere ich in der steht, dass es bedauerlich sei, dass Bombardier Sie auf. zwei Standorte in Ostdeutschland schließen wolle, und (Beifall bei der SPD und der PDS sowie bei jetzt gelte es umso mehr, die Wettbewerbsfähigkeit der Abgeordneten der CDU/CSU) noch vorhandenen anderen Unternehmensstandorte in Ostdeutschland zu stärken, Ich fordere aber auch Bombardier auf, sich sehr genau Gedanken zu machen. Es kann keine Lösung sein zu sa- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Wie gen: Arbeitsplätze stehen an anderen Standorten zur Ver- verträgt sich das denn, Herr Nooke?) fügung. – Das bedeutet nämlich, dass aus Halle nicht nur dann heißt das doch im Klartext, dass Sie überhaupt nicht die entsprechenden 900 Arbeitnehmer, sondern auch de- bereit sind, hier darum zu kämpfen, dass diese Standorte ren Familien wegziehen und dass sich die dortige Kauf- noch eine Überlebenschance haben. Sie haben sie schon kraft entsprechend schmälert. Das bedeutet, dass zig Zu- beerdigt. lieferbetriebe schließen müssen. (Beifall bei der SPD und der PDS – Hartmut (Beifall der Abg. Dr. [PDS]) (B) Büttner [Schönebeck] [CDU/CSU]: Polemik ist Das bedeutet zudem – das ist für mich der wichtigste (D) das!) Punkt –, dass bei Bombardier in Halle 50 Ausbildungs- Deshalb haben Sie aus meiner Sicht hier kein Recht, noch plätze im dualen System wegfallen werden. Und nicht nur irgendetwas dazu zu sagen. das: Im Rahmen des Ausbildungsrings der IHK in Halle werden in Zukunft noch mehr Ausbildungsplätze wegfal- (Günter Nooke [CDU/CSU]: Dann kümmern len. Das muss auf jeden Fall verhindert werden. Sie sich darum!) Deshalb hoffe ich sehr, dass sowohl Bombardier als – Ich kümmere mich darum, Herr Nooke. Ich kümmere Konzern, der weit weg von Deutschland agiert und der, mich um den Waggonbau Ammendorf seit 1990. Ich kann wie sich in einer Wirtschaftlichkeitsprüfung heraus- Ihnen zig Seiten auflisten. gestellt hat, an der einen oder anderen Stelle offenbar (Günter Nooke [CDU/CSU]: Herr Ludewig nicht genau und gut darüber informiert ist, was eigentlich auch!) in Deutschland Sache ist, als auch die Deutsche Bahn AG, wenn sie mit Vertretern der Landesregierung und der – Leider war es bis 1998 verdammt schwer, gegen die Bundesregierung zu viert an einem Tisch sitzen, für trag- CDU/CSU und die FDP anzugehen. – Ich schicke Ihnen fähige Lösungen sorgen, damit die Standorte Halle und gerne all meine Unterlagen zu und für den Fall, dass Sie Vetschau in Deutschland auch in Zukunft zum Konzern sich das alles einmal anschauen, wünsche ich Ihnen einen Bombardier und zum Herstellerkonsortium von Schie- vergnüglichen Abend. nenfahrzeugen gehören. (Hartmut Büttner [Schönebeck] [CDU/CSU]: Vielen Dank. Jetzt seid ihr im Bund und im Land dran! Jetzt schließen sie!) (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS) – Herr Büttner, Sie sollten sich einmal ansehen, was allein die Landesregierung von Sachsen-Anhalt in den letzten drei Jahren getan hat, um den Standort in Ammendorf zu Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat sichern. Ihnen würden die Ohren klingen und die Augen jetzt der Abgeordnete Ulf Fink. übergehen und Sie wüssten, was Sie bis 1998 versäumt haben. Ulf Fink (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr (Beifall bei der SPD – Hartmut Büttner [Schö- verehrten Damen und Herren! Die Bahnindustrie ist eine nebeck] [CDU/CSU]: Das ist doch billig!) der letzten übrig gebliebenen Kernkompetenzen im Osten Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19721

Ulf Fink (A) Deutschlands. Diese Kernkompetenz ist nunmehr auf das nigsdorf. Ich will eines sagen: Die Landesregierung, der (C) Ernsthafteste gefährdet. Ich glaube, dass man in einer sol- Ministerpräsident und unser Wirtschaftsminister, Herr chen Situation, in der der Einfluss der Politik wie in kaum Fürniß, haben echt für diesen Standort gekämpft: 90 Mil- einem anderen Industriegebiet außerordentlich stark ist, lionen DM; das war ein wirkliches Argument. von der Politik erwarten kann, sich klar und deutlich zu Wir müssen aber zur Kenntnis nehmen, dass es in Zu- positionieren. kunft in Hennigsdorf nur noch Endmontage, Funktions- (Beifall bei der CDU/CSU) prüfung und Inbetriebnahme aller in Deutschland herge- stellten Fahrzeuge geben soll. Die Vormontage und der Die Schweiz hat das getan; Günter Nooke hat darauf Wagenkastenbau sollen entfallen. Das bedeutet, dass bis hingewiesen. Ursprünglich gab es Pläne, in der Schweiz zu 450 Arbeitsplätze ernsthaft in Gefahr sind. ein Werk zu schließen. Die Schweizer Regierung hat sich mit allem Nachdruck positioniert. Nunmehr steht nach Ich will noch eines sagen: Ich habe mit dem Kollegen den Plänen von Bombardier das Schweizer Werk nicht Wobst, dem Betriebsratsvorsitzenden des Hennigsdorfer mehr zur Schließung an. Werkes, telefoniert. Er hat gesagt, man müsse sehen, wie es in Nürnberg im Vergleich zu Ammendorf gewesen ist. (Dr. Ditmar Staffelt [SPD]: Sie sollten lieber In Nürnberg hieß es auch erst, dort solle die Endmontage über Krankenkassenbeiträge reden!) bleiben. Als Produktionsstandort gibt es Nürnberg nun Wenn man als Regierungskoalition, ob als Bundesre- aber nicht mehr. Auch die Endmontage in Ammendorf soll gierung oder als Landesregierung, an Bombardier wirk- wegfallen. Was ist, wenn diese Entwicklung auch in Hen- lich das Signal geben will, mit allem Nachdruck dafür nigsdorf Platz greift und es dann demzufolge heißt, man kämpfen zu wollen, dass die in Deutschland betroffenen müsse in dem Zusammenhang solidarisch sein? „In dem Standorte aufrechterhalten bleiben, dann hätte man er- Zusammenhang“ heißt dann: Auftragslage. Das ist das A warten müssen, dass, wenn hier schon nicht der Bundes- und O. Die Auftragslage ist für den Erhalt aller Werke ent- kanzler anwesend ist, zumindest entweder dessen engster scheidend. Hier ist nun einmal der Bund als Eigentümer Vertrauter oder Verkehrsminister Bodewig bzw. dessen der Deutschen Bahn der zentrale Ansprechpartner. Vertreter anwesend ist. Ich frage mich, wo sind denn die Milliarden, die die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Bahn aus den UMTS-Erlösen erhalten hat, geblieben? Wo des Abg. Dr. Winfried Wolf [PDS]) sind sie in Aufträge umgewandelt worden? Wo liegen die Pläne von Bahn und Bundesregierung zum Regionalver- Niemand von denen ist da. Dort sitzt nur Herr Schwanitz. kehr? Wo sind die Aufträge? Hier entsprechende Aufträge (Peter Hintze [CDU/CSU]: Er kann nichts zu erteilen ist doch die einzige Möglichkeit, die Standorte (B) dafür!) auf Dauer zu erhalten. (D) Ich weiß eigentlich gar nicht, was er erklärt hat. Ich sage: Wenn es Ihnen damit Ernst ist, dass die Bahn ökonomisch und ökologisch eine Zukunft hat, dann müs- sen Sie auch endlich etwas dafür tun und dürfen nicht nur Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Jetzt muss ich davon reden, was andere hätten tun sollen. doch einmal einschreiten, denn es sitzt noch ein zweiter Mensch auf der Regierungsbank, und zwar der Staatsmi- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) nister Nida-Rümelin. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat Ulf Fink (CDU/CSU): Mit Kultur hat dieses Thema jetzt der Abgeordnete Engelbert Wistuba. nun nicht direkt etwas zu tun. Wenn es also der Bundes- regierung, der Regierungskoalition, wirklich Ernst wäre, Engelbert Wistuba (SPD): Sehr geehrte Frau Präsi- hätte sie hier ein deutliches Zeichen gesetzt. Sie hat dies dentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! verabsäumt. Erlauben Sie mir zu Beginn meines Wortbeitrages den (Manfred Grund [CDU/CSU]: Das ist eine zu- bildhaften Satz, der meiner festen Überzeugung ent- sätzliche Verhöhnung!) springt: Im Bombardier-Werk in Ammendorf ist noch lange nicht der letzte Zug abgefahren. Ministerpräsident Ich muss den Kolleginnen und Kollegen in Hennigsdorf, Höppner und Staatsminister Schwanitz haben auch schon in Ammendorf, in Vetschau oder wo auch immer sagen: darauf hingewiesen, dass es sich bei den Schließungsplä- Bei dieser Bundesregierung und dieser Regierungs- nen von Bombardier immerhin noch um Pläne handelt. Es koalition – gnade euch Gott. Bei denen habt ihr hinsicht- handelt sich um eine Absichtserklärung der Konzernlei- lich der Arbeitsplätze überhaupt keine guten Chancen. Da tung, die erst noch vom Aufsichtsrat des Unternehmens habt ihr ganz schlechte Karten. beschlossen werden muss. Bis zu diesem Zeitpunkt läuft (Beifall bei der CDU/CSU) unsere Uhr. Deshalb ein Zweites: Ich bin Brandenburger Abgeord- Festzuhalten bleibt für mich als Wirtschaftspolitiker neter und könnte sagen: Brandenburg ist noch einmal mit aber auch – das sage ich bei allem gesunden Optimismus, einem blauen Auge davongekommen. Aber der Betrieb in den ich aufgrund der positiven Grundvoraussetzungen, Vetschau soll geschlossen werden. Davon sind über die für Bombardier in Halle bestehen, verspüre –, dass 100 Arbeitsplätze betroffen. Das Gleiche gilt für Hen- wir in einer freien Marktwirtschaft leben, in der die letzte 19722 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001

Engelbert Wistuba (A) Entscheidung über die Zukunft einer Firma beim Unter- Deutschland gehört es traditionsgemäß auch, die soziale (C) nehmen liegt. Dies gilt sowohl für Bombardier selbst wie Verantwortung mit ins Kalkül zu ziehen. auch für die Forderung – der ich mich anschließe –, dass (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ die Deutsche Bahn AG bei ihren Aufträgen an Bombar- DIE GRÜNEN) dier Einfluss zum Vorteil von Ammendorf nehmen soll. Wir können hier an die Verantwortung und die Einsicht in Wer seinen rund 1 000 Mitarbeitern in Halle großzügig das bessere Argument appellieren. Der Politik ist es aber anbietet, sie könnten in den Werken von Görlitz, Bautzen zum Glück untersagt, auf unternehmerische Planungen oder Aachen weiter beschäftigt werden, sollte sich auch Druck auszuüben. Sie kann es auch nicht. einmal die soziale Struktur seines Betriebes ansehen. (Zuruf von der CDU/CSU: Holzmann!) Nach Aussage des Betriebsrates liegt das Durchschnitts- alter der Beschäftigten zwischen 40 und 55 Jahren. Viele Betrachten wir aber den Punkt Verantwortung etwas ge- arbeiten am Standort Ammendorf länger als 20 Jahre. Die nauer. Der weltweit größte Schienenverkehrstechnikher- Arbeitnehmer haben Familie und sind mit der Region ver- steller verkündet auf einer Pressekonferenz am Dienstag wachsen. Sie können gar nicht zu Hunderten mir nichts, dieser Woche, dass er zwei seiner Produktionsstätten in dir nichts umziehen. Und zum Pendeln sind die knapp Deutschland schließen wird. Seit Wochen und Monaten 600 Kilometer von Halle nach Aachen bzw. die mehr als wurde die Belegschaft über die Tendenz dieser Entschei- 200 Kilometer von Halle nach Görlitz oder Bautzen etwas dung im Unklaren gelassen, obwohl nach der Fusion zwi- weit. Entweder drückt sich hier der pure Zynismus der schen Adtranz und Bombardier im April dieses Jahres allen Konzernleitung aus – sie hat meines Wissens hierzu auch Beschäftigten suggeriert wurde, dass es jetzt kräftig nach noch nichts Schriftliches vorgelegt – oder diese Aussage oben gehe. Dies scheint in der Tat auch der Fall zu sein; zeugt einfach von einer mangelnden geographischen denn schließlich verkündete Konzernchef Lortie in dersel- Kenntnis unseres schönen Landes. ben Pressekonferenz, dass er fest davon überzeugt sei – ich zitiere aus einer Presseerklärung des Unternehmens –, (Christel Riemann-Hanewinckel [SPD]: Ge- „dass der Markt für Schienenfahrzeuge zusammen mit dem nau das ist es! Die haben keine Ahnung!) Wartungs- und Servicebereich schnell wachsen wird.“ Meine Damen und Herren, die Politiker – auf welcher Es geht also im Wesentlichen nicht um eine Kostenre- Ebene sie auch arbeiten – haben deutlich gemacht, dass duzierung, die das Unternehmen vornehmen muss, um sie die Entscheidung von Bombardier nicht kampflos ak- seinen Bestand zu sichern, sondern um die betriebswirt- zeptieren werden. schaftliche Strategieplanung. Herr Büttner und Frau (Peter Hintze [CDU/CSU]: Besonders die Re- Pieper, hier liegt auch der Unterschied zur viel zitierten gierung!) (B) Unterstützung des Holzmann-Konzerns. Holzmann stand (D) damals vor dem finanziellen Aus und konnte seine Ge- Ich bewundere das kontinuierliche Engagement von schäfte nur aufgrund einer großzügigen Bankbürgschaft Reinhard Höppner, Christa Riemann-Hanewinckel und der Bundesregierung weiterführen. vielen anderen, (Hartmut Büttner [Schönebeck] [CDU/CSU]: (Cornelia Pieper [FDP]: Und von Hans- Und hier steht ein Standort vor dem Aus!) Dietrich Genscher!) – Herr Büttner, die Gefahr, dass Bombardier bald Konkurs die nicht erst jetzt aktiv geworden sind, sondern schon anmelden muss, sehe ich zum Glück nicht. sehr lange darum bemüht sind, dem Konzern so gute Pro- duktionsbedingungen zu geben, wie es in einer sich im (Zuruf des Abg. Dr. Winfried Wolf [PDS]) Aufbau befindlichen Region, wie sie Ostdeutschland nach Vielleicht denken Sie noch einmal darüber nach. wie vor darstellt, möglich ist. Wenn es um die Strategieplanung geht, sind wir wieder Daher begrüße ich auch die Einsetzung der Experten- am Punkt der Unternehmerfreiheit angelangt. kommission unter Leitung des Landesverkehrsministers Jürgen Heyer, (Hartmut Büttner [Schönebeck] [CDU/CSU]: Die Handlungen der Herren Höppner und (Hartmut Büttner [Schönebeck] [CDU/CSU]: Schröder wären gerade jetzt gefragt!) Die Geheimwaffe!) Keine Landes- oder Bundesregierung kann Bombar- die gemeinsam mit der Konzernspitze von Bombardier dier verbieten, ein Werk zu schließen. Es wird aber doch die vorgelegte Analyse im Detail kritisch zu diskutieren wohl zulässig sein, darauf hinzuweisen, dass Unterneh- hat, damit nicht zugelassen wird, dass uns ein wohl- merfreiheiten auch Unternehmerpflichten mit sich brin- habendes und wirtschaftlich prosperierendes Unterneh- gen. Dass ein weltweit prosperierendes Unternehmen ei- men von Weltruf, auf dessen Anwesenheit wir in Sachsen- nen der modernsten Produktionsstandorte im Bereich der Anhalt bislang sehr stolz waren, damit konfrontiert, dass Bahntechnik in Europa schließt und knapp 1 000 Mitar- es 1 000 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer von heute beiter in einer ohnehin strukturschwachen Region mit ei- auf morgen auf die Straße setzt. ner Arbeitslosigkeit von über 20 Prozent auf die Straße Danke. setzt, gleichzeitig aber die Strukturfördermittel des Lan- des Sachsen-Anhalt gern in Anspruch nimmt, entspricht (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nicht der Arbeitgebertradition, wie sie bislang in unserem DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Land noch herrschte. Zur unternehmerischen Freiheit in PDS) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19723

(A) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat Die Gelassenheit, in der Sie völlig vereinsamt – der (C) jetzt der Abgeordnete Klaus Lippold. Kulturstaatsminister hinter Ihnen wird in dieser Frage ja nicht groß mitzuentscheiden haben – auf der Regierungs- bank sitzen, ist so nicht zu akzeptieren. Vor Ort wird die Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach) (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zusammenarbeit von dem zuständigen Ministerpräsiden- Kollege Schulz, dem ich immer gern und aufmerksam ten ausgeschlossen. Kollege Nooke ist und bleibt in die- zuhöre, hat vorhin völlig zu Recht gesagt, dass Unterneh- ser Frage engagiert. Er hat lediglich darauf hingewiesen, men danach entscheiden, wie die Situation in einem Bun- dass man zukünftige Schwierigkeiten verhindern muss, desland ist, wie die Situation in einem Land ist und wie ohne in der Frage selber aufgegeben zu haben. Ergreifen die Situation auf einem Kontinent ist. Nun hat das Unter- Sie doch die ausgestreckte Hand, nehmen Sie den Rat der nehmen natürlich gesehen – wir können Ihnen das nicht von uns aufgebotenen Experten an und arbeiten mit ihnen ersparen –, dass die Bundesrepublik in Bezug auf die zusammen, anstatt hier allein zu wursteln und vom Kanz- Standortpolitik derzeit Schlusslicht in der Europäischen leramt aus, vom zuständigen Ressort aus, Herr Staatsmi- Union ist und es keine Perspektive gibt, dass sie davon nister, nichts zu tun. wegkommt. Es hat auch gesehen, dass es in anderen Län- Das Schweizer Beispiel müsste Sie doch nachdenklich dern Aktivitäten gibt, mit steuerlichen und fiskalischen machen. Es müssten doch schon die ersten Vorstellungen Maßnahmen aus einer vergleichbaren Situation herauszu- entwickelt sein, über die Sie hier berichten könnten. Sie kommen. Es muss zur Kenntnis nehmen, dass in der Bun- haben sich über dieses Thema aber ausgeschwiegen. Sie desrepublik Deutschland Ähnliches nicht geplant wird. haben eine lange und breite Analyse über das gegeben, Die Politik der gelähmten Hand auf der einen Seite und was jeder der Zeitung entnehmen kann. Das ist doch nicht die Gelassenheit des Finanzministers auf der anderen das, was ich von dem für diesen Bereich verantwortlichen Seite machen dies überaus deutlich, Herr Schulz. Staatsminister erwarten darf. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU) Weiter geht es um die Feinheiten. Das Unternehmen Deshalb haben Sie in diesem Punkt nachzuarbeiten, und beurteilt nicht nur die nationale Lage, sondern fragt sich zwar ganz entschieden. auch: Was geschieht denn am Markt? Was geschieht beim Auftraggeber Bahn? Welche Konsequenzen ergeben sich Ich sehe doch am Kollegen Schulz: Sein Gesichtsaus- aus dem Verhalten des Auftraggebers Bahn? Diese Punkte druck sagt, wie glücklich er über Ihre Ausführungen ist. klangen hier schon an. Sie können über den Wegfall von Man kann das an der Körpersprache ablesen. Wenn je- Millionen von Streckenkilometern im Personenverkehr in mand dasteht, der versagt hat, dann ist der Parlamentarier, (B) zweistelliger Größenordnung, die Schließung von An- der dem zuhören muss, in einer Situation, in der er am (D) schlussstellen, Reduktion insgesamt und Rückzug aus der liebsten unter die Bank rutschen würde. Das ist genau die Fläche lesen, obgleich man das genaue Gegenteil verlaut- Situation. bart. Das ist doch die Realität: Gegenüber der Öffentlich- (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU – keit wird eine intensive Flächenabdeckung der Bahn pro- Werner Schulz [Leipzig] [BÜNDNIS 90/DIE pagiert und dann wird gestrichen, gestrichen, gestrichen. GRÜNEN]: Unglaublich! Soll ich hier über die Was folgert ein cleveres Unternehmen daraus? Es sagt Bank springen?) sich, dass in dieser Republik mit zusätzlichen Aufträgen nicht zu rechnen ist. Das ist doch die Konsequenz. Das haben die Menschen vor Ort nicht verdient. Es ist Ich gebe Herrn Wolf nicht häufig Recht; das weiß er. wichtig, dass der Bundeskanzler die Politik der gelähm- Aber in diesem Zusammenhang hat er den Finger auf die ten Hand und Bundesfinanzminister Eichel die Blockade Wunde gelegt. Als Ursache der Probleme ist eine ver- in der Finanzpolitik aufgeben. Sie sollten, gerade für die fehlte Bahnpolitik mit im Spiel. Diese Politik können Sie neuen Bundesländer, entschieden mehr tun, als aus Ihren in der Koalition ändern. Der Bundeskanzler hat eine Ausführungen derzeit zu erkennen ist. Dann haben die gelähmte Hand, der Verkehrsminister lässt Herrn Kollegen um Halle auch wieder eine Chance. Mehdorn laufen und die Politik geht in eine Richtung, die Danke. zunehmend Arbeitsplätze gefährdet, und zwar nicht nur in diesem Bereich, bedauerlicherweise dort aber ganz be- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) sonders. Es handelt sich hier – ich will nicht alles wiederholen – Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Die Aktuelle um hoch qualifizierte Arbeitskräfte und um Kernkompe- Stunde ist damit beendet. tenzen. Ich bitte daher darum, hier nicht die Gelassenheit des Staatsministers Platz greifen zu lassen. Wenn von al- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b auf: len Seiten betont wird, der Entscheidungsprozess sei noch nicht abgeschlossen, möchte ich hören, dass der zustän- a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Peter dige Staatsminister – ob auf Weisung oder auf Anregung Hintze, Klaus Hofbauer, , weiterer des Bundeskanzlers – sagt: Wir schalten uns ein. – Falsch Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU ist es, zu sagen: Wir hören zu oder sehen zu. Wichtig ist, Förderung der Grenzregionen zu den Beitritts- zu sagen: Wir tun etwas. ländern (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) – Drucksache 14/6638 – 19724 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer (A) Überweisungsvorschlag: Vor diesem Hintergrund begrüßt die CDU/CSU-Frak- (C) Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen tion die Fortschrittsberichte, die die EU-Kommission Union (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie vorgestern vorgelegt hat. Diese Fortschrittsberichte sind Ausschuss für Angelegenheiten der neuen Länder ein großartiges Zeugnis für die gewaltigen Leistungen, Ausschuss für Tourismus die alle Beitrittskandidaten in der letzten Dekade unter- Haushaltsausschuss nommen haben, große Leistungen, zu der wir allen Bei- trittskandidaten von Herzen gratulieren. b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Ausschusses für die Angelegenheiten (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie der Europäischen Union (22. Ausschuss) bei Abgeordneten der SPD) – zu dem Antrag der Fraktionen von SPD und Wir begrüßen ebenfalls, dass die EU-Kommission in BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ihren Berichten klar sagt: Wir wollen auch in Zukunft je- des Land für sich beurteilen und die strengen Kopenha- Die Weichen für die Erweiterung der gener Kriterien anlegen. In einem Jahr werden wir dann Europäischen Union richtig stellen endgültig entscheiden, ob sie Vollmitglieder der Europä- – zu dem Entschließungsantrag der Fraktion ischen Union werden können oder nicht. Aber wir be- der CDU/CSU zu der Großen Anfrage der Ab- grüßen auch die klare Feststellung der Europäischen geordneten Peter Hintze, Michael Stübgen, Kommission, dass nach gegenwärtigem Stand zehn Län- Klaus Hofbauer, weiterer Abgeordneter und der zum 1. Januar 2004 die Chance haben, Mitglieder der der Fraktion der CDU/CSU Europäischen Union zu werden: Zypern und Malta, Un- garn, Polen, Tschechien, Slowenien, die Slowakei und die Erweiterung der Europäischen Union drei baltischen Staaten. Das ist eine gewaltige Aufgabe, – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Helmut aber es ist eine Aufgabe, zu der es keine Alternative gibt, Haussmann, Hildebrecht Braun (Augsburg), wenn wir unserem Kontinent in den nächsten Jahrzehnten Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter und Frieden und Freiheit erhalten wollen. der Fraktion der FDP (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Die Bürger für die Osterweiterung der EU gewinnen Damit dieser gewaltige Prozess gelingt, müssen wir ei- nige andere große Aufgaben gleichzeitig erledigen. Damit – Drucksachen14/5447, 14/5448, 14/5454, ist die europäische Tagesordnung der nächsten Jahre be- 14/6644 – schrieben: (B) Berichterstattung: Erstens. In 47 Tagen vollenden wir mit der Euro- (D) Abgeordnete Winfried Mante einführung den Binnenmarkt und die Wirtschafts- und Währungsunion. Wir haben damit in Westeuropa eine nie Peter Hintze für möglich gehaltene Stabilitätskultur geschaffen. Wir Michael Stübgen werden endlich global handlungsfähig. Klaus Hofbauer Christian Sterzing Wir werden noch leistungsfähiger werden, wenn die Dr. Helmut Haussmann Länder Mittel- und Osteuropas hinzukommen; denn dann entsteht ein Binnenmarkt von mehr als einer halben Mil- Sabine Leutheusser-Schnarrenberger liarde Menschen. Das bedeutet enorme Chancen für Manfred Müller (Berlin) Wachstum, Wohlstand und Arbeitsplätze. Schon jetzt ist Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die der Handel mit den MOE-Staaten in Zeiten der wirt- Aussprache eine dreiviertel Stunde vorgesehen. – Ich höre schaftlichen Flaute einer der wenigen wirklichen Wachs- keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. tumsmotoren. Von 1995 bis heute haben sich allein die deutschen Exporte nach Mittel- und Osteuropa von 60 auf Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat zunächst der 120 Milliarden DM verdoppelt. Abgeordnete Friedbert Pflüger. Zweitens. Wir müssen einen gemeinsamen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts schaffen: freier Dr. Friedbert Pflüger (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Personenverkehr, Bekämpfung grenzüberschreitender Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir diskutieren Kriminalität, Sicherung der Schengen-Außengrenzen, heute über die EU-Erweiterung. Die EU-Erweiterung ist europäische Asyl- und Einwanderungspolitik und – das ist nichts anderes als die Verwirklichung des alten Ziels der nach dem 11. September besonders wichtig – die Stärkung europäischen Einheit. von Europol, ein europäischer Haftbefehl und ein europä- Der 11. September 2001 war der Weck- und Warnruf isches Flugsicherungssystem. Wir haben im Europaaus- für uns alle, auf unserem Kontinent mit den Krisen, Kon- schuss mit Frau Herta Däubler-Gmelin und Otto Schily in flikten und Kriegen, die über vier Jahrhunderte immer den letzten Tagen darüber diskutiert. wieder zur Selbstzerfleischung der Europäer führten, end- (Dr. Helmut Haussmann [FDP]: Mit Letzterem gültig Schluss zu machen. Nur wenn wir es schaffen, den länger!) Kontinent zu einen, werden wir in der heutigen Weltun- ordnung mit den neuen Gefahren von morgen bestehen Drittens. Im Jahr 2004 wird eine Regierungskonferenz können. nach Vorbereitung durch einen parlamentarischen Kon- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19725

Dr. Friedbert Pflüger (A) vent über einen europäischen Verfassungsvertrag ent- sind. Keine Frage: Die Erweiterung der EU und die ande- (C) scheiden. Dieser grenzt die Kompetenzen zwischen der ren Aufgaben erfordern gewaltige Kraft und viel Mut. Es EU-Ebene, den Nationalstaaten und den Regionen ab. Er wird auch immer wieder Rückschläge geben. Wir werden grenzt auch die Kompetenzen zwischen der Kommission, in einzelnen Bereichen unsere Bürger im Transitionspro- dem Rat und dem Europäischen Parlament ab und ordnet zess auch schützen müssen, zum Beispiel durch Über- sie neu. Damit schaffen wir eine Grundlage für die erwei- gangszeiten. terte Europäische Union. Sie bleibt nur auf diese Weise (Dr. Helmut Haussmann [FDP]: Nicht zu handlungsfähig und ein globaler Partner. lange, bitte!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Bei aller Debatte um Quoten und Übergangsfristen Viertens. Wir müssen die Gemeinsame Außen- und darf aber das große Ziel der europäischen Einheit nicht Sicherheitspolitik endlich effektiv gestalten und müssen aus den Augen verloren werden. Der große Stendhal hat verhindern, dass aus der europäischen Verteidigungspoli- es gesagt: tik ein Papiertiger wird. Im Krieg gegen die Taliban haben Wann wird man erkennen, dass die Völker in Europa wir in Europa eine gefährliche Tendenz zur Renatio- immer nur den Grad der Freiheit in sich wie unter nalisierung erlebt, eine Art Schönheitswettbewerb von sich haben, den ihr Mut ihrer Freiheit abringt? Chirac, Blair und Schröder: Wer schafft es am besten, na- tionales Gewicht in die Weltpolitik einzubringen? In Ich glaube, das ist ein Appell an uns alle. Wir müssen Wahrheit können die Europäer aber nur dann mitspre- wirklich alles tun, um dieses Europa mit mehr Freude, mit mehr Kraft, mit mehr Zuversicht anzugehen, und die Sor- chen, wenn sie gemeinsam auftreten. Dafür sind in den gen und Bedenken vielleicht nicht immer so sehr in den nächsten Jahren einige Anstrengungen nötig. Wir müssen Vordergrund stellen, wie wir es als Deutsche manchmal zum Beispiel das Amt des Hohen Repräsentanten für die leider tun. Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und das des EU-Außenkommissars in Personalunion vereinigen, um Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. ihm wirklich Kraft zu geben. Wir müssen außerdem die (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie militärischen Fähigkeiten der europäischen Verteidi- bei Abgeordneten der SPD) gungspolitik erheblich ausweiten, wenn wir mehr sein wollen als eine Kolonie Amerikas, wenn wir ein Partner der USA in der Weltunordnung von heute sein wollen. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Winfried Mante von der SPD-Frak- Fünftens. Wir müssen unser Verhältnis zu Russland tion. neu ordnen und auf eine langfristig stabile Grundlage (B) stellen. (D) Winfried Mante (SPD): Frau Präsidentin! Meine sehr (Dr. Helmut Haussmann [FDP]: Sehr richtig!) verehrten Damen und Herren! Die vorliegenden Anträge, Ich glaube, es ist ganz wichtig, zu erkennen, dass Präsident die heute zur Beratung anstehen, sind zwar nicht mehr Putin hier, von dieser Stelle aus, am 25. September eine ganz frisch; dennoch entbehren sie in der Tat nicht einer Neupositionierung Russlands nach dem 11. September, ganz starken Aktualität. Es gilt nämlich nach wie vor: Die nach dieser Zeitenwende, vorgenommen hat. Diese Neupo- Weichen für die Erweiterung müssen richtig gestellt wer- sitionierung bedeutet eine Westorientierung Russlands. Die den, die Bürgerinnen und Bürger müssen für die Erweite- rung gewonnen werden und besonders die strukturschwa- EU hat diese Chance bisher nicht ergriffen; wir sollten sie chen Regionen Deutschlands müssen für die Aufnahme aber ergreifen und unser Verhältnis zu Russland langfristig weiterer Länder vorbereitet werden. auf eine stabile Grundlage stellen. Dies kann zum Beispiel dadurch geschehen, dass wir die enormen Bodenschätze Si- Seit Dienstag – Herr Kollege Pflüger ist darauf einge- biriens, die Erdöl- und Erdgasvorkommen, endlich gemein- gangen – liegen die neuen Fortschrittsberichte der sam mit einer gewaltigen Anstrengung aller Industriestaaten Kommission vor. Deswegen will ich dazu einige kurze ausbeuten, um damit unsere Abhängigkeit vom Öl und Gas Bemerkungen machen. Trotz großer Fortschritte, die von des Mittleren Ostens zu reduzieren, um eine ökologische der Kommission bescheinigt werden, sind weiterhin er- Katastrophe im Osten Russlands und die menschliche Ent- hebliche Anstrengungen der Beitrittsländer nötig, um das leerung Sibiriens zu verhindern und um unser Verhältnis zu Ziel, bis 2004 an den Europawahlen teilzunehmen, zu er- Russland in den nächsten 50 Jahren auf eine friedliche und reichen. Machen wir uns nichts vor: Die schwierigsten stabile Grundlage zu stellen. Verhandlungskapitel stehen noch aus. Zwölf Monate sind dafür eine wirklich knapp bemessene Zeit. Die Themen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Regionalpolitik, Landwirtschaft und Haushalt haben er- Schließlich sechstens. Wir werden die Institutionen des hebliche finanzielle Auswirkungen. Deshalb halte ich es EU-Stabilitätspaktes für den Balkan und die Möglichkei- für wichtig, noch einmal ausdrücklich darauf hinzuwei- ten der EU-Assoziierung aufeinander abstimmen, die sen, was die Kommission dazu festgestellt hat. Grenz- und ethnischen Streitigkeiten in Südosteuropa Der im Rahmen der Agenda 2000 hier in Berlin aus- entschärfen und den Ländern dieser Region eine mittel- gehandelte Beschluss über den Haushaltsrahmen bis 2006 fristige EU-Perspektive einräumen und erhalten. ist ausreichend, um bis zu zehn Länder aufzunehmen. In den nächsten zehn Jahren wird sich entscheiden, ob (Dr. Helmut Haussmann [FDP]: Das müssen wir all diesen wirklich historischen Aufgaben gewachsen wir mal sehen!) 19726 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001

Winfried Mante (A) – Das können Sie nachlesen, Herr Haussmann. Hier brauchen wir nicht Hilfe im finanziellen Sinne, (C) sondern Hilfe im Sinne des Verständnisses für die be- (Dr. Helmut Haussmann [FDP]: Das reicht ja nicht! Papier ist geduldig!) sondere Lage, in der wir uns befinden ... Wir brauchen hier keine neue Debatte über die Finanzie- (Zuruf von der SPD: Hört, hört! Das ist ja rung der Europäischen Union. interessant! Kann das denn sein?) (Beifall bei der SPD) Meine Damen und Herren, ich bin sicher, dass unsere Bürgerinnen und Bürger etwas mehr als nur Verständnis Dabei bleibt die Europäische Union auch nach 2004, erwarten. Hier hat die Bundesregierung Beachtliches auf- also nach den ersten Beitritten, deutlich unter der Eigen- zuweisen. Das Bundeswirtschaftsministerium hat in mittelobergrenze von 1,27 Prozent des Bruttoinlandspro- seinem Papier vom 9. August zu Recht auf die Vielzahl dukts. Da ist also im europäischen Haushalt noch Luft. von Maßnahmen und Aktivitäten von Bund, Ländern und Die vorhandene Marge können die Mitglieder ausschöp- Europäischer Union hingewiesen, die bereits jetzt in den fen, aber nach meinem Eindruck wollen sie es gar nicht. Grenzregionen und nicht nur in diesen ein breites Spek- Meine Damen und Herren, je näher die Aufnahme wei- trum an konjunkturpolitischen Instrumenten zur Verfü- terer Mitgliedsländer rückt, desto intensiver werden bei gung stellen. Es gilt, diese in aller Breite zu nutzen. Ich den Bürgerinnen und Bürgern die Diskussionen über das bin mir sicher, dass viele von uns die in diesem Papier be- Für und Wider, über die Chancen und Risiken der Erwei- schriebenen umfänglichen Möglichkeiten nicht einmal terung geführt. Gerade in grenznahen Regionen im Osten kennen. Auch deshalb brauchen wir mehr Information Deutschlands, ja, in allen neuen Bundesländern, befürch- und Aufklärung, aber vor allem vor Ort, dort, wo die Men- ten die Menschen, dass der noch nicht abgeschlossene schen Antwort auf die Frage haben wollen, wie die infra- Prozess der Angleichung der Lebensverhältnisse zwi- strukturellen, die ökonomischen und die sozialen Anpas- schen Ost und West einen Abbruch erleidet. Das ist nur zu sungsprozesse gelöst werden sollen. Vieles wird hier verständlich. Umso wichtiger ist es, festzuhalten, dass ge- schon von den Handwerkskammern, den Industrie- und rade die Festschreibung des Solidarpaktes II bis 2020 für Handelskammern, den Sparkassen sowie von Verbänden die ostdeutschen Bundesländer eine klare Perspektive und Vereinen getan. Das ist wirklich lobenswert. aufzeigt, die unabhängig vom Erweiterungsprozess Pla- nungssicherheit für unsere strukturschwachen Regionen (Dr. Helmut Haussmann [FDP]: Und die gibt. Ich will nicht verhehlen, dass auch ich gern ein fett Gewerkschaften?) ausgestattetes Sonderfinanzierungsprogramm für die – Auch die Gewerkschaften tun etwas. Grenzregionen gehabt hätte. Aber wir sind hier leider (Beifall bei der SPD) (B) nicht bei „Wünsch dir was“. (D) Leider ist auch das von der EU-Kommission im Juli auf Herr Haussmann, auch die Bundesregierung leistet mit den Weg gebrachte Aktionsprogramm bisher mehr als be- ihrem Programm zur Öffentlichkeitsarbeit einen guten scheiden ausgefallen. Hier sollten wir gemeinsam auf Beitrag. Die Veranstaltungsreihe „Nachbarn treffen – Eu- Nachbesserung dringen. ropa gestalten“ ist mit bisher über 50 000 Teilnehmern ein wirklich guter Erfolg. (Beifall bei der SPD – Dr. Helmut Haussmann [FDP]: Selbstkritik!) Die grenzüberschreitenden Beziehungen an unseren EU-Außengrenzen entwickeln sich seit Jahren stetig und Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich gebe zu, dass es erfolgreich. Das zeugt von dem Willen der Menschen, die nur schwer gelingen wird, frisches Geld des Bundes für neuen Herausforderungen anzunehmen und die Erweite- ein Sonderprogramm für die strukturschwachen Grenzre- gionen herbeizuzaubern: nicht nur wegen der angespann- rung erfolgreich anzugehen. Auch wenn die Erweiterung ten Haushaltslage, sondern insbesondere deswegen, weil den Grenzregionen eine stärkere Belastung zum Beispiel wir nach meiner festen Überzeugung von den Bundeslän- im Dienstleistungsbereich oder in der Baubranche brin- dern nicht ausreichend unterstützt worden sind. Das zeigt gen wird: Mittel- und langfristig werden sich diese Re- auch die so genannte Potsdamer Erklärung aus der vo- gionen positiver entwickeln; denn sie werden ihre Rand- rigen Woche, die in der Frage finanzieller Forderungen an lage verlieren und zu europäischen Verbindungsregionen die EU und die Bundesregierung sehr zurückhaltend aus- werden. Darauf setzen wir und daran sollten wir gemein- fällt. Mir drängt sich der Verdacht auf, dass die Bundes- sam arbeiten. länder gar kein neues Geld gebrauchen können. Dazu Herzlichen Dank. passt auch die Äußerung des sächsischen Ministerpräsi- denten , der von diesem Pult aus am (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ 29. Juni – das ist noch nicht so lange her – erklärt hat: DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU] und der Abg. Sabine Die wichtigsten Auswirkungen im zwischenstaatli- Leutheusser-Schnarrenberger [FDP]) chen Verhältnis und im sich erweiternden Grenzbe- reich müssen von den Menschen aufgefangen wer- den, die an der deutsch-polnischen und an der Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat deutsch-tschechischen Grenze leben. jetzt der Abgeordnete Dr. Helmut Haussmann. Das ist keine neue Erkenntnis. Aber es geht wie folgt wei- (Rainer Fornahl [SPD]: Ein Gewerkschaftskol- ter: lege!) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19727

(A) Dr. Helmut Haussmann (FDP): Vielen Dank für Ihre wichtige Regionen im Freistaat Bayern, insbesondere in (C) Freundlichkeit. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen Ostbayern. Darauf legen wir großen Wert. und Kollegen! Die Beendigung der Spaltung Europas er- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie fordert aus unserer Sicht drei Dinge: erstens die Einhal- bei Abgeordneten der PDS) tung eines Reformfahrplans, auf den sich unsere ost- europäischen Partner endlich verlassen können; zweitens Wir müssen da unterscheiden. Kurzfristig besteht er- besondere aktive Fördermaßnahmen für die Grenz- höhter Anpassungsbedarf. Kurzfristig gibt es in den regionen, weil sonst die Bereitschaft zur Erweiterung Grenzregionen natürlich mehr Wettbewerb und die Ge- nicht vorhanden ist, und nicht zuletzt drittens – das ist am fahr des Abwanderns. Mittel- und langfristig werden schmerzlichsten – eigene Anstrengungen der westeu- frühere Grenzregionen über ihre Brückenfunktion Mittel- ropäischen Länder, vor allem des größten Landes, punktstandorte. Langfristig ist die Perspektive gut, aber Deutschlands, am Arbeitsmarkt. Denn wenn Menschen kurzfristig bedarf es erheblicher Anstrengungen. angesichts von Nullwachstum um ihre eigenen Arbeits- plätze Angst haben müssen, werden sie nicht für die Erstens. Notwendig sind mehr aktive Anpassungshil- Osterweiterung sein. fen und nicht ewig lange Übergangsfristen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der FDP sowie des Abg. der CDU/CSU und der PDS) Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]) Die Spaltung Europas in dieser Reihenfolge zu been- Es ist doch ein Armutszeugnis, dass Freizügigkeit, ein den – darauf hat Herr Pflüger völlig zu Recht hingewie- Grundrecht in Europa, erst im Jahre 2011, also 21 Jahre sen – ist gerade angesichts der Ereignisse vom 11. Sep- nach dem Ende des Eisernen Vorhangs, gegeben sein soll. tember von ganz besonderer Bedeutung. Europa hat zwar (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten in der jetzigen Außen- und Sicherheitspolitik nur ein ge- der PDS) ringes Profil. Aber es kann einen Beitrag zur Verhinde- rung weiterer Instabilitäten in Osteuropa durch seine Ich hoffe, dass die schnelle Überprüfung dazu führt, dass Einigung leisten, und zwar, indem es möglichst vielen die Frist von sieben Jahren verkürzt wird. Osteuropäer die Teilnahme an den Europawahlen im Jahr (Günter Gloser [SPD]: Haben Sie nicht gerade 2004 ermöglicht. Ich glaube, das ist ein gemeinsames Ziel die Grenzregionen als Problem angesprochen? – aller klassischen Parteien im Bundestag. Rainer Fornahl [SPD]: Man kommt an der Rea- (Beifall bei der FDP, der SPD und der CDU/ lität leider nicht vorbei, Herr Haussmann! Wir CSU sowie bei Abgeordneten der PDS) können nicht nur träumen!) (B) Der Fortschrittsbericht zeigt, dass die erste Beitritts- Zweitens, Herr Gloser, bedarf es einer umfassenden (D) welle bis zu zehn Länder umfassen kann. Aus unserer Strukturpolitik – leider ist der Sonderminister schon Sicht ist ganz wichtig, dass unser wichtigstes Nachbar- nicht mehr bei uns; die Grenzlandförderung wäre eigent- land, Polen, bei dieser ersten Beitrittswelle aktiv dabei lich auch ein Thema für Herrn Schwanitz –, die alle Mög- sein wird. Wir tun alles in unseren Kräften Stehende, um lichkeiten ausschöpft, die abgestimmte regionale Ent- die neue polnische Regierung darin zu ermuntern, dass sie wicklungskonzepte zulässt und die das Zusammen- die für den Beitritt notwendigen Kapitel nicht nur formal wachsen über die Grenzen fördert. Ganz konkret müssen „acquis communautaire“, sondern auch im Hinblick auf in den Grenzgebieten Bayerns und in den neuen Bundes- den Strukturwandel wirklich umsetzt; denn 18 Prozent der ländern verstärkt die berufliche Qualifikation gefördert Beschäftigten sind in der Landwirtschaft tätig, obwohl werden, Unternehmensstrategien zur Gewinnung ost- der landwirtschaftliche Bereich nur 3 Prozent zum polni- europäischer Märkte unterstützt werden, grenzüberschrei- schen Bruttosozialprodukt beiträgt. Das heißt also, hier tende Unternehmenskooperationen belohnt werden, steht ein gewaltiger Strukturwandel bevor. Wir sollten als (Beifall der Abg. Sabine Leutheusser- gute Nachbarn – das gilt nicht nur für Polen – außerdem Schnarrenberger [FDP]) auch das in den Beitrittsberichten sehr kritisch erwähnte Thema der mangelnden Korruptionsbekämpfung als Hin- aber auch Umweltstandards zügig angepasst werden, weil dernis für ein vereintes Europa beim Namen nennen. sonst gravierende Standortnachteile entstehen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie der SPD und der CDU/CSU) bei Abgeordneten der PDS) Richtig und wichtig ist aus unserer Sicht, dass am Ende Die Osterweiterung gelingt dann, wenn wir die Men- der Beitrittsverhandlungen die ersten Beitritte erfolgen. schen mitnehmen. Das eigentlich Traurige in der derzeiti- Ich bin dem Staatsminister dankbar, dass er auf der gest- gen Europapolitik ist, dass unsere osteuropäischen Nach- rigen Sitzung des Europaausschusses klar gemacht hat, barn gewaltige Opfer und große Reformen auf sich ge- dass die Lösung der Zypernfrage kein zusätzliches Krite- nommen haben, dass aber die Westeuropäer, an der Spitze rium für den Beitritt ist. Wir wollen zwar, dass Zypern Deutschland, nicht bereit sind, durch genügend interne teilnimmt. Aber wir wollen nicht, dass ungelöste Pro- Reformen den Menschen die Angst vor mehr Wettbe- bleme dazu führen, dass der Beitrittsfahrplan nicht einge- werb zu nehmen. Herr Gloser, wer das Betriebsverfas- halten werden kann. sungsgesetz für den Mittelstand verschärft, wer keine richtige Steuerpolitik betreibt, Zweiter Punkt: Grenzregionen. Dies ist nicht nur ein Thema für die neuen Bundesländer, sondern auch für (Zuruf von der SPD: Wir modernisieren!) 19728 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001

Dr. Helmut Haussmann (A) wer eine zusätzliche Ökosteuer einführt, wer Nullwachs- schen Stabilisierung in den Beitrittsländern beigetragen (C) tum produziert, wie wir es ja jetzt hören, der schürt natür- haben. lich Ängste vor Wettbewerb. Wir müssen das sozialpsy- Das lässt sich für alle Beitrittsländer feststellen. Das chologisch ganz offen benennen. Mehr Akzeptanz für die lässt sich nicht allein an der Zahl der Verhandlungskapitel Osterweiterung kann deshalb dadurch erreicht werden, ablesen, die abgeschlossen worden sind. Vielmehr ist der dass endlich die Reformaufgaben in der Steuerpolitik Blick auf die Fortschritte im Einzelnen erforderlich. Las- und in der Arbeitsmarktpolitik angepackt werden. Dazu sen Sie mich am Rande erwähnen, dass die Kommission wird die FDP in Kürze einen aktiven Beitrag leisten. sagt: Auch in Bulgarien und auch in Rumänien – zwei Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Länder, die nach unser aller Überzeugung für die erste Beitrittsrunde nicht anstehen – wurden Fortschritte er- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Zu- zielt. Sie macht insofern deutlich, dass diese Länder nicht ruf von der CDU/CSU: Das war noch ein Wirt- etwa abgekoppelt sind, sondern dass sie weiterhin unsere schaftsminister! – Rainer Fornahl [SPD]: Sie Aufmerksamkeit und Unterstützung verdienen. laufen der Zeit hinterher! – Günter Gloser [SPD]: Was heißt „in Kürze“?) Die Fortschrittsberichte beschönigen aber auch nichts. Sie machen deutlich, welche Mängel oder Defizite weiter bestehen. Sie sagen klar: Es können auf dieser Schlussge- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat raden durchaus noch Hürden entstehen. Es gibt weiterhin jetzt der Abgeordnete Christian Sterzing. erhebliche Implementierungsprobleme; es gibt Defizite bei Verwaltung und Justiz oder beim Minderheitenschutz. Christian Sterzing (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): All dies wird schonungslos und deutlich angesprochen. Die Kommission schlägt auch einen Aktionsfahrplan Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In vor, mit dem zum Ausdruck gebracht werden soll, dass die Nizza und auch in Göteborg haben wir noch von der Un- EU die Beitrittsländer in dieser Schlussphase noch stärker umkehrbarkeit des Beitrittsprozesses gesprochen und ge- als bisher unterstützen wird. Das ist Zeichen einer wirk- rade auf diesen beiden Gipfeln wurde der zeitliche Korri- lich glaubhaften Solidarität, die diese Beitrittsländer auch dor für die Beitritte immer mehr verengt. Der Gipfel in benötigen. Göteborg hat dann ein schon relativ konkretes Zeitfenster für die Beitritte geöffnet, indem er festgelegt hat: Die Bei- Angepeilt wird nun der Beitritt von zehn Ländern. In tritte sollen zwischen dem Ende der Verhandlungen, das einer gewissen Weise ist damit die alte „big bang“-Dis- für Ende 2002 angepeilt ist, und den Europawahlen 2004 kussion erledigt. Sie wurde ja vielfach geführt, um eine stattfinden, an denen die Beitrittsländer schon als Mit- Verzögerung im Beitrittsprozess zu rechtfertigen, um eventuell Nachzüglern das Hineinrutschen in eine erste (B) glieder teilnehmen sollen. Das wurde damals als ein (D) ehrgeiziger, als ein sehr anspruchsvoller Fahrplan be- Beitrittsrunde zu ermöglichen. Nein, jetzt sagt die Kom- zeichnet, gerade auch vor dem Hintergrund der Fort- mission: Ein „big bang“ ist durchaus denkbar. Natürlich schrittsberichte, die von der Kommission im Jahr 2000 kommt es weiter auf die jeweils individuellen Fortschritte vorgelegt wurden. der Länder an, aber es besteht durchaus die realistische Möglichkeit, dass diese zehn Länder auf einmal beitreten. Heute zeigt sich, dass dieser Fahrplan durchaus ein Dadurch könnten die Vorteile eines solchen „big bang“ in realistischer ist. Im letzten Jahr hat sich in vielen Bei- dem eigentlichen Beitrittszeitraum genutzt werden. trittsländern offensichtlich eine erhebliche Dynamik ent- wickelt. Die Kommission kommt zu dem Schluss, dass Zwei Länder verdienen in diesem Zusammenhang be- sondere Aufmerksamkeit. Das eine ist Polen. Polen lag sich die Beitrittsperspektive, die mit dem in Göteborg und liegt uns immer besonders am Herzen bei diesem Bei- geöffneten Fenster aufgezeigt wurde, dann, wenn sich trittsprozess. Auch heute wurde ja wieder zu Recht gesagt, diese Dynamik weiter fortsetzt, realisieren lassen wird. dass wir uns alle nicht vorstellen können, dass die erste (Rainer Fornahl [SPD]: Tür, nicht Fenster!) Beitrittsrunde ohne Polen abläuft. Ich glaube, hier muss doch noch einmal deutlich hervorgehoben werden, dass Was besagt nun diese Zwischenbilanz, die die Kom- trotz ganz erheblicher innenpolitischer Schwierigkeiten mission uns vorgelegt hat? Ich denke, sie macht deutlich, Polen im letzten Jahr große Fortschritte erzielt hat. Das dass wir uns in der Schlusskurve dieses Beitrittsprozesses verdient unsere Anerkennung. befinden. Viele Länder haben im letzten Jahr quasi einen Zwischenspurt eingelegt. Es steht uns allen gut an, wenn Das zweite Land, das in diesem Zusammenhang auch wir diese enormen Anstrengungen und enormen Opfer, erwähnt werden muss, ist die Türkei. Auch hier sagt die die in den Beitrittsländern erbracht worden sind, hier an- Kommission: Es wurden Fortschritte erzielt. Aber sie erkennen und würdigen. weist darauf hin, dass die politischen Kriterien noch längst nicht erfüllt sind. Die Defizite bei den Menschen- Die politischen Kriterien sind weiterhin erfüllt, sagt rechten, bei Demokratiefragen und auch im wirtschaftli- die Kommission. Es wurden erhebliche Fortschritte bei chen Bereich sind noch zu groß. Das bestätigt insofern un- den gesetzgeberischen Maßnahmen und auch bei der Im- sere Einschätzung, dass ein Beitritt der Türkei in diesem plementierung erzielt. Die nationalen Volkswirtschaften Jahrzehnt auf keinen Fall eine aktuelle Frage sein wird. werden entweder schon jetzt oder in absehbarer Zeit dem Auch eine Öffnung der türkischen Positionen im Hinblick Binnenmarkt standhalten. Insofern zeigt sich, dass der auf die Zypern-Frage wird angemahnt. Das sollten wir Beitrittsprozess, die Beitrittsperspektive ganz offensicht- ebenfalls festhalten, weil es zu einer realistischen Diskus- lich zu einer politischen, aber auch zu einer ökonomi- sion über die Mitgliedschaft der Türkei in der EU beiträgt. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19729

Christian Sterzing (A) Wir müssen uns heute natürlich auch fragen, was die schen in den Beitrittsstaaten riesige Chancen in der (C) Fortschrittsberichte für die bisherigen Mitgliedsländer der sozialen und ökonomischen Entwicklung gibt. EU bedeuten. Die Antwort auf diese Frage lässt sich in (Beifall bei Abgeordneten der PDS) vier Punkten zusammenfassen. Diese Chancen können allerdings nur dann ergriffen wer- Erstens. Der Finanzrahmen steht. Trotz aller Kritik und den, wenn dieser Prozess auf der anderen Seite auch als aller Zweifel, die in den letzten Jahren geäußert wurden, demokratischer Beitrittsprozess begriffen wird, der die bietet die Agenda 2000 einen ausreichenden Rahmen für Ängste der Menschen ernst nimmt und strukturelle Pro- den angepeilten Beitrittsfahrplan. Die Masse und die fi- bleme, die sich aufgrund des Beitrittsprozesses ergeben nanziellen Spielräume reichen. können, aufgreift. Zweitens. Einige Kapitel – darauf ist hingewiesen wor- Die Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit in den – werden in den Verhandlungen erhebliche Probleme Deutschland genauso wie in Polen oder Tschechien ist aufwerfen. Das erinnert uns, die Mitgliedsländer der EU, von zentraler Bedeutung. Wir dürfen die Ängste der Land- daran, dass wir uns endlich auf Verhandlungspositionen, wirte, beispielsweise im Allgäu, in Thüringen oder in den gerade in den Bereichen Agrar- und Regionalfonds, ei- neuen Ländern insgesamt, aufgrund der neuen Konkur- nigen müssen. Wir alle wissen: Dabei geht es ums Einge- renz aus den mittelosteuropäischen Staaten nicht einfach machte, nämlich ums Geld. Wir können heute nur an alle zur Seite schieben, indem wir so tun, als wenn die damit Mitgliedstaaten appellieren, diese Probleme in gemeinsa- verbundenen Probleme nicht vorhanden wären. Durch die mer Solidarität und in Solidarität mit den Beitrittsländern Zukunft der Agrarpolitik in der Europäischen Union muss zu lösen. Das heißt, im Interesse der Erfüllung der histo- dem Allgäuer Bauern klar gemacht werden, dass er von rischen Aufgabe, diese Erweiterung durchzuführen, ei- dem Beitritt Polens und Tschechiens Vorteile hat. gene finanzielle Interessen zurückzustellen. (Beifall bei der PDS – Dr. Gerd Müller [CDU/ (Beifall des Abg. Uwe Hiksch [PDS] – CSU]: Der Mann kennt sich echt aus in Dr. Helmut Haussmann [FDP]: Ist die Frau Deutschland!) Künast jetzt dran?) Die PDS macht deshalb immer wieder deutlich, dass Drittens. Wir müssen uns – auch dies hat schon Er- die Diskussion über den Beitritt im Jahr 2004 wichtig ist wähnung gefunden – weiterhin um Akzeptanz bemühen. und von uns allen durchgesetzt werden muss. Wir müssen Das gilt eben nicht nur für Menschen in den Grenzregio- gemeinsam fordern, dass die Untätigkeit der Bundesre- nen, sondern auch für breite Bevölkerungskreise in den gierung im Hinblick auf die Zukunft der regionalen Struk- bisherigen Mitgliedstaaten. turpolitik, auf die Zukunft der Agrarpolitik endlich über- (B) (D) Viertens. Es erscheint mir wichtig, darauf hinzuweisen, wunden wird. Es muss eine Antwort auf die Frage gegeben werden, wie Ängste, Sorgen und Nöte beseitigt dass wir in diesen Wochen und Monaten gerade im Hin- werden können. blick auf den Gipfel in Laeken immer wieder über die Zu- kunft Europas diskutieren. Wir müssen eine so genannte Liebe Kolleginnen und Kollegen, lieber Herr Kollege Zukunftsdebatte führen, Mante, wir sollten durchaus gemeinsam in einen Diskus- sionsprozess eintreten, in dem wir zu klären versuchen, ob (Dr. Helmut Haussmann [FDP]: Was heißt „so wir mit dem gebetsmühlenartigen Wiederholen von Aus- genannte“?) sagen wie „Die finanziellen Mittel reichen aus, um den die sich in besonderer Weise mit Fragen der Institutionen Beitrittsprozess zu organisieren“ oder „Ein Beitrag in und der Demokratie in Europa beschäftigt. Höhe von 1,27 Prozent für die Europäische Union reicht aus“ wirklich vorankommen. Müssen wir nicht gemein- Die Fortschrittsberichte erinnern uns zu Recht daran, sam vielmehr darüber diskutieren, ob die riesigen He- dass die Erweiterung ein Teil dieser Zukunftsdebatte sein rausforderungen, die der Beitrittsprozess mit sich bringt, muss. Wir müssen uns bewusst sein, dass es für die Euro- eventuell einen höheren Beitrag der Nationalstaaten für päische Union keine Zukunft ohne einen baldigen und er- die Europäische Union zur Lösung der Probleme im folgreichen Beitritt geben kann. Agrarbereich, im Stahlbereich oder auf dem Gebiet der Vielen Dank. Regional- und Strukturpolitik verlangen? Wer beispiels- weise die Analysen und Forderungen der kritischen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN so- Wissenschaftler aus dem so genannten Euro-Memo-Be- wie bei Abgeordneten der SPD und der reich liest, die sehr deutlich machen, dass darüber nach- CDU/CSU) gedacht werden muss, der Europäischen Union zur Lö- sung dieser Probleme mehr Geld zur Verfügung zu stellen, Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat der kann meines Erachtens dieses dogmatische Wieder- jetzt der Abgeordnete Uwe Hiksch. beten der 1,27 Prozent nicht mehr aufrechterhalten. (Günter Gloser [SPD]: Nicht alles ist mit Geld zu machen!) Uwe Hiksch (PDS): Frau Präsidentin! Liebe Kol- leginnen und Kollegen! Der Beitritt der mittelost- Deshalb, Kolleginnen und Kollegen, macht die PDS europäischen Staaten ist ein historischer Prozess, der den im Deutschen Bundestag auch immer wieder deut- Menschen in der Bundesrepublik, aber auch den Men- lich, dass nach unserer Meinung der Beitrittsprozess 19730 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001

Uwe Hiksch (A) gleichberechtigt, auf gleicher Augenhöhe zwischen den Danke schön und auch danke dafür, dass ich zu Ende (C) bisherigen fünfzehn europäischen Staaten und den reden durfte. zukünftigen neuen Mitgliedern der Europäischen Union, (Beifall bei der PDS) organisiert werden muss. (Beifall bei der PDS) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat Das heißt für die PDS-Bundestagsfraktion erstens, dass jetzt der Abgeordnete Klaus Hofbauer. es keine erweiterte Europäische Union mit Agrariern un- terschiedlicher Qualität und Güte geben kann. Wir treten dafür ein, dass das Agrarpreissystem der Europäischen Klaus Hofbauer (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Union natürlich weiterentwickelt werden muss, dass aber Meine Damen und Herren Kollegen! Die Erweiterung der gleiche Bedingungen für die Bauern und Landwirte in Po- Europäischen Union ist eine historische, politische und len und in Tschechien, aber auch in Frankreich, Spanien wirtschaftliche Notwendigkeit bzw. eine Chance, zu der es keine Alternative gibt. (Zuruf von der SPD: Und in Oberfranken! – Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Und im All- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP gäu!) und der PDS) oder Deutschland gelten müssen. Nur dann kann ein Bei- Die anstehende Erweiterung der EU ist im Hinblick auf die Größenordnung und auf das Wohlstandsgefälle die trittsprozess organisiert werden. gewaltigste Herausforderung in der Geschichte des ge- (Beifall bei der PDS) samten Einigungsprozesses. Die Politik insgesamt ist des- wegen gefordert, sorgfältig zu planen und für eine realis- Wir machen zum Zweiten deutlich, dass die tische Beurteilung zu sorgen. Nur so wird es gelingen, die Agrarstrukturpolitik mehr als bisher weiterentwickelt Menschen von diesem Einigungsprozess zu überzeugen. werden muss, was für uns bedeutet, dass wir natürlich da- Mir macht es schon große Sorge, dass die Akzeptanz der rüber diskutieren müssen, dass in einer hoch industriali- Osterweiterung und des Einigungsprozesses immer wei- sierten Region wie der Europäischen Union ein Anteil von ter zurückgeht. 18 Prozent Landwirten nicht möglich ist. Das bedeutet, dass mehr Agrarmittel als bisher für Agrarstrukturpolitik In Absprache mit meinen Kollegen Dr. Pflüger und und für die Schaffung von Ersatzarbeitsplätzen in den Stübgen erlauben Sie mir, ein paar Anmerkungen zu dem ländlichen Regionen zur Verfügung gestellt werden müs- Grenzgürtelprogramm zu machen. sen. (Zurufe von der SPD: Oh, Absprachen! – Uwe (B) Wir machen weiter deutlich – und damit möchte ich Hiksch [PDS]: Wird heute schon abgestimmt in (D) zum Schluss kommen –, der CDU?) (Rainer Fornahl [SPD]: Das ist gut so!) – Wir dürfen doch unsere Inhalte aufeinander abstimmen, damit nicht jeder das Gleiche wiederholt. Ich bitte dafür dass die Regional- und Strukturpolitik so organisiert wer- um Verständnis. den muss, dass Gleiches auch mit Gleichem verglichen wird. Beispiel: Der Umstrukturierungsprozess im Ruhr- (Eckart von Klaeden [CDU/CSU]: Damit wir gebiet – – nicht dauernd die Vertrauensfrage stellen müs- sen!)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Kollege, es Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Politik ist leider nicht mehr möglich, mit einem Beispiel zu argu- und die Wirtschaft sind sich einig, dass von der EU-Ost- mentieren. Nur noch ein Schlusssatz. erweiterung ein struktureller Anpassungsdruck ausgeht, von dem die Grenzregionen in besonderem Maße betrof- fen sind. Die große Herausforderung der EU-Osterweite- Uwe Hiksch (PDS): Ich komme zu meinem rung liegt in der Zahl der Beitrittskandidaten und in der Schlusssatz und überlege mir viele Kommata. Größenordnung der damit verbundenen wirtschaftlichen und sozialen Unterschiede. Das müssen wir hier klar und deutlich sehen. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Nein, auch das nicht. Seien Sie fair! Der Europäische Rat von Nizza hat die Kommission be- auftragt bzw. aufgefordert, finanzielle Hilfen für die Grenzregionen bereitzustellen, um die zu erwartenden Be- Uwe Hiksch (PDS): Wir wollen dafür eintreten, dass nachteiligungen durch die Osterweiterung aufzufangen. Gleiches auch mit Gleichem verglichen wird. Für die Um- Herr Kollege Mante, Sie haben es ja sehr vorsichtig aus- strukturierungsprozesse bedeutet das, dass Mittel zur Ver- gedrückt; ich darf hier feststellen: Das Programm, das uns fügung gestellt werden müssen, dass aber auch die Ängs- hier auf den Tisch gelegt wurde, ist ein Miniprogramm, das te der Menschen in Polen, in Tschechien, in der Stahl-, es eigentlich nicht verdient, aufgelegt zu werden. Werft- und Kohleindustrie ernst genommen werden müssen. Nur dann kann der Beitritt für die Europäische (Dr. Helmut Haussmann [FDP]: Mickymaus!) Union fortschrittlich sein, nur dann können die Menschen Im Februar wurde uns von der Bundesregierung ein Ent- für den Beitrittsprozess gewonnen werden. wurf vorgelegt. In diesem war alleine für Straßenbau- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19731

Klaus Hofbauer (A) projekte 1 Milliarde DM enthalten. In dem jetzt vorlie- Zweitens brauchen wir eine bessere Koordination (C) genden Programm sind insgesamt nur noch 195 Millionen zwischen den verschiedenen Programmen. Ich habe ein Euro dafür vorgesehen. Für mich ist damit der Auftrag bisschen den Eindruck, dass die Bundesregierung bei die- von Nizza nicht erfüllt. sen Programmen keine Koordination vornimmt. Hier könnte man die Situation deutlich verbessern. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Deswegen fordern wir die Bundesregierung auf, hier für Gerd Müller [CDU/CSU]: Management-Buy- Nachbesserungen zu sorgen. Es wurde ein Programm out!) – das möchte ich sehr deutlich sagen – angekündigt, das einem ausgewachsenen Elefanten ähneln sollte; heraus- In diesem Sinne lassen Sie mich sagen: Ich bin fest da- gekommen ist aber ein kleines Mäuschen. Das darf dieses von überzeugt, dass dieser Einigungsprozess auch für die Parlament in meinen Augen nicht akzeptieren. Grenzregionen eine große Chance bietet. Wir müssen die Chancen nur nutzen, aufgreifen und Akzente setzen. Das (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie ist der richtige Weg. des Abg. Uwe Hicksch [PDS] – Peter Hintze [CDU/CSU]: Das ist das Politikprinzip dieser (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Regierung, sehr geehrter Herr Kollege bei Abgeordneten der PDS) Hofbauer! – Zurufe von der CDU/CSU: Das war die Verheugen-Maus!) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat Meine sehr geehrten Damen und Herren, erlauben Sie jetzt der Herr Staatsminister Dr. Christoph Zöpel. mir ein paar Anmerkungen zu den Übergangsfristen. Herr Kollege Haussmann, ich stimme mit Ihnen überein, dass wir Übergangsfristen brauchen. Die entscheidende Dr. Christoph Zöpel, Staatsminister im Auswärtigen Frage ist aber, wie diese Übergangsfristen gestaltet wer- Amt: Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und den. Sie müssen aktiv genutzt werden. Je aktiver sie ge- Herren! Zwei Tage nach Vorlage des Fortschrittsberichts nutzt werden, desto kürzer können sie sein. Das ist die der Kommission über den Erweiterungsprozess sollten entscheidende Frage. wir uns über zwei Botschaften an die beitrittswilligen ost- europäischen Länder verständigen, die den bisherigen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Sprachgebrauch vielleicht ein wenig verändern. Wir können damit nicht bis zur Vollendung des Erweite- Der Fortschrittsbericht erlaubt die Feststellung, dass rungsprozesses warten, sondern jetzt müssen wir diese zehn der Staaten, die beitreten wollen und die zusammen Dinge anpacken. 70 Millionen Einwohner haben, so verhandelt haben und (B) (D) (Günter Gloser [SPD]: Machen wir doch!) sich weitgehend so vorbereitet haben, dass sie vor den nächsten Wahlen zum Europäischen Parlament Mitglie- – Aber bei weitem nicht in dem notwendigen Ausmaß, der werden können. Wir sollten diese Tatsache begrüßen sonst wäre die Akzeptanz hierfür wesentlich höher. und mit der folgenden Botschaft an diese zehn Länder (Günter Gloser [SPD]: Da müssen Sie schon verbinden: Wir wollen, dass sie alle beitreten können. Wir Stoiber fragen!) wollen ihnen allen helfen, damit sie sich gegenseitig hel- fen können und kein Land auf das andere warten muss. Wir haben in einer der letzten Besprechungen vorge- schlagen, das Thema Ausbildung jetzt schon aufzugrei- (Beifall bei der SPD, der FDP und der PDS) fen. Ich bin dem Herrn Staatsminister sehr dankbar, dass Diese Botschaft trägt zur politischen Stabilität in den je- er uns zugesichert hat, hierzu ein Strategiekonzept vor- weiligen Ländern bei. zulegen. Ich halte den Vorschlag, den wir hier eingebracht haben, für richtig. Wenn wir junge Menschen schon Wir sollten die erste Botschaft mit einer zweiten Bot- während ihrer Ausbildungszeit zusammenbringen, dann schaft an diese zehn Länder, trägt das wesentlich zu einem besseren Verständnis der (Dr. Helmut Haussmann [FDP]: Auch an uns!) Menschen untereinander bei. – dazu komme ich noch –, aber auch an Bulgarien und (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Rumänien, die derzeit verhandeln, aber noch nicht so weit Erlauben Sie mir noch, meine sehr geehrten Damen sind, und an alle anderen europäischen Länder verbinden: und Herren, hier ein paar Forderungen zusammenfassend Ihr seid willkommen; wir wollen, dass ihr beitreten könnt. einzubringen. Ich glaube schon, feststellen zu dürfen, dass Wir sollten also nicht Sorgen und Vorurteile ausdrücken für die Bundesregierung Handlungsbedarf besteht. und auch nicht Hochmut zeigen. Erstens. Wir fordern Sie auf, das von der EU-Kommis- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sion vorgelegte Programm inhaltlich und finanziell nach- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der zubessern. Zur Forderung nach inhaltlicher Nachbesserung CDU/CSU und der FDP) möchte ich nur bemerken, dass zum Beispiel der Bereich Diese Botschaft halte ich für notwendig. des Tourismus überhaupt nicht erwähnt ist, obwohl er ein unglaubliches Bindeglied darstellt und zum Beispiel er- (V o r s i t z: Vizepräsidentin ) laubt, im Bayerischen Wald, im Oberpfälzer Wald und im Ich möchte eine historische Dimension in Zahlen fas- Böhmerwald gemeinsame Strategien zu entwickeln. sen. Es ist nicht mehr besonders mutig, zum Ausdruck zu 19732 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001

Staatsminister Dr. Christoph Zöpel (A) bringen, dass wir es als eine historische Leistung erach- – Sonst würde ich es ja nicht sagen. (C) ten, wenn in einigen Jahren – also ein Vierteljahrhundert nach dem Zusammenbruch des Kommunismus in Europa – (Zuruf von der SPD: Ihr könnt uns beim Wort alle Staaten Europas westlich der ehemaligen Sowjet- nehmen!) union – die baltischen Staaten rechne ich in diesem Sinne Bei den weiteren Verhandlungen sind die finanzrele- zum Westen – Mitglieder der Europäischen Union wer- vanten Kapitel entscheidend. Der Rahmen steht fest: Vor den. 25 Jahre nach dem Ende dieser Gewaltherrschaft im 2006 können die zehn Beitrittsstaaten finanzielle Leistun- Osten muss das möglich sein. Auch hier sage ich: Es gen im Rahmen der Agenda 2000 erhalten. Danach müs- macht nicht viel Sinn, nur darüber zu reden, wo die sen sie über weitere Leistungen verhandeln. Dies wird Schwierigkeiten liegen. Es ist vielmehr notwendig, mit Verteilungsentscheidungen auch unter den bisherigen den betreffenden Ländern gemeinsam diese Schwierig- Mitgliedstaaten erfordern. Daran sollten wir alle konkret keiten zu überwinden. mitwirken. (Beifall bei der SPD) Dass sich unser Interesse auf Polen richtet, hat damit Die nächsten konkreten Schritte sind offenkundig. Der zu tun, dass es unser direkter Nachbar ist, aber auch da- Fortschrittsbericht enthält als wesentliches Element die mit, dass von den 70 Millionen Menschen, die vor den Ankündigung eines Aktionsplans, der aufzeigt, wie die Wahlen zum Europäischen Parlament dazukommen kön- beitrittswilligen Länder die gesetzlichen Voraussetzungen nen, 38 Millionen dort leben. Wir blicken immer auf die vor allem für die Bereiche der Sicherheit, der Verwaltung besonderen Probleme der Landwirtschaft dort, aber wir und der Justiz implementieren können. Wir müssen ihnen sollten eines sehen: Es ist für Polen vielleicht gut gewe- dabei helfen. Das ist der wichtigste neue Punkt, den der sen, dass die Polen eine kleinteilige Landwirtschaft über Fortschrittsbericht enthält. den Kommunismus hinweggerettet haben. Wir sollten sie Wir müssen fortfahren – darüber gibt es überhaupt jetzt nicht dafür bestrafen; denn das tun wir mit einer De- keine Meinungsverschiedenheiten –, denjenigen Men- batte über „diese polnische Landwirtschaft“. schen zu helfen und ihre Sorgen ernst zu nehmen, die auf unserer, der österreichischen, der italienischen und der (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ finnischen Seite der Beitrittsstaaten leben. Es gibt diesbe- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der züglich Probleme. Lassen Sie mich dazu eine Bemerkung PDS) machen: Wenn man lange genug in der Politik tätig ist Es wäre ja eine Ironie der Geschichte, wenn kollektivierte – ich habe auf allen vier Ebenen des europäischen Staats- Landwirtschaft leichter zu behandeln wäre als nicht kol- wesens in Verfassungsorganen mitgewirkt –, dann weiß lektivierte. Diesen Gefallen sollten wir dem Kommunis- man: Die größte Zeitverschwendung, die wir uns zwi- mus nicht nachträglich noch tun. (B) schen Gemeinden, Ländern, Bund und Europäischer (D) Union leisten, hat ihre Ursache in dem unablässigen Hin- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ und Herschieben der Verantwortung zwischen den Ebe- DIE GRÜNEN) nen. Das will ich deutlich sagen. Zu Zypern ein eindeutiger Satz. Kein Land außerhalb (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE der Europäischen Union hat das Recht, zu bestimmen, GRÜNEN und der PDS) wer Mitglied der Europäischen Union wird. Bei der Es gibt in diesem Punkt Probleme. An den meisten Pro- NATO gilt dasselbe. So wie Russland nicht darüber mit- blemen sind mehrere beteiligt; an vielen Problemen ist bestimmen kann, ob die baltischen Staaten in die NATO auch der Bund beteiligt. Er ist in manchen Punkten der kommen, so kann die Türkei nicht darüber mitbestimmen, Auffassung, dass die Kommission mehr hätte tun können. ob Zypern in die EU kommt – ein klarer Grundsatz und Da sind wir uns einig. Dennoch möchte ich sagen, dass wohl auch sinnhaft im Rahmen des Völkerrechts. diese Einigkeit unter uns sozusagen etwas billig ist. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Es macht Sinn, dass – ausgehend von den Gemeinden – DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der die konkreten Probleme benannt werden. In einem Staats- CDU/CSU – Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: wesen wie der Bundesrepublik, in dem im europäischen Hoffen wir, dass sich die Bundesregierung da- Vergleich alle Ebenen viel Geld haben – lassen Sie uns das ran hält!) nüchtern feststellen –, muss man die Projekte konkret an- An Rumänien und Bulgarien sollten wir auch ein Si- gehen. Eine Straße kann dann auch einmal vier Jahre eher fertig gestellt sein, als es sonst angesichts der langsamen gnal schicken. Gerade weil diese beiden Staaten es nicht Arbeitsweise der Straßenbauverwaltung möglich ist. Da- schaffen können, schon vor den Wahlen zum Europäischen bei ist es egal, wer in einem Land regiert. Parlament Mitglied zu werden, verdienen sie jetzt unsere besondere Hilfe im wirtschaftlichen Bereich, bei der Sta- Ich möchte Sie im Namen der Bundesregierung aus- bilisierung eines demokratischen Parteiensystems. Ich drücklich auffordern: Nennen Sie konkrete Projekte! füge, konkret auf Rumänien bezogen, eines hinzu. Nach Wenn die Bundesregierung etwas für die Beschleunigung dem Wechsel der Regierung – es ist manchmal Zufall, von dieser Projekte tun kann, dann können Sie uns beim Wort welcher Richtung in welche Richtung gewechselt wird – nehmen. Lassen Sie uns aber nicht die Verantwortung hin haben wir keine Bedenken mehr, Rumänien hinsichtlich und her schieben. der Visa genau so zu stellen wie Bulgarien. Da sehen wir ( [CDU/CSU]: Da werden keine Unterschiede, die es rechtfertigen würden, Rumä- wir Sie beim Wort nehmen!) nien gegenüber Bulgarien zu benachteiligen. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19733

Staatsminister Dr. Christoph Zöpel (A) Dann richtet sich unsere Botschaft an alle Staaten, mit Aber die durchaus positive Zwischenbilanz zeigt auch, (C) denen der Prozess des Abschlusses von Stabilisierungs- dass es noch erhebliche Problemfelder gibt. Auf einige und Assoziierungsabkommen stattfindet. Die Konfe- von diesen möchte ich jetzt noch kurz eingehen. renz des Stabilitätspaktes vor drei Wochen in Bukarest Herr Staatsminister Zöpel, Sie haben Bulgarien und hatte ein entscheidendes Ergebnis: Stabilitätspakt und der Rumänien erwähnt. Es ist meines Erachtens richtig, dass Prozess der Stabilisierung und Assoziierung gehören die Europäische Union feststellt, dass sie einen Abschluss streng zusammen. Der Stabilitätspakt dient diesem Ziel, der Verhandlungen mit diesen beiden Ländern zum Ende die Länder an die Europäische Union heranzuführen. Er des Jahres 2002 ausschließt. Wir müssen aber auch be- hat nur eine zusätzliche Botschaft: Europafähig wird man, sonders berücksichtigen, dass die Ursachen für die Situa- indem man schon vorher bereit ist, zusammenzuarbeiten. tion in diesen beiden Ländern nicht in erster Linie und Europa sollte, nachdem die ersten zehn es geschafft ha- nicht in jedem Fall in der Verantwortung und in dem Ver- ben, jetzt aufhören, nur zu sagen, jeder muss sich an- schulden dieser beiden Länder liegt. Bulgarien und strengen, sondern wir sollten hinzufügen: Wir helfen euch Rumänien konnten erst wesentlich später als die anderen allen! Helft euch auch untereinander! Freut euch bitte, Reformstaaten mit den Reformanstrengungen beginnen. wenn ihr alle kommt! Denn ihr müsst alle kommen, das Insbesondere Bulgarien war durch den Balkankonflikt, ist notwendig! Das halte ich für die entscheidende Ant- durch das Handelsembargo gegenüber Jugoslawien und wort Europas auf die Ereignisse vom 11. September. während des Eingriffs der NATO im Kosovo wirt- schaftlich und politisch besonders negativ betroffen. Die (Beifall bei der SPD) Folgen konnte dieses Land bis jetzt noch nicht ohne wei- Die Europäische Union mit 500 Millionen Einwohnern teres beheben. ist notwendig, damit es auf diesem Kontinent nur noch Deshalb ist es bei den fortlaufenden Bemühungen und Probleme der inneren Sicherheit gibt, wofür wir gemein- Beitrittsverhandlungen besonders wichtig, dass in diesen sam eine gescheite europäische Politik der inneren Ländern nicht – und sei es nur psychologisch – der Ein- Sicherheit betreiben, und keine Konflikte mehr zwischen druck entsteht, sie würden aus dem Beitrittsprozess Staaten. Das ist das Wichtigste, was Europäer aus dem herausfallen. 11. September lernen können. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Denn wenn dies passieren würde, würde es zusätzlich zu CDU/CSU) einer Destabilisierung des gesamten Balkanraumes kom- men. Wir alle wissen, dass die politische und wirtschaft- Deshalb noch einmal meine Botschaft von hier an alle (B) liche Stabilität in den Balkanländern nicht besonders (D) europäischen Länder: Wir wollen euch! Ihr seid willkom- groß ist. men! Zwei Dinge sind deshalb besonders nötig und von der Herzlichen Dank. Bundesregierung zu unterstützen und voranzutreiben: (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Erstens. Die Beitrittsverhandlungen mit diesen beiden Ländern müssen intensiviert werden. Es besteht nämlich DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der die Gefahr, dass sie im Schlusssog der Verhandlungen mit CDU/CSU) den zehn Ländern, die bis Ende 2002 abgeschlossen sein sollen, ein bisschen außen vor gelassen werden. Es ist Vizepräsidentin Anke Fuchs: Ich erteile das Wort aber ganz entscheidend, dass dort nicht weniger, sondern dem Kollegen Michael Stübgen für die CDU/CSU-Frak- intensiver verhandelt wird. tion. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP) Michael Stübgen (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Zweitens muss die Europäische Kommission schon Meine sehr verehrten Damen und Herren! Seit 1993 ver- jetzt damit anfangen, die Vorbeitrittshilfen für diese beiden folgen die Regierungen der Europäischen Union eine ge- Länder, die ab 2003 als beitrittswillige Länder übrig blei- meinsame Linie, die gemeinsame Linie zur Erweiterung ben, so zu verändern, dass sie den speziellen Problemen in der Europäischen Union, zur größten Erweiterungsaktion dieser Region in ausreichender Weise gerecht werden. der Europäischen Union in ihrer Geschichte überhaupt. Die Europäische Union sollte das klare Ziel verfolgen Die vorherige Regierung der Bundesrepublik Deutsch- und dieses auch formulieren und öffentlich äußern, dass land unter und die jetzige Regierung arbei- diese Länder bis zum Jahr 2006 oder um das Jahr 2006 die ten seit dieser Zeit kontinuierlich an diesem Ziel. Der Chance haben, Vollmitglied der Europäischen Union zu Fortschrittsbericht, der vorgestern als Zwischenbilanz werden. Die Lösung dieses Problems ist auch für die von der Europäischen Kommission vorgelegt worden ist, Europäische Union von besonderem strategischen Inte- zeigt deutlich die Erfolge dieser Politik: Zehn Kandida- resse. Bulgarien zum Beispiel ist – wir wissen das – ein tenländer haben die reale Chance, ihre Beitrittsverhand- Stabilitätsanker auf dem Balkan. Diese wichtige Funktion lungen im nächsten Jahr zu beenden und Vollmitglieder wird dieses Land nur erhalten und ausbauen können, der Europäischen Union vor der nächsten Wahl zum Euro- wenn es von uns dafür eine besondere Unterstützung be- päischen Parlament zu werden. kommt. 19734 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001

Michael Stübgen (A) Der Fortschrittsbericht geht auch ausführlich auf die Fraktion der CDU/CSU auf Drucksache 14/5448 zu ihrer (C) Situation in Polen ein. Es wird deutlich, dass Polen bei al- Großen Anfrage mit dem Titel „Erweiterung der Euro- len Erfolgen, die es in den letzten Jahren in seiner päischen Union“. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- Reformpolitik gehabt hat, bei der Reform der Agrar- und lung? – Gegenprobe! – Gegen die Stimmen von CDU/ Fischereipolitik – so steht es wörtlich im Fortschrittsbe- CSU und FDP ist die Beschlussempfehlung ange- richt – noch keine wesentlichen Fortschritte erreichen nommen. konnte. Es steht auch drin, dass es für diese Reform kein Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 seiner stichhaltiges Konzept hat. Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrages der Wir wissen, dass die polnische Agrarpolitik, auch was Fraktion der FDP auf Drucksache 14/5454 mit dem Titel die Auswirkungen auf die polnische Volkswirtschaft und „Die Bürger für die Ost-Erweiterung der EU gewinnen“. die soziale Situation in Polen betrifft, ein besonderes Pro- Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Dagegen? – blem ist. Ebenso wissen wir, dass die notwendigen Refor- Enthaltungen? – Bei Enthaltung der CDU/CSU und gegen men, die dort stattfinden müssen, in weiten Kreisen der die Stimmen von FDP und PDS ist die Beschlussempfeh- polnischen Bevölkerung ganz besonders umstritten sind. lung angenommen. Wer die Wahlen zum letzten Sejm beobachtet hat und ana- lysiert hat, warum es zu einem ziemlich drastischen Um- Nun rufe ich Tagesordnungspunkt 7 auf: bruch der Mehrheiten im Sejm kam und welche Parteien Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- dort durch welche Forderungen Mehrheiten gewinnen richts des Verteidigungsausschusses (12. Aus- konnten, weiß, dass es sehr kompliziert ist, dieses Pro- schuss) zu der Unterrichtung durch den Wehrbe- blem innerstaatlich zu regeln. Wenn man sich die Situa- auftragten tion anschaut, muss man schon ein hohes Maß an Opti- mismus haben, wenn man davon ausgehen will, dass die Jahresbericht 2000 (42. Bericht) Verhandlungen bezüglich dieser Frage zum Ende des Jah- – Drucksachen 14/5400, 14/7111 – res 2002 abgeschlossen sein können. Berichterstattung: Auf der anderen Seite ist es aber gerade für die Bun- Abgeordnete Uwe Göllner desrepublik Deutschland von einem besonderen nationa- Werner Siemann len Interesse, dass Polen bei der ersten Beitrittswelle da- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die bei sein kann. Deshalb ist meine Forderung an die Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich höre Bundesregierung, dass verstärkt geprüft wird – und dann keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. verstärkte Bemühungen in dieser Richtung unternommen Bevor ich das Wort erteile, möchte ich dem Wehrbe- (B) werden –, wie Polen von der Bundesrepublik Deutschland (D) bilateral in dieser Frage unterstützt werden kann, als un- auftragten und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ser Partner, als unser Nachbarland, das eine ganz wichtige im Namen des Hauses für die Vorlage des Jahresberichts Funktion hat, mit dem wir eine freundschaftliche Bezie- 2000 sehr herzlich danken. hung aufbauen wollen und müssen und zu dem die Gren- (Beifall im ganzen Hause) zen möglichst bald endgültig fallen sollen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Herr Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. Dr. Willfried Penner, der Wehrbeauftragte des Deutschen (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Bundestages. Bitte sehr.

Vizepräsidentin Anke Fuchs: Ich schließe die Aus- Dr. Willfried Penner, Wehrbeauftragter des Deut- sprache. schen Bundestages: Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zuvörderst habe ich ein Wort des Dankes zu er- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf widern. Denn ich habe den Mitgliedern des Verteidi- Drucksache 14/6638 an die in der Tagesordnung aufge- gungsausschusses für die nachhaltige und wohlmeinende führten Ausschüsse vorgeschlagen. Damit sind Sie ein- Begleitung meiner Tätigkeit, die sich besonders in den verstanden? – Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ausschussberatungen niedergeschlagen hat, Dank zu sa- Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus- gen. Ich sage es ausdrücklich: Davon nehme ich keine ses für die Angelegenheiten der Europäischen Union auf Seite aus. Drucksache 14/6644. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 Diese geschlossene Unterstützung macht deutlich, dass seiner Beschlussempfehlung die Annahme des Antrages die Tätigkeit des Wehrbeauftragten eine Angelegenheit ist, der Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grü- die den Deutschen Bundestag insgesamt betrifft. Das nen auf Drucksache 14/5447 mit dem Titel „Die Weichen macht die Arbeit auch im Verhältnis zur Exekutive leich- für die Erweiterung der Europäischen Union richtig stel- ter, weil dadurch sinnfällig wird, dass jeweils auch Rechte len“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer des Parlaments insgesamt in Rede stehen können, wenn stimmt dagegen? – Gegen die Stimmen von PDS, der Wehrbeauftragte tätig wird. Deshalb ist es nur folge- CDU/CSU und FDP ist die Beschlussempfehlung ange- richtig und für die Zukunft hilfreich, dass sich alle im Bun- nommen. destag vertretenen Parteien meiner Kritik an Unzuläng- Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der lichkeiten und Verzögerungen durch zuständige Stellen Ausschuss die Ablehnung des Entschließungsantrages der des Bundesverteidigungsministeriums in der Bearbeitung Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19735

Dr. Willfried Penner (A) an mich gerichteter Eingaben angeschlossen und sie zu Bundeswehr belastet werden kann, steht dahin. So viel ist (C) Recht als Missachtung ihres eigenen parlamentarischen aus Sicht der Soldaten und nach meiner persönlichen Kontrollorgans „Wehrbeauftragter“ gewertet haben. Überzeugung klar: Militärischer Auftrag und finanzielle Ausstattung dafür müssen deckungsgleich sein. Anders (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des geht es nicht. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der Um auch dies zu sagen und Missverständnissen vorzu- CDU/CSU und der FDP) beugen: Der Umgang des Wehrbeauftragten mit dem Bun- desministerium der Verteidigung ist nicht durch wechsel- Wenn es einen Verteidigungsauftrag und einen Einsatz- seitiges Zähnefletschen oder durch drohendes Knurren auftrag zugleich gibt, muss beides finanziert sein: Vertei- geprägt. Nein, wirklich nicht! Aber gelegentlich knirscht digungs- und Einsatzauftrag. es. Das muss dann auch offen angesprochen werden. (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der Sehr wichtig ist auch die parlamentarische Unterstüt- CDU/CSU und der FDP) zung für die personelle Ausstattung meiner Dienststelle. Noch bei meiner Informationstagung im Oktober die- Denn auch insoweit stehen Rechte des Parlaments in ses Jahres haben alle Teilnehmer nachhaltig darauf hinge- Rede. wiesen, dass im Hinblick auf die Auslandseinsätze die In jüngster Zeit bin ich mehrfach gefragt worden, ob Bundeswehr zu Hause in ihren Möglichkeiten überstrapa- sich die nach den Anschlägen vom 11. September 2001 ziert werde, und zwar personell, aber auch hinsichtlich der veränderte Sicherheitslage und die daraus folgende zu- Materialausstattung. Das Parlament tut gewiss gut daran, sätzliche Einsatzverwendung der Bundeswehr in im Hinblick auf die Finanzierung der Bundeswehr den- Äußerungen der Soldaten an mich niederschlagen. Die noch mögliche Sparpotenziale zu bedenken und auch Antwort lautet eindeutig nein, soweit sich dies auf Einga- durchzusetzen. Dies war übrigens durchgängiges Kenn- ben bezieht. Das heißt nicht, dass in der Bundeswehr un- zeichen deutscher Finanzpolitik in der Nachkriegszeit. ter den Soldaten, in deren Familien sowie in deren Freun- Daran wird sich auch künftig nichts ändern. des- und Bekanntenkreis nicht darüber diskutiert und Aber auch dies ist richtig und muss einmal betont wer- beratschlagt würde. Ganz im Gegenteil! Es wäre auch den: Sicherheits- und Verteidigungspolitik sind kernstaat- kaum zu verstehen, wenn das nicht geschähe. liche Aufgaben und damit ist ihre Finanzierung nicht eine Aber davon abgesehen ist der Primat der Politik bei den Variante staatlicher Vergönnung. Soldaten nicht erschüttert, er gilt. Das heißt: Wenn Regie- (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der rung und Parlament beschließen, wird die Bundeswehr aus- CDU/CSU und der FDP) (B) führen. Mag sein, dass dieses reibungslose Funktionieren (D) auch mit der Notwendigkeit der konstitutiven Mitwirkung Das bedeutet übrigens nicht, dass die Erfahrungen der des Parlaments zu tun hat, mag sein, dass die Versicherung Wirtschaft mit ausgeprägtem Kosten-Nutzen-Denken in des Bundeskanzlers, im Hinblick auf Afghanistan kein der Bundeswehr nicht genutzt werden können. Ganz im Abenteuer einzugehen, gewirkt hat; entscheidend für jeden Gegenteil: Gerade die diesbezüglichen Bemühungen aus einzelnen Soldaten, der mit seinem Einsatz rechnen muss, der jüngsten Zeit zielen wohl in diese – wie ich meine, wird aber bleiben, ob er zureichend darauf vorbereitet und richtige – Richtung. Und doch bleiben unverrückbare bestmöglich ausgestattet ist. Insoweit hat es bisher keinen Grenzen bei der Übernahme privatwirtschaftlicher Er- Zweifel gegeben. Ich füge hinzu: Es darf daran auch künf- kenntnisse für die Armee. Um es noch einmal und deut- tig keine Zweifel geben, wenn solche Einsätze politisch lich zu sagen: Die Bundeswehr kann der Natur der Sache verantwortbar bleiben sollen. nach keine Institution sein, die sich auf Punkt und Komma nach betriebswirtschaftlichen Grundsätzen erfassen ließe. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Winfried Das wird sich auch nicht ändern. Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Das hat übrigens nichts mit der Finanzausstattung der des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der Bundeswehr an sich zu tun. Diese wird je nach politischer CDU/CSU und der FDP – Paul Breuer [CDU/ Prioritätsentscheidung über die Staatsfinanzen umstritten CSU]: Weiß das auch der Minister?) bleiben, weil es eine exakte Maßeinheit für den Anteil der Verteidigungsausgaben am Gesamthaushalt nicht gibt. Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, den Ver- Umso konkreter und härter werden finanzielle Fakten änderungen in der Bundeswehr folgen zwangsläufig Ver- auch für die Bundeswehr, je konkreter beispielsweise änderungen für die Soldaten. Besonders spürbar wird das Einsätze werden. Um diese harten Fakten kann man sich am Beispiel der unausgewogenen Personalstruktur ge- nicht drücken, weil regelmäßig Leib und Leben der an- nerell sowie am Beispiel des Beförderungs- und Verwen- vertrauten Soldaten in Rede stehen. dungsstaus speziell. Viele Soldaten sind davon betroffen; sie schreiben mir das auch. Die Hardthöhe hat errechnet, (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der dass davon mehrere tausend Soldaten betroffen sein CDU/CSU) können. Die Ursachen dafür sind bekannt: Eine kleiner Ob die Verteidigungsarmee Bundeswehr – ohnehin werdende Bundeswehr kann nicht allen Soldaten zur ur- wegen grundlegender Strukturveränderungen im Um- sprünglich vorgesehenen Zeit die beruflichen Mög- bruch begriffen – weiterhin zugunsten der Einsatzarmee lichkeiten eröffnen, die unter den anderen Bedingungen 19736 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001

Dr. Willfried Penner (A) einer größeren Bundeswehr selbstverständlich erfüllbar Dieser Hinweis ist gewiss zutreffend und auch gut ge- (C) gewesen wären. Es ist gut, dass der Gesetzgeber dem mit meint. Nun lässt aber das Bundesministerium der Vertei- der Novelle des Bundeswehrneuausrichtungsgesetzes digung wissen, dass der Wehrbeauftragte keinen Zugang – so heißt es – zum Bundeswehr-Intranet bekommt. (Werner Siemann [CDU/CSU]: Das wissen (Heiterkeit im ganzen Hause – Paul Breuer wir!) [CDU/CSU]: Das gilt auch für den Deutschen Bundestag!) gegensteuern will. Er muss dies auch. Die Begründung lautet unter anderem, dass auch die Mit- Dabei geht es nicht um eine staatliche Großzügigkeit glieder des Verteidigungsausschusses eine solche Mög- zur Unzeit für einen bestimmten Personenkreis, sondern lichkeit nicht hätten. um die Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit der kleiner gewordenen Armee. Auch dies sei gesagt: Nicht (Zuruf von der FDP: Das ist eben Herrschafts- jeder unerfüllte Karrierewunsch eines Soldaten hat mit wissen!) strukturellen Defiziten in der Bundeswehr zu tun. Manch- Ich möchte mich nicht damit befassen, ob das bei den mal ergeben sich Beschränkungen in der beruflichen Ent- Kollegen Bundestagsabgeordneten so in Ordnung ist. Es wicklung auch aus der Begrenzung der selbst gewählten ist deren Sache, darüber zu befinden, und sie werden das beruflichen Verwendung. auch tun. Es stört mich auch weniger, dass der Bundesmi- Die Verkleinerung der Bundeswehr hat auch eine Re- nister der Verteidigung mich einerseits auf die Möglich- duzierung der Anzahl der Standorte zur Folge. Dies hat keiten seines Intranets aufmerksam macht, mir anderer- direkte Auswirkungen für Soldaten und ihre Familien. seits aber zugleich den Zugang versperrt. Beide brauchen Planungssicherheit. Ich werde nicht (Heiterkeit im ganzen Hause) müde, dafür zu werben, diese Fragen ernst zu nehmen und die Zeiten der Ungewissheit so kurz wie möglich zu Die Rechtslage ist jedenfalls eindeutig: halten. Zur Familienfreundlichkeit zählt übrigens auch, Er dass den Soldaten Familienheimfahrten gewährt wer- den. Hier ist kein Platz für kleinliche Auseinanderset- – gemeint ist der Wehrbeauftragte – zungen innerhalb des Bundesministeriums der Verteidi- kann vom Bundesminister der Verteidigung und al- gung. len diesem unterstellten Dienststellen und Personen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie Auskunft und Akteneinsicht verlangen. (B) des Abg. Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/ Das ist Gesetz; so steht es in § 3 Nr. 1 Satz 1 des Gesetzes (D) DIE GRÜNEN]) über den Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages. Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, die zu- Deshalb bitte ich alle, die es angeht, diesem Gesetz zu ent- nehmenden Einsätze der Bundeswehr machen insbeson- sprechen. Den Bundestag als meinen Auftraggeber bitte dere auch Unterschiede in der Besoldung zwischen Ost ich demütig, mich bei der Durchsetzung dieses Anspruchs und West immer fragwürdiger. Die Beschaffenheit des zu unterstützen. Einsatzes ist, gleichgültig, ob sie ihren Dienst im Osten (Beifall im ganzen Hause) oder im Westen begonnen haben, für alle gleich. Damit es nicht vergessen wird: Ist es wirklich unver- (Beifall des Abg. Dr. Winfried Wolf [PDS]) meidlich, auch die Altersversorgung der Soldaten abzu- Es ist nicht zu erklären, dass die einen so und die anderen flachen – so wie es in der Sprache des Gesetzes, das jetzt anders besoldet werden. Da sie allesamt im Auftrag der beschlossen worden ist, heißt –, zu einer Zeit, da der Bundesrepublik Deutschland Dienst tun, muss ihre Dienst der Soldaten erkennbar gefährlicher geworden ist? Dienstleistung auch einheitlich entgolten werden. Schönen Dank für die Geduld. (Beifall des Abg. Dr. Winfried Wolf [PDS]) (Beifall im ganzen Hause) Hier ist der Bund am Zuge und nicht etwa die Tarifge- meinschaft von Bund, Ländern und Gemeinden. Vizepräsidentin Anke Fuchs: Nun hat das Wort für (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten die CDU/CSU-Fraktion der Kollege Werner Siemann. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU, der FDP und der PDS) Werner Siemann (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Herr Dr. Penner, Sie Abschließend mache ich eine Bemerkung in eigener laufen bei der CDU/CSU-Fraktion mit dem größten Teil Sache: Gelegentlich benötigen wir, das heißt meine Mit- Ihrer Ausführungen offene Türen ein. Wir sollten uns arbeiter und ich, Unterlagen vom Bundesministerium der überlegen, eine Selbsthilfegruppe der Intranetgeschä- Verteidigung. Diese fordern wir dann an. Gelegentlich ist digten zu bilden. Das wäre fraktionsübergreifend eine auf diese Anforderung hin zu hören, sie seien auch über sinnvolle Sache. Ich habe auch gesehen, dass Herr das Bundeswehr-Intranet abrufbar. Kolbow, der Parlamentarische Staatssekretär, mitge- (Paul Breuer [CDU/CSU]: „Gelegentlich“!) schrieben hat. Vielleicht höhlt auch hier steter Tropfen Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19737

Werner Siemann (A) den Mühlstein. Vielleicht klappt die Sache dann irgend- Leider ist es der rot-grünen Bundesregierung bislang (C) wann einmal. Sie werden nachher sicher sagen, dass wir nicht gelungen, dieser verhängnisvollen Entwicklung ent- den Zugang bekommen werden. gegenzusteuern. (Beifall bei der CDU/CSU – Paul Breuer [CDU/ (Beifall bei der CDU/CSU) CSU]: Mit der Privatisierung im IT-Bereich Daher fordere ich die Regierung auf, endlich aufzuwa- sind die geschützten Informationen für jeden chen und der Bundeswehr die Mittel zur Verfügung zu zugänglich!) stellen, die sie dringend benötigt. Sicherheit und damit Zu Beginn meines Redebeitrags danke ich dem Wehr- Sicherung unserer freien Gesellschaft kosten Geld. beauftragten, Herrn Dr. Penner, sowie seinen Mitarbei- (Johannes Kahrs [SPD]: Richtig!) terinnen und Mitarbeitern im Namen der CDU/CSU- Fraktion ausdrücklich für den erbrachten Bericht und die In der Stellungnahme der Bundesregierung zum Wehr- geleistete Arbeit. Gerade in Zeiten, in denen sich die Bun- beauftragtenbericht werden strukturelle, personelle und deswehr einer tief greifenden Reform unterziehen muss materielle Probleme der Vergangenheit als Hauptur- und unsere Soldaten durch zunehmende Auslandseinsätze sachen für die im Wehrbeauftragtenbericht aufgelisteten mehr als je zuvor gefordert sind, bedarf es eines unab- Mängel angeführt. Dieser vordergründige Erklärungs- hängigen Kontrollgremiums der Streitkräfte. Ihnen und versuch ist schlichtweg falsch. Noch in der Stellung- Ihrer Behörde daher noch einmal herzlichen Dank. nahme des BMVg von 1999 zum 40. Jahresbericht des Wehrbeauftragten schrieb Frau Kollegin Schulte: (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Durch die Verstärkung der Haushaltsmittel für die neten der SPD und der FDP) Materialerhaltung 1997/1998 ist eine ausreichende Der vom Wehrbeauftragten im März dieses Jahres vor- Verfügbarkeit des Wehrmaterials zur Durchführung gelegte Mängelbericht zeigt neben einigen positiven einer auftragsorientierten Ausbildung erreicht worden. Aspekten vor allem die strukturellen Defizite in der Bun- Weiter heißt es: deswehr auf. Er verdeutlicht insbesondere den Zusam- menhang zwischen der Ausstattung der Truppe und deren Die Truppe wurde mit ausreichenden Haushalts- Stimmung und Motivation. Obwohl unsere Soldaten den mitteln für die Materialerhaltung ausgestattet. Zustand des anhaltenden Mangels mit Langmut und Ge- Das bedeutet ein deutliches Eingeständnis, dass die am- duld ertragen, wirkt sich die katastrophale Material- und tierende Bundesregierung – keine andere – den jetzigen Ersatzteillage im Inland massiv auf die Stimmung in der Zustand zu verantworten hat. Truppe aus. (B) (Beifall bei der CDU/CSU) (D) Hinzu kommt noch die Verunsicherung der Soldaten, die noch aufzulösenden Einheiten und Verbänden an- Lassen Sie mich nun auf einige der im Wehrbeauftrag- gehören, da für viele von ihnen noch keine klare Perspek- tenbericht monierten strukturellen und personellen Pro- tive zu erkennen ist. Diese tief sitzende Verunsicherung bleme eingehen. Als der Jahresbericht des Wehrbeauf- im Hinblick auf die Zukunftsplanung ist bei Gefreiten ge- tragten für das Jahr 2000 vor sechs Monaten zum ersten Mal beraten wurde, forderte uns Kollege Kolbow auf, nauso zu verspüren wie bei hohen Offizieren. Dass unsere neue Wege bei der Organisation der Bundeswehr mitzu- Soldaten dennoch sowohl im Inland als auch besonders gehen. bei den Auslandseinsätzen unter schwierigen Bedingun- gen Herausragendes leisten, verdient unser aller Respekt, (Peter Zumkley [SPD]: Recht hat er!) Dank und Anerkennung. Dazu wären wir grundsätzlich bereit. Nach Auffassung (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, dem der Bundesregierung ist die Gesellschaft für Entwicklung, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP) Beschaffung und Betrieb ein solch neuer Weg. Mit der GEBB sollen die Betriebskosten der Bundeswehr gesenkt Vor diesem Hintergrund ist die nun vorliegende Stel- und die Einsatzfähigkeit der Streitkräfte gesteigert wer- lungnahme des BMVg zum Jahresbericht des Wehrbeauf- den. Das bisherige Ergebnis zeigt: Es handelt sich leider tragten von besonderem Interesse. Darin heißt es: um einen fatalen Irrweg. Nur motivierte Soldatinnen und Soldaten sind in der (Paul Breuer [CDU/CSU]: Briefkastenfirma!) Lage, den Wandel aktiv zu gestalten. Bislang hat die GEBB Beträge im zweistelligen Mil- – Richtig so. Es ist ein Leichtes, sich bei einem Trup- lionenbereich verschleudert – gesprochen wird von rund penbesuch davon zu überzeugen, dass die Stimmung in 65 Millionen DM – ohne auch nur ansatzweise die in sie der Truppe dem Nullpunkt gefährlich nahe gekommen gesetzten Erwartungen zu erfüllen. In den nächsten fünf ist. Jahren will das Verteidigungsministerium nach eigenen (Peter Zumkley [SPD]: Wo waren Sie denn?) Angaben durch Effizienzgewinne, Privatisierungen und Verkaufserlöse 15 Milliarden DM erwirtschaften. In die- Es ist ein Leichtes, zu beobachten, dass der Unmut in der sem Jahr hätten rund 1 Milliarde DM an Erlösen erzielt Truppe langsam der Resignation weicht. werden sollen. (Johannes Kahrs [SPD]: Vor drei Jahren war (Hildebrecht Braun [Augsburg] [FDP]: Man das so!) wird doch noch träumen dürfen!) 19738 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001

Werner Siemann (A) Nach großzügigen Schätzungen werden es, wenn über- Auf diese Entwicklung reagiert Rot-Grün mit der vorzei- (C) haupt, nicht mehr als 150 Millionen DM sein. tigen Zurruhesetzung von weiteren 3 000 Berufssoldaten: (Paul Breuer [CDU/CSU]: Jetzt geht die Staatsse- (Peter Zumkley [SPD]: Das ist doch wichtig!) kretärin des Finanzministers nach Hause!) eine strategische Meisterleistung. Darauf haben wir immer wieder hingewiesen und vor Anstatt, wie vom Wehrbeauftragten gefordert, die At- Luftbuchungen gewarnt. traktivität der Bundeswehr zu erhöhen, setzt die Bundesre- (Johannes Kahrs [SPD]: Sie haben selber nie gierung mit wenigen Ausnahmen, wie ich zugebe, ihre Po- was hingekriegt!) litik der gezielten Nadelstiche gegen unsere Soldaten fort. – Sie können gleich noch etwas dazu sagen, Herr Kahrs. (Verena Wohlleben [SPD]: Böswillige Unterstellung!) (Johannes Kahrs [SPD]: Gerne!) Neben den materiellen Einbußen, wie sie im Entwurf des Immer, wenn Sie einen Zwischenruf machen, weiß ich, Versorgungsänderungsgesetzes vorgesehen sind, mussten dass ich ins Schwarze getroffen habe. die Soldaten unter Rot-Grün eine Vielzahl von immateri- Allein die politische Führung und an deren Spitze der ellen Verschlechterungen hinnehmen. Zu nennen wären Minister der Verteidigung blieben trotz eindringlicher etwa die Verlängerung der Kontingentdauer bei Auslands- Warnungen auch aus dem militärischen Bereich bera- einsätzen von vier auf sechs Monate, die Kürzung der tungsresistent. Unbeeindruckt davon stützen sich die Zahl der Familienheimfahrten von neun auf sechs und Einnahmeerwartungen der GEBB nach wie vor auf voll- eine deutliche Verschlechterung der Umzugsregelung. kommen virtuelle Zahlen. Dies geschieht vor dem Hintergrund einer steigenden Dienstzeitbelastung und der Aussicht, spätestens alle zwei (Paul Breuer [CDU/CSU]: Das Finanzminis- Jahre für sechs Monate von der Familie getrennt zu sein. terium ist nicht mehr vertreten!) Die Zusage, für die nächsten zwei Jahre nicht wieder ins So rechnet die GEBB mit der Realisierung von 4 Milli- Ausland geschickt zu werden, wird ohnehin nicht einge- arden DM Verkaufserlösen durch die Veräußerung nicht halten. Auch hier wird einmal mehr das Vertrauen der Sol- betriebsnotwendiger Liegenschaften. Selbst Ihr eigenes daten missbraucht. Haus, Herr Kolbow, stutzt diese Einnahmeutopien auf die Vor dem Hintergrund der soeben aufgeführten Punkte Hälfte zurück. Durch diese Widersprüche werden die vom sind die materiellen, personellen und strukturellen Probleme Wehrbeauftragten kritisierten Probleme auf unverant- hausgemacht und von der amtierenden Bundesregierung zu wortliche Weise durch die amtierende Bundesregierung verantworten. Daran ändern auch die stereotyp vor- (B) verschärft bzw. erst geschaffen. (D) getragenen, einseitigen Schuldzuweisungen an die Vorgän- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) gerregierung nichts, wie wir sie vermutlich gleich wieder von Kollegen der Regierungskoalition zu hören bekommen. Auch die im Wehrbeauftragtenbericht thematisierte Nachwuchslage gibt Anlass zur Sorge. So betrug im Be- (Verena Wohlleben [SPD]: Quatsch! – Peter richtsjahr 2000 der Rückgang des Bewerberaufkommens Zumkley [SPD]: Erblast!) für Offiziere des Truppendienstes 10 Prozent sowie für die Dem Vorwurf der Bundesregierung, bei Regierungsantritt Mannschaften und Unteroffiziere 1,5 Prozent. Die jetzige einen Investitionsstau von 15 Milliarden DM vorgefunden Koalition ist offenkundig nicht in der Lage, der Bundes- zu haben, kann nur entgegnet werden: Allein in der Zeit von wehr die Aufmerksamkeit zu widmen, welche ihr gebührt. 1990 bis 2000 wollten Sie dafür sorgen, dass der Bundes- Unsere Soldaten, ob im Einsatz oder nicht, haben ein An- wehr 18 Milliarden DM weniger zur Verfügung stehen. recht auf höchstmögliche Fürsorge, und zwar in jeder Hinsicht. Wir müssen den Menschen und nicht die finan- (Johannes Kahrs [SPD]: Sie haben doch zielle Verfügbarkeit in den Vordergrund stellen. laufend gekürzt!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Sie werden bis 2003 in Ihrer Regierungszeit der Bundes- der FDP) wehr weitere 18 Milliarden DM vorenthalten. Die Besorgnis erregende Nachwuchslage wird sich in Ich hätte mir gewünscht, dass die Bundesregierung die den nächsten Jahren durch die von der Bundesregierung Kritik des Wehrbeauftragten konstruktiv aufnimmt. Ich beschlossene Neuausrichtung der Bundeswehr noch dra- hätte mir gewünscht, dass Entscheidungen zur Bundes- matisch verschärfen. Auch dafür trägt die jetzige Bun- wehr auf eine breite parlamentarische Mehrheit gestützt desregierung ganz allein die Verantwortung. Schon jetzt werden können. kann aus über 90 000 Grundwehrdienstleistenden nicht (Verena Wohlleben [SPD]: Wenn Ihr euch genügend Nachwuchs gewonnen werden. Da aber rund verweigert?) die Hälfte unserer länger dienenden Soldaten aus diesem Reservoir rekrutiert wird, stellt sich die Frage: Wie soll Der Verteidigungsminister hat viel über Konsens gespro- dies 2010 mit 53 000 Grundwehrdienstleistenden funktio- chen, ohne ihn ernsthaft ein einziges Mal zu suchen. Voll- nieren? Bereits jetzt fehlen der Bundeswehr mehr als endete Tatsachen wurden vor Gespräche gestellt. Frau 12 000 Berufs- und Zeitsoldaten. Wohlleben, das ist so. (Peter Zumkley [SPD]: Quatsch!) (Verena Wohlleben [SPD]: Nein!) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19739

Werner Siemann (A) Wir sollten den Bericht des Wehrbeauftragten zum An- Immer wieder kommt es vor, dass sich über politische (C) lass nehmen, im Interesse unserer Soldaten über diese Bildung und innere Führung, über Personalfragen von Verfahrensweise nachzudenken, ehe es zu spät ist. Die Zeit- und Berufssoldaten, über die Infrastruktur der Bun- Bundeswehr hat unser aller Vertrauen verdient. deswehr und in letzter Zeit zunehmend auch über Besol- (Verena Wohlleben [SPD]: Das ist wohl wahr!) dungsfragen beschwert wird. Mit der Neuausrichtung sind wir dabei, die Lösung dieser Probleme anzugehen. Vielen Dank. Ich bin optimistisch, dass wir mit dem jetzt eingebrachten (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Haushalt für das Jahr 2002 schon einige Verbesserungen auf den Weg gebracht haben. Ich möchte an dieser Stelle nur an das in der letzten Woche von uns hier im Bundes- Vizepräsidentin Anke Fuchs: Nun hat der Kollege tag verabschiedete Bundeswehrneuausrichtungsgesetz er- Uwe Göllner das Wort für die SPD-Fraktion. innern – ein fürchterliches Wort –: Darin sind erste Maß- nahmen zur Auflösung des Beförderungsstaus gerade bei Uwe Göllner (SPD): Frau Präsidentin! Meine Damen Unteroffizieren und Mannschaften, die Erhöhung der Ein- und Herren! Ich will mich zu Beginn – bevor ich das ver- gangsbesoldung und die Möglichkeit für jeden Soldaten, gesse – dem eingangs von der Präsidentin ausgesproche- sich zivilberuflich zu qualifizieren, enthalten. Das sind ei- nen Dank an den Wehrbeauftragten und seine Mitarbeiter nige der Reformprojekte, die in der Vergangenheit häufig anschließen. Anlass für Beschwerden beim Wehrbeauftragten waren. (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE (Beifall bei der SPD) GRÜNEN und der CDU/CSU) Im Jahr 2000 spielt wieder einmal der Rechtsextre- Herr Siemann, bei uns gibt es ein Sprichwort, das aber mismus eine Rolle. Die Zahl der gemeldeten Fälle ist im wohl in allen deutschen Landen bekannt ist: Wer im Glas- Vergleich zum Vorjahr von 135 auf 196 gestiegen, was si- haus sitzt, der sollte nicht mit Steinen werfen. Es ist Gott cherlich auch damit zusammenhängt, dass die Meldebe- sei Dank so, dass der Bundesminister der Verteidigung, reitschaft der Soldatinnen und Soldaten gestiegen ist. als er sein Amt antrat, den damaligen Generalinspekteur Dennoch müssen wir unverändert wachsam sein und po- der Bundeswehr gebeten hat, eine Bestandsaufnahme litischer Bildung und innerer Führung nach wie vor einen über den Istzustand der Bundeswehr vorzunehmen. hohen Stellenwert einräumen. (Johannes Kahrs [SPD]: Sehr guter Hinweis!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Dieses Werk sollten Sie sich einmal zu Gemüte führen; (B) dann sehen Sie, in welchem Zustand wir die Bundeswehr Der Missbrauch von Alkohol und Drogen muss noch (D) von Ihnen übernommen haben. wirksamer als bisher bekämpft werden. Besonders wich- tig ist in diesem Zusammenhang das vorbildhafte Verhal- (Beifall bei der SPD) ten von Vorgesetzten aller Dienstgrade. Ich bin seit 1997 Mitglied des Verteidigungsausschus- ses. Ich kann mich noch gut an das Gesicht von Paul Probleme im Zusammenhang mit den Auslands- Breuer erinnern, das er jedes Mal machte, wenn die Nach- einsätzen spiegeln sich natürlich auch im vorliegenden richt kam, dass der Bundesminister der Finanzen – der da- Bericht des Wehrbeauftragten wider. Die Unterbringung mals nicht Eichel hieß – wieder einmal in den laufenden der Soldaten und ihre Möglichkeiten der Freizeitgestal- Haushalt eingegriffen hatte. tung sind verbesserungswürdig; wir alle kennen das ja von unseren Besuchen vor Ort. (Peter Zumkley [SPD]: Der Herr der Löcher war das!) Die Einsatzdauer – Herr Kollege Siemann hat es ange- sprochen – spielt nach wie vor eine große Rolle. Als Re- Dies geschah in den zwei Jahren, die ich überblicken gierungsfraktionen haben wir uns, dem Rat der militäri- kann, in einem Umfang von 2 Milliarden DM. schen Führung folgend, für sechs Monate ausgesprochen. (Paul Breuer [CDU/CSU]: Der Unterschied ist: Hier hatten Sie als Opposition es etwas einfacher. Durch Ich habe es damals gesagt und ihr schweigt!) die Möglichkeit, den Urlaub zu splitten oder ihn mit der Familie in der Einsatzregion zu verbringen, haben wir – Ich will nicht der Versuchung erliegen, mit Ihnen da- versucht, die aus der Einsatzdauer entstehenden Probleme rüber zu streiten – obwohl ich das gerne täte –; denn wir zu mildern. Die Gespräche mit Soldatinnen und Soldaten haben hier über den Bericht des Wehrbeauftragten für das vor Ort zeigen uns allerdings, dass die Probleme immer Jahr 2000 zu diskutieren. Er verdient allemal, dass wir uns noch vorhanden sind. mit ihm befassen und die Zeit, die uns dafür zur Verfü- gung steht, nicht mit anderen Dingen zubringen. (Hildebrecht Braun [Augsburg] [FDP]: So ist es!) Die Anzahl der Eingaben in den letzten Jahren ist na- hezu konstant geblieben. Ich halte das für ein gutes Zei- Vielleicht wären fünf Monate ohne Urlaub ein Kompro- chen. In den 80er-Jahren waren es zirka 58 Eingaben pro miss, über den man mit den Militärs einmal reden könnte. 1 000 Soldaten. Heute liegen wir ungefähr bei 60. Wir Unser gestriges Gespräch mit den Militärbischöfen der sollten uns in der künftigen Arbeit mit dem Inhalt der Ein- beiden großen christlichen Kirchen hat gezeigt, dass diese gaben beschäftigen. Deshalb will ich beispielhaft einige Probleme auch in der Militärseelsorge einen breiten Raum nennen. einnehmen. 19740 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001

Uwe Göllner (A) Meine Damen und Herren, damit komme ich zur Auch ohne die Debatte um die allgemeine Wehrpflicht (C) Militärseelsorge. Wenn es sie nicht gäbe – ich meine – darauf hat Herr Kollege Siemann ebenfalls hingewie- nicht Sie, Herr Breuer, sondern die Militärseelsorge –, sen – bereitet die Nachwuchsgewinnung objektiv Pro- bleme. Gestern Morgen haben wir im Unterausschuss für (Heiterkeit und Beifall bei der SPD) Streitkräftefragen in den neuen Bundesländern über einen dann müssten wir sie erfinden. Obwohl die Soldaten aus Bericht der Bundesregierung zu diesem Thema diskutiert. den neuen Bundesländern zu mehr als drei Vierteln und Auf Vorschlag der Kollegin Merten werden wir zur nächs- zunehmend auch die Soldaten aus den alten Bundeslän- ten Sitzung dieses Unterausschusses Kultusminister je ei- dern konfessionslos sind, ersetzen ihnen die Militärseel- nes SPD-geführten und eines CDU-geführten Bundeslan- sorger beider Konfessionen oft Vater und Mutter, vertrau- des einladen; denn es muss selbstverständlich werden, ensvollen Freund und allemal den Sozialarbeiter. Ich weiß dass unsere Bundeswehr die Gelegenheit erhält, sich an aus langer politischer Erfahrung, dass in der Politik Geld allen Schulen vorzustellen. eine große Rolle spielt. Der Spruch „Ohne Geld ist vieles (Beifall bei Abgeordneten der SPD, bei der nichts“ hat ja durchaus seine Berechtigung. CDU/CSU sowie des Abg. Günther Friedrich (Werner Siemann [CDU/CSU]: Ohne Moos Nolting [FDP]) nix los!) Meine Damen und Herren, der Bericht des Wehrbeauf- Aber wir sollten uns davor hüten, bei der Militärseelsorge tragten zeigt mir, dass die Angehörigen der Bundeswehr zu sparen. ihr Beschwerde- und Anregungsrecht verantwortungsvoll wahrnehmen und trotz alledem mit ihrer Bundeswehr zu- Dies gilt auch für die Familienbetreuung. frieden sind. Wir wollen diesen Zustand erhalten; dafür (Beifall der Abg. Christa Reichard [Dresden] arbeiten wir. Wenn der Herr Wehrbeauftragte in seiner be- [CDU/CSU]) kannten Demut uns dabei hilft, nehmen wir seine Unter- stützung gerne an. Den Menschen, die hier hauptamtlich und ehrenamtlich arbeiten, gilt unser aller Dank. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ CDU/CSU) DIE GRÜNEN sowie der Abg. Christa Reichard [Dresden] [CDU/CSU]) Vizepräsidentin Anke Fuchs: Nun hat der Kollege Die Debatte um die allgemeine Wehrpflicht hat sich Hildebrecht Braun für die FDP-Fraktion das Wort. im Berichtsjahr 2000 fortgesetzt. Unser Staat schützt (B) Menschenwürde, Leben, Freiheit und Eigentum seiner (D) Bürger. Er erkennt diese Werte ausdrücklich als Grund- Hildebrecht Braun (Augsburg) (FDP): Frau Präsi- rechte an. Die aktuelle politische Situation zeigt uns, dass dentin! Herr Wehrbeauftragter! Meine lieben Kolleginnen der Schutz dieser Werte dringend geboten ist. Dabei stellt und Kollegen! Wir sind auf die Institution des Wehrbeauf- sich die Frage, wer denn eigentlich dieser Staat ist und wer tragten stolz; denn diese Einrichtung hat sich in den letz- in Person diesen Schutz gewährleisten muss. ten Jahrzehnten als außerordentlich wirkungsvoll und hilf- reich erwiesen. (Paul Breuer [CDU/CSU]: Sehr gut!) Sie, Herr Penner, sind der Adressat einer großen An- Wir alle beantworten diese Frage gleich: Die Summe der zahl von Beschwerden von Soldaten, die keinen Dienst- Menschen, die in diesem Land leben, bilden diesen Staat. weg einhalten müssen, sondern ungeschminkt und direkt Wenn die jungen Männer dieses Landes für diesen Schutz über Missstände bei der Bundeswehr informieren und Ab- Wehrdienst leisten, dann kann aus meiner Sicht dieser hilfe verlangen. Wir wiederum, das Parlament und insbe- Dienst nicht verfassungswidrig sein. sondere die Mitglieder des Verteidigungsausschusses, (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie bei sind die natürlichen Adressaten von Beschwerden über der CDU/CSU) die Arbeit des Wehrbeauftragten; denn Sie, Herr Penner, erfüllen Ihren Auftrag für den Deutschen Bundestag, der Einzig die Wehrgerechtigkeit könnte zum Problem Sie bestellt hat. werden. Die Senkung der Wehrdienstdauer auf neun Mo- nate ab dem nächsten Jahr soll diesem Problem entgegen- Herr Penner, mir liegen keine Beschwerden über Ihre wirken. Ob dies eine dauerhafte Lösung ist, werden wir Amtsführung vor. Ich bin davon überzeugt, dass es den genau beobachten müssen. Kolleginnen und Kollegen genauso geht. Das bedeutet, dass unsere Soldatinnen und Soldaten mit Ihrer Arbeit Der Bundespräsident und sein Vorgänger – beide sind ebenso zufrieden sind wie wir. ja ausgewiesene Befürworter der Wehrpflicht – haben empfohlen, die Debatte um die Wehrpflicht öffentlich und (Beifall bei der FDP und der SPD sowie bei offensiv zu führen. Seit ihrer Einführung hat die Wehr- Abgeordneten der CDU/CSU) pflicht mehr als 8 Millionen junge Männer aller gesell- Wir sind sogar so zufrieden, Herr Penner, dass wir gleich schaftlichen Schichten in die Bundeswehr geführt – ein zweimal im Jahr über Ihren Bericht diskutieren: einmal, wesentlicher Beitrag zur gesellschaftlichen Verwurzelung wenn Sie ihn einbringen, und ein weiteres Mal, wenn der der Bundeswehr, den wir bislang alle als ausgesprochen Verteidigungsausschuss Ihren Bericht mit geringfügigen positiv empfunden haben. Anmerkungen an das Plenum zurückgibt. Ich bin mir Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19741

Hildebrecht Braun (Augsburg) (A) nicht so ganz sicher, ob diese Praxis der programmierten gen in einen Auslandseinsatz schicken werden, wollen (C) Doppelarbeit so weitergeführt werden sollte. aus gutem Grunde, dass sie mit einer großen Mehrheit im Bundestag in diesen Einsatz geschickt werden, wenn er (Beifall des Abg. Uwe Göllner [SPD]) denn notwendig ist. Nun werden wir gerade morgen ein Zwar motiviert es sicherlich den Wehrbeauftragten, wenn Szenario erleben, das genau dies verhindern wird. In der er gleich zweimal im Jahr damit rechnen darf, dass seine morgigen Abstimmung wird es möglicherweise eine ganz Arbeit von allen Fraktionen hier öffentlich gelobt und ihm knappe Mehrheit für die Entsendung von deutschen Sol- gedankt wird. Nur, wir würden dem eigentlichen Zweck daten geben. Aber ein erheblicher Teil dieser Mehrheit des Berichts des Wehrbeauftragten besser dienen, wenn wird gerade aus denjenigen Abgeordneten bestehen, die wir nach Vorlage der Stellungnahme der Bundesregierung eigentlich gegen diesen Einsatz sind, während die Abge- zu diesem Bericht in einer längeren und damit mit mehr ordneten von CDU/CSU und FDP, die nachhaltig für die Tiefgang versehenen Debatte einmal über diesen Bericht Beteiligung deutscher Soldaten sind, dagegen stimmen diskutieren würden. müssen, weil es ihnen wirklich nicht zuzumuten ist, dass (Beifall bei der FDP, der SPD und dem sie mit dieser Abstimmung gleichzeitig diesem Kanzler BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) und der rot-grünen Regierung das Vertrauen aussprechen. Das ist nicht in Ordnung. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Vizepräsidentin Anke Fuchs: Herr Kollege, gestat- Johannes Kahrs [SPD]: Das ist doch ein guter ten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Breuer? Kanzler! Dem kann man doch zustimmen!) Meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der Re- Hildebrecht Braun (Augsburg) (FDP): Ja. gierungskoalition, es geht nicht an, dass wir hier morgen ein völlig falsches Bild abgeben werden und sich die Sol- Vizepräsidentin Anke Fuchs: Bitte sehr, Herr Kol- daten dann fragen werden: lege Breuer. (Johannes Kahrs [SPD]: Dann stimmt doch zu!) Paul Breuer (CDU/CSU): Sind Sie nicht auch der Sag mal, das kann doch nicht wahr sein? CDU/CSU und Meinung, Herr Kollege Braun, dass es dann, wenn die FDP haben dagegen gestimmt, obwohl sie in Wirklichkeit Stellungnahme der Bundesregierung zum Bericht des dafür sind, während Rot-Grün zum Teil dafür gestimmt Wehrbeauftragten wesentlich später als die erste Debatte hat, obwohl schriftliche Erklärungen zur Abstimmung in im Deutschen Bundestag erfolgt, durchaus notwendig ist, großer Zahl abgegeben worden sind, aus denen hervor- (B) dass in Kenntnis der Stellungnahme eine erneute Debatte geht, dass man eigentlich dagegen ist. (D) im Deutschen Bundestag erfolgt? (Johannes Kahrs [SPD]: Dann stimmt doch so, wie ihr wollt!) Hildebrecht Braun (Augsburg) (FDP): Herr Breuer, Ein solches Schauspiel wird uns in der Öffentlichkeit im ich gehe davon aus, dass die Bundesregierung bzw. das Inland wie auch im Ausland schaden. Es wird auch dem Verteidigungsministerium sehr rasch einen eigenen Vertrauen schaden, das unsere Soldaten in diesen Bundes- Bericht zu den Klagen, die im Bericht des Wehrbeauftrag- tag haben, der sie in diesen Auslandseinsatz schicken will. ten aufgelistet sind, vorlegen könnte; (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Paul Breuer [CDU/CSU]: Könnte!) Ich hätte mir gewünscht, der Bundesverteidigungsmi- denn das Ministerium ist ja sehr nahe an den Problemen nister hätte mit der ihm verbliebenen Autorität dafür ge- dran. Bisher bekommen nur wir, die Mitglieder des Ver- sorgt, dass der Bundestag die Chance gehabt hätte, über teidigungsausschusses, einen solchen Bericht. Da stimmt einen so wichtigen Beschluss isoliert, also nur darüber zu etwas im System nicht. entscheiden; denn dann hätten die Soldaten auch erfahren, Herr Breuer, vielleicht können Sie mir zustimmen, dass wer wirklich dafür und wer wirklich dagegen ist. der Wehrbeauftragte nicht etwa der Beauftragte des Ver- Ich will ein Thema ansprechen, das im Bericht des teidigungsausschusses, sondern der Beauftragte des Wehrbeauftragten noch nicht enthalten ist, aber typisch ganzen Deutschen Bundestages ist. Dann müsste auch der für die gegenwärtige Situation ist. Die Piloten der Bun- Bericht der Bundesregierung zu den Feststellungen im Bericht des Wehrbeauftragten als eigene Drucksache des deswehr leisten pro Jahr nur 150 Flugstunden, obwohl Deutschen Bundestages dem Deutschen Bundestag zur die NATO 180 Flugstunden fordert. Kenntnis gebracht werden. Vor diesem Hintergrund könn- (Manfred Opel [SPD]: Wir sind die NATO! – ten wir – und zwar nicht nur die Mitglieder des Verteidi- Gegenruf von der CDU/CSU: Wir sind ein gungsausschusses, sondern der gesamte Bundestag – über Teil!) Probleme diskutieren, die sehr wohl Auswirkungen ha- ben, die über den engeren Bereich der Verteidigung hin- Das ist die bisherige Praxis. Genau in dieser Woche nun ausgehen, einfach deswegen, weil wir eine Bürgerarmee, findet eine Konferenz in Gatow statt, bei der darüber eine Parlamentsarmee haben. nachgedacht wird, wie die Zahl von 150 Stunden auf 120 Stunden gesenkt werden kann, weil die Führung des Ich möchte einen Punkt ansprechen, der mir heute ganz Ministeriums es so will. Gleichzeitig bekomme ich eine besonders am Herzen liegt. Unsere Soldaten, die wir mor- schriftliche Antwort des Verteidigungsministeriums auf 19742 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001

Hildebrecht Braun (Augsburg) (A) eine entsprechende Anfrage von mir, nach der Herr Vizepräsidentin Anke Fuchs: Nun hat das Wort der (C) Scharping angeordnet hat, dass die Zahl der Flugstunden Kollege Winfried Nachtwei für Bündnis 90/Die Grünen. auf 180 angehoben wird. Da weiß die Spitze des Ministe- ( [SPD]: Endlich mal ein vernünf- riums nicht, was die zweite Ebene in diesem Zu- tiger Redner!) sammenhang aus Kostengründen bereits veranlasst. Das ist natürlich das zentrale Thema: Es gibt nicht genügend Geld für die Bundeswehr, Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sehr (Johannes Kahrs [SPD]: Weil Sie das damals geehrter Herr Wehrbeauftragter, lieber Herr Penner, wenn gestrichen haben!) ich jetzt nichts zu Ihnen und zu Ihrem Amt sagte, dann weil die Prioritäten für die Sicherheit und für die Bundes- wäre das schon merkwürdig. Das heißt aber nicht, dass ich wehr nicht in der Weise gesetzt werden, wie das geboten mich jetzt sozusagen unter Zwang zu Ihrem Amt äußere. wäre. (Paul Breuer [CDU/CSU]: Wobei Sie ja keinen (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Zwang kennen!) Wir sparen jetzt sogar an der Sicherheit der Besatzungen Vielmehr sage ich aus wirklich fester Überzeugung – auch für meine Fraktion –, dass wir Ihnen und Ihren Mitarbei- unserer Kampfflugzeuge. terinnen und Mitarbeitern für Ihre Amtsführung sehr herz- (Verena Wohlleben [SPD]: Es ist unanständig, lich danken. so etwas zu behaupten! – Gegenruf von der (Johannes Kahrs [SPD]: Guter Mann! – Gegen- CDU/CSU: Ihr spart die Bundeswehr kaputt!) ruf von der CDU/CSU: Besser als Scharping!) Es kann doch wohl nicht wahr sein, dass NATO-Standard Vor einem halben Jahr mussten Sie in Ihrem Bericht 180 Stunden sind und wir die Zahl der Flugstunden auf feststellen, dass Überprüfungsersuchen häufig fehlerhaft 120 reduzieren, was bedeutet, dass unsere Piloten nicht und verzögert behandelt worden sind. Das haben wir im die notwendige Erfahrung haben. Verteidigungsausschuss mit deutlicher Besorgnis zur (Beifall bei der CDU/CSU – Johannes Kahrs Kenntnis genommen. Wir hoffen sehr – davon gehen wir [SPD]: Entweder wissen Sie es nicht besser auch aus –, dass Sie in den letzten Monaten solche Klagen oder Sie haben sich nicht informiert!) nicht mehr führen mussten. – Ich sehe an Ihrer Körper- sprache, dass man da doch wohl etwas vorsichtig sein Ich möchte noch ein Thema ansprechen, das mir wich- muss. tig ist. Mit einer Laienhaftigkeit sondergleichen wurde (Zuruf von der CDU/CSU: Da sieht er mehr (B) vor eineinhalb Jahren über die Verlegung von Standor- (D) ten nicht nur diskutiert, sondern auch entschieden. Da als wir!) glaubte man wirklich, man könnte mit dem Beschluss, die Dann haben wir das jetzt auch im Protokoll; das ist ja Fernmeldeschule in Feldafing am Starnberger See wichtig. (Werner Siemann [CDU/CSU]: Die kommt Herr Wehrbeauftragter, Sie sind bekannt, auch beliebt, mir bekannt vor!) werden aber wegen Ihrer offenen Worte manchmal kri- an irgendeinen anderen Standort in Bayern zu verlegen tisch aufgenommen. Sie haben in Ihrem Bericht erstmalig – es wurde noch nicht einmal gesagt, wohin –, nüchtern festgestellt, dass Militär und eben auch die Bun- deswehr grundsätzlich – grundsätzlich! – für Menschen (Paul Breuer [CDU/CSU]: Ohne Telefonan- mit rechtsextremer Orientierung anziehend wirken kön- schluss!) nen, weil es um Hierarchien, um Machtausübung, Um- Geld für die Bundeswehr gewinnen; in der Tat sind das in- gang mit Waffen usw. geht. Diese grundsätzliche Gefähr- teressante Liegenschaften dort. Die Herrschaften, die da- dung – das heben Sie zu Recht deutlich hervor – erfordert rüber entschieden haben, haben aber kein Gutachten zu nicht nur ständige Aufmerksamkeit, sondern auch ganz der Frage vorlegen können – Ihnen lag auch keines vor –, besondere Bemühungen um eine praktizierte – das ist das welche Kosten mit diesem Schritt verbunden sind. Die Entscheidende – innere Führung. Politische Bildung leis- Kosten sind deutlich höher als die Erlöse, die man durch tet dabei Unterstützung. Dabei geht es auch um so etwas den Verkauf dieser Liegenschaften realistischerweise er- Banales, dass auch für die Kompaniechefs zum Beispiel zielen kann. Ein solches Vorgehen ist typisch. Das geht in ausreichend Zeit dafür zur Verfügung stehen muss. dieser Form nicht. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Zugleich macht der Wehrbeauftragte aber auch deut- der CDU/CSU) lich, dass die heutige Einsatzrealität der Bundeswehr So gab es Fehler am laufenden Band. rechtsextremen Erwartungen und Einstellungen diametral zuwider läuft. Das wird schon deutlich, wenn wir uns die Ich muss zum Schluss kommen. Wir werden dem normalen Aufträge anschauen, die mit Friedensbewah- Bundesverteidigungsministerium sehr genau auf die Fin- rung, etwa im Kosovo, oder mit dem Minderheitenschutz ger gucken. Die Fehler dürfen sich nicht noch mehren. zu tun haben. Die Arbeit wird auch immer im multilatera- len Verbund geleistet. Das alles wirkt tatsächlich ab- Vielen Dank. stoßend auf Leute mit rechtsradikalen Einstellungen. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Aber das ist die Realität der Bundeswehr. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19743

Winfried Nachtwei (A) Dieser Bericht des Wehrbeauftragten ist der erste Jahres- Zusammenhang mit dem Luftkrieg im Kosovo einige Ir- (C) bericht, der sich mit einem ganzen Jahr Volleinsatz von Bun- ritationen und Unsicherheiten gegeben hat. Damals ist die deswehrkräften im Rahmen von SFOR oder KFOR befasst. Forderung deutlich formuliert worden, dass Regierung In diesem Jahr bewegt sich die Dauerbelastung der Solda- und Parlament Aufträge klar benennen müssen, sodass die tinnen und Soldaten der Bundeswehr auf höchstem Niveau. Soldatinnen und Soldaten diese Aufträgen auch mit gutem Gewissen erfüllen können. Aus aktuellem Anlass möchte ich auf die weit verbrei- tete Frage eingehen, warum es denn ausgerechnet unter Morgen steht hier im Bundestag ein neuer Bundes- Rot-Grün zu so vielen Auslandseinsätzen gekommen ist. wehrauftrag zur Debatte und zur Abstimmung. Dieser Auf- Ich kann Ihnen versichern – das gilt genauso für trag ist in seiner Zusammensetzung gar nicht so unge- CDU/CSU und FDP –: Keiner von uns hat sich um diese wöhnlich, aber in Bezug auf die Aufgabenstellung und den Auslandseinsätze gerissen. Einsatzraum wird mit diesem Auftrag wirklich Neuland (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN betreten. Er wird auch etliche Unwägbarkeiten enthalten. und bei der SPD) Für Regierung und Parlament wird es deshalb umso wich- tiger sein – wir stehen da in der Pflicht –, Soldaten wie Öf- Es ist nicht so, dass wir auf der Lauer liegen würden, um fentlichkeit überzeugend und glaubwürdig zu vermitteln, solche Möglichkeiten zu finden. Nein, auf dem Balkan dass diese Entsendung notwendig und verantwortbar ist und in benachbarten Krisen- und Konfliktregionen stellt und dass sie ganz und gar nicht in ein afghanisches Kriegs- sich die Gewaltsituation so dar, dass es der Dämpfung und abenteuer führen kann und darf. Vielmehr dient sie einzig der Gewalteindämmung bedarf. der gezielten Verfolgung von Terroristen. (Hildebrecht Braun [Augsburg] [FDP]: Wo er Ich danke Ihnen für lhre Geduld. Recht hat, hat er Recht!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Es geht also nicht um die Durchsetzung machtpolitischer und bei der SPD sowie des Abg. Hildebrecht Interessen, wofür das Militär in früheren Jahrhunderten Braun [Augsburg] [FDP]) oder Jahrzehnten und bei vielen anderen Staaten immer wieder eingesetzt wurde, sondern um Gewalteindämmung. Vizepräsidentin Anke Fuchs: Ich erteile dem Kolle- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- gen Dr. Winfried Wolf für die PDS-Fraktion das Wort. SES 90/DIE GRÜNEN, der SPD, der CDU/ CSU und der FDP) Dr. Winfried Wolf (PDS): Sehr geehrte Frau Präsi- In dem Zusammenhang möchte ich zwei Vorfälle schil- dentin! Sehr geehrter Herr Wehrbeauftragter! Werte Kol- dern, die, glaube ich, von exemplarischer Bedeutung sind. leginnen! Werte Kollegen! Wir haben jedes Jahr – min- (B) Vor wenigen Tagen kam es in Mazedonien wieder zu destens einmal, meistens aber zweimal – die Gelegenheit, (D) schweren Auseinandersetzungen; vier mazedonische Po- den Bericht des Wehrbeauftragten zu diskutieren. Es han- lizisten sind ermordet worden. Dann hat es eine Geisel- delt sich um einen Bericht der, unabhängig davon, ob von nahme von albanischer Seite gegeben. Der deutsche Am- Claire Marienfeld oder von Willfried Penner herausgege- ber-Fox-Kommandeur hat es durch Vermittlungen be- ben, zu einer differenzierten Betrachtungsweise heraus- wirkt, dass ein Blutvergießen verhindert wurde. Das ist fordert. Dies gilt sowohl für jemanden wie mich, der im das erste Beispiel. Jahre 1967 den Wehrdienst verweigert hat, als auch für (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- eine Partei wie die PDS, die generell eine radikale Abrüs- SES 90/DIE GRÜNEN, der SPD, der CDU/ tung fordert. Wenn ich von „differenzierter Betrachtungs- CSU und der FDP) weise“ spreche, dann meine ich, dass es sich immer um detaillierte und weitgehend objektive Berichte handelt. Das andere Beispiel: Am 8. Oktober ereignete sich ein Zwischenfall, der in der Öffentlichkeit praktisch gar nicht In diesen Berichten erfährt man viele Details über die vermerkt worden ist: Es ist zum ersten Mal ein Soldat der Bundeswehr, zum Teil auch Banales und Erstaunliches. Bundeswehr durch gegnerische Waffeneinwirkung zu So wird zum Beispiel auf Seite 19 festgestellt, dass es im Tode gekommen – früher sagte man dazu: gefallen. Was Kosovo für die Bundeswehr zu wenig Fitnesscenter gebe. war das für ein Soldat? Es war ein Oberstabsarzt der (Christine Lehder [SPD]: Das ist wichtig! Sie Bundeswehr namens Dieter Eißing. In welchem Zusam- haben keine Ahnung!) menhang war das? Er war auf einer Beobachtermission der Vereinten Nationen in Georgien, von der zu Recht ge- Außerdem wird festgestellt, dass der EXPO-Rabatt für die sagt wird: Ohne diese Beobachtermission gäbe es dort Soldaten zu niedrig war. Auf Seite 38 steht, dass für die schon seit geraumer Zeit wieder blutigen Krieg. Das sind Soldaten der Gebirgsjägertruppe, die aus orthopädi- zwei hervorragende Beispiele für eine andere Realität; schen Gründen spezielles Schuhwerk benötigen, der das muss wahrgenommen werden. „Bergschuh/leicht“ nicht in ausreichender Menge zur Ver- fügung stand. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der (Hildebrecht Braun [Augsburg] [FDP]: Versu- CDU/CSU und der FDP – Paul Breuer [CDU/ chen Sie nicht, den Bericht lächerlich zu ma- CSU]: Es ist kaum jemand da von Ihren Bän- chen! – Christine Lehder [SPD]: Gehen Sie ein- ken, der es hören müsste!) mal hin und leisten Sie das, was die Soldaten leisten!) Der vorherige Bericht macht deutlich, dass es in den Reihen der Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr im – Ich mache den Bericht nicht lächerlich. 19744 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001

Dr. Winfried Wolf (A) Hinter manchem Banalen steht aber auch Bedrohliches von einigen Umbenennungen, die noch unter Rühe erfolgt (C) und Ernstes. Ein Beispiel aus der Militärseelsorge: Sie, sind, und einer einzigen Umbenennung, die unter Scharping Herr Penner, stellen auf Seite 37 fest, dass im Osten erfolgt ist, hat keine weitere Kasernenumbenennung statt- Deutschlands – 70 Prozent der Menschen, auch 70 Pro- gefunden. Das heißt, dass zum Beispiel nach wie vor an Ge- zent der Angehörigen der Armee, sind konfessionell nicht neral Hüttner, also an einen Mann, der an SS-Massakern in gebunden – viele Soldaten bei Militärseelsorgern Rat su- der Ukraine beteiligt war, in einer Kaserne in Hof erinnert chen. Das steht mit den Auslandseinsätzen und mit den wird. Wir haben ein weiteres Beispiel, die Heusinger-Ka- Kampfeinsätzen der Bundeswehr im Zusammenhang. serne in Hammelburg. Sie heißt so, obwohl der Offizier un- ter anderem Chef der Organisationsabteilung des Heeres Herr Penner, auf Seite 21 sprechen Sie davon, dass kli- war, konkret beteiligt an der Erarbeitung des Plans Barba- maangepasste Textilien entwickelt werden müssen und rossa. dass die Entwicklung einer Tropenbekleidung anstehe. Dahinter verbirgt sich ebenfalls das Thema Auslands- (Peter Zumkley [SPD]: Das war der erste einsätze der Bundeswehr. Herr Penner ist ganz offen und Generalinspekteur der Bundeswehr!) schreibt auf Seite 16: Wir hatten im Juni den Jahrestag der Erarbeitung des Es hat sich gezeigt, dass die Einsätze im Rahmen von Plans Barbarossa, des Überfalls auf die Sowjetunion. SFOR und KFOR von nicht absehbarer Dauer sind. „Tropenbekleidung“, das kann konkret heißen, dass zum Vizepräsidentin Anke Fuchs: Herr Kollege, Ihre Beispiel morgen nach einem Beschluss über den Einsatz Redezeit ist weit überschritten. von 3 900 Soldaten Einsatzziele wie Somalia im Spiel sein werden. Dr. Winfried Wolf (PDS): Ich glaube schon, dass Sie Ich erinnere Sie, die sozialdemokratischen Abgeordne- von der SPD und von den Grünen die Aufgabe hätten, im ten – Sie haben viele Zwischenrufe gemacht –, daran, dass Sinne einer demokratischen Kultur in der Bundeswehr Sie noch im Jahre 1993 vor dem Hintergrund des damali- hier konkrete Änderungen zu erreichen. Das wäre ein gen Somalia-Einsatzes nach Karlsruhe zogen, weil Sie Auftrag, der für alle Parteien gemeinsam gilt. dachten: Es kann doch nicht wahr sein, dass die Bundes- (Peter Zumkley [SPD]: Wer sagt das? Vor wel- wehr auf der Grundlage unserer Verfassung dort einge- chem Hintergrund?) setzt werden kann. Danke schön. (Christine Lehder [SPD]: Wir wollten nur Klarheit!) (Beifall bei der PDS) (B) (D) Jetzt, wo Sie politisch das Sagen haben, sind Sie für eine Ausweitung dieser Auslandseinsätze eingetreten. Vizepräsidentin Anke Fuchs: Nun erteile ich das Wort dem Parlamentarischen Staatssekretär Walter Ich möchte ganz kurz vier Stichpunkte nennen, Kolbow. (Zuruf von der CDU/CSU: Sie haben nur noch vier Minuten!) Walter Kolbow, Parl. Staatssekretär beim Bundesmi- in denen wir mit den Vorschlägen von Herrn Penner über- nister der Verteidigung: Frau Präsidentin! Sehr geehrter einstimmen. Herr Wehrbeauftragter! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst muss ich einige Irritationen, möglicherweise Erstens. Der Drill und das Schleifen der Soldaten müs- auch Vergesslichkeiten, aufseiten der Opposition anspre- sen abgeschafft werden. Es werden richtige Vorschläge chen und Sie darauf hinweisen, dass der Bundesminister zum Abbau gemacht. der Verteidigung seine Stellungnahme zum Bericht des Zweitens. Die entwürdigenden Aufnahmerituale, vor Wehrbeauftragten, der vom 13. März datiert, am 18. Mai allem bei Unteroffizieren, müssen abgeschafft werden. dieses Jahres dem Vorsitzenden des Verteidigungsaus- schusses zugesandt hat. Drittens. Das absurde Ost-West-Gefälle beim Sold muss aufgehoben werden. (Hildebrecht Braun [Augsburg] [FDP]: Ja, natürlich, aber nur ihm!) Viertens. Der erneute Anstieg von rechtsextremen und fremdenfeindlichen Vorfällen muss bekämpft wer- Es besteht jederzeit die Möglichkeit, diese Stellungnahme den. Im Jahre 1998 waren es 319 Vorfälle; im Jahre 1999 zu vervielfältigen und vorzulegen. Herr Kollege Braun, gab es einen erfreulichen Rückgang auf 135 Vorfälle. Im Sie hätten diese Stellungnahme heute hier durchaus mit letzten Jahr hatten wir leider wieder 196 Vorfälle. einbeziehen können. Sie haben diese Gelegenheit nicht ge- nutzt. Sie haben über alles geredet, nur nicht über den Be- Ich möchte mit den gleichen Ausführungen schließen, richt des Wehrbeauftragten und über die vorliegende Stel- die ich zu dem letzten Bericht – noch von Claire Marienfeld lungnahme des Bundesministeriums der Verteidigung. – vorgetragen habe. Der damalige Staatsminister Naumann (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des hat sein Amt mit der Maßgabe angetreten, dass unter der BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) SPD-geführten Regierung die Kasernen, die noch an kolo- niale Traditionen, an SS-Traditionen, an Wehrmachtstradi- Im Übrigen darf ich zu Ihrer Kenntnis darauf hinwei- tionen erinnern, sämtlich umbenannt würden. Abgesehen sen, dass die Beschlussempfehlung lautet, der Bundestag Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19745

Parl. Staatssekretär Walter Kolbow (A) wolle beschließen, diesen Bericht der Bundesregierung lamentarischen Staatssekretäre werden dafür sorgen, dass (C) zur Prüfung, Erwägung und Beachtung zur Kenntnis zu nirgendwo im Haus oder auch bei Ihnen, Herr Wehrbe- bringen, soweit die Hinweise nicht bereits erledigt sind, auftragter, Informationslücken entstehen können. und sie sind zum großen Teil in den Prüfbemerkungen be- (Beifall bei der SPD – Werner Siemann reits erledigt. [CDU/CSU]: Das muss aber genau protokol- (Verena Wohlleben [SPD]: Hört! Hört!) liert werden! Da lassen wir uns mal überra- Meine sehr verehrten Damen und Herren, mit dem schen! – Zuruf von der CDU/CSU: „Entstehen Wehrbeauftragten verbindet uns die Auffassung, die Gott können“, das heißt, die vorhandenen werden sei Dank auch im Hause über die Fraktionsgrenzen hin- nicht geschlossen!) weg immer wieder zum Ausdruck kommt, dass Attrakti- Meine Damen und Herren, der Herr Wehrbeauftragte vität und Motivation ganz wesentlich von der Ausstat- hat in seiner wichtigen Rede zu seinem Bericht auch die tung der Truppe sowie von der Fürsorge und Betreuung Grenzen der Privatisierung, die wir anzustreben haben, der Soldatinnen und Soldaten und deren Familien abhän- um Effizienzgewinne und Ausgabensenkungen zu erzie- gen. Ich stehe nicht an, hier auch kritische Bemerkungen len, angesprochen. Bei der Neuausrichtung der Bundes- aufzunehmen, sie mitzunehmen und sie auch, da nichts so wehr kommt der strategischen Partnerschaft mit der Wirt- gut ist, dass es nicht noch besser werden könnte, per Wie- schaft eine große Bedeutung zu. dervorlage zur Veränderung und zur Abschaffung solcher Mängel einzubringen. Sie wissen genau, dass das unser (Verena Wohlleben [SPD]: So ist es!) Bemühen ist. Diese dient dazu, finanzielle Freiräume zu schaffen, die Deshalb sage ich Ihnen im Anschluss an das, was wir am zur Beseitigung des Investitionsstaus vergangener Jahre Freitag hier miteinander besprochen haben, noch einmal, dringend nötig sind. So kann die Bundeswehr mit den dass die effizienten Strukturen und die moderne und lei- Fähigkeiten versehen werden, die sie zur Wahrnehmung stungsfähige Ausrüstung, die unerlässlich ist, immer wieder ihrer Aufgaben benötigt. Neben Maßnahmen der internen auf den Weg gebracht werden und dass wir vor allem auch – Optimierung werden deshalb die einzelnen Geschäftsbe- das hat der Herr Wehrbeauftragte dankenswerterweise reiche der Bundeswehr daraufhin untersucht, ob die dort ebenfalls angesprochen – den Anspruch erheben, Verteidi- erbrachten Leistungen nicht in anderen Betriebsformen gungsarmee und Einsatzarmee in Ausrüstung und Mate- wirtschaftlicher erbracht werden können. rialausstattung auf gleiches Niveau zu bringen. Das ist Ich darf alle, die mit uns daran arbeiten, dieses rei- natürlich unser Bestreben. Auch in Zeiten knappen Geldes bungs- und friktionsloser sowie noch erfolgreicher zu ma- bitte ich, diese Tatsache und Notwendigkeit zu betrachten chen, in diesem Zusammenhang noch einmal darauf hin- (B) und mit einzubeziehen, dass wir unseren im Einsatz befind- weisen, dass wir im Rahmen von Pilotprojekten (D) lichen Soldaten die beste Ausrüstung und den besten Schutz Erkenntnisse über die Wirtschaftlichkeit einzelner Berei- mitgeben müssen. Das tun wir jetzt und das tun wir auch, che gewonnen haben und in den noch laufenden Projek- wenn der Deutsche Bundestag morgen die entsprechende ten gewinnen werden. Durch diesen Prozess – auf diese Entscheidung treffen sollte. Feststellung kommt es mir gerade auch angesichts der (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Anmerkung des Herrn Wehrbeauftragten an – werden je- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) doch keineswegs die Kernfähigkeiten der Streitkräfte ge- fährdet. Ziel ist es, ein Höchstmaß an Unterstützungslei- Ich bin dem Kollegen Göllner sehr dankbar, dass er stungen im Zusammenwirken mit der Wirtschaft zu noch einmal auf das Bundeswehrneuausrichtungsgesetz erbringen, sofern die Kosten, zu denen ein privater An- und das 6. Besoldungsänderungsgesetz hingewiesen hat. bieter die geforderten Leistungen erbringt, unter den Kos- Er hat gesagt, welche wesentlichen Errungenschaften ten der jetzigen Form der Leistungserbringung liegen. diese Gesetze bei der Neuordnung der Laufbahnen, bei der Abschaffung des Beförderungsstaus und bei der Ver- Ich bin Ihnen, Herr Wehrbeauftragter, sehr dankbar größerung des Anteils neuer Stellen mit sich bringen. dafür, dass Sie die Frage der Planungssicherheit im Zu- Trotz Ihrer bemühten Oppositionsrede, Herr Siemann, sammenhang mit der Umsetzung der Reform angespro- sollten Sie dies einräumen und endlich einmal anerken- chen und aus Ihrer Sicht wichtige Punkte hervorgehoben nen, dass wir hier etwas tun, zu dem Sie in Ihrer Regie- haben. Dies ist ein wichtiger Anspruch, den wir auch bei rungszeit nie in der Lage waren. der Umsetzung der Reform und bei der Erstellung der Or- ganisationspläne, die tagtägliche Aufgabe im Ministerium (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des und in den nachgeordneten Behörden, die die Umsetzung BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Werner in den Händen haben und steuern, ist, natürlich einhalten Siemann [CDU/CSU]: Gebetsmühlenartig!) wollen. Wir sind dankbar dafür, wenn wir durch Ihre Der Herr Wehrbeauftragte hat sich darüber beklagt, Truppenbesuche und andere Tätigkeiten von Mängeln er- dass er mit dem Intranet und mit Informationen aus unse- fahren, damit wir, sollte es Fehler geben, hier nachsteu- rem Ressort die eine oder andere Schwierigkeit hat. Ich ernd und korrigierend eingreifen können. Da, wo Men- nehme das natürlich auf. Ich habe den praktischen Vor- schen arbeiten, passieren gerade bei einer so groß schlag, weil die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Ad- angelegten Reform natürlich auch Fehler. Deswegen ministrationen normale Menschen sind und die eine oder reden wir ja im Übrigen auch im Parlament über andere Unzulänglichkeit geschehen kann: Wenden Sie diese Dinge, damit wir deren Inhalte noch intensiver sich an das Bundesministerium der Verteidigung. Die Par- transportieren und die Motivation derer, die draußen die 19746 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001

Parl. Staatssekretär Walter Kolbow (A) Bundeswehrreform umzusetzen haben – das ist verdammt Wir sehen in dem vorliegenden 42. Jahresbericht des (C) nicht einfach –, stärken können. Wehrbeauftragten eine wichtige Bestätigung für diesen von uns eingeschlagenen und von mir kursorisch darge- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ stellten Kurs. Die kritische, offene und sachlich ausgewo- DIE GRÜNEN – Werner Siemann [CDU/ gene Darstellung der inneren Lage der Streitkräfte und der CSU]: Darüber können wir auch außerhalb des Vorgänge durch den Wehrbeauftragten des Deutschen Parlaments einmal reden!) Bundestages ist uns – wie in all den Jahren zuvor – eine – Aber natürlich, Herr Kollege Siemann. Das können wir willkommene Hilfe und zugleich Ansporn für den weite- zusammen tun. Das ist kein Problem. ren Umbau der Bundeswehr sowie für die weitere Ausge- staltung zukunftsfähiger Streitkräfte und damit für eine Zum Abschluss meiner Anmerkungen zur Rede und einsatzfähige Bundeswehr. zum Bericht des Herrn Wehrbeauftragten möchte ich noch einen Punkt aufgreifen: Das Ost-West-Gefälle beim Sold Die kritische und offene, aber auch sachlich ausgewo- ist ein immer wiederkehrendes Thema. Das unterschied- gene Darstellung der Erkenntnisse des Wehrbeauftragten liche Besoldungsniveau betrifft natürlich nicht allein die stellt eine wichtige Hilfe bei der Verbesserung der inneren Bundeswehr, sondern den gesamten öffentlichen Dienst Führung, der Motivation, der Fürsorge und der Attrakti- in den neuen Bundesländern. Eine Sonderregelung – ich vität des Arbeitsplatzes Bundeswehr für uns dar. Hier- muss das leider auch heute aus der Sicht des Bundes- für danke ich auch namens des Bundesministers der Ver- ministeriums für Verteidigung sagen – für die Angehöri- teidigung dem Herrn Wehrbeauftragten des Deutschen gen der Bundeswehr würde den Vorwurf der Privilegie- Bundestages und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbei- rung zur Folge haben und auch politisch nicht durch- tern ebenso ausdrücklich wie für die stets hervorragende setzbar sein. Ich erinnere mich, dass Ministerpräsidenten und sehr konstruktive Zusammenarbeit. und Finanzminister der neuen Bundesländer in Kabinetts- Herzlichen Dank für Ihre Geduld. sitzungen, an denen ich teilgenommen habe, uns auch aus ihrer Sicht immer wieder gesagt haben – deshalb auch die- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ser Hinweis in Richtung auf Ihre Anmerkungen, Herr DIE GRÜNEN) Wehrbeauftragter –, dass die Tarifgemeinschaft von Län- dern und Gemeinden dafür nicht ausschließlich zuständig Vizepräsidentin Anke Fuchs: Nun hat der Kollege sei und Länder und Kommunen die Auswirkungen auf Hans Raidel für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. ihre Finanzsituation, wenn wir hier als Vorreiter vorange- hen, nicht aushalten würden. Hans Raidel (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Herr (Verena Wohlleben [SPD]: So ist es!) (B) Wehrbeauftragter! Meine sehr verehrten Damen und Her- (D) Deshalb bitten wir hier auch den Bund um Vorsicht. Fra- ren! Auch ich möchte Ihnen, Herr Wehrbeauftragter, sehr gen Sie Ihre Kollegen in den Landtagen und Ihre Finanz- herzlich für Ihre Arbeit danken, vor allem deshalb, weil minister. Sie werden dann sehen, wie sich die Finanzsi- Sie viele Themen aufgreifen, auf den Punkt bringen und tuation von Ländern und Gemeinden insgesamt bei einer das Ministerium dazu zwingen, sich mit diesen Fragen Umsetzung dieser Forderung darstellen würde. sehr eingehend zu befassen. Die innere Führung ist ein Kernstück, ein Parade- Vizepräsidentin Anke Fuchs: Herr Staatssekretär, stück dieses Parlamentsheeres. So muss es einen schon der Kollege Breuer hat eine Frage. – Die lassen Sie zu. verwundern, wenn man in diesem Bericht lesen muss, Bitte sehr. dass einem weiblichen Feldwebel mit auffällig rot ge- färbten Haaren nicht erlaubt wurde, anlässlich eines Be- förderungsappells die Truppenfahne zu tragen. Paul Breuer (CDU/CSU): Verehrter Herr Staatssekre- tär, lieber Kollege Kolbow, so sehr ich bereit bin, anzuer- (Paul Breuer [CDU/CSU]: Es hätte schwarz- kennen, dass die von Ihnen geschilderten Zusammen- rot-gold sein müssen!) hänge stimmen, möchte ich Sie doch fragen, welche Kolleginnen mit derart roten Haaren, hätten also über- Strategie Verteidigungsminister Scharping bei dem Ver- haupt keine Chance, in dieser Truppe etwas Positives zu sprechen, dass diese Besoldungsunterschiede alsbald ab- leisten. Ich muss daher schon die Frage stellen, ob diese gestellt werden könnten, auf einer Tagung in Dresden im Kritik am Aussehen eines weiblichen Soldaten zeitgemäß Jahre 1999 vorgeschwebt haben mag. ist und ob sie noch zu den allgemeinen Lebensgewohn- heiten und -umständen passt. Ich bin Ihnen dankbar, Herr Walter Kolbow, Parl. Staatssekretär beim Bundesmi- Wehrbeauftragter, dass Sie auch einen solchen Punkt auf- nister der Verteidigung: Der Bundesminister der Verteidi- gegriffen haben, um im Bereich der inneren Führung die gung bemüht sich, dieses Problem schrittweise zu lösen. Maßstäbe und Verhältnisse zurechtzurücken. An der Lösung dieses Problems wird gearbeitet; es ist (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) aber noch nicht gelöst. Ich verweise in diesem Zusam- menhang auf meine hier vorgetragenen Anmerkungen. Herr Staatssekretär, Sie haben in Ihrem Beitrag das po- sitive Bemühen herausgestellt. Ich unterstelle Ihnen per- (Beifall bei der SPD – Peter Zumkley [SPD]: sönlich, dass Sie sich sehr bemühen. Ich glaube auch da- Ihr habt es doch auch nicht hingekriegt! – ran, dass sich der Verteidigungsminister bemüht. Aber Verena Wohlleben [SPD]: Eigentor!) Fakt ist doch, dass er sich in diesen Fragen weder gegen Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19747

Hans Raidel (A) den Finanzminister noch gegen den Bundeskanzler hier teilweise hören, wie umständlich bis ablehnend das (C) durchsetzen kann. Sonst wäre die finanzielle Verfasstheit Verhalten in den Verfahren ist, habe ich die Bitte an Sie, dieser Armee nicht so, wie sie nun tatsächlich ist. aber auch an Sie, Herr Wehrbeauftragter, dass man diesen Personenkreis in ganz besonders fürsorgliche Betrachtun- (Paul Breuer [CDU/CSU]: Er geht halt baden!) gen einbezieht. Die Frage nach dem Geld bestimmt selbstverständlich die Wirklichkeit. Nach den schrecklichen Ereignissen vom (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – 11. September haben Sie im Rahmen eines Antiterrorpa- Manfred Opel [SPD]: Das habe ich getan!) kets nachgebessert. Sie haben rund 1,5 Milliarden DM für – Wenn das so ist, Herr General a. D. – Sie waren verant- die Bundeswehr reklamiert. Wenn Sie sich aber dieses Pa- wortlich tätig –, dann wundere ich mich, dass Sie als ak- ket im Einzelnen anschauen, dann finden Sie keinen aus- tiver General damals nicht dafür gesorgt haben, dass diese gewiesenen Betrag zur Verbesserung der Betreuung der Dinge besser geregelt wurden; sonst wäre dieser Einwand Soldaten im Einsatz und der Betreuung der Familien da- hier nicht notwendig gewesen. heim. Ich bin der Meinung, dass in diesem Paket entspre- chende Beträge für diesen Zweck enthalten sein müssten. (Manfred Opel [SPD]: Die Verfahren gibt es Sollte es irgendwo nicht aufgeschlüsselt darin stehen, dann seit 30 Jahren! Wer hat denn da regiert? – Peter müsste das hier zusätzlich zum Ausdruck gebracht wer- Zumkley [SPD]: Da hatten wir eine andere Re- den; denn der Einsatz auf dem Balkan, der Einsatz in Ma- gierung, die sich darum nicht gekümmert hat! zedonien und die neuen Aufgaben, über die morgen vo- Das ist alles in Ihrer Zeit passiert und jetzt laden raussichtlich beschlossen wird, zwingen uns dazu, ins- Sie das alles bei uns ab!) besondere der Betreuung unserer Soldaten vor Ort und der Ich höre hier zwar immer Botschaften, aber die Aktivitä- Familienbetreuung daheim ganz besonderes Augenmerk ten, die daraus zu folgen haben, bleiben mangelhaft. zu schenken. Ich darf noch einmal auf das verweisen, was gestern insbesondere in den Gesprächen mit den Militär- Deswegen kritisiere ich abschließend, dass Sie, Herr bischöfen zum Ausdruck gekommen ist. Dankenswerter- Staatssekretär auch hier in Ihrem Beitrag alles wieder so weise ist in dem einen oder anderen Beitrag darauf hinge- positiv geschildert haben. Die Botschaft hör ich wohl, al- wiesen worden. lein, mir fehlt der Glaube. Meine Damen und Herren, ich möchte hier keine Ein- (Peter Zumkley [SPD]: Das ist aber Ihr zelfälle aufgreifen, sondern ich teile alles, was zur Lauf- Problem!) bahnattraktivität, zur Besoldungssituation und zum Beför- Deswegen unterstütze ich, sehr gerne zusammen mit derungsstau vom Kollegen Siemann gesagt worden ist. Ich meiner Fraktion alle Eingaben des Wehrbeauftragten, die (B) meine, er hat Recht, dass das nicht ausreicht, was mit den darauf hinzielen, nun das Bewusstsein im Ministerium zu (D) neuen gesetzlichen Vorgaben auf den Weg gebracht wor- schärfen, dass wir bei einem Parlamentsheer für unsere den ist. Das kann nur ein Anfang sein. Wir brauchen in al- Soldaten in allen Bereichen da zu sein haben, damit die len Truppengattungen nur die Besten. Ich darf Ihnen bei- Akzeptanz für die Arbeit und die Einsätze unserer Solda- spielsweise aus dem Bereich Luftwaffe erzählen, dass ten auch in der Bevölkerung vergrößert wird. unter elf Abiturienten nur ein verwendungstauglicher Pilot ist. Das zeigt dann den hohen Qualitätsanspruch der Zufriedene Soldaten leisten mehr als unzufriedene. Bundeswehr insgesamt auf. An diesen Maßstäben müssen (Uwe Göllner [SPD]: Das ist wie bei wir weiterarbeiten, nicht zuletzt auch deswegen, weil die Abgeordneten!) Bundeswehr natürlich mit der Industrie und der Wirtschaft ganz allgemein konkurrieren muss. Wenn Sie da die finan- Deswegen bitte ich Sie alle herzlich, in diesem Sinne wei- ziellen Möglichkeiten sehen und denen die bescheidene terzuarbeiten und Ihre Vorbehalte aufzugeben. Besoldung der Bundeswehr in den qualifiziertesten Lauf- Vielen Dank. bahnen gegenüberstellen, dann ist dieses Anliegen, das auch der Wehrbeauftragte angesprochen hat, mehr als be- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) rechtigt. Ich hoffe, dass der Einstieg 2002 fortgeführt wird. Wir werden ein besonderes Augenmerk darauf richten. Vizepräsidentin Anke Fuchs: Das Wort hat nun die Gleichzeitig meine ich, dass der Bundeswehrverband Kollegin Verena Wohlleben für die SPD-Fraktion. Recht hat, wenn er die Situation der Ausgeschiedenen, also der Pensionisten, reklamiert und sagt, dass die Ab- Verena Wohlleben (SPD): Frau Präsidentin! Sehr ge- schmelzung in diesen Bereichen aufgrund dieses schwie- ehrter Herr Wehrbeauftragter! Meine sehr verehrten Kol- rigen Dienstes nicht gerechtfertigt ist. Ich persönlich un- legen und Kolleginnen! Ich komme zurück zum Thema, terstütze jeden Protest, der seitens des Bundeswehr- zu dem Bericht des Wehrbeauftragten, den wir ja heute verbandes zugunsten der Soldaten angestrengt wird. auf der Tagesordnung haben. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD) Meine Damen und Herren, in diesem Zusammenhang Unsere Soldaten in der Bundeswehr werden in vielen möchte ich hier noch einen Punkt ansprechen, nämlich Einheiten und in vielen Funktionen bis an die Grenzen ih- den Umgang mit kranken Soldaten aus der Fürsorge- rer Leistungsfähigkeit gefordert. pflicht des Dienstherren heraus, festgemacht am Stich- wort Strahlengeschädigte. Angesichts dessen, was wir (Peter Zumkley [SPD]: Sehr wahr!) 19748 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001

Verena Wohlleben (A) Weil das so ist, ist es notwendig, dass wir, das Parlament, beispielhaft erstens, bei den beginnenden Strukturverän- (C) das Wirken unserer Soldatinnen und Soldaten mit An- derungen der Bundeswehr selbstverständlich die Vertrau- stand, mit Respekt, aber auch mit großem Dank begleiten. enspersonen einzubeziehen, zweitens, die Information der Soldaten über Fürsorgeleistungen und Zulagen vor ihren (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Auslandseinsätzen zu verbessern, und drittens, weitere Unsere Vorstellung von den Aufgaben des Wehrbe- Verbesserungen der Kommunikation zwischen Einsatz- auftragten war bisher mehr von der Rolle als Kummer- land und Heimat vorzunehmen. kasten der Truppe geprägt. Damit ist in den vergangenen Zum Thema Personalangelegenheiten: Im Berichts- Jahrzehnten eine belastbare Vertrauensbasis zwischen der jahr 2000 lag der Personalgewinn höher als im Durch- Institution Wehrbeauftragter und den Soldaten aller schnitt der zehn Jahre davor. Die Bundeswehr hat von ih- Dienstgrade, der militärischen Führung sowie der poli- rer Attraktivität also grundsätzlich nichts verloren. tischen Leitung geschaffen worden. Dies hat ganz ent- scheidend zum positiven Bild der Bundeswehr im In- und (Peter Zumkley [SPD]: Sehr gut!) Ausland beigetragen. Da aber der Ergänzungsbedarf in der Truppe höher als der Doch in der letzten Dekade haben sich die Rahmenbe- derzeitige Personalgewinn liegt, wird unser Attraktivitäts- dingungen der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik programm dafür sorgen, noch mehr qualifizierte Bewer- grundlegend geändert. Aus der „army in being“ in einer ber anzuziehen. bipolaren Bündniswelt mit klaren Abgrenzungen ist eine (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Armee im Einsatz geworden. Das, so denke ich, wird auch DIE GRÜNEN) direkte Auswirkungen auf die Rolle des Wehrbeauftragten haben; denn neben dem gewohnten Kummerkasten sehe Lieber Herr Kollege Siemann und lieber Herr Kollege ich angesichts der Lage, in der wir uns befinden, eine neue Raidel, wir wollen jedem Zeitsoldaten die berufliche fordernde Aufgabe des Wehrbeauftragten darin, mehr An- Höherqualifizierung ermöglichen. Wer als Geselle in die walt der Soldatinnen und Soldaten gegenüber der Leitung Bundeswehr eintritt, soll sie künftig als Meister verlassen, und dem Parlament zu sein und mit seiner Autorität dafür und wer noch keine Ausbildung hat, soll in der Bundes- zu sorgen, dass zum Beispiel der persönliche Schutz der wehr eine erhalten. Das sind unsere Vorstellungen. Dies Soldaten, aber auch Qualität und Einsatzfähigkeit der wird in enger Ausbildungskooperation mit der Wirtschaft Ausrüstung den anspruchsvollen Aufträgen nach Art und und den Berufsverbänden geschehen. Umfang entsprechen. Auch die Besoldung wird attraktiver: Die künftige Dieses Amt wird vom Wehrbeauftragten gewissenhaft Eingangsbesoldung wird A 3 sein. Bei Ihnen war sie jah- ausgefüllt. Der Wehrbeauftragte redet niemandem nach relang A 1 bzw. A 2; dies vergessen wir ganz schnell. (B) dem Munde. Es ist klar ersichtlich, dass Soldaten er- (D) (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Peter wünscht sind, die kritisch mitdenken, mitentscheiden und Zumkley [SPD]: Zu mehr waren sie nicht mitverantworten. Dies zeigt der Bericht auf. Es ist kein fähig!) Mängelbericht und keine Zustandsbeschreibung der Bundeswehr, sondern er gibt zusätzlich wertvolle, kon- Die Zahl der Planstellen für A 9 und für Kompaniechefs struktive Anregungen. Dafür danken wir ganz besonders – das betrifft A 12 – wird erheblich erweitert und somit die herzlich. Ich bin sicher, dass diese neue Rolle des Wehr- Berufszufriedenheit erheblich gesteigert. Den Forderun- beauftragten gerade den Familienangehörigen unserer gen des Wehrbeauftragten nach Fortkommens- und Soldaten die notwendige Zuversicht gibt, dass für ihre Entwicklungschancen sowie Besoldungserhöhungen Söhne und Männer, aber auch Mütter und Töchter auch in wird damit ebenfalls Rechnung getragen. gefährlichem Umfeld bestens gesorgt wird. (Peter Zumkley [SPD]: Sehr richtig!) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Wir danken dem Wehrbeauftragten ausdrücklich für DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der seine wertvolle Arbeit und wünschen uns eine weiterhin FDP) gute und konstruktive Zusammenarbeit. Sehr geehrter Das Thema „weibliche Soldaten in der Truppe“ fällt in Herr Dr. Penner, liebe Soldatinnen und Soldaten, Sie kön- der konkreten Umsetzung noch nicht in das Berichts- nen sicher sein, dass der Bericht des Wehrbeauftragten jahr 2000. Trotzdem wurde dieser Bereich erstmals in den von uns auch in Zukunft genau gelesen und beachtet wird. Bericht aufgenommen. Dabei ist es äußerst erfreulich, Wo es Mängel gibt, werden wir diese beseitigen. Wir dan- dass im Zusammenhang mit dem vermehrten Einsatz von ken aber auch dem Bundesministerium der Verteidigung, Frauen in der Bundeswehr kaum Probleme genannt dass die angegebenen Mängel aufgegriffen wurden und so wurden. Dies zeigt deutlich, dass die vorbereitenden schnell wie möglich beseitigt werden. Maßnahmen des Bundesministeriums der Verteidigung so Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich danke Ihnen für gut waren, dass die Eingliederung in die Truppe weitge- die Aufmerksamkeit. hend problemlos ablaufen konnte. Die detaillierte Infor- mation der Bewerberinnen im Vorfeld wirkte zudem (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ falschen Berufsvorstellungen entgegen. Dafür danken wir DIE GRÜNEN) dem Ministerium. Die Anregungen, die der Bericht gibt, sind erwähnens- Vizepräsidentin Anke Fuchs: Ich schließe die Aus- wert. Wir empfehlen, diese auch umzusetzen. Ich nenne sprache. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19749

Vizepräsidentin Anke Fuchs (A) Wir kommen jetzt zur Beschlussfassung des Verteidi- – So steht es wörtlich im Gentechnikbericht der Bundes- (C) gungsausschusses zu dem Jahresbericht 2000 des Wehr- regierung. Die Gentechnikregelungen von 1990 haben beauftragten auf den Drucksachen 14/5400 und 14/7111. sich also laut dieser Studie als sicher erwiesen und unter- Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegen- stützen die verantwortbare Nutzung der neuen Technik in stimmen und Enthaltungen gibt es nicht. Die Beschluss- hohem Maße. empfehlung ist einstimmig angenommen. Deshalb ist es nicht nur falsch, sondern auch unverant- wortlich – ich greife diesen Punkt auf, weil er zu Beginn Nun rufe ich Punkt 15 der Tagesordnung auf: dieses Jahres eine große Rolle gespielt hat –, dass diese Beratung des Antrags der Abgeordneten Helmut von Anfang an unter höchsten Sicherheitsvorkehrungen Heiderich, Dr. Maria Böhmer, , weite- und wissenschaftlichen Kontrollen entwickelte Technik rer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU auch von der Bundesregierung mit dem BSE-Desaster Zukunft für die „grüne“ Gentechnik vermengt wurde. – Drucksache 14/6616 – (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Überweisungsvorschlag: War es doch bei BSE genau umgekehrt: Wissenschaft- Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und liche Expertisen lagen vor, aber niemand hat sie zur Landwirtschaft (f) Kenntnis genommen bzw. die Entwicklung danach aus- Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie gerichtet. Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit (Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktor- NEN]: Besonders Ihre Partei nicht!) sicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Technik- – Ich glaube, dass das nicht an unserer Partei, sondern an folgenabschätzung ganz anderen, den Import nach Deutschland betreffenden Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Fragen gelegen hat. Darüber können wir gern an anderer Entwicklung Stelle diskutieren. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Bei der Nutzung der Gentechnik passierte jedenfalls Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich höre das genaue Gegenteil: Keine kommerzielle Anwendung keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. wurde freigegeben, ohne dass vorher unzählige wissen- Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen schaftliche Studien durchgeführt wurden. Ich will einige Helmut Heiderich, CDU/CSU-Fraktion, das Wort. der ganz aktuellen Studien erwähnen: (B) Am 9. Oktober 2001, also vor wenigen Wochen, hat die (D) Helmut Heiderich (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Europäische Kommission zum Beispiel darauf verwiesen, Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Zukunft für die dass 81 Studien der vergangenen Jahre zum gleichen Er- ‚grüne‘ Gentechnik“, Zukunft für eine Schlüsseltech- gebnis gekommen sind, nämlich dass die Entwicklung der nologie des neuen Jahrhunderts, das ist die Initiative, die grünen Gentechnologie sicher, ausgereift und längst kom- wir heute dem Hause vorlegen. Den Aufbruch in diesem merziell einsatzfähig ist. Forschungs- und Anwendungsbereich hat selbst der Bun- Am 16. Oktober 2001, also etwas später, veröffent- deskanzler bereits im vergangenen Jahr gefordert. lichte die EPA, die amerikanische Umweltbehörde, eine Seit Monaten entfalten das Europäische Parlament und neue umfassende Studie zu Bt-Corn. Sie hat festgestellt, die Europäische Kommission – wohlgemerkt: nach jahre- dass die Entwicklung, der Anbau und der Verzehr von langem Stillstand – neue Aktivität. Zukunftshandeln ist Bt-Corn keinerlei Negativwirkungen auf die menschliche jetzt auch von Deutschland gefordert. Inzwischen wird Gesundheit – auch nicht für Allergiker – oder die Umwelt allgemein anerkannt, dass diese Technologie ausgereift hat. Zu den Umweltauswirkungen könnte ich noch wei- ist. Mehr als 50 Millionen Hektar weltweiten Anbaus von tere Ausführungen machen; ich will aufgrund der relativ gentechnisch verbesserten Pflanzen zeigen deren Poten- knapp bemessenen Redezeit darauf verzichten. Eines aber zial mehr als deutlich. ist klar: Die Anwendung dieser Technologie bedeutet auch in einem hohen Maße Umweltschutz, weil wesent- Bedeutsam in diesem Zusammenhang ist – darauf lege lich weniger Pestizide, insbesondere Herbizide, einge- ich hier ganz besonderen Wert –, dass von Anfang an setzt werden müssen als vorher. höchste Sicherheitsstufen vorgegeben wurden. Spezifisch Einige Wissenschaftler erklären sogar, dass die beson- für jeden Einzelfall und Schritt für Schritt konnte die Ent- dere Sorgfalt und die besonders präzise Anwendung der wicklung jederzeit sicher verantwortet werden. Selbst die Sicherheitsvorschriften diese neuen Züchtungen sicherer heutige Bundesregierung, also Ihre, kommt – da bitte ich als bisherige Pflanzen und Nahrungsmittel machen. Dies Sie, einmal genau zuzuhören – in ihrem Zweiten Gen- ist im Übrigen – man erinnere sich – auch die Auffassung technikbericht, den sie im Juli dieses Jahres vorgelegt hat, der Wissenschaftler gewesen, die dieses Thema vor weni- nicht umhin, dies zu bestätigen: gen Tagen bei uns in der Anhörung behandelt haben. Schäden für Mensch oder Umwelt, die auf gentech- (Ulrich Heinrich [FDP]: Richtig!) nische Arbeiten oder gentechnisch veränderte Orga- nismen zurückzuführen wären, sind der Bundesre- – Richtig, man muss noch einmal daran erinnern; denn es gierung aus Deutschland nicht bekannt. wird gern vergessen, dass dies dort ausgeführt worden ist. 19750 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001

Helmut Heiderich (A) Ebenso falsch ist die ständig wiederholte Behauptung, Deutschland darf sich nicht auf die Grundlagenfor- (C) von den Fortschritten dieser Biotechnik würden nur die schung beschränken. Natürlich sind die Fortführung des Großen profitieren. Weltweite Studien neueren Datums, erfolgreichen Bio-Regio-Konzeptes der 90er-Jahre und zum Beispiel in China und Südafrika, haben eindeutig er- die langfristige öffentliche Förderung der Forschungspro- geben, dass gerade die kleinen Bauern in den Entwick- jekte dringend notwendig. Aber ohne die ökonomische lungsländern die größten Vorteile von dieser Technik ha- Umsetzung dieser Erkenntnisse in die Praxis und ohne die ben. So hat nicht zuletzt die UN im Juli dieses Jahres mit Chance auf wirtschaftlichen Erfolg wird die Forschung ihrem Programm UNDP, United Nations Development auf Dauer nicht in Deutschland bleiben. Die aktuellen Er- Programme, gefordert, dass zukünftig der Einsatz dieser fahrungen dieses Jahres und die Zahlen der Regierung neuen Technologien in den Dritte-Welt-Ländern unter- zeigen, dass es bereits eine deutliche Tendenz der Ab- stützt werden müsse, weil damit Hunger und Armut ver- wanderung aus Deutschland gibt. ringert werden könnten. (Matthias Weisheit [SPD]: Das ist ein (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Gerücht!) der FDP) – Ich kann Ihnen gerne aufzeigen, dass die Zahl der Frei- Auch der Generaldirektor des IFPRI, des International setzungen in Deutschland enorm zurückgegangen ist. Food Policy Research Institute, in Washington, Herr Pinstrup-Andersen aus Dänemark, den ich deshalb so gut (Matthias Weisheit [SPD]: Sie reden von kenne, weil er vor wenigen Tagen hier in Berlin sein neues Abwanderungstendenzen!) Buch vorgestellt hat und ich ihn aus diesem Anlass dort Daran erkennen Sie, dass hier keine Forschung mehr statt- aufgesucht habe, ein Agrarökonom, der im Übrigen ge- findet. rade den World Food Prize 2001 – auch keine sehr geringe Auszeichnung – erhalten hat, fordert in seinem Buch, dass Lassen Sie mich noch etwas zum Verbraucher sagen. wir die Gentechnik nicht nur aus dem Blickwinkel der eu- Wir wollen den Verbraucher bei dieser Entwicklung mit- ropäischen Sattheit betrachten sollten. Nach seiner Er- nehmen. Der erste Schritt muss der großflächige Ver- kenntnis und nach Forschungen aus seinem Hause suchsanbau in Deutschland sein, der seit Jahren überfällig komme sie vielmehr gerade den Kleinbauern in den ist. Solange diese Erfahrungen nicht bestehen, sind die von Dritte-Welt-Ländern zugute. Ihnen immer wieder angeführten Umfragen, aufgrund de- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ren festgestellt wird, dass die Verbraucher in Deutschland keine Gentechnik wollen, wertlos. Meine Damen und Her- Er fordert – das hat er mir wörtlich gesagt – gerade für ren, solange in unserem Land niemand weiß, dass er täg- diese Bereiche den Zugang zu Saatgut, das gegen Schäd- lich mit jeder roten Tomate auch grüne Gene zu sich (B) linge resistent ist. Damit werde ein wichtiger Beitrag zur nimmt, relativiert sich diese Aussage von selbst. (D) Bekämpfung des Hungers geleistet. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zuruf So viel also zu Ihrem immer wieder vorgetragenen ver- von der CDU/CSU: Selbst wenn die Tomaten staubten Argument, Gentechnik bringe nur Vorteile für in- schwarz wären!) ternationale Großkonzerne. Man muss sich schon einmal mit den Ergebnissen der Wissenschaft und der Forschung Es muss jeder selbst feststellen können, dass grüne Gene vertraut machen, ehe man so etwas sagt. nicht „igitt“, sondern erforschtes, verantwortbares und dringend benötigtes Potenzial für die Zukunft unseres (Heinrich-Wilhelm Ronsöhr [CDU/CSU]: Planeten sind. Genau!) Ich habe leider nur noch wenige Sekunden Zeit, des- Nachdem im vergangenen Dezember erstmalig das Ge- nom einer Pflanze, der Arabidopsis thaliana, entschlüsselt halb lassen Sie mich kurz sagen: Die Kennzeichnung ist wurde, gibt es auch in Deutschland zahlreiche potenzial- unseres Erachtens notwendig und unbedingt zu praktizie- trächtige Neuentwicklungen der Forscher. Salztoleranz, ren. Deshalb fordern wir, den von der EU auf dem Agrar- Trockenheitsresistenz, Pharma-Rohstoffe, Kunststoff-Er- rat am 23. Oktober, also vor wenigen Wochen, vorge- satzteile sind nur einige dieser Aspekte. Die EU-Kommis- schlagenen Grenzwert von 1 Prozent – er wurde dort von sion hat deshalb die Mitgliedstaaten aufgefordert – das soll- Frau Künast begrüßt – nicht nur zu begrüßen, sondern ihn ten Sie nicht vergessen –, eine Führungsrolle bei der in Deutschland auch endlich umzusetzen. Nach wie vor Weiterentwicklung zur kommerziellen Anwendung zu weigert sich Frau Künast, diesen Grenzwert zu reali- übernehmen und die Chancen dieser Entwicklung stärker sieren. herauszustellen. Die Bundesregierung kommt dieser Auf- Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Zukunft forderung der Europäischen Union bisher allerdings über- der grünen Gentechnik ist die Zukunft der Schlüsseltech- haupt nicht nach. Im Gegenteil: Die Vorwärtsbewegung der nologie in Deutschland. Bitte stimmen Sie unserem An- EU wird in Deutschland weiter blockiert. Die dort längst trag zu! beschlossenen Richtlinien werden hier nicht umgesetzt. Schönen Dank. (Matthias Weisheit [SPD]: Das ist doch lachhaft!) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) – Herr Weisheit, inzwischen haben wir eine Klage der Europäischen Union wegen Untätigkeit Ihrer Ministerin Vizepräsidentin Anke Fuchs: Nun hat der Kollege Künast am Hals. Matthias Weisheit für die SPD-Fraktion das Wort. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19751

(A) Matthias Weisheit (SPD): Frau Präsidentin! Ge- Der TAB-Bericht betont die Wichtigkeit der strikten (C) schätzte Kolleginnen und Kollegen! Der Antrag der Trennung wissenschaftlicher Aussagen über die Wahr- CDU/CSU scheinlichkeit von Ereignissen von bewertenden, also von (Ulrich Heinrich [FDP]: Ist sehr gut!) politischen Einschätzungen. Über die bewertenden Aus- sagen können wir uns gerne streiten, die wissenschaftli- ist – zu dem Schluss kommt man, wenn man ihn gelesen chen Aussagen aber müssen uns allen als Grundlage die- hat – ein absolutes Ärgernis. Und die Rede des Kollegen nen. Sonst können wir nicht sachgerecht diskutieren. Heiderich klang eher wie das, was man auf parlamentari- schen Abenden seitens der Gentechnikindustrie bzw. der Der TAB-Bericht stellt bei der Risikoabschätzung Saatgutindustrie hört. eine „dürftige Datenlage“ fest. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD) DIE GRÜNEN – Zuruf von der SPD: Nach dem Nur 1 Prozent der Freisetzungsversuche in der EU und fünften Glas Wein!) 15 Prozent in Deutschland waren mit einer ökologischen Das war eine saubere Reklamerede. Begleitforschung verbunden. Das ist zu wenig. (Albert Deß [CDU/CSU]: Die hat er gut vorge- (Beifall bei der SPD) tragen! – Heinrich-Wilhelm Ronsöhr [CDU/ Es ist jedenfalls zu wenig, um zu behaupten – ich zitiere CSU]: Aber zum Essen seid ihr alle da!) aus Ihrem Antrag –, dass „direkte und indirekte, erkenn- – Moment, lass mich mal in Ruhe reden. – Sie wurde dem bare oder denkbare Auswirkungen auf die ökologischen Anspruch nicht gerecht und sie entsprach auch in keiner Kreisläufe analysiert und ausgeschlossen“ werden kön- Weise dem Antrag. nen. Ich habe gesagt, der Antrag ist ein Ärgernis. Er igno- Im TAB-Bericht heißt es, dass es sich bei den Umwelt- riert nämlich den derzeitigen Wissensstand wirkungen von Freisetzungen um „unspezifische biologi- sche Phänomene handelt, die von einer Vielzahl wechsel- (Beifall bei der SPD) wirkender Faktoren abhängig sind und die trotz teilweise und fällt in finsterstes Grabenkampfvokabular zurück. jahrzehntelanger Forschung in vielen Aspekten nur un- Damit widerspricht er seiner eigenen Forderung, den Gra- vollständig verstanden sind“. Weiter heißt es: benkampf aufzugeben. Eine Fortführung und Intensivierung der Sicher- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ heitsforschung ist zweifelsohne notwendig, um die DIE GRÜNEN) großen Wissenslücken zu den möglichen Auswir- (B) kungen des Anbaus transgener Pflanzen zu verklei- (D) Außerdem ignoriert er den sich aus dem Wissensstand er- nern. gebenden Handlungsbedarf und die Diskussion auf EU- Ebene. Das sind die Tatsachen; diese dürfen wir nicht ignorieren. Zunächst zum Wissensstand. Der Antrag wurde im Juli Damit komme ich zum zweiten Punkt, der mich geär- dieses Jahres eingebracht. Schon seit März liegt uns der gert hat, nämlich zu Ihrem Grabenkampfvokabular. Nicht Bericht des Büros für Technikfolgenabschätzung zum aus einer ideologischen Verweigerung heraus, wie Sie be- Thema „Risikoabschätzung und Nachzulassungsmonito- haupten – das steht in Ihrem Antrag, Sie sollten ihn lesen –, ring transgener Pflanzen“ vor. verhindern wir jeglichen Praxisanbau. Versuchsfreiset- zungen finden weiterhin statt. Mit dem vorsichtigen Um- Vizepräsidentin Anke Fuchs: Herr Kollege, gestat- gang mit der Gentechnologie ziehen wir die Konse- ten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ronsöhr? quenzen aus den erkennbaren Wissenslücken. Das ist eine verantwortungsvolle Politik. Wir verhindern diese Tech- nologie nicht. Matthias Weisheit (SPD): Angesichts unseres knap- pen Zeitkorsetts lasse ich heute keine Zwischenfragen zu. (Heinrich-Wilhelm Ronsöhr [CDU/CSU]: Das Auch wir haben uns eben zurückgehalten. hat Herr Müntefering bestritten!) Dieser Bericht – er wird an anderer Stelle noch aus- Im Gegenteil: Wir stellen Forschungsmittel bereit. führlich debattiert – stellt eine wertvolle Grundlage für Leider wird erst seit der Regierungszeit von SPD und eine sachliche Diskussion über die grüne Gentechnik dar Bündnis 90/Die Grünen mit Hochdruck an Konzepten für und gibt einen fundierten Überblick über den derzeitigen Prüfungen gearbeitet, die für die Erfassung negativer Aus- Wissensstand sowie über die offenen Fragen, die mit dem wirkungen überhaupt geeignet sind. Die Unternehmen Einsatz gentechnisch veränderter Pflanzen in der Land- sind übrigens sehr viel kooperativer als Sie. Sie haben in- wirtschaft verbunden sind. Ein solcher Bericht, in dem zwischen erkannt, dass nur ein vorsichtiger Umgang mit viel Arbeit von guten Fachleuten, eine großartige Recher- Gentechnik und die schrittweise Schließung der Wissens- che, hoher Zeitaufwand und eine Menge Geld stecken, lücken geeignet sind, das Vertrauen der Verbraucher zu sollte es doch wert sein, wenigstens gelesen zu werden. gewinnen. Das aber haben Sie offensichtlich nicht getan. Allein die Lektüre der Zusammenfassung hätte uns einen Antrag (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ dieses Niveaus erspart. DIE GRÜNEN) 19752 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001

Matthias Weisheit (A) Nur so haben wir die Möglichkeit, die Akzeptanz für die muss auf tierische Produkte wie Milch, Fleisch und Eier (C) grüne Gentechnik zu erhöhen. von mit gentechnisch veränderten Futtermitteln gefütter- ten Tieren und auf die Hilfsstoffe ausgedehnt werden. (Abg. Helmut Heiderich [CDU/CSU] meldet sich zu einer Zwischenfrage) (Beifall der Abg. Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]) Vizepräsidentin Anke Fuchs: Ich hatte Herrn Erst die Verabschiedung einer solchen Verordnung sichert Weisheit so verstanden, dass er keine Zwischenfragen zu- eine eindeutige Kennzeichnung, Transparenz und die lassen möchte. Wahlfreiheit der Verbraucher. Deshalb sollten Sie uns im Sinne Ihrer Forderung Matthias Weisheit (SPD): Deshalb war es im Gegen- „Hand in Hand mit dem Verbraucher“ in diesem Punkt un- satz zu Ihrer Behauptung, Herr Heiderich, auch kein rie- terstützen. Aber wie ich Sie kenne, werden Sie doch wie- siger Fehler des Bundeskanzlers, die Gespräche mit der der die Ersten sein, die Blockade und Verweigerungshal- Wirtschaft zum Dreijahresprogramm zunächst zu unter- tung betreiben. brechen. Das war vor dem Hintergrund der BSE-Krise die Wir lehnen Ihren Antrag ab. Er basiert nicht auf unse- einzig mögliche Konsequenz, damit die ohnehin miss- rem heutigen Wissensstand und den daraus resultierenden trauisch beobachtete grüne Gentechnik nicht noch zusätz- Notwendigkeiten. Aber bei Ihnen wäre schon viel gewon- lich in den Schub des Vertrauensverlustes der Verbraucher nen, wenn Sie Ihre eigenen Forderungen nach „Hand in geriet. Wir sind uns darin einig, dass diese Gespräche wie- Hand mit dem Verbraucher“ und nach der Beendigung der aufgenommen werden sollen, und zwar begleitet von ideologischer Grabenkämpfe wirklich einmal ernst neh- einem vorläufigen Kommerzialisierungsverzicht, damit men würden. gemeinsam Programme zur Schließung der Wissens- lücken entwickelt werden können. Herzlichen Dank. In diesem Punkt ist Ihr Antrag übrigens überholt. Als (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ „unsinnigen und unnötigen Schlingerkurs“ bezeichnen DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Sie unsere Position zur grünen Gentechnik. Wir halten uns PDS) strikt an unsere Koalitionsvereinbarung. Für jeden nachlesbar steht dort, dass wir die verantwortbaren Inno- Vizepräsidentin Anke Fuchs: Ich erteile dem Kolle- vationspotenziale der Bio- und Gentechnologie systema- gen Ulrich Heinrich für die FDP-Fraktion das Wort. tisch weiterentwickeln. Was verantwortbar ist und was (B) nicht, bedarf genauerer Untersuchungen – darüber habe (D) ich vorhin schon gesprochen – und der Bewertung der Un- Ulrich Heinrich (FDP): Frau Präsidentin! Meine lie- tersuchungsergebnisse. ben Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Weisheit, Ihre Beurteilung bezüglich des CDU/CSU-Antrages teile „Rufschädigung unseres Landes als Technologiestand- ich nicht. ort“ werfen Sie uns vor. Deutschland geriete in eine ideo- logische Verweigerungsecke. Das ist vor allem deshalb (Matthias Weisheit [SPD]: Das ist klar! Das eine Frechheit, weil Sie im gleichen Antrag die Bundes- hätte mich auch gewundert!) regierung auffordern, die ideologischen Grabenkämpfe zu Ich bin der Meinung, dass der Antrag weitgehend sachge- beenden. So kann man keine Diskussion führen, meine recht ist und in der Darstellung – leider Gottes – dem po- Damen und Herren von der CDU/CSU. Am besten ziehen litischen Handeln dieser Bundesregierung entspricht. Sie diesen Antrag zurück. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Ich sage Ihnen ganz deutlich: Unser politisches Han- PDS) deln beruht auf der Grundlage wissenschaftlicher Be- urteilung. Dass zu dieser wissenschaftlichen Beurteilung Das einzig Erfreuliche in Ihrem Antrag lese ich unter immer auch eine politische Beurteilung kommt, ist selbst- der Überschrift „Hand in Hand mit dem Verbraucher“. Sie verständlich. Aber ausschließlich aus ideologischen erkennen die Wahlfreiheit für den Verbraucher und die Gründen eine politische Beurteilung vorzunehmen wird Transparenz in der gesamten Nahrungsmittelkette als diesem Sachverhalt nicht gerecht. Grundprinzip an. Hier hoffen wir auf Ihre Unterstützung, auch für Ministerin Künast bei den Gesprächen auf EU- Lassen Sie mich erklären, warum ich das so klar und Ebene; denn dort besteht Handlungsbedarf. Es ist noch deutlich sage. Nach den Aussagen der EU-Umweltkom- längst nicht alles ausdiskutiert. missarin Wallström erfolgt jährlich weltweit auf etwa 50 Millionen Hektar der Anbau von GMO. Sie tun so, als Wie Sie wissen, hat die EU-Kommission einen Vor- würde dies nicht auf der Grundlage wissenschaftlicher Er- schlag für eine Verordnung über die Rückverfolgbarkeit kenntnisse zugelassen und letztendlich auch realisiert und Kennzeichnung von gentechnisch veränderten Or- werden. Das halte ich für eine gewaltige Arroganz; dies ganismen und über die Rückverfolgbarkeit von aus gen- entbehrt genau der wissenschaftlichen Grundlage, die Sie technisch veränderten Organismen hergestellten Lebens- selber einklagen. Man kann natürlich so arrogant sein und und Futtermitteln gemacht. Dieser Vorschlag ist be- das, was der Rest der Welt tut, ignorieren. Wir haben das grüßenswert. Er ist allerdings nicht weit gehend genug. Er auch auf der WTO-Konferenz im Ansatz gehört. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19753

Ulrich Heinrich (A) Aber weiterführend ist das nicht; denn wir leben nicht auf grünen Agrarpolitik abwenden, und meint, er müsse eine (C) einer Insel. Wir sind nicht in der Lage, uns abzuschotten. stärker SPD-orientierte Agrarpolitik herauskehren, Die Produkte überrollen uns, ohne dass wir ein entspre- (Matthias Weisheit [SPD]: Ne, ne, ne, ehrlich chendes Instrumentarium in der Hand hätten, wenn die bleiben!) Dinge nicht so umgesetzt werden, wie es vorgesehen ist, nämlich die Freisetzungsrichtlinie 90/220/EWG auch dann bin ich schon gespannt, was für Inhalte folgen. tatsächlich angewandt wird. An dem Wendisch-Papier, das zum Vorschein gekom- (V o r s i t z: Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf men ist, haben wir allerdings festgestellt, dass so einiges Seiters) nicht in Einklang zu bringen ist mit dem, was diese Bun- Wenn der wissenschaftliche Beirat und die Zulassungs- desregierung, was diese Ministerin hier für eine Politik kommission, die von 13 Sorten, die zur Anmeldung ge- deklariert und praktiziert. Insofern sind wir sehr gespannt, kommen sind, zwölf als wissenschaftlich unbedenklich was bei der Darstellung dessen, was ist, was sein sollte zulassen wollen, dann muss man sich entsprechend ver- und was Sie sich vorstellen, in Zukunft auf uns zukommt. halten, (Zuruf von der CDU/CSU: Uli, die SPD geht (Beifall bei der FDP) auf Distanz!) dann kann man hier nicht einfach sagen: Das interessiert Ich möchte zum Schluss kommen, aber noch die wirt- mich nicht. schaftliche Bedeutung der grünen Gentechnik anspre- chen. Wer glaubt, er könne sich über dieses Thema hin- Es ist die Frage, ob Sie das, was Ihre Regierung jetzt wegsetzen und trotzdem könne man die Arbeitsplätze auch in Doha praktiziert hat, nämlich verantwortliches weiter erhalten und gestalten, der täuscht sich ganz ge- Handeln im Rahmen europäischer und weltweiter Han- waltig; denn die Wirtschaft kann auf einer solchen Basis delspolitik, hier kleinkrämerisch zu konterkarieren ver- nicht für die Zukunft kalkulieren und erst recht nicht in- suchen oder ob Sie in der Lage sind, eine Politik zu be- vestieren. treiben, die Deutschland den internationalen Anschluss an die Entwicklung der grünen Gentechnik überhaupt noch Ich danke Ihnen. ermöglicht. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Angesichts der Tatsache, dass Ihre beiden Minister im Europäischen Rat utopische Forderungen bei Schwel- Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters: Ich gebe das lenwerten für Saatgut und Futtermittel von weit unter Wort der Kollegin Ulrike Höfken für die Fraktion Bünd- 1 Prozent erhoben haben und erheben, kommt man auto- nis 90/Die Grünen. (B) matisch zu dem Schluss, dass es ihnen in der Sache nicht (D) ernst ist. Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr (Matthias Weisheit [SPD]: Wer hat jetzt Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolle- Recht?) ginnen und Kollegen! Schade, dass ich nicht das Gefühl – Nein, Herr Heiderich hat genau das Gleiche gesagt! habe, dass die Verantwortung in Ihren Händen gut aufge- hoben wäre, Herr Ulrich Heinrich. Frau Künast behauptet, dass sie es tun will, aber in den entscheidenden Räten tut sie es eben nicht! Da blockieren (Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN die beiden deutschen Minister eine Entwicklung, die in und bei der SPD – Heinrich-Wilhelm Ronsöhr der normalen Folge dann auch eine Etikettierung und eine [CDU/CSU]: Da spricht die Angst!) Rückverfolgbarkeit ermöglichen würde. Sie blockieren Der Einsatz gentechnischer Methoden bedeutet eine mit unsinnigen Forderungen wie Schwellenwerten bei grundlegend neue Dimension von Eingriffen in die Natur. Verunreinigungen von weit unter 1 Prozent. Sie blo- Sie gehen weit über reine Weiterentwicklungen der natür- ckieren eine entsprechende Gesetzgebung auf europä- lichen Evolution und der klassischen Züchtungen hinaus. ischer Ebene. Gentechnische Veränderungen gehen viel schneller von- Das ist das, was ich Ihnen vorwerfe: Sie tun schein- statten, als sich Umwelt und Organismen möglicherweise heilig so, als würden Sie den Fortschritt begreifen, als anpassen können. würden Sie die Chancen erkennen. Aber in Wirklichkeit (Albert Deß [CDU/CSU]: Ihr lebt von der orientieren Sie sich an einem Phantom von Risiken, die Angst!) nicht gegeben sind und die wissenschaftlich auch nicht nur im entferntesten belegbar sind. Fehler können eventuell nicht mehr gutgemacht werden. Mithilfe gentechnologischer Prozesse werden die Art- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten grenzen überschritten. Die Freisetzung gentechnisch ver- der CDU/CSU) änderter Lebewesen in die Umwelt ist nicht mehr rück- Deswegen sollten Sie in diesen Fragen abrücken von dem, holbar. wie sich die Bundesregierung in der Vergangenheit ver- Das ist der Hintergrund dafür, warum es so wichtig ist, halten hat. dass vor dem großflächigen Einsatz der Gentechnik in der Übrigens: Der Kanzler wollte etwas ganz anderes. Natur eine strenge Risiko-Nutzen-Abwägung notwendig Wenn jetzt der Generalsekretär sagt, er wolle sich von der ist, ein bestmöglicher Ausschluss jeglicher Risiken für die 19754 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001

Ulrike Höfken (A) Gesundheit der Menschen und der Ökosysteme erreicht gungsvoraussetzungen wirklich auf die komplexen An- (C) werden muss und eine breite gesellschaftliche Debatte forderungen der Gentechnik und gentechnisch veränder- stattfinden muss. Wie es in der roten Gentechnik im Hin- ter Pflanzen ausgerichtet. Hier müssen die Wissenschaft blick auf den Embryonenschutz geschieht, muss es auch und infolge der wissenschaftlichen Erkenntnisse die Poli- hier bei den Lebensmitteln sein. tik noch erheblich nachlegen, damit Risikoabschätzung, Antragsverfahren und Monitoring die Sicherheit der gen- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) technisch veränderten Organismen, die dann in die Natur gelangen, wirklich gewährleisten. Im Übrigen möchte ich die CDU daran erinnern, dass sich ihre Verantwortlichen in diesem Politikbereich sehr Deshalb arbeiten wir mit dem gebotenen Ernst daran, die intensiv damit befassen und vor ethischen Dammbrüchen Vorgaben der EU aus der Freisetzungsrichtlinie und die Vor- warnen. Das gilt auch für die grüne Gentechnik, soweit schläge unseres Bundestagsbüros für Technikfolgenab- ich es erkennen kann. Einen derartig verantwortungsvol- schätzung aus dem Bericht „Risikoabschätzung und Nach- len Umgang mit der Einführung gentechnischer Metho- zulassungsmonitoring transgener Pflanzen“ umzusetzen. den garantiert einzig und allein die rot-grüne Regierungs- Das ist vorsorgende Umwelt- und Gesundheitspolitik. koalition. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das ist auch eine Gentechnikpolitik, die in die Zukunft Die Gentechnik muss sich gemeinsam mit anderen Lö- gerichtet ist; denn es wird wohl kaum möglich sein, der- sungsansätzen daran messen lassen, welchen Beitrag sie artig unzureichend erforschte und begleitete neue Metho- wirklich leisten kann, um die drängendsten Zukunftspro- den erfolgreich in einen Markt einzuführen, wenn nicht bleme zu lösen. Wir wollen garantieren, dass die Wahl- gewährleistet ist, dass sie einer kritischen Überprüfung freiheit der Verbraucherinnen und Verbraucher auf jeden auch zu späterer Zeit standhalten werden. Fall erhalten bleibt und da wieder hergestellt wird, wo sie Im Übrigen behauptet die CDU in ihrem Antrag nicht vorhanden ist. (Heinrich-Wilhelm Ronsöhr [CDU/CSU]: Die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN CDU/CSU! So viel Zeit muss sein!) und bei der SPD) – die CSU behauptet das leider Gottes auch; sie sollte sich Eine schleichende Einführung gentechnisch veränder- nicht gefallen lassen, dass sie hier in Mithaftung genom- ter Lebensmittel ist nicht zu akzeptieren. Aber genau das men wird, Albert Deß –, dass die Politik der rot-grünen verlangen Sie hier. Bundesregierung die Zukunftschancen der grünen Gen- (B) (Beifall bei der SPD) technik in Deutschland verbaue. (D) Die CDU beweist mit ihrem Antrag heute wieder einmal, (Beifall des Abg. Heinrich-Wilhelm Ronsöhr dass sie zu einer derartig differenzierten Herangehens- [CDU/CSU]) weise nicht willens oder in der Lage ist. Das ist absolut nicht der Fall. (Beifall bei der SPD) (Heinrich-Wilhelm Ronsöhr [CDU/CSU]: Das betrifft hauptsächlich die Sicherheit. Die CDU be- Natürlich macht ihr das!) hauptet in ihrem Antrag, alles sei sicher. Das ist eine Ak- Richtig ist: Der Anbau gentechnisch veränderter klamation wie jene, dass die Atomkraft sicher sei. Es gibt Pflanzen hat 2001 weltweit um etwa 10 Prozent im Ver- viele kritische Gutachten. Die Behauptung als Tatsache gleich zum Vorjahr zugenommen. Allerdings muss man hinzustellen, noch bevor das Monitoring für alle Frei- ehrlicherweise hinzufügen: Das einzige Land der Erde, in setzungen – inzwischen ist es von der EU zwingend vor- dem der Anbau gentechnisch veränderter Sorten 10 Pro- geschrieben – auch nur begonnen wurde, ist fahrlässig und zent der landwirtschaftlichen Produktion überschreitet, widerspricht allen Grundsätzen von Sorgfalt und Vorsorge. sind die USA. Nur noch in Kanada – dort wird gen- Im November vergangenen Jahres hat der Agrar- technisch veränderter Raps angebaut –, Argentinien und ausschuss anlässlich des Besuchs des Vorsitzenden der Brasilien, wo gentechnisch verändertes Soja gewisser- ZKBS festgestellt, dass die Unterlagen, die mit dem An- maßen schleichend eingeführt wurde, ohne dass die Re- trag zur Genehmigung gentechnisch veränderter Organis- gierung und die Bevölkerung das wollten, gibt es in men vorgelegt werden müssen, wesentlich besser auf die nennenswerten Größenordnungen Anbaugebiete für gen- Besonderheiten dieser Organismen abgestellt werden technisch veränderte Pflanzen. China und Australien, die müssten. Bisher gelten nur die experimentellen Voraus- oft als Beispiele genannt werden und auf die auch Sie sich setzungen für die Genehmigung von Pflanzenschutz- beziehen, produzieren keine gentechnisch veränderten mitteln. Es wird also ein Genehmigungsverfahren, das Lebensmittel, sondern gentechnisch veränderten Tabak für Pflanzenschutzmittel eingeführt wurde, auf gen- und gentechnisch veränderte Baumwolle. Das ist immer- technisch veränderte Pflanzen übertragen. Das ist ein hin noch ein Unterschied. Ding der Unmöglichkeit. (Heinrich-Wilhelm Ronsöhr [CDU/CSU]: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Aha! Deswegen raucht ihr auch so viel!) Hier vergleicht man Birnen mit Äpfeln oder ein Motorrad Die CDU/CSU behauptet des Weiteren, dass die Pflan- mit einem Auto. Auf keinen Fall sind diese Genehmi- zen, in die Schädlingsbekämpfungsgene eingebaut wor- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19755

Ulrike Höfken (A) den sind, inzwischen die Praxisreife erreicht hätten und europäischen Ländern die größten Absatzchancen haben, (C) dass durch deren Anbau Chemikalien eingespart werden zu erhalten. Es ist notwendig, dass dafür Voraussetzungen könnten. Aber es lohnt sich ein Blick in die Auswertung durch entsprechende Regelungen, durch eine absolute einer Studie des US-Landwirtschaftsministeriums, des Trennung von gentechnisch veränderten Produkten von USDA – die leider nicht wiederholt worden ist –, in der den nicht gentechnisch veränderten, durch entsprechende festgestellt wird: Einsparungen an Pestiziden ergeben Abstandsregelungen, geschaffen werden. Wenn die Mo- sich unter dem Strich nur dann, wenn ein erheblicher nitoringprozesse und Beobachtungen zu Ende sind, dann Schädlingsdruck besteht. Das ist leicht vorstellbar: Nur in können wir den Dialog – den bieten wir Ihnen weiterhin den befallenen Gebieten, in denen ein riesiger Schäd- an – auf einer besseren Grundlage fortsetzen und entspre- lingsdruck vorhanden ist, lohnt sich der Anbau von der- chende Entscheidungen fällen. artig gentechnisch veränderten Pflanzen. Danke schön. (Ulrich Heinrich [FDP]: Und wenn es nur (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 30 Prozent sind: Selbst dann kann man es doch und bei der SPD) machen!)

Aber in anderen Gebieten – das ist nun einmal die Nor- Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters: Für die malität – ist der Vorteil für den Landwirt gleich null. Fraktion der PDS spricht die Kollegin Kersten Naumann. (Heinrich-Wilhelm Ronsöhr [CDU/CSU]: Ihr wollt den Landwirten immer nur etwas vor- Kersten Naumann (PDS): Herr Präsident! Meine Da- schreiben!) men und Herren! Ich bin schon überrascht darüber, dass Es wird sogar so sein: Der Landwirt hat das teure Saatgut es die CDU/CSU und die FDP in stetigem Wechsel schaf- gekauft und durch die prophylaktische Anwendung eines fen, den Deutschen Bundestag mit der grünen Gentechnik eingebauten Dauerpestizids einer beschleunigten Resis- zu beschäftigen. Unbegreiflich bleibt mir allerdings, tenzbildung Vorschub geleistet. Das ist ökonomisch wie warum diese Fraktionen aus den vorangegangenen Dis- ökologisch kein Vorteil. Im Übrigen ist es den Landwirten kussionen nicht gelernt haben. Warum ignorieren sie nach in den eben erwähnten Ländern aufgrund der Macht- wie vor die negativen Erfahrungen zum Beispiel der politik der Pharmakonzerne fast unmöglich, an anderes 400 Landwirte in den USA, die gegen Monsanto prozes- Saatgut heranzukommen. Auch dieser Entwicklung leis- sieren, oder die vielen Verunreinigungen im konventio- ten Sie Vorschub. nellen Saatgut, die Deutschland bereits viel Geld und ei- nigen Bauern die Ernten gekostet haben, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (B) und bei der SPD) (Ulrich Heinrich [FDP]: Weil die Nulltoleranz (D) gilt, die nicht durchzuhalten ist! Die ist nicht zu Das Resistenzproblem führt wiederum dazu, dass jetzt erfüllen!) in den USA staatlich kontrollierte Anbau- und Resis- tenzmanagementpläne aufgestellt werden, die sich in der und nicht zuletzt die Fälle, in denen durch Pollenabdrift Praxis nur sehr schwer realisieren lassen. Planwirtschaft von Freisetzungsflächen Ökobauern ihre Produkte nicht in der Landwirtschaft im Namen des vermeintlichen Fort- mehr entsprechend vermarkten konnten? schritts – das ist die Politik von CDU/CSU und FDP. Die Vorbehalte weiter Teile der Bevölkerung in der EU (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gegenüber der grünen Gentechnik nehmen ständig zu. Ich und bei der SPD) erinnere auch daran, dass sich weltweit Wissenschaftler gegen transgene Pflanzen, gegen Patentierung lebender Auch die erste Review der EU zu den ökonomischen Organismen und für ein Moratorium hinsichtlich der Auswirkungen des Anbaus gentechnisch veränderter weiteren Freisetzung ausgesprochen haben. Pflanzen ist zu dem Ergebnis gekommen, dass es noch völlig offen ist, ob mit dem Anbau gentechnisch verän- (Beifall bei der PDS und der SPD) derter Pflanzen auf absehbare Zeit ein ökonomischer Vor- Zu nennen sind solche Wissenschaftlerkreise wie die Al- teil zu erzielen ist. Ich habe lange genug in der Forschung lianz für Biointegrität, die Union besorgter Wissenschaft- gearbeitet und sage Ihnen als Statistikerin: Die bisherigen ler oder jene 463 renommierten Wissenschaftler aus Auswertungszeiten – auch das dürfte nachvollziehbar 56 Ländern, die gegenüber den Regierungen eine Stellung- sein – sind noch viel zu kurz. nahme abgegeben haben. Nicht von ungefähr fordern die Zum letzten Punkt – zum Verbrauchervertrauen –: Katholische Landjugend, die Sie sicherlich sehr gut ken- Wir verlangen eine umfassende Kennzeichnungspflicht. nen, Kollege Ronsöhr, und die Arbeitsgemeinschaft bäu- Diese Forderung sollten und müssen Sie sich zu Eigen erliche Landwirtschaft ein grundsätzliches Verbot der machen. Es muss eine lückenlose Rückverfolgbarkeit des Gentechnik in der Landwirtschaft. Herstellungsprozesses einschließlich der Futtermittel, die (Beifall bei der PDS) bis heute keiner Kennzeichnungspflicht unterliegen, si- Meine Damen und Herren, abgesehen davon, dass im chergestellt werden. Das Gleiche gilt auch für Milch- und Antrag nicht einmal eine Unterscheidung zwischen grü- Fleischprodukte. ner und roter Gentechnik gemacht wird und Sie den Zu- Unser Anliegen ist, den Bereich der gentechnisch nicht spruch zur roten Gentechnik gleich für die Masse der Ver- veränderten Produkte, die in Deutschland und in anderen braucher einfordern, geben Sie mit diesem Antrag das 19756 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001

Kersten Naumann (A) beste Zeugnis dafür ab, dass Sie selbst einen ideologi- irreführende Angaben“ – abgekürzt: AUWEIA – bezeich- (C) schen Grabenkampf führen. Wissenschaft ist bei Ihnen nen. – wen wundert das? – sehr einseitig, vor allem (Beifall bei Abgeordneten der PDS und der wirtschaftsfreundlich begründet. Im Sinne eines demo- SPD) kratischen Meinungsbildungsprozesses sollte ein Min- destmaß an Objektivität bewahrt und sollten wissen- Auch Sie sollten es öfters mit Goethe halten, der schon schaftliche Erkenntnisse in der gesamten Bandbreite 1829 schrieb: beachtet werden. Sie jedoch holen die längst widerlegten Die Natur versteht gar keinen Spaß, sie ist immer Argumente wie „Hunger“ und „Wirtschaftsstandort“ aus wahr, immer ernst, immer strenge, sie hat immer der verstaubten Ecke hervor. Recht, und die Fehler und Irrtümer sind immer die Fakt ist, Kollege Heiderich, dass weder ein Pharma- des Menschen. konzern noch ein Saatgutzüchter aus Deutschland abge- Danke schön. wandert ist, sondern dass EU-weit in allen Ländern die Zahl der Freisetzungsversuche gesunken ist. (Beifall bei der PDS – Heinrich-Wilhelm Ronsöhr [CDU/CSU]: Die Linken zitieren (Zuruf von der CDU/CSU: In Deutschland erst heute Goethe! – Zuruf von der SPD: Ein schö- recht!) ner Schluss!) Fakt ist, dass die Zahl von Biotechbetrieben auch in Deutschland gestiegen ist. Fakt ist, dass die staatlich ge- Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters: Für die förderte Forschung – nicht nur beim Pflanzenge- SPD-Fraktion spricht nun der Kollege Heino Wiese aus nomprojekt GABI – gerade auf diesem Sektor im Ver- Hannover. gleich zu allen anderen Haushaltstiteln überproportional gestiegen ist. Fakt ist auch, dass nicht auf mehr als 40 Mil- lionen Hektar – da muss ich die Angabe in Ihrem Antrag Heino Wiese (Hannover) (SPD): Herr Präsident! berichtigen; die Zahl ist von 1999 –, sondern sogar auf Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Der vorliegende An- 50 Millionen Hektar weltweit transgene Pflanzen ange- trag stellt vor allem deshalb ein Ärgernis dar, weil darin baut werden. viele Dinge behauptet werden, die wir schon vor einer ganzen Zeit widerlegt haben. Eigentlich ist es vertane (Ulrich Heinrich [FDP]: Das habe ich schon Zeit, wenn wir diesen Antrag jetzt hier behandeln. berichtigt!) (Beifall bei der SPD – Zuruf des Abg. Man muss aber auch dazusagen, dass die Wachstums- Heinrich-Wilhelm Ronsöhr [CDU/CSU]) (B) raten erheblich zurückgegangen sind und dass ausge- (D) Ich möchte betonen, dass ich ganz ausdrücklich für die rechnet der Hauptanbau in den USAbei Bt-Mais und Raps Nutzung der Chancen der Biotechnologie eintrete. Das sogar zurückgegangen ist. Warum? Weil der Insekten- gilt auch für die grüne Gentechnik. Ich bin sicher, dass es druck im Fall Mais gar nicht so hoch ist, weil die Ertrags- eine Zukunft für die grüne Gentechnik geben wird. versprechen gar nicht erreicht werden, weil es bereits Resistenzen bei Insekten und bei so genannten Superun- (Heinrich-Wilhelm Ronsöhr [CDU/CSU]: kräutern aus ehemaligen Kulturpflanzen gibt, weil es Weswegen bekämpft ihr sie dann?) technologisch-organisatorische Schwierigkeiten für die Deswegen betrifft das, was Sie über ideologische Gra- Bauern bei der Handhabung von Refugien gibt und weil benkämpfe sagen, zunächst einmal den Graben, in den Sie der Verbraucher nicht mitspielt. Aussagen, dass der Ver- sich selbst eingebuddelt haben. braucher in einem Prozess des Umdenkens ist, stimmen einfach nicht. (Beifall bei der SPD) (Ulrich Heinrich [FDP]: Überlassen Sie das Eine wichtige Frage ist allerdings, wie wir die grüne Gen- doch dem Markt! Sie wissen schon wieder alles technik in der Zukunft gestalten. Viele Ihrer Vorschläge besser!) dazu kann man nicht teilen und schon gar nicht ernst neh- men, wenn Sie da wieder mit dem alten Hut der Bekämp- Die Stadt Selm im Kreis Unna, übrigens CDU-geführt, fung des Welthungers kommen. machte mit einer Resolution an die Bundesregierung sehr deutlich, dass Kommunen bei Freisetzungen, insbeson- Die Gentechnik ist nicht der Schlüssel zur Lösung des dere im vereinfachten Verfahren, Opfer eines Demo- Welthungerproblems. Nachhaltige Landwirtschaft ist kratiedefizits sind. Dort lehnen 92 Prozent der Bevölke- da schon eher eine Möglichkeit. Die eigentliche Ursache rung die Freisetzung von herbizidresistentem Genmais des Welthungers ist die Verteilung von Armut und Reich- ab. tum in der Welt. Wenn wir von unseren Überschüssen mehr abgäben, dann könnten wir wirklich etwas für die (Beifall bei Abgeordneten der PDS) Bekämpfung des Hungers tun. Weder Monsanto noch das Landwirtschaftsamt konnten Auch die Teilnehmer der Welternährungskonferenz in auf einer Podiumsdiskussion die Bedenken zerstreuen. Bonn haben das so gesehen und vor einer Überschätzung der Möglichkeiten der Gentechnologie und Gentechnik Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, Ihr An- eindringlich gewarnt. trag ist eine Farce. Man könnte ihn auch als „Argumenta- tions-Uebersicht für wiederkehrende, erregende, weil (Ulrich Heinrich [FDP]: Die UN fordert das!) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19757

Heino Wiese (Hannover) (A) Die großen Agrokonzerne erforschen und entwickeln kein ist zu erwarten. Ich sage für die SPD: Wir sind hier auf der (C) Saatgut für Kleinbauern in Afrika. Da nämlich kann man Seite der Mittelständler. keine Gewinne erzielen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD) DIE GRÜNEN) Ich will damit übrigens nicht sagen, dass nicht auch die Was wird nun in Zukunft aus der grünen Gentechnik? Gentechnik in der Entwicklungshilfe eine Rolle spielen Die Akzeptanz in der Bevölkerung ist derzeit, um es vor- kann. Aber dafür wäre es notwendig, die Nutzung ent- sichtig zu sagen, ausbaufähig. Wir müssen die Vorbehalte sprechender Möglichkeiten nicht durch teure Patente für und Ängste der Verbraucher respektieren. Solange die die Entwicklungsländer unmöglich zu machen Gentechnik nicht sicher ist und wir ihre Risiken nicht ab- schätzen können, müssen wir ihren Einsatz sorgfältig prü- (Heinrich-Wilhelm Ronsöhr [CDU/CSU]: fen. Wir müssen die Produkte kennzeichnen und wir müs- Dann stimmt der Nutzung der Patente doch zu!) sen dafür Sorge tragen, dass für die Verbraucher die und den Wissenschaftlern der Entwicklungsländer Know- Möglichkeit besteht, Lebensmittel ohne gentechnisch how in der Gentechnik zu vermitteln, das sie sich in ihren veränderte Bestandteile zu beziehen. Dass wir dafür einen Ländern zunutze machen können. Lassen Sie also das Ar- Schwellenwert einführen müssen, ist für mich unstrittig. gument von der Welternährung. Das ist unglaubwürdig (Abg. Ulrich Heinrich [FDP] meldet sich zu und unsolide. einer Zwischenfrage) (Zurufe von der FDP – Gegenruf von der SPD: – Herr Präsident, ich möchte keine Zwischenfrage zulas- Hören Sie lieber zu, da können Sie etwas ler- sen. nen!) Während des gesamten Herstellungsprozesses, vom – Zum Zuhören sind übrigens die Ohren da. Das ist das Saatgut bis in den Verarbeitungsbetrieb, existieren kriti- Organ, das man dafür nutzen kann. sche Punkte, die zu einer Vermischung von GVOs und Das Arbeitsplatzargument, das eigentlich immer von GVO-freien Bestandteilen führen können: bei gemeinsam der FDP kommt, sollten Sie seit der Anhörung zumindest genutzten Maschinen oder Verarbeitungsstätten; während nur noch sehr vorsichtig benutzen. Der von der FDP ein- des landwirtschaftlichen Anbaus durch Pollenflug oder geladene Experte Dr. Dolata hat uns dazu gesagt, er sehe durch von Tieren verschlepptes Saatgut. Sicherheit bietet nicht, dass die Pflanzengentechnik irgendeinen nen- nur eine vollständige Trennung von Herstellung und Wa- nenswerten Beitrag zur Beschäftigung in Deutschland renflüssen, die allerdings, wenn überhaupt, nur mit einem hohen Aufwand realisiert werden kann. (B) oder in der übrigen Welt in absehbarer Zeit leisten (D) könne. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des (Beifall bei der SPD – Zuruf von der CDU/ BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) CSU: Nicht jeder, der sich Experte nennt, ist Wir müssen Handlungsempfehlungen bis hin zu recht- auch ein Experte!) lichen Regelungen erarbeiten, um einen Eintrag von – Warum hat die FDP ihn denn eingeladen, wenn sie ihn GVOs in die Produktions- und Verarbeitungswege von nicht dafür halten? ökologischen Nahrungsmitteln zu verhindern. Die Konzentrations- und Fusionsprozesse im Saatgut- (Beifall der Abg. Ulrike Höfken [BÜND- und Pflanzenschutzmarkt könnten im Gegenteil sogar be- NIS 90/DIE GRÜNEN]) schleunigt werden und dies sei generell arbeitsplatzvernich- Vielleicht müssen wir sogar, wie von den Herren tend. Die Ausführungen von Herrn Dr. Dolata gipfelten in Fischler und Byrne vorgeschlagen, gentechnikfreie Zo- der Aussage, heutzutage seien nur noch Fundamentalisten nen einrichten. der Auffassung, dass grüne Gentechnik auf absehbare Zeit tatsächlich zu nennenswerten positiven Arbeitsplatzeffek- Wie ich bereits am Anfang sagte, glaube ich trotz al- ten führen könne. lem, dass die Gentechnik eine Zukunft hat. Damit das der Fall ist, müssen die Verbraucherinnen und Verbraucher si- (Lachen und Beifall bei der SPD) cher sein, dass sie vor möglichen negativen Folgen der Einen weiteren kritischen Blick sollten wir auf die zu- Gentechnik im Agrar- und Lebensmittelbereich geschützt nehmende Monopolisierung im Bereich der Saatguther- werden. Außerdem gehören die Kennzeichnungspflicht stellung werfen. Unsere deutschen mittelständischen und die Rückverfolgbarkeit gentechnisch veränderter Pflanzenzüchter werden es schwer haben, sich auch in Zu- Lebens- und Futtermittel dazu. Das gilt auch für Lebens- mittel, die unter Verwendung von Hilfsstoffen, die mittels kunft gegen die weltweit operierenden großen Unterneh- gentechnischer Verfahren erzeugt wurden, zustande kom- men zu behaupten. men. Darüber hinaus müssen wir Argumente finden, die (Ulrich Heinrich [FDP]: Ihr erschwert es denen den Verbraucherinnen und Verbrauchern deutlich ma- noch! – Heinrich-Wilhelm Ronsöhr [CDU/ chen, welchen Gewinn und welchen Nutzen sie durch die CSU]: Die Saatzüchter sind alle dafür!) grüne Gentechnik haben. Eine Verstärkung dieses Effekts aufgrund eines durch die Um das zu erreichen, brauchen wir neben einer Erfor- Gentechnik verursachten Rationalisierungswettbewerbs schung der möglichen Risiken das Gespräch zwischen 19758 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001

Heino Wiese (Hannover) (A) Politik, Wirtschaft und Wissenschaft, das der Bundes- Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters: Ich gebe (C) kanzler vor eineinhalb Jahren angeregt hat. Die Bundes- jetzt dem Kollegen Albert Deß das Wort. Er spricht für die regierung sollte diese Gespräche nach meiner Ansicht CDU/CSU-Fraktion. schnellstmöglich wieder aufnehmen, um während eines Moratoriums die Risiken und Chancen der grünen Gen- Albert Deß (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kol- technik zu eruieren. leginnen und Kollegen! Nachdem unsere Kollegin Ilse (Ulrich Heinrich [FDP]: Wie lange soll das Falk heute zum ersten Mal ihr neues Amt als Parlamenta- Moratorium noch dauern?) rische Geschäftsführerin ausübt, möchte ich ihr dazu recht herzlich gratulieren und ihr viel Erfolg wünschen. Ich möchte noch kurz auf die Futtermittel eingehen. Auch auf diesem Gebiet muss eine strenge Kennzeich- (Beifall im ganzen Hause) nungspflicht in Kraft treten. Gerade in diesem Bereich Meine sehr verehrten Damen und Herren, für eine ge- könnte die nächste große Krise auf die deutsche Land- sicherte Ernährung der rasant zu wachsenden Weltbevöl- wirtschaft zukommen. kerung ist der Einsatz verantwortbarer Gentechnik unver- (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie der zichtbar. Abg. Kersten Naumann [PDS]) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dann hätten wir wieder einen Futtermittelskandal, aus Unendlich viele Generationen von Menschen haben sich dem ein neuer Lebensmittelskandal wird. Aus der seit jeher bemüht, Tiere und Pflanzen züchten und damit BSE-Krise sollten wir eigentlich etwas gelernt haben. zu verändern. Bis heute wurden die Nahrungsgrundlagen dadurch wesentlich verbreitert und die Qualität verbes- Ich danke Ihnen. sert. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Unstrittig ist der Einsatz der Gentechnik im medizi- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der nischen Bereich. Hier ist die Gen- und Biotechnologie PDS) Hoffnungsträger für viele Menschen. Patienten können heute dank der Gentechnik mit wirksamen Medikamenten Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters: Zu einer versorgt werden. Ich nenne an dieser Stelle nur das gen- Kurzintervention gebe ich dem Kollegen Ulrich Heinrich technisch hergestellte Insulin, das vielen zuckerkranken das Wort. Menschen das Überleben sichert. Auch grüne Gentechnik wird eine Schlüsselrolle ein- (B) Ulrich Heinrich (FDP): Herr Kollege Wiese, Sie ha- nehmen, wenn wir die Ernährung unserer Weltbevölke- (D) ben mir leider nicht die Chance gegeben, eine Zwi- rung auch in Zukunft sicherstellen wollen. schenfrage zu stellen, mit der ich eine Richtigstellung (Beifall bei der CDU/CSU) hätte vornehmen können. Die Zurück-zur-Natur-Forderung, die auch im Wendege- Professor Dolata ist nicht von uns eingeladen worden. rede der grünen Ministerin Künast immer wieder zur Wir haben Professor Jan als Sachverständigen eingeladen. Sprache kommt, wird dazu führen, dass wir vielen Men- (Heinrich-Wilhelm Ronsöhr [CDU/CSU]: schen Lebensgrundlagen vorenthalten. Dolata haben die Grünen eingeladen! Damit das Wir verstehen aber auch die Ängste und Sorgen der einmal klar ist!) Menschen, denen mit Aufklärung und Information begeg- net werden muss. Ich weise darauf hin, dass durch For- Wenden Sie sich bitte an diejenigen, die Professor Dolata schung und Züchtung veränderte Lebensmittel aus unse- eingeladen haben! Wir laden ganz sicher nur solche Sach- rer Ernährung nicht mehr wegzudenken sind. Dazu ein verständigen ein, die sich an der Praxis orientieren. In der Beispiel aus der Landwirtschaft: Der Weizen ist keine ur- Praxis stellen wir fest, dass all diejenigen, die mit der sprüngliche Pflanze, sondern ein Produkt der Pflanzen- Gentechnik und mit der Pflanzenzucht beruflich betraut züchtung und damit ein Nahrungsmittel, das in seinen Ge- sind, für die Gentechnik sind. Sie alle haben Angst, den nen verändert worden ist. Wäre Weizen nicht im Wege der Anschluss zu verpassen und gute, zukunftssichere konventionellen Züchtung entstanden, sondern durch mo- Arbeitsplätze zu verlieren, falls diese Politik fortgesetzt derne Gen- und Biotechnik, stünde er heute auf der roten wird. Liste fanatischer Gegner der Gen- und Biotechnologie. Zum Schluss möchte ich noch Folgendes sagen: Sie ha- (Beifall bei der CDU/CSU – Jörg Tauss ben am Ende Ihrer Rede darauf hingewiesen, dass Sie für [SPD]: Das ist albern!) ein Moratorium sind. Das Moratorium ist beendet. Es war auf drei Jahre angelegt. Jetzt sagen Sie, dass Sie das Mo- – Ich zähle doch Sie nicht zu den fanatischen Gegnern. – ratorium fortführen möchten. Wenn man in seinen Aussa- Die Gentechnik, aufbauend auf der Biotechnologie, eröff- gen so willkürlich wie Sie ist, dann frage ich Sie: Wie soll net im Gegensatz zur konventionellen Züchtung viele neue Möglichkeiten. Der Zeitfaktor spielt dabei eine die Perspektive der forschenden Industrie aussehen? entscheidende Rolle. Konventionelle Züchtung kann nur (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der wenig gezielt vorgenommen werden. Oft sind Jahrzehnte CDU/CSU) notwendig, bis Erfolge erzielt werden. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19759

(A) Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters: Herr Kol- Versuche in der Gen- und Biotechnologie werden dort (C) lege Deß, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen durchgeführt, wo weniger bürokratische Auflagen zu er- Röspel? füllen sind und eine hohe Akzeptanz dafür gegeben ist. Rot-Grün hat in der Vergangenheit mit seiner technik- feindlichen Einstellung viel zum Verlust von Arbeitsplät- Albert Deß (CDU/CSU): Nein. – Es ist aber notwendig, zen in unserem Land beigetragen. Ich nenne nur das Stich- dass möglichst schnell Pflanzensorten entwickelt werden, wort Transrapid. die mit weniger Düngung, weniger Wasser, weniger Herbi- ziden und weniger Insektiziden ertragreich sind, gerade (Beifall bei der CDU/CSU – Lachen bei der auch in wirtschaftlich nicht begünstigten Regionen. Die SPD) Gentechnik ermöglicht den gezielten Eingriff in die Erb- Wir werden wahrscheinlich angesichts Ihrer Politik auch substanz und damit Erfolge in wesentlich kürzerer Zeit. für die Schlüsseltechnologie Gentechnik in einigen Jah- Auch wenn wir heute noch über Agrarüberschüsse dis- ren Greencards benötigen; denn in unserem Land werden kutieren, müssen die jetzigen Erträge in den nächsten mangels Möglichkeiten immer weniger Fachkräfte in zwei Jahrzehnten laut einer UNO-Studie um mindestens diesem Bereich ausgebildet, obwohl sie in Zukunft 60 Prozent erhöht werden. Grüne Gentechnik ist zur Lö- benötigt werden. sung unserer Zukunftsprobleme gerade in der Landwirt- (Beifall des Abg. Axel E. Fischer [Karlsruhe- schaft unerlässlich. Land] [CDU/CSU]) Der Anbau von nachwachsenden Rohstoffen muss wirt- Die Gentechnologie bietet viele Möglichkeiten, Ver- schaftlicher werden. In der Vergangenheit war die Pflan- besserungen in der Landwirtschaft vorzunehmen, Res- zenzüchtung fast ausschließlich auf die Weiterentwicklung sourcen zu schonen und auf gleicher Fläche ertragreicher von Pflanzen für die Ernährung ausgerichtet. Wir sind aber zu produzieren. Mögliche Risiken sind richtig einzu- heute aufgefordert, im Sinne der Agenda 21 nachhaltig zu schätzen und es ist abzuwägen, ob der mögliche Nutzen wirtschaften, auch im Energiebereich. Nachwachsende das Risiko rechtfertigt. Eine pauschale Verurteilung wis- Rohstoffe und Energien können dazu einen wertvollen Bei- senschaftlicher Neuerungen hatte in der Vergangenheit trag leisten. Ohne Gen- und Biotechnologie wird es noch nie Bestand. Die Grünen haben früher einmal auf einem Jahrzehnte dauern, bis wir optimale Pflanzen zur Verfü- Parteitag einen Beschluss gefasst, in dem sie sich gegen gung haben. Im Sinne unserer Umwelt muss der Züch- die Einführung der EDV-Technik ausgesprochen haben. tungszeitraum stark verkürzt werden. Die Gen- und Bio- Es liegt immer in der Verantwortung der Anwender, ob technologie kann dazu entscheidend beitragen. eine neue Technik zum Nutzen oder zum Schaden der Wie bei allem im Leben gibt es auch bei der Anwen- Menschen eingesetzt wird. (B) dung der Gentechnik zwei Seiten. Die möglichen Gefah- (D) Die rot-grüne Bundesregierung und die rot-grüne ren und Risiken darf man nicht außer Acht lassen. Mehrheit hier im Parlament stellen Deutschland bei der (Jörg Tauss [SPD]: Das haben Sie aber gerade grünen Gentechnik ins Abseits. Die beschämende Tatsa- gemacht!) che, dass Deutschland Schlusslicht beim Wirtschafts- wachstum in der Europäischen Union ist, Die großen Chancen, die in der Gentechnik liegen, dürfen nicht durch überzogene Vorgaben behindert oder unnötig (Jörg Tauss [SPD]: Und Spitze bei der Gen- eingeschränkt werden. technik!) Untrennbar mit der Gentechnik sind auch wirtschaftliche beweist, dass die rot-grüne Mehrheit unfähig ist, die rich- Fragen verbunden. Durch die Gentechnologie werden, auch tigen Antworten auf die Herausforderungen der Zukunft wenn es gerade abgestritten wurde, europaweit circa 2 Mil- zu finden. lionen neue hoch qualifizierte Arbeitsplätze erwartet. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU) Der heute zu debattierende Antrag der CDU/CSU- Sie wird damit in Zukunft ein wichtiges Standbein der Be- Fraktion „Zukunft für die ‚grüne‘ Gentechnik“ bietet eine schäftigung darstellen. In Amerika rechnet man mit der sinnvolle Perspektive. Deshalb bitte ich um Zustimmung. Versechzehnfachung der Arbeitsplätze in diesem Bereich. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Axel E. Fischer [Karlsruhe-Land] neten der FDP) [CDU/CSU]: Hört, hört!) Deutschland ist bezüglich der Entwicklung der Gentech- Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters: Weil Sie nik aus politischen Gründen gegenüber anderen Ländern heute Namenstag haben, habe ich Sie etwas länger reden ins Hintertreffen geraten. In anderen Staaten wird das lassen. Thema wesentlich offener behandelt. Deutschland ist im (Heiterkeit im ganzen Hause) Begriff, den Anschluss an eine der wichtigsten Technolo- gien der Zukunft zu verlieren. Wir haben durch entspre- Natürlich möchte ich auch dem Kollegen Schmidt gratu- chende politische Rahmenbedingungen dafür zu sorgen, lieren; er heißt auch Albert. dass dieser Industrie- und Forschungszweig nicht ins Aus- (Heinrich-Wilhelm Ronsöhr [CDU/CSU]: Rudi, land vertrieben wird. du hast ihn länger reden lassen, weil dir die (Beifall bei der CDU/CSU) Rede so gut gefallen hat!) 19760 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001

Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters (A) – Etwas mehr Respekt bitte vor dem amtierenden Präsi- In der Sicherheitspolitik dagegen stehen die Ankündi- (C) denten. gungen von Minister Schily in einem Missverhältnis ge- genüber dem, was die Regierung tatsächlich auf den Weg Ich schließe die Aussprache. gebracht hat. In den letzten drei Jahren bis zum 11. Sep- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf tember gab es von dieser Regierung nicht ein einziges Ge- Drucksache 14/6616 an die in der Tagesordnung aufge- setz zur Erhöhung der Sicherheit bzw. zur Bekämpfung führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- der organisierten Kriminalität in unserem Lande. Die da- verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung nach eingebrachten Gesetze weisen relativ große Lücken so beschlossen. auf. Die Probleme, die an der deutsch-tschechischen Grenze den Bundesgrenzschutz betreffen, werden nicht Ich rufe nunmehr die Tagesordnungspunkte 8 a und 8 b berücksichtigt. Die deutsch-tschechische Grenze, die auf: auch in diesem Jahr die höchste Zahl illegaler Grenzüber- tritte zu verzeichnen hat, wird in dem umfangreichen An- a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- titerrorpaket der Regierung, das wir heute Morgen in ers- richts des Innenausschusses (4. Ausschuss) zu dem ter Lesung behandelt haben, mit keinem einzigen Wort Antrag der Abgeordneten Günter Baumann, Hans- erwähnt. Dirk Bierling, Klaus Brähmig, weiterer Abgeord- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) neter und der Fraktion der CDU/CSU Als die CDU/CSU-Fraktion vor einem Jahr den Antrag Für mehr Sicherheit an der deutsch-tschechi- „Für mehr Sicherheit an der deutsch-tschechischen schen Grenze Grenze“ eingebracht hat, haben wir damit in erster Linie – Drucksachen 14/3672, 14/7429 – auf Menschenschmuggel und auf die Kriminalität im Berichterstattung: Grenzbereich reagieren wollen. Seit dem 11. September Abgeordnete Günter Baumann aber können und dürfen wir die Augen nicht mehr davor Cem Özdemir verschließen, dass die illegale Einwanderung auch eine Dr. Max Stadler extremistische und terroristische Dimension hat. Wer das Ulla Jelpke nicht glaubt, dem sei die Lektüre der Verfassungsschutz- berichte von 1999 und 2000 empfohlen. b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- Extremistische Ausländerorganisationen schleusen gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu demnach systematisch eigene Funktionäre und ihre Mit- dem Vertrag vom 19. September 2000 zwischen glieder über die grüne Grenze. Dies gilt insbesondere für (B) der Bundesrepublik Deutschland und der die arabischen Mudschahedin. Aber auch arabische (D) Tschechischen Republik über die Zusammen- Geheimdienste bedienen sich professioneller Schleuser- arbeit der Polizeibehörden und der Grenz- banden, um ins deutsche Asylverfahren zu gelangen. Wir schutzbehörden in den Grenzgebieten wissen dies. In jüngster Zeit sind diese extremistischen – Drucksache 14/7095 – Schleuseraktivitäten bestätigt worden. (Erste Beratung 195. Sitzung) Das „Handelsblatt“ berichtete am 31. Oktober, wonach Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus- es Hinweise des tschechischen Geheimdienstes gibt, dass schusses (4. Ausschuss) über Tschechien neben irakischen Geheimagenten auch afghanische Talibananhänger nach Deutschland ge- – Drucksache 14/7429 – schleust wurden. Wörtlich heißt es in dem Artikel: Berichterstattung: Abgeordnete Günter Baumann Der Prager Geheimdienst vermutet sogar, dass auf Cem Özdemir diesem Weg auch potenzielle Terroristen aus Afgha- Dr. Max Stadler nistan ... nach Deutschland gelangten ... Ulla Jelpke Das tschechische Innenministerium informierte auch, dass im Jahre 2000 in Tschechien 1 300 afghanische Asyl- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die bewerber spurlos verschwunden sind, ohne das Asylver- Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Das Haus ist fahren abzuwarten. damit einverstanden. Mit Blick auf die extremistische Dimension illegaler Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort für die Einwanderungen erlangt unser Antrag eine vollkommen CDU/CSU-Fraktion dem Kollegen Günter Baumann. neue Dringlichkeitsstufe. Notwendig waren die von uns geforderten Personalaufstockungen und technischen Günter Baumann (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Verbesserungen für die BGS-Arbeit im Grenzbereich Präsident! Meine Damen und Herren! Im Fach Sicher- gleichwohl vor dem 11. September. heitsphilosophie konnte man in den letzten Wochen unse- Der Freistaat Sachsen stellt mit 566 Kilometern EU- rem Innenminister sehr gute Noten geben, zum Beispiel, Außengrenze – davon 455 Kilometer zu Tschechien – ei- wenn er Wilhelm von Humboldt zitierte: Sicherheit ist die nen ganz besonderen Schwerpunkt dar. Ansonsten hat Voraussetzung von Freiheit. Das ist vollkommen richtig. Sachsen in der Kriminalität einen deutlichen Rückgang zu (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) verzeichnen. Im Jahre 2000 gab es im Vergleich zu 1999 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19761

Günter Baumann (A) einen Rückgang um 5,2 Prozent. Eine Ausnahme bilden der Grenze zu Tschechien, verfolgen unsere Diskussion (C) die 55 Orte mit direkter Grenzberührung, in denen ein An- und setzen natürlich Hoffnungen in unsere Entscheidun- stieg der Kriminalität zu verzeichnen ist. gen, in die Entscheidungen von uns Politikern. (Beifall bei der CDU/CSU – Dr.-Ing. Rainer Es wäre eine besondere Würdigung der Arbeit der Jork [CDU/CSU]: Gute Politik!) Leute vor Ort gewesen, wenn Herr Bundesminister Schily sein Versprechen eingehalten hätte, das er vor einem Jahr Der Bundesgrenzschutz stellte von Januar bis Septem- an dieser Stelle hier gegeben hat, nämlich die Grenze zu ber 2001 an der deutsch-tschechischen Grenze über besuchen und dort vor Ort zu diskutieren. Trotz mehrfa- 6 000 unerlaubt Eingereiste fest, davon über 4 000 allein cher Einladungen ist er nicht in die Region gekommen. in Sachsen. Die Aufgriffe der Länderpolizei sind hierbei noch gar nicht eingerechnet. Damit sind die Zahlen an der (Axel E. Fischer [Karlsruhe-Land] [CDU/ deutsch-tschechischen Grenze dreimal so hoch wie an der CSU]: Aber zum Fußball kann er gehen!) deutsch-polnischen Grenze. Auch die Anzahl der aufge- Ich finde es eigentlich auch befremdend, dass er heute bei griffenen Schleuser ist dreimal so hoch wie an der der Diskussion nicht anwesend ist und sich von Staatsse- deutsch-polnischen Grenze. Der Grund: Je leichter eine kretär Körper vertreten lässt. Grenze passierbar ist, desto größer ist der Anreiz für ille- gale Grenzübertritte. (Günter Graf [Friesoythe] [SPD]: Das ist ein sehr qualifizierter Mann!) (Dr. Ilja Seifert [PDS]: Sollen wir sie wieder zumachen oder was?) – Das ist ein sehr guter und qualifizierter Mann. – Hören Sie doch zu! (Zurufe von der SPD: Bravo!) Da es weder möglich war, noch wünschenswert ist, den Ich habe das auch nicht abgestritten, aber ich hätte schon Grenzbereich abzuriegeln – dies wollen wir auf keinen erwartet, dass der Minister heute kommt, weil er hier im Fall –, muss man Schleuserbanden dadurch begegnen, vorigen Jahr Versprechungen gemacht hat, die er nicht dass man die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass sie von ei- eingehalten hat. nem gut ausgerüsteten BGS gestoppt werden. (Axel E. Fischer [Karlsruhe-Land] [CDU/ (Beifall bei der CDU/CSU) CSU]: Deshalb ist er auch nicht da!) Zu den sicherheitspolitischen Versäumnissen des In- Unser Antrag für mehr Sicherheit an dieser Grenze nenministeriums gehört in diesem Zusammenhang auch, vom Juni 2000 hat sich in der Zwischenzeit nicht erledigt, dass eine objektive Diskussion über die Grenzsicherheit sondern ist aktueller denn je. Wir hatten damals auf einer (B) fast unmöglich wird, weil der Grenzschutzbericht für Klausurtagung direkt an der Grenze mit Fachleuten, Poli- (D) das Jahr 2000 bis heute nicht vorgelegt wurde. tikern und Bürgern der Region die Situation beraten und in einem Antrag Punkte festgelegt wie die personelle Ver- (Axel E. Fischer [Karlsruhe-Land] stärkung des BGS, die weitere Verbesserung der techni- [CDU/CSU]: Unerhört!) schen Ausstattung und die Zusammenarbeit mit tschechi- Dieser Bericht erscheint normalerweise jedes Jahr im Mai schen Grenzbehörden. für das Vorjahr. Heute früh informierte mich Staatssekre- Den Punkt „Zusammenarbeit mit tschechischen tär Körper, dass dieser Bericht in Zukunft nur noch alle Grenzbehörden“ kann man als erfüllt betrachten. Wir be- zwei Jahre erstellt werden soll. grüßen den grenzpolizeilichen Kooperationsvertrag (Zurufe von der CDU/CSU: Ah!) zwischen Deutschland und Tschechien vom 19. Dezem- ber 2000. Er regelt endlich die Zusammenarbeit, wie sie Es liegt also im Moment kein entsprechender Bericht vor. auch mit der Schweiz, Polen und anderen Ländern üblich Uns liegen Zahlen des Grenzschutzpräsidiums vor, ist. Informationsaustausch, Zusammenarbeit der Dienst- die den Handlungsbedarf an der deutsch-tschechischen stellen, gemeinsame Streifen, die Nacheile, das alles ist Grenze unterstreichen. Die hohe Zahl der Festnahmen ist hier geregelt. aber auch ein Zeugnis der verantwortungsvollen Arbeit Bei der personellen Verstärkung müssen wir erneut der Grenzschutzbehörden, die sie dort für unsere Sicher- anmahnen, dass auch hier nach dem fünften Schritt der heit leisten. BGS-Reform die hundertprozentige Erfüllung nicht gege- (Beifall bei der CDU/CSU) ben ist und wir bei Fußballspielen sowie bei anderen Er- eignissen wie Castortransporten – ich sage das einmal so – Ich möchte mich an dieser Stelle bei den Beschäftigten die Grenze fast öffnen. von BGS, Polizei und Zoll für ihre Arbeit an der deutsch- tschechischen Grenze ganz besonders bedanken. Bei der technischen Ausstattung haben wir erneut ei- nen großen Nachholebedarf bei Fahrzeugen, speziell bei (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Allrad- und Zivilfahrzeugen sowie bei der Kommunika- bei Abgeordneten der SPD) tionstechnik. Ich erinnere an die Kommunikation mit Europol. Den Kollegen ist es auch nicht möglich, eine Es freut mich, und ich glaube, Sie alle mit, dass wir Rasterfahndung durchzuführen. Wir kennen das System heute erneut eine Gruppe von BGS- und Polizei- INPOL neu, es funktioniert in keiner Weise. angehörigen direkt von der grünen Grenze in Sachsen hier in Berlin begrüßen dürfen. Sie kommen direkt von (Beifall bei der CDU/CSU) 19762 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001

Günter Baumann (A) Unverständlich ist, dass der Vertrag vom 19. September Günter Graf (Friesoythe) (SPD): Herr Präsident! (C) 2000, der mit Tschechien geschlossen wurde, 14 Monate Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Kollege Baumann, braucht, um hier ins parlamentarische Verfahren zu kom- den ich seit vielen Jahren als Kollegen kenne und sehr men. Hier wäre schon etwas mehr Eile notwendig gewesen. schätze, Meine sehr verehrten Damen und Herren, die jüngsten (Dr.-Ing. Rainer Jork [CDU/CSU]: Mit Sicherheitsmaßnahmen der Bundesregierung im Anti- Recht!) terrorpaket, die wir heute früh beraten haben, sehen hat hier ein Szenario aufgebaut, bei dem man ins Grübeln nicht eine einzige Mark für den Schutz an der grünen Grenze vor; nicht eine einzige Mark! kommen kann; denn all das, was er hier vorgetragen hat, ist weit von der Lebenswirklichkeit entfernt. Gestern wurden im Rahmen der Haushaltsberatun- gen für 2002 im Innenausschuss alle Anträge der (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten CDU/CSU-Fraktion – ich betone: alle – abgelehnt. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Abg. Ulla Jelpke [PDS] – Dr.-Ing. Rainer Jork (Gerhard Jüttemann [PDS]: Das kennen wir [CDU/CSU]: Oh!) auch!) Der Kollege Baumann hat in seinem Beitrag selber da- – Sie kennen es auch, genau. – Die Anträge betrafen Ver- rauf hingewiesen, dass wir heute Morgen vom Bundes- besserungen beim BGS, wie zum Beispiel die Erweiterung innenminister in beeindruckender Weise das Antiterror- der Fortbildung und Qualifizierung, was besonders jetzt paket III vorgestellt bekommen haben. Wenn Herr nach den neuen Ereignissen wichtig ist, ferner den be- Baumann sich damit auseinander gesetzt hätte, hätte er darfsgerechten Ausbau des Personalbestandes, die Erwei- hier in diesem Hause verkünden können, dass alleine in terung des Hebungsprogrammes im Vergleich zur Landes- diesem Antiterrorpaket vorgesehen ist, den gesamten polizei, den Einsatz der Grenzunterstützungskräfte als Bundesgrenzschutz in den verschiedensten Bereichen um Vollzugsbedienstete beim BGS, die Aussetzung des Stel- einen Personalbestand von 1 400 aufzustocken. Hinzu lenkürzungsprogramms des Bundes speziell beim BGS, kommt eine Freistellung von Polizeivollzugsbeamten des die Komplettierung der Ausstattung, den Einsatz der Kom- Bundesgrenzschutzes in einer Größenordnung von, wenn munikationsmittel, Einsatz von Mitteln für das Fahndungs- ich die Zahl richtig im Kopf habe, 470. Das heißt, fast computernetz INPOL neu – das wird dringend gebraucht –, 2 000 Grenzschutzbeamte mehr werden demnächst für die damit es endlich einmal zum Laufen kommt. Der Antrag Sicherheit zur Verfügung stehen. ist abgelehnt worden, Herr Kollege Graf. Und es geht um die Einführung des digitalen BOS-Funksystems Tetra, das (Beifall bei der SPD – Dr.-Ing. Rainer Jork wir dringend brauchen. Es wurde alles abgelehnt. Kein [CDU/CSU]: Auch an der tschechischen (B) einziger der dringenden Anträge wurde akzeptiert. Grenze? Wo denn?) (D) Es ist auch der CDU/CSU-Fraktion völlig klar, dass il- Das ganze Volumen dieser Operation beläuft sich auf un- legale Grenzübertritte nicht durch Kontrolle des BGS gefähr 65 Millionen Euro. vollständig aus der Welt geschafft werden können. Das ist Wenn Sie, Herr Kollege, hier den Eindruck erwecken, nicht möglich, wir wissen es. Was wir innenpolitisch dass wir alle Anträge abgelehnt hätten, dann hätten Sie brauchen, ist auch eine Minimierung der großen Anreize fairerweise und der Vollständigkeit halber sagen müssen, für Zuwanderung, die unser Asylrecht bietet und nach dass ich gestern in der Sitzung des Innenausschusses – Sie Meinung der Regierungskoalition weiter ausgebaut wer- waren die ganze Zeit zugegen – darauf hingewiesen habe, den soll. Es ist so! Die aktuelle Zuwanderungspolitik der dass wir in dem Haushaltsentwurf, den wir in Kürze ver- Bundesregierung wird den Migrationsdruck und die Pro- abschieden werden, für den Bundesgrenzschutz 1 208 Stel- bleme an der Grenze leider erhöhen. lenhebungen vorgesehen haben. Außerdem hätten Sie Ich bitte die Mitglieder der Regierungskoalition, ge- dann hier sagen sollen – damit das auch die Öffentlichkeit, rade zur jetzigen Zeit, da unser aller Sicherheit einen die hier vertreten ist bzw. die Debatte über die Medien neuen Stellenwert erhalten muss, unserem Antrag „Für empfängt, erfährt –, dass ich für die SPD-Bundestags- mehr Sicherheit an der deutsch-tschechischen Grenze“ fraktion gestern gefordert habe – es sind vom Ministerium mit den konkreten Vorschlägen, die wir machen, zuzu- auch entsprechende Zusagen gegeben worden, ebenfalls stimmen. Sie tun damit nicht den Abgeordneten der in Ihrer Gegenwart –, zusätzlich zu diesem angesproche- CDU/CSU-Fraktion als Einreicher einen Gefallen, son- nen Hebungsprogramm einen Betrag von 15 Milli- dern es geht um die Arbeit der Männer und Frauen, die onen DM, also etwa 7,5 Millionen Euro, zur Verfügung zu beim Bundesgrenzschutz, beim Zoll und bei der Polizei stellen. direkt an dieser Grenze Dienst tun, und es geht um die Si- Wenn Sie das einmal mit der Vergangenheit verglei- cherheit der Bürgerinnen und Bürger in unserem Lande. chen, stellen Sie fest: Was dieser Bundesinnenminister, Danke. diese Bundesregierung, die sozialdemokratische Bundes- tagsfraktion gemeinsam mit der Grünen-Fraktion in den (Beifall bei der CDU/CSU) letzten Jahren in diesem Bereich getan haben, war in re- lativ kurzer Zeit ein Vielfaches von dem, was Sie in den Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters: Nunmehr Jahren zuvor versucht, aber nicht geschafft haben. Aber gebe ich dem Kollegen Günter Graf (Friesoythe), SPD- heute stellen Sie sich hier hin und bauen einen Popanz auf. Fraktion, das Wort. Das ist der Sache nicht angemessen. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19763

(A) Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters: Herr Kol- Sie haben von 6 000 und mehr illegalen Einreisen ge- (C) lege Graf, gestatten Sie eine Zwischenfrage des ange- sprochen. Dazu möchte ich Ihnen sagen: In dem Zeitraum sprochenen Kollegen Günter Baumann? vom 1. Januar 2001 bis zum 30. September 2001 gab es bei uns – Moment, ich muss einmal nachsehen; ich habe die genaue Zahl vorliegen – 6 013 illegale Einreisen. Im Günter Graf (Friesoythe) (SPD): Ja, natürlich, gerne. gleichen Zeitraum des letzten Jahres verzeichneten wir Das geht ja nicht von der Zeit ab. 9 132. Das ist ein Rückgang um ein Drittel. Auch das sind Auswirkungen der besseren materiellen Ausstattung, der Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters: Nein, das Personalerhöhung und dergleichen mehr. Dies sollte man geht nicht von der Zeit ab. – Herr Kollege Baumann. der Vollständigkeit halber hinzufügen. Was die Belastungen der Menschen an der Grenze an- Günter Baumann (CDU/CSU): Kollege Graf, geben geht – die bestreitet niemand; wir nehmen die Sorgen die- Sie mir Recht, dass die von Ihnen angesprochenen zu- ser Menschen ernst –, so wissen doch auch Sie, dass es an sätzlichen Personen für den Bundesgrenzschutz nach den der deutsch-polnischen Grenze in der Vergangenheit Planungen ausschließlich für Luftüberwachung, Perso- eine verstärkte illegale Einreise gab. Noch zu Ihrer Re- nenschutz und Gebäudeschutz vorgesehen sind, aber gierungszeit wurde im Bereich der deutsch-polnischen nicht ein einziger für den Schutz an der grünen Grenze? Grenze der Bundesgrenzschutz – das war richtig und wir haben es stets unterstützt – massiv verstärkt. Dies führte Günter Graf (Friesoythe) (SPD): Herr Kollege zu dem Ergebnis – das ist oftmals so –, dass sich eine Ver- Baumann, es tut mir Leid, so gerne ich Ihnen hier einmal lagerung von der deutsch-polnischen zur deutsch-tsche- Recht geben möchte, ich kann es einfach nicht. Wenn Sie chischen Grenze vollzogen hat. Aber, wir haben reagiert. das Paket gelesen hätten, wüssten Sie, dass wir einen er- Die Zahlen, die ich eben genannt habe, belegen dies nach heblichen Teil – ich glaube, es sind zusätzliche drei Ein- meinem Dafürhalten eindrucksvoll. satzhundertschaften – aufstellen werden, gerade um in be- Sie haben den Beschäftigten des Bundesgrenzschutzes, stimmten Bereichen Verstärkung anbieten zu können. Das des Zolls und auch der Länderpolizeien gedankt. Diesem steht ebenfalls in diesem Paket. Dank kann man sich nur anschließen. Ich habe schon häu- (Dr.-Ing. Rainer Jork [CDU/CSU]: Konkret in fig gesagt – damals in Bonn sogar noch häufiger –: Wir Tschechien? – Günter Baumann [CDU/CSU]: dürfen es, wenn es um Beamte geht, nicht dabei belassen, Das steht nicht drin!) von diesem Pult aus Dankesworte an sie zu richten. Wir müssen auch handeln. – Hören Sie einmal zu; das will ich hier in aller Offenheit (B) sagen, Kollege Baumann: Wir können uns doch im Deut- Deswegen kann ich nur auf die Stellenhebungspro- (D) schen Bundestag nicht hinstellen und für jeden einzelnen gramme, die den Betroffenen direkt zugute kommen, hin- Grenzabschnitt festlegen, ob wir da zehn, 20 oder 30 Be- weisen. Wir werden diesen Weg fortsetzen. Denn die Be- amte einsetzen! Dafür haben wir ein Konzept, das ausge- rufsmotivation ist eng mit der Frage verbunden, ob sich reift ist. Wir werden uns an der Umsetzung beteiligen. die Beamten gerecht behandelt fühlen. Ich war im Übrigen mit dem Kollegen Kemper – das Sondersituationen wie die rund um einen Castortrans- möchte ich Ihnen auch berichten – im letzten Jahr an der port sind außergewöhnlich. In diesem Fall ist es notwen- tschechischen Grenze. Wir sind dort mit dem Grenzschutz dig – das war immer so; das wird auch so bleiben –, an auch zur Nachtzeit an der Grenze entlanggefahren. Ich ganz bestimmten Stellen für einen gewissen Zeitraum ein habe schon bei der ersten Beratung dieses Gesetzentwur- Stück weit weniger Kräfte zur Verfügung zu haben. Aber fes und Ihres Antrages gesagt: Was bereits zum damaligen eines ist richtig und wichtig: Ein Sicherheitsvakuum ist an Zeitpunkt – das ist schon einige Monate her – in den Be- keiner Stelle entstanden. reichen Technik und Personal getan worden ist, ignorie- Ich habe Sie gebeten, Ihren Antrag zurückzuziehen. Ich ren Sie einfach. Sie sind immer noch auf dem Stand von denke, der vorliegende Gesetzentwurf, der die Vorausset- 1998 und nicht auf dem Stand der Zeit. – So viel dazu. zung für die Ratifizierung des deutsch-tschechischen Ver- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) trages ist, ist gut. Er nimmt all das auf, was Sie in Ihrem Antrag niedergeschrieben haben. Was Ihren Antrag, Herr Kollege Baumann, ganz kon- kret angeht, möchte ich Ihnen eines sagen: In sechs Punk- Lassen Sie mich ein letztes Wort sagen: In der Ziffer 5 ten fordern Sie verschiedene Dinge. Wenn Sie unseren Ihres Antrages schreiben Sie – ich weiß nicht, ob Sie da- Gesetzentwurf richtig gelesen hätten, würden Sie erken- rüber wirklich nachgedacht haben –: nen, dass im Grunde genommen all die Punkte, die Sie in Wir sehen es als notwendig an, dass die Hilfen und Ihrem Antrag fordern, erfüllt sind. Zu den einzelnen Hinweise der Bevölkerung im Grenzbereich zur Auf- Punkten wird Herr Staatssekretär Körper gleich Stellung klärung von Straftaten noch stärker als bisher in die nehmen. Im Prinzip ist für mich all das, was die Zusam- Arbeit ... einbezogen werden. menarbeit zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Tschechischen Republik angeht, in vorbildlicher Ich sage Ihnen eines: Wenn die Bevölkerung nicht be- Weise geregelt. Diese Regelungen sind viel besser als die ständig die Sicherheitsorgane in vielfältiger Weise durch innerhalb des Schengener Systems. Dies ist fast mit dem Hinweise und dergleichen mehr unterstützen würde, dann Abkommen vergleichbar, das wir mit der Schweiz ge- wäre es in diesem Lande um die Sicherheit schlecht schlossen haben. bestellt. Ich kann die Bevölkerung von dieser Stelle aus 19764 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001

Günter Graf (Friesoythe) (A) nur dazu aufrufen, die Sicherheitskräfte in unserem Land Ich finde es erfreulich, dass das Ratifizierungsgesetz (C) verstärkt zu unterstützen. Denn das ist die zwingende Vo- gerade jetzt hier im Bundestag zur Abstimmung steht. raussetzung, wenn wir in unserem Land die innere Si- Denn in den vergangenen Monaten war es auf ganz ande- cherheit gewährleisten wollen. Wir haben bisher Großar- ren Politikfeldern bekanntlich zu Irritationen, insbeson- tiges geleistet und werden diesen Weg fortsetzen. dere auch zu Kritik der Bevölkerung in Bayern an den tschechischen Behörden im Zusammenhang mit dem Danke schön. Atomkraftwerk Temelin in Südböhmen gekommen, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ dessen Inbetriebnahme zu großen Sorgen bei der bayeri- DIE GRÜNEN) schen Bevölkerung geführt hat. Deswegen ist es wichtig, mit dem heute zu verabschiedenden Vertragsgesetz ein positives Beispiel für die gutnachbarschaftlichen Bezie- Vizepräsident Dr. h. c. Rudolf Seiters: Ich erteile hungen zu dokumentieren. für die Fraktion der FDP dem Kollegen Dr. Max Stadler das Wort. Diese Beziehungen entwickeln sich nämlich auf vie- lerlei Ebenen sehr gut, etwa beim Schüler- und Studenten- austausch, im Bereich der Zusammenarbeit von Hoch- Dr. Max Stadler (FDP): Herr Präsident! Meine sehr schulen sowie im kulturellen Bereich. Es ist sehr schade geehrten Damen und Herren! Ohne Zweifel ist die – man müsste einmal darüber nachdenken, was man da- deutsch-tschechische Grenze ein neuralgischer Punkt bei ran ändern könnte –, dass die verdienstvolle Arbeit des der Grenzsicherheit. Deswegen ist es richtig, dass die deutsch-tschechischen Zukunftsfonds in der Öffent- Bundesregierung die Zusammenarbeit mit der Tschechi- lichkeit fast überhaupt nicht bekannt ist und somit fast gar schen Republik gesucht hat, die zu dem Vertrag vom keine Resonanz findet. 19. September 2000 geführt hat. (V o r s i t z: Vizepräsident Dr. Hermann Otto Die FDP-Fraktion unterstützt diesen Vertragsabschluss Solms) ausdrücklich. Wir meinen, dass der an sich gute Antrag der CDU/CSU-Fraktion damit weitgehend erledigt ist. Insgesamt begrüßt die FDP-Fraktion den Vertrag we- Richtig ist allerdings – was auch Herr Kollege Baumann gen seiner Bedeutung für die Sicherheitspolitik, aber auch ausgeführt hat –, dass man der inneren Sicherheit am bes- als wichtigen außenpolitischen Schritt zu einer dauerhaf- ten mit einer besseren personellen, technischen und fi- ten guten Nachbarschaft zwischen Deutschland und der nanziellen Ausstattung der Sicherheitsbehörden dient. Tschechischen Republik. Deswegen hat die FDP gestern im Innenausschuss den (Beifall bei der FDP und der SPD sowie bei entsprechenden Anträgen der Unionsfraktion zum Haus- Abgeordneten der CDU/CSU) (B) halt zugestimmt. (D) (Beifall des Abg. Günter Baumann Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als [CDU/CSU]) nächster Redner hat der Kollege Cem Özdemir vom Die Tschechische Republik wird hoffentlich bald Bündnis 90/Die Grünen das Wort. Mitglied der Europäischen Union sein. Dennoch ist es sinnvoll, schon jetzt, wo sie noch nicht Mitglied der Cem Özdemir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Schengen-Kooperation ist, die Zusammenarbeit der Si- Präsident! Meine Damen und Herren! Der vorliegende cherheitsbehörden vertraglich zu regeln. In der prakti- Vertrag soll die polizeiliche Zusammenarbeit zwischen schen Alltagsarbeit werden die Zuständigkeitsregelungen, der Bundesrepublik Deutschland und Tschechien stärken. die Vorschriften über den Informationsaustausch, über ge- Dadurch wird ermöglicht, dass Polizisten aus Tschechien meinsame Einsatzformen, über die Nacheile, aber auch die und Deutschland gemeinsam im Grenzgebiet eingesetzt Datenschutzbestimmungen erheblich an Bedeutung ge- werden und künftig enger und stärker kooperieren kön- winnen. Darunter fallen rechtsstaatliche Klarstellungen nen. wie etwa die zum Verbot des Betretens von Wohnungen im Rahmen der Nacheile oder die Definition der Notwehr Ich glaube, dass dieser Vertrag ein wichtiger Schritt ist, in Art. 11. Das schafft auch für die Polizeibeamten Si- um die menschenverachtende Schleuserkriminalität cherheit darüber, was ihnen bei ihrer Tätigkeit erlaubt ist wirksamer als in der Vergangenheit zu bekämpfen. Dies und was nicht. ist übrigens auch angesichts der grenzüberschreitenden und gewalttätigen Kriminalität notwendig. Deshalb un- Die Vertragsregelungen entsprechen unserer Meinung terstützt meine Fraktion diesen Vertrag. Wenn man sich nach den üblichen rechtsstaatlichen Anforderungen. Sie mit den im Grenzgebiet lebenden Menschen unterhält werden für mehr Sicherheit im Grenzgebiet zwischen – darauf wurde bereits hingewiesen –, kann man verste- Bayern, Sachsen und der Tschechischen Republik sorgen. hen, dass sich diese Menschen Sorgen machen und zu Im Übrigen – ich wundere mich ein wenig darüber, dass Recht Ängste haben. Wir sind als Parlament aufgefordert, an dieser Debatte keine Außenpolitiker teilnehmen – ist diese Ängste und Sorgen ernst zu nehmen und das Nötige zu veranlassen, um hier Abhilfe zu schaffen. dieser Vertrag ein gutes Beispiel für die praktische Zu- sammenarbeit zwischen der Bundesrepublik Deutschland Ich möchte in diesem Zusammenhang allerdings auch und der Tschechischen Republik unterhalb der Schwelle darauf hinweisen, dass bei der grenzüberschreitenden Zu- hochpolitischer, zwischen diesen beiden Staaten immer sammenarbeit der Gesichtspunkt der Bürgerrechte aus- noch strittiger Fragen. reichend Berücksichtigung finden muss. Beispielsweise Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19765

Cem Özdemir (A) darf der Datenschutz nicht ausgehöhlt werden. Ich Deshalb bin ich froh, dass die Bundesregierung im (C) glaube, wir müssen uns deshalb diesen Vertrag im Detail Rahmen der Terrorismusbekämpfung zusätzliche sehr genau anschauen. Ich will auf das Beispiel Genua 200 Millionen DM zur Verfügung stellt, um Ent- hinweisen, das Sie alle verfolgt haben und kennen. Dort wicklungshilfe zu betreiben. Auch das ist ein Beitrag zur haben wir gesehen, dass die Daten, die von der Bundesre- Terrorismusbekämpfung und gut angelegtes Geld. Wir publik Deutschland zur Verfügung gestellt wurden, von sollten uns angewöhnen, wenn wir zukünftig über Terro- der italienischen Polizei an die italienische Justiz weiter- rismusabwehr reden, den Beitrag der Entwicklungshilfe gegeben worden sind, ohne dass deutsche Behörden aus- nicht zu vernachlässigen. drücklich gefragt wurden oder gar zugestimmt haben. Dies darf in Zukunft so sicherlich nicht mehr geschehen. Ich komme zum Schluss: Ich glaube, dass der Antrag der Union in diesem Kontext nicht hilfreich ist, weil er die Zu den europäischen Standards gehört auch der Daten- Ängste unnnötigerweise schürt und Stigmatisierungen schutz. Ich teile den Optimismus des Kollegen Stadler – – speziell der Ausländer – ermöglicht. Es ist mittlerweile ich glaube, auch Kollege Baumann hat darauf hingewie- schon amtlich, dass die Kriminalität – Gott sei Dank – sen –, dass Tschechien – es steht in der ersten Reihe – be- nicht weiter zugenommen hat. reits im Jahre 2004 Teil der Europäischen Union sein wird. Das begrüßen wir alle hier. Der hohe Standard des europä- Ich empfehle Ihnen einen Blick in den periodischen Si- ischen Datenschutzrechtes gilt dann auch in Tschechien. cherheitsbericht der Bundesregierung, der vom Innen- Dazu gehört beispielsweise auch die europäische Richtli- ministerium regelmäßig vorgestellt wird. Wenn Sie dort nie zum Datenschutz aus dem Jahre 1995, die Gewähr einmal hineinschauen, werden Sie erkennen, dass Ihr An- dafür bietet, dass jede Datenerhebung gerichtlich über- trag von der Realität überholt wurde. prüft werden kann. Auch das gehört mit Sicherheit dazu. (Beifall bei der SPD) Lassen Sie mich auch etwas zur polizeilichen Zusam- menarbeit insgesamt sagen: Ich glaube, dass auch in die- sem Bereich die parlamentarische Kontrolle gestärkt Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als werden muss. Wenn wir wollen, dass Europa einheitlich nächste Rednerin hat die Kollegin Ulla Jelpke von der zusammenwächst, dann kann sich das nicht ausschließ- PDS-Fraktion das Wort. lich auf die Exekutive beschränken. Ein starkes Parlament muss die Möglichkeit haben, gemeinsam mit einer unab- Ulla Jelpke (PDS): Herr Präsident! Sehr verehrte Kol- hängigen Justiz die notwendige Kontrolle, wie wir sie auf leginnen und Kollegen! Kollege Baumann, auch ich der nationalen Ebene bereits kennen, auf europäischer möchte Ihrem Horrorszenario nicht zustimmen. Ebene durchzusetzen. (B) (Günter Baumann [CDU/CSU]: Oh, „Horror- (D) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) szenario“!) Deswegen setzen wir uns dafür ein, dass auf der Ebene der Meines Wissens ist die Ostgrenze eine der am besten Europäischen Union – Tschechien wird, wie gesagt, hof- bewachten Grenzen weltweit. Wenn ich die Zahlen rich- fentlich bald ein Teil davon sein – die dritte Säule in die tig im Kopf habe, sind etwa 10 000 Bundesgrenzschutz- erste Säule überführt wird, das heißt, dass auch die beamte an dieser Grenze tätig und führen verdachts- polizeiliche Zusammenarbeit vergemeinschaftet wird. Ich unabhängige Kontrollen durch. Wir setzen an dieser glaube, das wäre ein wichtiger Beitrag, um mehr Trans- Grenze über 500 Polizeihunde ein und haben mit Wärme- parenz auf europäischer Ebene zu erzeugen. bildkameras und ähnlichen Geräten eine millionenteure Wenn wir über Schleuserkriminalität und Schleuser- Technologie – ich weiß nicht, wie viel sie tatsächlich kos- verbrechen reden, dann müssen wir auch betonen, dass tet – an den Grenzen aufgebaut. diese Probleme nicht ausschließlich mit polizeilichen Mitteln gelöst werden können. Die Polizei ist gar nicht in Sie haben hier eine ziemliche Schwarz-Weiß-Malerei der Lage, all die Aufgaben, die wir ihr auflasten wollen, betrieben. Ich kann den Inhalt Ihres Antrags nicht nach- zu lösen. Wir müssen bedenken, dass sich Europa nicht vollziehen. Man muss wissen, dass in Deutschland Polen völlig abschotten kann. und die Tschechische Republik zwar als sicherer Dritt- staat gelten, die Flüchtlingsorganisationen und die Men- Wir müssen auch darauf achten, dass die Ursachen für schenrechtsorganisationen aber vielfach darauf hin- Not und illegale Zuwanderung beseitigt werden. Wir gewiesen haben, dass in beiden Ländern weder das Asyl- wissen, dass Schlepper Verbrecher sind, die die Not und verfahren garantiert ist noch die Unterkünfte für Flücht- die Hoffnungslosigkeit von Menschen ausnutzen. Sie sind linge menschenwürdig sind. Seelenverkäufer, die in Kauf nehmen, dass Menschen da- bei ihr Leben verlieren. Gerade als reiches Land, als Land, Vor diesem Hintergrund möchte ich Ihnen sagen, dass das in der Europäischen Union eine wichtige Rolle spielt, antirassistische Organisationen und Flüchtlingsorganisa- sind wir aufgefordert, alles zu tun, um die Fluchtursachen tionen recherchiert haben, dass an den Schengener in den Herkunftsländern zu beseitigen. Dazu zählt die Außengrenzen insgesamt 2 000 Menschen zu Tode ge- Entwicklungshilfe. Hierdurch wird ein wichtiger Beitrag kommen sind, die von Schleuserbanden in Autos ver- dazu geleistet, dass die Menschen dort, wo sie leben, Le- frachtet wurden, in denen sie erstickt sind, und dass allein bensperspektiven haben, sodass sie nicht gezwungen an der Ostgrenze 87 Menschen ihr Leben verloren haben. sind, ihr Herkunftsland zu verlassen und ihr Leben in die Man muss fragen: Woran liegt das? Was hat das für Ursa- Hände von kriminellen Schleusern zu legen. chen? 19766 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001

Ulla Jelpke (A) In der Tat ist gerade die Tschechische Republik einer Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Für die (C) der Staaten, von dem aus viele Flüchtlinge versuchen, Bundesregierung hat der Parlamentarische Staatssekretär nach Europa zu kommen. Die Abschottung Europas ist Fritz Rudolf Körper das Wort. meiner Meinung nach keine Lösung des Flüchtlingspro- blems. Ganz im Gegenteil: Ich bin der Meinung, dass man die Grenzen für Menschen in Not offen halten muss. Das Fritz Rudolf Körper, Parl. Staatssekretär beim Bun- ist ein ganz entscheidender Punkt, desminister des Innern: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Erste kurze Bemerkung: Seit 1998 gab es im (Beifall bei Abgeordneten der PDS – Günter Bereich des BGS 3 772 Stellenhebungen. Damit konnten Baumann [CDU/CSU]: Machen wir die Gren- 12 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Bundes- zen auf, dann kann man den Bundesgrenzschutz grenzschutzes befördert werden. Das ist die aktive Politik einsparen!) von Bundesinnenminister Otto Schily. Ich denke, dieser denn viele Menschen kommen über diese Staaten nach Politik gebührt Dank. Deutschland und wollen dort Asyl beantragen. Sie wissen (Beifall bei Abgeordneten der SPD) ebenso wie ich, dass die Flüchtlinge an der Grenze abge- wiesen werden und keine Möglichkeit haben, über den Zweite kurze Bemerkung: Kollege Günter Graf ist auf Landweg nach Deutschland zu gelangen und dort Asyl zu die Entwicklungen an der deutsch-tschechischen Grenze, beantragen. insbesondere im Hinblick auf illegale Einreise- und Schleusungskriminalität, eingegangen. Ich denke, die Es ist natürlich ein Leichtes, immer darauf hinzuwei- Erfolge können sich sehen lassen. Es ist beispielsweise sen, man müsse die Betroffenen – wie das auch im Poli- ein Rückgang von einem Drittel zu verzeichnen. Das ist zeivertrag steht – in einem Meldeverfahren registrieren. noch nicht das, was wir erreichen wollen, aber die Ent- Ein solches Vorgehen lehnen wir generell ab. Wir lehnen wicklung ist positiv. Für diese hervorragende Arbeit muss aber auch ab, dass durch den Polizeivertrag ein umfang- den BGS-Beamtinnen und -Beamten Dank gesagt wer- reicher Datenaustausch zwischen der Tschechischen Re- den. publik und Deutschland stattfindet. Wir meinen, dass das Recht auf informationelle Selbstbestimmung der betrof- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten fenen Menschen nicht gewahrt ist, weil sie nicht erfahren, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) welche persönlichen Daten festgehalten werden. Dritte kurze Bemerkung: Herr Kollege Baumann, beim Um Auskünfte zu erlangen, müssen sie einen Antrag Bundesgrenzschutzamt Chemnitz sind beispielsweise stellen. Aber auch, wenn sie einen Antrag stellen, erhalten 1 337 BGS-Beamtinnen und -Beamte beschäftigt. Ihre sie nur unter Berücksichtigung des öffentlichen Interesses Behauptungen stimmen nicht. Schauen Sie ein bisschen in unseren Haushalt. Im Jahre 2001 wurden beispielsweise (B) der jeweiligen Staaten Auskunft. Von daher meine ich (D) – über den Vertrag wird heute abgestimmt –, dass es in der dem Bundesgrenzschutzpräsidium Ost 190 Polizeian- Tat nichts mehr nachzubessern gibt, sondern man im wärterinnen und -anwärter zugewiesen. Das bedeutet eine Grunde genommen im Ausschuss, Kollege Özdemir, hätte klare personelle Verstärkung. Dies wird im Jahr 2002 mit dafür eintreten sollen, den Datenschutz zu wahren. Wir 60 Polizeianwärterinnen und -anwärtern fortgesetzt. Das werden deswegen beide Anträge ablehnen. ist die Politik, die wir im Bereich der inneren Sicherheit praktizieren. Ich denke, das ist auch gut so. Zum Schluss möchte ich dem Kollegen Baumann gern sagen: Ich selbst habe die Grenze mehrfach besucht und (Beifall bei Abgeordneten der SPD) mir angesehen, welche Arbeit dort von den Beamten ge- Es geht um den deutsch-tschechischen Polizeivertrag. leistet wird. Ich habe es mir auch angetan, zu einer dieser Das vorliegende Abkommen stellt eine Basis für eine Bürgerwehren zu gehen. effektive Sicherheitspartnerschaft dar. Es schafft genau den Sicherheitsgewinn für Deutschland, den Sie, meine Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Frau Kol- lieben, verehrten Kolleginnen und Kollegen von der legin Jelpke, denken Sie bitte an Ihre Redezeit. CDU/CSU-Fraktion, mit Ihrem Antrag begehen. Das Ab- kommen sieht erhebliche Verbesserungen für die grenz- überschreitende Kriminalitätsbekämpfung und Gefahren- Ulla Jelpke (PDS): Ich komme gleich zum Schluss. abwehr vor. Es schafft erweiterte Möglichkeiten der Zusammenarbeit zwischen deutschen und tschechischen Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Nein, Sie Polizeidienststellen. Deutsche und tschechische Polizis- kommen bitte sofort zum Schluss, weil Sie Ihre Redezeit ten – das stelle man sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt schon um zwei Minuten überzogen haben. vor – können zukünftig in gemeinsamen Dienststellen ar- beiten. Wer sich ein bisschen auskennt, weiß dies ent- sprechend einzuschätzen. Ulla Jelpke (PDS): Ich muss Ihnen sagen, dass Sie sich mit diesen Gruppen einmal auseinander setzen soll- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ten. Sie haben ein ziemlich rassistisches Gedankengut und DIE GRÜNEN) ihre Arbeit einzig und allein auf die Jagd auf Flüchtlinge Sie können zukünftig gemeinsam Fahndungsaktio- ausgerichtet. nen durchführen und einander in Notfällen personelle (Beifall bei der PDS – Günter Baumann [CDU/ Unterstützung leisten. Damit ist die national bereits bes- CSU]: Ich habe überhaupt nicht von Bürger- tens bewährte Zusammenarbeit der Polizeien von Bund wehr gesprochen!) und Ländern um einen entscheidenden Baustein erweitert. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19767

Parl. Staatssekretär Fritz Rudolf Körper (A) Von großer Bedeutung ist auch die vertragliche Rege- ganz entscheidend auf den praktischen, auf den effektiven (C) lung, die eine Verfolgung von Personen bis auf das Gebiet Vollzug an und nicht in erster Linie darauf, sich auf das des Vertragsstaates ermöglicht. Wir bezeichnen dies mit Fabrizieren immer neuer Gesetze zu kaprizieren. dem Begriff der Nacheile. Damit wird das traditionelle (Dr. Max Stadler [FDP]: Sehr gut!) Prinzip relativiert, wonach die Gefahrenabwehr mit dem Erreichen der Grenze abgebrochen werden muss. Mit an- Es kommt darauf an, dass die Arbeit insbesondere auch im deren Worten: Der Vertrag hat dem Interesse an effizien- internationalen Bereich funktioniert. Wer die Auflistung ter Aufgabenerledigung und dem optimalen Schutz der unserer internationalen Verträge sieht – Polizeiabkom- Bürgerinnen und Bürger den Vorrang vor einem herge- men, Abkommen über die Bekämpfung der organisierten brachten polizeilichen Verfahrensgrundsatz gegeben. Das Kriminalität –, wird merken, dass das ein Schwerpunkt verdient Würdigung. dieser Bundesregierung ist und dass wir uns bei der inne- ren Sicherheit auf einem richtigen und wichtigen Wege (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten befinden. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. Was zum Thema Datenschutz zu sagen ist, ist auf ei- nen einfachen Nenner zu bringen: Es gilt nationales (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Recht. Hier braucht man überhaupt keine Befürchtungen GRÜNEN und der FDP) zu haben. Das sollte an dieser Stelle festgehalten werden. Die Bekämpfung einer zunehmend grenzenlosen Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich Kriminalität fordert zukünftig eine länderübergreifende schließe die Aussprache. Zusammenarbeit. Dies gilt insbesondere für die Krimina- Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Innenaus- litätsphänomene, wie beispielsweise die Schleusungskri- schusses zu dem Antrag der Fraktion der CDU/CSU mit minalität, die im Grunde genommen nur durch multilate- dem Titel „Für mehr Sicherheit an der deutsch-tsche- rale Strategien in den Griff zu bekommen sind. chischen Grenze“, Drucksache 14/7429. Der Ausschuss Für diese Grenzregion stehen professionelle Kräfte zur empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung, den Verfügung, die effizient arbeiten. Ich habe das vorhin Antrag auf Drucksache 14/3672 abzulehnen. Wer stimmt schon einmal gesagt. Auch hier will ich nicht versäumen für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – zu erwähnen, dass es zu einer guten Zusammenarbeit mit Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den den Länderpolizeien und – das will ich besonders erwäh- Stimmen der Koalitionsfraktionen, der FDP und der PDS nen – der Bundeszollverwaltung kommt, die hier eine bei Gegenstimmen von CDU/CSU angenommen. ganz wichtige Rolle spielt, sodass dies ein wirklich Wir stimmen nun über den von der Bundesregierung (B) schlüssiges Konzept ist. Dies zeigen auch die Ergebnisse. (D) eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zu dem Vertrag Ich sage auch ganz deutlich: Die Personal- und Sach- vom 19. September 2000 mit der Tschechischen Republik ausstattung ist in den vergangenen Jahren kontinuierlich über die Zusammenarbeit der Polizeibehörden und der verbessert worden. Was ich zu dem Thema Personal in Grenzschutzbehörden in den Grenzgebieten, Druck- Zahlen gesagt habe, könnte ich auch hinsichtlich der sache 14/7095, ab. Der Innenausschuss empfiehlt unter Sachausstattung erwähnen. Lieber Herr Kollege Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa- Baumann, derjenige, der sich beispielsweise bei dem che 14/7429, den Gesetzentwurf anzunehmen. Ich bitte Fahrzeugbestand auskennt, wird wissen, dass es dabei diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, absolut keinen Anlass zu einer kritischen Bemerkung gibt. um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer ent- Sie sollten auch das Beschaffungsprogramm der Bundes- hält sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Bera- regierung einmal loben. tung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten CDU/CSU und der FDP bei Gegenstimmen der PDS an- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) genommen. Mit dem heute zur Verabschiedung anstehenden Ge- Wir kommen zur setz zum Polizeivertrag zwischen der Bundesrepublik dritten Beratung Deutschland und der Tschechischen Republik wird nach unserer Auffassung ein weiteres Etappenziel auf dem Weg und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem zur Integration der Staaten Osteuropas in die europäische Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Ge- Sicherheitsarchitektur erreicht und vor allem auch eine genstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist gute Grundlage zum weiteren Ausbau des Sicherheits- mit dem gleichen Stimmenverhältnis angenommen. standards im Interesse unserer Bürgerinnen und Bürger in dieser Grenzregion geschaffen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a und 9 b auf: (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten a) Erste Beratung des von den Fraktionen der SPD des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN einge- Ich finde es gut, dass es hier sehr positive Äußerungen brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Gleichstel- zu diesem Vertragsentwurf gibt. Dieser Vertragsentwurf lung behinderter Menschen und zur Änderung liegt auf einer kontinuierlichen Linie der Bundesregie- anderer Gesetze rung, die besagt: Bei der inneren Sicherheit kommt es – Drucksache 14/7420 – 19768 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Überweisungsvorschlag: Der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, Karl (C) Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung (f) Hermann Haack, hat als Vorsitzender der Koalitionsar- Innenausschuss Rechtsausschuss beitsgruppe Behindertenpolitik entscheidend mitgewirkt. Finanzausschuss Dafür möchte ich mich bei ihm herzlich bedanken. Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ausschuss für Gesundheit DIE GRÜNEN) Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Ausschuss für Bildung, Forschung und Meine Damen und Herren, Kernstück des Gesetzes ist Technikfolgenabschätzung die Herstellung von Barrierefreiheit. Barrierefreiheit ist Haushaltsausschuss dabei nicht nur die Beseitigung räumlicher Barrieren für Rollstuhlfahrer und Gehbehinderte. Sie umfasst bei- b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Guido spielsweise auch die Verwendung der Gebärdensprache Westerwelle, Dr. Heinrich L. Kolb, Hans-Joachim durch hör- oder sprachbehinderte Menschen. Barrierefrei- Otto (Frankfurt), weiterer Abgeordneter und der heit bedeutet ferner Kommunikationsmöglichkeiten seh- Fraktion der FDP behinderter Menschen in den elektronischen Medien. Informationsangebot der Bundesregierung (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ barrierefrei gestalten DIE GRÜNEN) – Drucksache 14/5985 – Um die Barrierefreiheit umzusetzen, haben wir das Überweisungsvorschlag: neue Instrument der Zielvereinbarung geschaffen. Un- Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung (f) ternehmen und Behindertenverbände sollen selbstständig Rechtsausschuss Ausschuss für Kultur und Medien vereinbaren, wie und in welchem Zeitraum Barrierefrei- heit vor Ort verwirklicht wird. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Beratung eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Sind Sie da- Rollstuhlfahrern, blinden und gehörlosen Menschen mit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist so be- soll es künftig möglich sein, sich selbstständig in den Ge- schlossen. bäuden des Bundes zu bewegen. In neue Dienstgebäude müssen zum Beispiel für Blinde wahrnehmbare Orientie- Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der rungshilfen eingebaut werden. Die Selbstverpflichtung Bundesminister Walter Riester das Wort. des Bundes soll Vorbildcharakter auch für die Länder ha- ben. Walter Riester, Bundesminister für Arbeit und Sozial- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (B) ordnung: Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen DIE GRÜNEN) (D) und Herren! Diese Regierung hat sich zum Ziel gesetzt, das 1994 im Grundgesetz verankerte Benachteiligungs- Auch Gaststätten in neu errichteten Gebäuden müssen verbot auch durchzusetzen. Zuerst kam das Gesetz zur künftig barrierefrei sein. Unnötige Baukosten werden ver- Bekämpfung der Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter, mieden, weil die Barrierefreiheit schon in die Planung dass das ganz beachtliche Ergebnis zeitigte, dass wir die einfließt. Zahl arbeitsloser Schwerbehinderter zwischenzeitlich um Nahverkehr, Bahnverkehr, Luftverkehr – drei Sym- über 25 800 absenken konnten. bole für Bewegungsfreiheit und Mobilität, die das Leben (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ in unserer heutigen Zeit prägen. Künftig sollen behinderte DIE GRÜNEN) Menschen hier möglichst wenig Barrieren vorfinden, da- mit auch sie selbstbestimmt von ihrem Recht auf Mobi- Als Zweites folgte das Sozialgesetzbuch IX. Heute brin- lität Gebrauch machen können. gen wir als drittes behindertenpolitisches Vorhaben in die- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ser Legislaturperiode das Gesetz zur Gleichstellung be- DIE GRÜNEN) hinderter Menschen ein. Hörbehinderten soll künftig das Recht eingeräumt wer- Der vorliegende Gesetzentwurf zeugt von einem neuen den, mit allen Bundesbehörden in Gebärdensprache zu Selbstverständnis behinderter Menschen und einem kommunizieren. Sehbehinderte können Bescheide – zum neuen Denken in der Behindertenpolitik. Beispiel vom Arbeitsamt – auf Wunsch zusätzlich in (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Brailleschrift oder auf einem Tonträger erhalten. Das DIE GRÜNEN) Internet bietet Information und ist heute fast unverzicht- barer Bestandteil der Arbeitswelt. Insbesondere sehbehin- Er dreht sich nicht mehr nur um Fürsorge und Versorgung. derten Menschen soll ein ungehinderter Zugang zu die- Heute geht es um den bürgerrechtlichen Anspruch auf sem Medium ermöglicht werden. Vorreiter hierfür werden Chancengleichheit. Von Anfang an haben Betroffene an die Bundesdienststellen sein, die ihre Internetangebote dem Gesetzentwurf mitgearbeitet. Der Text wurde von ei- barrierefrei gestalten werden. ner Projektgruppe des Bundesarbeitsministeriums auf der Grundlage eines Entwurfes des Forums behinderter Juris- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ tinnen und Juristen entwickelt. DIE GRÜNEN) (Dr. Ilja Seifert [PDS]: Immer weiter Meine Damen und Herren, die unbehinderte Teilnahme verwässert!) an geheimen Wahlen sollte in einer Demokratie selbstver- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19769

Bundesminister Walter Riester (A) ständlich sein. Bisher konnten Blinde oder Sehbehinderte Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als (C) aber nur wählen, wenn sie eine Hilfsperson in die Kabine ich mir Ihren Gesetzentwurf angeschaut habe, war ich mir mitgenommen haben. Das wird sich ändern. Künftig muss nicht mehr sicher, ob das wirklich das Gesetz ist, an das eine Wahlschablone bereitgehalten werden, mit der Seh- Sie gedacht haben, als Sie die Koalitionsvereinbarung be- behinderte ihren Stimmzettel allein ausfüllen können. schlossen haben. Man muss schon sehr genau hinschauen, um zu entdecken, was überhaupt drinsteht. Gemessen an (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ dem, wovon Sie immer geredet haben, ist das Gesetz nur DIE GRÜNEN) noch ein Schatten seiner selbst. Bei der Auswahl der Wahllokale soll künftig besonders (Widerspruch bei der SPD) auf Barrierefreiheit geachtet werden, damit Rollstuhlfah- rer problemlos die Wahlkabinen erreichen können. Ich finde, ähnlich wie bei den Beratungen über das SGB IX ist dank der vielen Konsensrunden, die im Vor- Über 3 Millionen schwerbehinderte Frauen mit kör- feld stattgefunden haben, das Gesetz so „abgenudelt“, perlichen, geistigen oder seelischen Behinderungen sind dass am Ende nicht mehr zu erkennen ist, wo Ihr großer oft einer doppelten Benachteiligung ausgesetzt: als Wurf und Ihre Visionen in der Frage, was Gleichstellung Frauen und als behinderte Menschen. Das Gleichstel- in dieser Gesellschaft eigentlich heißen soll, geblieben lungsgesetz erklärt Maßnahmen ausdrücklich für zuläs- sind. sig, die eine Gleichstellung behinderter Frauen fördern. (Zuruf von der SPD: Sie haben gar nicht erst Wir stärken im Gleichstellungsgesetz auch die Rechte versucht, einen Wurf zu machen!) der anerkannten Behindertenverbände. Sie sollen so- – Nein, schauen Sie sich bitte an, was substanziell von wohl die Möglichkeit zur Prozessvertretung als auch ein dem, was Sie einmal gefordert haben, noch übrig geblie- Verbandsklagerecht erhalten. Damit können Verbände ben ist. In der Tat ist verdammt wenig übrig geblieben. insbesondere unabhängig von einem konkreten Einzelfall die Gleichstellung behinderter Menschen auch gerichtlich (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) durchsetzen. Man mag boshaft sagen, dass Sie auf uns Rücksicht (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nehmen wollten, damit wir zustimmen können; denn die DIE GRÜNEN) Union – das wissen Sie ganz genau – war lange Zeit sehr skeptisch gegenüber einem Gleichstellungsgesetz. Aber Ganz wichtig ist es aber auch, dass die Bundesländer das hat vor allen Dingen damit zu tun gehabt, dass in der nun den Ball aufnehmen. Es besteht für Länder und Kom- politischen Auseinandersetzung nur mit Schlagworten munen ein großer Gestaltungsspielraum insbesondere in operiert worden ist. Ich wüsste angesichts dessen, was (B) den Bereichen Bau, Verwaltung und Verkehr. Diesen hinter uns liegt, nicht, welche unüberwindbaren Wider- (D) Spielraum gilt es zu nutzen; denn nur dann, wenn auch in stände es gegeben haben sollte, die einen Konsens ver- den Landesgesetzen detailliert ausgestaltete und einklag- hindert haben. Das, was jetzt vorliegt, tut zwar am Ende bare Rechte für behinderte Menschen verankert sind, niemandem weh. Aber ob damit das erreicht werden kann, kann eine barrierefreie Teilhabe am gesellschaftlichen Le- was wir alle wollen, ist fraglich. ben Realität werden. Sie selber müssen im Moment zugeben, dass sich vie- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ les nicht so einfach umsetzen lässt, wie Sie ursprünglich DIE GRÜNEN) geglaubt haben. Einen wesentlichen Teil, der eigentlich in Ich bin mir sicher, dass wir mit diesem wichtigen drit- ein Gleichstellungsgesetz hineingehört, haben Sie heraus- genommen: Der ganze zivilrechtliche Teil fehlt, nicht nur, ten großen Schritt in der Behindertenpolitik einen Mei- weil man noch anderes hineinnehmen möchte – ich weiß, lenstein setzen werden, mit dem das Behindertenrecht dass dieses Argument sofort kommen wird –, sondern völlig neu geregelt wird und der bei der aktiven Einbezie- weil es sich in der Realität in der Tat komplizierter dar- hung Behinderter sowie beim Abbau von Barrieren in un- stellt, als man es gedacht hat. serer Gesellschaft hilft. Aber das ist nicht das eigentliche Hauptproblem. Wenn Herzlichen Dank. man das verabschieden kann, worüber man sich einig ist, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ weil es eine Mehrheit gibt, dann kann man auch einmal DIE GRÜNEN – Klaus Brandner [SPD]: Ein andere Sachen nach hinten schieben. Das ist in Ordnung. gutes Gesetz!) Nur, Sie selbst haben eine viel höhere Messlatte angelegt. Ich muss feststellen: Sie sind wieder einmal haarscharf unter Ihrer eigenen Messlatte durchgelaufen. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als nächste Rednerin hat das Wort die Kollegin Claudia Nolte (Beifall bei der CDU/CSU) von der CDU/CSU-Fraktion. Einige inhaltliche Anmerkungen: Sie haben – um (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Bereiche einzubeziehen, in denen Sie keine gesetzgebe- NEN]: Jetzt loben Sie einmal die Koalition!) rischen Kompetenzen haben – den Weg gewählt, über Zielvereinbarungen Entwicklungen im Unternehmens- bereich in Gang zu setzen. Dieser Weg hat mich über- Claudia Nolte (CDU/CSU): Dazu habe ich wenig rascht. Ich finde ihn bemerkenswert, nicht weil ich ihn Veranlassung, Herr Beck. nicht unterstützen würde. Ich glaube, dies ist in der Tat ein 19770 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001

Claudia Nolte (A) Weg, auf dem man Schritt für Schritt Veränderungen und sind mehr andere Stellen, die in ihrem Alltag eine ent- (C) Verbesserungen durchsetzen kann und der auch große scheidende Rolle spielen. Man muss sich überlegen: Wie Flexibilität zulässt; denn man muss immer die konkrete kommt man eigentlich an das heran, was für uns wirklich Situation der Unternehmen vor Ort sehen. Das lassen wichtig ist? Das sind nun einmal Straßen, Fußgänger- Zielvereinbarungen in der Tat zu. Zu fragen wäre, wie es überwege, Gebäude. bei den kleinen Unternehmen aussieht, ob das alles auch Man erkennt, dass versucht worden ist, mit den kom- dort praktikabel ist. Darüber werden wir, denke ich, im munalen Spitzenverbänden einen Kompromiss zu finden, Ausschuss noch sprechen. was etwa den ÖPNV betrifft. Es ist kostenintensiv, den (Zuruf von der SPD: Sie können uns ruhig mal ÖPNV umzubauen. Soweit es um Neuanschaffungen loben!) geht, ist das, denke ich, nicht so schwierig; da sollte man von vornherein an das Notwendige denken. Bemerkenswert fand ich das deshalb, weil mich das sehr daran erinnert hat, welchen Weg wir im Rahmen der Wir werden letztlich nur dann erfolgreich sein, wenn Frauenförderung im Gleichberechtigungsgesetz gegan- wir auch mit ein ganz klein wenig Zwang arbeiten. Auf gen sind. Für die Frauenförderpläne haben wir auch Ziel- Zeithorizonte gänzlich zu verzichten wird schwierig. Es vorgaben gewählt. Sie haben sie vehement bekämpft. sind auch wenig Vorstellungen dazu entwickelt worden, wie denn Kontrollmöglichkeiten aussehen werden. Ich (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das ist wahr! frage mich, ob man nicht auch in dem Bereich über so et- Daran kann ich mich noch erinnern!) was wie Zielvereinbarungen zwischen Verbänden und Eine gute Idee setzt sich eben letztlich doch durch. Kommunen nachdenken kann, ob das vielleicht ein Weg ist. Darauf gibt es sicherlich noch keine abschließenden Sie haben Regelungen für Gebärdensprachdolmet- Antworten. Darüber müssen wir im Ausschuss noch drin- scher und für die verstärkte Zulassung solcher Dolmet- gend reden. Das ist noch nicht ausgefeilt. scher – ähnlich wie im SGB IX – aufgenommen, was ich sehr begrüße. Es wäre gut, wenn auch die Kostenfragen Ich möchte an dieser Stelle das Forum behinderter Ju- eindeutig geregelt werden würden. ristinnen und Juristen zitieren, das in diesem Bereich sehr engagiert tätig ist und auch sehr viele Vorschläge einge- Wichtig ist mir – das möchte ich an dieser Stelle nur an- bracht hat. In seiner Stellungnahme heißt es: merken –, dass wir bei all diesen Angeboten nicht verges- sen, dort, wo es möglich ist – das ist sicherlich nicht über- Das Forum behinderter Juristinnen und Juristen wird all möglich –, auch das Erlernen der Lautsprache zu jedenfalls keinen Gesetzentwurf unterstützen kön- fördern, was der Unterstützung bedarf und was auch kos- nen, in dem wirksame Vorschriften zur barrierefreien tenintensiv ist, wenn man zum Beispiel bleibende Taub- Gestaltung des öffentlichen Personenverkehrs feh- (B) heit – ein Hindernis für das Erlernen der Lautsprache – len. Hiermit steht und fällt aus unserer Sicht das (D) verhindern will. Es gibt in dem Bereich gute Weiter- gesamte Projekt. entwicklungen. Ich denke an die Möglichkeit von Implan- Weiter wird dargelegt, welche Vorstellungen es dazu gibt taten, die eine enorme Entwicklung hatten. Sie sind teuer und was eigentlich fehlt. und da hat es bislang keinen Durchbruch gegeben. Wir hatten auch schon bei der Anhörung zum SGB IX den Es bleibt also durchaus Beratungsbedarf und ich wün- Fall, dass Hilfsmittel verstärkt unterstützt werden sollten. sche uns für die Beratungen in den nächsten Wochen viel Es wäre mir lieb, wenn wir im Ausschuss einmal einen Erfolg. Bericht vom Ministerium darüber bekämen, wie denn in Vielen Dank. dem Bereich die finanzielle Unterstützung aussieht. Wir dürfen nicht vergessen: Lautsprache ist dort, wo sie mög- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei lich ist, immer noch der beste Weg zur Integration. Wir Abgeordneten der FDP) dürfen nicht zulassen, dass das verhindert wird. Liebe Kolleginnen und Kollegen, der wichtigste Punkt Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort in diesem Gesetzentwurf zur Gleichstellung behinderter hat jetzt der Kollege Volker Beck vom Bündnis 90/Die Menschen ist in der Tat das Thema Barrierefreiheit. Das Grünen. ist der Punkt, der letztlich darüber entscheidet, ob eine Integration in unser Alltagsleben möglich ist oder ob wei- Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): terhin unüberbrückbare Hürden bestehen. Ich sage Ihnen Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die vollmundi- ganz ehrlich: Was dazu in dem Gesetzentwurf steht, wird gen Äußerungen der Kollegin Nolte haben mich sehr er- nicht dazu beitragen, dass wir in der nächsten Zeit deutli- freut. che Verbesserungen erreichen. (Zuruf von der CDU/CSU: Dann hat sich Ihr Uns ist eine Begriffsbestimmung vorgelegt worden, Kommen ja gelohnt!) die ich gut finde. Was aber an Konkretisierungen enthal- ten ist, etwa betreffend Personenbeförderung, Eisenbahn, Sie hat jetzt entdeckt, dass man hier ganz forsch voran- schreiten muss. Ich wünschte mir nur, dass sie hier einmal Luftverkehr, Umgestaltung der Gebäude, ist in meinen ihre Vorschläge zu Papier brächte, damit wir wissen, wo Augen außerordentlich marginal. Ich sehe die Schwierig- es bei der Union langgeht. keiten durchaus. Wir haben nur begrenzte Kompetenzen auf Bundesebene. Die meisten Menschen werden nicht (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN unbedingt Bundesbehörden für ihr Leben brauchen; es und bei der SPD) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19771

Volker Beck (Köln) (A) Ich erinnere mich daran, dass wir in der letzten Wahlpe- setzentwurf erarbeitet haben. Auch das ist beispielhaft für (C) riode mit den Vorschlägen meiner Fraktion und auch de- den Respekt vor der Kompetenz der Menschen, die am nen unseres Koalitionspartners zur Behindertenpolitik besten darüber Bescheid wissen, wie diese Gesellschaft von Ihnen immer eine Abfuhr bekommen haben. sie behindert. (Claudia Nolte [CDU/CSU]: Ich habe Ihnen das Meine Damen und Herren, ich bin sehr froh darüber, ja begründet! Sie haben nicht gesagt, was Sie dass sich die Union endlich dazu durchgerungen hat zu wirklich wollten!) sagen, dass wir auch ein zivilrechtliches Antidiskriminie- Wir wollen den zentralen Paradigmenwechsel, das heißt rungsgesetz brauchen. Ich kann Sie beruhigen, Frau weg von der Behindertenpolitik Nolte, auch insoweit macht die rot-grüne Koalition noch in dieser Wahlperiode Ihre Träume wahr. (Claudia Nolte [CDU/CSU]: Das haben Sie aber nicht geschafft!) (Zuruf von der CDU/CSU: Wenn es noch dazu kommt!) als bloßer Fürsorgepolitik hin zu einer Politik, durch die Barrieren abgebaut werden, damit behinderte Menschen Wir werden ein zivilrechtliches Antidiskriminierungs- als gleichberechtigte Subjekte am Alltag des gesellschaft- gesetz einbringen. Die Rechtspolitiker der Koalition sind lichen Lebens möglichst immer ohne Hilfe für die Über- in den Vorarbeiten dazu schon sehr weit vorangeschritten. windung aufgerichteter Barrieren partizipieren können. Auch dafür werden Sie uns dann Beifall zollen können. Heute ist ein historischer Tag, weil wir mit dem Barrie- Meine Damen und Herren, mit dem vorliegenden Ge- refreiheitsgesetz einen Umdenkprozess in der Politik setzentwurf regeln wir in ganz vielen Bereichen, dass Be- einleiten. hinderte am Alltag partizipieren können. Für mich war es (Beifall bei Abgeordneten der SPD) wirklich ein ganz wichtiger Schritt – das will ich hier betonen –, dass wir als Gesetzgeber den ideologischen Wir haben hiermit eine völlig neue Situation geschaffen. – Streit über die deutsche Gebärdensprache endlich be- Frau Nolte will bei diesem Punkt offenbar gar nicht enden. Wir sagen jetzt endlich: Die deutsche Gebärden- zuhören. sprache wird als Sprache anerkannt, lautbegleitende Ge- (Claudia Nolte [CDU/CSU]: Ich höre Ihnen bärden werden als Kommunikationsmittel respektiert. sehr gut zu!) Das ist sehr wichtig, weil sich viele Betroffene lange Mit dem Instrument der Zielvereinbarung, das wir ge- Zeit wehren mussten gegen Pädagogen, die es angeblich setzlich verankern, schaffen wir in den Bereichen, in de- besser wussten als sie selbst, wehren mussten gegen eine nen der Bund keine Gesetzgebungskompetenz hat, die Erziehung, bei der ihnen nicht die Chance gegeben wurde, (B) Möglichkeit, genau das, was Sie für die Kommunen for- sich in vollem Umfang kommunikativ emotional zu ent- (D) dern, aufgrund einer klaren Rechtsgrundlage zu schaffen. wickeln. Ich finde es sehr gut, dass der Gesetzgeber jetzt In den Bereichen, in denen der Bund Gesetzgebungskom- sagt: Letztendlich sollen die betroffenen Menschen ent- petenz hat, verpflichten wir die Träger, insbesondere die scheiden, welchen Weg sie zum Erwerb von Kommuni- im Bereich der Verkehrsdienstleistungen, solche Zielver- kationsfähigkeit gehen. Wir erkennen das an. einbarungen abzuschließen. Im Übrigen schaffen wir – damit gehen wir voran – ge- Ich meine, dieser Weg ist sehr klug, weil damit vor- genüber den Behörden des Bundes und der Länder einen geschrieben wird, dass die Verhandlungspartner etwas re- Rechtsanspruch dahin gehend, dass sich die jeweilige geln und was sie regeln; sie müssen sich einigen und die Behörde darum kümmern muss, dass sie sich mit denje- Behindertenverbände können am Ende eine Einigung nigen, die hörgeschädigt oder ertaubt sind, verständigen auch durchsetzen. kann. Die betroffenen Menschen werden also, nachdem sie sich bei einer Behörde angemeldet haben, dort einen (Zuruf von der CDU/CSU: Erzwingen kann Gebärdendolmetscher vorfinden. Dadurch werden übri- man eine solche Vereinbarung nicht!) gens auch Arbeitsplätze geschaffen, weil sehr viele Ge- Wir als Gesetzgeber maßen uns aber nicht an, die viel- bärdendolmetscher zwar hoch engagiert sind, aber leider fältigen Behinderungen, die es im Alltag gibt, besser zu keine gesicherte Einkommenslage oder Auftragslage kennen als die Menschen, die davon betroffen sind. Des- haben. Da werden sich die Behörden etwas einfallen las- halb ermächtigen wir die Behindertenverbände, solche sen, zum Beispiel gemeinsame Servicezentren, um das Zielvereinbarungen mit der Anbieterseite zu formulieren. sicherzustellen. Dadurch werden die Kommunikations- Damit kann, ungefiltert durch Politik, insbesondere durch möglichkeiten der betroffenen Menschen gesichert. parteipolitische Rücksichtnahme, die gesamte Kompe- Ich bin stolz, dass wir das erreicht haben. Ich bin ebenfalls tenz der Behindertenarbeit in die Ausgestaltung einer bar- stolz darauf, dass wir mit dem Entwurf zum so genannten rierefreien Republik einfließen. Ich finde, das ist der rich- Barrierefreiheitsgesetz dem Anspruch des Gender Main- tige Ansatz. streaming gerecht werden und die besondere Situation (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN von behinderten Frauen ausdrücklich regeln. und bei der SPD) Sehr wichtig ist unter demokratiepolitischen Gesichts- Wir haben in dem ganzen Verfahren eine sehr enge Ab- punkten, dass wir den Behindertenverbänden mit dem stimmung mit der Behindertenbewegung, mit den Behin- Verbandsklagerecht die Möglichkeit verschaffen, die dertenverbänden gesucht, ehe wir den vorliegenden Ge- Rechte der behinderten Menschen durchzusetzen. Wir 19772 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001

Volker Beck (Köln) (A) legen die Durchsetzung dieser Rechte nicht allein in die Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Herr Präsident! Liebe (C) Hand von paternalistischen Beauftragten, auch wenn es Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Beck, ich be- im Bund einen sehr guten Beauftragten gibt und auch fürchte, dass Ihre Annahme, in zehn Jahren werde man die wenn in den Ländern und Kommunen sehr engagierte Be- Republik nicht wiedererkennen, ein bisschen zu optimis- auftragte arbeiten. Vielmehr können sich die Behinderten- tisch ist. Es ist nicht so, dass wir uns das nicht wünschen organisationen künftig selber ihrer Haut wehren. Sie er- würden; aber man sollte realistische Aussagen machen, halten konkrete Rechtsansprüche und dadurch die um bei den betroffenen Menschen nicht unnötig falsche Möglichkeiten, das von uns geschaffene Recht durchzu- Hoffnungen zu wecken. setzen. Dieses Vorgehen ist meines Erachtens zielführend und beispielhaft. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich bin froh, dass man endlich nicht mehr in die USA fahren muss, um zu sehen, dass die Verschiedenheit der Meine Fraktion begrüßt grundsätzlich – zu Vorbehalten Menschen für die Gesellschaft eigentlich keine Last dar- komme ich später – den von den Koalitionsfraktionen stellt, wenn man diese Verschiedenheit beim Bau von Ge- vorgelegten Gesetzentwurf zur Gleichstellung behinder- bäuden und bei der Anschaffung von Verkehrsmitteln ter Menschen. Sie nehmen damit ein altes Anliegen der berücksichtigt. Liberalen und insbesondere der FDP-Fraktion im Deut- schen Bundestag auf, was die gleichberechtigte Teilhabe (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN so- von Menschen mit Behinderungen am gesellschaftlichen wie bei Abgeordneten der SPD – Claudia Nolte Leben angeht. [CDU/CSU]: Aber die haben es doch genau an- ders gemacht, Herr Beck!) Der Abbau möglichst vieler Barrieren, welche Men- schen mit Behinderungen an dieser Teilhabe hindern, sie Zehn Jahre nach Verabschiedung des so genannten im Alltag diskriminieren und benachteiligen, ist das Ziel, Barrierefreiheitsgesetzes werden wir unsere Republik dem sich alle Fraktionen in diesem Hause verpflichtet nicht mehr wiedererkennen, weil wir bei der Anschaffung fühlen. In diesem Geist haben wir unlängst das SGB IX unserer Verkehrsmittel und beim Bau der Gebäude an die über alle Fraktionsgrenzen hinweg beschlossen. Ich wäre Menschen, die behindert sind, gedacht haben. froh, wenn uns das auch bei diesem Gesetzentwurf (Claudia Nolte [CDU/CSU]: Das glauben Sie gelänge. doch selbst nicht! Da wird sich nichts ändern!) Dazu bedarf es meines Erachtens aber der Berichti- Mit diesem Gesetz setzen wir die Forderung um, um gung eines grundlegenden Fehlers in Ihrem Gesetzent- die es uns bei der Grundgesetzänderung 1994 ging: Be- wurf, nämlich der Ungleichbehandlung der privaten Wirtschaft und der öffentlichen Träger. Während Sie (B) hindertes Leben gehört zur Vielfalt einer Gesellschaft und (D) muss gleichberechtigt behandelt werden. Es ist Teil des sich nicht scheuen, den privaten Unternehmen in größe- Normalen. Die behinderten Menschen haben das von der rem Umfang Pflichten aufzuerlegen, schonen Sie die öf- Grundgesetzänderung erwartet. Wir erfüllen nun ihre fentlichen Träger. Das ist in meinen Augen nicht nach- Forderungen. Nach der Grundgesetzänderung machte vollziehbar. sich bei den Betroffenen eine sehr große Enttäuschung (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten breit, weil in der Behindertenpolitik bis 1998 nichts We- der CDU/CSU) sentliches passiert ist, obwohl es einen klaren verfas- sungsrechtlichen Auftrag gab. Diesen Auftrag haben wir Ich rege an, über eine genaue Formulierung der Ziel- mittlerweile umgesetzt. vereinbarung in § 5 dieses Gesetzentwurfs nachzudenken. Problematisch ist, dass laut § 5 jedes Unternehmen, un- (Claudia Nolte [CDU/CSU]: Jetzt sind Über- abhängig vom Unternehmenszweck, von Art und Umfang schriften geschaffen, mehr nicht!) der Kundenkontakte, von seiner Größe, von seiner Leis- – Frau Nolte, es kränkt Sie, dass Sie dazu keinen Beitrag tungsfähigkeit usw., betroffen ist. Das heißt, alle Unter- geleistet haben. Aus diesem Grund rufen Sie pausenlos nehmen, auch kleine und kleinste, sehen sich einer für sie dazwischen; das verstehe ich gut. nicht überschaubaren Vielzahl von Verbänden gegenüber, die sich zum Teil mit sehr speziellen Anliegen befassen, (Claudia Nolte [CDU/CSU]: Jeder Redner ist und müssen mit jedem Verband in Verhandlungen eintre- doch dankbar für Zwischenrufe! – Weiterer Zu- ten, außer in den Fällen des Absatzes 4. Hier finden wir, ruf von der CDU/CSU: Wir wollten Ihren Re- dass die dort geregelten Fälle zu kurz greifen, weil auch defluss nicht bremsen!) nicht klar ist, was im Falle des Scheiterns einer Zielver- Die Behinderten wissen, auf wen sie hier vertrauen kön- einbarung geschehen soll. Außerdem werden Unterneh- nen. men, die bereits Maßnahmen ergriffen haben, um Barrie- refreiheit herzustellen, für diese freiwillige Vorleistung Vielen Dank. nicht ausreichend belohnt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN In § 12, wo es um die Vertretungsbefugnis der Ver- sowie bei Abgeordneten der SPD) bände geht, wird den Verbänden ein Klagerecht einge- räumt, das sie anstelle und mit Einverständnis der Men- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort schen mit Behinderungen, die sich in ihren Rechten auf hat jetzt der Kollege Dr. Heinrich Kolb von der FDP- Barrierefreiheit möglicherweise verletzt sehen, ausüben Fraktion. können. Hier kommt es darauf an sicherzustellen, dass die Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19773

Dr. Heinrich L. Kolb (A) behinderten Menschen selbst Herr des Verfahrens blei- Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist die Unausge- (C) ben, dass im Ergebnis nicht ein sie bevormundendes Kla- wogenheit, über die wir noch einmal miteinander disku- gerecht geschaffen wird. Darüber sollten wir uns unter- tieren müssen. Wir sehen hier eine illegitime Ungleichbe- halten. handlung. Das ist auch ein Punkt, den wir in unserem Antrag zum Informationsangebot der Bundesregierung (Beifall bei der FDP) kritisieren. Nur wenn die Organe des Bundes, nur wenn Wir sollten uns in den Ausschussberatungen auch durch- die öffentliche Verwaltung, die auch über die Einhaltung aus überlegen, ob man nicht die Befugnisse von An- dieses Gesetzes wachen wird, mit gutem Beispiel voran- gehörigen behinderter Menschen hier noch stärker als bis- geht, werden wir im Interesse unserer Mitbürger mit Be- her vorgesehen einbeziehen kann. hinderung eine breite Akzeptanz auch in der Wirtschaft erreichen können. Wir stehen – das muss ich hier auch noch sagen – der in § 13 des Entwurfs vorgesehenen Einführung einer Ver- Wir als FDP-Bundestagsfraktion bitten Sie daher, in ei- bandsklage mit Skepsis gegenüber. Auf Bundesebene nem konstruktiven Prozess mit uns diese Punkte neu zu haben wir dieses sensible Instrument der Verbandsklage überdenken – zum Wohle der Menschen mit Behinderung bisher mit Zurückhaltung eingesetzt. Dieser Übung, näm- in Deutschland, um die es uns geht. lich der Zurückhaltung, wird das in § 13 vorgesehene Ver- Danke schön. bandsklagerecht nicht gerecht. Zwar werden dort be- stimmte Gesetzesvorschriften aufgelistet, es wird dann (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) aber auf sonstige Vorschriften des Bundesrechts verwie- sen, die einen Anspruch auf Herstellung von Barrierefrei- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort heit vorsehen. Das bedeutet, jeder Verband könnte zu- hat jetzt der Kollege Ilja Seifert von der PDS-Fraktion. künftig, ohne in seinen Rechten verletzt zu sein, jedes Unternehmen verklagen, und zwar nicht nur mit dem Ziel, Verhandlungen über Zielvereinbarungen aufzunehmen, Dr. Ilja Seifert (PDS): Herr Präsident! Meine Damen sondern wegen jeder auch noch so geringfügigen Bean- und Herren! Ich empfinde es als sehr erfreulich, dass alle standung in diesem Bereich. Wir müssen uns noch einmal hier im Hause sagen, sie wollen etwas dafür tun, dass gemeinsam überlegen, ob hier das Klagerecht nicht zu Menschen mit Behinderungen in diesem Land gleichbe- weit ausgestaltet ist und wie man es alternativ fassen rechtigt und besser leben können. Wenn ich mir aber den könnte. vorliegenden Gesetzentwurf anschaue, stelle ich im Ge- gensatz zu Ihrer Interpretation, Herr Minister, fest, dass (Beifall bei der FDP) Sie völlig auf eine entsprechende Politik verzichten. Wel- (B) Während Sie – das habe ich eingangs schon gesagt – che Inhalte finden sich denn noch unter den Überschrif- (D) bei der Verpflichtung von privaten Unternehmen doch ten? Die Kollegin Nolte wies bereits darauf hin. Eine ent- sehr großzügig gewesen sind, wirkt es dann schon fast sprechende Gestaltung der Politik kann doch nur darin peinlich, wie zugeknöpft Sie sich geben, wenn es um die bestehen, dass man denjenigen, die es schwerer haben, ein Verpflichtungen der öffentlichen Hand geht. In § 10 des klein wenig Erleichterung verschafft. In die Sprache der Gesetzentwurfes wird den sehbehinderten und blinden Behindertenpolitik umgesetzt heißt das, dass bestehende Menschen ein Anspruch auf Bescheide und Vordrucke in behinderungsbedingte Nachteile ausgeglichen werden einer Form, die sie wahrnehmen können, eingeräumt. So müssen. Gleichstellung erreicht man doch nicht durch weit, so gut. Aber in Absatz 2 wird dieser Anspruch schon Gleichbehandlung, sondern durch Ungleichbehandlung. wieder relativiert und der Umfang des Anspruches der Wenn man ungleiche Dinge gleich behandelt, reprodu- sehbehinderten und blinden Menschen in das Ermessen ziert man doch nur die Ungleichheit. von BMI und BMA gestellt. Eine solche Selbstdefinition (Beifall bei der PDS) der Verpflichtung räumen Sie der Wirtschaft nicht ein. Warum eigentlich wollen Sie hier die öffentliche Hand Weil ich nur wenig Zeit habe, möchte ich mich auf ei- besser stellen und bevorzugen? Ich denke, das darf der nen einzigen Punkt konzentrieren. Sie haben die absolut Gesetzgeber nicht zulassen, wenn wir wirklich voran- unbefriedigende Definition von Behinderung, die sich kommen wollen. im SGB IX findet, in dieses Gesetz übernommen. Dort de- finieren Sie: Menschen sind behindert, wenn ihre körper- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten liche Funktion, ihre geistigen Fähigkeiten oder ihre seeli- der CDU/CSU) sche Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als Auch in § 11 Ihres Gesetzentwurfes, der die öffentliche sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zu- Hand zu einer barrierefreien Informationstechnik ver- stand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben der pflichten soll, kann noch einmal eingegriffen werden. Sie Gesellschaft beeinträchtigt ist. Behinderung ist aber nicht hatten im Referentenentwurf noch die Barrierefreiheit der Schaden an einem Menschen, sondern Behinderung von Intranets vorgeschrieben; das findet sich jetzt nicht ist eigentlich jede Verhaltensweise, jede Maßnahme, jede Struktur, die Menschen daran hindert, ihre Lebens- und mehr. Wesentlich schlimmer noch, Sie stellen auch hier Entfaltungsmöglichkeiten wahrzunehmen. Wenn Sie die barrierefreie Informationstechnik unter einen Ver- diese Definition in das Gesetz aufnehmen würden, kämen ordnungsvorbehalt, der sich insbesondere an den techni- Sie nicht zu solch komischen Vorschriften, wie wir sie schen und finanziellen Möglichkeiten der Verwaltung ori- jetzt hier finden. entieren soll. So steht es in § 11 Abs. 1 Satz 2. Das kann ich wirklich nicht nachvollziehen. (Beifall bei der PDS) 19774 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001

Dr. Ilja Seifert (A) Wir müssen endlich begreifen, dass Behinderung, wie die Silvia Schmidt (Eisleben) (SPD): Sehr geehrter Herr (C) WHO gesagt hat, das ist, was die Gesellschaft den Men- Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es schen antut, nicht das, was diese an Fehlern haben. ist höchste Zeit für ein Gleichstellungsgesetz. Seit 1972 fordern die betroffenen Verbände dieses Gesetz ein. In Schauen wir uns jetzt einmal Ihre grandiosen Zielver- mehr als 40 Staaten gibt es bereits Antidiskriminierungs- einbarungen an. Was, bitte schön, hindert denn eine Be- vorschriften. Deutschland ist in dieser Beziehung ein Ent- hindertenorganisation jetzt schon daran, mit irgendeinem wicklungsland – dank Ihnen. Konzern darüber zu verhandeln, dass dafür gesorgt wird, dass alle Bereiche barrierefrei gestaltet werden? Das ist (Manfred Grund [CDU/CSU]: Dank wem? möglich, aber das Problem ist, dass nichts passiert, wenn Muss man jede Beschimpfung und jeden Blöd- der Konzern nichts tut. Deshalb nützt das Recht auf Ver- sinn entgegennehmen?) handlungen wenig, wenn keine Sanktionen drohen, wenn Das ist besonders beschämend für ein Land, das auf einen die Verhandlungen nicht zu dem Ergebnis führen, dass dunklen Abschnitt seiner Geschichte zurückblicken muss, Barrierefreiheit hergestellt wird. Hier ist der entschei- in dem behinderte Menschen verfolgt und ermordet wur- dende Punkt. den. Ich denke nicht, dass das Blödsinn ist. (Beifall bei der PDS) Ein Gesetz zur Gleichberechtigung behinderter Men- Sie haben in dem Gesetz keine Sanktionen bei Diskri- schen ist längst überfällig. Für uns Sozialdemokraten war minierung vorgesehen. das einfach eine Verpflichtung. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ In der Fragestunde gestern haben wir gehört, dass das DIE GRÜNEN) zivilrechtliche Antidiskriminierungsgesetz auf den Weg gebracht werden soll. Wiederum soll dieser defektologi- Aber mit einem Gesetz allein ändert sich noch nichts. sche Behinderungsbegriff und nicht der moderne der (Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: So eine WHO verwandt werden. Deshalb reicht das, was Sie hier Revolution ist Ihr Gesetz nun wirklich nicht!) vorgelegt haben, auch wenn engagierte behinderte Men- schen daran mitgearbeitet haben, noch längst nicht aus. Gesetze sind zunächst nur ein Stück Papier. Dennoch sind Wir müssen daran arbeiten und es in wesentlichen Punk- Gesetze Instrumente, die genutzt werden müssen, um die ten verändern. Es stimmt: Menschen mit Beeinträchti- Gesellschaft tatsächlich zu verändern. gungen können ihre Angelegenheiten selber regeln, wenn (Manfred Grund [CDU/CSU]: Ist das mög- sie überhaupt etwas selber regeln können. Dafür, dass sie lich?) in die Lage versetzt werden, etwas selber zu regeln, muss (B) die Politik, müssen wir, müssen Sie sorgen, indem die Auf das vorliegende Gleichstellungsgesetz trifft diese (D) Nachteile ausgeglichen werden, die sie gegenüber ande- Aussage besonders zu. Gleichstellung und Gleichberech- ren haben. Dann können sie denen wenigstens auf glei- tigung – ich habe es in diesem Hause schon oft gesagt – cher Augenhöhe begegnen. fangen zuerst in den Köpfen der Menschen an. Die Bar- rieren, die der vorliegende Gesetzentwurf abbauen wird, Herr Minister, Sie haben gesagt, dass in den Ländern müssen zuallererst in den Köpfen der Menschen abgebaut Gleichstellungsgesetze folgen sollen. Aber auch diese werden. dürfen nicht auf einem falschen Behinderungsbegriff auf- Der Paradigmenwechsel in der Behindertenpolitik bauen. Deshalb ist es so wichtig, dass auf Bundesebene wird von diesem Gedanken getragen. ein vorbildlicher Behinderungsbegriff eingeführt wird, der tatsächlich dem Stand der Technik entspricht. Dann (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ können wir Stichtage für die Barrierefreiheit einführen, DIE GRÜNEN) die wir brauchen. Dann wird auch der Sturm der sehbe- Politik für behinderte Menschen – das war die Politik des hinderten Menschen gegen die Regelung abebben ehemaligen Fürsorgestaates, der die Menschen teilweise – Herr Kolb hat bereits davon gesprochen – und dann entmündigt hat – wird endlich durch eine Politik mit und werden wir vernünftige Regelungen erreichen, die von behinderten Menschen abgelöst. Dieser Paradigmen- tatsächlich zur Barrierefreiheit und vor allem zur Gleich- wechsel fand wohl noch nie so klar Ausdruck wie auf dem stellung führen, indem die Ungleichheit beseitigt wird. Kongress „Gleichstellungsgesetz jetzt“ im Oktober des Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit und hoffe auf letzten Jahres in Düsseldorf. „Gleichstellungsgesetz jetzt“ sehr intensive, aber auch nützliche Diskussionen im Aus- war die ultimative Aufforderung an uns und an die Ge- schuss, die hoffentlich zu Veränderungen zugunsten der sellschaft, der Benachteiligung behinderter Menschen behinderten Menschen führen. endlich und sofort ein Ende zu setzen. Das war die Aus- sage, die wir mitgenommen haben. Frau Nolte, auch Sie Danke schön. waren anwesend. Ich denke, dass auch Sie diese Aussage (Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten so verstanden haben. der FDP) (Claudia Nolte [CDU/CSU]: Die Teilnehmer wollten doch was anderes als das, was Sie hineingeschrieben haben!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat jetzt die Kollegin Silvia Schmidt von der SPD-Frak- Die Behindertenverbände waren sich im Klaren, dass tion. Diskriminierung trotz aller gut gemeinten Vorsätze, die Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19775

Silvia Schmidt (Eisleben) (A) wir alle schon Jahre vorher gefasst haben, nur durch deut- erfolgreich gegangen sind, bin ich überzeugt, dass uns das (C) liche und klare gesetzliche Vorgaben beendet werden vorliegende Gesetz unserem Ziel, Menschen mit Behin- kann. Diese Meinung fand auch auf dem Kongress eine derungen zu integrieren, entscheidend näher bringt; denn breite Zustimmung, auch von den Vertretern der Wissen- das Ziel, die Teilhabe aller Mitbürger und Mitbürgerinnen schaft und der Wirtschaft. Das wissen Sie. Herr Ulrich am gesellschaftlichen Leben, muss einfach erreicht wer- Gruber von der Bundesvereinigung der Deutschen Ar- den. beitgeberverbände fasste die Stimmung wie folgt zusam- Ein Anliegen ist mir noch besonders wichtig; es wurde men: Wir sehen Gleichstellungsgesetze sowohl auf Bun- bereits erwähnt. Behinderte Frauen sind besonders be- des- als auch auf Länderebene als sehr positiv an. nachteiligt, doppelt benachteiligt. Was wir mit dem Der endlich vorliegende Gesetzentwurf basiert auf der Schwerbehindertengesetz begonnen und im Sozialgesetz- Grundforderung, dass behinderte Menschen uneinge- buch IX fortgesetzt haben, findet auch im Gleichstel- schränkt all das nutzen können, was für uns selbstver- lungsgesetz seine ausdrückliche Verankerung. ständlich ist, damit sie das tägliche Leben wie wir ge- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nießen können. DIE GRÜNEN) Was unter dem Begriff Barrierefreiheit im Sinne des Wir sind den Forderungen der Verbände behinderter Gesetzentwurfes zu verstehen ist, wurde hier bereits deut- Frauen gefolgt. Frauenförderung wird in § 2 unseres Ent- lich gemacht. Deshalb möchte ich in Bezug auf Barriere- wurfes festgeschrieben. Der Behindertenbeauftragte der freiheit einen Irrtum ansprechen, der immer wieder Bundesregierung hat die Aufgabe, unterschiedliche Le- geäußert wird. Es sind die Bedenken hinsichtlich ver- bensbedingungen von behinderten Frauen und Männern meintlich hoher Kosten, die das Gleichstellungsgesetz zu berücksichtigen und geschlechtsspezifische Benach- zur Folge haben soll. Seriöse Berechnungen in den USA teiligungen zu beseitigen. haben aber ergeben, dass es letzten Endes viel teurer wird, wenn wir behinderte Menschen ausschließen oder beson- Natürlich ist mir bewusst, dass Frauen und Männern ders behandeln. Ich muss das jetzt einfach so krass for- ein Wahlrecht einzuräumen ist, ob ein Mann oder eine mulieren; denn es ist schlimm genug, dass dieser Beweis Frau von einem Mann oder einer Frau gepflegt wird. Das überhaupt geführt werden muss. muss natürlich im Pflegeversicherungsgesetz geregelt werden. Über eines müssen wir uns im Klaren sein. Mehr als die Hälfte aller Schwerbehinderten in Deutschland, und zwar 3,5 Millionen Menschen, sind älter als 65 Jahre. Schauen Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Frau wir in die Zukunft, so wird die Zahl der Schwerbehinder- Schmidt, kommen Sie bitte zum Schluss. (B) ten und der älteren Menschen noch steigen. (D) Frau Nolte, so wundert es nicht, dass selbst der BDA- Silvia Schmidt (Eisleben) (SPD): Das mache ich. – Geschäftsführer Christoph Kannegießer in Düsseldorf be- Natürlich muss auch dringend eine Änderung des diskri- tonte, dass es für Unternehmen lohnend sei, Barrierefrei- minierenden Sexualstrafrechts erfolgen. heit auch als einen Wettbewerbsvorteil im Marktsegment Meine Damen und Herren, wir werden weiterhin alles der größer werdenden Gruppe älterer und behinderter dafür tun, Diskriminierungen und Benachteiligungen be- Kunden zu sehen. Die Erfahrungen aus anderen Staaten hinderter Frauen und Männer zu beseitigen, und zwar zeigen, dass Gleichstellungsgesetze sogar wirtschaftliche endgültig. Vorteile mit sich bringen. Wir brauchen Gleichstellungs- gesetze – und das kann man nicht häufig genug betonen, Danke. meine Damen und Herren – auch zur Sicherung unseres (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wirtschaftlichen Standortes. DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort Es wird uns aber nur gelingen, unsere Zielvorgaben zu hat jetzt der Kollege Peter Weiß von der CDU/CSU-Frak- erreichen, wenn wir gemeinsam – Behindertenverbände, tion. Politik, Länder, Kommunen, Wirtschaft – die Umsetzung von Barrierefreiheit vorantreiben. Es wird eine Berichts- Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): Herr Präsi- pflicht geben, um den Erfolg und die Auswirkungen be- dent! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich finde, in sonders dieses Instruments der Zielvereinbarungen zu Gesellschaft und Politik ist in den letzten Jahrzehnten ein prüfen. hohes Maß an Verbesserungen für unsere Mitbürger und Es wird ein Verbandsklagerecht geben. Unser Entwurf Mitbürgerinnen mit Behinderung erreicht worden. ist auch Rahmenvorgabe für die noch folgenden Landes- (Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Das ist gleichstellungsgesetze. Mit Stolz kann ich sagen, dass auch gut so!) mein Land Sachsen-Anhalt, neben Berlin natürlich, hier Das zeigen die vielfältigen, hervorragend ausgestatteten eine aktive Vorreiterrolle gespielt hat. Einrichtungen, Werkstätten, Wohneinheiten und ambu- Angesichts des Engagements aller Beteiligten, mit de- lanten Dienste für Behinderte. Das zeigen die vielfältigen, nen wir den Weg unserer Behindertenpolitik bis heute so wenn auch noch nicht ausreichenden Bemühungen, 19776 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001

Peter Weiß (Emmendingen) (A) Barrierefreiheit in unseren Gemeinden und Städten dieses werde nicht vom BMA, sondern vom BMJ, dem (C) tatsächlich Realität werden zu lassen. Justizministerium, vorbereitet. Frau Kollegin Schmidt, wenn Sie behaupten, Deutsch- Weil beides zusammengehört, Herr Minister Riester, land sei in Sachen Behindertenpolitik ein Entwicklungs- hätten wir eigentlich schon erwartet, dass Sie hier eine land, dann empfinde ich das als eine Beleidigung all der- Auskunft darüber geben, wie weit die Bundesregierung jenigen, die sich seit Jahrzehnten in diesem Sektor mit dem Entwurf für ein zivilrechtliches Antidiskriminie- engagieren und Erfolg gehabt haben. rungsgesetz ist. Wann können wir mit einem Entwurf (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – rechnen? Widerspruch bei der SPD) (Susanne Kastner [SPD]: 16 Jahre geschlafen Frau Schmidt, vielleicht hängt das mit Ihrer eigenen Her- und jetzt so was!) kunft zusammen. Ich kenne allerdings eine Grenze zwi- Es wäre übrigens auch nicht nur ein Gebot der Höflichkeit schen entwickeltem Land und Entwicklungsland. Als vor gewesen, wenn das Bundesjustizministerium in dieser über zehn Jahren die Wiedervereinigung möglich wurde, Debatte mit vertreten gewesen wäre. war ich im Auftrag des Caritasverbandes unter anderem in den neuen Bundesländern unterwegs und habe viele Be- Ob den berechtigten Interessen von Menschen mit Be- hinderteneinrichtungen besucht. Das war ein Entwick- hinderungen von Rot-Grün insgesamt Rechnung getragen lungsland. Wir können stolz darauf sein, dass wir im letz- wird, das kann man erst beurteilen, wenn beide Gesetz- ten Jahrzehnt für die behinderten Mitbürgerinnen und entwürfe vorliegen. Mitbürger auch in den neuen Bundesländern endlich eine Nun belobigen Sie sich, Situation geschaffen haben, die menschenwürdig und nicht mehr menschenunwürdig ist, wie sie es unter dem (Erika Lotz [SPD]: Das können Sie ruhig auch Sozialismus viele Jahrzehnte war. mal machen! – Wolfgang Meckelburg [CDU/ CSU]: Die Überschrift ist besonders gut gera- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ten!) Diesem erfreulich gewachsenen Bewusstsein für die dass der vorliegende Gesetzentwurf vor allem dem Ge- Belange behinderter Mitbürgerinnen und Mitbürger muss sichtspunkt der Barrierefreiheit zum Durchbruch verhilft. nun auch das Gesetz zur Gleichstellung gerecht werden. Der Begriff der Barrierefreiheit muss neben körperli- Die hohen Erwartungen, die mit einem solchen chen auch die geistigen Behinderungen mit im Blick ha- Gleichstellungsgesetz verbunden sind und die Sie selber ben. Auch für Menschen mit geistigen Behinderungen genährt haben, werden durch den vorliegenden Entwurf können und müssen Zugangsschranken in ihrem Lebens- (B) leider nicht erfüllt. umfeld abgebaut werden. Hier darf kein Wertunterschied (D) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- zwischen körperlicher und geistiger Behinderung ge- neten der FDP – Wolfgang Meckelburg [CDU/ macht werden. CSU]: Endlich sagt das mal einer! Die Über- Aber auch sonst fällt es Ihnen wohl schwer, alle Arten schriften sind mehr als der Inhalt!) von Behinderungen in diesem Gesetz in den Blick zu neh- Sie wissen und gestehen das auch selber zu, dass zen- men. Sozusagen in letzter Sekunde erst haben Sie auf trale und berechtigte Forderungen von Behinderten- und Druck der Behindertenverbände zugestanden, dass sich Wohlfahrtsverbänden zur zivilrechtlichen Gleichstellung die Vorschriften des Gesetzentwurfs zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen in diesem Entwurf Behinderter, die Kommunikationshilfen betreffen, nicht nicht vorkommen: keine Änderung der Vorschriften zur nur auf hörbehinderte Menschen, sondern auch auf Geschäftsfähigkeit im Bürgerlichen Gesetzbuch sprachbehinderte Menschen erstrecken. Auch diese Men- schen müssen selbstverständlich das Recht haben, geeig- (Erika Lotz [SPD]: Sie haben immer ein Ge- nete Kommunikationshilfen zu verwenden. setz versprochen und nichts gemacht!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- – Frau Lotz, ich sage es schon –, keine Berücksichtigung neten der FDP – Erika Lotz [SPD]: Von Ihnen von Behinderungen bei den allgemeinen Geschäftsbedin- ist mir da überhaupt kein Antrag bekannt!) gungen oder im Versicherungsvertragsrecht. Es fehlen Regelungen zum Schutz vor Diskriminierungen im Miet- Was heißt Barrierefreiheit denn heute wirklich? Sicher- recht und im Arbeitsrecht. Diese Liste ließe sich fortset- lich denken wir dabei zuerst an den Zugang zu Gebäuden zen. und Verkehrsmitteln. Aber in einer modernen Informa- tionsgesellschaft wird auch der barrierefreie Zugang zu Was ist passiert? Alle zivilrechtlichen Vorschriften, die Informationen immer bedeutender werden. im Vorentwurf zum Gleichstellungsgesetz noch enthalten waren, wurden herausgenommen. Begründung von Rot- (Jörg Tauss [SPD]: Das habt ihr heute Grün: Alle betreffenden Regelungen sollen in einem eige- abgelehnt!) nen zivilrechtlichen Antidiskriminierungsgesetz gere- Viele behinderte Mitbürgerinnen und Mitbürger waren gelt werden; durchaus davon angetan, dass im Referentenentwurf ein (Susanne Kastner [SPD]: Warum haben Sie Rechtsanspruch auf Barrierefreiheit bei Informations- denn keines gemacht? Sagen Sie das doch mal! angeboten von Bundesbehörden auf CD-ROM und im In- Wir wollen das hören!) ternet vorgesehen war. Doch in dem jetzt vorliegenden Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19777

Peter Weiß (Emmendingen) (A) Regierungsentwurf ist der Paragraph „Barrierefreie Infor- dem Grundsatz: Experten in eigener Sache gestalten ihre (C) mationstechnik“ in wesentlichen Punkten geändert wor- Angelegenheiten mit uns in der Koalitions- und auch in den. Nun soll eine ministerielle Rechtsverordnung vorge- der Projektarbeitsgruppe. ben, welche amtlichen Informationen zu welchem Zeitpunkt nach welchem Standard welchen behinderten (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Menschen barrierefrei anzubieten sind, abhängig von den des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) jeweiligen technischen, finanziellen und verwaltungsor- Frau Nolte, Sie haben Visionen angemahnt. ganisatorischen Möglichkeiten. Die Betroffenen befürch- ten zu Recht, dass die erhoffte Wirkung des Gesetzes, was (Claudia Nolte [CDU/CSU]: Ja!) den barrierefreien Zugang zu Informationen anbelangt, In diesem Gesetzentwurf wird eine Vision verwirklicht, zumindest stark verzögert wird. indem man die Bürgerinnen und Bürger selber, die Or- (Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Da ha- gane der Zivilgesellschaft sind, an der Gestaltung des Pro- ben sie wohl Recht!) zesses der sie betreffenden Gesetzgebung teilnehmen lässt. Sie sollten sich zu dem bekennen – dies hat zu der Auch die Ausgestaltung des Verbandsklagerechts, für von Ihnen angesprochenen Vision geführt –, was wir im die Sie sich rühmen, wird von Experten, zum Beispiel Bundestag 1994 gemeinsam beschlossen haben. In unsere vom Deutschen Richterbund, als „Hemmschuh“ für das Verfassung wurde folgender Satz hineingeschrieben: Geltendmachen der Rechte von behinderten Menschen „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt bezeichnet. Der Richterbund beklagt, dass „monströse werden.“ prozessuale Formalitäten“ einzuhalten sind. Auch die Frage nach den Kosten von Verbandsklagen für die be- (Zuruf von der SPD: Das war schwer genug treffenden Organisationen bleibt offen. Rot-Grün propa- hineinzukriegen!) giert also erst das Instrument der Verbandsklage, lässt es Dieser Satz in Art. 3 des Grundgesetzes bedeutet, dass da- dann aber in der Praxis letztlich am Geld fehlen. raus ein Bürgerrechtsanspruch ableitbar ist. (Erika Lotz [SPD]: Daran seid ihr doch schuld! – Meine Kollegin Silvia Schmidt hat gesagt: Wir haben Weiterer Zuruf von der SPD: Das ist doch nicht etwas Neues eingeführt; das Alte muss jetzt anders be- wahr!) trachtet werden. Dann könnte man sich die ganze Regelung auch gleich (Susanne Kastner [SPD]: Da hat sie Recht!) schenken. Hierin liegt der paradigmatische Sprung. Wir nämlich sa- Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion begrüßt und unter- gen – auch Herr Beck hat das ausgeführt –: Menschen mit stützt grundsätzlich das Vorhaben, ein Gesetz zur Gleich- (B) Behinderungen sind nicht mehr Objekt der Fürsorge. Viel- (D) stellung von Menschen mit Behinderungen zu verab- mehr setzen wir sie in den Stand, ihr Leben als Experten schieden. Doch der von Ihnen vorgelegte Entwurf wird in eigener Sache selber zu regeln. diesem Ziel in vielen Punkten nicht gerecht. (Beifall bei der CDU/CSU) Dabei bin ich bei einem Kernstück dieses Gleichstel- lungsgesetzes: Der bürgerrechtliche Anspruch realisiert Deshalb werden wir in den Beratungen darauf drängen, sich in den Zielvereinbarungen. Diese Zielvereinbarun- dass dieses Gleichstellungsgesetz im Sinne der Menschen gen haben den Sinn, den Behindertenorganisationen in mit Behinderungen in unserem Land tatsächlich seinen den Bereichen, in denen der Bund nicht ausschließlich Namen verdient und nicht nur eine schöne Überschrift tätig werden kann – da, wo er es konnte, haben wir sub- bleibt. stanzielle Regelungen getroffen –, die Möglichkeit zu ge- Vielen Dank. ben, als Experten in eigener Sache Regelungen zu tref- fen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der FDP – Erika Lotz [SPD]: Mal sehen, (Beifall bei der SPD und beim BÜNDNIS 90/ was ihr in den Ländern macht!) DIE GRÜNEN) Wir haben uns davon leiten lassen, dass uns der Behin- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als letz- dertenbeauftragte des Landes Berlin einen Bericht vorge- ter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat das Wort legt hat, wie sich in Berlin auf der Grundlage eines solchen der Kollege Karl-Hermann Haack von der SPD-Fraktion. Instrumentes die Situation im öffentlichen Personennah- verkehr substanziell verändert hat. Karl-Hermann Haack (Extertal) (SPD): Herr Präsi- (Dr. Ilja Seifert [PDS]: Dazu brauchen wir das dent! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich Gesetz nicht! Das ging schon vorher!) möchte eine grundsätzliche Bemerkung machen: Dies Dass nun alle nach dem Motto „Ihr habt nicht genug ge- hier ist die erste Lesung des Entwurfes eines Gesetzes zur tan, nun müsst ihr endlich etwas tun, weil ihr die Mehrheit Gleichstellung behinderter Menschen. Dieser Entwurf ist habt“ fordern, den Knüppel aus dem Sack zu holen, kann das Ergebnis einer Zusammenarbeit des Forums behin- uns nicht darüber hinwegtäuschen, dass die jetzige Zug- derter Juristinnen und Juristen, eines Gremiums, welches und Busgeneration 20, 25 oder 30 Jahre in Betrieb ist. auf gleicher Augenhöhe vollumfänglich in die Beratun- gen dieses Gesetzentwurfes einbezogen worden ist nach (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: So ist es!) 19778 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001

Karl-Hermann Haack (Extertal) (A) Angesichts dessen ist es besser, mit der Deutschen Bahn welches in unserer Republik einen Vorbildcharakter ha- (C) AG eine Zielvereinbarung über barrierefreie Einstiege zu ben wird, und gleichzeitig die 16 Bundesländer eigene treffen. Diese ist jetzt zugesagt worden. Zusammen mit Landesgleichstellungsgesetze machen, sodass die Le- der Deutschen Bahn AG ist bereits der Entwurf einer Ziel- benswelt von Menschen mit Behinderungen zum Schluss vereinbarung über eine Transportkette von der Adresse A von 16 Landesgleichstellungsgesetzen, dem zur Adresse B besprochen worden. Damit kommt man Bundesgleichstellungsgesetz und demnächst wahrschein- eher zu einem Ergebnis, als wenn man sich in dem Ge- lich noch von einer EU-Richtlinie bestimmt wird. strüpp von Verordnungen und Gesetzen sowie den (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ unterschiedlichen Zuständigkeiten von Bund, Ländern DIE GRÜNEN) und Gemeinden verheddert. Wenn man nicht mit den Ländern in ein konsultatives (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Gespräch darüber eintritt, wird sich die Lebenswelt von Darum ziehen wir das Instrument der Zielvereinbarung Menschen mit Behinderungen angesichts dieser Situation in einem föderativen System vor, das bisher – das sage ich nicht wesentlich verändern. Wenn sie sich verändern soll, sehr kritisch – verhindert hat, dass sich die Alltagssitua- müssen wir in einen konstruktiven Dialog mit den Län- tion von Menschen mit Behinderungen in irgendeiner dern eintreten. Insofern begrüße ich es, dass die Beant- Form verändert hat. Die Gesetzgebung ist im Fluss, wie wortung dieser Frage Gegenstand des Gesetzgebungsver- wir es nennen. fahrens im Bundesrat werden wird, da dieses Gesetz zustimmungspflichtig ist. Wenn man das Leben von Menschen mit Behinderun- gen neu gestalten will, muss man sehen, dass man einen Von dieser Stelle will ich – damit will ich schließen, Gestaltungsrahmen über einen längeren Zeitraum setzen Herr Präsident – den Richtern Frehe und Dr. Jürgens muss. Das bedeutet, dass, obwohl heute die erste Lesung vom Forum Behinderter Juristinnen und Juristen dan- des Gesetzentwurfes stattfindet, einige Probleme noch der ken, die eine lange Zeit in der Projektgruppe mitgear- weiteren Erörterung bedürfen. Herr Kolb hat ein ausge- beitet und zu ihrem Erfolg beigetragen haben, und zwar glichenes Verhältnis zwischen dem Anspruch an die öf- in der Form, dass der Gesetzentwurf in seiner vorliegen- fentliche Hand und dem an die private Wirtschaft ange- den Form von den Verbänden und Organisationen be- mahnt. Dies müsse noch einmal überdacht werden. Über grüßt worden ist. das, was nun in Form des Gesetzentwurfes vorliegt, haben Herzlichen Dank. wir uns mit der Wirtschaft verständigt. Wir nehmen den Gedanken aber gerne auf. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (B) Gemäß unserer Pflicht haben wir gemeinsam am (D) 19. Mai 2000 die Bundesregierung aufgefordert, ein Gleichstellungsgesetz und ein SGB IX zu verabschieden, Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich die Gebärdensprache der Lautsprache gleichzustellen und schließe die Aussprache. ein Programm zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit von Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Menschen mit Behinderungen aufzustellen. Dies haben den Drucksachen 14/7420 und 14/5985 an die in der Ta- wir gemeinsam verabschiedet. Das bedeutet natürlich gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. auch, dass Ihre Argumente in die Beratungen aufgenom- Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann men und geprüft werden. sind die Überweisungen so beschlossen. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das höre ich gern!) Ich rufe Tagesordnungspunkt 16 auf: – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- Es gibt den Wunsch einer anderen Gruppierung, sich gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur noch einmal dezidiert mit der Festlegung eines konkreten Änderung des Aufstiegsfortbildungsförderungs- Zeitpunktes auseinander zu setzen, ab dem neu in Betrieb gesetzes (AFBGÄndG) genommene Beförderungsmittel beziehungsweise eine neue Verkehrsinfrastruktur barrierefrei sein müssen. – Drucksache 14/7094 – (Erste Beratung 198. Sitzung) Die Fragen, inwieweit alle Neubauten des Bundes künftig barrierefrei errichtet werden müssen und wann – Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordne- Verbände zur Verbandsklage zugelassen werden müssen, ten Ilse Aigner, Werner Lensing, Dr. Gerhard konnten angesichts des Gestrüpps der Regelungen über Friedrich (Erlangen), weiteren Abgeordneten und die Finanzen und die Länderverantwortlichkeiten nicht der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs abschließend beantwortet werden. Hierüber werden wir eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Auf- noch nachzudenken haben. stiegsfortbildungsförderungsgesetzes (1. AFBG- Änderungsgesetz) Bei der Neugestaltung der Lebenswelt von Menschen – Drucksache 14/4250 – mit Behinderungen ist von entscheidender Bedeutung, dass die 16 Bundesländer in der Frage der Begrifflich- (Erste Beratung 131. Sitzung) keiten und der Verfahren das Konzept des Bundes- a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses gleichstellungsgesetzes übernehmen. Es kann nicht sein, für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät- dass der Bund ein Gleichstellungsgesetz verabschiedet, zung (19. Ausschuss) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19779

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) – Drucksache 14/7472 – möglich geworden ist. Herr Kollege Mosdorf, ich darf (C) Berichterstattung: mich bei Ihnen für die gute Zusammenarbeit, die zu einem Abgeordnete Dr. Ernst Dieter hervorragenden Ergebnis geführt hat, ganz herzlich be- Rossmann danken. Ilse Aigner (Beifall bei der SPD) Christian Simmert Cornelia Pieper Ich will nur kurz in Erinnerung rufen, welche allge- Maritta Böttcher meinen Entwicklungen und Probleme uns zu dieser No- velle, zu diesem Reformgesetz, bewogen haben. Auf dem b) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) Weg in die Dienstleistungs-, Informations- und Wis- gemäß § 96 der Geschäftsordnung sensgesellschaft sind die Berufswelt und die Wirtschaft – Drucksache 14/7489 – insgesamt einem rasanten Wandel unterworfen. Berufli- che Kenntnisse und Fertigkeiten veralten immer schnel- Berichterstattung: ler. Eine gute Erstausbildung reicht nicht mehr für das ge- Abgeordnete Siegrun Klemmer samte Erwerbsleben. Steffen Kampeter Antje Hermenau Meine Damen und Herren, wir stehen auch vor dem Dr. Problem eines dramatisch verschärften Fachkräfteman- Dr. Christa Luft gels. Wir müssen deshalb alle Anstrengungen unterneh- men, um nicht nur den Bereich der beruflichen Erstausbil- Zum Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt ein Ent- dung, sondern gerade auch den Bereich der Weiterbildung schließungsantrag der Fraktion der FDP vor. und der Aufstiegsfortbildung mit entsprechenden staat- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die lichen Maßnahmen voranzubringen. Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Sind Sie damit (Beifall bei der SPD) einverstanden? – Das ist Fall. Unter vielen Gesichtspunkten muss es uns besorgt ma- Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der chen, dass etwa im Handwerk seit Jahren eine stark rück- Parlamentarische Staatssekretär Michael Catenhusen für läufige Beteiligung an den Meisterprüfungen zu beobachten die Bundesregierung das Wort. ist. Das gilt vor allem angesichts der Tatsache, dass in den nächsten fünf Jahren in rund 380 Betrieben ein Generati- Wolf-Michael Catenhusen, Parl. Staatssekretär bei onswechsel ansteht. Meine Damen und Herren von der Op- der Bundesministerin für Bildung und Forschung: Herr position, Sie haben dieser Entwicklung tatenlos zugesehen. (B) Präsident! Meine Damen und Herren! Ich denke, heute ist (Beifall bei der SPD – Jörg Tauss [SPD]: Das ist (D) ein guter Tag für den Mittelstand und für leistungswillige die Wahrheit! – Manfred Grund [CDU/CSU]: junge Menschen in Deutschland; denn wir stehen nach ei- Schieben Sie ruhig alles auf die Vorgänger! Das nem langen und intensiven Diskussionsprozess vor der höre ich heute schon den ganzen Tag!) Verabschiedung der Reform des Aufstiegsfortbildungs- förderungsgesetzes, vielen besser bekannt als Meister- Auch der viel zu geringe Anteil der Ausländer im dualen BAföG. Dass hier seit vielen Jahren ein Reformbedarf be- System der beruflichen Bildung und Fortbildung ist bis steht, ist unstreitig. Dass die alte Regierung durch ihre heute Besorgnis erregend. Im Hinblick auf den Fachkräf- Untätigkeit Vorbereitung dazu traf, dass das AFBG end- temangel ist er nicht hinnehmbar. gültig gegen die Wand gefahren wurde, gehört zu dieser Von dem bereits mehrfach angesprochenen Fachkräf- Geschichte. temangel ist der Bereich der Gesundheits- und Pflegebe- (Beifall bei der SPD – Cornelia Pieper [FDP]: rufe in besonderem Maße betroffen. Immer wieder hören Das ist doch Quatsch! – Gegenruf des Abg. Jörg wir hier Klagen über Berufsflucht und erhebliche Nach- Tauss [SPD]: Es ist die reine Wahrheit!) wuchsprobleme, für die neben anderen Faktoren sicher- lich auch fehlende Perspektiven für eine berufliche Wir, die Bundesregierung und die Koalitionsfraktio- Weiterentwicklung und eine Aufstiegsfortbildung verant- nen, haben Wort gehalten und eine nach dem Erfahrungs- wortlich sind. Schon jetzt fehlen in diesem Bereich rund bericht aus dem Jahre 1999 dringend gebotene Reform 60 000 Fachkräfte. Die Tendenz ist steigend. Wir hoffen, auf den Weg gebracht, die diesen Namen auch wirklich dass wir mit diesem Reformgesetz einen Beitrag zum Ab- verdient. bau dieses Problems leisten können. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD) Sie ist ein wichtiger Beitrag zur Unterstützung der be- Damit sind kurz und knapp die Probleme beschrieben, ruflichen Weiterbildung und des lebenslangen Lernens vor denen wir stehen, wenn wir heute ein Gesetz verab- zur Förderung des Mittelstandes und zur Schaffung von schieden, das eine hochwertige berufliche Qualifikation Arbeits- und Ausbildungsplätzen in neuen Unterneh- und ihre Weiterentwicklung für leistungswillige junge men. Menschen sicherstellen soll. Ich denke, das ist ein Re- formschritt zur rechten Zeit, und zwar ein attraktiver Re- Ich denke, dass das auch durch eine enge und vertrau- formschritt. ensvolle Zusammenarbeit des Bundesministeriums für Bildung und Forschung mit dem Wirtschaftsministerium (Beifall bei Abgeordneten der SPD) 19780 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001

Parl. Staatssekretär Wolf-Michael Catenhusen (A) Worum geht es in der vorliegenden Gesetzesnovelle? gierung zur Verbesserung der Bildungsförderung. Wir (C) Sie enthält zwei Aspekte, und zwar zum einen Fragen der hoffen, dass die gesetzlichen Maßnahmen die Motivation Fortbildung und zum anderen Fragen der Mittelstandspo- junger Menschen erhöhen, sich aufstiegsorientiert weiter- litik; auf Letztere wird mein Kollege Mosdorf eingehen. zubilden und damit die Grundlagen für wirtschaftlichen Es geht darum, mit dem Gesetzentwurf für alle Teilneh- Fortschritt und für die Schaffung von Ausbildungs- und merinnen und Teilnehmer an beruflichen Aufstiegsfort- Arbeitsplätzen für junge Menschen gelegt werden. bildungen die Förderleistungen zu verbessern, damit Herzlichen Dank. niemand mehr aus finanziellen Gründen auf eine berufli- che Weiterqualifizierung verzichten muss. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wir haben bei der BAföG-Reform die Unterhalts- beiträge für Studierende um rund 10 Prozent erhöht. Das tun wir auch in diesem Bereich und berücksichtigen da- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort bei die Kosten für die Anfertigung eines Prüfungs- hat jetzt die Kollegin Ilse Aigner von der CDU/CSU- stückes. Auf diese Weise vermindern wir die Darlehens- Fraktion. belastung. Es handelt sich um Forderungen, die das Handwerk Ilse Aigner (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsi- und andere Wirtschaftsverbände bereits an Sie, meine dent! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Nach mo- Damen und Herren von der Opposition, herangetragen natelanger, wenn nicht sogar nach jahrelanger Wartezeit hatten. Wir erfüllen diese Forderungen. ist es endlich so weit: Der Reformentwurf der Bundesre- gierung zum AFBG – Aufstiegsfortbildungsförderungs- (Beifall bei der SPD) gesetz –, besser bekannt als „Meister-BAföG“, liegt vor. Für uns ist wichtig, dass wir mehr Fortbildung – vor allem Das wäre eigentlich ein Tag der Freude, aber leider refor- in den Gesundheits- und Pflegeberufen – ermöglichen miert die Bundesregierung wieder nur halbherzig. und solche Maßnahmen auch an staatlich anerkannten Er- (Jörg Tauss [SPD]: Doch! Doch! Freuen Sie gänzungsschulen in die Förderung einbeziehen, um den sich ruhig einmal!) Kreis der Geförderten weit über den Handwerksbereich hinaus erweitern zu können. Die Attraktivität des AFBG wird nicht in dem Ausmaß gesteigert, wie das die CDU/CSU-Bundestagsfraktion in Ich will noch die Frage des Ausbaus der familienbe- ihrem Gesetzentwurf gefordert hat. Dadurch werden die zogenen Leistungen ansprechen. Wir haben sehr wohl gewünschten Effekte nicht in dem Maß erreicht, wie wir gesehen, dass die fehlende Attraktivität der Reformruine, uns das vorgestellt hatten. (B) die die alte Koalition hinterlassen hat, auch daran lag, dass (D) für Familien mit Kindern, Frauen und Alleinerziehende Ein paar Worte zur Historie, damit keine Geschichts- die Möglichkeiten einer beruflichen Fortbildung unat- klitterung vorgenommen wird, Herr Parlamentarischer traktiv waren. Wir wollen nicht länger hinnehmen, dass Staatssekretär: viele talentierte und fleißige Fachkräfte nur deshalb auf (Jörg Tauss [SPD]: Die Geschichtsklitterung Fortbildung und Aufstieg verzichten müssen, weil sie Fa- haben wir doch gerade zurückgewiesen!) milie oder betreuungsbedürftige Kinder haben. Ich denke, ein um 25 Prozent auf 250 DM erhöhter Kinder- Am 1. Januar 1996 ist die ursprüngliche Fassung des betreuungszuschuss für Alleinerziehende ist schon etwas. AFBG in Kraft getreten. Sehr geehrter Herr Parlamenta- Damit wollen wir vor allem sicherstellen, dass mehr leis- rischer Staatssekretär, es ist natürlich klar: Wenn man et- tungsfähige Frauen den Weg einer beruflichen Wei- was Neues macht, gibt es immer wieder Nachbesserungs- terqualifizierung gehen. bedarf. Man lernt ja auch dazu, wenn man etwas Neues macht. Das ist keine Frage. Sie haben aber drei Jahre lang (Beifall bei der SPD) nicht nachgebessert. Dass Geringverdienenden mit betreuungsbedürftigen Ich werde Ihnen im zeitlichen Ablauf vor Augen hal- Kindern leichter als bisher Darlehen gestundet oder erlas- ten, wie das gewesen ist: sen werden können, gehört zu diesem Paket. (Beifall der Abg. Cornelia Pieper [FDP] – Jörg Mit der großzügigeren Förderung von Zweitfortbil- Tauss [SPD]: Dünner Beifall, Frau Pieper! Sie dung tragen wir dem Aspekt des lebenslangen Lernens war nicht dabei!) stärker Rechnung und ermöglichen durch mehrere anre- chenbare Fortbildungen eine gestufte flexible Vorberei- Sie haben 1998 die Regierung übernommen und dann tung auf die Meisterqualifikation. Wir berücksichtigen erst einmal einen Sparkurs beschritten. Im Herbst 1998 mit unserem Konzept auch Neuentwicklungen in der be- wurde im Haushaltsentwurf des damaligen Finanzminis- ruflichen Aus- und Weiterbildung, indem wir zum Bei- ters Lafontaine der Ansatz von 167 Millionen DM auf spiel das mediengestützte Lernen, also Online-Lehr- 80 Millionen DM heruntergesetzt. gänge, in die Förderung einbeziehen. (Jörg Tauss [SPD]: Weil Ihr Gesetz so schlecht (Beifall bei der SPD) war, das es nicht abgeflossen ist!) Nach der BAföG-Reform für die Studierenden ist die Sie haben gesagt, die Mittel seien nicht ausgeschöpft AFBG-Reform das zweite wirksame Gesetz dieser Re- worden. Ich erkläre es Ihnen jetzt zum dritten Mal: Bei der Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19781

Ilse Aigner (A) Frage, ob man die Haushaltsmittel heruntersetzt oder so- In diesem Zusammenhang verweise ich auf folgende (C) fort eine Reform durchführt, die eventuell mehr Potenzial Zahlen: 98 Prozent aller Unternehmen haben weniger als enthält, sind Sie den falschen Weg gegangen. 500 Beschäftigte. Sie stellen 72 Prozent aller Arbeits- (Jörg Tauss [SPD]: Vergleichen Sie es mal mit plätze. 60 Prozent des Bruttoinlandsproduktes werden in dem Ist!) diesem Zweig erwirtschaftet. Deshalb lohnt es sich, in diesen Bereich zu investieren. Damit wird der Zukunfts- Sie haben keine Reform gemacht, sondern die Haus- standort Deutschland gestärkt. haltsansätze nicht nur einmal, sondern mehrfach gekürzt. ( [CDU/CSU]: Sehr vernünf- Wir haben 1999 dazu einen Antrag vorgelegt, als das tig!) absehbar war. Wir haben beantragt, die Höhe der Mittel beizubehalten und Leistungssteigerungen durchzuführen. Die jetzige Reform muss auf veränderte Rahmen- Die Regierung lehnte ihn ab, obwohl er viele Punkte, die bedingungen in der Wirtschaft zugeschnitten sein. Es heute bei Ihnen im Entwurf enthalten sind, beinhaltete. herrscht eine höchst angespannte Lage auf dem Aus- bildungs- und Arbeitsmarkt, gerade in den neuen Im Juni 1999 stellte die Regierung selbst fest, dass das Bundesländern. In den nächsten Jahren ist ein starker AFBG reformbedürftig ist. Noch bevor der Reforment- Rückgang der Zahl von Betriebsnachfolgern und Selbst- wurf überhaupt vorlag, wurde der Haushaltsplanentwurf ständigen und dadurch eine weitere Verschärfung der Si- noch einmal gekürzt: von 80 Millionen DM auf 78 Milli- tuation auf dem Arbeitsmarkt zu erwarten. Der Bedarf an onen DM. Im Herbst 2000 haben Sie wieder dasselbe qualifizierten Fachkräften im Mittelstand und auch in an- Spiel betrieben. Damals haben Sie den Ansatz von 78 Mil- deren Bereichen steigt. Der Umbau der Wirtschaft im lionen DM auf 70 Millionen DM gekürzt. Hinblick auf eine Kultur von mehr Selbstständigkeit ist Am 10. Oktober 2000 legte die CDU/CSU-Bundes- dringend erforderlich. tagsfraktion ihren Gesetzentwurf vor, der heute zur zwei- ten Lesung ansteht. Am 29. Oktober 2000 kündigte die (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Bundesregierung eine Reform an. Im Mai 2001 lag ein neten der FDP) Referentenentwurf vor. Dann begann die Maschinerie Der Reformbedarf beim AFBG ist durch Ihren eige- zwischen Wirtschaftsministerium und Bildungsministe- nen Bericht und auch bei unserer Anhörung bestätigt wor- rium, die sich offensichtlich nicht einigen konnten. Die den. Bei dieser Anhörung ist klar herausgekommen, dass Ursache für diese lange Dauer – zwei Jahre nach der Fest- unser Gesetzentwurf der bessere ist. Um das noch einmal stellung der Reformbedürftigkeit und ein Jahr nach der aufzugreifen: Es war natürlich schon ein starkes Stück, Ankündigung einer Reform durch die Bundesregierung – dass die Experten in der Anhörung Ihren Entwurf gerade liegt nicht nur in der „guten“ Zusammenarbeit, sehr ge- (B) einen Tag zuvor zur Kenntnisnahme bekommen haben. (D) ehrter Herr Staatssekretär, zwischen Wirtschaftsministe- Sie haben darauf kaum eingehen können. rium und Bildungsministerium, sondern letztendlich darin, dass der Bundesfinanzminister das diktiert hat. Sie (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Unmögliche haben sich lange Zeit nicht einigen können, wer welchen Methoden!) Teil übernimmt. – Richtig, gegenüber den Experten war es ein unmögli- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) ches Vorgehen. Das möchte ich in diesem Zusammenhang ganz deutlich sagen. Wenn Sie so schlau gewesen sind und schon 1996 er- kannt haben, dass bei unserem Entwurf Nachbesserungs- (Jörg Tauss [SPD]: Es hat sich keiner be- bedarf besteht – – schwert! Alle haben ihn gelobt! Sogar das Handwerk!) (Jörg Tauss [SPD]: Das haben wir gesagt! Das steht im Protokoll! Alles drin!) – Die Experten haben sich vielleicht nicht bei Ihnen, aber – Herr Tauss, wenn Sie das schon damals gesagt haben, bei mir beschwert, weil sie es als eine Zumutung emp- dann hätten Sie schon 1998 einen Entwurf in der Tasche funden haben, sich überhaupt nicht mit dem Entwurf be- haben müssen, der Verbesserungsvorschläge enthält. Wo schäftigen zu können. waren Sie denn damals? Wenn Sie es damals schon ge- (Jörg Tauss [SPD]: Bei mir keiner!) wusst haben: Wieso haben Sie insgesamt fünf Jahre ge- braucht, um Ihre Vorschläge überhaupt einzubringen? Ich will die Defizite im Gesetzentwurf der Bundesre- gierung, die auch von den Sachverständigen aufgezeigt (Jörg Tauss [SPD]: Wir waren über die Aus- wurden, nennen: Der Darlehenserlass bei Existenzgrün- wirkungen erschüttert!) dungen ist bei Ihnen zu niedrig. Er liegt bei 75 Prozent, Wir sind wir uns über die Ziele insgesamt einig. Da- bei uns bei 100 Prozent. Die Gleichwertigkeit von beruf- rüber bin ich froh. Die gleichwertige Förderung von be- licher und akademischer Bildung wurde schon angespro- ruflicher und akademischer Bildung muss vorange- chen. Ein anderer wichtiger Punkt ist die Einbeziehung trieben werden. Die Beibehaltung einer Vielzahl von der Meisterstückkosten. Bei uns sind es 5 000 DM, bei Ih- selbstständigen beruflichen Existenzen als Vorausset- nen 3 000 DM. zung für den Erhalt und den Ausbau der Wettbewerbs- (Thomas Rachel [CDU/CSU]: Ein bisschen fähigkeit der Wirtschaft ist notwendig. Die Förderung wenig!) und der Erhalt des Mittelstandes als Ausbilder und Ar- beitgeber Nummer eins ist eines der Kernthemen. – Das ist zu wenig, keine Frage. 19782 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001

Ilse Aigner (A) Ich möchte auch noch auf das eingehen, was Herr ren erst ab 1. Januar 2002 davon. Es ist für sie äußerst un- (C) Catenhusen gesagt hat: Gerade im Hinblick auf Frauen durchsichtig, dass das so gehandhabt wird. und diejenigen, die die Erziehungsleistung erbringen Zum Entschließungsantrag der FDP. Das ist eigentlich – das sind größtenteils Frauen –, verstehe ich nicht, das, was in unserem Gesetzentwurf auch enthalten ist. Es warum die Teilzeitmaßnahmen nicht in den Unterhalts- ergeben sich nur kleine Unterschiede. Deshalb werden beitrag einbezogen worden sind. Das wäre ein richtiger wir diesem Antrag der FDP zustimmen. Schritt gewesen und hätte für den Kreis der Betroffenen eine wesentliche Erhöhung der Attraktivität der Fortbil- Zum Abstimmungsverhalten beim Regierungsentwurf dung bedeutet. muss ich Folgendes sagen: Das hängt schlicht und einfach von der Abstimmungsreihenfolge ab. Wir haben im Aus- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) schuss zuerst über unseren Gesetzentwurf abgestimmt. Die Länge der Förderdauer ist auch abhängig davon, Dann können wir uns bei der Abstimmung über Ihren Ge- wann zum Beispiel das Meisterstück erstellt wird. Wir ha- setzentwurf enthalten, was mir persönlich sehr am Herzen ben in unserem Gesetzentwurf vorgesehen – das fehlt bei liegt, weil ich damit dokumentieren würde, dass es zwar Ihnen leider –, dass auch dann, wenn das Meisterstück in die richtige Richtung geht, aber leider zu wenig ist. nach der Prüfung, nach dem Abschluss der Schule erstellt (Jörg Tauss [SPD]: Sie können auch zustim- wird, wenigstens noch bis zu drei Monaten gefördert men!) wird, weil diese Zeit von den meisten gar nicht überbrückt werden kann. Leider ist das in Ihrem Gesetzentwurf nicht – Zustimmen werde ich natürlich nicht. enthalten. Wenn wir allerdings gezwungen werden, zuerst über Bezüglich der Vermögensanrechnung – ich habe es in den Gesetzentwurf der Bundesregierung abzustimmen, der ersten Lesung Ihres Gesetzentwurfes auch schon an- dann muss ich leider dagegen stimmen, weil unser Ent- gesprochen – will ich noch einmal folgenden Hinweis ge- wurf einfach der bessere ist. ben: Es wäre eine wesentliche Verwaltungsvereinfachung (Beifall bei der CDU/CSU) sowohl für die Betreffenden als natürlich auch für den Staat, die Vermögensanrechnung gänzlich fallen zu las- Ich hoffe, dass der Herr Präsident dem hinsichtlich der sen. Egal, welche Freigrenze gilt: Immer ist derjenige, der Abstimmungsreihenfolge Rechnung tragen wird. Ich es angibt, der Angeschmierte. Viele lassen es vielleicht hoffe auch, dass wir in der Förderung der beruflichen Bil- unter den Tisch fallen. Wenn Sie das effektiv kontrollie- dung gemeinsam weiterkommen, und würde mir natürlich ren wollen, Herr Mosdorf, brauchen Sie eine Riesenma- wünschen, dass Sie unserem Gesetzentwurf zustimmen. schinerie. Ich glaube, das ist auch nicht zielführend, weil Herzlichen Dank. (B) diejenigen, die diese Maßnahmen durchlaufen und sich (D) selbstständig machen wollen, nachher ihr Eigenkapital (Beifall bei der CDU/CSU) brauchen. Man darf es ihnen nicht entziehen. Sie dürfen nicht gezwungen werden, es aufzulösen. Das haben wir in Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Bevor ich unserem Gesetzentwurf mit einer kompletten Streichung den nächsten Redner aufrufe, würde ich Frau Kollegin der Vermögensanrechnung berücksichtigt. Dazu will ich Kastner bitten zu prüfen, ob Sie einverstanden sind, dass noch anführen, dass auch nach der Änderung des BAföG wir die Reihenfolge bei der Abstimmung umdrehen. das Vermögen der Eltern überhaupt nicht mit herangezo- Wenn nicht, dann müssen wir so vorgehen, wie es vorge- gen wird und sich die Bestimmungen ausschließlich auf sehen ist. diejenigen, die an Maßnahmen teilnehmen, beziehen. Der Kollege Christian Simmert vom Bündnis 90/Die Zum Änderungsantrag der Bundesregierung. Das sind Grünen will seine Rede zu Protokoll geben.1) Sind Sie da- eigentlich nur Marginalien. Die Euroumstellung brauchen mit einverstanden? – Das ist der Fall. Vielen Dank. wir nicht zu thematisieren. Bei der Verlängerung des Be- willigungszeitraumes hätten Sie unserem Vorschlag fol- Dann rufe ich jetzt die Kollegin Cornelia Pieper von gen können, weil es im Endeffekt auf dasselbe hinaus- der FDP-Fraktion auf. läuft. Sie haben auf 48 Monate erhöht. Es ist letztendlich dasselbe. Sie wollten halt nur nicht unserem Entwurf zu- Cornelia Pieper (FDP): Sehr geehrter Herr Präsident! stimmen, was ich aus Ihrer Sicht verstehen kann, aber lei- Meine Damen und Herren! Heute steht eine abschlie- der trotzdem begrüße. ßende Entscheidung über die Änderung eines Gesetzes (Dr. [SPD]: „Leider an, das für die Sicherung des Fachkräftenachwuchses in begrüße“, das gefällt mir!) der mittelständischen Wirtschaft und im Handwerk von außerordentlicher Bedeutung ist. Herr Catenhusen hat da- Die sonstigen Reformansätze, die Sie von der Union rauf schon hingewiesen. übernommen haben, brauche ich nicht zu begrüßen; denn das ist ja wunderbar. Das freut mich, auch wenn ich mir Gelingt es uns nicht, die Fortbildungswilligen mit die- noch mehr gewünscht hätte. Meine nochmalige Bitte und sem Gesetz zu erreichen und sie für die Zeit ihrer Meis- mein Appell ist, ob man nicht trotzdem die Rückwirkung terausbildung ausreichend zu alimentieren, wäre ein wei- zum 1. September 2001 vornehmen kann, weil Sie eine Änderung jetzt mitten im Semester vorsehen. Diejenigen, die die Maßnahmen jetzt schon begonnen haben, profitie- 1) Anlage 2 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19783

Cornelia Pieper (A) terer Rückgang der Selbstständigkeit in Deutschland die schaftsminister als willkommene Gelegenheit zur Erwirt- (C) Folge. Genau das wollen wir nicht; denn das wäre ein schaftung globaler Minderausgaben. Es gab also kein Mehr Schlag gegen die Kultur der Selbstständigkeit und würde an Investitionen für Bildung und Ausbildung bzw. für das verhindern, dass Arbeitsplätze im Mittelstand entstehen, Meister-BAföG, sondern das dafür vorgesehene Geld Arbeitsplätze, die durch andere von der rot-grünen Re- wurde zum Stopfen von Haushaltslöchern verwendet. gierung beschlossene Gesetze, wie die Steuerreform oder Meine Damen und Herren, Sie stocken die Mittel in der die Ökosteuer, in diesem Land schon den Bach hinunter- Tat wieder auf. Das ist zu begrüßen. In den Einzelplä- gegangen sind. nen 30 und 9 sind zusammen 149 Millionen DM für das (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Wi- Meister-BAföG eingestellt. Damit haben Sie allerdings derspruch bei der SPD – Zuruf von der SPD: den Stand von 1998 noch nicht wieder erreicht. 630-DM-Gesetz, Teilzeitgesetz, Kündigungs- schutz! Die ganze Latte wieder!) (Beifall der Abg. Ilse Aigner [CDU/CSU] – Jörg Tauss [SPD]: Nun nennen Sie doch mal das Ist! Ich halte es für einen entscheidenden Fortschritt, dass Das wäre korrekt!) wir heute mit dem Meister-BAföG ein Stück vorankom- men. Bei aller Anerkennung des Reförmchens, das Sie hier vorlegen, erinnere ich Sie daran, dass wir bei einer Sach- (Zuruf von der SPD: Sehr richtig, Frau verständigenanhörung auf einige konstruktive Dinge hin- Pieper!) gewiesen worden sind, die sich nicht in Ihrem Gesetzent- Ich verhehle auch nicht, dass es richtig ist, dass Gesund- wurf wiederfinden, die wir aber für unbedingt notwendig heits- und Pflegeberufe in den Gesetzentwurf der Bun- halten, um mit dem Meister-BAföG voranzukommen. desregierung aufgenommen worden sind. Deswegen haben wir einen Entschließungsantrag vorge- legt, in dem wir verlangen, erstens auf die Vermögensan- (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Jörg rechnung im Bewilligungsverfahren zu verzichten, Tauss [SPD]: Gutes Gesetz!) (Susanne Kastner [SPD]: Müssen wir leider Gerade vor dem Hintergrund der demographischen Ent- ablehnen!) wicklung und der Tatsache, dass die Menschen in unse- rem Land immer älter werden, werden Gesundheits- und um so den Teilnehmern die Bildung von Rücklagen für Pflegeleistungen gefragt sein. Insoweit sind auch Qua- Existenzgründungen und Betriebsübernahmen zu erleich- litätssicherung und hohe Standards erforderlich. tern – das, was Sie machen, bedeutet ein Mehr an Büro- kratie; selbst der Facharbeitskreis des Bundesrates hat da- Doch mich verwundert schon, wenn der Parlamentari- rauf hingewiesen, dass Ihre Regelung überflüssig ist –, (B) sche Staatssekretär, Herr Catenhusen, der damaligen Bun- zweitens die Kosten für das Meisterstück künftig in hal- (D) desregierung von Union und FDP vorwirft, sie habe das ber Höhe ohne Begrenzung in den Maßnahmebeitrag ein- Meister-BAföG an die Wand gefahren. fließen zu lassen, drittens die Zeit für die Anfertigung des (Jörg Tauss [SPD]: Ja, klar!) Meisterstücks als Ausbildungszeit der Maßnahme anzu- rechnen, – Genau das war eben nicht der Fall, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) (Jörg Tauss [SPD]: Doch! Eine Betonwand! So viertens den Teilnehmern an der Aufstiegsfortbildung ge- eine Wand war das!) nerell einen Zuschuss in Höhe von 50 Prozent des Unter- haltsbeitrages zu gewähren, fünftens den Maßnahmebei- Mit der Einführung des Meister-BAföG 1996 ist über- trag künftig zu 50 Prozent als Zuschuss zu gewähren und haupt erst einmal der Rechtsanspruch auf Förderung einer sechstens das Darlehen für Lehrgangs- und Prüfungsge- beruflichen Höherqualifizierung gesetzlich gesichert bühren worden. (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Das ist aber (Beifall bei der FDP – Jörg Tauss [SPD]: Nach- deutlich länger als dreieinhalb Minuten!) dem er vorher abgeschafft worden ist!) dem Darlehensnehmer in Zukunft vollständig zu erlassen, Das Bundeswirtschaftsministerium hat – meine Kolle- wenn der junge Unternehmer innerhalb von zwei Jahren gin Aigner hat es bereits angesprochen – das Meister- nach Existenzgründung mindestens einen Mitarbeiter so- BAföG letztendlich zum Steinbruch gemacht. zialversicherungspflichtig eingestellt hat. Während sich 1998 die Mittel für das AFBG auf (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) 166,7 Millionen DM beliefen,

(Jörg Tauss [SPD]: Das war ja eine Mond- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Kommen zahl!) Sie bitte zum Schluss, Frau Pieper. standen im Haushalt des Jahres 2000 gerade noch 70 Mil- lionen DM dafür zur Verfügung. Cornelia Pieper (FDP): Das sind die richtigen (Jörg Tauss [SPD]: Und wie war die Ist-Zahl?) Vorschläge für eine echte Reform. Ich setze noch einen drauf, damit Sie sich nicht zu sehr lo- (Jörg Tauss [SPD]: Sie vergessen Freibier für ben: Die nicht abfließenden Mittel verwendete der Wirt- alle! Das müssen wir noch hinzunehmen!) 19784 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001

Cornelia Pieper (A) Sie aber sind für kleine Reförmchen zuständig. Denken Herangehensweise kann engagierte Bildungspolitikerin- (C) Sie daran, dass Handwerk nur dann goldenen Boden hat, nen und Bildungspolitiker nicht befriedigen. Auf diese wenn man eine Reform auch konsequent umsetzt. Weise kann meines Erachtens dem von allen Seiten be- schworenen enormen Bedeutungszuwachs der Bildung Vielen Dank. nicht hinreichend Rechnung getragen werden. Wir stim- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) men dem Gesetzentwurf trotzdem zu, weil er ein Schritt nach vorn ist.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort Ich bedanke mich für die zweieinhalb Minuten Rede- hat jetzt der Kollege Dr. Heinrich Fink von der PDS-Frak- zeit. tion. (Beifall bei der PDS und der SPD)

Dr. Heinrich Fink (PDS): Herr Präsident! Liebe Kol- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Als letzter leginnen und Kollegen! Vor allem: Liebe Kolleginnen und Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat der Parlamen- Kollegen von den Koalitionsfraktionen! Wir werden tarische Staatssekretär Siegmar Mosdorf das Wort. Ihrem Gesetzentwurf zustimmen. (Walter Hirche [FDP]: Gleich zwei Staatsse- (Jörg Tauss [SPD]: Sehr gut!) kretäre auf der Regierungsbank!) Das hat einen einfachen und plausiblen Grund: Er ist bes- ser geworden, wenn auch nicht unbedingt gut. Abgesehen Siegmar Mosdorf, Parl. Staatssekretär beim Bun- von der geringfügigen Minuskorrektur beim maximalen desminister für Wirtschaft und Technologie: Herr Präsi- Zuschussanteil für kinderlose Alleinstehende enthält der dent! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Hirche, Gesetzentwurf durchweg Verbesserungen. daran können Sie sehen, wie wichtig uns der vorliegende Gesetzentwurf ist. Es gibt allerdings einen ebensolchen einfachen und plausiblen Grund, um festzustellen, das mit dem Gesetz- Ich möchte zu Beginn meiner Ausführungen und am entwurf nicht endgültig das geleistet wird, was zu leisten Ende eines langen Beratungstages sagen: Wir setzen mit gewesen wäre. Dies machen schon zwei Zahlen deutlich: dem vorliegenden Gesetzentwurf unsere entschlossene 1993 nahmen aufgrund der Regelung im ehemaligen AFG Reformpolitik fort. Das muss man deutlich machen. über 140 000 Bürgerinnen und Bürger die Förderung bei (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Aufstiegsfortbildung in Anspruch. Mit dem vorlie- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) genden Gesetzentwurf begnügt sich die Bundesregierung (B) mit dem Ziel, die Zahl der Geförderten von gegenwärtig Es gibt zwei neue Akzente. Wir haben nicht nur die (D) etwa 50 000 auf 60 000 zu erhöhen. Das ist immerhin et- Steuern und die Lohnnebenkosten gesenkt, sondern zu- was. gleich auch in die Zukunft investiert. Ich darf daran erin- nern, dass die alte Bundesregierung in den 90er-Jahren Da die AFBG-Novelle in der vorgegebenen Logik ver- den Etat für Forschung und Technologie real um bleibt, drängt sich die Parallele zur Reform des BAföG 30 Prozent gekürzt hat. Wir fahren den Etat wieder hoch. auf. Aus beiden ziehe ich den Schluss: Bei allem guten Wir stecken in die Zukunft trotz der harten Konsoli- Willen und bei Verbesserungen im Einzelnen bringt die dierungsanstrengungen wieder erhebliche Gelder. Koalition nicht die volle Kraft auf, um das Steuer in der (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Bildungspolitik grundsätzlich herumzureißen. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Doch selbst im Rahmen der beibehaltenen Konstruk- Ein anderer Punkt ist: Dieser Gesetzentwurf steht für tion des AFBG wäre doch mehr möglich gewesen. Die einen besonderen Akzent in unserer Politik. Wir glauben, Punkte, die uns besonders am Herzen liegen, hat die Kol- dass gerade im 21. Jahrhundert den Meistern, den Freibe- legin Böttcher bereits vorige Woche hier aufgelistet. Eine ruflern und den Selbstständigen eine Schlüsselstellung in Wiederholung will ich mir ersparen. Bei der ersten Le- Bezug auf die Reform, die Innovation und die Schubkraft sung haben wir auf negative Konsequenzen hingewiesen, zukommt, die die Wirtschaft braucht. Deshalb setzen wir die mit der Verschleppung dieser Gesetzesinitiative zu- auf Qualifikation und Weiterbildung und investieren sammenhängen. Dem möchte ich heute noch einen Punkt zukünftig verstärkt in Weiterbildungsangebote. hinzufügen: Die verspätete Einbringung des Gesetzent- wurfs hat dazu geführt, dass für die parlamentarische De- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten batte und erst recht für Veränderungen so gut wie kein des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Spielraum vorhanden war; denn mit der Festschreibung Die frühere Bundesregierung war auch von der Koali- der Finanzmittel im Haushaltsentwurf war von vornhe- tion her blockiert; denn sowohl Herr Rexrodt als auch rein klar, dass eine weit gehende Verbesserung des Ge- Herr Rüttgers waren zuständig. Die beiden Rs standen setzentwurfs nicht zu erreichen sein würde. damals nicht für „Reform“. Bei Herrn Catenhusen möchte ich mich ausdrücklich dafür bedanken, dass unsere beiden Die Debatte verlief also nicht entlang der Fragen: Was Ressorts sehr gut zusammengearbeitet haben. Jetzt ist ein ist bildungspolitisch notwendig und wie stellen wir die vernünftiges Konzept auf den Weg gebracht worden. notwendigen Finanzmittel bereit? Die Frage lautete leider umgekehrt: Was ist in einem finanziell vorgegebenen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Rahmen bildungspolitisch noch umsetzbar? Eine solche des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19785

Parl. Staatssekretär Siegmar Mosdorf (A) Zum 1. Januar gibt es ein neues Meister-BAföG. Wir geringfügige Beschäftigung wird nun beim Darlehensteil- (C) investieren allein im Jahr 2002 trotz erheblicher Spar- erlass anerkannt. Unter bestimmten Voraussetzungen maßnahmen 46 Millionen Euro zusätzlich für die Meis- werden vorgezogene Existenzgründungen ebenfalls be- terqualifikation. Das, finde ich, kann sich sehen lassen. rücksichtigt. Auch das ist ein wichtiger Reformschritt. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Durch einen höheren Vermögensfreibetrag von jetzt DIE GRÜNEN) 70 000 Mark gibt es die Chance der Existenzgründung, ohne dass kleine Vermögen angerechnet werden. Diejeni- Die Bundesregierung weiß, dass in unserer Zeit die gen, die sich selbstständig machen, brauchen dieses Geld, Qualifikation zu unserem eigentlichen und wichtigsten um es in die Existenzgründung zu stecken. Rohstoff wird. Einer der wichtigsten Rohstoffe für hoch entwickelte Volkswirtschaften sind heute Qualifikation und Mit dieser wichtigen Reform machen wir eines ganz Weiterbildung. Es ist übrigens der einzige Rohstoff, der klar: Karriere mit Lehre ist keine Fata Morgana. Sie ist sich bei Gebrauch vermehrt. Wenn Sie von Ihrem Wissen, möglich. Wir wollen, dass auch junge Leute, die eine von Ihrer Qualifikation Gebrauch machen, dann kann man Lehre machen, die Chance haben, eine Berufskarriere zu daraus etwas machen. In diesen Rohstoff investieren wir. machen und eine entsprechende Laufbahn zu erreichen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Abg. Dr. Heinrich Fink [PDS]) DIE GRÜNEN) Mit dieser großen Reform wollen wir eine dauerhafte, Mit dem Meister-BAföG zeigen wir gleichzeitig, dass eine nachhaltige neue Beschäftigung schaffen. Wir setzen wir nicht nur auf akademische Ausbildung, sondern auch uns dafür ein, dass berufliche Karriere auch für diejeni- auf Berufsausbildung setzen. Wir sind der Meinung: Ge- gen möglich wird, die bisher Schwierigkeiten hatten. rade junge Leute, die sich für diesen Weg entscheiden, ha- Manche haben geglaubt, man könne nur mit Abitur und ben eine Chance verdient. Hochschulabschluss erfolgreich sein. Wir wollen, dass Einer der ganz Großen in der Nachkriegszeit, Carlo auch diejenigen, die eine Ausbildung, eine Lehre gemacht Schmid, hat einmal, als es darum ging, dass man nicht nur haben, die eine Gesellenzeit hinter sich haben, berufliche auf Akademiker setzen darf, sondern auch auf andere Ta- Karriere machen können. Das ist für unsere Gesellschaft lente setzen muss, eine Begebenheit erzählt, die ziemlich sehr, sehr wichtig. ausdrucksstark ist: (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Eines Vormittags fuhr ein Oberschulrat zur Schulin- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) spektion in eine Schule. Auf dem Weg dorthin ging sein Auto kaputt. Da kam ein junger Mann – 15 Jahre dürfte er (B) Wir brauchen in den nächsten Jahren sehr viele Unter- (D) nehmensnachfolger. In unserer Volkswirtschaft vollzieht alt gewesen sein – angeradelt und fragte den Oberschul- sich ein Generationswechsel. Die erfolgreiche Nachkriegs- rat: Kann ich Ihnen helfen? – Darauf antwortete der Ober- zeit geht zu Ende. Viele, die ein Unternehmen aufgebaut schulrat: Du kannst mir doch nicht helfen. Mein Auto ist haben, haben nicht automatisch die Chance, ihre Kinder in kaputtgegangen. Darauf sagt der junge Mann: Lassen Sie die Rolle des Nachfolgers hineinzubringen. Deshalb brau- mich mal gucken! Er macht die Kühlerhaube auf, bastelt ei- chen wir Selbstständige, brauchen wir Menschen, die aus nen Augenblick im Motorraum herum, macht die Kühler- der Gesellenzeit heraus sagen: Wir wollen uns selbststän- haube wieder zu und sagt dann: Jetzt probieren Sie mal, dig machen und erfolgreich sein. Deshalb wollen wir den Herr Oberschulrat, ob es wieder geht. Der Oberschulrat Meister machen und können dann ein Unternehmen führen. setzt sich ins Auto, startet die Zündung und der Motor Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Er wird für unsere Volks- läuft. wirtschaft von besonderer Bedeutung sein. Als sich der Oberschulrat daraufhin bei dem jungen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Mann bedanken will, überlegt er, warum der junge Mann DIE GRÜNEN) eigentlich auf der Straße ist, und fragt ihn: Warum bist du eigentlich nicht in der Schule, sondern auf der Straße? Wir haben auch viele konkrete Dinge geändert. So wird Darauf antwortet der junge Mann: Das ist ganz einfach. zum Beispiel der mögliche Darlehensteilerlass von Unsere Lehrer haben gestern gesagt, dass morgen ein ho- 50 Prozent auf 75 Prozent der Darlehenssumme erhöht. hes Tier aus Stuttgart kommt und dass da alle Dummen zu (Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann Hause bleiben müssen. [SPD]) Meine Damen und Herren, darin liegt der Kern. Es gibt Das ist ein wichtiger Schritt gerade für diejenigen, die sehr viele Talente und Begabungen. Mit dem Meister- BAföG wollen wir klar machen, dass wir solche Talente eben nicht aus sehr guten wirtschaftlichen Verhältnissen und Begabungen noch stärker fördern müssen. kommen, sondern sich durchkämpfen müssen. Das sind übrigens oftmals diejenigen, die am besten sind und des- Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. halb gefördert werden müssen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) DIE GRÜNEN) Wir verlängern die Gründungs- und Einstellungsfristen Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich für den Darlehensteilerlass auf nunmehr drei Jahre. Auch schließe die Aussprache. 19786 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- Aupairs von der Sozialversicherungspflicht (C) desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung freihalten des Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetzes auf Druck- – Drucksache 14/7098 – sache 14/7094. – Frau Aigner, es gibt kein Einvernehmen darüber, die Reihenfolge zu ändern. Deswegen müssen Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung(f) wir bei der vereinbarten Reihenfolge bleiben. Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (Manfred Grund [CDU/CSU]: Wir sind diese Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Arroganz gewohnt!) b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Karl- Der Ausschuss für Bildung, Forschung und Technik- Josef Laumann, Brigitte Baumeister, Rainer folgenabschätzung empfiehlt unter Nr. 1 seiner Be- Eppelmann, weiterer Abgeordneter und der Frak- schlussempfehlung auf Drucksache 14/7472 die An- tion der CDU/CSU nahme des Gesetzentwurfs in der Ausschussfassung. Ich Rechtssicherheit für Aupairverhältnisse bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschuss- fassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Ge- – Drucksache 14/7288 – genstimmen? – Enthaltungen? – Damit ist der Gesetz- Überweisungsvorschlag: entwurf in zweiter Beratung mit den Stimmen der Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung (f) Koalitionsfraktionen und der PDS-Fraktion gegen die Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Stimmen der CDU/CSU-Fraktion bei Enthaltung der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend FDP-Fraktion angenommen. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf Dritte Beratung den Drucksachen 14/7098 und 14/7288 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Ge- sind die Überweisungen so beschlossen. genstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist bei gleichem Stimmenverhältnis wie zuvor angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 17 auf: Abstimmung über den Entschließungsantrag der Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Fraktion der FDP auf Drucksache 14/7502. Wer stimmt Norbert Geis, Ronald Pofalla, Dr. Jürgen Rüttgers, für diesen Entschließungsantrag? – Gegenstimmen? – weiterer Abgeordneter und der Fraktion der Enthaltungen? – Der Entschließungsantrag ist mit den CDU/CSU Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Erleichterungen bei der internationalen Voll- Fraktionen der CDU/CSU und der FDP bei Enthaltung der (B) streckungshilfe (D) PDS-Fraktion abgelehnt. – Drucksachen 14/2827, 14/3957 – Abstimmung über den von der Fraktion der CDU/CSU eingebrachten Entwurf eines Ersten Gesetzes zur Än- Hierüber gibt es keine Abstimmung. derung des Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetzes auf Drucksache 14/4250. Der Ausschuss für Bildung, For- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf: schung und Technikfolgenabschätzung empfiehlt un- Beratung des Antrags der Abgeordneten Wolfgang ter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa- Börnsen (Bönstrup), Dirk Fischer (Hamburg), che 14/7472, den Gesetzentwurf abzulehnen. Ich bitte die- Dr.-Ing. Dietmar Kansy, weiterer Abgeordneter jenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das und der Fraktion der CDU/CSU Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Ge- Bildung einer Leitstelle für Seesicherheit setzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen von CDU/CSU – Drucksache 14/5450 – und FDP bei Enthaltung der Fraktion der PDS abgelehnt. Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die wei- Innenausschuss tere Beratung. Rechtsausschuss Finanzausschuss Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist vereinbart wor- Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung den, wegen der anstehenden Sitzungen der Fraktionen von und Landwirtschaft SPD und Bündnis 90/Die Grünen alle Reden zu den fol- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit genden Tagesordnungspunkten zu Protokoll zu nehmen1). Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss Allerdings müssen wir noch über die beantragten Aus- schussüberweisungen bzw. über die Anträge abstimmen. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 14/5450 an die in der Tagesordnung aufge- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10 a und 10 b auf: führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- verstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Überwei- a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk sungen so beschlossen. Niebel, Hans-Joachim Otto (Frankfurt) und wei- terer Abgeordneter Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- 1) Anlagen 3 bis 14 regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19787

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) zu dem Partnerschaftsabkommen vom 23. Juni (Erste Beratung 192. Sitzung) (C) 2000 zwischen den Mitgliedern der Gruppe der Beschlussempfehlung und Bericht des Haushalts- Staaten in Afrika, im Karibischen Raum und im ausschusses (8. Ausschuss) Pazifischen Ozean einerseits und der Euro- päischen Gemeinschaft und ihren Mitglied- – Drucksache 14/7479 – staaten andererseits (AKP-EG-Partnerschafts- Berichterstattung: abkommen) Abgeordnete Hans Jochen Henke – Drucksache 14/7053 – Hans Georg Wagner Oswald Metzger (Erste Beratung 195. Sitzung) Dr. Werner Hoyer a) Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- Dr. Uwe-Jens Rössel schusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- und Entwicklung (20. Ausschuss) desregierung eingebrachten Gesetzentwurf, Drucksa- – Drucksache 14/7475 – chen 14/7010, 14/7255 und 14/7479. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustim- Berichterstattung: men wollen, um das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Abgeordnete Dagmar Schmidt (Meschede) Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Dr. Ralf Brauksiepe Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der Dr. Angelika Köster-Loßack FDP und der PDS bei Enthaltung der CDU/CSU ange- nommen. Carsten Hübner b) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Aus- Dritte Beratung schuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem – Drucksache 14/7487 – Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Ge- genstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist Berichterstattung: mit gleichem Stimmenverhältnis angenommen. Abgeordnete Antje Hermenau Dr. Konstanze Wegner Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf: Michael von Schmude Dr. Werner Hoyer Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- Uwe-Jens Rössel regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Bereinigung des Rechtsmittelrechts im Ver- (B) (D) Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- waltungsprozess (RmBereinVpG) desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem AKP- – Drucksachen 14/6393, 14/6854 – EG-Partnerschaftsabkommen auf Drucksache 14/7053. Der Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und (Erste Beratung 182. Sitzung) Entwicklung empfiehlt auf Drucksache 14/7475, den Ge- Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus- setzentwurf anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem schusses (6. Ausschuss) Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzei- – Drucksache 14/7474 – chen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetz- entwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen Berichterstattung: der Koalitionsfraktionen, der CDU/CSU und der FDP bei Abgeordnete Alfred Hartenbach Enthaltung der PDS angenommen. Dr. Jürgen Gehb Volker Beck (Köln) Dritte Beratung Rainer Funke und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Dr. Evelyn Kenzler Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Ge- Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- genstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur damit bei gleichem Stimmenverhältnis wie zuvor ange- Bereinigung des Rechtsmittelrechts im Verwaltungspro- nommen. zess, Drucksachen 14/6393, 14/6854 und 14/7474. Ich (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschuss- DIE GRÜNEN) fassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Ge- genstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf: zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfrak- tionen und der PDS-Fraktion gegen die Stimmen der Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- Fraktionen von CDU/CSU und FDP angenommen. gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung des Schuldbuchrechts des Bundes und Dritte Beratung der Rechtsgrundlagen der Bundesschuldenver- und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem waltung (Bundeswertpapierverwaltungsgesetz – Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Ge- BWpVerwG) genstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist – Drucksachen 14/7010, 14/7255 – mit gleichem Stimmenverhältnis wie zuvor angenommen. 19788 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf: Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf: (C) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- Friedrich (Bayreuth), Hans-Michael Goldmann, NEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Dr. , weiterer Abgeordneter Ergänzung der Leistungen bei häuslicher Pflege und der Fraktion der FDP von Pflegebedürftigen mit erheblichem allgemei- Fairen Wettbewerb im Luftverkehr bewahren – nen Betreuungsbedarf (Pflegeleistungs-Ergän- Sicherheit erhöhen zungsgesetz-PflEG) – Drucksache 14/7157 – – Drucksache 14/6949 – Überweisungsvorschlag: (Erste Beratung 189. Sitzung) Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (f) Finanzausschuss Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes Ausschuss für Tourismus zur Ergänzung der Leistungen bei häuslicher Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Pflege von Pflegebedürftigen mit erheblichen all- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf gemeinen Betreuungsbedarf (Pflegeleistungs-Er- Drucksache 14/7157 an die in der Tagesordnung aufge- gänzungsgesetz-PflEG) führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- – Drucksache 14/7154 – verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- ses für Gesundheit (14. Ausschuss) Ich rufe die Tagesordnungspunkte 22 a und 22 b auf: – Drucksache 14/7473 – Berichterstattung: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- Abgeordnete Marga Elser gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung von öffentlichen Angeboten zum Es liegt ein Entschließungsantrag der FDP vor. Erwerb von Wertpapieren und von Unterneh- Wir kommen zur Abstimmung über den von den mensübernahmen Fraktionen der SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen – Drucksachen 14/7034, 14/7090 – eingebrachten Entwurfs eines Pflegeleistungs-Ergän- (Erste Beratung 192. Sitzung) zungsgesetzes, Drucksache 14/6949. Der Ausschuss für (B) Gesundheit empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussemp- Beschlussempfehlung und Bericht des Finanz- (D) fehlung auf Drucksache 14/7473, den Gesetzentwurf in ausschusses (7. Ausschuss) der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejeni- – Drucksache 14/7477 – gen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung Berichterstattung: zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Gegenstim- Abgeordnete Nina Hauer men? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in Hansgeorg Hauser (Rednitzhembach) zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfrak- Andrea Fischer (Berlin) tionen gegen die Stimmen aller anderen Fraktionen an- genommen. b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Dritte Beratung richts des Finanzausschusses (7. Ausschuss) – zu dem Antrag der Abgeordneten Hartmut und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Schauerte, Gunnar Uldall, Wolfgang Börnsen Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Ge- (Bönstrup), weiterer Abgeordneter und der genstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist Fraktion der CDU/CSU mit gleichem Stimmenverhältnis wie zuvor angenommen. Fairer Wettbewerb und Rechtssicherheit Abstimmung über den Entschließungsantrag der Frak- bei Unternehmensübernahmen in Europa tion der FDP auf Drucksache 14/7504. Wer stimmt für – zu dem Antrag der Abgeordneten Ursula Lötzer, diesen Entschließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Rolf Kutzmutz, Eva Bulling-Schröter, weiterer Wer enthält sich? – Der Entschließungsantrag ist mit den Abgeordneter und der Fraktion der PDS Stimmen der Koalitionsfraktionen und der PDS-Fraktion bei Zustimmung der FDP-Fraktion und Enthaltung der Gesetzliche Mitspracherechte bei Unter- CDU/CSU-Fraktion abgelehnt. nehmensübernahmen – Drucksachen 14/3776, 14/3394, 14/7477 – Der Ausschuss für Gesundheit empfiehlt unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 14/7473, Berichterstattung: den Entwurf eines Pflegeleistungs-Ergänzungsgesetzes Abgeordnete Nina Hauer der Bundesregierung für erledigt zu erklären. Wer stimmt Hansgeorg Hauser (Rednitzhembach) für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Andrea Fischer (Berlin) Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist damit ein- Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt ein stimmig angenommen. Entschließungsantrag der Fraktion der FDP vor. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19789

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf: (C) desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Regelung Beratung des Antrags der Abgeordneten Brunhilde von öffentlichen Angeboten zum Erwerb von Wertpapie- Irber, Annette Faße, Dr. Hans-Peter Bartels, weite- ren und von Unternehmensübernahmen, Drucksachen rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD so- 14/7034 und 14/7090. Der Finanzausschuss empfiehlt wie der Abgeordneten Sylvia Voß, Franziska unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa- Eichstädt-Bohlig, Hans-Josef Fell, weiterer Abge- che 14/7477, den Gesetzentwurf in der Ausschussfassung ordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/ anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf DIE GRÜNEN in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Den Tourismus im ländlichen Raum nachhaltig Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stim- stärken men der Koalitionsfraktionen und der CDU/CSU-Frak- – Drucksache 14/7300 – tion gegen die FDP-Fraktion bei Enthaltung der PDS- Überweisungsvorschlag: Fraktion angenommen. Ausschuss für Tourismus (f) Finanzausschuss Dritte Beratung Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Ausschuss für Gesundheit Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Ge- Ausschuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen genstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit mit gleichem Stimmenverhältnis angenommen. Haushaltsausschuss Abstimmung über den Entschließungsantrag der Frak- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf tion der FDP auf Drucksache 14/7501. Wer stimmt für Drucksache 14/7300 an die in der Tagesordnung aufge- diesen Entschließungsantrag? – Gegenprobe! – Enthal- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- tungen? – Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung aller anderen Fraktionen bei Zustimmung der FDP-Frak- so beschlossen. tion abgelehnt. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 26 a und 26 b auf: Tagesordnungspunkt 22 b: Wir kommen nun zur Ab- stimmung über die Beschlussempfehlung des Finanzaus- a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Gerhard schusses auf Drucksache 14/7477. Unter Nr. 2 seiner Be- Jüttemann, Eva Bulling-Schröter, Dr. Ruth Fuchs, schlussempfehlung empfiehlt der Finanzausschuss die weiterer Abgeordneter und der Fraktion der PDS Ablehnung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU auf (B) Drucksache 14/3776 mit dem Titel „Fairer Wettbewerb Mobilfunkstrahlung minimieren – Vorsorge (D) und Rechtssicherheit bei Unternehmensübernahmen in stärken Europa“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – – Drucksache 14/7120 – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschluss- empfehlung ist mit den Stimmen aller anderen Fraktionen Überweisungsvorschlag: bei Gegenstimmen der CDU/CSU-Fraktion angenommen. Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktor- sicherheit (f) Unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Finanzausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Landwirtschaft der PDS auf Drucksache 14/3394 mit dem Titel „Gesetz- Ausschuss für Gesundheit liche Mitspracherechte bei Unternehmensübernahmen“. Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen- Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer abschätzung stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp- fehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ilse CDU/CSU-Fraktion und der FDP-Fraktion bei Gegen- Aigner, Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach), Dr. stimmen der PDS-Fraktion angenommen. Peter Paziorek, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf: Mobilfunkforschung und Information voran- Beratung des Antrags der Fraktionen der SPD, des treiben BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP – Drucksache 14/7286 – Hilfe für die Opfer der Colonia Dignidad Überweisungsvorschlag: – Drucksache 14/7444 – Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Auswärtiger Ausschuss (f) Landwirtschaft Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Ausschuss für Gesundheit Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen- abschätzung Drucksache 14/7444 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung den Drucksachen 14/7120 und 14/7286 an die in der Ta- so beschlossen. gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. 19790 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundesta- (C) sind die Überweisungen so beschlossen. ges auf morgen, Freitag, den 16. November 2001, 9 Uhr, ein. Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tagesord- Die Sitzung ist geschlossen. nung. (Schluss: 20.15 Uhr) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19791

(A) Anlagen zum Stenographischen Bericht (C) Anlage 1

Liste der entschuldigten Abgeordneten

sie fördert vor allem angehende Existenzgründer und Exis- entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich tenzgründerinnen nachhaltig. Wir weiten die Förderung aus und bessern in wesentlichen Punkten nach. Altmann (Aurich), Gila BÜNDNIS 90/ 15.11.2001 Dabei ist es grundlegend wichtig, die Finanzierungs- DIE GRÜNEN grundlage für den Lebensunterhalt und die Lehrgangskos- ten für die Fortbildungskurse bereitzustellen. Auch für die Bierwirth, Petra SPD 15.11.2001 Existenzgründer gilt unser Grundverständnis der Zu- gangsgerechtigkeit. Bulmahn, Edelgard SPD 15.11.2001 Durch die Novelle wird konkrete Mittelstandsförde- Frankenhauser, Herbert CDU/CSU 15.11.2001 rung nachhaltig betrieben, das sie mit der Schaffung von Arbeits- und Ausbildungsplätzen gekoppelt ist. Wir he- Friedrich (Altenburg), SPD 15.11.2001 ben den Darlehenserlass von 50 Prozent auf 75 Prozent. Peter Dies ist ein deutlicher Anreiz für Existenzgründer. Die Griefahn, Monika SPD 15.11.2001 Frist für die Existenzgründung ist vor allem auf Drängen von Bündnis 90/Die Grünen von zwei auf drei Jahre ver- Hohmann, Martin CDU/CSU 15.11.2001 längert worden, um den Gründerinnen größeren Spiel- raum zu verschaffen. Ebenfalls ist die Frist für die Dr. Höll, Barbara PDS 15.11.2001 Einstellung von zwei Beschäftigten auf zwei Jahre he- raufgesetzt worden. Mit der Koppelung deutlicher staat- Lengsfeld, Vera CDU/CSU 15.11.2001 licher Förderung und der Schaffung von Arbeitsplätzen Lippmann, Heidi PDS 15.11.2001 ist zukünftig einerseits von einer erhöhten Zahl von An- tragstellern und Antragstellerinnen auszugehen; anderer- Schlee, Dietmar CDU/CSU 15.11.2001 seits erwarten wir langfristig Entlastungseffekte auf dem Arbeitsmarkt. Schmidt (Aachen), SPD 15.11.2001 Ulla Um angespartes Vermögen der Existenzgründer zu (B) schonen, wird der Vermögensbeitrag für Alleinstehende (D) Dr. Spielmann, Margrit SPD 15.11.2001 deutlich auf 70 000 DM angehoben. Für die Ehefrau und jedes Kind werden zusätzlich 3 500 DM angerechnet. Strebl, Matthäus CDU/CSU 15.11.2001 Liebe Damen und Herren von der CDU/CSU, ich for- Dr. Süssmuth, Rita CDU/CSU 15.11.2001 dere Sie auf, sich an dieser Stelle den Realitäten des Sub- sidiaritätsprinzips wieder anzuschließen. Der Staat muss Dr. Thomae, Dieter FDP 15.11.2001 aus grüner Sicht dann fördern, wenn es für die Teilnehmer Dr. Tiemann, Susanne CDU/CSU 15.11.2001 notwendig ist. Wer mehr als den angesetzten Freibetrag auf der hohen Kante hat, ist in der Lage, sich selbst zu fi- Volquartz, Angelika CDU/CSU 15.11.2001 nanzieren. Wir wollen mit der Novelle des „Meister- BAföGs“ keine Subventionspolitik betreiben. Dr. Wodarg, Wolfgang SPD 15.11.2001 Die Aufstiegsfortbildung wird aber auch wieder ein zentrales Förderinstrument zur gezielten beruflichen Wei- Anlage 2 terbildung. Die rot-grüne Bundesregierung setzt mit die- ser Novelle ein deutliches Zeichen. Mehr Menschen mit Zu Protokoll gegebene Rede Kindern haben durch die Novelle die Chance, sich zu qua- lifizieren. Familien mit Kindern und Alleinerziehende er- zur Beratung der Entwürfe: halten nämlich künftig bessere Förderkonditionen bei Vollzeit- und Teilzeitfortbildungen. Wir erhöhen den Kin- – eines Gesetzes zur Änderung des Aufstiegsfort- derzuschlag beim Unterhaltsbetrag von 250 auf 350 DM bildungsförderungsgesetzes (AFBG-ÄndG) und den Kinderbetreuungszuschuss auf 250 DM. In Här- – eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Auf- tefällen wird das Darlehen für Alleinerziehende gestundet stiegsfortbildungsförderungsgesetzes (1. AFBG- oder sogar erlassen. Das Kindergeld wird nicht auf das ÄndG) Einkommen angerechnet. An dieser Stelle berücksichtigt Rot-Grün ganz gezielt die Lebensumstände von Familien (Tagesordnungspunkt 16) und Alleinerziehenden und erhöht ihre Beteiligungsmög- lichkeit in der beruflichen Weiterbildung. Es kann nicht Christian Simmert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): um Kind oder Karriere gehen. Wir wollen Eltern beides Die rot-grüne Bundesregierung setzt mit der Novelle des ermöglichen. „Meister-BAföGs“ nicht nur die dringend notwendige Des Weiteren werden ausländische Arbeitnehmerinnen Qualifizierungsoffensive in der beruflichen Bildung fort, und Arbeitnehmer inländischen gleichgestellt und können 19792 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001

(A) in verstärktem Maße gefördert werden. Das bedeutet, dass reich, das nach der Schule für ein Jahr nach Deutschland (C) sie bereits nach dreijähriger Erwerbstätigkeit gefördert kommt, um die Sprache zu lernen und gleichzeitig das Le- werden können. Wir begreifen Migrantinnen und Migran- ben in einer Familie kennenzulernen, das ist nur ein Teil ten als Teil der Gesellschaft und wollen an dieser Stelle ei- der Realität. Unter den Aupairs finden wir immer mehr nen Beitrag zur Integration leisten. Diese, liebe Kollegin- junge Mädchen aus Polen, Tschechien und Südamerika. nen und Kollegen, meinen Bündnis 90/Die Grünen mit Sie haben die Hoffnung, auf diesem Weg dauerhaft mit ei- der Beseitigung von Zugangshindernissen. ner Arbeitserlaubnis hier bleiben zu können. Und da liegt es doch nahe, dass diese Hoffnungen auch ausgenutzt Darüber hinaus werden die geförderten Berufsfelder werden. deutlich erweitert. Gesundheits- und Pflegeberufe und die Abschlüsse an staatlich anerkannten Ergänzungsschulen Da spielen wir nicht mit. Wir wollen nicht, dass durch werden uneingeschränkt in die Förderung einbezogen. eine gesetzliche Regelung Tür und Tor geöffnet werden, Teilzeitfortbildung und die Fortbildung über Softwarege- dass „Clevere“ die Hoffnungen junger Menschen ausnut- stützte Lernmodule werden ermöglicht. zen, um an billige Hausangestellte zu kommen. Aber ein Aupair ist eben keine Hausangestellte. Und deshalb wer- Rot-Grün gestaltet die Förderung der Aufstiegsfortbil- den wir hier keinen Freibrief ausstellen. dung analog zur BAföG-Reform. Wir erhöhen den Unter- haltsbetrag für Alleinstehende um rund 10 Prozent. Wer den Schutz durch die Sozialversicherungen braucht, der muss ihn auch bekommen. Und wer 30 Stun- Wir machen mit dieser Novelle des „Meister-BAföGs“ den pro Woche arbeitet, der braucht ihn. deutlich, dass sich die Koalition ihrer Verantwortung und der Modernisierung sowohl der beruflichen Bildung als Wir haben in den letzten drei Jahren die Erosion der auch des Mittelstandes stellt. Die Förderung von Fach- Sozialversicherungen gestoppt. Wir haben viele Men- kräften bei der Aufstiegsfortbildung wird so zu einer zen- schen wieder in die Sozialversicherungen zurück geholt, tralen Bildungsaufgabe, bei der der einzelne Mensch mit die ihren Schutz dringend brauchen. Ich erinnere da nur seinen Möglichkeiten wieder im Mittelpunkt steht. an die geringfügig Beschäftigten und die Scheinselbst- ständigen. Ich freue mich über die weitgehende Übereinstimmung bei entscheidenden Elementen der Novelle und fordere Die Abgeordneten, die diesen Antrag stellen – neben Sie daher nachdrücklich auf, dieser zuzustimmen. FDP- und PDS-Abgeordneten sind es auch eine Reihe von Kolleginnen und Kollegen aus der CDU/CSU-Fraktion –, versuchen mit ihrem Antrag jetzt, ein Hintertürchen zu Anlage 3 öffnen, durch das sich auch bei ganz normalen Arbeits- verhältnissen der Arbeitgeber die Beiträge zur Sozialver- (B) (D) Zu Protokoll gegebene Reden sicherung sparen kann. 30 Stunden Arbeit pro Woche – das sind doppelt so viele Stunden, wie bei geringfügiger zur Beratung der Anträge: Beschäftigung möglich sind. – Aupairs von der Sozialversicherungspflicht Wir wissen ja, dass Sie die solidarischen Sozialversi- freihalten cherungen am liebsten ganz abschaffen möchten. Aber – Rechtssicherheit für Aupairverhältnisse uns ist es wichtig, dass sich die Menschen in diesem Land auch in Zukunft auf die Solidarität der Gesellschaft ver- (Tagesordnungspunkt 10a und b) lassen können. Diese Sicherheit haben sie jetzt – auch die Aupairs. Der Erika Lotz (SPD): Bei diesem Antrag habe ich mir die Antrag der CDU/CSU-Fraktion „Rechtssicherheit für Au- Frage gestellt, für wen Sie ihr Herz entdeckt haben. Der pairverhältnisse“ ist deshalb schlicht überflüssig. Die Antrag klärt das ja auch im zweiten Absatz. Sie beklagen Rechtslage ist eindeutig; erst im Oktober haben die Spit- dort nämlich, dass die Bundesanstalt für Arbeit die Au- zenverbände der Sozialversicherungen in einem Gespräch pairs als sozialversicherungspflichtige Beschäftigungs- bestehende Unstimmigkeiten beseitigt. verhältnisse einstufen will und Mehrkosten auf die Gast- familien zukommen. Wir wollen die wirklichen Gasteltern keineswegs be- lasten und zurzeit passiert das auch nicht. Aber auch in Das, stimmt aber einfach nicht. Und deshalb können Zukunft muss ganz genau geschaut werden, ob eine Fa- wir ihrer Forderung nach einer generellen Sozialversiche- milie wirklich ein Aupair aufgenommen hat oder ob sie rungsfreiheit von Aupairs auch nicht zustimmen. das, was als kultureller Austausch gedacht ist, ausnutzt, Im Vordergrund der Aupairaufenthalte steht das Anlie- um einfach an eine billige Haushaltshilfe zu kommen. gen der jungen Menschen, in den Gastfamilien Sprache und Kultur kennenzulernen und so die internationale Ver- Walter Hoffmann (Darmstadt) (PDS): Eine seltsame ständigung zu fördern. In den Gastfamilien sollen sie bei Koalition hat sich zu diesem Gruppenantrag zusammen- der Hausarbeit mithelfen – so, wie es die eigenen Kinder gefunden. Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU, auch tun müssen oder sollten. Es muss dabei ausreichend FDP und PDS sorgen sich um die angeblich drohende So- Zeit für Sprachunterricht und auch für die Freizeit bleiben. zialversicherungspflicht von Aupairs. Stimmt dieses Bild mit der Wirklichkeit überall über- Ich habe nicht verstanden, wieso PDS-Kolleginnen ein? Das nette junge Mädchen aus England oder Frank- und -Kollegen einen Antrag unterstützen, der in der Sub- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19793

(A) stanz neoliberalem Gedankengut entspringt. Ich habe hältnisse, die Rückkehr eines Elternteils in den Arbeits- (C) nicht verstanden, wieso Kolleginnen und Kollegen der markt zu ermöglichen. Es kann auch kein wesentlicher CDU/CSU sich mit Abgeordneten der PDS verbünden, Sinn sein, die Weiterbildung und Qualifizierung mithilfe wenn diese eine sozialversicherungsfreie 30-Stunden- von Aupairmädchen zu erleichtern. Man bekommt den Woche in Privathaushalten fordern und damit das Dienst- Eindruck, Sie halten Aupairverhältnisse für eine Art lega- mädchenprivileg durch die Hintertür wieder einführen ler Schwarzarbeit. Die Alternative darf doch nicht heißen: wollen. Aupair oder Schwarzarbeit. Vielmehr sollten wir unsere Kraft und Energie darauf konzentrieren, nach intelligen- Von der FDP ist man ja so etwas gewohnt. Wie hat es ten Konzepten zu suchen, wie sozialversicherungspflich- meine Kollegin Renate Rennebach heute Morgen so tige und bezahlbare Beschäftigung in Privathaushalten er- schön im „Deutschlandfunk“ formuliert: möglicht werden kann. Hier gibt es meiner Ansicht nach „Wenn ich mit der FDP Sozialpolitik machen einen großen Bedarf, der weit über die Einsatzmöglich- müsste, würden mir grüne Pickel wachsen.“ keiten von Aupairs hinausgeht. Dieser Bereich bietet aber auch große Chancen für die Menschen und den Arbeits- Und inhaltlich habe ich den Antrag schon gar nicht ver- markt. standen. Denn keiner will hier irgendetwas ändern. Ich fasse zusammen: Es gibt keinen Anlass für Ihre Be- Aupairs werden seit 1969 in der immer gleichen Weise fürchtungen. Niemand will Aupairverhältnisse sozialver- behandelt: Jeder konkrete Einzelfall wird vorab geprüft, sicherungspflichtig machen und bestehende Wider- um auszuschließen, dass diese sinnvolle Einrichtung zur sprüche werden beseitigt. Wir denken intensiv über kulturellen und sprachlichen Begegnung für junge Men- Lösungen im Bereich der Haushaltshilfen nach. Wenn wir schen in Deutschland missbraucht wird. Es wird etwas ge- solche Anträge nicht beraten müssten, hätten wir dafür nauer hingeschaut, damit junge Menschen nicht schamlos vielmehr Zeit. als billige Haushaltshilfe ausgenutzt werden, wie die Kol- legin Erika Lotz es schon richtigerweise gesagt hat. Dorothea Störr-Ritter (CDU-CSU): Erstens. Was ist Verständnis fehlt aber auch Ihnen, liebe Unterstütze- ein Aupairverhältnis? Ein Aupairverhältnis ist ein auf eine rinnen und Unterstützer dieses Antrags. Sie haben nicht bestimmte Dauer – meist bis zu einem Jahr – befris-tetes verstanden, dass staatlich gesetzte Regeln auf dem Ar- Beschäftigungsverhältnis besonderer Art. Es besteht beitsmarkt auch zum Schutz von Personen da sind und meist zwischen jungen Frauen aus EG- oder EWR-Staa- nicht zur „Schikane“ der Arbeitgeber. Gerade bei den au- ten und einer deutschen Gastfamilie. pairs ist dies ganz eindeutig. Geht es doch hier um junge Menschen, die in ein fremdes Land kommen und leicht Im Vordergrund steht für die Aupairs, die Sprach- (B) ausgenutzt werden können. kenntnisse zu vervollständigen und das Allgemeinwissen (D) durch eine bessere Kenntnis des Gastlandes zu erweitern. Rechtliche Grundlage für das gültige Verfahren ist ein Dazu trägt das Erleben des Alltags einer Gastfamilie bei. Urteil des Bundessozialgerichts aus dem Jahre 1969. Schon damals haben sich die Spitzenverbände der Sozial- Aupairs müssen mindestens 17 Jahre alt sein, bei Min- versicherung darauf geeinigt, dass jedes so genannte so- derjährigen ist eine schriftliche Einverständniserklärung zialversicherungsfreie Betreuungsverhältnis besonderer des gesetzlichen Vertreters erforderlich. Es wird erwartet, Art überprüft werden soll, wenn das vereinbarte Taschen- dass Aupairs über gute Grundkenntnisse der deutschen geld mehr als ein Zwölftel der monatlichen Bezugsgröße Umgangssprache verfügen. Aupairs sollen sich ernsthaft beträgt. Heute liegt diese Grenze, bis zu der ein Aupair- und nachdrücklich um die Vervollständigung ihrer Kennt- aufenthalt ungeprüft angenommen wird, bei 213,33 DM. nisse der deutschen Sprache bemühen. Sie sollen aus vielen neuen und zum Teil ungewohnten, manchmal Nun hat es einen Widerspruch gegeben zwischen der schwierigen, aber schönen Eindrücken eine wertvolle Le- Empfehlung der Bundesanstalt für Arbeit, den jungen benserfahrung gewinnen. Menschen 400 DM Taschengeld zu zahlen und der bishe- rigen Praxis, bei diesem Betrag schon Missbrauch zu be- Wie kommt ein Aupairverhältnis zustande? Jede ange- fürchten. Im Oktober haben sich die Sozialversicherungs- hende Aupairgastfamilie darf Aupairs, die Staatsan- träger getroffen und verabredet, dass es bezüglich der gehörige anderer EU/EWR-Mitgliedstaaten sind, selbst Vermutungsgrenze zu einer Veränderung kommen muss. anwerben. Es besteht insoweit keine Verpflichtung, einen Die Bundesanstalt für Arbeit will deshalb bei der nächs- Vermittler in Anspruch zu nehmen. Bei Anwerbung eines ten Besprechung der Sozialversicherungsverbände darauf nicht EU/EWR-Aupairs muss ein inländischer Vermittler drängen, dass der empfohlene Taschengeldbetrag auch eingeschaltet werden. Zulässig ist auch die Selbstsuche gleichzeitig der Betrag der Grenze der ungeprüften Ver- einer Gastfamilie der angehenden Aupairs durch eigene mutung ist. Es wird also – vorbehaltlich der Zustimmung Initiative. der Sozialversicherungsträger – in Zukunft von einer Prü- Die täglichen Aufgaben eines Aupairs sind sehr unter- fung abgesehen werden, wenn offenbar alle rechtlichen schiedlich. Sie hängen ganz von der Eigenart und dem Le- Voraussetzungen eines Aupairaufenthalts vorliegen und bensstil der Familie ab, die das Aupair bei sich aufge- das Taschengeld nicht mehr als 400 DM beträgt. Damit ist nommen hat. diese Sache erledigt und Ihre Befürchtung auch. Im Allgemeinen gehören zum Alltag eines Aupairs: Für bedenklich halte ich allerdings einen Teil Ihrer Be- erstens die Verrichtung leichter Hausarbeiten, das heißt gründung. Es ist nicht vorrangiger Zweck der Aupairver- mitzuhelfen, die Wohnung sauber und in Ordnung zu hal- 19794 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001

(A) ten, ebenso das Helfen beim Waschen und Bügeln der Wä- hältnisse sollen wie schon die 630 DM Beschäftigungs- (C) sche; zweitens die Zubereitung des Frühstücks und einfa- verhältnisse und die Scheinselbstständigen die Löcher in cher Mahlzeiten; drittens die Betreuung jüngerer Kinder, den Sozialversicherungskassen stopfen. Das ist kein – das umfasst die Beaufsichtigung, die Begleitung auf Wunder die Löcher werden immer größer. Aber verwun- dem Weg in den Kindergarten oder in die Schule oder zu derlich ist doch, dass der Regierung kein Peanut klein ge- verschiedenen Veranstaltungen, Spaziergänge oder ge- nug ist, um ihn nicht auch noch zu vertilgen. In ihrer meinsames Spiel – ; viertens das Haus bzw. die Wohnung großen Hungersnot verleibt sich die Regierung alles ein, zu hüten und eventuell Haustiere zu betreuen. – So aus ei- was sie zwischen ihre Finger bekommt. Und jetzt sind die ner Information des Arbeitsamtes. Aupairs und ihre Gasteltern dran. Die Not ist freilich groß. Denn was sitzt Ihnen, liebe Kollegen der Regierungsko- Das alles ist zu verstehen als eine Erleichterung der Fa- alition, nicht alles im Nacken? Anfang 2002 werden die milienarbeit. Sozialbeiträge vermutlich auf über 41 Prozent steigen. Die tägliche Arbeitszeit soll grundsätzlich nicht mehr Rechnet man die Bundeszuschüsse in Höhe von 140 Mil- als fünf Stunden betragen. Überstunden müssten zeitlich liarden DM ein, liegt die Belastung faktisch bei 50 Pro- ausgeglichen werden. Insbesondere hat sich die Eintei- zent, schlechter als bei Regierungsantritt vor drei Jahren. lung der Arbeitszeit nach den häuslichen Gegebenheiten Die Schwankungsreserve in der Rentenversicherung soll und Bedürfnissen der Familie zu richten. aufgebraucht werden. Und ein weiterer Beitrags- und Ausgabenschub droht in den nächsten zwei Jahren. Und Unterkunft und Verpflegung werden von der Gastfa- das passiert, weil geeignete und notwendige Struk- milie unentgeltlich gestellt. Dem Aupair steht ein eigenes turreformen entweder nicht gemacht wurden oder wie die Zimmer innerhalb der Familienwohnung zur Verfügung. Gesundheits- und Rentenreform im Chaos endeten. Statt Das Essen erhält das Aupair wie die Familienangehörigen die Systeme zu stabilisieren, wurden sie destabilisiert. auch. Anzustreben ist eine Integration in die Gastfamilie. Das gilt für Beitragssätze wie für Leistungen. Bisher erfolgte die Versicherung durch die Gastfamilie für den Fall der Krankheit ebenso die Anmeldung zur gesetz- Wie hilflos die Regierung in dieser Situation ist, in ei- lichen Unfallversicherung und der Abschluss einer Haft- ner Situation, in der Milliardenbeträge von D-Mark in den pflichtversicherung. Das Ganze für rund 60 DM im Mo- Kassen fehlen, zeigt die Tatsache, dass man nun auch von nat. Ebenso erfolgt die Zahlung einer angemessenen gerade mal 28 000 Aupairverhältnisse auch noch Beiträge Vergütung, also eines Taschengeldes, das zurzeit übli- kassieren will. Ab Herbst will die Bundesanstalt für Ar- cherweise 400 DM beträgt und ab 213,33 DM sozialver- beit nahezu alle Aupairaufenthalte als sozialversiche- sicherungspflichtig sein soll. Die Gastfamilien solle eine rungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse einstufen: Integration des Aupairs in die Familien ermöglichen. Des- Ein Peanutsbetrag für die Sozialkassen, aber – und das ist (B) halb steht im Vordergrund das Anliegen, jungen Men- das Verwerfliche dabei – ein erheblicher Belastungsbetrag (D) schen durch einen solchen Aufenthalt die Möglichkeit zu für alle Gastfamilien, die dieses sinnvolle und wertvolle eröffnen, Lebenserfahrungen in anderen Ländern zu sam- Projekt in Anspruch nehmen und unterstützen. meln. Sprachen und Kulturen kennen zu lernen und letzt- Für die Gastfamilien heißt das monatliche Mehrkosten endlich auch den internationalen Beschäftigungsaus- in Höhe von 450/480 DM. Wer soll das bezahlen können, tausch zu fördern. Aupairs sollten Gäste in einer Familie meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen der Re- sein und das Familienleben und das kulturelle Leben des gierungskoalition? Sie wissen genau, dass das heißt: Au- Gastlandes der Gastfamilie kennen lernen. Das Aupair- pair, ade! verhältnis ist ein gegenseitiges Lernfeld. Das Bundesarbeitsministerium definiert zusammen Etwa 28 000 junge Menschen werden jährlich als Au- mit der Bundesanstalt für Arbeit und den Sozialkassen pair in eine deutsche oder ausländische Gastfamilie den Aupairstatus neuerdings als Arbeitnehmerstatus und vermittelt. Es freut uns alle sehr, dass in den vergangenen setzt die gesetzliche Sozialversicherungspflicht durch, Jahren insbesondere der Austausch mit den Ostländern obwohl das europäische Abkommen über die Aupairbe- immer intensiver wurde. schäftigung aus dem Jahr 1969 die Aupairs aus ganz be- Das Aupairverhältnis ist also ein bewährtes internatio- stimmten Gründen als eine Beschäftigungsgruppe be- nales Jugendaustauschprogramm. Aber auch die Gast- sonderer Art definiert. Aus blanker Not schafft man den familien sollen etwas davon haben: Erstens. Es hilft Fa- Arbeitgeber Familie und die Arbeitnehmerin Aupair. milien, insbesondere jungen Familien, Familie und Beruf Selbst der Kulturaustausch muss zum Abkassieren die- ohne staatliche Hilfe besser zu vereinbaren, und eröffnet nen. Was für ein Offenbarungseid! damit Eltern die Möglichkeit, trotz Kindern im Berufsle- Es ist wohl richtig, dass Aupairverhältnisse in den ver- ben zumindest teilweise zu verbleiben. Das gilt insbeson- gangenen Jahren auch missbraucht worden sind. Dem ist dere für Familien, die finanziell nicht zur gesellschaftli- Einhalt zu gebieten. Aber wenn Aupairs künftig als Haus- chen Oberschicht gehören, sondern zur großen Mitte. angestellte eingestuft werden, dann werden sie doch auch Zweitens. Es fördert das Verständnis zwischen unter- so behandelt. schiedlichen Kulturen und Nationen. In der heutigen Zeit Missbrauch muss verhindert werden, aber das eigentli- sind die internationale Verständigung und das gegensei- che Aupairverhältnis muss weiter möglich sein. Deshalb tige Verstehen ein absolutes Muss. beantragen wir: Erstens, dass Aupairverhältnisse bis zu ei- Und das soll nun alles vorbei sein? Aupairs, ade? Das nem Taschengeld von 400 DM/monatlich grundsätzlich ist hier die Frage. Und wenn ja, warum? Die Aupairver- sozialversicherungsfrei bleiben und zwar ohne Anrech- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19795

(A) nung geldwerter Leistungen für Verpflegung und Unter- Es ist unstrittig, dass für die betroffenen Familien, die (C) kunft; Zweitens, dass ein ausreichender Sprachkurs in häusliche Pflege zu leisten haben, eine Lösung gefunden deutscher Sprache Voraussetzung für die Sozialversiche- werden sollte, welche ihrer Situation Rechnung trägt. rungsfreiheit ist. Drittens, dass die wie bisher übliche Mit- Dies ist in der Tat künftig im Gesetzgebungsverfahren zu hilfe im Haushalt und der Sprachkurs von den Gasteltern klären, ist aber kein Votum für eine bestimmte Losung bei Beantragung der Einreiseerlaubnis dargelegt werden. und für eine bestimmte Verankerung. Insbesondere der Sprachunterricht bietet eine Ein Problem ist die Betreuung von Demenzkranken. Möglichkeit der Kontrolle. Und deshalb sollte dieser Diese werden nicht nach Pflegestufe III eingeordnet. Sie Voraussetzung sein. Die Teilnahme an einem Sprachkurs müssen häufig nicht aufwendig medizinisch gepflegt wer- bietet den Unterrichtspersonen die Möglichkeit, zu erken- den, aber zeitlich umfassend begleitet und betreut werden. nen oder herauszufinden, ob in einem Aupairverhältnis et- Aus diesem Grund entsteht eine Lücke zwischen den Mit- was schief läuft. Dies sollten wir im Sinne der jungen teln, welche die Familien aus der Pflegeversicherung er- Frauen unbedingt nutzen. Aber eine Untersuchung des halten können, und den Mitteln, die sie bräuchten, um eine Aupairverhältnisses durch die Sozialversicherungsträger Person in der Familie zu beschäftigen. In der Pflege- ist reine Schnüffelei. Dies sollten wir im Sinne der gelun- stufe III werden 1 800 DM ausgeschüttet, in der Pflege- genen Aupairverhältnisse tunlichst unterlassen. Denn die stufe II nur noch 800 DM. Es müsste entschieden werden, gelungenen Verhältnisse überwiegen. Und diese gilt es zu wie diese Lücke geschlossen werden könnte. Das Pflege- fördern. leistungsergänzungsgesetz weist den Ländern beispiels- weise Mittel zu, welche dazu verwandt werden sollen, die Stimmen Sie deshalb für unseren Lösungsvorschlag im Situation von Demenzkranken zu verbessern. Sinne der Rechtssicherheit für Aupairs und ihre Gasteltern und der Förderung von Aupairverhältnissen. Verhindern Es sollte deshalb ausgelotet werden, welche Möglich- Sie mit uns, was der Bundesarbeitsminister zusammen mit keiten die Länder haben, einen ergänzenden Bedarf zu der Bundesanstalt für Arbeit und den Sozialkassen plant. decken und welche bundesgesetzlichen Hürden dafür zu Oder wollen Sie es verantworten, wenn es in Deutschland beseitigen wären. Die Länder haben nach Einführung der künftig nur noch heißt: Aupairs ade! Pflegeversicherung erhebliche Mittel bei der Hilfe zur Pflege eingespart. Sie sollten und wollten diese in die Pflegeinfrastruktur investieren, haben dies aber nur sehr Ekin Deligöz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die FDP begrenzt getan. unterstellt in ihrem Antrag, dass Aupairs der Sozialversi- cherungspflicht unterworfen werden sollen. Dies trifft Es sind also noch einige Fragen offen, die sicher im nicht zu, der Antrag ist deshalb hinfällig. Die Bundesan- Rahmen der Ausschussberatungen eine Rolle spielen wer- (B) stalt für Arbeit wird lediglich das Merkblatt für die Anmel- den – auch wenn die beiden Oppositionsanträge das (D) dung von Aupairs verändern und dabei eine definitorische Thema verfehlen. Klarstellung vornehmen. Auch in Zukunft soll eine Tätig- keit als Aupair nicht als Beschäftigung gewertet werden. Dirk Niebel (FDP): Aupairaufenthalte fördern das ge- Eine definitorische Klärung, um Rechtssicherheit zu genseitige Kennenlernen zwischen Menschen verschiede- schaffen – wie es der CDU/CSU-Antrag fordert – findet ner Nationen ohne größeren finanziellen Aufwand. Sie damit bereits statt. Wir müssen diesen im Prinzip sehr be- sind als wichtiges Kulturgut für den internationalen Ju- rechtigten Antrag ablehnen, weil er bereits erledigt ist. gendaustausch anerkannt. Aupairs werden als Familien- mitglieder auf Zeit und als Gäste aufgenommen. Grundsätzlich können Aupair auch künftig sowohl bei der Erfüllung häuslicher Arbeiten als auch in der Betreu- Aupairs sind keine Hausangestellten. Sie helfen bei ung älterer Menschen eingesetzt werden. Ihre Tätigkeit den anfallenden familienüblichen Arbeiten und bei der beschränken sich nicht auf die Mitwirkung bei der Be- Kinderbetreuung in der Gastfamilie mit. Dies ist keine so- treuung von Kindern oder im Haushalt. Hinzu kommt: zialversicherungspflichtige Berufstätigkeit. Aupairs ha- Grundsätzlich können Familien auch Aupairs bei sich auf- ben die Möglichkeit, am Familienleben und am kulturel- nehmen, welche nicht aus der EU kommen. len Leben teilzunehmen. Im Vordergrund steht das Erlernen der Sprache und das Kennenlernen von Land In den vergangenen Jahren zeichnet sich anscheinend und Leuten. die Tendenz ab, dass vermehrt Personen aus Osteuropa als Aupair in Familien leben und diese vorwiegend in die Be- Das Infoblatt der Bundesanstalt für Arbeit für Gastfa- treuung älterer Menschen eingebunden sind. Dies ist an milien empfiehlt Hausarbeiten von nicht mehr als 5 Stun- sich nicht problematisch. Problematisch ist, dass diese den täglich an höchstens 5 Tagen pro Woche. Dazu soll ein Menschen weniger ein Interesse daran haben, Land und angemessenes Taschengeld von zurzeit 400 DM monat- Leute kennen zu lernen und die Sprache zu erlernen. Das lich gezahlt und ein eigenes Zimmer gestellt werden. Interesse dieser Menschen geht eher darauf hinaus, einer Aupairs müssen an Sprachkursen teilnehmen und erhalten Beschäftigung nachzugehen und Geld zu verdienen. Dies Urlaub. Wenn Familien sich nicht an die im Merkblatt ge- widerspricht dem Geist der Aupairregelungen. Insofern forderten Mindeststandards halten, werden Visa, Aufent- halts- und Arbeitsgenehmigungen oftmals überhaupt ist zu fragen, ob die Tätigkeiten dieser Menschen nicht nicht erteilt. doch eher den Charakter einer sozialversicherungspflich- tigen Beschäftigung trägt. Auch darüber sollten wir offen Jetzt will die Bundesanstalt für Arbeit in Kooperation diskutieren. mit den Rentenversicherungsträgern Aupairaufenthalte 19796 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001

(A) als sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhält- Im Europäischen Abkommen über Aupairbeschäfti- (C) nisse einstufen. Die Tätigkeit eines Aupairs bis zu gung werden Aupairs als eine Beschäftigungsgruppe be- 30 Stunden pro Woche übersteigt die für geringfügige Be- sonderer Art zwischen Studenten und Arbeitnehmern de- schäftigungen erlaubten 15 Stunden. Das empfohlene Ta- finiert. Aupairbeschäftigung besteht in der zeitlich schengeld von 400 DM übersteigt mit den geldwerten begrenzten Aufnahme von jungen Ausländern, die ihre Leistungen sicherlich einen 630 DM-Minijob. Wenn man Sprachkenntnisse vervollständigen und ihre Allgemein- nicht mehr wie bisher von einem Betreuungsverhältnis bildung durch eine bessere Kenntnis des Gastlandes er- besonderer Art ausgeht, sondern von einem Arbeitsver- weitern wollen. Deutschland hat das Abkommen zwar hältnis, besteht Sozialversicherungspflicht. nicht ratifiziert, aber wir haben es so praktiziert. Die Spitzenverbände der Sozialversicherung legen Etwa 28 000 junge Menschen werden jährlich als fest, dass ein Taschengeld von 213,33 DM für die alten Aupair in eine deutsche oder ausländische Gastfamilie und 180 DM für die neuen Bundesländer den Aupairsta- vermittelt. Nach der bisherigen Praxis prüfen die zu- tus festigt. Dies ist wahrlich kein luxuriöser Taschengeld- ständigen Krankenkassen als Einzugsstelle des Gesamt- satz für erwachsene junge Menschen. Ich frage Sie, wie sozialversicherungsbeitrags die Voraussetzungen für die bei den heutigen Lebenshaltungskosten davon noch kul- Sozialversicherungsfreiheit bzw. Sozialversicherungs- turelle Veranstaltungen und Sprachkurse bezahlt werden pflichtigkeit im Einzelfall. sollen. Junge Menschen wollen doch auch einmal etwas erleben und ins Cafe, Kino oder Theater gehen. Die von der Bundesanstalt für Arbeit geplante Ände- rung der Merkblätter würde die gesetzliche Sozialversi- Mit der Sozialversicherungspflicht erhalten Gastfami- cherung mit allen Folgekosten zur Pflicht machen. lien Arbeitgeberstatus und Aupairs werden Arbeitnehmer. Aupairaufenthalte werden dadurch unnötig bürokratisiert Auf die Gastfamilien kommen dann monatlich Mehrkos- und künstlich verteuert. ten in Höhe von 450 bis 580 DM für gesetzliche Kran- ken-, Pflege-, Renten- und Arbeitslosenversicherung zu. Aupairs werden niemals Nutzen aus ihren Beiträgen Bisher werdenAupairs in Höhe von etwa 60 bis 80 DM im für Renten-, Arbeitslosen- und Pflegeversicherung ziehen Monat privat kranken-, unfall- und haftpflichtversichert. können, weil ihr Aufenthalt vorher beendet wird. Es ist auch verfassungsrechtlich bedenklich, wenn zukünftig Ich habe diesen Gruppenantrag mit Stimmen von FDP, die Aupairs als Arbeitnehmer und die Gastfamilie als Ar- CDU/CSU und PDS initiiert, damit das Sozialgesetzbuch beitgeber mit Beiträgen belastet werden, die sich für die dahingehend klargestellt wird, dass Aupairaufenthalte Aupairs faktisch nicht in Leistungen der Sozialversiche- nicht als Beschäftigungsverhältnisse eingestuft werden, rungsträger niederschlagen werden. sondern als Betreuungsverhältnisse besonderer Art. Es liegt die Vermutung nahe, dass es wieder mal nur (B) Aupairaufenthalte dürfen grundsätzlich nicht sozialversi- (D) cherungspflichtig sein. ums Abkassieren geht. Aber 28 000 Aupairs werden un- sere maroden Sozialkassen nicht sanieren können! Das Ich finde es kontraproduktiv, dass die Union nun mit schaffen nur echte Strukturreformen! einem eigenen Antrag die Sache zu einer parteipolitischen Angelegenheit macht. Dieser Antrag ist inhaltlich weni- Die zusätzliche finanzielle Belastung für die Gastfami- ger konstruktiv und fällt mit seinen Forderungen hinter lien wird die Motivation erheblich dämpfen, einem unseren Gruppenantrag zurück. Es ist auch schade, dass Aupair einen Aufenthalt zu ermöglichen. Viele Gastfami- SPD und Grüne sich nicht am Gruppenantrag beteiligen. lien werden sich dann kein Aupair mehr leisten können. Wahrscheinlich dürfen sie nicht, seit Müntefering das Ge- Über die Einkommensklassen von Gastfamilien gibt es wissen abgeschafft hat. nach Auskunft der Bundesregierung keine Daten. Es ist aber davon auszugehen, dass Aupairaufenthalte in Fami- Wir fordern die Bundesregierung auf, gesetzlich zu re- lien aller Einkommensklassen angeboten werden. geln, dass Aupairs unter 25 Jahren sozialversicherungsfrei gestellt werden bei einem Aufenthalt bis zu einem Jahr für Aupairaufenthalte haben keine Auswirkungen auf den eine Beschäftigung in einer Familie bis zu höchstens deutschen Arbeitsmarkt. Sie stehen nicht in Konkurrenz 5 Stunden täglich bzw. höchstens 30 Stunden wöchentlich zu Arbeitsverhältnissen. Aber die Kinderbetreuung durch ohne Anrechnung geldwerter Leistungen für Verpflegung Aupairs ermöglicht oftmals die Vereinbarkeit von Familie und Unterkunft und bei Zahlung eines Taschengeldes von und Beruf und die Rückkehr eines Elternteils in den Ar- derzeit 400 DM monatlich. Das ist die Festschreibung des beitsmarkt. Dies gewinnt vor dem Hintergrund des stei- derzeit gültigen Standards. Hier geht es um Rechtssicher- genden Weiterbildungs- und Qualifizierungsbedarfs ei- heit, nicht um irgendeine Neuregelung. nerseits und des Arbeitskräfte- und Fachkräftemangels andererseits zunehmend an Bedeutung. Durch die fakti- Das Bundessozialgericht hat in einem Urteil vom 29. Ok- sche Abschaffung von Aupairaufenthalten wird nach den tober 1969 festgestellt, dass eine von einem deutschen Einschränkungen bei der steuerlichen Abzugsfähigkeit Aupair im Ausland bei einer Familie ausgeübte Halbtags- von Haushaltshilfen und Kinderbetreuungsleistungen tätigkeit als ein Betreuungsverhältnis besonderer Art an- Schwarzarbeit in privaten Haushalten gefördert. zusehen ist, wenn sie ausschließlich dem Zweck dient, die Kenntnisse in der Sprache des Gastgeberlandes zu ver- Ein Aupairaufenthalt ist eine kostengünstige Möglich- bessern. Es ist keine Beschäftigung gegen Entgelt im keit für junge Erwachsene, neue Länder, Sprachen und Sinne der Sozialversicherung, auch wenn neben freier Kulturen kennen zu lernen. Viele Aupairs machen Erfah- Unterkunft und Verpflegung geringe Barbezüge gewährt rungen und Kontakte in dieser Zeit, die ein Leben lang werden. nachwirken. Die faktische Abschaffung der Aupairaufent- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19797

(A) halte wird sich nachteilig auf den Jugendaustausch, die ich aber deutlich fest: Wir weichen nicht von der Position, (C) kulturelle und sprachliche Begegnung der Völker und die dass jede Arbeitsstunde sozialversicherungspflichtig sein internationale Verständigung auswirken. sollte. Nur so wäre Versicherungsschutz gewährt, gäbe es Aupairs gehen meist „german-minded“ in die Heimat keine prekäre Beschäftigung und die Sozialversicherun- zurück. Das ist preiswerte und nachhaltige Deutschland- gen bekämen ein bisschen mehr Beiträge. Werbung der allerbesten Art. Bei Einkommen bis zu 630 Mark sollten die Ich plädiere dafür, dass der Deutsche Bundestag unse- Beiträge aber vom Arbeitgeber übernommen werden, rem Gruppenantrag aus der Mitte der Abgeordneten seine mit dem Ziel, tariflich entlohnte Vollzeitbeschäftigung Zustimmung gibt und damit seine Verantwortung und sei- wieder attraktiver zu machen, indem die geringfügige nen Willen zeigt, dass dieses wichtige Instrument der Völ- Beschäftigung verteuert wird und so die Schleichwege kerverständigung nicht beeinträchtigt wird. aus der Sozialversicherung verbaut werden und nor- male, Vollzeitarbeitsplätze für den Arbeitgeber wieder rechnen. Pia Maier (PDS): Mein Anliegen als Miteinreicherin dieses Antrages ist die Schaffung von Rechtssicherheit, Aber bei den Aupairs, um die es hier ja nur geht, geht die Feststellung, dass Aupairs keine Arbeitnehmerinnen es eben nicht um Arbeit, sondern um einen Kulturaus- sind, die für ihre Arbeit Lohn bekommen und sozialversi- tausch, der in einer entsprechenden Rechtslage und cherungspflichtig sind. Rechtssicherheit stattfinden muss. Sonst vergeben wir Familien hierzulande die Chance, zu Hause Kulturaus- Was tun eigentlich Aupairs? Sie hüten Haus, Kinder tausch zu erleben, weil wir Aupairs mit Hausangestellten und Haustiere und helfen im Haushalt. Das darf nicht län- verwechseln. Wir behindern viele junge Leute, Deutsch ger als fünf Stunden am Tag dauern und ein Tag in der Wo- zu lernen und dieses Land von innen kennen zu lernen, che muss mindestens frei sein. Außerdem besuchen sie ei- wenn wir Taschengeld mit Arbeitslohn verwechseln. Das nen Sprachkurs. ist kein gutes Aushängeschild für ein Land, das Fachkräfte Im Gegensatz zu „normalen“ Kindern einer Familie mit Greencards ins Land holen will, das Zuwanderung können sich Aupairs beschweren, wenn sie zu lange ar- braucht, das ein weltoffenes Land sein will und das gerne beiten müssen, ausgebeutet werden, ihnen jemand an die möchte, dass die eigene Jugend im Ausland Erfahrungen Wäsche will oder die zwischenmenschlichen Beziehun- sammelt. gen einfach ganz und gar nicht funktionieren wollen. Sie bekommen freie Kost und Logis und ein Taschengeld. Die Bundesanstalt für Arbeit empfiehlt 400 Mark im Monat, Anlage 4 was im Alter von 18 bis 27 heute wohl angemessen ist. Im (B) Großen und Ganzen sind sie also normale Mitglieder ei- Zu Protokoll gegeben Reden (D) ner Familie, mit normalen Familienpflichten, nur eben aus, einem anderen Land zu Besuch, in der Regel für 6 bis zur Beratung des Antrags: Hilfe für die Opfer 12 Monate. der Colonia Dignidad (Tagesordnungspunkt 11) Hier liegt ein – um im Fachchinesisch zu bleiben – be- sonderes Betreuungsverhältnis vor. Sie sind Familienmit- Lothar Mark (SPD): Ich bin sehr dankbar, dass ich glieder auf Zeit, keine Hausangestellten. Wenn sich eine heute die Problematik „Colonia Dignidad“ in einem so Familie hierzulande entscheidet, ein/e Aupair aufzuneh- bedeutenden öffentlichen Raum vortragen kann. Diese men, stellen sich folgende Fragen: Können wir die Tatsache ist keinesfalls selbstverständlich. Sie stellt für menschliche Betreuung leisten? Können wir Alltagskultur eine Vielzahl von Angehörigen der Opfer die einzige aus diesem Land vermitteln? Können wir einen weiteren Hoffnung dar, an die sie sich klammern können. Menschen in der Familie aufnehmen? Solche Fragen stellt Die Colonia Dignidad ist eine hermetisch von der man bei der Einstellung eines Butlers nicht. Außenwelt abgeschlossene Kolonie im Süden Chiles. In Für die Entscheidung aufseiten der Aupairs wiederum ihr leben schätzungsweise 350 Deutsche in totaler Ab- stellen sich folgende Fragen: Welches Land möchte ich hängigkeit von einer kriminellen Führungsgruppe um den kennen lernen, ohne dort zu studieren? Welche Sprache Gründer Paul Schäfer. Der Zugang zur Außenwelt wird möchte ich intensiv und in der Alltagssprache lernen? ihnen verwehrt; schwerste Menschenrechtsverletzungen Kann ich mich in einen fremden Haushalt mit fremden sind an der Tagesordnung: Die in Rede stehenden Vor- Regeln einfinden? Solche Fragen stellt man nicht vor An- würfe reichen von physischer und psychischer Misshand- tritt einer Beschäftigung als Dienstmädchen. lung, insbesondere sexuellem Missbrauch von Minder- jährigen in unzähligen Fällen, bis hin zu Mord. Nach Als Miteinreicherin ist mein Ziel in diesem Antrag die glaubhaften Zeugenaussagen werden in der Colonia Festschreibung, dass Aupairs keine Beschäftigten sind, Dignidad alle familiären Bindungen zerstört. Auf diese dass sie ein Taschengeld bekommen und kein Arbeitsent- Weise werden zum Beispiel ideale Opfer für die pädophi- gelt und dass sie für dieses Geld deswegen so wenig sozi- len Neigungen Schäfers herangezogen. Eltern stehen of- alversicherungspflichtig sind wie Kinder, die genauso viel fenbar so unter dem Einfluss der Sekte, dass sie nicht in Taschengeld zur Verfügung haben und dafür mehr oder der Lage sind, ihre Kinder gegen den Missbrauch zu weniger Familiendienst leisten müssen. schützen oder diesen sogar akzeptieren. Darüber hinaus Die PDS unterstützt diesen Antrag; einige Fraktions- deuten verschiedene Zeugenaussagen auf eine politische mitglieder haben ihn mit eingebracht. Zum Schluss stelle Komplizenschaft der Führung der Colonia Dignidad mit 19798 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001

(A) dem Militärregime unter Pinochet hin. In der Kolonie sol- zum Schutz minderjähriger Opfer aufgenommen. Im Zen- (C) len politische Gefangene gefoltert und ermordet worden trum der Untersuchung standen auf begründeten Verdacht sein. Es ist sogar von Invasionsplänen nach Argentinien hin zwei Söhne von Koloniebewohnern. Der zuständige die Rede, die dort ausgearbeitet worden seien. Jugendrichter ordnete an, die beiden von Ärzten und Psy- chologen untersuchen zu lassen. Die Polizei fand aber we- Die chilenischen Behörden konnten bisher nur wenige der sie noch ihre Eltern in der Kolonie. Die Führer der Or- Erfolge gegen die Colonia Dignidad erzielen. Zehn Jahre ganisation stritten beharrlich ab, etwas über ihren nach Aberkennung ihrer Rechtspersönlichkeit als gemein- Verbleib zu wissen. Erst im Mai dieses Jahres, also mehr nützige Vereinigung zeigen sich nicht die beabsichtigten als drei Jahre später, wurden die beiden Brüder unter selt- Wirkungen. Im Gegenteil, es wird versucht, den alten Zu- samen Umständen in der Hauptstadt Santiago ausfindig stand durch juristische Verfahren wieder herzustellen. Die gemacht. Der ältere hatte zu diesem Zeitpunkt bereits sein Kolonie operiert unter anderem Namen, aber mit den glei- 18. Lebensjahr vollendet. Somit konnte sein Schutz durch chen Merkmalen einer kriminell verdächtigen Organisa- das Jugendgericht nicht mehr gewährleistet werden. Ein tion. Der vom chilenischen Staat eingeschlagene Pfad, das solches Vorgehen, Minderjährige dem Zugriff des Staates Problem auf justiziellem Wege zu lösen, ist richtig, aber bis zu ihrer Volljährigkeit zu entziehen, scheint Methode langwierig. In der Vergangenheit stieß die chilenische Jus- zu sein. Der zwei Jahre jüngere Bruder hingegen wurde tiz oftmals an ihre Grenzen, wenn es darum ging, gegen dem Jugendrichter vorgeführt und zu seinem Schutz in ei- das Heer gut bezahlter Anwälte der Kolonie und noch im- ner staatlichen Fürsorgeeinrichtung untergebracht. Gegen mer einflussreicher Freunde der Gerechtigkeit Genüge zu diese Maßnahme legte die Colonia Dignidad beim über- tun. Korruption und Erpressung scheinen die Colonia geordneten Berufungsgericht Beschwerde ein. Das Beru- Dignidad über lange Zeit abgesichert zu haben. Gerade fungsgericht gab dieser Beschwerde statt. Es ordnete an, deswegen müssen auch verstärkt politische Schritte un- den Jungen seinen Eltern zu übergeben. Ferner verfügte es ternommen werden. Über Jahre, gar Jahrzehnte hinweg ist eine Strafe gegen den ermittelnden Jugendrichter. Diese dieses Thema bei uns in der politischen Diskussion fast Entscheidung wurde vom obersten Gerichtshof bestätigt. nicht vorgekommen. Wir müssen uns fragen lassen, Seit diesem Zeitpunkt gibt es keine Nachricht des Min- warum wir uns bisher nicht intensiv genug mit dieser Pro- derjährigen. Am wahrscheinlichsten ist, dass er sich wie- blematik befasst haben? Mit diesem Antrag setzen wir als der auf dem Gelände der Kolonie befindet. Seine Eltern Regierungsfraktion ein Zeichen. Unserer Meinung nach sind zu keiner der weiteren Vorladungen durch das Ju- wurde das Thema Colonia Dignidad von Vorgängerregie- gendgericht erschienen. rungen, nicht in angemessener Weise beachtet und in sei- ner Brisanz erkannt. Bundesminister Fischer hat nach der Unserer Auffassung nach bedürfte dieser Minder- Verhaftung Augusto Pinochets am 16. Oktober 1998 in jährige eigentlich des Schutzes und der Hilfe einer Ein- (B) London versichert, dem Problem Colonia Dignidad in den richtung mit entsprechenden therapeutischen Möglichkei- (D) deutsch-chilenischen Beziehungen Priorität einzuräu- ten. Stattdessen wurde er wieder in die Hände einer Sekte men. Dies ist sehr zu begrüßen. Auch innerhalb unserer gegeben, deren Aktivitäten darauf ausgerichtet scheinen, Fraktion ist Bewegung in die Sache gekommen: Hans die pädophilen Neigungen des Leiters zu befriedigen und Büttner und ich sind in diesem August nach Chile gereist, seine Straffreiheit sicherzustellen. Aussagen von Minder- um uns über die aktuelle Situation und die Einschätzung jährigen, denen es gelungen ist, die Kolonie zu verlassen, des Problems auf chilenischer Seite zu informieren. Die- belegen diesen Eindruck in bewegender und dramatischer ser Antrag ist auch Ergebnis unserer Eindrücke und Er- Weise. kenntnisse. Er bringt die Überzeugung zum Ausdruck, An diese Erkenntnisse schließt sich die Frage an: Was dass die vielschichtige und komplexe Problematik nur können wir jetzt tun, um den Opfern zu helfen? Was kön- durch intensive koordinierte Bemühungen beider Seiten nen wir tun, um diesen unerträglichen Zustand fort- gelöst werden kann. Festzuhalten bleibt allerdings, dass währender Menschenrechtsverletzungen durch deutsche wir uns nicht in die inneren Angelegenheiten Chiles ein- Staatsbürger wirksam abzustellen? mischen, sondern wir wollen konstruktiv zur Seite stehen. Ich plädiere dafür, dass wir uns unserer Verantwortung Seit Juli 1996 wurden verschiedene Strafverfahren ge- stellen, indem wir die chilenischen Behörden bei ihrem gen den flüchtigen Schäfer und die wichtigsten Führungs- Vorgehen gegen die kriminelle Führungsgruppe unterstüt- personen der Colonia Dignidad aufgenommen. Dennoch zen. Es ist unbedingt erforderlich, deren kriminelle konnten all diese richterlichen Ermittlungen und des chi- Machenschaften weiter aufzuklären und damit eine Straf- lenischen Kongresses bisher nicht verhindern, dass die verfolgung zu ermöglichen. Deshalb schlagen wir die Kolonie als mächtige Organisation und Wirtschaftsfaktor Einsetzung einer bilateralen Expertenkommission vor. fortbesteht. Noch immer ist eine gewisse Akzeptanz in der Sie soll die konkreten Engpässe und Hemmnisse auf chi- chilenischen Öffentlichkeit gegenüber der Colonia Dig- lenischer Seite identifizieren und Vorschläge erarbeiten, nidad zu beobachten, die auf Fehleinschätzungen zurück- wie diese – auch mit deutscher Hilfe – behoben werden zuführen ist. Alle Aktivitäten konnten bisher auch nicht können. Davon, dass solche Blockaden vorhanden sind, verhindern, dass die Kolonie weiterhin das Schicksal ih- konnten wir uns in verschiedenen Gesprächen mit verant- rer Bewohner bestimmt und die Sicherheit ihrer überle- wortlichen Ermittlern und Politikern in Santiago überzeu- benden Opfer gefährdet. gen. Die Colonia Dignidad ist ein fast übermächtiger Dies ließe sich an verschiedenen Beispielen verdeutli- Gegner: Sie ist mit modernsten Radar- und Überwa- chen. Ich will hier nur ein Schicksal herausgreifen: 1997 chungssystemen ausgestattet. Es gibt unterirdische Anla- wurde vom zuständigen Provinzgericht ein Verfahren gen, in denen Personen über längere Zeit versteckt wer- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19799

(A) den können. Die Zufahrt zur Kolonie liegt 36 Kilometer Colonia Dignidad, heute umbenannt in Villa , ein (C) von der nächsten Hauptverkehrsstraße entfernt. Ein unbe- circa 400 Kilometer südlich von Santiago de Chile ange- merkter Zugriff von Polizeikräften erscheint fast unmög- siedeltes landwirtschaftliches Gut, einen eher unerfreuli- lich. Die uns signalisierte Entschlossenheit der chileni- chen Aspekt in den langen freundschaftlichen Beziehun- schen Seite, gegen die Kolonie vorzugehen, resultiert gen zwischen Deutschland und Chile darstellt. Die nicht zuletzt aus dieser Tatsache: Der chilenische Staat Colonia Dignidad, die 1961 unter dem Namen „Sociedad verzichtet de facto auf die Ausübung seines Machtmono- Benefactora Educacional Dignidad“ in Chile von ausge- pols in einem nicht zu vernachlässigenden Teil seines Ter- wanderten Sektenmitgliedern der „Privaten sozialen Mis- ritoriums. Eine bilaterale, ressortübergreifende Experten- sion e.V.“ gegründet worden ist, hatte sich über die Jahr- kommission wäre in der Lage, die bisher gesammelten zehnte zu einem nicht unbedeutenden Wirtschaftsfaktor in Erfahrungen und Informationen zu bündelnd. Bislang er- der südchilenischen Region Maule entwickelt. Reisanbau, folgten einzelne, zeitlich befristete und unkoordinierte Salzproduktion, eine Großbäckerei, ein Wasserkraftwerk Maßnahmen gegen die Colonia Dignidad. Diese müssten sowie Steinbruchanlagen und Gold- und Titanminen sind aufeinander abgestimmt und im Rahmen einer Gesamt- Beispiele für die dortigen teilweise sehr einträglichen strategie erweitert werden. wirtschaftlichen Aktivitäten. Der wirtschaftliche Auf- schwung der Colonia Dignidad wurde allerdings begleitet Im Mittelpunkt sollten dabei die Koloniebewohner ste- von stetigen Vorwürfen gegen die Leitung der Colonia hen. Ihre Isolation muss aufgehoben werden. Gleichzeitig Dignidad, insbesondere deren Chef namens Paul Schäfer, ist ihre psychologische Betreuung sicherzustellen. Wie die dort wohnenden circa 350 deutschen Koloniemitglie- schon bei anderen Sekten zu beobachten war, kann kol- der zu entmündigen und auszubeuten sowie anvertraute lektiver Selbstmord nicht ausgeschlossen werden. Er deutsche und chilenische minderjährige Jugendliche se- wäre die Reaktion auf eine vermeintliche „Bedrohung xuell zu missbrauchen. von außen“. Es gibt sicherlich viele denkbare „Post-Be- freiungsszenarien“, wie ich es nennen möchte. Die ange- In Deutschland sind gegen die Colonia Dignidad di- sprochene Expertenkommission muss gerade im Bereich verse Ermittlungsverfahren eingeleitet worden auf der psychologischen und psychosozialen Betreuung Grundlage von strafrechtlich relevanten Vorwürfen, die äußerst leistungsfähig sein. Es müssen tragfähige Kon- von ehemaligen Angehörigen der Colonia Dignidad erho- zepte dazu entwickelt werden, wie langfristig eine Re- ben worden waren. Auch die Justiz in Chile ist nicht integration der Bewohner in die chilenische oder deutsche untätig geblieben. 1991 wurde der Colonia Dignidad die Gesellschaft erreicht werden kann. Dieser Prozess wird Rechtspersönlichkeit entzogen. Gegen den seit 1996 un- von längerer Dauer sein und unterstützend begleitet wer- tergetauchten Kolonieleiter Paul Schäfer liegt mittler- den müssen. weile sowohl ein deutscher als auch ein chilenischer Haft- (B) befehl wegen sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen (D) Die genannten Aufgaben sind nicht einfach, aber auch vor. Hinzu kommen weitere 70 in Chile eingeleitete Straf- nicht unlösbar. Es gibt in letzter Zeit viel versprechende und Zivilverfahren gegen Schäfer und sonstige Kolonie- Entwicklungen, die mich zuversichtlich stimmen: Vor we- mitglieder. Letztes Jahr ist es der chilenischen Polizei so- nigen Wochen wurden von der französischen Justiz 15 in- gar gelungen, mit Gerhard Mücke und Kurt Schellenkamp ternationale Haftbefehle gegen frühere chilenische Mi- die Nummern 2 und 3 in der Hierarchie der Kolonie fest- litärs und gegen Paul Schäfer erlassen. Im vergangenen zunehmen. Juni hatte erstmals ein ehemaliges Mitglied des chileni- schen Geheimdienstes unter Eid indirekt zugegeben, dass Nach Auffassung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion politische Gefangene in die Colonia Dignidad verbracht sind die Sachverhaltsbeschreibungen im hier zu debattie- wurden, um sie dort zu ermorden. In wenigen Tagen wer- renden Antrag „Schnelle Hilfe für die Opfer der Colonia den verschiedene Ermittlungsverfahren der chilenischen Dignidad“ der Regierungskoalition überwiegend zutref- Behörden gegen Schäfer und Komplizen abgeschlossen. fend. Auch unsere Fraktion, sieht die Notwendigkeit, die- Insofern signalisiert unser Antrag zu einem günstigen ses gemeinsame dunkle Kapitel deutsch-chilenischer Ver- Zeitpunkt die deutsche Bereitschaft zu gemeinsamem gangenheit intensiv aufzuarbeiten und schnellstmöglich Handeln. darauf hinzuwirken, dass die Verantwortlichen zur Re- chenschaft gezogen werden und den Opfern möglichst Im Zusammenhang mit den in New York und Wa- bald eine Schadensgutmachung zukommt. Die CDU/ shington verübten Terrorakten wird in diesen Tagen oft CSU-Fraktion wird den Antrag aber ablehnen, weil sein das Bild eines Anschlags auf die „zivilisierte Welt“ ange- Gesamttenor den nicht zutreffenden Eindruck eines un- führt. Wir sollten uns dieser Bezeichnung als würdig er- genügenden Engagements der chilenischen Regierung weisen. Dies ist im vorliegenden Fall mit verhältnismäßig und Justiz bei der Aufarbeitung des Colonia-Dignidad- geringen Mitteln möglich. Lassen Sie uns die eingangs er- Unrechts vermittelt und damit die demokratisch legimi- wähnte Hoffnung der Angehörigen nicht enttäuschen und tierte chilenische Regierung unmittelbar vor den Parla- das leidvolle Thema schonungslos aufarbeiten! Persön- mentswahlen Mitte Dezember in eine prekäre Lage lich bin ich meiner SPD-, der Bündnis 90/Grünen- und der bringt, die einer weiteren Stabilisierung der Demokratie FDP-Fraktion sehr dankbar, dass sie diesen Antrag er- in Chile nicht unbedingt dienlich sein kann. möglichten und mittragen. Ich werfe dem Antrag vor, dass er zwar eine Reihe rich- tiger Fakten nennt, andere genauso erwähnenswerte, die Klaus-Jürgen Hedrich (CDU/CSU): Kaum einer un- chilenische Regierung und Justiz entlastende Fakten aber ter den hier Anwesenden wird in Zweifel ziehen, dass die unterschlägt. In diesem Zusammenhang verweise ich auf 19800 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001

(A) den im Antrag aufgeführten und sicherlich zutreffenden tum gewählt hat. Im Übrigen komme ich nicht umhin, auf (C) Vorwurf gegen die Colonia Dignidad, während der Pino- die besondere politische Ironie hinzuweisen, dass die Op- chet-Diktatur als Haft- und Verhörzentrum des chileni- positionsfraktion der CDU/CSU hier im deutschen Bun- schen Geheimdienstes DINA gedient und für die Folte- destag gegenüber der rot-grünen Regierungskoalition für rung oder sogar Tötung von Regimegegnern zur mehr Verständnis zugunsten eines sozialistischen Präsi- Verfügung gestanden zu haben. So wenig ich dies be- denten Chiles plädieren muss. Aber gerade zu diesem für streite, so wenig kann aber auch bestritten werden, dass Chiles demokratische Zukunft so wichtigen Zeitpunkt sich heutzutage die chilenische Regierung und Justiz in- sollten wir parteipolitisches Geplänkel wirklich hintan- tensiv um eine Aufarbeitung der Verbrechen der Pinochet- stellen und in unserem Tun klare Prioritäten im Interesse Ära bemühen. Chiles Justiz mag zwar noch so mancher der chilenischen Demokratie und des chilenischen Volkes Reform bedürfen, doch der Umgang mit den Verbrechen setzen. Und diese Prioritätensetzung kann nur heißen: Zu- der Vergangenheit zeigt, dass sich die chilenischen erst die Stabilisierung der chilenischen Demokratie in den Richter aus dem Würgegriff Pinochets und der Militärs Wahlen Mitte Dezember und dann ein Antrag aus dem gelöst haben. Präsident Lagos, immerhin der erste sozia- Deutschen Bundestag zum Thema „Colonia Dignidad“. listische Präsident Chiles nach dem gewaltsamen Sturz Denn das möchte ich nochmals ausdrücklich betonen: von Präsident Salvador Allende im Jahre 1973, hat kon- Auch die CDU/CSU hat sich und wird sich auch weiter struktiv hierzu beigetragen, indem er das chilenische Mi- nachdrücklich für eine Ausarbeitung, Ahndung und Wie- litär immer wieder auf seinen Platz im Rechtsstaat ver- dergutmachung der in der Colonia Dignidad begangenen wies. Viele Chilenen hoffen und erwarten nun, dass in den Verbrechen und Menschenrechtsverletzungen einsetzen. kommenden Monaten und Jahren noch so mancher Ich hoffe, mit meiner Rede die außenpolitische Sensi- Scherge des Diktators Pinochet für Entführung, Folter bilität der rot-grünen Regierungskoalition so wachgeru- und Mord ins Gefängnis kommen wird. Die Verfahren fen zu haben, dass sie die mit ihrem Antrag verbundene laufen, und fast täglich kommen neue hinzu. außenpolitische Problematik erkennt und ihn zurückzieht. Auch darf nicht vergessen werden, wie erfolgreich, aber mühsam die chilenische Demokratie seit dem Beginn Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- der 90er-Jahre für ihre Stabilisierung gekämpft hat. Und NEN): Auch wenn dieser Tage die Menschenrechte in der Übergang zu einer vollen Demokratisierung ist noch Afghanistan mehr Beachtung finden, dürfen wir diejeni- nicht abgeschlossen. Denn noch immer gibt es aus dem gen in anderen Teilen der Welt nicht etwa vergessen. Dies Erbe der Pinochet-Ära institutionelle Überbleibsel und gilt auch für die Opfer der Colonia Dignidad in Chile. gesetzliche Privilegien, die insbesondere dem Militär übermäßigen Einfluss im Staate gewähren. Auch wird die Der Anführer der 1961 gegründeten Sekte, der Deut- (B) Aufgabe der gegenwärtigen chilenischen Regierung da- sche Paul Schäfer, sowie andere führende Mitglieder wer- (D) durch nicht leichter, dass die Diktatur mittlerweile über den sowohl in Chile als auch in Deutschland per Haftbe- ein Jahrzehnt zurückliegt und für viele junge Chilenen fehl gesucht. 70 Verfahren sind allein in Chile seit der kein Argument mehr dagegen ist, Politiker zu wählen, die Wiedererlangung der Demokratie eingeleitet worden. in Pinochets Unrechtsstaat wichtige Ämter bekleideten Hierbei geht es meist um sexuellen Missbrauch Minder- oder zumindest die Diktatur als historische Notwendig- jähriger, aber auch um andere Straftaten. Die Colonia keit rechtfertigen. Der Bonus ihrer demokratischen Ver- Dignidad schirmt sich nach außen hin ab, produziert alles gangenheit reicht für die demokratisch legitimierten Par- Lebenswichtige selbst und stellt sich der Öffentlichkeit teien der Mitte und der Linken nicht mehr aus, um Wahlen gegenüber als sozial engagierte Gemeinschaft dar. in Chile zu gewinnen. Die Wiederwahlaussichten werden Dennoch ist diese Fassade die reinste Farce: Dass die auch dadurch nicht gerade verbessert, dass Chiles Wirt- Colonia Dignidad zu Zeiten Pinochets als Folterzentrum schaft momentan geringere Wachstumsraten als gewohnt für politische Gefangene diente und eng mit dem Regime ausweist, die in erster Linie aus der Wirtschaftkrise im sowie mit dessen Geheimdienst DINA zusammenarbei- Nachbarland Argentinien, aber auch aus sinkenden Welt- tete, ist seit langem bekannt und wurde vor kurzem von marktpreisen fair das Hauptexportprodukt Kupfer sowie einem ehemaligen Mitarbeiter des Geheimdienstes be- der hohen Verschuldung des chilenischen Mittelstandes stätigt. Das Gleiche gilt für die Tatsache, dass Folter und resultieren. Misshandlungen sowie die totale Überwachung der Mit- Dementsprechend tun sich nun bereits erste Risse im glieder der Colonia Dignidad zu den dort üblichen Me- chilenischen Regierungslager auf, die ernste Befürchtun- thoden gehören. Dennoch wurde Schäfer bei gelegentli- gen hinsichtlich eines Auseinanderbrechens der so ge- chen Kontrollen der Colonia Dignidad nie gefunden, weil nannten Concertacion aus Sozialdemokraten, Sozialisten er angeblich vor jeder Razzia einen Tipp von gut infor- und christlichen Demokraten in absehbarer Zukunft auf- mierten Sympathisanten bekam. Seit 1996 ist Schäfer nun kommen lassen. Damit steht die chilenische Regierungs- endgültig untergetaucht, und die Aufklärung der Men- koalition vor ihrer bislang schwersten Belastungsprobe. schenrechtsverletzungen, die von Mitgliedern der Colo- Ich halte es daher für falsch, diese für Chiles Demokratie nia Dignidad begangen worden sind, gehörte – mit weni- höchst brisante Situation auch noch von außen aus dem gen löblichen Ausnahmen – nicht gerade zu den Lieblingsbeschäftigungen früherer konservativer Regie- deutschen Ausland mit einem Antrag anzuheizen, der rungen. nicht nur Chiles Verdienste in dieser Angelegenheit un- genügend würdigt, sondern darüber hinaus für seine Ein- Umso wichtiger ist es, jetzt die Chance zu nutzen, diese bringung und Debattierung ein äußerst unglückliches Da- Aufklärung unter der progressiveren Regierung von Prä- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19801

(A) sident Lagos zu unterstützen, der eine intensivere Be- Jaime Naranjo Ortiz, die Bundesregierung vor wenigen (C) schäftigung mit dem Problem angekündigt hat. Gerade Monaten um mehr Unterstützung bei der Zerschlagung die deutsche Regierung sollte sich für diesen Fall beson- der Colonia Dignidad gebeten hat. Neben politischen und ders verantwortlich fühlen, da es sich sowohl bei den Tä- juristischen Initiativen erhofft sich Ortiz von der Bundes- tern als auch bei den Opfern vorwiegend um deutsche regierung Hilfe bei der Aufspürung versteckter Bunker- Staatsbürger handelt. systeme auf den Siedlungsgelände. Hierfür ist allerdings Daher ist unser Antrag, der neben der personellen und nicht die Einrichtung einer Arbeitsgruppe, sondern in ers- technologischen Zusammenarbeit beider Länder in der ter Linie die Zur-Verfügung-Stellung technischer und fi- Aufklärung der Verbrechen die Einrichtung einer Arbeits- nanzieller Ressourcen erforderlich. Die FDP-Bundestags- gruppe zur Lösung des Problems sowie die Einrichtung fraktion hofft daher, dass mit diesem Antrag endlich eines Fonds zur Unterstützung der Opfer der Colonia Dig- Bewegung in die verfahrene Situation gebracht werden nidad vorsieht, auch so wichtig. Damit soll vor allem die kann, sodass die von den menschenrechtswidrigen Zu- kriminelle Führungsgruppe der Colonia Dignidad isoliert ständen in der Colonia Dignidad betroffenen Menschen und die Abhängigkeit der Koloniebewohner beseitigt endlich erlöst und ihre Peiniger der Justiz überstellt wer- werden. den können.

Ulrich Irmer (FDP): Es ist schon ein Trauerspiel, dass Carsten Hübner (PDS): Zunächst einmal möchte ich wir uns 40 Jahre nach der Gründung der Colonia Dignidad den Einreichern dieses Antrags im Namen der PDS-Bun- und trotz massiver Bemühungen diverser Bundesregie- destagsfraktion ausdrücklich danken und damit gleichzei- rungen, aber auch der chilenischen Seite hier immer noch tig meiner Hoffnung Ausdruck verleihen, dass es im mit diesem Problem befassen müssen. Zusammenhang mit den Ausschussberatungen die Mög- lichkeit gibt, daraus einen interfraktionellen Antrag zu Nach wie vor befindet sich Paul Schäfer auf der Flucht, machen, der auch meine Fraktion einschließt. Wir teilen nach wie vor sind die zum Teil massiven Menschen- sowohl die Intention als auch den Forderungsteil. Mit- rechtsverletzungen und Straftaten im Wesentlichen un- glieder meiner Fraktion haben sich – wie viele andere aufgeklärt und nach wie vor konnten Schäfer und seine auch – in den vergangenen Jahren für die lückenlose Auf- Komplizen bisher nicht zur Rechenschaft gezogen wer- klärung des Colonia-Dignidad-Komplexes engagiert und den. Schlimmer noch: Die Lebensverhältnisse innerhalb wirksame Schritte zum Opferschutz und zur Eingrenzung der Colonia Dignidad sind nach diversen Berichten, unter des Aktionsradius dieser kriminellen Vereinigung gefor- anderem von Amnesty International und den Vereinten dert. In diesem Sinne wären weitere, auch gemeinsame Nationen, weiterhin menschenrechtswidrig und auch die parlamentarische Aktivitäten aus unserer Sicht nur zu be- (B) Einrichtung diverser Untersuchungsausschüsse hat bis- grüßen. (D) lang kaum Licht ins Dunkel bringen können. Erlauben Sie mir deshalb, mich nicht in Wiederholun- Die großen Hoffnungen, die sich seit Anfang 2000 auf gen des bereits Gesagten zu ergehen, sondern auf einige die verstärkten Bemühungen der Regierung Lagos richte- Aspekte zu verweisen, die im vorliegenden Antrag noch ten, haben sich bislang nicht erfüllt. Es ist daher dringend deutlicher beleuchtet werden müssten. Zum Beispiel: Wie an der Zeit, dass den Ankündigungen auch Taten folgen. war es möglich war, dass der deutsche Ableger der Colo- Selbstverständlich haben wir alle Verständnis dafür, dass nia Dignidad, der Verein „Private Soziale Mission“, trotz das Problem der Colonia Dignidad nur ein Teil der um- der massiven Vorwürfe gegen Paul Schäfer und die Colo- fassenden Aufarbeitung des schrecklichen Erbes des nia in der Bundesrepublik über viele Jahre steuerbegüns- Pinochet-Regimes ist und daher nicht von heute auf mor- tigt weiterarbeiten konnte? Auch halte ich es für durchaus gen gelöst werden kann. klärungsbedürftig, welche Unterstützung die Colonia in Es kann jedoch nicht hingenommen werden, dass stän- den letzten 40 Jahren aus der Bundesrepublik erhalten hat, dig neue Ausschüsse eingesetzt werden, deren Schluss- trotz massiver Menschenrechtsverletzungen, Foltervor- folgerungen dann letztlich aber ohne Konsequenzen blei- würfen und der engen Zusammenarbeit mit der ben. Dies gilt auch für die in unserem Antrag enthaltene Pinochet-Diktatur und dem chilenischen Geheimdienst Forderung, eine Arbeitsgruppe Chile mit unabhängigen DINA. Bis heute halten sich Informationen, dass es bis in bilateralen Experten einzusetzen, mit dem Ziel, in einem konservative Kreise der Bundesrepublik hinein Protek- Zeitraum von sechs Monaten ein Strategiepapier zur Lö- tion für dieses Projekt gegeben hat, – etwa von Vertretern sung des Problems zu erarbeiten. Strategiepapiere sind der Hanns-Seidel-Stiftung. Allein schon vor dem Hinter- zwar hilfreich, nur im Falle der Colonia Dignidad liegen grund, dass Parteien und ihre Stiftungen in erheblichem die Handlungsoptionen seit Jahren deutlich auf dem Maße mit Steuergeldern arbeiten, sollten diese Vorwürfe Tisch. Es muss nur endlich einmal die politische Kraft ge- vorbehaltlos aufgeklärt werden. funden werden, sie auch wirklich umzusetzen. Insofern Auch nach dem Sturz Pinochets gibt es einflussreiche begrüßen wir, dass die Bundesregierung in dem Antrag Kreise in Chile, die kein Interesse an einer Klärung des aufgefordert wird, dem Fall der Colonia Dignidad eine Colonia-Dignidad-Komplexes haben. Umso wichtiger ist höhere Priorität einzuräumen. Auch dies hatte sie bereits es, all jene zu unterstützen, die Klarheit über den Verbleib mehrfach angekündigt, allerdings bis heute ohne nen- ihrer Angehörigen begehren, die diesen Staat im Staate nenswertes Ergebnis. auflösen wollen und auf eine konsequente Strafverfol- Es ist schon bemerkenswert, dass der Präsident der chi- gung drängen. Die Bundesrepublik muss dabei ein aktiver lenischen Parlamentskommission für Menschenrechte, Partner sein. Die Täter waren Deutsche, ein Teil der 19802 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001

(A) Opfer auch. Lange Zeit kam ideologische und finanzielle ständlich in erster Linie Aufgabe der chilenischen Behör- (C) Unterstützung direkt aus unserem Land, während sich die den, sich mit der Kolonie, wie sie sich heute darstellt, aus- etablierte Politik und die deutsche Diplomatie mit Blick einander zu setzen. Diese Feststellung ist keineswegs als auf die Menschenrechtsverletzungen nicht gerade mit eine Relativierung der Bemühungen der Bundesregierung Ruhm bekleckert haben. Wir sind also dringend angehal- zu verstehen sondern im Gegenteil als eine Klarstellung ten, mit einem deutlichen Votum des Bundestages sowohl der Verantwortlichkeiten, die notwendig ist, um die wei- zur Aufklärung als auch zur Aufarbeitung beizutragen. tere energische Aufarbeitung des in der Colonia Dignidad Am Ende dieses Prozesses, der selbstverständlich nur in begangenen Unrechts sicher zu stellen. Dazu darf hinzu- enger Kooperation mit den Verantwortlichen und Betrof- gefügt werden dass die chilenische Seite diese Einschät- fenen in Chile umzusetzen ist, kann, ja darf nur eines ste- zung teilt. Soweit man eine derartige Feststellung in die- hen: Die restlose Abwicklung der Colonia Dignidad! sem traurigen Zusammenhang treffen kann, ist auf ein großes Vertrauen hinzuweisen, dass die chilenischen Dr. Christoph Zöpel, Staatsminister im Auswärtigen Behörden – auch das chilenische Parlament – in dieser Amt: Der Antrag der Fraktionen der SPD und der Fraktion Angelegenheit Deutschland entgegenbringen. Es besteht Bündnis 90/Die Grünen beginnt mit einer erschütternden, ein vertrauensvoller Dialog, in den im Übrigen auch – bei bedauerlicherweise aber zutreffenden Feststellung: Der Wahrung der erforderlichen Vertraulichkeit – Mitglieder Fragenkomplex der früher unter dem Namen „Colonia des Bundestage einbezogen worden sind. Wo kritische Dignidad“ bekannten, heute unter dem Namen „Villa Ba- Stimmen laut werden, geht es darum, die Zusammenarbeit varia“ agierenden Gruppe beschäftigt die Bundesregie- und die Unterstützungsmaßnahmen zu verstärken. Inso- rung bereits seit den 60er-Jahren. Das ist eine sehr lange fern ist die Einleitung des vorgelegten Antrages zu relati- Zeit, in der – wie vielfach berichtet wird – in der Colonia vieren, die von einer Belastung des deutsch-chilenischen Dignidad schwere Verbrechen begangen wurden und vie- Verhältnisses durch die Colonia Dignidad spricht. Die len Opfern von Paul Schäfer mit Mitwissen seiner Helfer Bundesregierung tut das ihr Mögliche, um die chileni- großes Leid zugefügt wurde. Bevor ich auf die an die schen Bemühungen zu unterstützen, Paul Schäfer habhaft Bundesregierung gerichtete Aufforderung aus dem vor- zu werden und seinen Opfern zu helfen. liegenden Antrag eingehe, lassen Sie mich daher drei Grundsätze der Haltung der Bundesregierung erläutern: In diesem Sinne begrüßt die Bundesregierung den An- trag. Sie versteht die an ihre Adresse gerichtete Aufforde- Erstens. Oberste Priorität gilt der Hilfe für die Opfer. rung gleichzeitig als eine Bestärkung all derer, die sich Dazu zählen zunächst einmal Angebote der konsulari- auch 40 Jahre nach der Errichtung der Colonia Dignidad schen Betreuung soweit sie von den Angehörigen der in Chile für die Menschen einsetzen, denen von Paul Villa Bavaria angenommen werden können. Darüber hi- (B) Schäfer fortgesetzt Unrecht zugefügt wurde und weiterhin (D) naus wurden in der Vergangenheit Vorkehrungen getrof- fen, um im Rahmen der gesetzlichen Möglichkeiten je- zugefügt wird. Die Bundesregierung ist auch in Zukunft dem Willigen beim Ausstieg aus der Villa Bavaria bereit, Anregungen aufzunehmen, wie der Aufarbeitungs- Hilfestellung zu leisten. Ich möchte nicht im Einzelnen prozess von deutscher Seite unterstützt und verbessert auf diese Maßnahmen eingehen, einmal aus datenschutz- werden kann. Die Bundesregierung begrüßt die Anre- rechtlichen Gründen, aber auch, um die Wirksamkeit der gung, eine unabhängige, aus Experten zusammengesetzte Maßnahmen nicht aufs Spiel zu setzen. Bei dieser Gele- Arbeitsgruppe mit deutscher Beteiligung in Chile einzu- genheit möchte ich aber die ausdrückliche Anerkennung setzen und wird diesen Vorschlag an die chilenische Seite der Bundesregierung für die teils unter dramatischen Um- herantragen. Sie schließt sich der Zielsetzung an, An- ständen nach Deutschland zurückgekehrten Opfer aus- gehörigenbesuche zu ermöglichen, eine unzensierte Zu- sprechen, die sich im Flügelschlag e.V. zusammenge- stellung der Post und ungehinderten Kontakt zur Außen- schlossen haben und auch heute für die Freiheit und welt zu gewährleisten sowie freiwillige Gespräche mit Würde derjenigen kämpfen, die sich noch nicht dem Bann Psychotherapeuten und Sektenexperten anzubieten und des Paul Schäfer haben entziehen können. die kriminelle Führungsgruppe der Kolonie vom Rest der Gruppe zu isolieren. Die Bundesregierung ist bereit, den Zweitens. Paul Schäfer und seine Helfer werden wei- ter strafrechtlich gesucht, nach ihnen wird weiterhin ge- bereits geführten Dialog mit der chilenischen Seite über fahndet. Das mag wie eine Selbstverständlichkeit klingen, eine personelle und technologische Unterstützung bei der muss aber doch an dieser Stelle ausdrücklich bekräftigt Aufklärung des Gesamtkomplexes der Colonia. Dignidad werden, Die Straftaten, die Paul Schäfer bereits zu der zu intensivieren. Sie möchte sich an dieser Stelle bei den Zeit zur Last gelegt wurden, als er sich noch in Deutsch- Mitgliedern des Bundestages bedanken, die sich bei Be- land aufhielt, datieren auf die 50er- und 60er-Jahre suchen in Chile gegenüber den jeweiligen Gesprächspart- zurück. Vieles davon ist verjährt. Paul Schäfer und seine nern ebenfalls für eine energische Aufarbeitung des ge- Helfer haben ihr Unwesen jedoch in Chile fortgesetzt. Zu- samten Tatkomplexes eingesetzt haben. treffend hält der Antrag daher unter Ziffer 11 fest, dass ein Hinsichtlich der Einrichtung eines Fonds zur Finanzie- nachhaltiges deutsches Interesse an der Ahndung der auf rung von Hilfs- und Reinintegrationsmaßnahmen wird die chilenischem Boden an deutschen Staatsbürgern began- Bundesregierung gemäß vorliegender Aufforderung in genen Straftaten fortbesteht. zwölf Monaten denn Bundestag berichten. Die Prioritä- Drittens. Da die Colonia Dignidad – heute die Villa Ba- tensetzung im Bundeshaushalt ist dabei eine gemeinsame varia – seit 40 Jahren in Chile agiert, ist es selbstver- Verantwortung von Bundestag und Bundesregierung. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19803

(A) Anlage 5 Sie uns bitte nicht, das geplante Havariekommando sei (C) unzureichend. Zu Protokoll gegebene Reden Im Übrigen setzen wir mit dem Havariekommando im zur Beratung des Antrags: Bildung einer Leit- Konsens mit den Küstenländern zentrale Empfehlungen stelle für Seesicherheit (Tagesordnungspunkt 12) der Grobecker-Kommission um. Die Umweltorganisation Greenpeace hat das Sicherheitskonzept der Bundesregie- rung insbesondere auch im Hinblick auf die Maßnahmen Annette Faße (SPD): Die Vermeidung von Schiffska- in der Ostsee als einen wichtigen Schritt begrüßt. tastrophen steht für uns im Mittelpunkt eines praxisge- rechten Sicherheitskonzepts. Nicht zuletzt die durch die Die Einsatzzentrale des Havariekommandos wird ein Havarien der „Pallas“, der „Erika“ vor der bretonischen in 24-Stunden-Bereitschaft gehaltenes Maritimes Lage- Küste oder der „Baltic Carrier“ ausgelösten Umweltkata- zentrum sein, das aus dem Bereich der Wasser- und strophen haben uns deutlich vor Augen geführt, dass Schifffahrtsverwaltung des Bundes und den Wasser- Schiffsunfälle verhindert werden müssen, bevor es zu schutzpolizeien der Küstenländer aufgebaut wird. Dort Schäden durch Ladung oder Treibstoff kommt. laufen alle notwendigen Informationen zusammen. Vor dem Hintergrund einer globalisierten Welt und der Der Leiter des Havariekommandos übernimmt die EU-Osterweiterung ist auch weiterhin mit einer Zunahme Führung des Einsatzes, wobei er von Arbeitsstäben für des Schiffsverkehrs zu rechnen. Dies muss nicht zwangs- Schadstoff- und Brandbekämpfung, Verletztenversor- läufig auch eine Zunahme von Unfällen bedeuten. Den- gung, Bergung und Öffentlichkeitsarbeit beraten wird. noch: Unfälle, die auf menschliches oder technisches Ver- Für den Einsatz kann er allen notwendigen Kräften des sagen oder höhere Gewalt zurückzuführen sind, lassen Bundes und der Küstenländer, zum Beispiel der Wasser- sich auch mit dem perfektesten Sicherheitssystem nicht und Schifffahrtsverwaltung, den Feuerwehren, den hundertprozentig ausschließen. Schleppern und den Ölbekämpfungsschiffen, Einsätze er- Der Bundesverkehrsminister hat aber mit der umfas- teilen und Einsatzabschnitte einrichten. senden Neukonzeption der Maritimen Notfallvorsorge Die Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger Maßnahmen eingeleitet, die wesentlich dazu beitragen und die Bundesmarine werden vollständig in die Arbeit werden, das Schiffssicherheitskonzept zu optimieren. Ich des Havariekommandos integriert. möchte dem Ministerium an dieser Stelle – insbesondere auch als Betroffene, als Küstenbewohnerin – meinen aus- Da der konkrete Einsatzfall hoffentlich künftig der ab- drücklichen Dank für die effektive und erfolgreiche Ar- solute Ausnahmefall bleibt, wird unter dem Dach des Ma- beit in diesem Bereich aussprechen. ritimen Lagezentrums ein Kompetenzzentrum für alle (B) Fragen der maritimen Unfallbekämpfung eingerichtet. (D) Meine Damen und Herren von der Union, im Gegen- Darin werden alle bisherigen Aufgaben wie der Zentrale satz zu Ihnen haben wir unsere Hausaufgaben gemacht. Meldekopf oder die Sonderstellen zur Schadstoffbekämp- Im Falle eines schweren Seeunfalls ist ein zügiges, ef- fung aufgehen. Für die Schiffsbrandbekämpfung gibt es fektives und kompetentes Eingreifen unbedingt erforder- dann erstmals eine zentrale Stelle. lich. Hier zumindest scheinen wir einer Meinung zu sein. Seinen Sitz wird das Havariekommando in Cuxhaven Mit der Errichtung eines Havariekommandos wird dies haben. Mich als zuständige Bundestagsabgeordnete für gewährleistet und zwar auch ohne eine Änderung des den Wahlkreis Cuxhaven freut mich dies natürlich beson- Grundgesetzes. Uns ist es in erster Linie wichtig, dass das ders, aber ich bin auch fest davon überzeugt, dass Cuxha- Havariekommando so schnell wie möglich seine Arbeit ven der geeignetste Standort für das Havariekommando aufnehmen kann. Überflüssige Grundgesetzänderungen ist. würden den Prozess der Optimierung des Sicherheitskon- Für Cuxhaven sprechen eindeutig fachliche Gründe. zepts nur unnötig verlängern. Die entsprechende Infrastruktur sowie ein Grundstock an Ich bin schon etwas verwundert, wenn Sie uns mit der Fachpersonal ist bereits vor Ort. Das entsprechende Per- Errichtung des Havariekommandos hier eine „Alibi-Ak- sonal der Wasserschutzpolizeien kann zudem schnellst- tion“ unterstellen und plötzlich vehement eine Zusam- möglich nach Cuxhaven entsendet werden. menfassung der bisher getrennten Aufgabenzuordnung Cuxhaven ist demnach auch die kostengünstigere Vari- von Bund und Ländern einfordern. Wenn Ihnen das so ante. Nicht zuletzt konnte sich Cuxhaven bereits bei der wichtig ist, frage ich mich allerdings, warum Sie das nicht Koordinierung der Bergungsarbeiten der „Pallas“ be- angegangen sind, als Sie die Gelegenheit dazu hatten. Zeit währen. genug dazu hatten Sie. Der künftige Leiter des Havariekommandos Hans- Dass Sie es nicht taten, liegt wohl daran, dass Sie die Werner Monsees ist zurzeit dabei, das Havariekommando bestehende Struktur für vollkommen ausreichend hielten. in Cuxhaven aufzubauen. Voraussichtlich wird es noch im Dies können Sie gerne in der Antwort der alten Bundes- kommenden Jahr seine Arbeit aufnehmen können. regierung auf die Kleine Anfrage „Sicherheit in der Deut- schen Bucht V“ – Drucksache 13/11453 – nachlesen. Dort Neben dem Havariekommando ist die Vorhaltung aus- heißt es: „Die bestehende Einsatzleitungsstruktur hat sich reichender Schleppkapazität ein elementarer Bestandteil bei der Bekämpfung von Unfallfolgen und den regel- eines optimalen Sicherheitskonzepts. Ich habe es sehr be- mäßig durchgeführten Übungen bewährt.“ Also erzählen grüßt, dass seit Anfang des Monats erstmals – rechtzeitig 19804 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001

(A) vor der anstehenden Schlechtwetterperiode – auch in der merhin drei Jahre nach dem Seeunfall mit der „Pallas“ hat (C) Ostsee zwei Notschlepper in Rostock und Kiel stationiert es bis auf administrative Änderungen keine wirkliche sind. Strukturverbesserung gegeben. Unmittelbar nach dem Unfall wurde eine Vorkommission zur Ursachenermitt- Für die Nordsee ist der Chartervertrag der „Oceanic“ lung eingesetzt, später die so genannte „Grobecker-Kom- weiter verlängert worden. Auf Dauer wird es jedoch ne- mission“. Diese wurde dann abgelöst durch eine „inter- ben den Mehrzweckschiffen „Mellum“ und „Neuwerk“ ministerielle Projektgruppe“. Ein offensichtlicher Fall einen starken Hochseeschlepper mit mindestens 160 Ton- von: „Und wenn ich mal nicht weiter weiß, dann gründ’ nen Pfahlzug geben, der langfristig ausgeschrieben wird. ich einen Arbeitskreis.“ Ziel ist es, ein verunglücktes Schiff innerhalb von zwei Stunden auf den Haken zu nehmen. In den letzten zehn Jahren kam es zu mehreren 100 Schiffsunfällen in Nord- und Ostsee, 20 alleine in Die Empfehlungen der Expertenkommission „Havarie dem nur 50 Quadratkilometer großen Bereich der Kadet- Pallas“ werden Schritt für Schritt nachhaltig umgesetzt. rinne. Sie ist eine der meistbefahrenen Schifffahrtswege Das beweist die dargestellte Neukonzeption der Notfall- in der Ostsee. Täglich passieren drei bis vier Tanker, dazu vorsorge. Ich bin sicher, dass mit der Umsetzung Bilder circa fünf Massengutfrachter diese Strecke, jährlich etwa von verschmutzten Küstenstreifen, wie wir sie unter an- 50 000 Schiffe. Die Kadetrinne hat teilweise nur eine derem von den Havarien der „Pallas“ und der „Baltic Car- Tiefe von 18 Metern, was sie extrem risikoreich für tief rier“ noch in Erinnerung haben, endgültig der Vergangen- liegende 100 000-Tonnen-Tanker macht. Da es sich um heit angehören. ein internationales Gewässer handelt, gibt es hier weder eine Lotsannahmepflicht, noch eine Radarüberwachung, Wolfgang Börnsen (Bönstrup) (CDU/CSU): „‚Pallas noch ist es ein Verkehrstrennungsgebiet. brennt: Bergungsdrama vor Amrum“, „Ölpest im Watt: Die Gefahr einer Ölpest ist täglich gegeben, wie das Verzweifelter Kampf ums Paradies“ und „Fall ,Pallas’ Tankerunglück mit der „Baltic Carrier“ vom 29. März entwickelt sich zum Skandal“, so lauteten die Presse- dieses Jahres zeigte. Auf unsere Anfrage vom 27. Februar schlagzeilen vor drei Jahren. Erinnern wir uns: Es waren des Jahres, also einen Monat vor dem größten Ölunfall in damals dramatische Stunden, als am 25. Oktober 1998 die jüngster Zeit, antwortete die Bundesregierung unter ande- „Pallas“ vor der dänischen Küste in Brand geriet. Ein See- rem, für die Kadetrinne bestehe aufgrund geltender inter- mann starb. Die dänische Küstenwache lehnte es mangels nationaler Regeln derzeit keine Lotsannahmepflicht, aller- Schlepperkapazität ab, die „Pallas“ nach Esbjerg zu ber- dings ist die Möglichkeit einer freiwilligen Lotsannahme gen. In den nächsten Tagen driftete die „Pallas“ auf die gegeben. Und weiter: „Man habe in dieser Frage die Ein- deutsche Nordseeküste zu und havarierte vor Amrum. richtung einer Arbeitsgruppe beschlossen.“ Diese Hand- (B) Erst 20 Tage nach dem Ausbruch des Brandes wurde mit (D) lungsansätze reichen unserer Meinung nach nicht aus. Es den Löscharbeiten begonnen. sind kurz- und mittelfristige Maßnahmen zur Verringe- Trotz des lebensgefährlichen und aufopferungsreichen rung des Risikos notwendig, ein Konzept zu mehr Ost- Einsatzes der Rettungsmannschaften und trotz der Tatsa- seesicherheit noch in dieser Wintersturmsaison, das über che, dass mit der „Pallas“ kein Supertanker, sondern le- eine maritime Notfallvorsorge hinausgeht. diglich ein Holzfrachter mittlerer Größe in Seenot geriet, Noch immer ist Handlungsbedarf gegeben. Deshalb waren die ökologischen Auswirkungen der Havarie ver- hat die Union immer wieder ihre Forderung auf die heerend. Das austretende Öl führte zum Tod von circa Tagesordnung gebracht: Wir brauchen eine nationale 12 000 Seevögeln und zur teilweisen Zerstörung des emp- Küs-tenwache! –, weil wir im Falle eines Unfalls kurze findlichen Ökosystems „Deutsches Wattenmeer“. Als Reaktionszeiten benötigen, weil wir eine straffe, alle Folge war auch der wichtigste Wirtschaftszweig der Re- Kompetenzen umfassende Organisation brauchen, weil gion – der Tourismus – durch Einnahmeausfälle schwer alle an der Rettung Beteiligten nach einheitlichen geschädigt. Grundsätzen handeln müssen und weil die Handelnden Wie reagierten die Verantwortlichen auf diesen Seeka- als Team aufeinander eingespielt sein müssen und nicht tastrophenfall? Die Situation war gekennzeichnet von erst im Falle eine Havarie kurzfristig zusammengerufen fehlender Koordination zwischen deutschen und däni- werden können. schen Behörden, mangelnder Kooperation zwischen Bun- Wir von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion haben mit des- und Landesbehörden und unzureichender Zusam- dieser Zielrichtung einer konsequenten unmittelbaren menarbeit der Landesbehörden untereinander. Mit einem See-Katastrophen-Abwehr zahlreiche Initiativen einge- Satz: Es herrschte Chaos. Hauptursache waren struktu- bracht. Das gilt auch für die CDU/CSU-Landtagsfraktio- relle Defizite, die Menschen vor Ort haben ihr Bestes ge- nen in Kiel und Schwerin. Als Berliner Maßnahme sind zu geben. erwähnen die Große Anfrage der Union von 1999 mit dem Wie sieht es heute, drei Jahre danach, aus? Noch im- Titel „Schaffung einer deutschen Küstenwache“, die mer ist der See-Katastrophen-Einsatz auf fünf Bundesmi- Kleine Anfrage aus dem Jahr 2000 „Sicherheits- und Not- nisterien verteilt und in jedem einzelnen der fünf Küsten- fallkonzept für Nord- und Ostsee“ sowie der heutige De- länder auf jeweils vier Landesministerien. Noch immer battenantrag mit der Initiative „Bildung einer Leitstelle gibt es keine einheitliche Führung. Noch immer existiert für Seesicherheit“. Daneben gab es zahlreiche parlamen- ein Nebeneinander von Bundes- und Landesbehörden. tarische Maßnahmen zu Detailfragen der Seesicherheit. Noch immer steht die Bundesmarine abseits. Auch im- Die Regierung aber verhielt sich bei diesem Druck der Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19805

(A) Opposition wie der sprichwörtliche Berg, der nach lan- sie in unserem föderalen Zuständigkeitswirrwarr offen- (C) gem Kreißen eine Maus gebar. Das jetzt von Kurt sichtlich auch gar nicht zu treffen sind. Deshalb muss die Bodewig vorgestellte Havariekommando ist ein zaghafter Bundesregierung in diesem Punkt endlich für eine Neu- Anfang auf dem Wege zu einer nationalen Küstenwache. ordnung der Zuständigkeiten sorgen. Notwendig dafür ist Eine Lösung der anstehenden Aufgaben ist es nicht. Das eine Grundgesetzänderung. Zu diesem Schluss kommt Havariekommando steht nur in einem konkreten Havarie- auch das Gutachten der Universität Rostock, welches im fall unter einheitlicher Führung, eine ständige Einrichtung Auftrag der Landesregierung in Mecklenburg-Vorpom- mit einem eingespielten Team ist es nicht. Kontraproduk- mern erstellt wurde. tiv ist das Abseitsstehen von Zoll, BGS und Bundesma- Es ist unsere Aufgabe als Parlament, das aufzugreifen, rine, so Kritiker von der Küste. was unter anderem der Schleswig-Holsteinische Landtag Olaf Hellwinkel, der Vorsitzende des Nautischen Ver- unter Einbindung von Sozialdemokraten, Christdemokra- eins, macht zum Beispiel darauf aufmerksam, dass effek- ten, Bündnisgrünen und Freien Demokraten vor zweiein- tiver Küstenschutz nur unter Einbeziehung der SAR-Hub- halb Jahren beschlossen hat. Dort wurde, wie dieses Jahr schrauber, Ölaufklärungsflugzeuge und Ölauffangschiffe in Schwerin, eine Grundgesetzänderung, eine einheitliche der Bundesmarine möglich ist. Andere Experten der Lösung beim Seekatastrophenschutz gefordert. Diese An- Küste schließen sich dieser Kritik an. Im Fall einer neuen regungen aus Kiel und Schwerin, fachlich und sachlich Seekatastrophe kann noch nicht effektiv genug gerettet begründet, sind nicht aufgegriffen worden. Sicher, eine werden. Der Vorstandssprecher der Schutzgemeinschaft Viertel-Lösung ist besser als keine. Doch wenn jetzt die Deutsche Nordseeküste, Hans von Wecheln, befürchtet, Winterstürme einsetzen und Sturmfluten das Bild der dass durch das Fehlen von BGS und Zoll in Havariekom- Nordsee kennzeichnen, ist ein möglicher optimaler mandos in der Praxis eine neue Stabsebene neben der Küs- Schutz für Mensch, Meer und Küste nicht gegeben. In un- tenwache aufgebaut wird. Im Havariefall müssten dann serem Nachbarland, dem Königreich Dänemark, hat es auf dieser Ebene getroffene Entscheidungen wiederum nur wenige Monate gedauert, um ein neues Konzept zur koordiniert werden. Ressortdenken hat die Bereitschaft See-Katastrophen-Abwehr vorzulegen, das die dänische zur Konzentration aller Kräfte in einer Hand zu einer Marine einschloss. Wenn jetzt der „blanke Hans“ seine Führung eingebremst. Krallen zeigen sollte und Boote so in Bedrängnis bringt, dass eine Katastrophe möglich wird, müssen sich die Ver- Nimmt man von den Schleppern bis hin zu den Öl- antwortlichen fragen lassen, warum sie nicht klar, konse- bekämpfungsschiffen allein die Boote des Bundes zusam- quent und zügig gehandelt haben. Es hat offensichtlich bei men, kommt man auf fast 100 Schiffe. Noch immer gel- drei verschiedenen Ministern, die es in diesem Ressort ge- ten für den Einsatzverbund Küste zwei Zentren: Neustadt geben hat, an Führungs- und Verantwortungsbereitschaft für die Ostsee, Cuxhaven für die Nordsee. Der Bundes- (B) gefehlt, zum Schaden eines See-Unfallschutzes aus einem (D) rechnungshof hat, wie auch der Haushaltsausschuss des Guss. Deutschen Bundestages, die Bundesregierung mehrfach auf die Notwendigkeit der Konzentration aller Seedienste hingewiesen, auch aus fiskalisch-ökonomischen Überle- Helmut Wilhelm (Amberg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gungen. Das Management aller Boote aus einer Hand im NEN): Der Schutz unserer Küsten ist nicht nur aus Um- Krisenfall wurde als Zielmarke herausgestellt. weltschutz-Aspekten dringend geboten. Die Küsten sind auch ein wichtiger Wirtschaftsfaktor, das gilt für Nieder- Handlungsdruck kommt auch von der EU-Kommis- sachsen und Schleswig-Holstein genauso wie für Meck- sion und durch das Europäische Parlament. Die EU will lenburg-Vorpommern. Der wichtigste Schutz für unsere eine europäische Küstenwache. Deutschland kann aber Küsten muss Prävention sein. Daran arbeiten wir. diesem Erfordernis nur dann entsprechen, wenn es zuerst einmal eine nationale See- und Küstenwache schafft. Auf Trotzdem wird immer ein Restrisiko bleiben, es gibt ihrer Konferenz am 20./21. Dezember 1999, wenige Wo- keinen hundertprozentigen Schutz vor Unfällen. Was wir chen nach dem „Erika“-Unfall vor der Bretagne, hat die aber tun können, ist eine Reduzierung des kalkulierbaren Kommission deutlich gemacht, dass man eine einheitliche Risikos. Dies nicht zu tun wäre fahrlässig. Schiffsicherheitsbehörde, ein Amt für Seesicherheit, mit Eine Änderung des Grundgesetzes brauchen wir dafür Kompetenzen im Katastrophenfall benötigt. Leider ver- allerdings nicht. Und wir wollen sie auch nicht, insbeson- ringert sich die Umsetzungsbereitschaft kluger Ideen mit dere nicht in der Form, wie jetzt von CDU/CSU vorge- dem zeitlichen Abstand zum vorangegangenen Unglück. schlagen. Aufschlussreich für die Ziele, die die CDU mit Delegiert von den beteiligten Behörden wird im Kata- diesem Antrag verfolgt, sind zwei parlamentarische Vor- strophenfall beim Havariekommando auch nur auf Zeit. gänge aus dem Jahr 1999: zum einen die mündliche Frage Die Abgabe von Kompetenzen kann kurzfristig widerru- des Kollegen Börnsen „Einrichtung einer nationalen Küs- fen werden. Auch wechseln die verantwortlichen Perso- tenwache nach dem amerikanischen Vorbild der Coast nen erst im Notfall ihre Position unter das Dach des Kom- Guard“ (Drucksache 14/306) und die Große Anfrage der mandos. Eine Kontinuität der Zusammenarbeit ist trotz CDU „Schaffung einer deutschen Küstenwache“ (Druck- vorgesehener Trainingsperioden nicht gegeben. Es fehlt sache 14/1229). Diese Anfrage besteht etwa zur Hälfte aus ein Unfallmanagement aus einem Guss mit klaren Zu- Fragen, die mit Küstenschutz nichts zu tun haben, aber die ständigkeiten, einheitlicher Führung und dem Recht des Richtung weisen, in die die CDU offensichtlich denkt. Es direkten Zugriffs auf alle Einheiten. In drei Jahren sind geht darin um Kriminalitätsbekämpfung, Drogen und keine wirklichen Entscheidungen getroffen worden, weil die Umsetzung des Schengener Abkommens, also das 19806 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001

(A) Aufspüren oder Verfolgen von Flüchtlingen. Ihr Vorbild Küstenschutz zu erreichen: erstens die Einrichtung eines (C) ist die US Coast Guard, bei der Umweltschutz nur ein Havariekommandos, zweitens die Zusammenfassung der Punkt unter vielen ist. Es geht Ihnen bei der CDU also um Seedienste des Bundes – BGS, Zoll, Fischereiaufsicht und die Durchsetzung ordnungsrechtlicher und sonstiger WSV zu einer Seewache unter dem Kommando eines Ha- Ziele. Das machen wir nicht mit. variekommandos – und drittens die Bereitstellung ausrei- chender Notschleppkapazitäten. Ich möchte neben dieser grundsätzlichen Kritik an dem vorliegenden Antrag der CDU/CSU noch auf einen Punkt Angesichts der jetzt ergriffenen Maßnahmen der Bun- eingehen: CDU/CSU schlagen vor, „im Katastrophenfall“ desregierung halte ich den vorliegenden Antrag der innerhalb der Leitstelle alle Kompetenzen zusammenzu- CDU/CSU Fraktion für teilweise überholt. Ein Teil der fassen. Der Katastrophenfall ist eindeutig im Katastro- geforderten Maßnahmen sind ja nun endlich umgesetzt phenschutzgesetz definiert, „um Sicherheit, Ordnung und worden. In Cuxhaven soll im nächsten Jahr ein zentrales Gesundheit der Bevölkerung zu gewährleisten“. Die von Havariekommando eingerichtet werden. Die dafür nöti- CDU/CSU vorgeschlagene Leitstelle wäre bei der „Pal- gen Planstellen sind bereits vom Bundesministerium für las“ nicht zum Einsatz gekommen! Die „Pallas“ war nach Verkehr, Bau- und Wohnungswesen beantragt worden. Definition keine „Katastrophe“. Die Neukonzeption eines Diese Entscheidung war überfällig. Aber leider ist sie Havariekommandos der Bundesregierung übernimmt ihre nicht in der nötigen Konsequenz ausgefallen. Die Emp- Aufgaben dagegen bereits da, wo es um die Abwehr einer fehlung der Expertenkommission zur Einrichtung einer Katastrophe geht. Seewache unter dem Kommando des Havariekommandos will die Bundesregierung nämlich nicht umsetzen. Diese Die Bundesregierung hat in den letzten drei Jahren in- Empfehlung war den Küstenländern besonders wichtig, tensiv an der Verbesserung des Küstenschutzes gearbeitet. doch die Bundes-SPD war nicht bereit, auf die SPD-ge- Eine Reihe von Arbeitsgruppen prüft die Vorschläge der führten Länderregierungen zu hören. Die Ablehnung die- Grobecker-Kommission und haben zu vielen Punkten ser Empfehlung ist nicht nachzuvollziehen. Ich stimme auch bereits konkrete Maßnahmen vorgelegt. Dazu zählt dem Deutschen Nautischen Verein Nordfriesland zu, des- auch der sehr konkrete Vorschlag zur Einrichtung eines sen Vorsitzender Hellwinkel am Dienstag erklärt hat, Res- Havariekommandos, mit dem eines der großen strukturel- sorteitelkeiten und Einflussverlustängste beim Zoll und len Probleme nach der Havarie der „Pallas“ – nämlich das beim BGS-See dürften nicht über dem Allgemeinwohl Kompetenzgerangel – durch die Bündelung der Entschei- und über dem Postulat einer sparsamen, Synergiechancen dungsstrukturen behoben werden soll. Bei schweren See- nutzenden Haushaltsführung stehen. Eine Zusammenfas- unfällen wird das neu zu errichtende Havariekommando sung aller maßgeblichen Kräfte zu einer See- oder Küs- unter der Leitung eines Bundesbeamten eine einheitliche tenwache unter dem Kommando des Havariekommandos Einsatzleitung über alle infrage kommenden Einsatz- (B) könnte nachhaltig das Unfallmanagement stärken. Auch (D) kräfte des Bundes und der Länder sichern. Dessen Kern das Beispiel Schweden zeigt dies. ist ein in 24-Stunden-Bereitschaft gehaltenes maritimes Lagezentrum. Es wird aus dem Bereich der Wasser- und In diesem Zusammenhang begrüße ich ausdrücklich Schifffahrtsverwaltung des Bundes und den Wasser- die Entscheidung der Bundesregierung, die Notschlepp- schutzpolizeien der Küstenländer aufgebaut. Dort werden kapazitäten in der Nord- und Ostsee deutlich zu erhöhen zukünftig alle relevanten Informationen zusammenlau- und doppelt so viele Mittel hierfür bereitzustellen. Ich fen. Bei einer Havarie übernimmt der Leiter des Havarie- kann nur nicht verstehen, wieso die Bundesregierung sich kommandos die Führung des Einsatzes. mit diesem Schritt drei Jahre Zeit ließ. Ich habe aber große Zweifel, ob die Beschränkung der Ausschreibung des Die Konzeption des Havariekommandos ist Ihnen be- neuen Hochseeschleppers für die Deutsche Bucht auf kannt. Die Verhandlungen mit den Küstenländern zur sechs Meter Tiefgang der Entwicklung des Handels- Umsetzung dieser Neukonzeption eines Havariekomman- schiffbaus wirklich gerecht wird. Hier sollte man die Vor- dos laufen zurzeit. Ich wünsche mir, dass es schnellst- schläge des Nautischen Vereins und der Schutzgemein- möglichst zu Einigungen kommt. Die grundgesetzlich schaft Deutsche Nordseeküste ernsthaft prüfen, die festgeschriebenen Bundes- und Landeszuständigkeiten Ausschreibung zu erweitern. Auch nicht unerwähnt lassen werden bei diesem Konzept gewahrt, die Gefahrenabwehr will ich hier, dass ich das Postulat des BMVBW für nicht im See- und Küstenbereich bleibt gemeinsame Aufgabe nachvollziehbar halte, dass das neue Schadstoffbekämp- von Bund und Ländern. Und genau darum, nämlich den fungsschiff für die Ostsee hoheitliche Aufgaben zu erfül- Schutz unserer Küsten an Nord- und Ostsee, geht es. Und len habe und deshalb nicht privat bereedert werden könne; um nichts anderes. hier wird die FDP-Fraktion noch initiativ werden. Der CDU/CSU-Antrag ist in der vorliegenden Form Hans-Michael Goldmann (FDP): Drei Jahre nach also nicht mehr ganz zeitgemäß, gibt uns aber die Gele- dem Pallas-Unglück in der Deutschen Bucht hat die Bun- genheit, im Ausschuss die von der Bundesregierung er- desregierung endlich konkrete Maßnahmen zur Verbesse- griffenen und angekündigten Maßnahmen kritisch zu rung des Küstenschutzes ergriffen. Immer wieder hat die überprüfen. FDP-Bundestagsfraktion in Kleinen Anfragen und Anträ- gen die Bundesregierung gedrängt, konsequent und schnell an der Umsetzung der Empfehlungen der Exper- Dr. Winfried Wolf (PDS): Der Antrag der CDU/ tenkommission zur Aufarbeitung des Pallas-Unfalls zu ar- CSU-Fraktion fordert die Bundesregierung auf, in einer beiten. Dabei war es immer unser Ziel, drei Dinge für den zentralen Leitstelle die Zuständigkeiten für Seesicherheit Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19807

(A) zu bündeln und ihr auch die Wasserpolizei und den Zoll für das wir die Zustimmung weiter Kreise der Fachöf- (C) zu unterstellen. Wir halten diesen Antrag für voreilig, teil- fentlichkeit erhalten haben, im nächsten Jahr einzurich- weise für überholt und in seinen zentralistischen Tenden- ten. Noch in diesem Jahr wird der entsprechende Aufbau- zen für verfehlt. stab mit seinen Arbeiten beginnen. Uns war und ist Ohne Zweifel hat die Havarie der „Pallas“ diverse wichtig, dass zur Einrichtung des Havariekommandos Mängel in der Notfallvorsorge auf See offen gelegt. Dies weder das Grundgesetz noch einfache Bundesgesetze wurde festgehalten im Bericht der „Unabhängigen Exper- geändert werden müssen, sondern Bund/Länder-Verein- tenkommission Havarie „Pallas“, der dem Bundesminis- barungen ausreichen. ter für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen am 16. Februar Hinsichtlich der von Ihnen geforderten Zusammenfas- 2000 als so genannter „Grobecker-Bericht“ vorgelegt sung der Zuständigkeiten der Vollzugsbehörden auf See wurde. Dieser Bericht enthält bereits Vorschläge für einen kann ich nur Folgendes feststellen: Mit dem Koordi- umfangreichen Maßnahmekatalog. Das Bundesverkehrs- nierungsverbund Küstenwache wird bereits heute ein ministerium geht davon aus, dass die in diesem Bericht System des optimalen Einsatzes der vorhandenen Res- vorgeschlagenen Maßnahmen ganz oder weitgehend um- sourcen praktiziert. Eine Fortentwicklung dieser Zusam- gesetzt werden können. Ein Zwischenbericht, der auf den menarbeit wäre denkbar, wenn auch die Vollzugsbehörden 31. Oktober datiert ist, soll in Kürze veröffentlicht wer- der Küstenländer intensiver in den Koordinationsprozess den. Sein Inhalt wurde am 6. November 2001 in Rostock einbezogen werden könnten. Dazu haben die Bundesres- auf einem Workshop Experten vorgestellt. Er soll unter sorts den Innenressorts der Küstenländer einen Vorschlag diesen auf weit gehende Zustimmung gestoßen sein. unterbreitet, mit dem durch Bildung eines Kooperations- Grundsätzlich glauben wir, dass die Ursache für man- verbandes aller mit Vollzug auf See befassten Bundes- gelhafte Rettungsaktionen bei Katastrophen und Havarien und Landesbehörden auch ohne Grundgesetzänderung nicht primär die bisherige Struktur der Notfallvorsorge ist. eine erhöhte Effektivität erreicht werden könnte und dem Vielmehr mangelt es an einer optimalen Koordinierung, Anliegen des Beschlusses des Antrages von Schleswig- an der Ausstattung der unterschiedlichen Einrichtungen Holstein vom November 1999 entsprochen werden für eine solche Koordination, an der Bereitstellung von könnte. adäquaten Rettungs- und Notfallkapazitäten und an der Die Diskussionen und die Arbeiten seit der Havarie der sofortigen Verfügbarkeit dieser Kapazitäten. „Pallas“ haben eines doch deutlich gezeigt: Wir alle stre- Die alltäglichen Aufgaben von Zoll und Wasserpolizei ben den nachhaltigen Schutz der Meere und Küsten an. haben mit der Notfallversorgung bei Schiffshavarien Die Bundesregierung bemüht sich erfolgreich auf allen nicht viel zu tun. Ein Zusammenführen der hier vorhan- Ebenen um hohe Sicherheitsstandards für die Schiffe und (B) denen Kapazitäten ist in Fällen von Katastrophen sinnvoll ein effektives Management für den Notfall. Für den Fall, (D) und möglich. Die generelle Zuordnung dieser Kapazitäten dass trotz aller genannten Vorsorgemaßnahmen eine Ha- zu einer Leitstelle – und die entsprechende Änderung des varie eintreten sollte, wurden als Konsequenz aus der Grundgesetzes – erscheint uns jedoch zu weitreichend, „Pallas“-Havarie die Alarmpläne grundlegend überarbei- nicht zielführend und teilweise kontraproduktiv. tet. Ihre Optimierung ist ständige Aufgabe. Für die Si- Wir gehen davon aus, dass im Verlauf der Beratung cherheit unserer Küsten ist die Bildung des einheitlichen dieses Antrags in den Ausschüssen, insbesondere im Aus- Havariekommandos beschlossen. Damit ist künftig ge- schuss für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen, und in der währleistet, dass in einem Notfall innerhalb von zwei Aufarbeitung des zitierten „Zwischenberichts“ zu den Stunden der Einsatzort erreicht werden kann. Gleichzei- Folgen des „Pallas“-Unglücks mit seinem Maßnahmeka- tig bauen wir die Notschleppkapazitäten in Nord- und Ost- talog es möglich sein wird, zu einem sinnvolleren Beitrag see aus. In der Ostsee – das ist eine wichtige Neuerung – in Sachen Katastrophenschutz an der Küste und auf See werden wir zukünftig auch von staatlicher Seite Not- zu gelangen. schleppkapazität vorhalten. Auch hier werden wir für die gesamte Küste Einsatzzeiten von maximal zwei Stunden realisieren. In der vergangenen Woche wurden in einem Angelika Mertens, Parl. Staatssekretärin beim Bun- ersten Schritt Notschlepper für Kiel und in Warnemünde desminister für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen: Bei einsatzfähig bereitgestellt. Dazu kommt eine speziali- der Durchsicht Ihres Antrages werden Sie festgestellt ha- sierte Eingreiftruppe zum Absetzen an Bord eines Hava- ben, dass er insgesamt nicht mehr auf dem aktuellen Stand risten. der Diskussion zur Optimierung der maritimen Notfall- vorsorge ist. Das hat sich in der letzten Woche auf der Zudem werden die Einsatzmittel zur Bekämpfung ei- zweiten Nationalen Maritimen Konferenz in Rostock ge- ner Havarie beträchtlich ausgebaut. Wir haben eine Flotte zeigt. Die Ergebnisse waren eindeutig. von Mehrzweckschiffen, die neben ihren Seezeichenauf- gaben modernste Technik zur Schadstoffbekämpfung vor- Ihrem Anliegen, der Optimierung der Leitung des Not- halten und überwiegend auch für Notschleppaufgaben fallmanagements bei Seeunfällen, entsprechen wir mit der einsetzbar sind. Bildung des Havariekommandos. Wie Sie wissen, haben sich Bund und Küstenländer im Rahmen des Projekts Die Suche und Rettung von Schiffbrüchigen ist in den „Maritime Notfallvorsorge“ auf ein Konzept für das Ha- bewährten Händen der Deutschen Gesellschaft zur Ret- variekommando geeinigt. Damit ist der politische Wille tung Schiffbrüchiger und – soweit Lufteinsätze erforder- eindeutig dokumentiert. Wir sind dabei, das Kommando, lich sind – der Marine. 19808 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001

(A) Seit vorletzter Woche ist auch das elektronische Schiffs- ihren Hof auf. Bald wird Mallorca ohne Olivenhaine sein (C) erkennungssystem, die so genannte AIS-Transponder in – ein unschätzbarer Verlust für den Tourismus. Der Tou- Rostock-Warnemünde, in Betrieb. rismusminister von Mallorca hat uns eindringlich auf Außerdem konnten wir international die Stilllegung diese besorgliche Entwicklung in Mallorca hingewiesen. von Ein-Hüllen-Tankern beschleunigen. Eine solche Entwicklung darf bei uns nicht entstehen. Bei einer Havarie kommt es darauf an, dass Zustän- Wir sind aber auch in der Situation, dass immer mehr digkeiten und Kommunikationswege klar definiert sind, insbesondere Familien einen Urlaub auf dem Lande an- einwandfrei arbeiten und dass ein Unfallmanagement aus streben, laut Institut für Tourismus und Bäderforschung in einer Hand gewährleistet ist. Dafür werden wir gemein- Nordeuropa 6,9 Millionen Menschen, dass also die Nach- sam mit den Küstenländern das Havariekommando ein- frage steigt. Dem wachsenden Bedürfnis wollen wir ge- richten, das im nächsten Jahr von Cuxhaven aus seine recht werden. Tourismus auf dem Lande bedeutet auch Tätigkeit aufnehmen wird. Die hierfür erforderlichen Ver- Sicherung und Schaffung von Arbeitsplätzen und Ausbil- einbarungen zwischen Bund und Küstenländern stehen dungsplätzen sowie eine positive Wirtschaftsentwick- vor dem Abschluss. lung. Er beugt der Landflucht vor. Er schafft berufliche Perspektiven für die Jugend. Dies sind Punkte, die weit über das Thema Urlaub auf dem Bauernhof und Erholung Anlage 6 hinausgehen. Zu Protokoll gegebene Reden Nach dem Abbau der militärischen Streitkräfte in Deutschland – also der Bundeswehr und der Alliierten und zur Beratung des Antrags: Den Tourismus im dem Wegfall der zivilen Nachfrage dieser Streitkräfte – ist ländlichen Raum nachhaltig stärken (Tagesord- dieser Antrag auch ein Beitrag zur Konversion. Der nungspunkt 13) Tourismus kann die ausgefallene Nachfrage in diesen ehe- mals militärisch genutzten Regionen kompensieren. Brunhilde Irber (SPD): Wir haben mit diesem Antrag Ich möchte noch auf eine Forderung hinweisen, die mir zwei Themenfelder in Angriff genommen: den Tourismus besonders am Herzen liegt: Wir wollen mit einem Mo- im ländlichen Raum und die Debatte um die Nachhaltig- dellprojekt die Zusammenführung von Internetangeboten keit. Die Nachhaltigkeit ist natürlich nicht nur auf den für diese Urlaubsform unter einem Dachportal und in ver- ländlichen Raum beschränkt, sondern sie muss alle Be- schiedener sprachlicher Ausrichtung anstoßen. Die Ver- reiche des Tourismus erfassen. In der Fläche ist aber eine marktung über das Internet ist gerade in diesem Segment besondere staatliche Verantwortung gegeben. Aus dem von besonderer Bedeutung. Wir haben eine klare Ziel- (B) Verfassungsgebot der Vergleichbarkeit der Lebensver- gruppe, ein gut geordnetes Angebot und eine bislang (D) hältnisse in ganz Deutschland ergibt sich die Pflicht, die schwächelnde Vermarktung. Das Internetportal ist die Entwicklung im ländlichen Raum zu unterstützen. Da sich richtige Lösung für dieses Problem. das Kundenverhalten im Tourismus weitestgehend den staatlichen Eingriffen oder der Steuerung entzieht, setzen Ich sehe nicht, dass die Opposition diesem Antrag et- wir bei der Attraktivität der Ziele an. Wir wollen den Ur- was Vergleichbares entgegensetzen kann. Überhaupt laub auf dem Lande in der Qualität und im Umfang des scheint sich die Opposition in dieser Legislaturperiode Angebots verbessern. darauf zu beschränken, den schlechten Eindruck in Bezug Die Pflege der Naturlandschaften und die Erwirtschaf- auf die DZT-Finanzierung aus der vergangenen Legisla- tung von Erträgen aus der Naturnutzung lag in der Ver- turperiode auszugleichen. Das reicht aber für eine kon- gangenheit überwiegend bei den Bauern. Der Struktur- struktive Tourismuspolitik nicht aus. wandel in der Landwirtschaft hat die Landschaftsnutzung und somit auch die Landschaftspflege beschränkt. Das Annette Faße (SPD):Im Deutschlandtourismus ge- durchschnittliche Einkommen der Landwirte und ihrer winnen der Urlaub auf dem Bauernhof und der Landur- Betriebe hat sich verschlechtert. Als Folge müssen sich laub immer mehr an Bedeutung. Seit 1986 zeigt diese Betriebe nach ergänzenden Einkommen umsehen. Sparte einen anhaltend positiven Trend. Wir wollen mit dem Antrag die Bedingungen für die Der Bauernhof- und Landtourismus sichert Arbeits- Betriebe verbessern und die Qualität des Tourismus auf plätze und Einkommen in und außerhalb der Landwirt- dem Lande nachhaltig anheben. schaft. Besonders in Zeiten des Strukturwandels in der Worüber reden wir? Natürlich über den Urlaub auf dem Agrarlandschaft und vor dem Hintergrund der BSE-Krise Bauernhof, aber auch über das Angebot von kleinen Pen- ist dieses zusätzliche Einkommen für viele Landwirte not- sionen und Privatzimmern im ländlichen Raum. Die wendig. Auf der anderen Seite hilft der Bauernhoftouris- Fähigkeit der Landwirte, das Kultur- und Naturerbe in den mus, ein Stück des verloren gegangenen Vertrauens des ländlichen Räumen zu erhalten und dort, wo es verloren Verbrauchers in die Landwirtschaft zurückzugewinnen. gegangen ist, die Ursprünglichkeit wieder herzustellen, Etwa 20 000 landwirtschaftliche Betriebe bieten Ur- gilt es zu unterstützen. laub auf dem Bauernhof an. Bei dieser Urlaubsform woh- Als Beispiel dafür, was passiert, wenn das nicht ge- nen die Gäste auf dem Bauernhof, im Gegensatz zum Lan- lingt, sei einmal Mallorca genannt. Da das Einkommen durlaub, bei dem die Gäste in Landpensionen wohnen, die der Olivenbauern niedriger liegt als das durchschnittliche nicht an einen landwirtschaftlichen Betrieb gebunden Einkommen in den anderen Berufen, geben viele Bauern sind. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19809

(A) Die Zahl der Übernachtungen ist in den letzten zehn zent der Betriebe nicht berücksichtigt werden. In einer (C) Jahren im Landtourismus von 12 Millionen auf 27 Milli- vom Institut für Tourismus und Bäderforschung in Nord- onen gestiegen. Der Anteil des Urlaubs auf dem Bauern- europa (N.I.T.) durchgeführten Auswertung der Reiseana- hof an den gesamten Übernachtungen ist von 0,8 Prozent lyse 1999 geht man von einem Potenzial von 6,9 Millionen auf 5,5 Prozent gestiegen. Bislang bildeten Familien mit Personen aus, die sich für den Bauernhofurlaub interessie- Kindern den größten Anteil aller Bauernhofreisenden mit ren. Des Weiteren sind gemeinsame Werbe- und Marke- 45 Prozent. tingaktivitäten der Verbände nötig, beginnend bei einem professionellen lnternetauftritt. Mit dem Kompetenzzen- Da neun von zehn Bauernhofreisen als Haupturlaubs- trum in Worms steht auch für Veranstalter von Bauernhof- reisen unternommen werden, stärken sie die Nachfrage und Landtourismus professionelle Beratung für die Ein- am Urlaubsort deutlich. Im Jahr 1999 wurden mit dem führung von E-Commerce zur Verfügung. In den Bereich Bauernhof- und Landurlaub 972 Millionen DM erwirt- der Werbeaktivitäten fällt auch die Prüfung eines bundes- schaftet. weit einheitlichen Werbe- und Hinweisschildes für den Urlaub auf dem Bauernhof und Landurlaub sind be- Bauernhof- und Landtourismus. Nur so können Touristen liebt, weil es Landschaft und Natur pur gibt, der persönli- die – oft abseits gelegenen – „Heuhotels“, „Hofcafes“ und che Kontakt zu den Gastgebern geschätzt wird, die oft in- „Bed & Box“- Angebote überhaupt finden. habergeführten Familienbetriebe Einblicke in die Arbeits- Ein weiteres Thema ist die Umnutzung leer stehender und Lebensweise auf dem Land geben, vor Ort landwirt- landwirtschaftlicher Gebäude. Ferienwohnungen auf dem schaftliche Produkte gekauft werden können, die Gastge- Bauernhof können bereits als mitgezogene Nutzungen im ber auf die Wünsche ihrer Gäste individuell eingehen und Rahmen der Privilegierungen für landwirtschaftliche Ge- Sportaktivitäten oder lokale Veranstaltungen anbieten bäude nach § 35 Abs. 1 Nr. 1 BauGB eingerichtet werden. oder darauf hinweisen. So sind viele Bauernhof- und Ihre Zahl ist nicht begrenzt, sondern abhängig von ihrer Landtouristen zu Stammkunden geworden. wirtschaftlichen Bedeutung im Verhältnis zur Hauptnut- Von besonderer Bedeutung für den Tourismus im länd- zung; die mitgezogene Nutzung muss von untergeordne- lichen Raum sind die zahlreichen Schutzgebiete unter- ter Bedeutung sein. Eine Überprüfung des § 35 halte ich schiedlichster Kategorien. Sie geben diesem Wirtschafts- für sinnvoll. zweig vielfältige Impulse, die unter anderem auch eine Urlaub auf dem Bauernhof und Landurlaub bilden be- wirtschaftliche Saisonverlängerung ermöglichen. Beson- reits jetzt ein wichtiges Segment im Deutschlandtouris- ders Naturparks haben neben den Naturschutzaufgaben mus. Hier ruht noch ein großes Potenzial, das wir mobili- die Entwicklung eines naturverträglichen Tourismus zum sieren können und sollten. Damit sichern wir Tourismus Ziel. In mehreren Biosphärenreservaten gibt es ein Pro- und Landwirtschaft in Deutschland nachhaltig. (B) jekt „jobmotor“, das regionale Vermarktung, Urlaub auf (D) dem Bauernhof und anderes mehr miteinander verknüpft. Ernst Hinsken (CDU/CSU): Ich fühle mich dem Urlaub auf dem Bauernhof wird vom Bundesministe- Thema „Tourismus im ländlichen Raum“ gleich in rium für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirt- zweifacher Hinsicht verbunden: zum einen aufgrund schaft und im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe Ver- meiner früheren Tätigkeit als Parlamentarischer besserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes Staatssekretär im Landwirtschaftsministerium und zum gefördert. Jährlich werden rund 260 Millionen DM Bun- anderen dadurch, dass in meinem Wahlkreis Landtouris- des- und Landesmittel unter anderem für Maßnahmen der mus, insbesondere Urlaub auf dem Bauernhof, ganz groß Infrastrukturverbesserung, des Erhalts ortsprägender geschrieben wird. Mein Wahlkreis liegt in Bayern, dem Bausubstanz und für Umnutzungsinvestitionen einge- Land, in dem 1999 bei Urlaub auf dem Bauernhof 27 Mil- setzt. Damit sollen letztendlich die Dörfer touristisch at- lionen Übernachtungen gezählt wurden. Dies ist ein An- traktiver werden. teil von 37 Prozent. Auch im letzten Jahr haben wieder Im Tourismuspolitischen Bericht 2000 hat die Bundes- rund 1 Million Gäste Urlaub auf über 7 000 bayerischen regierung bezogen auf den Zweig „Urlaub auf dem Bau- Bauernhöfen verbracht. ernhof/Urlaub auf dem Land“ festgestellt, dass das Diese Zahlen belegen es: Der bäuerliche Gästebetrieb „grundsätzliche Interesse an dieser Urlaubsform (...) nicht ist längst nicht mehr nur ein Hobby der Bäuerin, sondern vollständig in konkrete Nachfrage um(ge)setzt (wird)“. ein ernst zu nehmender Wirtschaftsfaktor. Was vor über Die Tourismusverbände sind sich darin einig, dass mit dif- hundert Jahren als „Sommerfrische“ begann, hat sich ferenzierten Angeboten und einer zielgruppenspezifi- mittlerweile zu einem beachtlichen Tourismuszweig mit schen Vermarktung der Anteil dieser Sparte am Gesamt- hoher Attraktivität entwickelt. Dank „Urlaub auf dem reiseaufkommen noch gesteigert werden. kann. Bauernhof“ können heute viele landwirtschaftliche Be- triebe ihre Existenz sichern und unter bestimmten Um- Grundlage hierfür ist allerdings zunächst eine aussage- ständen eine echte Zukunftsperspektive für den Hofnach- kräftige Datengrundlage. Sie ermöglicht es denAnbietern, folger bieten. Ohne diese Perspektive hätten in den letzten Entwicklungen und Trends zu erkennen, ihr Angebot auf Jahren wahrscheinlich noch mehr Landwirte endgültig die Nachfrage auszurichten und gezielt auf die Wünsche die Flinte ins Korn geworfen. der Touristen zu reagieren. Bisher fehlt eine einheitliche Datengrundlage. In der Beherbergungsstatistik werden Was ist der Grund für die wachsende Beliebtheit des nur Betriebe mit mehr als acht Betten erfasst. Im Touris- Landtourismus? Es ist wohl in erster Linie die Nähe zur muspolitischen Bericht geht man davon, aus, dass 50 Pro- Natur und zu den Tieren auf dem Bauernhof, die Ruhe und 19810 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001

(A) eine gepflegte, abwechslungsreiche Kulturlandschaft mit konkrete Vorschläge zur Änderung des Baugesetzbuches. (C) der Möglichkeit zu umweltverträglichen Freizeitakti- Davon, dass die Bundesregierung Möglichkeiten prüft, vitäten. Gerade der Wechsel von Äckern und Wiesen, hat der Landwirt, der zum Beispiel seine alte Scheune zur Streuobstbeständen und Weinbergen, Wald und Ge- Unterbringung von Urlaubsgästen nutzen will, gar nichts. wässern macht den Reiz einer Landschaft aus. Unsere Ziel muss es sein, die bestehende – zum Teil historische – Landschaften wurden in jahrhundertelanger Arbeit von Bausubstanz zur Nutzung zu erhalten. Eine weitere Zer- der Land- und Forstwirtschaft geschaffen und geformt. siedlung der Landschaft ist zu verhindern. Die Pflege dieser Landschaften ist Voraussetzung dafür, Wir sind uns alle darüber einig, dass eine Verbesserung dass der ländliche Raum als Urlaubsort attraktiv bleibt. der Daten- und Informationsgrundlage im Bereich Urlaub Die Landwirte erbringen diese Leistung; eine Leistung, auf dem Bauernhof und Landtourismus dringend er- die noch immer nicht die verdiente Beachtung findet und forderlich ist. Das wurde spätestens bei der öffentlichen nur unzureichend honoriert wird. Anhörung zum Thema „Landtourismus in Deutschland“ Es ist davon auszugehen, dass das grundsätzliche In- auf der Grünen Woche im Januar dieses Jahres deutlich. teresse an dieser Urlaubsform immer noch größer ist als Ich verstehe aber nicht, warum Sie in Ihren Antrag die die konkrete Nachfrage. Laut einer Umfrage würden Forderung nach einer Studie über das Verbraucherverhal- 12 Prozent aller Deutschen gerne einmal Urlaub auf dem ten und die Verbrauchererwartungen aufgenommen Bauernhof machen, aber nur 4 Prozent nutzen diese haben. Denn erst im September hat sich die Bundesar- Möglichkeit. Um dies zu ändern, müssen Idee, Konzept beitsgemeinschaft „Urlaub auf dem Bauernhof“ (BAG) und Angebot vom Urlaub auf dem Bauernhof stetig der mit ihrer „Initiative Marktforschung“ an das Bundes- Nachfrage entsprechend weiterentwickelt werden, ohne landwirtschaftsministerium gewandt. Sie beantragt darin jedoch das vom Urlaubsgast gewünschte bäuerliche die Förderung einer Studie über das Angebots- und Leis- Ambiente zu verlieren. Ein bisschen „Stallgeruch“ gehört tungsspektrum der Betriebe sowie über die gegenwärti- einfach dazu. gen und zukünftigen Erwartungen der Gäste. Ich will doch nicht hoffen, dass Sie mit Ihrem Antrag die Be- Große Chancen sehe ich auch in einer Spezialisierung mühungen der BAG aushebeln wollen. der Betriebe auf bestimmte Zielgruppen. Wie so etwas aussehen kann, zeigt sich etwa in Ostbayern. Hier bieten Ihr Antrag enthält ohne Zweifel auch gute Ansätze. Ich 264 Betriebe ein auf Familien mit Babys und bin gerne bereit, das anzuerkennen. Während Sie sich hier Kleinkindern, Angler, Reiter, Radler und Golfer abge- für die Landwirte stark machen, legen Sie Ihnen an an- stimmtes Angebot an. 67 Betriebe sind vom Kneipp-Bund derer Stelle aber neue Steine in den Weg. Bestes Beispiel anerkannte Gesundheitshöfe oder „Regionale Netzwerk- ist die Neufassung des Bundesnaturschutzgesetzes. Die (B) partner im Gesundheitsmarkt“. Den Erfolg solcher erzwungene Neueinrichtung von Hecken und Saumstruk- (D) Spezialangebote belegen folgende Zahlen: Während die turen ist für die betroffenen Bauern mit großen fi- spezialisierten Betriebe 200 Übernachtungen pro Bett und nanziellen Belastungen verbunden: Nach Berechnungen Jahr verbuchen, zählen nicht spezialisierte Höfe lediglich der Landesregierung von Nordrhein-Westfalen belaufen 146 Übernachtungen. Durch eine solche „Nischenstrate- sich die Kosten für die Anpflanzung von 2 000 Meter gie“ kennt der Anbieter die Wünsche und Erwartungen Hecke auf 20 000 DM und die Pflege in den ersten fünf seiner Zielgruppe genau und kann sein Angebot dem- Jahren verschlingt weitere 20 000 DM. Dies passt nicht entsprechend gestalten. Die deutlichen Zuwächse im zusammen. Die zusätzlichen Einnahmen aus dem Touris- Deutschlandtourismus sind der Beweis: Orientierung am mus, die Sie den Bauern mit Ihrem Antrag verschaffen Kunden bringt Aufschwung! wollen, ziehen Sie ihnen also auf der anderen Seite wieder aus der Tasche. „Natur erleben in Deutschland“ wird im Interna- tionalen Jahr des Ökotourismus 2002 ein zentrales Thema Den Landwirten, die Urlaub auf dem Bauernhof an- bei der DZT sein. Wo könnte man die Natur besser erleben bieten, wird ohnehin viel abverlangt. Die Gäste wollen als beim Urlaub auf dem Bauernhof? einerseits aktiv betreut werden, andererseits aber auch den Bauern bei ihrer alltäglichen Arbeit über die Schulter Das Potenzial der am Landtourismus interessierten schauen. Auf den Urlaubshöfen ist also quasi jeden Tag Urlauber müssen wir künftig noch stärker nutzen. Endlich „Tag der offenen Tür“. Dafür, dass viele Landwirte diese haben das auch die Kollegen von der Regierungskoalition zusätzliche Belastung gerne auf sich nehmen, verdienen erkannt und das Thema wieder auf die Tagesordnung ge- sie unsere Anerkennung. Sie tragen durch ihr Engagement bracht. Dafür bin ich Ihnen dankbar. Es wäre allerdings entscheidend zur Verständigung von Stadt- und Land- besser gewesen, Sie hätten in Ihren Antrag nur halb so bevölkerung bei. Gerade seit der BSE-Krise ist es beson- viele Forderungen hinein geschrieben und dafür das Kind ders wichtig, das Vertrauen der Verbraucher in die Land- beim Namen genannt. Sie reißen zwar alles an; im Detail wirtschaft wiederzugewinnen. Das eigene Erleben der bleiben Sie aber konkrete Lösungen schuldig. Zum Produktion von Lebensmitteln durch die Urlauber kann Beispiel beim Thema Umnutzung von bestehenden land- dazu einen wesentlichen Beitrag leisten. wirtschaftlichen Gebäuden. Hier fordern Sie, die Bun- desregierung solle prüfen, inwieweit durch Änderungen des Baugesetzbuches die Umnutzungsmöglichkeiten im Sylvia Voß (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wenn Hinblick auf eine bessere wirtschaftliche Nutzung erwei- man einmal von den freundlich blökenden Schafen, grun- tert werden können. Die Bundesregierung soll aber nicht zenden Schweinen und laut schnatternden Gänsen ab- nur „prüfen“, sie soll etwas tun. Von Ihnen erwarte ich sieht, ist es auf dem Land sehr ruhig. Deswegen zieht es Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19811

(A) immer mehr Touristen dort hin. Auf dem Land fällt es Gastronomie werden die Kellnerinnen und Kellner Teller (C) leicht, Alltagsstress und Hektik hinter sich zu lassen. Das an den Tisch der Gäste bringen, auf denen sich Fleisch, erkennen immer mehr Menschen. Obst und Gemüse aus der Gegend wiederfinden. Die Nachfrage ist aufseiten der Anbieter und der Gäste groß. Innerhalb von zehn Jahren sind die Zahlen in diesem Bereich um weit mehr als das Doppelte angestiegen. Rund In Brandenburg gibt es zum Beispiel schon seit einigen 20 000 Landpensionen und -hotels erfreuen sich immer Jahren den „Brandenburger Teller“. Über 50 Restaurants, größerer Beliebtheit. Touristen, die nicht gern auf Matrat- Gasthäuser und Hotels beteiligen sich daran. Auf ihrer zen ihre Nachtruhe finden, werden auf Bauernhöfen Karte findet der hungrige Gast ein spezielles Gericht, das ebenso fündig. Ihnen bietet sich – vorausgesetzt sie leiden aus frischen regionalen Brandenburger Spezialitäten zu- nicht unter Heuschnupfen – die Möglichkeit, ihren bereitet wurde. „Frisch von hier und lecker“ – lautet das Schlafsack im Stroh auszubreiten. Motto. Für die Gerichte und die Produkte gelten strenge Kriterien. Fachleute gehen davon aus, dass der Anteil re- Landtourismus ist individuell, vielfältig und attraktiv. gionaler Produkte auf 25 Prozent angehoben werden Mit dem vorliegenden rot-grünen Antrag ist es uns einmal kann. Gelungene Aktionen, wie die in Brandenburg, und mehr gelungen, dazu beizutragen, dass der ohnehin sehr unser Antrag werden dazu beitragen. beliebte und sehr vielfältige Deutschlandtourismus im Bereich des ländlichen Raumes noch bessere Rahmenbe- Landtourismus ist lehrreich, anschaulich und nützlich. dingungen erhält. Der Deutschlandtourismus wird noch Zwar sind BSE sowie Maul- und Klauenseuche mittler- anziehender und interessanter. Obwohl unser Maßnahme- weile fast in Vergessenheit geraten, aber der Bauernhof paket der Opposition traditionsgemäß nicht ausreichend und der Landtourismus haben einen großen Anteil daran, sein wird, ist festzustellen, dass die rot-grüne Koalition dass der Glaube der Bevölkerung in die landwirtschaftli- einmal mehr Deutschland als Reiseland voranbringt. che Produktion nicht verloren gegangen ist. Als Tourist kann man nicht nur zusehen, wie die Tierhaltung funktio- Gerade in dieser Zeit, in der viele Menschen durch den niert, sondern vereinzelt auch selbst mit anpacken. So et- Terror verunsichert sind und Angst vor dem Verreisen ha- was schafft Vertrauen und vermittelt weit tiefere Ein- ben, weichen viele Menschen auf Reiseziele in Deutsch- blicke und Verständnis, als irgendein Lehrbuch es land aus. Und natürlich verspürt man in dieser Zeit noch schaffen könnte. stärker das Bedürfnis nach Ruhe und Sicherheit. Kaum eine Sparte kommt diesem Bedürfnis mehr entgegen als Erst vor kurzem konnten wir die Einführung der touris- der Landtourismus. tischen Umweltdachmarke „Viabono“ vermelden, deren Einführung ein großer Erfolg für die Tourismuspolitik Landtourismus ist erholsam, abwechslungsreich und von Bündnis 90/Die Grünen und der SPD ist. Die Um- umweltschonend. Längst wissen nicht mehr nur Familien (B) weltdachmarke „Viabono“ wird den Tourismusstandort (D) die günstige Gelegenheit zu schätzen. Menschen jeden Deutschland nachhaltig ökologisch prägen. Umwelt, Ver- Alters lassen mittlerweile auf dem Bauernhof oder in ei- brauchern und Anbietern ist damit gedient. Gerade für den ner Landpension die Seele baumeln. Leider kann man der- Landtourismus ist das funktionierende Zusammenspiel zeit noch nicht im Detail sagen, wer denn eigentlich diese dieser drei Partner wichtig. Zielgruppe sei, an die es sich speziell zu wenden gilt. Daher arbeiten wir mit unserem Antrag darauf hin, un- Dies wird sich baldmöglichst mittels diverser im An- ter Anbietern verstärkt für die Dachmarke zu werben. trag verankerter Maßnahmen ändern. Die Übernach- Wenn diese erkennen, welche Marketingvorteile ihnen tungsdaten werden künftig umfangreicher und detaillier- der Beitritt zu „Viabono“ bringt, werden sie nicht zögern ter erfasst werden. Des Weiteren wird sich eine Studie mit beizutreten. den Verbrauchererwartungen der Touristen im ländlichen Raum beschäftigen, Angebot und Nachfrage müssen Landtourismus ist einzigartig und erholsam – auch schließlich aufeinander abgestimmt werden. Anbieter und dank der fürsorglichen Betreuung der Touristen durch die Tourismuspolitiker werden aus dieser Studie entspre- Gastgeber. chende Schlüsse ziehen können und dem Bauernhof- und SPD und Grüne sorgen dafür, dass der Landtourismus Landtourismus neue Impulse geben. Diese Maßnahme als etablierter Wirtschaftszweig des Deutschlandtouris- wird sich lohnen, denn aus vielen Landtouristen werden mus auch weiterhin prosperiert. Während die rechte Seite Stammkunden. Männer und Frauen, ob allein oder als Fa- des Hauses den Landtourismus offensichtlich ignoriert milie, kehren gern auf den Bauernhof zurück. und sich bei Vorschlägen zur Verbesserung der Wettbe- Doch mit der oben angesprochenen Seelenmassage der werbsfähigkeit des Landtourismus vornehm zurückhält Touristen allein ist es im Urlaub noch nicht getan. Man oder zur obligatorischen Ökosteuerkeule greift, die aber kann schließlich nicht nur von Luft und Liebe leben. Gau- natürlich nicht trifft. menfreuden spielen eine ebenfalls – im wahrsten Sinne Und noch etwas sichern wir: Viele Kinder sollen noch des Wortes – gewichtige Rolle. Landtourismus schmeckt erfahren können, dass Schnitzel nicht aus der Tiefkühl- auch gut. Auf dem Gebiet wird es dank unserer Initiative truhe kommen und Kühe nicht lila sind. gelingen, den Anteil regionaler Produkte zu erhöhen. Dank einer möglichen Direktvermarktung werden fle- xiblere Absatzmöglichkeiten eröffnet. Produzenten kön- Ernst Burgbacher (FDP): Unter den Tourismuspoli- nen ihre schmackhaften Produkte einem breiteren Kun- tikern herrscht ein Grundkonsens in Bezug auf die Be- denstamm anbieten. In den Küchen der Hotellerie und deutung des Wirtschaftsfaktors Tourismus. Hierzu gehört 19812 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001

(A) selbstverständlich auch der bedeutende Teilbereich „Ur- Wenn SPD und Grüne tatsächlich die Rahmenbedin- (C) laub auf dem Bauernhof“ bzw. Landtourismus. Der An- gungen für den „Urlaub auf dem Bauernhof“ und den trag von SPD und Grünen „Den Tourismus im ländlichen „Landurlaub“ verbessern wollen, müssen sie ihre Mehr- Raum nachhaltig stärken“ ist kaum kontrovers, wenn heiten im Deutschen Bundestag nur nutzen. Entscheidend auch wenig aussagekräftig. ist für den Tourismus im ländlichen Raum, dass endlich gehandelt wird und die notwendigen Verbesserungen der Die Liberalen begrüßen, dass 2002 zum Jahr des Öko- Rahmenbedingungen vorgenommen werden. tourismus ausgerufen worden ist. Die Einführung der Umweltdachmarke „Viabono“ wird von uns unterstützt. Leider unterläuft Rot-Grün gerade heute mit der Ver- Die Sicherung eines intakten ländlichen Raumes mit viel- abschiedung des Bundesnaturschutzgesetzes die eigenen fältigen Funktionen erfordert gesamtgesellschaftliche An- Ziele. Die Naturschutznovelle schadet insbesondere dem strengungen. Für diskussionswürdig am vorliegenden An- ländlichen Raum; dem Tourismus, der regionalen Ent- trag halte ich in erster Linie das Ziel von Rot-Grün, die wicklung und den sportlichen Aktivitäten in freier Natur. Daten der Übernachtungen im Rahmen des Urlaubs auf Damit bleibt die Politik von Rot-Grün überaus wider- dem Bauernhof so umfassend wie möglich erfassen zu sprüchlich und für die Tourismusbranche nur schwer kal- wollen. Dies führt in den Augen der Liberalen zu einem kulierbar. weiteren großen bürokratischen Aufwand, für den diese Regierungskoalition bekannt ist. Rosel Neuhäuser (PDS): Der größte Reichtum der In Zeiten, in denen die Landwirtschaft mit den Folgen Erde ist die unüberschaubare Fülle der Lebensformen in von BSE und MKS zu kämpfen hat, und angesichts eines den vielfältigen Ökosystemen und Landschaftsstrukturen. sich rasant vollziehenden Strukturwandels in der Land- Dies zu bewahren gehört zu den größten Herausforderun- wirtschaft ist es wichtig, zusätzliche Einnahmequellen zu gen der Menschheit. Mit dem Ziel, sich dieser Herausfor- erschließen. Die FDP sieht Möglichkeiten zur Steigerung derung zu stellen, unterstützen wir grundsätzlich den vor- der Übernachtungszahlen vorrangig durch folgende Maß- liegenden Antrag zur nachhaltigen Stärkung des nahmen: Tourismus im ländlichen Raum. Erstens. Ausbau der Nutzung der neuen Medien unter Wir sind uns sicherlich einig, dass sich eine zukunfts- dem Motto „Bauernbett im Internet“. Gerade für „Stadt- orientierte Umwelt- und Agrarpolitik für den Erhalt von Kulturlandschaften mit besonderer Bedeutung für die bio- menschen“, die im Internet ihr Urlaubsziel suchen und bu- logische Vielfalt einsetzen muss. Es sind Rahmenbedin- chen, ist der Landtourismus eine interessante Alternative, gungen zu schaffen, unter denen sich Kulturlandschaften um in der Natur abzuschalten. Voraussetzung hierfür ist weiterentwickeln können, ohne ihre charakteristischen allerdings, dass die Angebote überhaupt im Internet zu Merkmale einzubüßen. (B) finden sind. (D) Die Entwicklung des Landtourismus, wie im Antrag Zweitens. Die Deutsche Zentrale für Tourismus sollte ausgewiesen, hat unsere Unterstützung, zum einen, weil gemeinsam mit der Deutschen Landwirtschafts-Gesell- sich diese Form doch sehr wohltuend vom indus- schaft, der Bundesarbeitsgemeinschaft „Urlaub auf dem triemäßig organisierten Massentourismus unterscheidet Bauernhof“ und der Reiseindustrie weitere Anstrengun- und zum anderen, weil damit neue Potenziale für Wert- gen unternehmen, um durch Marketingmaßnahmen die schöpfung, Beschäftigung und persönliches Einkommen vorhandenen Potenziale weiter auszubauen. in den strukturschwachen ländlichen Regionen erschlos- Drittens. Eine Anpassung der im Baurecht enthaltenen sen werden. bzw. in der Anwendung bauplanungs- und ordnungs- Der ländliche Tourismus sollte, da er eng mit der rechtlicher Vorschriften durch Genehmigungsbehörden Entwicklung der jeweiligen Region verknüpft ist, sehr angewandten Bestimmungen im Interesse des Landtou- realitätsbezogen, auf der Basis regionaler Analysen und rismus. Tourismuskonzepte als Teil integrierter regionaler Ent- Viertens. Eine verbesserte Koordination der Bundes- wicklungskonzepte entwickelt werden. Ihre Erarbeitung ministerien für Wirtschaft und für Verbraucherschutz, bedarf der Vor-Ort-Beratung und finanziellen Förderung Ernährung und Landwirtschaft, um auf diese Weise Sy- durch das jeweilige Land. nergieeffekte zu erzielen. Zur regionalen Verknüpfung im Interesse eines erfolg- In den Zielen und der grundsätzlichen Unterstützung reichen Tourismus gehört die Einbindung der Land- und für den Tourismus im ländlichen Raum besteht Überein- Forstwirtschaft in die regionalen Märkte, also neue Ver- stimmung zwischen den Fraktionen. Viele der im Antrag triebs- und Vermarktungsstrategien – sensibilisiert durch von SPD und Grünen genannten Maßnahmen sind zu be- die BSE-Krise dürfte das an Gewicht gewinnen –, der Na- grüßen. Das geht von der Direktvermarktung regionaler turschutz und die Erhaltung und Pflege der Kulturland- Produkte über eine Verbesserung des Inlandmarketings schaft, die Wahrung der regionalen kulturellen Identität bis zur Neuordnung der Genehmigung von Hinweis- und einschließlich des Siedlungscharakters, die Wiederbele- Werbeschildern. Allerdings bleibt der Antrag von SPD bung traditioneller wie die Erschließung innovativer Pro- und Grünen in vielen Punkten allzu sehr im Unverbindli- dukte in Handwerk und Kleinbetrieben, der Ausbau der touristischen Infrastruktur selbst. chen. Die Vielzahl an Prüfaufträgen und Absichtser- klärungen im Forderungskatalog der Koalitionsfraktionen Für die weitere erfolgreiche Gestaltung des Landtou- unterstreicht das eindeutig. rismus ist die Frage der Identifikations- und Imagebil- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19813

(A) dung wichtig, wenn nicht sogar übergeordnet. Ob das Anlage 7 (C) ländliche Tourismuskonzept einer Region erfolgreich ist oder nicht, hängt wesentlich von der Unverwechselbar- Zu Protokoll gegebene Reden keit des Angebots ab, namentlich von der Einzigartigkeit zur Beratung der Großen Anfrage: Erleichte- der Landschaft und der ländlichen Kultur. Letztere reicht rung bei der internationalen Vollstreckungshilfe von den Besonderheiten der Bauweisen über traditionelle (Tagesordnungspunkt 17) Bräuche bis zu regional- bzw. lokaltypischen Spezialitä- ten der Gastronomie. Alfred Hartenbach (SPD): Ziel des „Übereinkom- Da die Anbieter von „Urlaub auf dem Bauernhof“ mens vom 21. März 1983 über die Überstellung verurteil- keine Großunternehmen sind, ist es wichtig, mehr für eine Bündelung der Vermarktung dieses Urlaubsangebotes zu ter Personen“ ist es, dass verurteilte Straftäter ihre Frei- tun. Das betrifft im Wesentlichen auch unser Mitwirken heitsstrafe möglichst in ihrem Heimatland absitzen sollen. an der qualitativen Weiterentwicklung der politisch-recht- Das ist ein gutes und vernünftiges Ziel; dazu bedarf es lichen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, damit auch einer solchen internationalen Vereinbarung. Leider sich die insgesamt positive Entwicklung des Landtouris- erfüllt das Übereinkommen seinen Zweck offenbar nur mus fortsetzen und verstärken kann. unvollkommen. Viele Staaten, die das Übereinkommen bislang unterzeichnet oder ratifiziert haben, machen da- Ohne hier auf Einzelheiten einzugehen, möchte ich nur von überhaupt keinen oder nur sehr geringen Gebrauch. sagen: Ich habe bei Gesprächen vor Ort erfahren, dass auf Dies lässt sich auch aus den Antworten der Bundesregie- folgenden Feldern kleinere und auch größere Probleme rung auf die Anfrage der Union eindeutig ablesen. Des- bestehen, die einer Lösung bedürfen und aus meiner Sicht halb war das Übereinkommen bislang nicht sonderlich er- im vorliegenden Antrag noch nicht genügend bedacht folgreich. Dies wird auch vor dem Hintergrund deutlich, sind: dass die Zahl der ausländischen Staatsangehörigen, die in Ressortgrenzen als Investitionshemmnis. So wird seit Deutschland ihre Strafe absitzen, seit 1992 stetig steigt; Jahren über das Erfordernis der Verzahnung der Agrar- bis 1998 ist die Zahl um mehr als das doppelte gestiegen, und Regionalförderung philosophiert – um nicht zu sagen Überstellungen in das Land der Staatsangehörigkeit fin- „geschwätzt“ – aber tatsächlich ist wenig passiert. den trotz geringer Steigerung nur selten statt. Vom Ausland nach Deutschland gibt es noch weniger Überstellungen. Unzureichende komplexe Beratungsangebote. Land- Man muss sich also fragen, wie man die Überstellungs- wirte, die als zweites Standbein oder gar zum Haupter- praxis verbessern kann. werb Dienstleistungen im Freizeitbereich, zum Beispiel Kutschfahrten, Reitplatz, Reiterhof, im Bereich Erholung Die Große Anfrage der Union war trotzdem nicht ihr (B) – Ferienzimmer auf dem Bauernhof –, im Bereich Be- geschicktester Schachzug. Diese Anfrage hätte sie besser (D) wirtung – Bauernhofcafé oder -gaststätte – etc. aufbauen nicht gestellt. Denn nach den Antworten der Bundesre- möchten, brauchen Beratungsleistungen, die von der be- gierung wird ganz klar, dass wir das Zusatzprotokoll nach triebswirtschaftlichen Beratung über Beratung zu Ge- den Jahren, in denen in diesem Bereich kaum etwas pas- bäude-Umnutzung, Baugenehmigungsrecht, Denkmal- sierte, dringend benötigten. Nur so, durch Verzicht auf die schutz bis zu Versicherungs-, Steuer- und Erbrechtsfragen Zustimmung der Verurteilten, kann von der Überstellung reichen. Das kann in aller Regel weder von der Agrarbe- an die Herkunftsstaaten viel häufiger Gebrauch gemacht ratung noch von der hauswirtschaftlichen Beratung ge- werden. leistet werden. Da das Konzept in hohem Maße über Er- Es muss an dieser Stelle allerdings betont werden, dass folg oder Misserfolg entscheidet, ist die Sicherung einer die Überstellungen auch nur dort in Erwägung gezogen komplexen und auch preisgünstigen Beratung notwen- werden sollten, wo sie wirklich Sinn machen. Keinen dig. Sinn machen sie zum Beispiel dann, wenn ein Verurteilter Rechtliche Barrieren und Bürokratie bei der Umnut- schon in der zweiten oder dritten Generation in Deutsch- zung von Gebäuden. Hierzu liegt eine nachlesbare Stel- land lebt und vielleicht noch nicht einmal seine Heimat- lungnahme der Bundesarbeitsgemeinschaft für Urlaub auf sprache fließend sprechen kann und dort auch keinerlei dem Bauernhof und Landtourismus, BAG, vor, die wir familiäre Bindungen mehr hat. vom Grundsatz unterstützen. Es gibt durchaus verschiedene Gründe für die geringe Aus dem Gesagten wird meines Erachtens deutlich, Zahl der Überstellungen. Sie beruht vor allem darauf, dass dass Handlungsbedarf auf allen staatlichen Ebenen, beim die Verurteilten nicht überstellt werden wollen, da sie die Bund, im Land, in der Kommune, besteht. deutschen Vollstreckungsbedingungen denen ihrer Hei- matstaaten vorziehen. Einige Verurteilte ziehen ihren Lassen Sie mich abschließend die Bedingungen für den Überstellungswunsch auch nachträglich zurück, da ihnen Erfolg des Tourismus auf dem Lande unter dem Gesichts- in Deutschland die baldige Haftentlassung nach zwei punkt eines modernen Dienstleistungsmarketing in vier Drittel der Strafverbüßung bevorsteht. Punkten zusammenfassen: erstens Konzentration auf Zielgruppen und Themen, zweitens Kooperation mit Aus diesem Grund waren im Zusatzprotokoll weitere möglichst vielen Partnern, drittens Kreativität in der Änderungen des Ursprungsübereinkommens hinsichtlich Marktbearbeitung und viertens Kundenorientierung einer weiteren Harmonisierung der Strafzumessungs- und durch guten Service. Lassen Sie uns gemeinsam an der Strafvollstreckungspraxis angestrebt worden. Leider Lösung der anstehenden Aufgaben arbeiten. waren diese Verhandlungen nicht erfolgreich. Dies ist 19814 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001

(A) bedauerlich, denn eine solche Harmonisierung würde zu- Die ausländischen Strafgefangenen müssen also – zur (C) sätzlich zu einer verstärkten Anwendung des Überein- weiteren Verbüßung ihrer Strafe – konsequent in ihr Hei- kommens führen. Denn zum Beispiel gerade die Nieder- matland zurückgeführt werden. lande halten die verhängten Strafen in Deutschland vor Die internationale Rechtsgrundlage für die Rück- allem im Bereich der Betäubungsmittelstraftaten für zu exzessiv und stimmen deshalb einer Überstellung nicht führung ausländischer Strafgefangener ist das „Überein- zu. Teilweise übersteigen die in Deutschland geltenden kommen vom 21. März 1983 über die Überstellung ver- Strafen die Höchststrafe in den Niederlanden, sodass aus urteilter Personen“. Es ist am 1. Februar 1992 für diesem Grund nicht überstellt werden kann. Hier sollte die Deutschland in Kraft getreten. Damit arbeiten wir inter- Bundesregierung weiter versuchen, gemeinsame Ansätze national auf einer sicheren vertraglichen Grundlage. In al- jedenfalls in Europa zu entwickeln. Das Bundesministe- len geeigneten Fällen können ausländische Verurteilte in rium der Justiz hat über diese und andere Punkte der straf- die jeweiligen Heimatländer zur weiteren Strafvoll- prozessualen Zusammenarbeit in Europa gerade im streckung überstellen werden. Rechtsausschuss berichtet. Wir sollten also der Bundesre- Wir müssten uns aber über dieses Thema nicht unter- gierung und vor allem unserer Bundesministerin der Jus- halten, wenn wir nicht den Verdacht hätten – nein: seit der tiz den Rücken stärken, damit in dieser Hinsicht in Zu- Antwort der Bundesregierung sicher wissen – , dass die kunft weitere Erfolge erzielt werden können. Wir wissen, Straftäterrückführung nicht so funktioniert, wie wir das dass dieses Vorhaben bei ihr in guten Händen ist. international gerne hätten. Zunächst aber ist festzuhalten, dass das Zusatzproto- Trotz dieses Übereinkommens geht es mit der Rück- koll der beste Weg ist, die Zahl der Überstellungen zu stei- führung nicht voran. Die Zahlen, die von der Bundesre- gern. gierung vorgelegt worden sind, sprechen eine eindeutige Sprache. Sie haben düstere Prognosen bestätigt. Im Jahr Volker Kauder (CDU/CSU): Die Anzahl der auslän- 1998, so können wir in der Antwort lesen – als über 13 000 dischen Strafgefangenen, die in deutschen Justizvollzugs- ausländische Staatsangehörige in deutschen Gefängnis- anstalten einsitzen, ist in den letzten zehn Jahren stetig sen ihre Strafe verbüßten –, wurden gerade einmal 63 Ver- und schnell gewachsen. Alleine zwischen 1992 und 1998 urteilte in ihr jeweiliges Heimatland zurückgeführt. hat sie sich auf mehr als 13 000 mehr als verdoppelt. Zu Woran liegt es, dass die Rückführung nicht im er- diesem wichtigen Sachverhalt hat die CDU/CSU-Bun- wünschten Umfang durchgeführt wird? destagsfraktion eine Große Anfrage an die Bundesregie- rung gerichtet. Wir möchten gerne wissen: Welche Es ist richtig, dass das gegenwärtig praktizierte Über- Schritte plant die Regierung, um die große Anzahl an aus- stellungsverfahren nach dem Abkommen von 1983 auf- (B) ländischen Gefangenen durch Erleichterungen bei der in- wendig, langwierig und bürokratisch ist. Oft genug müs- (D) ternationalen Vollstreckungshilfe zu reduzieren? sen zur Durchführung diplomatische Wege beschritten werden. Der Verfahrensablauf – so sehr er auch Zeit kos- Natürlich interessieren uns auch die aktuellen Zahlen, tet – ist jedoch nicht der Kern des Problems. Die Schuld die der Bundesregierung vorliegen – zeigen sie doch, wel- an dem Missstand, dass nicht in großem Stil überstellt cher Erkenntnisstand ausgewertet worden ist. wird, ist eindeutig bei uns und nicht in den anderen betei- Es ist merkwürdig und meiner Ansicht nach auch be- ligten Staaten zu suchen. Die Antwort der Bundesregie- denklich, dass die Bundesregierung in ihrer Antwort – in rung legt es schonungslos offen: „Die der Bundesregie- der zweiten Jahreshälfte 2001 – nicht in der Lage war, die rung vorliegenden Erkenntnisse lassen jedoch den Zahlen für 1999 und 2000 zu präsentieren. Dies macht Schluss zu, dass eine Überstellung nur in relativ wenigen deutlich, wie nachlässig in Regierungskreisen mit diesem Fällen durch den Vollstreckungsstaat abgelehnt wurden.“ Thema umgegangen wird. Gleichzeitig ist eindeutig nicht Das Übel ist also in Deutschland zu suchen. der Nachweis geführt worden, dass der ungünstige Trend gebrochen ist. Es ist also mit an Sicherheit grenzender Bei der Suche nach diesem Hindernis, fällt vor allem Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass die Anzahl eine Hürde auf, die genommen werden muss. Es ist nicht der in den Gefängnissen einsitzenden Ausländer noch die alleinige Ursache des Nichtfunktionierens, aber es ist weiter angestiegen ist. eine entscheidende Hürde. Nach der gegenwärtigen deut- schen Rechtslage ist eine Strafvollstreckung im Heimat- Angesichts der dramatischen Überfüllung in unseren land nur mit ausdrücklicher Zustimmung des betroffenen Haftanstalten und den enormen Kosten für den deutschen Gefangenen möglich. Steuerzahler – wir sprechen hier über Kosten, die sich auf hunderte Millionen Euro belaufen – muss hier Abhilfe ge- Solch eine Zustimmung wird aus nahe liegenden Grün- schaffen werden. den von ausländischen Straftätern im Regelfall nicht ge- Auch aus der Perspektive der ausländischen Strafge- geben. Strafverbüßung in Deutschland hat bei so man- fangenen ergibt sich nichts anderes. Man muss ganz chem ausländischen Strafgefangenen leider noch immer grundsätzlich von einer besseren Resozialisierungs- einen zweifelhaft guten Ruf. möglichkeit im jeweiligen Heimatland eines Straftäters Diese Zustimmungsklausel war im Ursprungsüberein- ausgehen. Die Strafvollstreckung in Deutschland kann im kommen von 1983 enthalten. In Deutschland gilt die Einzelfall eine besondere Härte darstellen. Dies gilt ins- Regelung noch immer. Das müsste nicht mehr so sein ! In- besondere, weil den Verurteilten Kontakte zu ihren Fami- ternational ist genau dieser entscheidende Punkt seit dem lien erschwert werden. 18. Dezember 1997 eindeutig und einvernehmlich gere- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19815

(A) gelt worden. In einem Zusatzprotokoll zum genannten klar: Der entscheidende Hemmschuh auf dem Weg zur Er- (C) Übereinkommen wurde festgelegt, dass das Einverständ- leichterung der internationalen Vollstreckungshilfe in nis des Strafgefangenen bei Vorliegen einer Auswei- Deutschland ist die rot-grüne Bundesregierung selbst. Sie sungsverfügung ausdrücklich entfallen kann. Neben vie- verweigert den vorgezeichneten und vernünftigen Schritt len anderen Staaten gehört auch Deutschland zu den zur Rechtsänderung in Deutschland und sie weigert sich Signatarstaaten, dieses Zusatzprotokolls zur Erleichte- auch, auf internationaler Ebene die Anwendbarkeit des rung der Vollstreckungshilfe. Um das Protokoll in Kraft Zusatzprotokolls anzumahnen. zu setzen, bedarf es lediglich eines Vertragsgesetzes zur Ratifizierung. Darauf warten wir nun seit Amtsantritt der Damit gesteht die Bundesregierung ihre Untätigkeit rot-grünen Bundesregierung – bislang vergeblich. ein. Sie unternimmt nicht die notwendigen Anstrengun- gen, um die drängenden Probleme zu beseitigen, die sich Dass wir es hier nicht mit einer politisch oder sachlich strittigen Angelegenheit zu tun haben, beweist der Be- im Rahmen des Vollstreckungshilfeverfahrens ergeben schluss der Justizministerkonferenz vom 10. November haben. 1999. Da wurde die Bundesregierung völlig einver- Es handelt sich um ein weiteres Politikfeld, in dem die nehmlich – mit 16 zu null Stimmen – aufgefordert, das Bundesregierung versagt hat – zum Schaden für die Men- Protokoll so bald wie möglich zu ratifizieren und gleich- schen in Deutschland. zeitig bei allen anderen Staaten für die Unterzeichnung und Ratifizierung zu werben. Auch dieser dringende Ap- pell der Fachleute verhallte bei Rot-Grün ungehört. Helmut Wilhelm (Amberg) (Bündnis 90/Die Grünen): Die Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat daher diese der CDU/CSU zur „Erleichterung bei der internationalen Große Anfrage gestellt, um zu erfahren, was die Bundes- Vollstreckung“ hat deutlich werden lassen, dass die Bun- regierung nach Jahren der Tatenlosigkeit denn nun end- lich unternehmen will. Uns interessiert, mit welchen Mit- desregierung Defizite bei der Ausführung des „Überein- teln die Verfahren der internationale Vollstreckungshilfe kommens vom 21. März 1983 über die Überstellung ver- ihrer Ansicht nach beschleunigt werden sollen. Uns inter- urteilter Personen“ feststellt. Es wurde deutlich, dass dies essiert, wann denn endlich dieses Zusatzprotokoll ratifi- in erster Line auf Vorbehalte gegen die Vollstreckungs- ziert werden soll. Uns interessiert, welche Schritte die Re- praxis der Mitgliedstaaten untereinander zurückzuführen gierung auf internationaler Ebene plant, um zum Erfolg zu ist. Deutschland hat Vorschläge, die im Ergebnis zu einer kommen. gewissen Harmonisierung der unterschiedlichen Strafzu- messungs- und Strafvollstreckungspraktiken beigetragen Die Antwort der Bundesregierung bleibt schwammig: hätten, in Verhandlungen über das Zusatzprotokoll zum Sie unterstütze Initiativen des Europarates und arbeite im Überstellungsübereinkommen eingebracht, konnte sich (B) Rahmen der Europäischen Union an der Lösung der Pro- (D) bleme aktiv mit. Das ist eine sehr dünne Antwort. laut Antwort auf die entsprechende Frage der CDU/CSU aber nicht durchsetzen. Darum ist das Ziel des Überein- Hier – bei diesem aktuellen Problem –, wo es darauf kommens, nämlich dass verurteilte Straftäter ihre Frei- ankommt, Aktivitäten zu entwickeln, da zieht sich die heitsstrafe möglichst in Ihrem Heimatland absitzen sol- Bundesregierung in ihr Schneckenhaus zurück und wartet len, nur unzureichend verwirklicht. ab. Jeder, der sich mit diesem Thema beschäftigt hat, kann nur mit Unverständnis zur Kenntnis nehmen, dass die So ist die Zahl der hier in Deutschland einsitzenden Bundesregierung keinerlei Bestrebungen verfolgt, um Straftäter ausländischer Staatsangehörigkeit zwangsläu- den Anwendungsbereich des Überstellungsübereinkom- fig ansteigend. Dies ist aber kein allein deutsches Phäno- mens zu erweitern. men. Denn auch von anderen Ländern aus wird noch sel- Viele Details könnten verbessert werden, um die inter- tener von der Überstellung dort einsitzender deutscher nationale Überstellung zu erleichtern – beispielsweise Staatsangehöriger Gebrauch gemacht. Das liegt nach Ant- könnte eine Vereinbarung für den unmittelbaren Ge- wort der Bundesregierung nicht zuletzt an dem fehlenden schäftsweg geschaffen werden. Überstellungswunsch der im Ausland inhaftierten Deut- schen, weil diese in der Regel ihre sozialen Bindungen Der deutlichste Vorwurf, den ich der Bundesregierung und ihren Lebensmittelpunkt in dem Land haben, in dem in Sachen Vollstreckungshilfe mache, ist, dass sie bei der ihre Verurteilung erfolgt ist. Wenn man die Ziele des Ratifizierung des Zusatzprotokolls nicht handelt – ein Strafvollzugs und der Strafvollstreckung ernst nimmt, weiteres Beispiel dafür, dass die Hand des Kanzlers of- macht das natürlich einen gewissen Sinn. Ein genereller fenkundig eingeschlafen ist. Die rot-grüne Bundesregie- Verzicht auf die Zustimmung des Inhaftierten durch Zu- rung, insbesondere das Bundesjustizministerium verzö- gert die Rückführung ausländischer Strafgefangener, weil satzprotokoll, um die Überstellungspraxis zu verbessern, seit drei Jahren die Schaffung der notwendigen gesetzli- würde meines Erachtens auf verfassungsrechtliche Pro- chen Voraussetzung blockiert wird. Bei der Würdigung bleme stoßen. dieser Blockadehaltung bitte ich zu beachten: zu dieser Diese Auffassung wird von der Bundesregierung mit gesetzlichen Voraussetzung hat sich Deutschland interna- Hinweis auf die Entscheidung des Bundesverfassungsge- tional schon längst bekannt und verpflichtet und sie wird richts vom 18. Juni 1997 geteilt. Denn danach ist der Ver- von den Fachleuten über alle Parteigrenzen hinweg be- urteilte im Überstellungsverfahren natürlich nicht als fürwortet. bloßes Objekt zu behandeln. Daher ist der beschränkte Die Antwort der Bundesregierung auf die Anfrage der Verzicht auf die Zustimmung bei Flucht-, Ausweisungs- CDU/CSU-Bundestagsfraktion stellt unmissverständlich bzw. Abschiebungsfällen ausreichend. 19816 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001

(A) Die Bundesregierung hat in ihrer Antwort eindeutig er- land überprüfen, ob all unsere Grundsätze der Strafvoll- (C) kennen lassen, dass sie die Problematik erkannt hat und streckung nicht angepasst werden müssen, um eben mit sachgerechte Lösungen mit den Mitgliedsländern an- den anderen Staaten – insbesondere der EU – eine Har- strebt. Ich bin sicher, dass im Laufe einer fortschreitenden monisierung zu erreichen. Europäisierung von dem Überstellungsübereinkommen stärker Gebrauch gemacht werden wird. Dr. Evelyn Kenzler (PDS): Meine Erfahrung im Bun- destag lehrt mich hinsichtlich parlamentarischer Anfragen Jörg van Essen (FDP): Die Globalisierung macht zweierlei. Erstens: Keine Anfrage ohne Anliegen. Zwei- auch nicht vor der Strafvollstreckung und vor Straftätern tens: Große Anfragen – große Anliegen. Und so verhält es halt. Die jüngste Vergangenheit zeigt, dass Straftaten im- sich auch mit der zur Debatte stehenden Großen Anfrage mer mehr im internationalen Zusammenhang gesehen der Fraktion der CDU/CSU zu „Erleichterungen bei der werden müssen. Viele Straftäter nutzen Staaten als Rück- internationalen Vollstreckungshilfe“. zugsräume. Dies gilt nicht nur für die aktuellen terroristi- Wenn man wissen will, worum es der CDU/CSU in schen Fälle, sondern auch für viele Formen der organi- dieser Anfrage geht, dann lohnt zum Beispiel ein Blick in sierten Kriminalität. Für einen Rechtsstaat besteht daher den Antrag der CDU/CSU „Kriminalität wirksamer die Aufgabe, einerseits für eine Bestrafung unabhängig bekämpfen – Innere Sicherheit gewährleisten“ vom 3. Juli vom Tatort zu sorgen, andererseits aber auch für die ent- dieses Jahres, Drucksache 14/6539. Denn dort ist der sprechende Vollstreckung der Strafen die notwendigen „Bekämpfung der von Ausländern begangenen Strafta- Voraussetzungen zu schaffen. ten“ ein eigener Abschnitt mit einer eindeutigen Aussage Die hohe Zahl ausländischer Personen, bei denen Frei- – oder besser: Forderung – gewidmet. Dort heißt es: heitsstrafe in Deutschland vollstreckt wird, stellt ein Pro- ... dass schon eine Freiheitsstrafe von mehr als einem blem dar. Wie uns die Strafvollzugsbeamten immer wie- Jahr zur Ausweisung bzw. Abschiebung führen der berichten, führt gerade der hohe Anteil von muss. Angesichts der verhängten geringen Freiheits- ausländischen Häftlingen zu erheblichen Problemen im strafen bei schon recht schweren Taten erscheint es Strafvollzug. Die Lage in den Gefängnissen ist uns allen nicht sachgerecht, die nach dem Ausländergesetz bekannt. Auch ist uns leider bekannt, wie wenig die Fi- zwingende Ausweisung an eine Freiheits- oder nanzminister der Länder, die gemeinsam mit den Justiz- Jugendstrafe von mindestens drei Jahren zu knüpfen; ministern hier die Verantwortung tragen, bereit sind, Fi- ... dass ausländische Verurteilte verhängte Freiheits- nanzmittel für den Strafvollzug zur Verfügung zu stellen. strafen auch ohne ihre Zustimmung regelmäßig in Unsere Gefängnisse sind überfüllt. Daraus ergibt sich ihren Heimatländern verbüßen sollten und dass die nicht die Verpflichtung, so viele Straftäter wie möglich (B) Bundesregierung die entsprechenden völkerrechtli- (D) aus den Gefängnissen fernzuhalten. Aber es ergibt sich chen Vereinbarungen ohne Abstriche unverzüglich sehr wohl die Verpflichtung für einen Rechtsstaat, insbe- umsetzen möge. sondere unter dem Aspekt der Resozialisierung unter ent- sprechenden Voraussetzungen Straftäter zur Strafvoll- Damit ist die Haltung der CDU/CSU im Umgang mit streckung in ein anderes Land zu überstellen. ausländischen Straftätern klar formuliert und letztlich auch das Anliegen der Großen Anfrage benannt. Als Die Überstellung der Straftäter kommt nicht nur der Grund für die möglichst weitgehende Überstellung aus- Bundesrepublik Deutschland zugute. Vielmehr haben ländischer Straftäter zur Strafvollstreckung in ihre Hei- auch die Heimatlände der Straftäter den Vorteil, dass matländer stellt die CDU/CSU in ihrer Anfrage auf die durch eine Vollstreckung in ihrem Lande der Resoziali- oftmals besseren Chancen zur gesellschaftlichen Einglie- sierung mehr Möglichkeiten eröffnet werden, als wenn derung ab. Die Bundesregierung nennt dagegen als nach der Vollstreckung in der Bundesrepublik Deutsch- Gründe für die Nichtüberstellung das häufig vorhandene land eine entsprechend ausländerrechtlich bedingte Ab- „besonders öffentliche Interesse der aus generalpräventi- schiebung erfolgt. ven Gründen als notwendig angesehenen weiteren Straf- Ich begrüße ausdrücklich, dass die CDU/CSU mit ih- vollstreckung in Deutschland und die aufgrund der zum rer Großen Anfrage diese Problematik in den Vordergrund Teil unterschiedlichen Strafvollstreckungssysteme beste- gehoben hat. hende Besorgnis, die Strafe könne nicht nachdrücklich vollstreckt werden“. Die Antwort der Bundesregierung zeigt, dass im Be- reich der Vollstreckungshilfe noch einiges zu tun ist: Ers- Damit haben wir eine ganz eigenartige Aussagenkon- tens: Wir brauchen eine zügige Ratifizierung des Zusatz- stellation: Die CDU/CSU sorgt sich scheinbar vorrangig protokolls. Zweitens: Wir brauchen Vergleichsregeln, die um die Wiedereingliederung ausländischer Straftäter und die unterschiedlichen Strafzumessungs- und Strafvoll- die Regierung möchte offenbar eine unbedingte und un- streckungspraxen – etwa in den Mitgliedstaaten der EU – nachgiebige Bestrafung, die scheinbar am besten harmonisieren. Drittens: Es müssen alle Möglichkeiten Deutschland möglich ist. genutzt werden, um das sehr langwierige Verfahren der Mir scheint, dass wir hier Gefahr laufen, eine unauf- Überstellung zu verkürzen. richtige Debatte zu führen. Grundsätzlich wünschen wir Wir sollten uns als Bundesgesetzgeber bemühen, in uns wohl alle, dass die Zahl der Straftäter – ganz gleich, diesem schwierigen Feld für eine Beschleunigung zu sor- welcher Herkunft – zurückgeht und dass Strafvollzug die gen. Dabei müssen auch wir als Bundesrepublik Deutsch- letzte Maßnahme in der Sanktionenskala bleiben sollte. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19817

(A) Die unbestreitbare Tatsache, dass ausländische Häftlinge rokko mit 634 Gefangenen, Algerien mit 690 Gefange- (C) überwiegend die Vollzugsbedingungen in Deutschland nen, Albanien mit 452 Gefangenen, Rumänien mit denen in ihren Heimatstaaten vorziehen, ist angesichts der 386 Gefangenen und Bosnien-Herzegowina mit 356 Ge- auch bei uns keineswegs rosigen Verhältnisse schon be- fangenen. merkenswert und sollte nicht zuletzt auch deshalb respek- Mit der Türkei findet – darauf ist in der Antwort näher tiert werden, da das Übereinkommen über die Überstel- eingegangen worden – de facto ein Überstellungsverkehr lung verurteilter Personen dem Verurteilten ein wegen der dortigen sehr frühen Entlassung auf Be- „Wunschrecht“ zukommen lässt. Im Übrigen denke ich währung nicht statt. Das jüngste türkische Gesetz über die auch, dass angesichts der zunehmenden Mobilität der Strafaussetzung zur Bewährung vom 8. Dezember 2000 Menschen und der auch von der CDU/CSU aus bestimm- hinsichtlich Verurteilungen, die bis zum 23. April 1999 ten Grünen und in einem bestimmten Umfang gewünsch- begangen worden sind, hat diese Situation noch ver- ten Zuwanderung von Menschen eine Formel in der Art schärft. „Leben in Deutschland – Strafen im Herkunftsland“ nicht mehr zeitgemäß ist. Mit Marokko wird eine völkerrechtliche Vereinbarung zwar gegenwärtig verhandelt, besteht aber noch nicht. Al- Aber wie sehr die Fragen der Strafverfolgung und der gerien hat bisher nicht den Wunsch geäußert, dem offenen Strafvollstreckung international im Fluss sind, zeigt ge- Übereinkommen des Europarates beizutreten. Im Verhält- rade die jüngste Entwicklung. Heißt es noch in der Ant- nis zu Bosnien-Herzegowina gibt es ebenfalls keine wort der Bundesregierung vom vergangenen Jahr, das die Rechtsgrundlage, gleiches gilt für Jugoslawien. Regierung „derzeit keine Möglichkeit sieht, eine Harmo- nisierung der Strafzumessungs- und Strafvollstreckungs- Albanien und Rumänien sind zwar Mitgliedstaaten des praxis in den Mitgliedstaaten zu erreichen“, so hat sich Überstellungsübereinkommens, zu einer zahlenmäßig dies nach dem Terroranschlag und dem ins Haus stehen- nennenswerten Übernahme eigener Staatsangehöriger den Rahmenbeschluss des Rates der Union zur Terroris- dürften sie aber aus tatsächlichen Gründen nicht in der musbekämpfung geändert. Lage sein. Diese Länder dürften Schwierigkeiten genug haben, den eigenen Strafvollzug zu modernisieren. Dr. Eckhardt Pick, Parl. Staatssektär bei der Bun- Es verbleiben Polen und Italien als Mitgliedstaaten, desministerin der Justiz: Die internationale Voll- mit denen der Vollstreckungshilfeverkehr jedenfalls vom streckungshilfe, insbesondere die Vollstreckung von im Grundsatz her intensiviert werden könnte. Hier wird es in- Ausland ergangenen freiheitsentziehenden Sanktionen im teressant sein, festzustellen, ob es nach der erfolgten Ra- Heimatland der verurteilten Person, ist eine relativ junge tifikation des Zusatzprotokolls, das bekanntlich auf das (B) Form der internationalen Zusammenarbeit in Strafsachen. Erfordernis der Zustimmung des Strafgefangenen in be- (D) Das hier einschlägige Übereinkommen des Europarates stimmten Fällen verzichtet, zu einem Anstieg der Über- aus dem Jahre 1983 hatte von der Entstehungsgeschichte stellungen kommen wird. Einen Regierungsentwurf zur her – ebenso wie das deutsche Recht – die Resozialisie- Ratifikation des Zusatzprotokolls wird das Kabinett als- rung des Gefangenen zum Ziel. Ohne diesen Gesichts- bald beschließen. punkt aus den Augen zu verlieren, hat aber die tatsächli- In der Antwort auf die Große Anfrage ist auch darauf che Entwicklung die Akzente etwas verschoben: In hingewiesen worden, dass wegen der Langwierigkeit des Deutschland, aber nicht nur hier, hat die stetige Zunahme Verfahrens die Staatsanwaltschaften häufig auf das einfa- des Ausländeranteils in den Gefängnissen dazu geführt, chere Verfahren nach § 456 a StPO, das heißt Absehen von dass das Vollzugsziel insbesondere wegen der Sprachen- der weiteren Vollstreckung bei einer Ausweisung, zurück- vielfalt und der unterschiedlichen kulturellen Herkunft greifen. Die lange Verfahrensdauer und die unzurei- auch nicht ansatzweise erreicht werden kann. Der Bele- chende Anwendung des Übereinkommens in der Praxis gungsdruck ist derart hoch, dass das Resozialisierungsziel sind Gegenstand zahlreicher Erörterungen im zuständigen insgesamt gefährdet ist. Vor diesem Hintergrund kommt Ausschuss des Europarates gewesen und stehen fast stän- den durch das Europaratsübereinkommen eröffneten dig auf dessen Tagesordnung. Lösungsansätze sind indes Möglichkeiten des Vollzuges im Heimatland zunehmende noch nicht erkennbar geworden. Wahrscheinlich dürfte Bedeutung zu. ein Grund für die mangelnde Anwendung darin zu sehen Aus den Ihnen vorliegenden Zahlen über die Anzahl sein, dass zwar jeder Mitgliedstaat zur Entlastung des ei- der tatsächlich aus Deutschland ins Ausland überstellten genen Strafvollzuges gerne ausländische Staatsan- verurteilten Personen geht hervor, dass die praktische An- gehörige zur weiteren Vollstreckung in dessen Heimat- wendung des Übereinkommens hinter den Erwartungen staat überstellt, zur Übernahme eigener Staatsangehöriger zurückbleibt. Die hierfür maßgebenden Gründe sind in in den eh schon überlasteten eigenen Strafvollzug indes der Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage eher weniger bereit ist. Exemplarisch ist hier die unge- mitgeteilt worden. Lassen Sie mich einige von ihnen wöhnlich offene und ehrliche Erklärung Irlands anlässlich nochmals kurz skizzieren: der Ratifikation, dass nämlich Irland wegen des Bele- gungsdrucks im eigenen Strafvollzug Überstellungsersu- Den größten Anteil der in Deutschland inhaftierten chen anderer Staaten nur in dem Maße nachzukommen ausländischen Strafgefangenen stellen nach den mir vor- bereit ist, als freie Plätze im Vollzug verfügbar sind. liegenden Zahlen folgende Staaten: die Türkei mit 3 806 Gefangenen, Jugoslawien mit 2 092 Gefangenen, Italien Ungeachtet aller Bemühungen der Bundesregierung, mit 902 Gefangenen, Polen mit 729 Gefangenen, Ma- national und international für eine stärkere Anwendung 19818 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001

(A) des Übereinkommens zu werben, dürfte sich an dieser dern. Das sind zum Beispiel ehrenamtliche Betreuungs- (C) faktischen Situation in allen potenziellen Vollstreckungs- gruppen oder Tagesbetreuung in Klein- und Kleinstgrup- staaten leider weder kurz- noch mittelfristig etwas ändern. pen. So soll eine Vielfalt von Betreuungsmöglichkeiten Unabhängig davon wird die Bundesregierung auch wei- geschaffen werden, die den unterschiedlichsten Entlas- terhin alle Anstrengungen unternehmen, die Mitgliedstaa- tungswünschen der Angehörigen entgegenkommt. Dafür ten von den Vorzügen der internationalen Vollstreckungs- werden insgesamt 20 Millionen DM eingesetzt. Die glei- hilfe zu überzeugen. che Summe wird auch von den Ländern finanziert, sodass wir dafür 40 Millionen DM veranschlagen können. Zudem werden bestehende Beratungsangebote verbes- Anlage 8 sert und erweitert. Dies betrifft insbesondere den Ausbau Zu Protokoll gegebene Reden beratender Hilfen im häuslichen Bereich. Der begünstigte Personenkreis erhält den Anspruch auf einen zweiten Be- zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur ratungsbesuch in dem gesetzlich vorgeschriebenen Inter- Ergänzung der Leistungen bei häuslicher Pflege vall, das heißt, in der Stufe III vierteljährlich und in den von Pflegebedürftigen mit erheblichem allgemei- Stufen I und II halbjährlich. Wichtig ist uns auch hier, nen Betreuungsbedarf (Pflegeleistungs-Ergän- durch den qualifizierten Beratungsbesuch eine Optimie- zungsgesetz – PflEG) (Tagesordnungspunkt 18) rung der Versorgungssituation im häuslichen Bereich zu erreichen. Marga Elser (SPD): Unsere Zielsetzung in diesem Flankiert werden die gesetzlichen Maßnahmen durch Gesetz zur Ergänzung der Leistungen bei häuslicher eine gezielte Öffentlichkeitsarbeit von Regierung und Pflege von Pflegebedürftigen mit erheblichem allgemei- Pflegekassen. Sie sollen das Verständnis für die Situation nen Betreuungsbedarf (Pflegeleistungs-Ergänzungsge- „dementer“ Menschen wecken. Sie sollen Anleitungen setz – PflEG) ist die Verbesserung der Versorgungssitua- zum Umgang mit ihnen geben, aber auch Maßnahmen der tion für demenziell und psychisch erkrankte sowie geistig Prävention, der Vermeidung von Pflegebedürftigkeit oder behinderte Pflegebedürftige. Verhinderung einer Verschlimmerung aufzeigen. Wir wissen, es bestand dringend gesetzlicher Hand- Wir wollen mit diesem Gesetz das bürgerliche Engage- lungsbedarf bei der Pflege im häuslichen Bereich, vor al- ment wecken und auf gelungene ehrenamtliche Projekte len aber bei der Entlastung der pflegenden Angehörigen. aufmerksam machen, in denen sich in überzeugender Gerade die Beratung dieser Menschen ist eine wichtige Weise bürgerschaftliches Engagement mit professioneller Säule. Ich weiß aus eigener Erfahrung – meine Mutter ist Pflege zum Wohle der Pflegebedürftigen und ihrer An- seit mehreren Jahren demenzkrank –, wie schwer es für (B) gehörigen verbindet. (D) den Partner und die Familie ist, mit dem geänderten Ver- halten des Kranken richtig umzugehen. Die häuslich Pfle- Mit diesem Gesetz haben wir erste wirksame Schritte genden werden durch die Pflege und Betreuung Demenz- zur Verbesserung der ambulanten Pflegesituation einge- kranker in besonderer Weise – oft rund um die Uhr – leitet. beansprucht. Hier ist eine Entlastung dringend erforder- Zusammen mit diesem Gesetz beschließen wir auch lich. Daher werden wir den sich bietenden Finanzspiel- die von uns seit langem angestrebte Förderung der ambu- raum von rund 500 Millionen DM – mehr ist leider zur Zeit nicht möglich – im vollen Umfang einsetzen. Dafür lanten Hospizarbeit durch die gesetzliche Krankenversi- werden wir diesen pflegenden Angehörigen erste Hilfen cherung. zur Verfügung stellen, die ihnen den schwierigen Pflege- In unseren Anhörungen haben wir feststellen können, alltag zeitweise erleichtern und physische und psychische dass wir auf dem richtigen Weg sind. Wir werden den eh- Überlastungen verhindern sollen. renamtlichen Helferinnen und Helfern beistehen und ih- Mit diesem Gesetz werden für altersverwirrte, aber nen Hilfe durch palliativmedizinisch erfahrene Pflege- auch für geistig behinderte und psychisch kranke Pflege- dienste und Ärzte zukommen lassen. Und sie haben im bedürftige zusätzliche Leistungen und verbesserte Ver- pflegerischen Bereich eine fachlich qualifizierte Kraft mit sorgungsangebote vorgesehen. Dabei soll der allgemeine Erfahrung in der palliativmedizinischen Pflege als An- Betreuungsbedarf, also die Beaufsichtigung, Anleitung sprechpartner. und Betreuung, die über die festgelegten Pflegeleistungen Gerade der nicht pflegerische Aspekt ist wichtig. Die hinausgeht, besser berücksichtigt werden. Unser Gesetz Hospizbewegung wird damit in die Lage versetzt, den sieht vor, dass der Pflegebedürftige mit dem bestimmten Einsatz und die Leistungen qualifizierter Ehrenamtlicher Erkrankungsbild einen Anspruch auf einen zusätzlichen auf einer gesicherten finanziellen Grundlage durch den Betreuungsbetrag hat. Das sind bis zu 900 DM pro Jahr. Einsatz fachlich geschulter Kräfte zu koordinieren. Die Diese zusätzlichen Mittel sind zweckgebunden. Sie kön- ehrenamtliche Sterbebegleitung ist für die Sterbenden und nen zum Beispiel für Tages- oder Kurzzeitpflege einge- ihre Familien unendlich wichtig und hilfreich. setzt werden. Wir wollen gleichfalls dafür sorgen, dass in Modellversuchen neue Versorgungskonzepte und Versor- Ich möchte damit schließen, mich bei all denen, die gungsstrukturen insbesondere für Demente entwickelt dies bisher schon gemacht haben, sehr zu bedanken. werden. Fördermittel sollen auch dazu verwendet werden, so Eva-Maria Kors (CDU/CSU): Es ist schon lange un- genannte niedrigschwellige Betreuungsangebote zu för- strittig: Demenzkranke und ihre Familienangehörigen in Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19819

(A) Deutschland müssen zusätzliche Hilfen aus der Pflege- Pflegefachkräfte eingestellt und bezahlt werden können. (C) versicherung erhalten. Von den etwa 1,8 Millionen Pfle- Dies macht auch Sinn. Denn nur mit mehr und gut gebedürftigen in unserem Land sind über 900 000 in ihrer qualifiziertem Personal lässt sich Pflegequalität wirklich Alterskompetenz so sehr eingeschränkt, dass sie auf re- sichern und verbessern, und nicht mit immer neuen Ein- gelmäßige Hilfe angewiesen sind. 550 000 an Demenz er- zelgesetzen und immer mehr Bürokratie. krankte Pflegebedürftige leben zu Hause und werden von Darüber hinaus haben wir in unseren aktuellen Än- ihren Angehörigen betreut. Diese Zahlen unterstreichen derungsanträgen die Einrichtung einer Schiedsstelle für den konkreten und dringenden Handlungsbedarf. Häusliche Krankenpflege und die Erhöhung der finanzi- Es ist daher durchaus richtig, dass sich die Bundesre- ellen Förderung stationärer Hospize gefordert. Es gierung dieses Themas endlich angenommen und einen müsste auch Ihnen bekannt sein, dass es im Bereich der Gesetzentwurf vorgelegt hat. Aber zum wiederholten Mal häuslichen Krankenpflege kein geeignetes Instrument schlägt die Bundesregierung bei dem Versuch, zu ver- zur möglichst zeitnahen Lösung der Konflikte zwischen nünftigen und tragfähigen Lösungen zu kommen, den Kassen und Verbänden bei den Vergütungsvereinbarun- falschen Weg ein! Das, was Rot-Grün mit dem Pflegeleis- gen gibt. Scheitern die Verhandlungen, bleibt nur der tungs-Ergänzungsgesetz als Problemlösung anbietet, ist Weg vor die Sozialgerichte. Der Erlass der Richtlinien wieder einmal nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Es ist zur häuslichen Krankenpflege im vergangenen Jahr hat und bleibt Stückwerk. Denn ein bisschen finanzielle Un- diese Entwicklung nicht stoppen können. Schiedsstellen terstützung bei der Unterbringung Demenzkranker in Ein- böten die Möglichkeit, zwischen den Vertragspartnern richtungen der Tagespflege, ein bisschen Entlastung für zu schnellen und verbindlichen Lösungen zu kommen. die Angehörigen, ein bisschen Förderung von Betreu- Leider hat Rot-Grün auch diesen Antrag zulasten insbe- ungsangeboten und ein paar Modellprojekten reichen sondere der Pflegebedürftigen im häuslichen Bereich eben nicht aus, um den Bedürfnissen Demenzkranker und abgelehnt. Es ist wichtig und richtig, die Probleme im ihrer Angehörigen endlich gerecht zu werden und die Pro- Bereich der häuslichen Krankenpflege anzugehen. Aber bleme sachgerecht zu lösen. Sie machen immer nur einen winzigen ersten Schritt Zahlreiche Experten haben in der Anhörung demnach und setzen diesen mit großem medialen Getöse in der auch ganz zutreffend ihre Vorschläge nur als einen sym- Öffentlichkeit in Szene, aber von den Gesetzeskonse- bolischen Akt bezeichnet. Der vorgesehene Finanzrah- quenzen her sind immer die betroffenen Menschen die men in Höhe von 900 Mark pro Jahr und Pflegebedürfti- Dummen. Ihre Gesundheitspolitik ist und bleibt Stüm- gen sei ein Witz. Er bedeute konkret 2 DM und 46 perei. Pfennige oder eine Tüte Gummibärchen mehr finanzielle Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der Koaliti- Unterstützung pro Tag. Dies sei eine Demütigung der An- (B) onsfraktionen, es ist schlimm genug, dass Sie heute unzu- (D) gehörigen. Aber noch schlimmer: Nicht nur der vorgese- reichende Lösungen zur Verbesserung der Situation von hene Finanzrahmen ist unzureichend. Nach Ansicht von Demenzkranken verabschieden. Aber noch schlimmer ist, Experten können konkrete Verschlechterungen im Krank- dass sie in diesem Gesetz so ganz nebenbei auch eine Ver- heitsbild der Patienten nicht ausgeschlossen werden. schlechterung für die in der Hospizbewegung ehrenamt- Denn der durch den Besuch einer Tagespflegeinrichtung lich Tätigen „vergraben“ haben. Was sind die Fakten? Der verursachte Wechsel der gewohnten Umgebung und der Bundesrat hat im Juli diesen Jahres einen Gesetzentwurf gewohnten Personen könne dazu führen, dass die alters- zur Förderung der ambulanten Hospizarbeit vorgelegt. verwirrten Menschen – ich zitiere – „noch verwirrter als Danach sollen die Krankenkassen mit einem bis zum Jahr zuvor wieder nach Hause zurückkommen werden“. Darü- 2007 auf 0,4 Euro pro Versicherten ansteigenden Betrag ber hinaus ändere der Gesetzentwurf nichts an der Einstu- Hospizdienste fördern. Hospizdienste, die in den Fami- fungspraxis der Kassen. Das Sachleistungsprinzip der lien und Haushalten tätig sind. Gefördert werden soll ein Pflegeversicherung werde weiterhin den Anforderungen angemessener Zuschuss für die Personalkosten, die bei demenziell erkrankter Menschen insgesamt nicht gerecht. der Gewinnung, Vorbereitung, Koordination und Beglei- Diese im Vorfeld bekannten Meinungen von Experten aus tung ehrenamtlicher Hospizdienste sowie deren Vernet- der Praxis haben wir – im Gegensatz zu Ihnen – ernst ge- zung mit anderen Diensten entstehen. Die zu fördernden nommen und in unseren Entwurf vom März 2001 einge- Aufgaben sollen auch palliativ-pflegerische Beratungen bunden. umfassen können. Wir wollten mit unserem Entwurf, dass der allgemeine Aus vordergründig politischen Motiven haben die Hilfe- und Betreuungsaufwand künftig in Höhe von bis zu Koalitionsfraktionen dann zum gleichen Thema einen 30 Minuten im Rahmen der Grundpflege anerkannt wird. Änderungsantrag zum Pflegeleistungs-Ergänzungsgesetz Im Gegensatz zu Rot-Grün bezog unser Entwurf ferner eingebracht. Ihr Vorschlag sieht eine Förderung nur dann auch demenziell erkrankte Menschen im stationären Be- vor, wenn der in den Familien oder im Haushalt tätige am- reich in die Verbesserungen mit ein. Und, meine Damen bulante Hospizdienst und Herren von der Koalition, unser Vorschlag war seriös gegenfinanziert! Durch die Verlagerung der Kosten für mit „palliativ-medizinisch erfahrenen Pflegediens- die Behandlungspflege von der Pflege- in die Kranken- ten und Ärzten zusammenarbeitet sowie unter der versicherung wäre ein Finanzvolumen von etwa 1,5 Mil- fachlichen Verantwortung einer Krankenschwester, liarden Mark frei geworden. Wenn man von durchschnitt- eines Krankenpflegers oder einer anderen qualifi- lich 75 000 Mark Personalkosten pro Pflegekraft im Jahr zierten Person steht, die über mehrjährige Erfahrung ausgeht, hätten damit bundesweit 20 000 zusätzliche in der palliativ-medizinischen Pflege oder über eine 19820 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001

(A) entsprechende Weiterbildung verfügt und eine Wei- reiche ehrenamtliche Hospizmitarbeiter signalisiert, ihr (C) terbildung als verantwortliche Pflegefachkraft oder Ehrenamt aufgrund dieser zunehmenden bürokratischen in Leitungsfunktionen nachweisen kann“. Aufgaben aufgeben zu wollen. Es ist schon bemerkens- wert, dass Sie im Internationalen Jahr des Ehrenamtes ein Am vergangenen Mittwoch haben wir darum gebeten, solches Gesetz auf den Tisch legen und verabschieden. die Beschlussfassung zu diesem Änderungsantrag ange- sichts der nachmittags stattfindenden Anhörung zum Ent- Lassen Sie mich am Ende meiner Ausführungen Fol- wurf des Bundesrates auszusetzen. Ohne jede Begrün- gendes ganz deutlich sagen: Wir wollen die auch aus un- dung haben Sie unsere Bitte jedoch mit Ihrer Mehrheit serer Sicht notwendige Zusammenarbeit zwischen haupt- abgeschmettert. Das heißt nichts anderes, als dass Sie die amtlich und ehrenamtlich Tätigen in der Hospizbewegung Meinung der am Nachmittag erscheinenden Experten gar stärken und finanziell fördern. Wir fordern aber eine um- nicht mehr interessiert hat. Dies ist nicht nur schlechter fassende und genaue Analyse und Beratung des Themas parlamentarischer Stil, dies lässt auch jegliches ernst zu Sterbebegleitung in Deutschland, an deren Ende ein nehmende Interesse an der Thematik und deren umfas- schlüssiges Konzept für die Arbeit und Finanzierung so- wohl der ambulanten und als auch stationären Hospize so- senden Beratung und Diskussion vermissen. Und dies vor wie deren Vernetzung und Zusammenarbeit mit palliativ- dem Hintergrund, dass die verschiedene Sachver- medizinischen Angeboten steht, die dem ehrenamtlichen ständigen ausdrücklich auf zahlreiche Unzulänglichkei- Charakter der Hospizbewegung weiterhin ausdrücklich ten und Unklarheiten der von Ihnen geplanten Förderung Rechnung trägt. hingewiesen haben. So sehen die Experten die nötige kon- tinuierliche Sterbebegleitung gefährdet, da die Förderung Für uns ist klar: Gesetzliche Regelungen in diesem Be- auf Dienste beschränkt ist, die ausschließlich in Familien reich dürfen nicht auf Kosten der Ehrenamtlichkeit gehen. und Haushalten tätig sind. Was passiert, wenn die Pflege- Sie dürfen nicht dazu führen, dass ehrenamtlich Tätige in bedürftigen in einer stationären Einrichtung unterge- der Hospizbewegung nun zu billigen Pflegekräften für die bracht und weiterhin begleitet werden sollen? Geht dann Kassen werden und damit Löcher gestopft werden, die Sie die Förderung verloren? durch Ihre unseriöse und unkompetente Gesundheitspoli- tik immer wieder gerissen haben. Dies wäre eine unzuläs- Kritisiert wird aber vor allem, dass Ihr Entwurf die sige Überforderung des Ehrenamtes. Ihren Gesetzentwurf Fördervoraussetzungen nicht in ausreichend deutlichem lehnen wir daher ab. Maße regelt. Es bleibt unklar, wie die Zusammenarbeit der Hospizdienste mit den palliativ medizinischen Ange- Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- boten aussehen soll. Wo liegt die Grenze zwischen pallia- NEN): Ich freue mich, dass wir heute das Pflegeleis- tiv-medizinischer Betreuung einerseits und Pflege ande- tungsergänzungsgesetz verabschieden; denn mit der Ein- rerseits? Sollen nur noch Hospizdienste gefördert werden, (B) ehrung der Pflegeversicherung 1995 haben wir die letzte (D) die eine solche Leistung anbieten? Letzteres würde be- Lücke in der sozialen Versorgung gegen Lebensrisiken deuten, dass ambulante Hospizdienste ohne palliative Be- geschlossen, die bereits vielen Menschen geholfen hat. ratungs- bzw. Pflegeleistung von der Förderung zumin- Rund 60 Millionen Menschen haben inzwischen An- dest teilweise ausgeschlossen sind und die Existenz sprüche aus der Pflegeversicherung. Mit ihren Leistungen ehrenamtlicher Strukturen in der Hospizbewegung kon- erreicht die Pflegeversicherung insgesamt 1,9 Millionen kret gefährdet ist. Denn auch Ehrenamtlichkeit braucht ei- Pflegebedürftige, davon 1,28 Millionen im ambulanten nerseits eine kontinuierliche finanzielle Förderung haupt- Bereich und 550 000 Personen im stationären Bereich. amtlich Tätiger zur Unterstützung der Ehrenamtlichen. Andererseits darf Ehrenamtlichkeit im Hinblick auf die an Die Pflegeversicherung ist keine Vollversicherung; sie die zu leistende Pflege zu stellenden Anforderungen aber soll mit ihrem Leistungsangebot Pflegebedürftigen und auch nicht überfordert werden. In beiden Punkten versagt ihren Angehörigen helfen, die mit der Pflegebedürftigkeit verbundenen persönlichen und finanziellen Lasten zu tra- Ihr Gesetz. gen. Ein Erfolg der Pflegeversicherung: Die überwie- Caritas und Diakonie teilen ausdrücklich unsere Be- gende Zahl der Pflegebedürftigen ist nunmehr von der So- fürchtungen und haben in der Anhörung meine entspre- zialhilfe unabhängig. Gerade den Menschen, die im chenden Fragen nach der Gefährdung ehrenamtlicher Bereich der Pflege arbeiten, gebührt Anerkennung und Strukturen mit einem klaren Ja beantwortet. Dank für eine engagierte – und oft zu gering entlohnte Tätigkeit. Ein weiteres großes Verdienst der Pflegeversi- Unklar bleibt in Ihrem Gesetz auch, wie die Qualität cherung ist, dass es zum ersten Mal gelungen ist, eine so- der angestrebten palliativ-medizinischen Pflege sicherge- ziale Absicherung der Pflegepersonen einzuführen und stellt werden soll. Die Anhörung hat gezeigt, dass es in die Pflegetätigkeit sozial abzusichern wie eine Erwerbs- Deutschland ein großes Defizit im Bereich der Palliativ- tätigkeit. Derzeit profitieren circa 600 000 Pflegeper- medizin und -pflege gibt. Die Anhörung hat aber auch ge- sonen, zum Beispiel Angehörige Freunde und Nachbarn zeigt, dass hierzu Änderungen der Approbationsordnung davon. und verstärkte Anstrengungen der Selbstverwaltung er- forderlich sind. Ihr Gesetz wirft auch diesbezüglich mehr Obwohl die Pflegeversicherung bewusst als Teilabsi- Fragen als Lösungen auf. cherung konzipiert wurde, sehen wir gravierende Lücken in der Versorgung. Der Grund: Auch in diesem Bereich Darüber hinaus gefährden die von Ihnen aufgestellten haben wir es mit einer Hinterlassenschaft zu tun, die die Anforderungen des Pflege-Qualitätssicherungsgesetzes Untätigkeit der alten Regierung widerspiegelt. Das be- zusätzlich die Existenz bewährter ehrenamtlicher Struk- trifft vor allem die Qualität der Versorgung in der ambu- turen. So haben nach Auskunft der Diakonie bereits zahl- lanten und stationären Pflege. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19821

(A) Berichte über die Mängel in der Pflege häufen sich. setzes ist es, die Situation in den Familien zu entspannen (C) Wir kennen sie alle aus einem Besuch im Pflegeheim oder und ehrenamtliche Tätigkeit zu belohnen. Vor allem soll aus dem Fernsehen, die oft entwürdigenden Zustände in für die pflegenden Angehörigen neue Möglichkeiten der den Pflegeheimen. Der Handlungsbedarf kann von kei- Entlastung geschaffen werden. nem der hier Anwesenden bestritten werden. Dabei gibt es Dieses Gesetz ist ein weiterer Schritt, Qualität, Wirt- ganz offensichtlichen Nachholbedarf bei der Betreuung schaftlichkeit und Eigenverantwortung als Parameter fest der Demenzkranken und auch bei der Unterstützung für zu verankern. Qualitätssicherung zum zentralen Bestand- die Angehörigen. Hier brauchen wir ein verbessertes Leis- teil unserer Gesundheitspolitik zu machen, haben wir uns tungsangebot der Pflegeversicherung gerade für die De- in den Koalitionsvereinbarungen fest vorgenommen. Im menzkranken. Denn die Versorgungssituation der De- Bereich der Pflege ist ein solcher Qualitätsmaßstab schon menzkranken muss dringend verbessert werden. Defizite lange überfällig. Was heißt denn Qualität? Es geht um bestehen in quantitativer und qualitativer Hinsicht, beste- gute und angemessene Versorgung. Es geht um Versor- hen nicht nur im Bereich der frühzeitigen Diagnostik und gung, die Würde und Selbstbestimmung gewährleistet. der ganzheitlichen umfassenden Therapie. Besonders Menschen, die der Pflege bedürfen, sind nicht Objekt ei- fehlt es hier an der Pflege und Betreuung sowie an einer ner Maschinerie. Pflegepersonal ist nicht Verschiebe- angemessenen Beratung der Pflegebedürftigen und ihren masse von chronischer Unterbesetzung und Fehlmanage- Angehörigen. ment. Fehlende Qualitätsvereinbarungen dürfen nicht Hier besteht vor allem Handlungsbedarf im Bereich mehr auf dem Rücken dieser beiden Gruppen ausgetragen der häuslichen Pflege, damit Kranke möglichst lange Zu- werden. hause gepflegt und betreut werden können. Dass die häus- liche Pflege Vorrang hat, ist von ganz entscheidender Be- Der informierte und eigenständige Patient ist Voraus- deutung für die Koalition. Bei der steigenden Zahl der setzung für einen sinnvollen Ressourceneinsatz. Deshalb Pflegebedürftigen, ist es uns wichtig, dass Pflegebedürf- ist es wichtig, dass Patienten auch in kritischer Weise mit- tige in Zukunft so lange wie möglich Zuhause gepflegt bestimmen können. Es geht darum, dass Versicherte ver- werden können und ein anonymer Heimaufenthalt ver- besserte Möglichkeiten erhalten, sich generell über die hindert werden kann. Deshalb werden wir in einem ersten medizinischen Leistungsangebote und deren Qualität zu Schritt mit rund 0,28 Milliarden DM viele Maßnahmen informieren. Deshalb muss endlich unabhängige Patien- zur Stärkung und Förderung der häuslichen Pflege von tenberatung in Gang kommen und der Patient über die ab- Pflegebedürftigen mit erheblichem Betreuungsbedarf an gerechneten Leistungen informiert werden: Für die Pflege allgemeiner Betreuung und Beaufsichtigung initiieren. heißt das mehr Transparenz bei den Leistungen und Leis- Für die Angehörigen werden zusätzliche Möglichkeiten tungserbringern. (B) zur Entlastung geschaffen, indem pflegenden Angehöri- Deshalb sollen pflegebedürftige Menschen und ihre (D) gen qualitätsgesicherte Betreuungsangebote zur Seite ge- Angehörigen eine bessere Beratung erhalten, die sie in die stellt werden. Lage versetzt, ihre Rechte besser wahrzunehmen. Auf der Das geschieht im Einzelnen dadurch, dass es für Pfle- anderen Seite müssen die, die ehrenamtlich pflegen, auch gebedürftige mit erheblichem Bedarf an allgemeiner Be- dafür unterstützt werden. Die Koalition will hier ein Zei- aufsichtigung und Betreuung einen zusätzlichen Leis- chen setzen. Ich bitte Sie daher um Zustimmung für die- tungsanspruch im Elften Sozialgesetzbuchs geben wird. ses Gesetz. Diese können Leistungen der häuslichen Pflege in Höhe von 900 DM im Kalenderjahr für qualitätsgesicherte Be- Detlef Parr (FDP): In einem sind wir uns einig: Wir treuungsleistungen entgegennehmen. Wir starten daher dürfen die zu erwartende steigende Zahl der Demenz- neue Projekte, in denen neue Versorgungsformen erprobt kranken aufgrund der demographischen Entwicklung werden. Neue Projekte und niedrigschwellige Betreu- nicht ignorieren. Wir müssen für die Kranken, vor allem ungsangebote werden durch die soziale und private Pfle- aber für die Pflegenden, die großen Belastungen ausge- geversicherung einerseits und von Land und Kommunen setzt sind, die erforderlichen Hilfen schaffen und die Ver- andererseits in Höhe von 20 Millionen Euro jährlich fi- sorgung und Betreuung verbessern. Auf diesem Weg nanziert werden. Diese niedrigschwelligen Betreuungs- kommen wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf angebote dienen in erster Linie dazu, ehrenamtliche Be- schrittchenweise voran. Es wird die Chance eröffnet, treuungspersonal zu finanzieren, also ihren Aufwand und mehr qualifizierte ehrenamtliche Helfer zu gewinnen. auch Sachkosten für die Koordination und Organisation Richtig ist es auch, neue Versorgungsformen für De- von Betreuenden. menzkranke zu erproben. Wir haben hier großen Wert darauf gelegt, dass die Pro- Entscheidender wäre aber gewesen, statt bei der Fi- jekte qualitätsgesichert sind. Als förderungsfähige, nied- nanzierung der Maßnahmen auf die Reserven der Pflege- rigschwellige Betreuungsangebote kommen Helferinnen- versicherung zurückzugreifen, diese fünfte Säule des So- kreise zur stundenweise Entlastung der pflegenden zialsystems grundsätzlich auf den Prüfstand zu stellen Angehörigen, Tagesbetreuung in Kleingruppen oder Ein- und seine Zukunftsfähigkeit zu untersuchen. Wenn die zelbetreuung in Betracht. So wollen wir auch in der am- Reserven aufgebraucht sind – die unumgängliche Anpas- bulanten Hospizarbeit von ehrenamtlichen Helfern ein sung der Pflegesätze wird diesen Vorgang beschleunigen – Zeichen setzen, indem diese Tätigkeit demnächst vergütet müssen wir neue Wege gehen. Ein beruhigendes „Weiter wird. Bürgerengagement soll sich auch lohnen und at- so“ wird es nicht geben können. Wir haben die Pflicht, die traktiver werden. Ziel des Pflegeleistungsergänzungsge- Bevölkerung auf diese Entwicklung vorzubereiten. Die 19822 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001

(A) Pflegeversicherung ist nur eine Teilkasko-Versicherung. Das ist Ergebnis einer verfehlten Politik, die stets die (C) Wir dürfen uns nicht um die Frage herumdrücken, was die pflegefernen Bereiche gestärkt hat und nicht die Arbeit Solidargemeinschaft finanzieren kann und was der Ein- am und mit dem pflegebedürftigen Menschen. zelne vorsorgend zu tragen hat. Die Bundesregierung stellt keinerlei neue Weichen für Wie im gesamten Gesundheitsbereich ist auch hier eine eine Reform in der Pflege. Ihr Motto scheint zu lauten: ehrliche Bestandsaufnahme und öffentliche Debatte über Weiter so mit ruhiger Hand. Der Reformbedarf wird ig- zukünftige Lösungswege notwendig. Es wird Sie nicht noriert, die bestehenden Versorgungsdefizite beschönigt wundern: Die FDP wird nicht müde werden, einen ord- und das Dogma der Beitragssatzstabilität als alternativlos nungspolitischen Grundsatz immer wieder zu betonen: Zu akzeptiert. der umlagefinanzierten gesetzlichen Pflegeversicherung muss der Aufbau einer privaten Absicherung treten – be- Leider steht auch der von der Bundesregierung vorge- günstigt durch steuerliche Anreize. Wie weit diese private legte Entwurf für ein Pflegeleistungs-Ergänzungsgesetz Absicherung gehen muss, hängt zum einen von der He- (PflEG) in dieser Kontinuitätslinie. bung von Wirtschaftlichkeitsreserven und deren Nutzbar- Jeder Mensch muss – unabhängig von Alter und Beruf – machung ab. Zum anderen müssen wir die Abgrenzung zu jeder Zeit ausreichenden, am jeweiligen Bedarf orien- zwischen den verschiedenen Kostenträgern im Rahmen tierten solidarischen Schutz durch die Gesellschaft erhal- der Pflege mit dem Ziel einer Optimierung der Versor- ten können. Das gilt besonders für schwerst betroffene gung der Pflegebedürftigkeit verbessern. Menschen wie Demenzkranke, psychisch Kranke, Men- Der vorliegende Gesetzentwurf soll auch den An- schen mit apallischem Syndrom oder geistig schwerstbe- spruch nach mehr Qualität in der Pflege erfüllen. Dafür hinderte Menschen, vor allem Kinder. Gegenwärtig wird brauchen wir dringend eine Imagekampagne für den Pfle- ihnen weder der ihnen menschenrechtlich zustehende geberuf und Haushaltsmittel für Zuschüsse zur Erprobung Teilleistungsanspruch in ausreichendem Maße, noch der alternativer Pflegekonzepte insbesondere für Demenz- spezifische Anleitungs- und Hilfebedarf zugestanden. Mit kranke. Diese Konzepte müssen geprägt sein von größe- der gegenwärtigen Gesetzgebung – das schließt das Pfle- rem Vertrauen in die Pflegenden. Sie müssen freier geleistungs-Ergänzungsgesetz vollinhaltlich ein – wird entscheiden dürfen, welche Unterstützung in der indivi- dieser Bedarf inhaltlich, personell und strukturell nicht duellen Situation am hilfreichsten ist. ausreichend abgesichert. Wir hätten diesem Gesetzentwurf gern zugestimmt. Er Diesen grundsätzlichen Forderungen, die sich mit dem ist nicht der große Wurf, aber ein Schritt in die richtige demographischen und sozialen Wandel noch verschärfen Richtung. Dann haben Sie, liebe Kolleginnen und Kolle- werden, hat die Bundesregierung mit ihrem Gesetzent- gen der Regierungsfraktionen, den Gesetzentwurf um die (B) wurf nicht entsprochen. In verschiedenen Anhörungen zu (D) ambulante und stationäre Hospizarbeit erweitert. Es gab Pflegegesetzentwürfen, besonders auch zum PflEG, ha- aber bereits einen Gesetzentwurf des Bundesrates, der ben Vertreter der Behinderten- und Wohlfahrtsverbände nicht nur von der FDP, sondern auch von vielen Fachleu- mehrfach auf diese Defizite sehr kritisch hingewiesen. ten unterstützt wurde. Nach Ihren Vorstellungen sollen nun im Unterschied zum Bundesratsentwurf die Förder- Die PDS lehnt den vorliegenden Referentenentwurf voraussetzungen so stringent sein, dass die ehrenamtliche auch deshalb ab, weil der gewählte Weg zur Einbeziehung Arbeit, die die Hospizlandschaft entscheidend prägt, eher allgemeiner Beaufsichtigungs- und Betreuungsbedarfe behindert als unterstützt wird. Die Verknüpfung der Ster- von Menschen mit geistiger Behinderung, psychisch bebegleitung durch geschulte Ehrenamtliche mit der Kranken und gerontopsychiatrisch veränderten Menschen zwingenden Zusammenarbeit mit palliativ-medizinisch in die Pflegeversicherung den tatsächlich bestehenden erfahrenen Pflegediensten und Ärzten ist nicht akzepta- Bedürfnissen nicht gerecht wird. bel. Diese Förderungsvoraussetzungen sind viel zu eng gefasst. Aus diesem Grund wird sich die in unserem Land Wir sind weiterhin der Auffassung, dass mit dem vorhandene und durch ehrenamtliche Arbeit geprägte vorliegenden Gesetzentwurf Erwartungen geweckt wer- Hospizlandschaft nicht verbessern. Inhaltlich trägt der den, die mit dem vorgesehenen zusätzlich zur Verfügung Gesetzentwurf des Bundesrates diesen Gegebenheiten gestellten Betrag von 900 DM oder 460 Euro pro Pflege- besser Rechnung. bedürftigem jährlich nicht einmal annähernd erfüllt werden. Wir hätten es daher begrüßt, wenn die Regierungsfrak- tionen diesen Teil ihres Gesetzentwurfs zurückgezogen Der zur Verfügung gestellte Betrag von umgerechnet hätten. So bleibt der FDP-Bundestagsfraktion nur die Ab- 2,50 DM oder 1,26 Euro pro Tag steht im krassen Wider- lehnung des vorliegenden Entwurfs. spruch zu der erforderlichen Hilfe für Menschen mit geis- tiger Behinderung, psychisch Kranke und gerontopsy- chiatrisch veränderte Menschen im ambulanten Bereich. Dr. Ilja Seifert (PDS): Nicht nur von betroffenen Men- Auch für den Aufbau von kostenintensiven Strukturen für schen, ihren Angehörigen, in Pflegediensten und Einrich- niedrigschwellige Angebote reicht das keinesfalls. Ein tungen tätigem Personal und Sozialverbänden werden die Betrag in dieser Höhe stellt für die Pflegebedürftigen und Missstände in der Pflege seit Jahren kritisiert. Ende Au- ihre Familien keine wirklich nennenswerte Entlastung gust 2001 hat sogar der Ausschuss für wirtschaftliche, dar. soziale und kulturelle Rechte der Vereinten Nationen Sorge über die Zustände in deutschen Pflegeeinrichtun- Die Kernelemente des PflEG, die die Schaffung neuer gen geäußert. Leistungen für Pflegebedürftige mit einem erheblichen Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19823

(A) allgemeinen Pflegebedarf in häuslicher Pflege betreffen, besserung der Versorgung Pflegebedürftiger“ gegenüber (C) sind hinsichtlich ihrer Reichweite „Kreis der Begünstig- dem Ansatz für 2001 um über 20 Prozent kürzt. ten“, der Höhe der vorgesehenen Leistungen sowie der Gesundheitspolitik kann und darf nicht auf „Kosten- Modalitäten ihrer Inanspruchnahme defizitär. dämpfung“ reduziert werden. Es ist nicht länger akzeptabel, dass der enge Pflegebe- Wir brauchen Strukturen, die sich am Bedarf der be- dürftigkeitsbegriff beibehalten werden soll und damit alle troffenen Menschen ausrichten und nicht vordergründig Personen unterhalb der Stufe I, das heißt mit einem an marktwirtschaftlichen Wettbewerbsbedingungen, die Grundpflegebedarf von immerhin bis zu 45 Minuten täg- dann höchstens noch durch Begutachtungsrichtlinien des lich, trotz erheblichen allgemeinen Beaufsichtigungsbe- Medizinischen Dienstes der Kassen reguliert werden. darfs auch weiterhin vom Leistungsbezug gemäß SGB XI ausgegrenzt bleiben. Unter dem Strich bleibt insgesamt: Zum Sterben zu- viel, zum Leben zu wenig. Deshalb lehnt die PDS dieses Die Bundesregierung wollte laut Koalitionsvereinba- Pflegeleistungs-Ergänzungsgesetz ab. rung vom 20. Oktober 1998 prüfen, „wie die Betreuung Demenzkranker bei der Feststellung der Pflegebedürftig- keit“ berücksichtigt werden kann. Sie hat Hoffnungen auf Gudrun Schaich-Walch, Parl. Staatssekretärin bei eine Aufhebung der Benachteiligung dieses Personen- der Bundesministerin für Gesundheit: Mit dem Entwurf kreises geweckt. In allen Beratungen wurde jedoch deut- zum Pflegeleistungsergänzungsgesetz machen wir einen lich, dass bei der Suche nach Problemlösungen nicht der ersten Schritt in Richtung Entlastungen für Pflegebedürf- Bedarf des betroffenen Personenkreises, sondern die Be- tige, die einen besonderen Betreuungsbedarf haben, und grenzung der einzusetzenden finanziellen Mittel zum ihre Angehörigen. Ausgangspunkt der Überlegungen gemacht wurde. Die Wir schaffen die Grundlage für ein qualitätsgesichertes jetzt vorgesehenen Mittel können insgesamt nicht mehr Betreuungsangebot im ambulanten Bereich. Wir schaffen als ein Tropfen auf einen heißen Stein angesehen werden. die Voraussetzungen für mehr Beratung im Umgang mit Es muss auch bezweifelt werden, dass Art und Anlage die- Menschen, deren Gedächtnisleistungen immer weiter ver- ser Leistungen sowie die in dem Gesetzentwurf ebenfalls loren gehen und deren Betreuung hohe Anforderungen an formulierten Förderungsmodalitäten, insbesondere für ihre Angehörigen oder Freunde stellt. Und wir geben Im- niederschwellige Einrichtungen, geeignet sind, den Auf- pulse zum Entstehen eines abgestuften bedürfnisgerech- und Ausbau einer entsprechenden Infrastruktur qualitäts- ten, niederschwelligen Betreuungssystems. gesicherter Angebote nachhaltig positiv zu beeinflussen. Wenn Sie uns nun vorwerfen, die Regierung täte nichts (B) Insgesamt stehen somit die neuen Betreuungsleistun- für den stationären Pflegebereich und zu wenig für den (D) gen unter der einengenden Auswirkung des programmati- ambulanten, dann frage ich Sie: Wo waren Sie denn, als schen Gebots der Beitragssatzstabilität in der Pflegeversi- wir das Pflegequalitätssicherungsgesetz beraten und ver- cherung. Wenn sie in dem Gesetzentwurf als „erster abschiedet haben? Sie wissen sehr wohl, dass das Pflege- Schritt“ bezeichnet werden, so bleibt die Benennung von qualitätssicherungsgesetz zu Verbesserungen für die weiter reichenden mittelfristigen Perspektiven offen. Menschen in Pflegeeinrichtungen führt. So werden unter anderem die Instrumente der Qualitätssicherung neu Die Spitzenverbände der Pflegekassen sollen nach der strukturiert und damit effektiver einsetzbar, die Verzah- laut Beschlussempfehlung im Gesundheitsausschuss nung mit dem Heimgesetz wird verbessert, Verhand- mehrheitlich – gegen die Stimmen der PDS – beschlosse- lungstransparenz geschaffen und der Verbraucherschutz nen Fassung des Gesetzes einheitlich und gemeinsam aus für Heimbewohner ausgeweitet. Sie hingegen glänzen mit Mitteln des Ausgleichsfonds der Pflegeversicherung mit Forderungen, die unrealistisch und nicht finanzierbar 5 Millionen Euro im Kalenderjahr Modellvorhaben zur sind. Mit einem gesetzlich auch von Ihnen festgeschrie- Weiterentwicklung der Pflegeversicherung, insbesondere benen Beitragssatz von 1,7 Prozent ist das nicht zu ver- zur Entwicklung neuer qualitätsgesicherter Versorgungs- wirklichen. Die Forderung nach Einbeziehung der Stufe formen für Pflegebedürftige, durchführen und mit Leis- Null ist deshalb absolut unverantwortlich. Wenn Sie das tungserbringern vereinbaren. tatsächlich wollen, müssen Sie auch sagen, woher die Gegen Modellvorhaben ist nichts einzuwenden. Hier 1,5 Milliarden DM jährlich – mit steigender Tendenz – werden aber Beitragsgelder, die Pflegebedürftigen zu- kommen sollen, die diese Leistungsausweitung kosten stehen, zur Sanierung des Bundeshaushalts miss- würde, ganz zu schweigen von Ihren Vorschlägen, den braucht – ja, missbraucht! Denn falls die so geförderten Pflegesatz in den Pflegestufen 2 und 3 um jeweils 200 DM Modellprojekte im Bereich der persönlichen Budgets zu erhöhen. oder von neuen Wohnformen positive Ergebnisse zeigen Neben all dem wollen Sie auch noch einen Kapital- sollten, wären sie nicht verallgemeinerbar: Aus der stock aufbauen. Aber das ist bei Ihnen ja nichts Neues. Pflegeversicherung können sie keinesfalls regelfinan- Schuldenmachen war in Ihren Regierungsjahren ja an der ziert werden. Tagesordnung. Besonders pikant wird dieser Verschiebebahnhof, Wir hingegen schaffen mit dem vorliegenden Entwurf wenn sich die Regierung aus den ohnehin begrenzten Mit- ein Versorgungsnetz mit bedürfnisorientierten, abgestuf- teln der Pflegeversicherung bedient und zugleich im ten Angeboten, die mit den Mitteln der Pflegeversiche- Haushalt 2002 die Mittel für „Modellmaßnahmen zur Ver- rung seriös und langfristig zu finanzieren sind. Die dabei 19824 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001

(A) vorgesehenen niedrigschwelligen Betreuungsangebote verkehr zu entwickeln. Dazu ist positive Psychologie ge- (C) kommen den Pflegebedürftigen – auch der Stufe Null – fordert. zugute. Sie wissen, dass die Pflegeversicherung nur einen Nach dem 11. September 2001 ist im internationalen Zuschuss zu den Aufwendungen zur Pflege leistet. Unter Luftverkehrsmarkt ein dramatischer Verkehrsrückgang Ihrer Verantwortung wurde dieses Gesetz als Kompro- bei fast allen Luftverkehrsunternehmen, Flughäfen und miss zwischen allen Fraktionen geschaffen. Sie haben Flugsicherungen zu verzeichnen. Schon vorher zu ver- während Ihrer Regierungszeit die Probleme in der Pflege zeichnende Nachfragerückgänge aufgrund rezessiver bestens gekannt und den Kopf in den Sand gesteckt. Und Entwicklungen der Weltwirtschaft, die sich zeitgleich in jetzt kommen Sie mit absolut unrealistischen Vorschlägen Asien, USA und Europa bemerkbar gemacht hatten, wur- und streuen den Menschen Sand in die Augen. Was Sie den durch die Anschläge erheblich verschärft. Der Passa- wollen, ist alles nicht zu finanzieren! Wenn wir Ihre Vor- gierrückgang auf dem Nordatlantik beträgt etwa 30 Pro- schläge in die Tat umsetzen würden, wäre die Pflegever- zent, in Europa etwa 15 Prozent Kostensteigerungen in sicherung pleite. Auch Sie sollten akzeptieren: Man kann Folge erhöhter Sicherheitsmaßnahmen, geringerer Lade- nur das ausgeben, was man hat. Und weil das so ist, kön- faktoren, wachsender Gebühren und Versicherungsprä- nen wir leider nicht alles wünschenswerte auf einmal er- mien belasten die Ertragskraft der gesamten Branche. Al- reichen. lein für die deutschen Luftfahrtunternehmen kann Unser Entwurf ist ein erster Schritt, der auch von den insgesamt von einer jährlichen Mehrbelastung in Höhe von rund 580 Millionen DM ausgegangen werden. Beteiligten in der Pflege akzeptiert und mitgetragen wird. Das ist uns ganz besonders wichtig. Wettbewerbsverzerrungen aufgrund staatlicher Sub- ventionen tun ein Übriges. Obwohl die Luftfahrtunter- nehmen durch Ausdünnung der Flugprogramme eigene Anlage 9 Anpassungsmaßnahmen eingeleitet haben, sind sie mit der Bewältigung der kritischen Situation überfordert. Un- Zu Protokoll gegebene Reden ternehmenszusammenbrüche, mühsame Rettungsaktio- nen sowie Rufe nach staatlicher Hilfe sind die Folge. zur Beratung des Antrags: Fairen Wettbewerb im Luftverkehr bewahren – Sicherheit erhöhen Die aufgrund der differierenden Rahmenbedingungen (Tagesordnungspunkt 19) im internationalen Vergleich unterschiedlichen Ge- bührensituationen stellen hier für uns eine große Heraus- forderung dar. Die Bundesregierung hat dem betroffenen Hans-Günter Bruckmann (SPD): Die schrecklichen Gewerbe von Anfang an ihre Unterstützung zugesagt. Ne- Ereignisse vom 11. September 2001 in den USA zeigen, ben der sofortigen Einleitung von Maßnahmen, die der (B) dass die Realität brutaler als jeder Horrorfilm sein kann. Erhöhung der Sicherheit dienen, hat der Bund eine zeit- (D) Diese Ereignisse haben zu dramatischen Veränderungen lich begrenzte Haftungsgarantie für die versicherungs- im Weltluftverkehr geführt. Die Bundesregierung hat sich mäßig nicht mehr abgedeckten Risiken in der Drittscha- sofort den Herausforderungen gestellt und umfassende denhaftpflicht übernommen, ein richtiger und wichtiger Konsequenzen für die Verbesserung der Luftsicherheit im Schritt. Es darf in dieser Situation keinen Wettlauf von nationalen und internationalen Rahmen eingeleitet. Subventionen geben. Aber gleichermaßen müssen wir den Als nationale Sofortmaßnahme ist in Ergänzung zu Luftverkehrsunternehmen eine Chance einräumen die strengen Personen- und Handgepäckkontrollen und zur ohne eigenes Verschulden in diese schwierige Situation verschärften Bewachung von Flughäfen am 13. Oktober gekommen sind. Die Bundesregierung wird aufgefordert, 2001 die Luftverkehrs-Zuverlässigkeitsüberprüfungsver- sich auch weiterhin für eine faire und gerechte Lastentei- ordnung in Kraft getreten. Dadurch wurde ein einheitli- lung unter allen von den Auswirkungen der Terrorakte be- ches und verbindliches Überprüfungsverfahren auf ho- troffenen Unternehmen und Stellen einzusetzen. Dabei hem Niveau für den so genannten Innentäterschutz wird sich möglicherweise eine Mehrbelastung von Unter- eingeführt, das sich in der Praxis auf den 37 deutschen nehmen und Passagieren aufgrund zusätzlichen Sicher- Verkehrsflughäfen und bei den Luftfahrtunternehmen be- heitsmaßnahmen nicht vermeiden lassen. währt. Weitere technische Schutzmaßnahmen gegen Darüber hinaus sind wir sicher, dass die Bundesregie- Flugzeugentführungen – wie aufbruchsichere Cockpit- rung sich auf internationaler Ebene ganz entschieden für türen – werden aktuell geprüft und in Zusammenarbeit ein harmonisiertes, gleichgerichtetes Vorgehen einsetzt mit den Flugzeugherstellern und Luftfahrtunternehmen und daran mitwirkt, wettbewerbsneutrale Regelungen für kurz- und mittelfristig in Angriff genommen. die Zukunft des Luftverkehrs zu schaffen. Die EU-Staaten Neben den nationalen Maßnahmen sind aufgrund der sollen die EU-Kommission dabei unterstützen, mit den Internationalität des Luftverkehrs vor allem einheitliche USA einen „code of conduct“ zu vereinbaren, der Wettbe- und verbindliche Sicherheitsstandards aller am zwi- werbsverzerrungen im Luftverkehr durch unzulässige schenstaatlichen Luftverkehr beteiligten Staaten von Beihilfen und Subventionen ausschließt. Preissenkungen grundsätzlicher Bedeutung. Die Bundesregierung wird aufgrund von Subventionen sollen keine Zukunft haben. von der Regierungskoalition dahin gehend unterstützt, bei Europäische Luftfahrtunternehmen haben gegenüber der ICAO die weiter gehenden Sicherheitsstandards der der EU-Kommission belegt, dass US-Luftfahrtunterneh- EAC weltweit verbindlich zu machen. Die verbesserten men aggressiv und in erheblichem Umfang das Preisni- internationalen Sicherheitsmaßnahmen müssen dazu bei- veau um bis zu 50 Prozent gesenkt haben. Auch europä- tragen, wieder zunehmendes Vertrauen in den Flug- ische Fluggesellschaften – zum Teil aufgrund von Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19825

(A) Subventionen – versuchen, mit drastischen Preissenkun- schäftigten bei den US-amerikanischen Airlines. Auch in (C) gen Nachfrage zu generieren. Erfahrungen im Luftver- Europa leiden die Fluggesellschaften unter den Auswir- kehr zeigen jedoch, dass bei krisenbedingter nachlassen- kungen der Attentate. So will British Airways 7 000 Stel- der Nachfrage Preissenkungen nur das Preisniveau len abbauen. Bei Swissair und Sabena verschlechterte senken, ohne dass wesentliche Zusatznachfrage entsteht. sich die ohnehin schwierige wirtschaftliche Situation so Inzwischen erhöht sich der Marktdruck auch auf deutsche drastisch, dass sie Bankrott gingen. Unternehmen, das Preisniveau anzupassen. Die Deutsche Lufthansa will mit Ausgabenminderung Die SPD-Fraktion unterstützt die Haltung der Bundes- und Gehaltskürzungen sowie mit einem Einstellungs- und regierung bei folgenden Themen: Investitionsstopp die Krise ohne betriebsbedingte Kündi- Schadensausgleich. Beibehaltung der bisherigen re- gungen meistern. Aber auch sie beklagt einen Rückgang striktiven Beihilfepraxis. Sofern Staatshilfen gewährt der Passagiere um 25 Prozent und Einnahmeverluste von werden, ist sicherzustellen, dass nur Schäden ausgegli- 20 Millionen DM täglich. Allein in den ersten Tagen nach chen werden, die direkt und ursächlich auf die Ereignisse dem 11. September, als der Luftraum über den USA ge- des 11. September 2001 zurückzuführen sind. Objektive sperrt war, entstand der Lufthansa ein Schaden von rund Kriterien müssen dabei Beurteilungsmaßstab sein. 180 Millionen DM. Zurzeit sind 43 Flugzeuge der Luft- hansa in der Wüste im Südwesten der USA abgestellt. Versicherungsproblematik. Die Einrichtung der Ar- beitsgruppe auf Staatsekretärsebene unter Federführung Auch die internationalen Flughäfen leiden unter den des BMF wird von uns unterstützt. Die Garantiezusage für Folgen der Terroranschläge. So muss der Frankfurter die nicht länger versicherten Risiken „Krieg und Terror- Flughafen seit dem 11. September Einbußen bei den akte“ halten wir im Sinne der Branche für richtig. Auch Fluggästen in Höhe von 20 bis 30 Prozent hinnehmen. die vorgesehene Verlängerung vom 25. November 2001 Die durch die Terroranschläge verursachte Krise trifft bis zum 31. Januar 2002 ist sinnvoll. Bis zu diesem Zeit- die Fluggesellschaften in einer Phase zurückgehender punkt erwarten wir aber ein Langfristkonzept unter Betei- Konjunktur. Seit Mai 2001 wirken sich die schlechte ligung der Versicherungs- und der Luftverkehrswirt- US-Konjunktur und das wirtschaftspolitische Versagen schaft, das zukunftsfähig ist. der rot-grünen Bundesregierung auch auf die deutsche Wettbewerb. Mit dem in der Ressortabstimmung be- Konjunktur aus, sodass schon vor dem 11. September der findlichen Gesetzentwurf der Bundesregierung „zur Er- Umsatz in der Luftverkehrsbranche zurückgegangen war. leichterung des Marktzugangs im Luftverkehr“ erwarten Dabei war bis dahin der Luftverkehr als die Zukunfts- wir Leitlinien zur Liberalisierung des internationalen branche angesehen worden. Fluglinienverkehrs in Deutschland, die eine stärkere För- Schon heute hängen allein in Deutschland 250 000 Ar- (B) derung des Wettbewerbs unter gleichwertiger Berück- beitsplätze direkt und 500 000 Arbeitsplätze indirekt vom (D) sichtigung der Interessen von Luftfahrtunternehmen, Luftverkehr ab. Die Luft- und Raumfahrtindustrie be- Verbrauchern, Flughäfen und verladender Wirtschaft vor- schäftigt in Deutschland weitere 70 000 Menschen. Da die sehen, um den Luftverkehrsstandort Deutschland zu stär- Prognosen zu Fluggastzahlen bis 2020 ein jährliches ken. Wir sind uns sicher, dass durch das Gesetz die Wachstum von 5 Prozent und zum Luftfrachtverkehr um betroffenen Luftfahrtunternehmen von den Kosten wirt- 7 Prozent versprachen, sah man im Luftverkehr nicht zu- schaftsregulierender Genehmigungsverfahren entlastet letzt die Jobmaschine der Zukunft. werden, sich die Wettbewerbsintensität erhöht und der Verbraucher einen höheren Nutzen bekommt. Mit den von Doch spätestens seit dem 11. September 2001 weiß der Bundesregierung eingeleiteten Sofortmaßnahmen und man, dass die Entwicklung nicht so rasant verlaufen wird. den mittel- und langfristig eingeleiteten Schritten sind wir Denn zu den konjunkturellen Schwierigkeiten kommen auf dem richtigen Weg. die Belastungen aus den neuen Sicherheitsanforderungen. Um es klar zu sagen: Die CDU/CSU-Fraktion begrüßt die Wir sind davon überzeugt, dass die gegenwärtigen Pro- vom Verkehrsrat der EU am 16. Oktober 2001 in Luxem- bleme im Luftverkehr vorübergehender Natur sind und burg verabschiedeten Leitlinien. Wir unterstützen die dass bald wieder Normalität und Wachstum im Luftver- stärkere Kontrolle des Zugangs zu den sensitiven Berei- kehrsmarkt eintritt. Lassen Sie uns gemeinsam daran ar- chen der Flughäfen und zu den Flugzeugen, des Boden- beiten, dass das Vertrauen in die Luftfahrt zurück gewon- personals, der Fluggäste und ihres Handgepäcks, des auf- nen wird. gegebenen Gepäcks sowie dessen Überwachung. Wir halten auch eine Klassifizierung von Gegenständen, die Norbert Königshofen (CDU/CSU): Der Luftverkehr nicht in sensitive Bereiche gebracht werden dürfen, für ist ökonomisch am stärksten von den Folgen des Terror- notwenig. anschlages auf die USAam 11. September 2001 betroffen. Die CDU/CSU-Fraktion spricht sich nachdrücklich So bezifferte der internationale Zivilluftfahrtverband, IATA, dafür aus, dass durch den Einbau von speziellen Cockpit- die Verluste für die Fluggesellschaften auf über 10 Mil- Türen der Zugang zum Cockpit für Unbefugte gesperrt liarden Dollar; sie sind also mehr als doppelt so hoch wie wird, wie überhaupt alle technischen Möglichkeiten ge- die nach dem Golfkrieg. Damals waren es 4,9 Milliarden nutzt werden müssen, um zu verhindern, dass Attentäter Dollar und die Träger des internationalen Luftverkehrs oder Flugpiraten Flugzeuge in ihre Gewalt bringen brauchten Jahre, um sich zu erholen. können. Auch der Einsatz von Skymarshals ist nach unse- In den USA spricht man von der Entlassung von rund rer Auffassung sinnvoll und geboten. Alle diese Sicher- 100 000 Mitarbeitern. Dies sind rund ein Siebtel aller Be- heitsmaßnahmen sind notwendig und wir unterstützen sie. 19826 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001

(A) Es gilt aber, die Sicherheit zu erhöhen, ohne den fairen fen, indem sie wieder staatliche Beihilfen in eine Bran- (C) Wettbewerb zu verletzen. So hat der US-Senat Finanzhil- che pumpt. Damit würden übrigens auch die Bemühun- fen in Höhe von 15 Milliarden Dollar als Soforthilfe für gen der Bundesregierung und der DB im innerdeutschen die amerikanischen Fluggesellschaften bewilligt. Wegen und europäischen Bereich konterkariert, mehr Verkehr der Probleme, die die US-Fluggesellschaften haben, kann auf einen schnellen und attraktiven Bahnverkehr zu ver- man dies verstehen. Kein Verständnis haben wir aller- lagern. dings dafür, dass US-Fluggesellschaften die Staatshilfe dafür nutzen, mit massiven Preissenkungen die europä- Im FDP-Antrag wird eine Beibehaltung des wett- ischen Fluggesellschaften von der Nordatlantikroute zu bewerblichen Rahmens im Flugverkehr gefordert. Hier verdrängen. So bietet United Airlines Amerikaflüge von übersieht die FDP – ich unterstelle einmal: mit einer ge- Frankfurt/Main für 699 DM an. Das ist kein fairer Wett- wissen Absicht –, dass der Flugverkehr immer noch hohe bewerb mehr, sondern Dumping. Die Terroranschläge staatliche Subventionen bekommt bzw. der ordnungspoli- dürfen nicht als Vorwand dazu dienen, versteckte Staats- tische Rahmen den Flugverkehr in Konkurrenz zu den an- hilfen zu leisten. deren Verkehrsträgern eindeutig bevorzugt. Ich erinnere daran, dass Flughäfen mit hohen staatlichen Beihilfen fi- Das gilt aber auch für den innerdeutschen Wettbewerb. nanziert und Länderbeihilfen für die Durchführung inter- So übernehmen einige Mitgliedstaaten der EU für die kontinentaler Flüge gezahlt werden. Der zweite Punkt ist nächste Zeit die Kosten zusätzlicher Sicherheitsmaßnah- das Fehlen einer internationalen Kerosinsteuer und die men, während Deutschland die Kosten durch Betreiber Umsatzsteuerbefreiung im grenzüberschreitenden Luft- und Nutzer tragen lässt. verkehr. Durch beides werden die umweltfreundlichen Auch die Finanzspritzen der belgischen Regierung für Verkehrsträger Bahn und Schifffahrt massiv benach- die Sabena-Nachfolgegesellschaft DAT und der Schweiz teiligt. für Swissair/Crossair verzerren den Wettbewerb. Die Bundesregierung setzt sich für eine Liberalisie- In einem zusammenwachsenden Europa macht es kei- rung des Luftverkehrs ein, die verbunden sein muss mit nen Sinn, wenn sich jeder Staat – koste es, was es wolle – einer Harmonisierung der Wettbewerbsbedingungen. In- seine eigene nationale Fluggesellschaft halten will. nerhalb der EG wird die bisher konsequente Haltung der Kommission unterstützt, das grundsätzliche Subven- Die CDU/CSU-Fraktion hält es auch nicht für richtig, tionsverbot des EG-Vertrages gegenüber subventionsbe- dass deutsche Fluggesellschaften für die Staatshaftung reiten Staaten anzuwenden. Dazu gehört auch, dass der zur Deckung von Folgeschäden bei Krieg oder Terror Prä- Staat neben den verstärkten Sicherheitsmaßnahmen in mien zahlen sollen, während zum Beispiel British Air- staatlicher Hoheit nicht alle Aufwendungen der Luftver- ways diesen Schutz unentgeltlich erhält. Daher begrüßen kehrsgesellschaften für zusätzliche Kosten ersetzen kann (B) wir, dass die Bundesregierung nun endlich die Prämien und darf. Hier kann es allenfalls um eine wettbewerbs- (D) gestundet hat, bis eine gemeinsame Prämienregelung in neutrale Ausgestaltung der Kostenverteilung gehen. der EU für die staatlichen Haftungsgarantien erreicht ist. Die Bundesregierung hat den Luftverkehrsgesell- Wir unterstützen die Forderung der Organisation der schaften schnell mit einer Übernahme der Versicherungs- europäischen Luftlinien, AEA: keine staatlichen Beihil- risiken für terroristische Angriffe, die die Versicherungs- fen, aber Kompensation für Schäden, die durch politische wirtschaft nicht mehr übernehmen wollte, unter die Flügel Ereignisse verursacht wurden. Insofern sollte die Bundes- gegriffen. Jedem von uns ist aber auch bewusst, dass ein republik die Schäden, die den deutschen Fluggesellschaf- katastrophaler Terroranschlag mit Flugzeugen zum Bei- ten durch die viertägige Sperrung des amerikanischen spiel in Deutschland – was Gott verhüten möge! – auch Luftraums entstanden sind, übernehmen. immense Kosten verursacht, die den Bundeshaushalt Wir wollen einen fairen Wettbewerb auf der Nord- enorm belasten würden. Daher muss auch aus prinzipiel- atlantikroute, in Europa, aber auch in Deutschland, also len Überlegungen das Versicherungsrisiko in absehbarer zwischen der Lufthansa und ihren innerdeutschen Wett- Zeit wieder auf die privatwirtschaftliche Versicherungs- bewerbern. Weder die Politik noch der deutsche Fluggast wirtschaft verlagert werden. Die Luftfahrt verzeichnet sind an einem Verdrängungswettbewerb interessiert. wie kein anderer Verkehrsträger seit Jahren ein erhebli- ches Wachstum. Sie wird auch die gegenwärtige Krise Meine Damen und Herren, der FDP-Antrag entspricht nach einer Phase der Erholung überwinden. unserer Haltung zum Luftverkehr und die beantragten Feststellungen werden von uns mitgetragen. Wir stimmen daher dem FDP-Antrag zu. Horst Friedrich (Bayreuth) (FDP): Nach den Terror- anschlägen vom 11. September 2001 ist es insbesondere in der Luftverkehrswirtschaft zu erheblichen Turbulenzen Albert Schmidt (Hitzhofen) (BÜNDNIS 90/DIE gekommen. Drei Dinge machen es den Unternehmen GRÜNEN): Die Lage einiger Luftverkehrsunternehmen hierbei besonders schwer: hatte sich schon mit der abflauenden Konjunktur ver- schlechtert; sie hat sich mit dem Anschlag am 11. Sep- Erstens der massive Einbruch bei den Buchungen, vor- tember 2001 aber zu einer Krise ausgeweitet. Fluggesell- nehmlich auf den transatlantischen Routen. Zweitens die schaften wie die Swissair oder die Sabena, die jahrelang Kündigung der Versicherungsverträge wegen der Neube- expandiert haben oder auf staatliche Unterstützung ange- wertung der Risiken und drittens der zusätzliche Aufwand wiesen waren, haben Konkurs angemeldet. In diesen für die verstärkten Sicherheitsmaßnahmen am Boden und Marktprozess sollte die Bundesregierung nicht eingrei- in der Luft. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19827

(A) Diese Beobachtung dürfte unbestritten sein. Allerdings lierung im Luftverkehr über Jahre hinweg eine günstige (C) kommen die Fluggesellschaften offensichtlich unter- Marktposition erarbeitet und dürfen nun nicht gegenüber schiedlich gut mit dieser Situation zurecht, wie die Fälle denjenigen Unternehmen benachteiligt werden, die nur „TAP“, „Alitalia“, „Swiss Air“, „Sabena“ und jetzt wohl noch durch Subventionen am Markt bestehen können, auch „LTU“ zeigen. Dies wird in Amerika, aber auch in- weil sie wiederum über Jahre hinweg ihre Hausaufgaben nerhalb der EU zunehmend zum Anlass genommen, den nicht gemacht haben. in Schwierigkeiten geratenen Gesellschaften Unterstüt- zung zukommen zu lassen. Nach Auffassung der FDP muss die Bundesregierung im eigenen Land stringent und nicht nach Holzmann-Ma- Hier gilt es jetzt aufzupassen! Niemand kann etwas da- nier handeln und sich auf europäischer und WTO-Ebene gegen haben, bestimmte neue Belastungen der Luftver- dafür einsetzen, dass hier den Anfängen gewehrt wird. Es kehrsbranche, die ja alle Gesellschaften treffen, staatli- müssen strenge Kriterien angelegt werden, wenn Unter- cherseits abzufedern. Hierzu gehören die von der stützungsmaßnahmen für die Luftverkehrswirtschaft in Bundesregierung und der Luftverkehrswirtschaft einge- Erwägung gezogen werden. Ganz besonders müssen leiteten Sicherheitsmaßnahmen, aber auch die zeitlich be- marktverzerrende Dauersubventionen ausgeschlossen grenzte Erweiterung der Staatshaftung für nicht mehr ver- sein. Als Maßstab kommen nur die WTO-Regeln in Be- sicherte Kriegs- und Terrorismusrisiken über deutsche tracht. Luftverkehrsunternehmen hinaus, auf deutsche Flughäfen und Dienstleister. Hierher gehört auch, dass die Folgen Hinsichtlich der Mehraufwendungen für zusätzliche der Luftraumsperre in den USA in den Tagen der An- Sicherheitsmaßnahmen muss ein fairer Modus zur Anlas- schläge – das war ein hoheitlicher Akt – durch die Bun- tung der zusätzlichen Kosten gefunden werden. Im Si- desregierung kompensiert werden. Für die Lufthansa be- cherheitspaket der Bundesregierung aufgeführte Maßnah- ziffert sich der Schaden, der nur hierdurch entstanden ist, men, die hoheitlichen Aufgaben zuzuordnen sind, dürfen beispielsweise auf circa 180 Millionen Mark. Die Bun- weder den Passagieren noch den Unternehmen angelastet desregierung hat obendrein die Pflicht, in Zusammenar- werden. Schon gar nicht darf der Finanzminister als Ver- beit mit der Versicherungswirtschaft für eine Art „Terror- sicherungsmakler auftreten und Prämien einfordern, wo folgen-Resthaftung“ oberhalb des Versicherungssystems keine finanziellen Belastungen für den Staat eingetreten aus Versicherern und Rückversicherern zu stehen. Sonst sind! Auch hier ist ein harmonisierter Handlungsrahmen wird das Fliegen unbezahlbar. zu erarbeiten, um Wettbewerbsverzerrungen und Sicher- heitsdefizite zu vermeiden. Diese Belastungen sind solche, die alle Gesellschaften betreffen und daher auch gleichmäßig bei allen ausgegli- chen werden müssen. Darüber hinaus darf es nicht zu ei- Dr. Winfried Wolf (PDS): Der FDP-Antrag geht von nem Subventionswettlauf kommen. einer Krise der Luftverkehrsunternehmen aus. Er betont (B) zu Recht, dass sich diese Krise mit den Ereignissen vom (D) Viele Luftverkehrsunternehmen scheinen nämlich die 11. September nur beschleunigt habe, dass ihre Grund- Probleme, die die veränderten Marktbedingungen mit tendenzen jedoch bereits vor dem 11. September zutage sich bringen, meistern zu können. Deren Zahl ist größer getreten seien. als die Zahl der Unternehmen, die nun in existenziellen Schwierigkeiten sind. Dieser Umstand beweist auch, dass Tatsächlich haben wir es mit einer schweren Bran- die momentane akute Krise einiger Luftverkehrsunter- chenkrise zu tun. Allein in den USA sollen 100 000 Ar- nehmen dem Grunde nach schon länger bestand und in- beitsplätze in der Luftfahrt vernichtet werden. Nach der folge der Terroranschläge in den USA nur offen zu Tage De-facto-Pleite der Swissair steht inzwischen auch die getreten ist. Insofern haben die nach den Terroranschlä- belgische Sabena vor dem Konkurs. Andere Zusammen- gen gesunkenen Passagierzahlen diese Krise im Luftver- brüche dürften noch folgen. kehr noch wesentlich beschleunigt. Sie sind aber nicht die Nun versucht sich der FDP-Antrag in der Quadratur Ursache für die Probleme, die eine Reihe von Luftver- des Kreises. Einerseits – ganz Antrag der Liberalen – wird kehrsunternehmen auch schon vorher am Markt hatten. gefordert, am „Wettbewerbsrahmen“ festzuhalten und Daher muss sich der bestehende Wettbewerbsrahmen im keine neuen größeren staatlichen Subventionen zuzulas- Luftverkehr gerade in diesen krisenhaften Zeiten be- sen, andererseits wird verlangt, die Mehraufwendungen währen und darf nicht aufgeweicht werden. für zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen in einem fairen Das gilt für Deutschland selbst, die EU, aber auch für Modus in erster Linie dem Staat anzulasten. Hier sollen die internationale Ebene. Es kann nicht sein, dass im Rah- unter anderem Maßnahmen, die hoheitlichen Aufgaben men der Krisenbewältigung den Amerikanern, aber auch zuzurechnen sind, nicht den Passagieren und nicht den europäischen Regierungen ein Freibrief für die Wieder- Fluggesellschaften angelastet werden. eröffnung der längst überwunden geglaubten Spielwiese Wir dürfen daran erinnern: Die Bahn verfügte früher für staatliche Interventionen und Subventionen ausge- über eine Bahnpolizei. Diese wurde im Rahmen der Pri- stellt wird. Jeder kennt die Subventionsverlockungen, der vatisierung abgeschafft. Inzwischen übt der BGS weitge- auch Regierungen erliegen, wenn sie sich einen interna- hend die Funktionen der ehemaligen Bahnpolizei aus. Die tionalen Wettbewerbsvorteil erhoffen. Deshalb war die DB AG muss dafür jährlich einen erheblichen Betrag an Deregulierung im Luftverkehr eine historische Leistung. den Bund abführen. Offensichtlich findet die FDP das Es muss unbedingt vermieden werden, dass jetzt im bei der Bahn richtig, weil marktwirtschaftlich, will jedoch Grunde gesunde Carrier im Wettbewerb mit subventio- beim Flugverkehr gerade solche Kosten durchaus beim nierten Wettbewerbern unverschuldet ins Hintertreffen Steuerzahlenden angesiedelt sehen. Wenn ein Verkehrs- geraten. Diese Unternehmen haben sich seit der Deregu- mittel derart gefährdet ist, wie es für das Fliegen ja 19828 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001

(A) zutrifft, warum sollen die entsprechenden Sicherheitsmaß- Kostensteigerungen infolge erhöhter Sicherheitsmaßnah- (C) nahmen nicht den Fluggesellschaften angelastet werden? men, geringerer Ladefaktoren, wachsender Gebühren und Versicherungsprämien belasten die Ertragskraft der ge- Überhaupt sollten wir die Forderung der FDP näher un- samten Branche zusätzlich. Allein für die deutschen Luft- tersuchen, wonach der Wettbewerbsrahmen erhalten wer- fahrtunternehmen kann insgesamt von einer jährlichen den sollte. Was für ein Rahmen ist das denn? Und wo gibt Mehrbelastung in Höhe von rund 290 Millionen Euro aus- es dort welchen Wettbewerb? Bereits der Flugzeugbau ist gegangen werden. Wettbewerbsverzerrungen aufgrund eine hoch subventionierte Angelegenheit. Die Unterneh- staatlicher Subventionen tun ein Übriges. Obwohl die men Airbus und Boeing würden gar nicht existieren, wür- Luftfahrtunternehmen durch Ausdünnung der Flugpro- den sie nicht massiv subventioniert und wären sie nicht gramme – Lufthansa hat zum Beispiel 43 Flugzeuge still- zugleich Teil großer industrieller Komplexe, die fast aus- gelegt – eigene Anpassungsmaßnahmen eingeleitet ha- schließlich von Staatsgeldern leben. Sodann ist der ganze ben, sind sie zum Teil mit der Bewältigung der kritischen Weltmarkt für zivile Jets unter diesen zwei Konzernen, Situation überfordert. Unternehmenszusammenbrüche, die 98 Prozent des Weltmarkts für große zivile Jets kon- mühsame Rettungsaktionen sowie Rufe nach staatlicher trollieren, aufgeteilt. Von Wettbewerb kann da längst Hilfe sind die Folge. kaum mehr die Rede sein. Schließlich befinden sich in un- serem Land alle Flugplätze ganz oder weitgehend in öf- Die Bundesregierung hat dem betroffenen Gewerbe fentlicher Hand, im Eigentum von Ländern und Kommu- von Anfang an ihre Unterstützung zugesagt. Neben der nen und zum Teil auch des Bundes. Auch auf diesem Weg sofortigen Einleitung von Maßnahmen, die der Erhöhung werden in großem Umfang Kosten des Luftverkehrs ver- der Sicherheit dienen, hat der Bund eine zeitlich begrenzte gesellschaftet. Haftungsgarantie für die versicherungsmäßig nicht mehr abgedeckten Risiken in der Drittschadenhaftpflicht über- Schließlich wird Kerosin nicht besteuert; die Airlines nommen. Ferner haben wir uns auf europäischer Ebene mussten damit auch nicht die jüngsten Ökosteuern auf ganz entschieden für ein gleichgerichtetes Vorgehen in al- Energie mittragen. len ökonomischen und Sicherheitsfragen eingesetzt. Die Dann müsste der Vollständigkeits halber noch angefügt Bundesregierung wird auch weiterhin für eine faire und werden, dass die externen Kosten im Flugverkehr weit gerechte Lastenteilung unter allen von den Auswirkungen größer als bei allen anderen Verkehrsträgern sind, unter der Terrorakte betroffenen Unternehmen und Stellen ein- anderem aufgrund des massiven Beitrags zur Klimaver- treten. Bezüglich der Mehraufwendungen für zusätzliche schlechterung und aufgrund der immensen Lärmemissio- Sicherheitsmaßnahmen kann nicht ausgeschlossen wer- nen, wobei die Kosten für den passiven Lärmschutz im den, dass Unternehmen und Passagiere von den zusätzli- Umfeld von Flughäfen ebenfalls nicht von den Flugge- chen Kosten gänzlich unverschont bleiben. Allerdings sellschaften getragen werden. wird eine wettbewerbsneutrale Regelung und Anwendung (B) auch im internationalen Rahmen angestrebt. (D) Wird all dies bedacht, dann handelt es sich beim Luft- verkehr um eine Veranstaltung, die in extremem Maß sub- Auf der letzten Sitzung des EU-Verkehrsministerrats ventioniert ist. Es ist bezeichnend, dass die FDP all diese am 16. Oktober 2001 in Luxemburg nahm das Thema Subventionen nicht nur nicht erwähnt, sondern diese vor Luftverkehr einen breiten Raum ein. Ich möchte Ihnen die allem beibehalten will. Die Ritter der freien Marktwirt- wichtigsten Ergebnisse und unsere Position dazu kurz schaft halten nur dort ihr Fähnlein hoch bzw. sie nehmen skizzieren: dieses Priznzip nur dort ernst, wo es in den Kram passt, Schadensausgleich: Grundsätzlich verbleibt es bei der zum Beispiel beim Thema Bahnprivatisierung. Im Fall bisherigen restriktiven Beihilfepraxis. Das bedeutet, dass des Flugverkehrs dagegen soll ein Wettbewerbsrahmen die gegenwärtige Situation nicht zur Rettung von schon aufrechterhalten werden, der in erster Linie ein staatlich vor dem 11. September 2001 Not leidenden Gesellschaf- subventionierter Rahmen zur Förderung desjenigen Ver- ten herhalten darf. Sofern Staatshilfen gewährt werden, kehrsträgers ist, der im Vergleich zu den anderen Ver- muss sichergestellt sein, dass nur solche Schäden ausge- kehrsträgern die Umwelt am meisten schädigt und den glichen werden, die direkt und ursächlich nachweisbar auf Menschen die größten Belastungen bringt. die vier- bis fünftägige Schließung fremder Lufträume Die FDP sollte uns bei einem Trippelschritt hin zu et- nach dem 11. September zurückzuführen sind. Keines- was weniger Wettbewerbsverzerrung unterstützen und falls dürfen die staatlichen Leistungen zu Wettbewerbs- gemeinsam mit uns die Einführung der Mineralölsteuer- verzerrungen unter den Luftfahrtunternehmen führen. Die pflicht bei Kerosin fordern. Kommission wird jeden einzelnen Antrag sorgfältig auf der Basis objektiver Kriterien prüfen. Die der Bundesre- gierung bisher vorliegenden Anträge deutscher Unterneh- Stephan Hilsberg, Parl. Staatssekretär beim Bundes- men belaufen sich auf circa 71 Millionen Euro. minister für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen: Die schrecklichen Ereignisse vom 11. September 2001 in den Versicherungsproblem: Was die ungedeckten Versiche- USA haben zu dramatischen Veränderungen im Weltluft- rungsrisiken bei der Haftpflicht für Drittschäden angeht, verkehr geführt. Schon vorher zu verzeichnende Nachfra- hat der Verkehrsrat die Grundzüge einer gemeinsamen gerückgänge aufgrund rezessiver Entwicklungen der Haltung festgelegt. Ziel bleibt die schnellstmögliche Weltwirtschaft, die sich zeitgleich in Asien, USA und Eu- Rückkehr zur privatwirtschaftlichen Versicherung. So- ropa bemerkbar gemacht hatten, wurden durch die An- weit das noch nicht möglich ist, können die Staatsgaran- schläge erheblich verschärft. So beträgt der Passa- tien jeweils nach Überprüfung des Versicherungsmarktes gierrückgang auf dem Nordatlantik gegenwärtig etwa auf monatlicher Basis bis längstens zum 31. Dezember 30 Prozent, in Europa beläuft er sich auf rund 15 Prozent. 2001 verlängert werden. Dabei sind marktgerechte Prä- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19829

(A) mien festzusetzen. Als Versicherungshöchstgrenze gelten endlich gesetzlich zu regeln. Die Anwendung des Kodex (C) die Beträge, die am 11. September 2001 bestanden. der Börsensachverständigenkommission hat gezeigt, dass eine freiwillige Vereinbarung auf Dauer nicht ausreicht. Die Bundesregierung hat gegenüber den deutschen Luftfahrtunternehmen, Flughäfen und Anbietern von Es bedarf einer verbindlichen gesetzlichen Regelung. wichtigen Dienstleistungen, zum Beispiel Abfertigungs- Innerhalb der Europäischen Union bestehen zum Teil gesellschaften, Betankungs- und Versorgungsunterneh- gravierende Unterschiede im Gesellschaftsrecht und im men, eine Garantiezusage für die nicht länger versi- Aktienrecht. Andere Staaten schützen nationale Unter- cherbaren Risiken Krieg und Terrorakte in Höhe von nehmen mit den so genannten Golden Shares oder durch insgesamt bis zu 20 Milliarden US-Dollar abgegeben. Sie Stimmrechtsbeschränkungen. Es ist das Verdienst der gilt zunächst bis zum 25. November 2001, eine Verlänge- Bundesregierung, dass diese Unterschiede jetzt mit dem rung bis zum 31. Januar 2002 ist bereits vorgesehen. Die Ziel geprüft werden, sie aneinander anzugleichen und auf Entgelte für die Haftungsübernahme werden den Unter- der europäischen Ebene ein so genanntes „level playing nehmen zunächst bis zur Festlegung EU-einheitlicher Ge- field“, also ein Spielfeld auf gleicher Höhe zu schaffen. bühren gestundet. Wir werden die EU-Kommission in ih- Deutschland kann jedoch auf eine Einigung nicht warten. rer Kontrollfunktion unterstützen, damit es nicht zu Wir benötigen die gesetzliche Regelung jetzt. Wettbewerbsverzerrungen durch kostenlose oder günsti- gere Staatsgarantien in anderen Ländern kommt. Inzwi- Ziel des Übernahmegesetzes ist es nicht, Übernahmen schen wurde ein Arbeitsgruppe auf Ebene der Staatsse- zu verhindern, sondern gesetzliche Regeln für deren Ab- kretäre unter Federführung des Bundesfinanzminis- lauf festzuschreiben. Es sollen sich alle Beteiligten auf ein teriums eingesetzt. Sie wird unter Beteiligung von faires Verfahren verlassen können: Minderheitsaktionäre Versicherungswirtschaft und deutscher Luftverkehrswirt- und Beschäftigte ebenso wie Bieter und Zielgesellschaft, schaft ein Langfristkonzept zur Lösung der Frage erarbei- VorstandundAufsichtsrat. Im Fall eines Übernahmeange- ten, wo Staat und wo Wirtschaft haften. botes darf der Vorstand der Zielgesellschaft keine Hand- lungen vornehmen, durch die der Erfolg des Angebotes Preisdumping durch ausländische Fluggesellschaften: verhindert werden könnte. Dies gilt nicht für Handlungen, Sorge bereitet uns die gegenwärtig zu beobachtende Pra- die auch ein ordentlicher und gewissenhafter Geschäfts- xis einiger ausländischer Unternehmen, über Preisdum- leiter ohne vorliegendes Angebot unternommen hätte, ping Marktanteile zurückzugewinnen. Der Wettbewerb oder für die Suche nach einem „weißen Ritter“ sowie für um den Fluggast muss auch in der gegenwärtigen, für alle Handlungen, denen der Aufsichtsrat zugestimmt hat. An- gleich schwierigen Situation mit fairen Mitteln geführt dere, übliche Abwehrmaßnahmen, wie zum Beispiel eine werden. Es darf nicht sein, dass staatliche Ausgleichsleis- Kapitalerhöhung oder der Erwerb eigenerAktien bedürfen tungen für erlittene Schäden oder zur Stützung chronisch selbstverständlich weiterhin der Zustimmung der Haupt- kranker Unternehmen für solche Zwecke missbraucht (B) versammlung. Andere übliche Abwehraßnahmen, wie (D) werden. Sowohl auf europäischer Ebene als auch in bila- teralen Kontakten wird die Bundesregierung um die Ab- zum Beispiel eine Kapitalerhöhung oder der Erwerb eige- stellung solcher Praktiken bemüht sein. ner Aktien bedürfen der Zustimmung der Hauptversamm- lung. Das ist das Gebot des Aktienrechts und durch euro- Es ist zu hoffen, dass die gegenwärtigen Probleme päische Richtlinien vorgeschrieben. Die Aktionäre sollen vorübergehender Natur sind und baldmöglichst wieder als Eigentümer des Unternehmens das letzte Wort haben. Normalität und Wachstum im Luftverkehrsmarkt eintritt. Die Hauptversammlung kann den Vorstand in einem so Alle Beteiligten arbeiten daran, das Vertrauen in die Luft- genannten Vorratsbeschluss zu Abwehrmaßnahmen er- fahrt so schnell wie möglich zurückzugewinnen. mächtigen. Diese Beschlüsse gelten für höchstens 18 Mo- nate und müssen mit Dreiviertel des stimmberechtigten Kapitals gefasst werden. Im Rahmen des Gesetzes werden Anlage 10 auch die Fristen für die Einberufung einer Hauptver- sammlung verkürzt, damit im Falle eines Angebotes die Zu Protokoll gegebene Reden Aktionäre schnell zusammentreten können. zur Beratung: Unser Übernahmegesetz erreicht zwei von uns gesetzte – des Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung von Ziele: Wir wollen den Finanzplatz Deutschland stärken. öffentlichen Angeboten zum Erwerb von Eine verbindliche Regelung für Übernahmen unterstützt Wertpapieren und von Unternehmensüber- dieses Ziel. Das Gesetz stärkt die Möglichkeiten der nahmen Hauptversammlung und die Durchsetzung der Interessen der Aktionäre. – des Antrags: Fairer Wettbewerb und Rechts- sicherheit bei Unternehmensübernahmen in Wir wollen Beschäftigte schützen. Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen haben nach unserem Gesetz das Europa Recht auf Information, wie das Übernahmeangebot aus- – des Antrags: Gesetzliche Mitspracherechte sehen wird und das Recht dazu, Stellung zu beziehen. bei Unternehmensübernahmen Über die Mitwirkung im Aufsichtsrat können sie Vor- schläge zur Abwehr einbringen. Die Praxis hat gezeigt, (Tagesordnungspunkt 22 a und b) dass die Beschäftigten in bestimmten Fällen durchaus In- teresse an einer Übernahme haben können – wenn näm- Nina Hauer (SPD): Wir freuen uns, dass es uns ge- lich ihr Unternehmen unter seinen Möglichkeiten wirt- lungen ist, die Übernahme börsennotierter Unternehmen schaftet und damit Arbeitsplätze gefährdet. 19830 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001

(A) Mit dem Altersvermögensgesetz haben wir die Mög- Hier einige Beispiele: Die britische Regierung hält (C) lichkeit geschaffen, in der betrieblichen Altersvorsorge „Goldene Aktien“ an 25 Firmen. In Frankreich gibt es mit Pensionsfonds Kapital anzusparen. Diese Fonds wer- Höchststimmrechte. In Schweden unterscheidet man in den in einigen Jahren Arbeitnehmer und Arbeitnehme- A- und B-Aktien mit unterschiedlichen Stimmrechtsan- rinnen ebenfalls zu stimmkräftigen Aktionären gemacht teilen. In den USA gibt es eine Reihe von Bundesrege- haben. Sie können dann als Miteigentümer auf Hauptver- lungen aus den 30er-Jahren. Die meisten Bundesstaaten sammlungen mitentscheiden. haben Ergänzungsregelungen, die einen Ausverkauf der Die Beratungen des Gesetzes haben gezeigt, dass sich regionalen Unternehmen verhindern sollen. die Opposition mit dem Gesetz selbst nur unzureichend Mehrheitsstimmrechte und Stimmrechtsbeschränkun- befasst hat und sich weder den Interessen des Finanz- gen sind weit verbreitet. Bei 2 400 Firmen sind Kapital- marktes noch denen der Beschäftigten verbunden fühlt. erhöhungen unter Bezugsrechtsausschluss zu deutlichen Umso mehr freut mich, dass die CDU/CSU im Finanz- Preisabschlägen ohne Zustimmung der Hauptversamm- ausschuss diesem Gesetz zugestimmt hat. lung, so genannte „poison pill“, möglich. Darüber hinaus verfügen Vorstände in den USA über ein breites Arsenal Hansgeorg Hauser (Rednitzhembach)(CDU/CSU): an Abwehrmöglichkeiten. Die „business judgement rule“ Nach dem Scheitern der Übernahmerichtlinie im Europä- gibt ihnen im Gesellschaftsinteresse weitgehend freie ischen Parlament und der entsprechenden Initiative der Hand. Bei einer drohenden Übernahme kann ein Gegen- Europäischen Kommission, wobei der deutsche Bundes- angebot unterbreitet oder als Gegenangriff die Aktien des kanzler eine unrühmliche und heftig kritisierte Bremser- Gegners gekauft werden. Auch eigene Aktien können un- rolle gespielt hat, muss eine gesetzliche Regelung auf na- begrenzt zurückgekauft werden. Durch Ausgliederung tionaler Ebene erfolgen. wertvoller Unternehmensteile kann die Unternehmens- struktur verändert werden. Auch bei der Finanzstruktur Der Handlungsbedarf ergibt sich schon aus der raschen bieten sich durch Erhöhung der Verschuldung oder durch Zunahme von Unternehmensübernahmen. Alleine im ers- den Verkauf lukrativer Unternehmensbeteiligungen ten Halbjahr 2001 fanden 1 283 Transaktionen statt; das – Crown Jewel Option – weitere Spielräume. ist eine Zunahme von 70 Prozent gegenüber dem Ver- gleichszeitraum des Vorjahres. Durch die neue Steuerge- Die Einschränkung der Handlungsfähigkeit ist vor al- setzgebung, nach der ab 1. Januar 2002 Kapitalgesell- lem im deutschen Aktienrecht begründet. Deutsche Un- schaften Anteile an Kapitalgesellschaften steuerfrei ternehmen können beispielsweise als Bieter nicht ausrei- veräußern können, wird das Übernahmevolumen deutlich chend in eigenen Aktien bezahlen. Das Aktiengesetz steigen. Ein weiterer Einflussfaktor könnten auch die der- erlaubt der Hauptversammlung höchstens 50 Prozent des zeit niedrigen Aktienkurse sein, die den Börsenwert der vorhandenen Grundkapitals als genehmigtes Kapital zur (B) Unternehmen drücken. Verfügung zu stellen. Der Aktienrückkauf ist auf 10 Pro- (D) zent des Grundkapitals beschränkt. Zwangsläufig stellt sich die Frage, ob der Gesetzgeber in diese Entwicklung eingreifen soll. Sind Übernahmen In Anbetracht dieser unterschiedlichen Chancen wäre volkswirtschaftlich nützlich? In der Theorie wirken Un- eine europäische Übernahmerichtlinie, die zumindest im ternehmensübernahmen strukturbereinigend und erhöhen Binnenmarkt gleiche Bedingungen schafft, ein wichtiger das langfristige Wachstumspotenzial einer Volkswirt- Fortschritt gewesen. Durch eine laienhafte Verhandlungs- schaft. Die einst viel gepriesene, aber auch viel geschol- führung hat es die Bundesregierung versäumt, auf gesell- tene Deutschland AG würde aufbrechen und eine Wachs- schaftsrechtliche Übernahmehindernisse in anderen euro- tumsdynamik erhalten. Aber die Erfahrung zeigt, dass in päischen Ländern frühzeitig hinzuweisen und diese in die der Vergangenheit manche Fusion gescheitert ist. Studien Verhandlungen mit einzubeziehen. Nicht zuletzt durch von Salomon Smith Barney zeigen, dass 60 bis 70 Prozent ihre Kehrtwendung in der Verhandlungsführung, die das der Unternehmenszusammenschlüsse ökonomisch nicht Scheitern der Richtlinie zur Folge hatte, hat die Bundes- erfolgreich waren und Aktionärsvermögen vernichtet regierung Ansehen verloren und dem deutschen Kapital- wurde. markt geschadet. Insbesondere der Bundeskanzler geriet Die Erfahrungen der Vergangenheit zeigen aber auch, in den Verdacht, ausschließlich das Interesse einzelner dass politische Eingriffe in den Markt zumindest langfris- Konzerne zu vertreten und wurde von der Financial Times tig nicht viel bewirkt haben. Trotzdem muss man sich fra- als „Genosse der kleinkarierten Bosse“ bezeichnet. gen, ob die Marktbedingungen überall gleich sind. Ein Dürfen Unternehmensübernahmen beeinflusst oder Blick über die Grenzen zeigt, dass es keine internationale gar verhindert werden, oder muss das freie Kräftespiel des Wettbewerbsgleichheit gibt. Auf dem internationalen Marktes absoluten Vorrang haben? Markt der Unternehmensübernahmen existiert absolut kein „level playing field“. Dies gilt sowohl unter den Mit- Eigentümer einer Aktiengesellschaft sind die Ak- gliedsländern der EU als auch gerade im Verhältnis zu den tionäre, deren Vertretungsorgan die Hauptversammlung USA. Im Gesellschaftsrecht vieler Länder existieren wei- darstellt. Wenn, wie es viele Fachleute fordern, oberste tere Übernahmeblocker wie Mehrfach- und Höchst- Priorität eines Übernahmegesetzes sein soll, die Rechte stimmrechte und Golden Shares. Das „Fressen“ und „Ge- der Aktionäre bei Unternehmensübernahmen zu schützen, fressen werden“ spielt sich nach höchst unterschiedlichen dann ist es sinnvoll, der Hauptversammlung alle Ent- Regeln ab, wobei die deutschen Unternehmen eher am scheidungsbefugnisse zu übertragen. Da sie aber ein rela- Aktivwerden gehindert sind und weniger Abwehrinstru- tiv schwerfälliges Instrument ist, muss sie einem anderen mente haben. entsprechende Handlungsvollmachten übertragen kön- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19831

(A) nen. Dies ist der Vorstand, wobei der Aufsichtsrat im zur Abgabe eines Pflichtangebotes in keiner Weise ver- (C) Sinne der Aktionäre die Kontrollfunktionen ausübt. pflichtet wären. Eine absolute Neutralitätspflicht der Zielgesellschaft Dass diese Regelungslücke in der Praxis bereits mas- scheint nicht opportun zu sein. Solange ein derartiges Un- siv genutzt wird, zeigen konkrete aktuelle Beispiele: Die gleichgewicht im europäischen Binnenmarkt bei den Tchibo Aktiengesellschaft beabsichtigt ihren Anteil bei Übernahmeregeln herrscht, muss es den Aktionären mög- Beiersdorf AG im nächsten Jahr aufzustocken und die lich sein, Abwehrmaßnahmen zu treffen. Es ist deshalb Mehrheit zu erwerben, ohne ein Pflichtangebot für die sinnvoll, wenn im Rahmen von so genannten Vorratsbe- Restaktionäre abzugeben. Ebenso werden die Aktionäre schlüssen die Hauptversammlung Maßnahmen zur Ab- von IVG kein Übernahmeangebot erhalten, wenn WCM wehr von Übernahmen ergreifen kann, zu deren Durch- die Mehrheit im nächsten Jahr erwirbt. Das Gleiche pas- führung sie den Vorstand beauftragt. siert den Aktionären des Zementherstellers Dyckerhoff, wenn die beabsichtigte Veräußerung eines Aktienpakets Die im Gesetz nun neu aufgenommene Ermächtigung an einen ausländischen Konkurrenten erfolgt. für den Vorstand, zusätzliche und äußerst weit reichende Aktionen ohne Billigung der Hauptversammlung und nur Zur Verhinderung der Regelungsarbitrage hat die mit Zustimmung des Aufsichtsrats durchzuführen, ist ein CDU/CSU-Fraktion vorgeschlagen, diejenigen Bieter zu Schritt in die falsche Richtung. Diese zusätzlichen Frei- einem Pflichtangebot heranzuziehen, die auf der Grund- heiten sind abzulehnen, da die Gefahr besteht, dass der lage des bereits überschrittenen Schwellenwerts von Vorstand hier vor allem im eigenen Interesse handelt und 30 Prozent innerhalb eines Kalenderjahres mindestens so den Aktionären eher schaden als nützen könnte. So weitere 2 Prozent der Stimmrechte an der Zielgesellschaft weist etwa der Vorsitzende der von Bundeskanzler erwerben und damit ihre Kontrolle nach dem In-Kraft- Schröder höchstselbst eingesetzten Regierungskommis- Treten des Übernahmegesetzes ausbauen und festigen. sion „Corporate Governance“, Theodor Baums, darauf Dies ist sinnvoll, da das Verhalten desjenigen, der eine hin, dass die Regelung „eine klare Bevormundung der An- Kontrollstellung erreicht hat, ohne jemals ein öffentliches leger“ sei und den Managern „ganz außergewöhnliche Angebot abzugeben, gesondert zu beurteilen ist. Jede Möglichkeiten einräume, gegen die Interessen der An- Aufstockung des Stimmrechtsanteils löst hier das Schutz- teilseigner zu handeln und sich „einzuigeln“, so in der bedürfnis von Minderheitsaktionären und Arbeitnehmern „SZ“ vom 10. November 2001. aus. Eine Rückwirkung ist mit dieser Regelung nicht ver- bunden, da an zukünftiges Verhalten nämlich die spätere Ein wesentliches Ziel des Übernahmegesetzes ist, bei Anteilserhöhung angeknüpft wird. Leider hat dieser Vor- Überschreiten bestimmter Kontrollschwellen Abfin- schlag keine Mehrheit gefunden. dungsangebote zu angemessenen Preisen für Minderheits- (B) aktionäre festzulegen. In der Übergangszeit vor und nach Obwohl der Gesetzentwurf in einigen Punkten Mängel (D) dem In-Kraft-Treten bestehen aber durch eine Regelungs- hat und im Fall der weit reichenden Ermächtigung des lücke gewisse Anreize, durch Aktienerwerb diese Kon- Vorstandes zu Abwehrmaßnahmen sogar die Schutzinte- trollschwellen zu erreichen; ohne verpflichtet zu sein, an- ressen der Aktionäre gefährdet sein könnten, ist mit dem gemessene Pflichtangebote abgeben zu müssen. Übernahmegesetz ein faires und transparentes Verfahren bei Übernahmen gewährleistet. Die Einschränkungen Eine ergänzende Regelung des Übernahmegesetzes ist rechtfertigen es per Saldo nicht, das Gesetz abzulehnen. daher unabdingbar, um zu vermeiden, dass Bieter die Ver- Vielmehr ist es dringend geboten, dass es zum 1. Januar pflichtung zur Abgabe eines Übernahmeangebotes umge- 2002 in Kraft tritt. Darüber hinaus ist es erforderlich, auf hen. Andernfalls würde die eigentliche Zielsetzung des europäischer Ebene darauf hinzuwirken, dass die Wettbe- Gesetzes verfehlt, die (Minderheits-)Aktionäre durch die werbsunterschiede beseitigt werden und zumindest im Möglichkeit zu schützen, bei einem Wechsel der Unter- Binnenmarkt Übernahmen unter gleichen Bedingungen nehmenskontrolle zu einem angemessenen Preis aus dem getätigt werden können. Unternehmen auszusteigen. Erwirbt ein Unternehmen zum Beispiel im Dezember 2001 einen Anteil von etwa 45 Prozent der Stimmrechte an einem anderen Unterneh- Andrea Fischer (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- men, müsste es nach der derzeitigen Fassung des Über- NEN): Mit dem Übernahmegesetz schafft die Bundesre- nahmegesetzes kein Pflichtangebot gegenüber den ande- gierung erstmals eindeutige und klare Regelungen für den ren Aktionären abgeben. Die für das Überschreiten der immer wichtiger werdenden Bereich der Unternehmens- 30 Prozent-Kontrollschwelle maßgebenden Stimmrechte übernahmen. Man muss in diesem Kontext nicht immer wurden schließlich bereits vor In-Kraft-Treten des Über- an den spektakulären Fall der Übernahme von Mannes- nahmegesetzes erworben. Gleichzeitig würde auch nach mann durch Vodafone erinnern, um die Dringlichkeit ei- dem Übernahmekodex kein Pflichtangebot ausgelöst, da nes gesetzlich garantierten, fairen und transparenten Ver- dessen Kontrollschwelle bei 50 Prozent liegt. Im Ergebnis fahrens zu illustrieren. Aber noch aus einem weiteren hat dies zur Folge, dass Bieter, die vor dem In-Kraft-Tre- Grund ist das Übernahmegesetz dringlich: Im Unterschied ten des Übernahmegesetzes einen Anteil von mehr als zu anderen europäischen Ländern gibt es in Deutschland 30 Prozent und weniger als 50 Prozent der – zuzurechnen- bislang keine klaren gesetzlichen Regelungen in diesem den – Stimmrechte an der Zielgesellschaft erlangen und wirtschaftlich bedeutsamen Bereich. Mit dem vorliegen- nach In-Kraft Treten – bei zeitnahem Außer-Kraft-Treten den Gesetzentwurf schafft die Bundesregierung somit des Übernahmekodex, wie es von der deutschen Börse erstmals gesetzliche Regelungen, die den Kapitalmarkt- bereits angekündigt wurde – ihre – zuzurechnenden – teilnehmern im Falle von Unternehmensübernahmen ei- Stimmrechte an den Zielgesellschaften weiter erhöhen, nen transparenten und fairen Prozess bieten. 19832 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001

(A) Ich möchte noch einmal klarstellen, worum es uns Voranschreitens der europäischen Integration, die wir ja (C) geht: Wir wollen Übernahmen weder verhindern noch alle wollen, brauchen wir international kompatible und fördern. Denn Übernahmen sind ökonomische Prozesse, allgemein anerkannte Übernahmerichtlinien. In diesem bei denen es um die Optimierung der vorhanden Ressour- Sinne wird sich die Bundesregierung weiterhin aktiv und cen geht. Mit anderen Worten: Wenn ein Unternehmen auf konstruktiv auf europäischer Ebene für die Überwindung dem Kapitalmarkt unterbewertet ist, weil es zum Beispiel der nationalen Sonderregelungen im Übernahmerecht von einem schlechten Management geführt wird, dann einsetzen. werden Übernahmeangebote wohl die zwangsläufige Folge sein. Rainer Funke (FDP): Das Gesetz zur Regelung von Die am häufigsten diskutierte Frage im Zusammen- öffentlichen Angeboten zum Erwerb von Wertpapieren hang mit dem Übernahmegesetz ist die der Abwehrrechte und von Unternehmensübernahmen könnte genauso gut und der Neutralitätspflicht. Grundsätzlich gilt: Langfris- „Übernahmeverhinderungsgesetz“ heißen. Mit diesem tig gesehen gibt es keinen wirksameren Schutz vor so ge- Gesetz wird es inländischen und ausländischen Gesell- nannten feindlichen Übernahmen als eine erfolgreiche schaften unnötig erschwert, ein anderes Unternehmen, unternehmerische Strategie, die dann auch vom Kapital- das so genannte Zielunternehmen, zu erwerben. Firmen- markt mit einem hohen Unternehmenswert honoriert übernahmen werden als etwas Schlechtes und Verhinde- wird. rungswürdiges angesehen. Dabei ist eine Firmenüber- nahme von sich aus nichts Negatives, sondern kann Es hat nun immer wieder Meinungen gegeben, wir erhebliche positive Elemente haben. Dieses Gesetz wird sollten die Abwehrrechte für die Vorstände der Gesell- erheblichen Einfluss auf den Finanzplatz Deutschland ha- schaft, an die sich ein Übernahmeangebot richtet, deutlich ben und leider wird der Finanzplatz Deutschland an At- ausweiten – so als sei die Übernahme einer Gesellschaft traktivität verlieren und an Provinzialismus zunehmen. durch eine andere etwas, was es per se zu verhindern gelte: Das ist aber nicht unsere Position. Und das steht Dass ein Gesetz als überhaupt notwendig angesehen auch nicht im Gesetzentwurf. wurde, ist allein der deutschen Wirtschaft und den Unter- nehmensleitungen der im DAX vertretenen Gesellschaf- Es ist uns vielmehr gelungen, einen Ausgleich zwi- ten zuzuschreiben. Der freiwillige Übernahmekodex schen den verschiedenen Interessen zu schaffen. Richtig wurde entweder nicht beachtet oder auch von vielen ist, dass der Vorstand einer Gesellschaft zwar nun mit Ge- DAX-Unternehmen nicht gezeichnet. Daher lag eine ge- nehmigung des Aufsichtsrates mehr Kompetenzen im setzliche Normierung durchaus nahe und wäre auch von Hinblick auf die Abwehrmöglichkeiten erhält. Aber mit den Liberalen mit unterstützt worden, wenn die Rahmen- dem hier vorliegenden Gesetzentwurf wird die Hauptver- bedingungen liberal gestaltet worden wären. Auch andere (B) sammlung als entscheidendes Gremium einer Gesell- Länder haben Regeln für die Übernahme eines Zielunter- (D) schaft keineswegs ausgehebelt. Das ist ein Vorwurf, der nehmens. Anders als jetzt in Deutschland sollen jedoch auch durch fortgesetztes Wiederholen seitens der Oppo- die Übernahmen nicht verhindert werden, sondern Regeln sition nicht richtiger wird. Vielmehr bleiben die zentralen für den Schutz der Aktionäre aufgestellt werden. Dies ist Zuständigkeiten in der Verantwortung der Hauptver- der richtige Ansatzpunkt. sammlung. Denn sie ist es ja – und damit die Anleger und Dagegen sieht der vorliegende Gesetzentwurf eine Aktionäre –, die darüber zu entscheiden hat, ob sie den Bevormundung der Aktionäre durch Vorstand und Auf- Vorstand ermächtigt, Abwehrmaßnahmen einzuleiten sichtsrat vor. Denn der Vorstand kann Abwehrmaß- oder nicht. Mit Blick auf den Aktienkurs des Unterneh- nahmen im Falle einer beabsichtigten Übernahme ein- mens und auf den Wettbewerb um das bessere Manage- leiten, wenn der Aufsichtsrat diesen Abwehrmaßnahmen mentkonzept werden sich das die Anleger wohl gut über- zugestimmt hat. Das heißt mit anderen Worten, dass legen. Entscheidungsbefugnisse vom Aktionär in den Aufsichts- Ein Vorwurf kommt von verschiedener Seite immer rat verlagert werden – und dies bei einem mitbestimmten wieder: Wir hätten mit dem Gesetz der so genannten Auf- Aufsichtsrat. Dabei wissen wir alle, dass Aufsichtsräte sichtsratslösung zugestimmt. Dieser Vorwurf geht in der dem Konsensprinzip nachhängen und auch bei einem mit- Sache an dem vorliegenden Gesetz mehr als vorbei. Denn bestimmten Aufsichtsrat versucht wird, mit den Arbeit- das hätte ja schlichtweg bedeutet, dass allein der Auf- nehmervertretern und den Gewerkschaftsvertretern Einig- sichtsrat einer Gesellschaft den Vorstand zu Abwehrmaß- keit zu erzielen, dann aber häufig zulasten der Aktionäre, gerade bei möglichen Übernahmen. nahmen ermächtigen können soll und die Hauptver- sammlung damit jeden Einfluss verliert. Das aber steht Viele Fortschritte, die gerade im Sinne der Aktionärs- nicht in unserem Gesetz, auch wenn das einige große Un- demokratie durch das KonTraG und durch die Arbeits- ternehmen gerne so gehabt hätten. gruppe „Corporate Governance“ unter Professor Baums erreicht werden konnten, werden hinfällig, wenn der in- Auch wenn die Mehrheit dieses Hauses die nationale ternational unübliche mitbestimmte Aufsichtsrat gemein- Lösung durch ein Übernahmegesetz begrüßt und dem Ge- sam mit dem Vorstand gegen die Aktionärsinteressen in- setzentwurf zustimmt, müssen wir uns über eines sehr im ternational durchaus übliche wünschenswerte Fusionen Klaren sein: Nationale Lösungen und Sonderregelungen, verhindern kann. Das Bild von der Deutschland AG wird die es Unternehmen auf verschiedene Art und Weise er- sich international wieder festigen können. lauben, sich gegen Übernahmen zu wehren, können nur als Übergangslösung akzeptiert werden. Denn angesichts Dieses Gesetz ist ein schlechtes Gesetz für den Fi- der zunehmenden internationalen Verflechtung und des nanzplatz Deutschland. Dabei hatte das Finanzministe- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19833

(A) rium gute Ansätze zur Lockerung der Deutschland AG wurf aus dem letzten Jahr vorgesehen war. Relevante In- (C) durch die Steuerbefreiung auf Beteiligungsveräußerun- formationen über die Absichten des Bieters, was mit allen gen eingeleitet. Dieses Gesetz schadet dem Finanzplatz betroffenen Betriebsteilen zu geschehen habe und wie Deutschland und dies nur deshalb, weil einige kleinka- sich die Beschäftigungsbedingungen generell verändern rierte und ängstliche Vorstandsmitglieder das Ohr des könnten, fehlen vollständig. Wie sich die Belegschaften Bundeskanzlers gefunden haben. Dieses Gesetz wird kei- so überhaupt ein klares Bild über ihre weitere Zukunft im nen langen Bestand haben; denn der Finanzplatz Deutsch- „neuen“ Unternehmen machen können, bleibt ein Rätsel. land kann sich nicht isolieren. Zumindest in Europa muss es einheitliche Lösungen geben, die auch mit dem großen Vor allem aber reichen Informationsrechte nicht aus, amerikanischen Finanzmarkt kompatibel sind. Genauso genauso wenig wie eine aktive Rolle desAufsichtsrats. Be- wie wir im Bilanzrecht zu internationalen Lösungen kom- reits 1979 hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Ent- men werden, bedarf es auch beim Übernahmerecht großer scheidung zum Mitbestimmungsgesetz ausgeführt, dass Lösungen und nicht kleinkarierter nationaler Lösungen. trotz gleicher Zahl von Anteilseignern und Arbeitnehme- rinnen- und Arbeitnehmervertretern im Aufsichtsrat keine wirkliche Parität besteht, sodass im Konfliktfall diejenige Ursula Lötzer (PDS): Mehr als ein Jahr nach der Ein- Seite den entscheidenden Einfluss ausübt, die den Auf- berufung der Unternehmensübernahmen verhandeln wir sichtsratsvorsitzenden stellt. Dieses Übergewicht ist den abschließend über den entsprechenden Gesetzentwurf. Anteilseignern eingeräumt. Der Fall der MannesmannAG Die Zeit drängt, denn ab dem 1. Januar 2002 greift die bildet hier nur einen Höhepunkt: In Rekordzeit wurde der Steuerbefreiung für Gewinne aus Beteiligungsverkäufen Konzern mit 131 000 Beschäftigten zerschlagen. Keines und die Fusionsdynamik wird sich erhöhen. Dass es bis- der vorher abgegebenen Versprechen, die der Vorstands- her in der Bundesrepublik keinen verbindlichen Rechts- vorsitzende von Vodafon gegenüber den Beschäftigten rahmen für Unternehmensübernahmen gab, lag nicht nur und der Gewerkschaft gemacht hatte, ist trotz der Infor- an der alten Bundesregierung. An dieser Stelle ist nur an mationsrechte gehalten worden.Auf diese Diskrepanz und die vor wenigen Monaten gescheiterte EU-Übernahme- das bestehende Problem wies der damalige Mannesmann- richtlinie zu erinnern, die Mindeststandards setzen sollte. VorstandsvorsitzendeKlaus Esser in derAnhörung des Fi- In letzter Minute wurde sie durch Intervention der Bun- nanzausschusses hin und mahnte Lösungen an. desregierung und Verbandsvertreter der deutschen Indus- trie zu Fall gebracht. Der vorliegende Gesetzentwurf Uns ist klar, dass diese Fragen nicht nur in einem Über- muss nun diese „Rechtslücke“ ausfüllen. nahmegesetz geregelt werden können, da es sich bei einer Übernahme im Kern nur um einen Vertrag handelt, bei Unter pragmatischen Gesichtspunkten hat die Bundes- dem Aktien vom Altaktionär zum Neuaktionär übergehen. regierung also ihre Hausaufgaben gemacht. Der Zustand, (B) Die Stärkung der Rechte der Beschäftigten und die Sank- (D) dass es bei uns im Gegensatz zu allen führenden Finanz- tionsfähigkeit bei Zuwiderhandlungen müssen jedoch den märkten keine gesetzliche Regelung für Unternehmens- neuen Bedingungen angepasst werden. Ob in oder außer- übernahmen gab, ist beendet. Unsere Abstimmungsent- halb eines Gesetzes zu Unternehmensübernahmen, sei da- haltung resultiert jedoch daraus, dass wir vor dem hingestellt. Hintergrund der sozialen Folgen von Unternehmensüber- nahmen den Gesetzentwurf für unzureichend halten. Mitbestimmung bedeutet für uns immer auch Mitent- scheidung, die mit konkreten Rechten verbunden ist. Des- Ich möchte hier nicht noch einmal auf die soziale und halb forderten wir immer wieder, den Gewerkschaften in ökonomische Realität von Fusionen eingehen. An den dem Gesetz ein Recht auf den Abschluss eines Fusionsta- Fakten und Zusammenhängen, wie wir sie bereits in un- rifvertrages zu gewähren. Zumindest müsste eine Über- serem Antrag im vergangenen Jahr dargestellt haben, hat gangsvereinbarung zu den Beschäftigungsbedingungen sich in der Sache nichts geändert. Vielmehr hat die mas- mit den zuständigen Arbeitnehmerinnen- und Arbeitneh- sive Kurskorrektur an den Finanzmärkten unsere Ansicht mervertretern der Zielgesellschaft nach Annahme des An- bestärkt, dass die kapitalmarktbasierte Unternehmensbe- gebots abgeschlossen werden. Unserer Ansicht nach soll- wertung einer eigenen ökonomischen Rationalität folgt, ten darin die Fragen von Beschäftigungssicherung, Quali- die mit einer Analyse tatsächlicher Wertschöpfungspro- fizierung, Erhalt sozialer und tariflicher Standards sowie zesse in den Unternehmen nicht immer etwas zu tun hat. die Regelungen zur Sicherstellung betrieblicher und ge- Der absehbare Konkurs fusionierter Unternehmen werkschaftlicher Mitbestimmungsrechte und -gremien – nicht nur in der Luftfahrt- und Touristikbranche – fügt geregelt werden. Darüber hinaus treten wir für ein Veto- sich in das generelle Bild, dass Fusionen in der Regel recht von Betriebsräten und Gewerkschaften gegenüber scheitern und, gemessen an den eigenen Kennziffern, die Fusionen und Übernahmen ein. in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllen. Lediglich hin- In der Anhörung des Finanzausschusses spielte vor al- sichtlich der sozialen und gesellschaftlichen Folgekosten lem die Frage nach den Vorratsbeschlüssen bzw. der Neu- bleibt alles beim Alten: Die Zeche zahlen in der Regel die tralitätspflicht des Vorstandes einer Zielgesellschaft eine Beschäftigten. Hier haben wir und die betroffenen Men- zentrale Rolle. Wir meinen, dass unter den gegebenen schen mehr von der Bundesregierung erwartet. Bedingungen, in denen ausländischen Aktiengesellschaf- In der schriftlichen Stellungnahme zur Anhörung des ten eine Palette von Abwehrmaßnahmen zur Verfügung Gesetzentwurfs im Finanzausschuss kritisierte der DGB steht, zumindest ein gleichwertiges Schutzniveau beste- zu Recht, dass die Angaben in den Angebotsunterlagen so hen muss. Mit Nationalismus und Strukturkonservatis- detailliert sein müssen, wie es noch im Diskussionsent- mus hat dies nichts zu tun, sondern ganz pragmatisch mit 19834 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001

(A) der Herstellung eines „level playing field“. Wir halten es sende Information der betroffenen Wertpapierinhaber und (C) auch für angebracht, die Möglichkeiten zu schaffen, der Arbeitnehmer wird gesetzlich verankert. Gleiches gilt durch den Aufsichtsrat ein Übernahmeangebot für un- für ihre Möglichkeit zur Stellungnahme. Dem Bedürfnis zulässig zu erklären, wie es zum Beispiel in den USA nach transparenten Verfahren wird so Rechnung getragen. möglich ist. Insgesamt wird die rechtliche Stellung von Minderheits- aktionären und Arbeitnehmern bei Unternehmens- In diesem Kontext steht unsere Ablehnung des vorlie- übernahmen spürbar gestärkt. genden FDP-Antrags. Ihnen ist der Gesetzentwurf nicht „liberal“ genug und schon in der Anhörung war immer Im Zentrum der Diskussion des Gesetzentwurfs stand wieder zu vernehmen, dass die Bundesrepublik hier eine lange Zeit die Frage, in welchem Umfang und unter wel- Vorreiterrolle einnehmen solle. In anderen Fragen, wie chen Voraussetzungen der Vorstand einer Gesellschaft, zum Beispiel bei der Einführung der Tobinsteuer oder der die Gegenstand eines Übernahmeangebots ist, Abwehr- Frage der Verankerung von Sozialstandards im Handels- maßnahmen gegen ein solches Angebot ergreifen kann. regime, ist sie nicht so wagemutig. Das Schlagwort hier lautet „Neutralitätspflicht“. Uns geht es primär darum, die sozialen Rechte der Be- Auch hierzu enthält der Gesetzentwurf eine ausgewo- schäftigten zu sichern und auszubauen. Unter welcher gene Lösung. Er legt fest, dass grundsätzlich den Adres- Unternehmensführung dies stattfindet, ob unter deutschen saten eines Übernahmeangebots, also den Aktionären, er- oder ausländischen Mehrheitseignern, ist für uns nur se- möglicht werden soll, in Kenntnis der Sachlage kundär. Hierfür werden wir uns auch weiterhin einsetzen. eigenständig über das Übernahmeangebot zu entscheiden. Daher hat der Vorstand einer Gesellschaft grundsätzlich alle Handlungen zu unterlassen, durch die der Erfolg des Hans Eichel (SPD), Bundesminister der Finanzen: Angebots verhindert werden könnte. Deutschland muss noch besser im internationalen Wettbe- werb positioniert werden. Dies ist eine zentrale Aufgabe Möglich bleiben jedoch weiterhin solche Handlungen, der Bundesregierung. Die Finanzpolitik hat durch eine die auch ein ordentlicher und gewissenhafter Geschäfts- nachhaltige Haushaltspolitik und eine wachstumsför- leiter einer Gesellschaft vorgenommen hätte, die nicht dernde Steuerpolitik hierzu entscheidend beigetragen. Zu- von einem Übernahmeangebot betroffen ist. Hierdurch sätzlich müssen wir den rechtlichen Rahmen des Standorts wird sichergestellt, dass die Gesellschaft, die übernom- Deutschland modernisieren. Der vorliegende Gesetzent- men werden soll, während des Angebots nicht unange- wurf zur Regelung von öffentlichen Angeboten zum Er- messen in ihrer Geschäftstätigkeit behindert wird. Darü- werb von Wertpapieren und von Unternehmensübernah- ber hinaus ist auch die Suche nach einem konkurrierenden men ist ein wichtiger Bestandteil dieses Konzeptes. Angebot jederzeit zulässig. (B) Aber es geht nicht nur um einen effektiven Kapital- Schließlich sind dem Vorstand auch solche Maßnah- (D) markt. Wir wollen auch sicherstellen, dass nicht allein die men möglich, die in seine nach dem Aktienrecht vorgege- Interessen der Vorstände, sondern auch die der Aktionäre bene Geschäftsführungskompetenz fallen, sofern der Auf- und der Beschäftigten gewahrt bleiben. Wir schaffen so sichtsrat diesen Maßnahmen zugestimmt hat. Hierdurch ein Regelwerk für ein „Fair play“. Davon werden die Fi- wird die Rolle des Aufsichtsrats im Gesamtgefüge des nanzmärkte und die deutsche Volkswirtschaft insgesamt Unternehmens akzentuiert. Damit sichern wir, dass das deutlich profitieren. Unternehmensinteresse nicht nur auf Shareholder-Inte- ressen beschränkt ist, sondern auch die so genannten Öffentliche Angebote zum Erwerb von Wertpapieren Stakeholder-Interessen umfasst. Und für einen Sozialde- – insbesondere Angebote mit dem Ziel der Unterneh- mokraten bedeutet dies die Berücksichtigung der Interes- mensübernahme – gewinnen im Wirtschaftsleben eine im- sen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. mer größere Bedeutung. Am deutschen Kapitalmarkt besteht im Gegensatz zu anderen internationalen Finanz- Die vorgesehenen Regelungen greifen nicht in das all- plätzen bislang keine gesetzliche Regulierung öffentli- gemeine aktienrechtliche Kompetenzgefüge zwischen Vorstand, Aufsichtsrat und Hauptversammlung ein. Das cher Angebote zum Erwerb von Wertpapieren und von heißt die Maßnahmen, die nach allgemeinem Aktienrecht Unternehmensübernahmen. in die Zuständigkeit der Hauptversammlung fallen, ver- Hier musste gehandelt werden. Der Übernahmekodex bleiben auch weiterhin dort. der Börsensachverständigenkommission hat sich in der Darüber hinaus bedürfen Handlungen des Vorstands ei- Praxis insoweit nicht bewährt, als er keine flächen- ner Gesellschaft, durch die der Erfolg von Übernahmean- deckende Akzeptanz gefunden hat. Um gleiche Wettbe- geboten verhindert werden kann, der Billigung der werbsbedingungen zu schaffen, bedarf es daher einer Aktionäre als Eigentümer des Unternehmens. Eine ent- gesetzlichen Regelung. Dies ist angesichts der zuneh- sprechende Ermächtigung kann durch die Hauptver- menden Zahl von Übernahmen unabdingbar. sammlung sowohl während eines laufenden Übernahme- Diese Regelung muss den Anforderungen der Globali- verfahrens als auch im Vorhinein erteilt werden. Erfolgt sierung und der Finanzmärkte angemessen Rechnung tra- eine Ermächtigung „auf Vorrat“, ohne dass ein konkretes gen; sie wird zugleich auch den Finanzplatz Deutschland öffentliches Angebot vorliegt, gelten für den Hauptver- im internationalen Wettbewerb weiter stärken. sammlungsbeschluss angesichts seiner Bedeutung stren- ge Anforderungen. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf werden Leitli- nien für faire und geordnete öffentliche Angebote von Bei den vorgesehenen Regelungen wird berücksichtigt, Wertpapieren geschaffen. Die rechtzeitige und umfas- dass europaweit noch viele Beschränkungen bestehen. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19835

(A) Nicht alle haben ihren Markt so geöffnet wie wir. Zahlrei- machte der Bundestag im April 1989 deutlich, dass es bei (C) che Mitgliedstaaten verfügen übernahmerechtliche Hin- der Neuverhandlung des Lomè-IV-Abkommens darauf dernisse. Die Stichworte hier sind Höchststimmrechte, ankomme, die EU-Entwicklungszusammenarbeit neu zu Mehrstimmrechte und Stimmrechtsbeschränkungen. In strukturieren. Deutschland wurden derartige übernahmerechtliche Wenn mehr Redezeit bliebe, würde ich gerne die For- Hemmnisse 1998 mit dem Gesetz zur Verbesserung der derungen aus Drucksache 13/10302 zitieren. Denn es ist Kontrolle und Transparenz im Unternehmensbereich ab- nach wie vor wichtig und richtig, dass Deutschland in Eu- geschafft, um den deutschen Kapitalmarkt attraktiver aus- ropa mit einer Zunge spricht. Und ich denke, dass sich die zugestalten und dem Grundsatz „eine Aktie, eine Stimme“ Kritik der Opposition vom Mai 2000 an den Cotonou-Ver- Rechnung zu tragen. handlungen samt und sonders in Luft aufgelöst hat. Das Übernahmerecht gewährleistet nunmehr erstmals Ein Blick auf die Forderungen des fraktionsüber- in Deutschland faire und ausgewogene Regelungen für greifenden Entschließungsantrages macht deutlich, dass Unternehmensübernahmen. es der Bundesregierung gelungen ist, unsere gemeinsa- Ich bitte Sie dem vorliegenden Gesetzentwurf zuzu- men Forderungen und Vorstellungen einzubringen. Ich stimmen. möchte nur einige Punkte herausgreifen: Mit dem Abkommen von Cotonou wird die europäische Entwick- lungszusammenarbeit auf eine WTO-konforme Grund- Anlage 11 lage gestellt. Die bisher einseitig gewährten Handels- präferenzen werden bis 2007 durch gegenseitigen Zu Protokoll gegebene Reden Marktzugang im Rahmen von regional zu verhandelnden Wirtschaftsabkommen abgelöst. Damit kommen wir ge- zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zu rade dem Wunsch der AKP-Staaten entgegen. Ich habe in dem Partnerschaftsabkommen vom 23. Juni 2000 diesem Hause schon einmal darauf hingewiesen, dass hier zwischen den Mitgliedern der Gruppe der Staa- ein Weg gefunden wurde, der einerseits in Einklang mit ten in Afrika, im Karibischen Raum und im pa- den WTO-Bestimmungen steht und andererseits sein Ge- zifischen Ozean einerseits und der Europäischen wicht auf den partnerschaftlichen Ansatz legt. Das heißt Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten an- keine übereilte Handelsliberalisierung und keine übereilte dererseits (AKP-EG-Partnerschaftsabkommen) Finanzmarktliberalisierung. (Tagesordnungspunkt 23) Bis Ende 2007 bleibt also Zeit für die Aushandlung re- gionaler Wirtschaftsabkommen. Und selbst danach kann Dagmar Schmidt (Meschede) (SPD): Es kommt nicht (B) es Übergangsfristen von bis zu 12 Jahren geben. Damit (D) oft vor, dass wir in unserem Politikressort über Gesetze haben die AKP-Staaten die Chance der nachholenden Ent- diskutieren. Das vorliegende Partnerschaftsabkommen wicklung. zwischen der EU und den Staaten in Afrika, im Karibi- schen Raum und im Pazifik – kurz AKP – hat schon des- Der Bundestag hatte die Stärkung der politischen Zu- halb ein besonderes Gewicht. sammenarbeit gefordert. Das neue Abkommen sieht solch eine Gewichtung des politischen Dialogs vor: über Fragen Seit ihrer Gründung im Jahre 1957 hat sich die EU für der Demokratisierung, der Menschenrechte, der Friedens- eine partnerschaftliche Zusammenarbeit von Industrie- und Stabilitätspolitik, über Fragen der Rüstung, der nach- und Entwicklungsländern eingesetzt, zunächst sicherlich haltigen Entwicklung und der Umwelt. Es sieht aber auch den nationalen Interessen Frankreichs entsprechend. Spä- vor, „Situationen zu verhindern, in denen eine Vertrags- ter, zunehmend im Bewusstsein der historischen Verant- partei es für notwendig erachten könnte, die Nichterfül- wortung gegenüber den nach und nach unabhängigen Ko- lungsklausel in Anspruch zu nehmen.“ Es gibt sie also, die lonien, hat die EU diesen Weg eingeschlagen. hier sanft verpackte „Nichterfüllungsklausel“ und damit Mit dem Abkommen von Cotonou ist es uns gelungen, den Auftrag an beide Vertragspartner, durch Dialoge dafür diese langjährige Tradition der Zusammenarbeit mit den zu sorgen, dass die Welt menschlicher wird. Schon in der AKP-Staaten fortzusetzen und auf eine zeitgemäße Präambel finden wir diese klare Zielsetzung, an die immer Grundlage zu stellen. Wer sich dieses Gesetzeswerk an- wieder erinnert werden muss: Armutsbekämpfung, Ar- sieht, muss erkennen, wie viel Arbeit und Engagement das mutsbekämpfung und nochmals Armutsbekämpfung. Entwicklungsministerium investiert hat. Jeder Insider Die Mosaiksteinchen für die Dialoge werden in zahl- kann sich vorstellen, wie viele nicht immer einmütige reichen Artikeln ausgemalt: Wesentliche Elemente sind Verhandlungsrunden unsere Ministerin zur Klärung der die Förderung der Menschenrechte, die Demokratisie- vielen Detailfragen absolviert hat, bis dieses Gesamtwerk rung, die Festigung des Rechtstaates und vor allem die mit seinen 100 Artikeln und einer kohärenten Gesamtsicht verantwortungsvolle Staatsführung, eine stärkere Beteili- auf dem Tisch lag. Angesichts der veränderten politischen gung einer aktiven und organisierten Zivilgesellschaft und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen innerhalb der und der Privatwirtschaft. Gerade nach den Ereignissen EU und der Partnerländer sowie auf internationaler Ebene des 11. September muss man betonen, wie in Art. 11, dass war eine Anpassung der inzwischen 25 Jahre alten Lomé- der Vertrag sich als Beitrag zur Friedenskonsolidierung Zusammenarbeit dringend erforderlich geworden. Diese und Konfliktprävention und -beilegung versteht. Notwendigkeit war am Ende der letzten Legislaturperiode auch im Deutschen Bundestag fraktionsübergreifend un- Unsere Schwerpunkte Bekämpfung von HIV/Aids und strittig. In einem interfraktionellen Entschließungsantrag der Genderansatz werden mit diesem Vertrag europaweit 19836 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001

(A) akzeptiert ohne andere umfassende Bereiche der Unter- nerschaftsabkommen zwischen der EU und den AKP- (C) stützung zu vernachlässigen. Staaten vom 23. Juni letzten Jahres umsetzen. Von daher geht es zunächst einmal in erster Linie um einen formalen Erlauben Sie mir, meinen von 100 Artikeln liebsten Akt, nämlich um die Ratifizierung des Cotonou-Abkom- hervorzuheben: Art. 31. Er garantiert die Einbeziehung mens in der Nachfolge des Lomé-IV-Abkommens. frauenspezifischer Fragen in die Konzepte der Entwick- lungszusammenarbeit auf allen Ebenen und ermöglicht Dieses Cotonou-Abkommen hat sowohl Licht- als die Förderung spezifischer Maßnahmen für Frauen. Da- auch Schattenseiten, wie es zugegebenermaßen bei einem durch trägt das Abkommen zu einer gleichberechtigten internationalen Abkommen mit so vielen Beteiligten auch Beteiligung von Mann und Frau in allen Bereichen des nicht anders zu erwarten ist. Folglich setzen unsere kriti- politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Lebens schen Anmerkungen auch weniger am hier zu verabschie- bei. Die Genderfrage ist die Schlüsselfrage der Armuts- denden Gesetzentwurf als an dem Cotonou-Abkommen bekämpfung. selbst an. Das Cotonou-Abkommen hat zweifellos Fort- schritte in wichtigen Bereichen gebracht, die von uns als Ein weiterer entscheidender Punkt ist die Aufnahme der CDU/CSU ausdrücklich begrüßt werden. Ich denke dabei „verantwortungsvollen Regierungsführung“ als Grund- nicht nur an die Verankerung der Armutsbekämpfung als prinzip, das jetzt auch in Fällen schwerer Korruption zum zentralem Ziel. Hier wird sicherlich abzuwarten sein, in- Tragen kommt. Es ist dringend erforderlich, Korruption wieweit diesen schönen Worten auch Taten folgen. Ich weltweit zu bekämpfen, denn die Gewinner von Korrup- denke darüber hinaus gerade auch an die Neugestaltung tion sind immer nur zwei: der, der Schmiergeld einsetzt, der Handelsbeziehungen zwischen den AKP- und den um schlechtere Qualität an den Mann zu bringen, und der, EU-Staaten. der sich schmieren lässt. Verlierer ist immer die Gesell- schaft. Sie zahlt den Preis. Ihr nimmt man die Ressourcen, Die Lomé-Mechanismen in der handelspolitischen die in die Korruption fließen. Zusammenarbeit, namentlich in diesem Zusammenhang die Systeme Stabex und Sysmin, atmeten doch noch sehr Bereits jetzt beginnt die Phase, in der der Vertrag mit stark den Geist eines mittlerweile überlebten entwick- Leben gefüllt wird. In diesem Monat sind erstmals Kon- lungspolitischen Ansatzes, der nicht im freien Handel sultationen zwischen der EU und Liberia nach Art. 97 des zwischen gleichberechtigten Partnern, sondern eher in Cotonou-Abkommens aufgenommen worden, der sich einer scheinbaren Großzügigkeit der Europäer gegen- mit geeigneten Maßnahmen zur Korruptionsbekämpfung über den Entwicklungsländern die Zukunft in den Han- befasst. Die gute Regierungsführung und das verstärkte delsbeziehungen sah – eine Zukunft, von der wir heute vertrauensvolle Monitoring wird der Entwicklungs- wissen, dass sie in die Irre geführt hat. Die AKP-Staaten zusammenarbeit also zu mehr Effizienz verhelfen. Ein brauchen und wollen in erster Linie nicht Vergünstigun- (B) – wenn auch kleiner – Teil des Europäischen Entwick- gen bei Produkten, mit denen sie auf Dauer nicht wett- (D) lungsfonds wird erst nach einer Evaluierung im Jahre bewerbsfähig werden können, sondern sie wollen einen 2004 freigegeben werden. Das Abkommen von Cotonou fairen Zugang zu unseren Märkten. Auf diesem Feld sind verbindet somit die notwendige Politik der Haushaltkon- in Cotonou bedeutsame Fortschritte erreicht worden. Als solidierung mit der Fortsetzung und effizienteren Ausge- Unionsfraktion begrüßen wir diese Fortschritte, denn für staltung der Partnerschaft zwischen der Europäischen uns ist schon lange klar, dass Hilfe durch Handel ein we- Union und den AKP-Staaten. Der effizientere Einsatz der sentliches Element deutscher und europäischer Entwick- Finanzmittel ist gerechtfertigt. Wir haben alle immer lungspolitik sein muss, dass es auch der Erwartung der beklagt, dass ein beträchtlicher Teil der bereitgestellten Entwicklungsländer entspricht, nicht Almosen zu emp- Mittel nicht abgeflossen ist. Aus der Summe dieser Rest- fangen, sondern faire Teilhabechancen zu erhalten. mittel wird nun 1 Milliarde Euro für die Entschuldungs- Positiv sind auch die Ansätze zur Differenzierung und initiative zugunsten der ärmsten Länder eingesetzt. Regionalisierung im Cotonou-Abkommen zu bewerten. Die immense Bedeutung des politischen Dialogs Ein Abkommen mit einer derart großen Zahl an beteilig- äußert sich im übrigen auch in der Aufwertung der Pa- ten Staaten kann notwendigerweise nicht alle wichtigen ritätischen Parlamentarischen Versammlung. Es ist zu be- Aspekte gleichermaßen berücksichtigen. Deshalb sind grüßen, dass nur noch in genehmigten Ausnahmefällen Möglichkeiten einer Differenzierung notwendig und sinn- Regierungsvertreter die Parlamentssitze der AKP-Partner voll. Auch ist es richtig, der Zusammenarbeit innerhalb einnehmen können. der Gruppe der AKP-Staaten, gerade zwischen den jewei- ligen Nachbarländern, ein größeres Gewicht beizumes- Insgesamt kann man mit dem Verhandlungsergebnis sen. Es kann auf Dauer nicht sinnvoll sein, dass alle Wege sehr zufrieden sein. Es kommt nun darauf an, das Ab- aus den AKP-Staaten ausschließlich in die EU-Länder kommen mit Leben zu füllen und die darin enthaltenen führen, während die Beziehungen zu den Nachbarstaaten Chancen zu nutzen. Ich hoffe daher, dass es heute gelingt, in der afrikanischen, karibischen und pazifischen Region in Fragen europäischer Entwicklungszusammenarbeit zu allenfalls rudimentär ausgebildet sind. Auch die hierbei der fraktionsübergreifenden Einigkeit zurückzukehren, erzielten Fortschritte begrüßen wir. die es am Beginn der Verhandlungen über das Abkommen von Cotonou gab. Was die von der Bundesregierung behauptete Stärkung der politischen Dimension des Abkommens angeht, so erkennen wir durchaus an, dass nun immerhin die Aus- Dr. Ralf Brauksiepe (CDU/CSU): Das heute zu de- setzung der Zusammenarbeit in Fällen schwerer Korrup- battierende und zu verabschiedende Gesetz soll das Part- tion zusätzlich zu den bisher bereits vorhandenen Sankti- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19837

(A) onsmöglichkeiten als Option gegeben ist. Darin bereits Die EU und ihre Mitgliedstaaten leisten insgesamt (C) die Verankerung des Prinzips der „good governance“ im 55 Prozent der weltweiten öffentlichen Entwicklungszu- Cotonou-Abkommen zu sehen und zu feiern, halten wir sammenarbeit. Dennoch hat die europäische Entwick- allerdings für äußerst übertrieben. Die politischen Sank- lungspolitik weltweit noch nicht das Gewicht, das sie auf- tionsmöglichkeiten sind zwar verbessert, aber nach wie grund dieses Volumens haben könnte. Ursache dafür sind vor angesichts der schweren Probleme vieler AKP-Staa- nicht zuletzt die mangelnde Effizienz und die unzurei- ten im Bereich der Korruption im Besonderen und der chende Koordinierung zwischen der EU-Kommission Verstöße gegen das Prinzip der verantwortungsvollen Re- und den Mitgliedstaaten, die unter anderem zu einem gierungsführung im Allgemeinen insgesamt unzurei- stockenden Mittelabfluss mit einer inzwischen auf 20 Mil- chend. Hier besteht für die Zukunft noch Verbessungsbe- liarden Euro angewachsenen Pipeline führt. darf, der auch deutlich angesprochen werden muss. Es ist daher dringend erforderlich, dass die EU-Ent- Gleichwohl wissen wir natürlich, dass schon die erreich- wicklungszusammenarbeit sich neu strukturiert und sich ten begrenzten politischen Fortschritte unseren Partnern auf einige zentrale Sektoren wie regionale Integration, in den AKP-Staaten teilweise unter Mühen abgerungen Transport, Ernährungssicherheit und ländliche Entwick- werden mussten und erkennen auch dieses Bemühen der lung, Aufbau institutioneller Kapazitäten und rechtsstaat- EU ausdrücklich an. licher Strukturen sowie auf die entwicklungspolitischen Insgesamt ist jedoch festzuhalten, dass der Europä- Aspekte des Welthandels konzentriert. ischen Union beim Cotonou-Abkommen spürbare und Mit der Erklärung von Kairo und der in Cotonou be- messbare Fortschritte gelungen sind – Fortschritte nicht schlossenen Neuauflage der EU-AKP-Zusammenarbeit einmal in erster Linie im Interesse der Menschen in den ist der Rahmen für die zukünftige europäische Entwick- EU-Staaten, sondern gerade auch im Interesse der Men- lungspolitik abgesteckt. Er muss dringend inhaltlich aus- schen in den AKP-Staaten, deren wirtschaftliches Voran- gestaltet werden. Dies setzt natürlich auch voraus, dass kommen und deren politische Freiheiten uns allen am die bilaterale Entwicklungszusammenarbeit der EU-Mit- Herzen liegen sollten. Es ist erfreulich, dass auf beiden gliedstaaten und der Europäischen Union zu einer wirk- Seiten, sowohl in der EU als auch bei den AKP-Staaten, samen europäischen Politik zusammengeführt werden. der Schwerpunkt auf ein partnerschaftliches Miteinander Die Bundesregierung muss die Zeit bis zur Kairo-Nach- gelegt wird, und dass die großen ideologischen Auseinan- folgekonferenz nutzen, um hier einen aktiven eigenen dersetzungen über Handels- und Wirtschaftspolitik sowie Beitrag zu leisten. Mit einem Anteil von 22,5 Prozent am über die politische Ordnung heute der Vergangenheit an- europäischen Entwicklungsfonds hat Deutschland gute gehören und im Sinne der sozialen Marktwirtschaft sowie Voraussetzungen, um eigene Vorstellungen im Dialog mit politischer Freiheit und Selbstbestimmung gelöst worden den Partnerländern einzubringen. (B) sind. Worum es jetzt geht, ist, das geschlossene Abkom- Die zukünftige europäische Entwicklungsarbeit so- (D) men in der täglichen Praxis mit Leben zu erfüllen. Den wohl im AKP-Rahmen als auch durch „Europe Aid“ sollte Worten müssen im Interesse der Menschen in den AKP- einigen grundlegenden Prinzipien unterstellt werden, die Staaten Taten folgen. CDU und CSU erwarten von der rot- neben der Betonung der Mitverantwortung der Partner- grünen Bundesregierung, dass sie die ihr noch verblei- länder und die Beteiligung der Zivilgesellschaft auch bende Regierungszeit dafür nutzt, die Grundlagen, die das einen Übergang von der Projekt- zur Programmhilfe be- Cotonou-Abkommen bietet, auch in praktische entwick- inhalten. Besonders hohe Priorität sollte dabei der Ver- lungspolitische Erfolge umzusetzen. In dieser Erwartung besserung der Koordinierung der Fünfzehn-plus-Eins- stimmen wir trotz Bedenken in Einzelfragen dem Gesetz- Entwicklungspolitiken, der erhöhten Kohärenz zwischen entwurf zu. den verschiedenen Politikbereichen, die auf die Entwick- lungsländer ausstrahlen, der verstärkten Komplementa- rität, das heißt einer besseren Arbeitsteilung zwischen der Joachim Günther (Plauen) (FDP): Durch den 11. Sep- Gemeinschaft und den einzelnen Mitgliedstaaten, um tember ist die Bedeutung der globalen Herausforderungen unnötige Verdoppelung der Arbeit zu vermeiden und einer noch offenkundiger geworden. Die Entwicklungspolitik Dezentralisierung durch die Übertragung von mehr Ent- ist zusammen mit den anderen, vormals als „weiche The- scheidungsverantwortung an die EU-Delegationen einge- men“ der Weltinnenpolitik bezeichneten Aufgaben wie räumt werden. Umweltschutz, internationale Kriminalität, unter dem so genannten „erweiterten Sicherheitsbegriff“ ins Zentrum Die Zusammenarbeit der Europäischen Union mit den auch der außenpolitischen Prioritäten getreten. AKP-Staaten ist eine besonders gelungene Form der in- terregionalen entwicklungspolitischen Zusammenarbeit. Um den neuen Herausforderungen gerecht zu werden, Wir begrüßen, dass das in Cotonou beschlossene Abkom- muss sich die Entwicklungspolitik strategisch erneuern men einen Schwerpunkt auf die Eigenverantwortlichkeit und einen maßgeblichen Beitrag zur Beseitigung von der Empfängerstaaten, auf gute Regierungsführung, auf sozialen, wirtschaftlichen und politischen Missständen Rechtsstaatlichkeit und auf die Einhaltung von Men- leisten, die die Entstehung von terroristischen Umtrieben schenrechten setzt. Es wird jetzt darauf ankommen, dass begünstigen. Dies bedeutet neben zusätzlichen finanziel- die hierfür vorgesehenen Kontroll- und Sanktionsmecha- len Leistungen und einer Zusammenführung der politi- nismen auch tatsächlich eingesetzt werden. Darüber hi- schen Verantwortung von Außen- und Entwicklungspoli- naus begrüßen wir nachdrücklich, dass das Cotonou-Ab- tik auch eine strukturelle Neuausrichtung auf effiziente kommen am zentralen Ziel der Armutsbekämpfung als multilaterale Zusammenarbeit, insbesondere im Rahmen wesentlichem Element der EU-AKP-Zusammenarbeit der Europäischen Union. orientiert ist. 19838 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001

(A) Um die praktische Durchführung des Abkommens bischen Raum und im Pazifischen Ozean andererseits (C) auch weiterhin erfolgreich zu gestalten, muss die Euro- steht ganz unter dem Eindruck der WTO-Verhandlungen päische Union jedoch zunächst ihre Hausaufgaben erle- von Katar der letzten Tage. Dort ist wiederum überdeut- digen: lich geworden, wie groß die Befürchtungen der Entwick- lungsländer sind, infolge weiterer Liberalisierungs- Erstens. Die Bundesregierung sollte gegenüber ihren schritte des Weltmarkts gänzlich unter die Räder der EU-Partnern, aber auch unmittelbar gegenüber der EU- Kommission in Brüssel darauf drängen, dass die durch die Ökonomien des Nordens zu geraten. Dort ist wiederum, mit der Einrichtung von „Europe Aid“ angestrebte Straf- nicht zuletzt mit Blick auf das Cotonou-Abkommen, deut- fung und Bündelung der europäischen Zusammenarbeit lich geworden, wie wichtig es ist, erst die Entwicklungs- nicht zur Schaffung zusätzlicher neuer administrativer und Marktchancen der Ökonomien des Südens zu er- Strukturen führt. Die vorrangige Aufgabe von „Europe höhen, bevor man sie ungeschützt dem Weltmarkt ausset- Aid“ sollte in der Konzeption, Kontrolle sowie Koordi- zen kann. nierung liegen, um die Komplementarität der verschiede- Vor diesem Hintergrund hat meine Fraktion den Wan- nen nationalen Entwicklungspolitiken zu steigern und del des bisherigen Lomé-Vertrages zum jetzt vorliegen- unnötige Verdoppelungen zu vermeiden. Außerdem muss den Cotonou-Abkommen immer kritisiert. Es ist ein Wan- „Europe Aid“ dringend die Voraussetzungen für einen del weg von der bisherigen Protektion und Förderung der schnelleren Mittelabfluss schaffen. Ökonomien des Südens hin zu einem WTO-konformen Zweitens. Wir fordern die Bundesregierung ferner auf, Liberalisierungsvertrag, der ganz wesentlich von den In- dafür Sorge zu tragen, dass „Europe Aid“ bei der prakti- teressen Europas bestimmt wird und der den AKP-Staaten schen Durchführung von EU-finanzierten Projekten dort, nur unter großem Druck aufgenötigt werden konnte. Das wo entwicklungspolitisch sinnvoll und praktikabel, wei- gilt insbesondere für die zu eng terminierten Übergangs- terhin auf die in den EU-Mitgliedstaaten vorhandenen be- regelungen. Das gilt aber auch für die von der EU inten- währten staatlichen und nicht staatlichen Trägerorganisa- dierte zwangsweise Koppelung von Maßnahmen zur tionen zurückgreift. Die Arbeitsteilung zwischen der Armutsbekämpfung mit Schritten der ökonomischen In- EU-Kommission und den 15 Mitgliedstaaten, aber insbe- tegration in den Weltmarkt. Ich verweise in diesem Zu- sondere die Arbeitsteilung zwischen den Mitgliedstaaten sammenhang nur auf unseren Antrag „Zukunft der untereinander, muss erheblich verbessert werden, um EU-AKP-Entwicklungszusammenarbeit“ vom Dezember unnötige Überlappungen und Kompetenzstreitigkeiten zu 1998, der trotz parlamentarischer Ablehnung auf viel Zu- vermeiden. Dabei kommt es darauf an, die kooperativen stimmung bei Fachkolleginnen und Fachkollegen inner- Vorteile einzelner Partnerstaaten für eine effektivere Zu- halb und außerhalb dieses Hauses gestoßen ist; ein Zu- sammenarbeit zu nutzen. Dies setzt natürlich vor allem spruch, den das jetzt vorliegende Vertragswerk nicht (B) auch voraus, dass die zahlreichen Rechtsgrundlagen und unbedingt für sich in Anspruch nehmen kann, zumindest (D) Instrumente der EU-Entwicklungszusammenarbeit mit nicht bei Experten und NGOs. den Entwicklungsländern, unter anderem auch das AKP- Auch auf einen weiteren Aspekt möchte ich kurz ver- Abkommen, aber auch die Programme mit dem Mittel- weisen: Sowohl aus entwicklungs- als auch aus men- meer und mit den Nachfolgestaaten der Sowjetunion so- schenrechtspolitischer Perspektive ist es ein Skandal, dass wie den Entwicklungsländern in Asien und Lateinamerika die Bereitschaft zur Rücknahme von Flüchtlingen mit der zu einem einheitlichen, konsistenten Kooperationskon- Frage einer ökonomischen und entwicklungspolitischen zept zusammengeführt werden. Partnerschaft zwischen AKP und EU verknüpft werden Drittens. Besonders wichtig ist schließlich auch, dass soll. Das ist, zumindest meiner Kenntnis nach, ein bisher die Zusammenarbeit zwischen der EU-Kommission, den einmaliger Vorgang und schlichtweg untragbar. Regierungen, den nationalen Parlamenten und dem Euro- In nicht ganz einem Jahr werden die Verhandlungen päischen Parlament verbessert wird. Dazu bedarf es nicht über die konkrete Ausgestaltung und Umsetzung der nur regelmäßiger Abstimmungen, sondern aus unserer Wirtschaftspartnerschaftsabkommen aufgenommen. Es Sicht auch die Unterstellung des Haushaltes des Euro- wäre verheerend, wenn die EU in diesen Verhandlungen päischen Entwicklungsfonds unter die Kontrolle des Eu- wiederum auf WTO-Kompatibilität und damit auf weitere ropäischen Parlaments. Liberalisierung drängen würde. Wer auf ökonomische Eine stärkere Ausrichtung auf eine effiziente euro- Stabilität, auf Armutsbekämpfung und eine wirklich faire päische Entwicklungspolitik würde unvollständig bleiben, Integration der AKP-Staaten in den Weltmarkt setzt, von wenn sie sich nicht auch nahtlos in das vorhandene inter- dem dann auch in einem nachhaltigen Sinn beide Seiten nationale Netz multilateraler Zusammenarbeit, insbeson- profitieren, der muss auf eine entwicklungs- und armuts- dere im Rahmen der Vereinten Nationen, einfügen würde. orientierte Marktregulierung setzen – nicht auf den so ge- Die FDP-Bundestagsfraktion fordert daher nicht nur eine nannten freien Markt, die Wunderwaffe der Starken und europäische Ausrichtung der deutschen Entwicklungs- Rücksichtslosen. politik, sondern auch eine kohärente Politik der Euro- Die PDS-Fraktion hat massive Kritik am Rahmenab- päischen Union im Rahmen der Vereinten Nationen. kommen von Cotonou. Wir haben große Befürchtungen, was den Charakter der Verhandlungen um die Wirt- Carsten Hübner (PDS): Die heutige Debatte über das schaftspartnerschaftsabkommen betrifft. Dennoch haben AKP-EG-Partnerschaftsabkommen zwischen der EU ei- wir uns entschlossen, uns bei der heutigen Abstimmung nerseits und der Gruppe der Staaten in Afrika, im Kari- zu enthalten, zum einen, weil wir schon aus prinzipiellen Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19839

(A) Erwägungen zur EU-AKP-Entwicklungspartnerschaft mension der zukünftigen AKP-EU-Beziehungen ent- (C) stehen. Wir wollen da keine Missverständnisse aufkom- scheidend gestärkt werden. Es besteht eine beiderseitige men lassen. Zum anderen aber ist unsere Enthaltung eine Verpflichtung zu einer aktiven, umfassenden und inte- Aufforderung an die Bundesregierung, sich in den kom- grierten Politik der Friedenskonsolidierung und Konflikt- menden Verhandlungen sehr viel stärker als bisher im prävention. Sinne einer originär erwicklungspolitischen Ausrichtung Die verantwortungsvolle Regierungsführung („good zu engagieren. Vorschusslorbeeren, auf denen sich die governance“) wurde zum fundamentalen Bestandteil des Bundesregierung allerdings nicht ausruhen sollte. Abkommens erhoben. Damit können erstmals Fälle schwerer Korruption geahndet werden. Dies ist ein wich- Dr. Uschi Eid, Parl. Staatssekretärin bei der Bundes- tiger Schritt hin zu einer transparenteren und effizienteren ministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent- Verwaltung öffentlicher Mittel bei der Verwendung in wicklung: Das neue Partnerschaftsabkommen zwischen Entwicklungsländern. Ich gehe davon aus, dass „good der Europäischen Union und den Staaten Afrikas, der Ka- governance“ aufgrund der Sanktionsmöglichkeit von un- ribik und des Pazifiks wurde am 23. Juni 2000 in Coto- seren Partnerstaaten sehr ernst genommen wird. nou, der Hauptstadt von Benin, unterzeichnet. Zwischen Wesentliche Bestandteile des Abkommens bleiben den EU-Mitgliedstaaten und jetzt 77 AKP-Staaten – sechs weiterhin die Achtung der Menschenrechte, demokrati- pazifische Inseln traten bei – ist damit die seit 25 Jahren scher Grundsätze sowie Rechtsstaatlichkeit. Ein Verstoß bewährte Zusammenarbeit auf eine neue, verlässliche gegen diese Grundsätze kann bis hin zur Aussetzung der Grundlage gestellt worden. Zusammenarbeit führen. Eine Neuausrichtung dieser Partnerschaft war unab- Die Zivilgesellschaft wird als nicht staatlicher Akteur dingbar, um den veränderten wirtschaftlichen und politi- verstärkt in die Zusammenarbeit eingebunden. Nicht schen Gegebenheiten zu entsprechen. Dies sind: die staatliche Akteure werden unter näher festgelegten Be- neuen Handelsregelungen der WTO; Veränderungen in- dingungen vor allem bei der Erarbeitung der Kooperati- nerhalb der EU selbst; knapper werdende öffentliche Mit- onspolitik und -strategien beteiligt sowie beim Ausbau ih- tel für Entwicklungszusammenarbeit sowie nicht zuletzt rer Kapazitäten unterstützt. Auf diese Weise soll ein zunehmend kritische EU-Bürgerinnen und Bürger, die breiter Kreis außerhalb der Regierung erreicht werden, messbare Ergebnisse verlangen. um so zu einer umfassenden Akzeptanz der Kooperati- Das Abkommen hält fest an bewährten Prinzipien wie onspolitik und ihrer regelmäßigen Überprüfung zu ge- dem Partnerschaftsprinzip, der Berechenbarkeit der Hilfe, langen. dem breiten Kooperationsansatz und dem Vertragscha- Schließlich wird die Rolle der Paritätischen Parlamen- (B) rakter. Die „Lomé-Kultur“ wird somit fortgeführt. Am tarischen Versammlung im Rahmen des Abkommens von (D) Ende der Verhandlungen steht ein respektables und faires Cotonou gestärkt. Zu ihren Aufgaben zählt nunmehr aus- Ergebnis, das neue Horizonte eröffnet und nun konkret drücklich die Förderung demokratischer Prozesse durch mit Leben gefüllt werden muss. Dialog und Konsultationen. Zur Verwirklichung der Ziele des Abkommens kann sie Entschließungen verabschieden Neuerungen bedeuten vor allem: die Stärkung des po- und Empfehlungen an den Ministerrat aussprechen. Es litischen Dialogs (hier inbegriffen sind Fragen der Demo- entstehen hierdurch unmittelbare und vertiefte Kontakte kratisierung, Menschenrechte, Friedens- und Stabilitäts- zwischen den Abgeordneten des Europäischen Parla- politik); die Verankerung der verantwortungsvollen ments und denen der AKP-Staaten. Zugleich wird somit Regierungsführung als fundamentaler Bestandteil im Ab- die Stimme der Parlamentarier und Parlamentarierinnen kommen mit der Möglichkeit der Aussetzung des Ab- in den Partnerländern hörbarer. kommens im Hinblick auf einen einzelnen AKP-Staat in Fällen schwerer Korruption; veränderte Handelsregeln Zweitens: Einbindung der AKP-Staaten in die Welt- (Abschluss von regionalen Wirtschaftspartnerschaftsab- wirtschaft. Eine der wesentlichen – wenn auch nicht hin- kommen nach einer achtjährigen Übergangsfrist); er- reichenden – Bedingungen für die Armutsminderung ist leichterte Verfahren der Zusammenarbeit mit stärkerem nachhaltiges wirtschaftliches Wachstum. Die Einbin- Monitoring und Controlling; die Einbeziehung nichtstaat- dung der Entwicklungsländer und insbesondere der am licher Akteure (Zivilgesellschaft) in die Zusammenarbeit; wenigsten entwickelten Länder in die Weltwirtschaft ist die erstmals 20-jährige Laufzeit des Abkommens, die bei- eine notwendige Voraussetzung für Wachstum und Pros- den Seiten Planungssicherheit gewährt. perität. Ich werde im Folgenden auf zwei wesentliche Neue- Mit dem Partnerschaftsabkommen von Cotonou ist es rungen eingehen, welche den einzigartigen Charakter des gelungen, verbesserte Rahmenbedingungen für die wirt- Abkommens unterstreichen und für welche wir uns maß- schaftliche Entwicklung in den AKP-Staaten zu schaffen. geblich eingesetzt haben: erstens, die politische Dimen- Die im alten Lomé-Abkommen mit den AKP-Staaten ein- sion und zweitens, die veränderten Handelsregeln. seitig gewährten Präferenzen werden nunmehr durch einen WTO-konformen, vertraglich vereinbarten gegenseitigen Erstens: die politische Dimension des Abkommens. Marktzugang im Rahmen von regional zu verhandelnden Die Ereignisse der letzten Wochen haben uns wieder die Wirtschaftspartnerschaftsabkommen abgelöst. Bislang Bedeutung des politischen Dialogs und der rechtzeitigen steht noch nicht fest, mit welchen Ländern die Verhand- Reaktion auf Krisensituationen vor Augen geführt. Durch lungen aufgenommen werden sollen hierüber werden die das Abkommen von Cotonou konnte die politische Di- AKP-Staaten eine Entscheidung treffen. Bei der zweiten 19840 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001

(A) Tagung des AKP-EU-Ministeriellen Handelsausschusses Partnerschaft auf eine zeitgemäße Grundlage stellen kön- (C) am 2. Oktober 2001 in Nairobi hat die EU ihren Willen nen und sich gemeinsam den neuen Herausforderungen zum Ausdruck gebracht, den Zeitplan (Beginn der förm- stellen werden. Die notwendige Flexibilität für Änderun- lichen Verhandlungen im September 2002) einzuhalten. gen bieten Revisionsklauseln und Anpassungsmöglich- Die Kommission bereitet derzeit das EU-Mandat für die keiten durch den – im Regelfall jährlich tagenden – AKP- Verhandlungen vor, über das wir als Rat bis spätestens Juli EU-Ministerrat. Insgesamt stellt das Abkommen von 2002 entscheiden werden. Cotonou einen fairen Kompromiss zwischen den mitunter Der AKP-Seite sind von der Europäischen Union gegensätzlichen Interessenlagen von AKP- und EU-Staa- 20 Millionen Euro zur Stärkung ihrer Verhandlungskapa- ten dar. Das Abkommen von Cotonou leistet mithin einen zitäten für die Wirtschaftspartnerschaftsabkommen zuge- wichtigen Beitrag zur Herbeiführung von globaler Ge- sagt worden. Bislang wurden zur Vorbereitung der Ver- rechtigkeit. handlungen vier Regionalseminare in Afrika abgehalten Bei der gerade beendeten WTO-Ministerkonferenz in (Benin, Botswana, Kenia und Kongo). Weitere Seminare Doha/Katar wurden die berechtigten Interessen von Ent- für den karibischen und pazifischen Raum sind geplant. In wicklungsländern bereits stärker berücksichtigt. Ohne der zweiten Oktoberhälfte wurden Regionalstudien in dies wäre der erfolgreiche Abschluss der Konferenz nicht Auftrag gegeben, die mögliche Auswirkungen der Wirt- möglich gewesen. Dies muss erst recht für die damit ein- schaftspartnerschaftsabkommen auf die AKP-Staaten un- geläutete neue Verhandlungsrunde in der WTO gelten. tersuchen sollen. Weitere Prüfsteine werden die Konferenz Financing for Für die Übergangsphase bis zum 31. Dezember 2007 Development und der Weltgipfel für nachhaltige Ent- haben die EU- und AKP-Staaten eine Ausnahmegenehmi- wicklung im nächsten Jahr sein. gung bei der WTO („waiver“) beantragt, mit der die seit Ich bin davon überzeugt, dass das Abkommen von Co- 1975 bestehenden einseitigen Zollpräferenzen bis zum tonou in diesem Sinn eine gute Basis für die zukünftige Ende der Vorbereitungsphase fortgelten können. Selbst Zusammenarbeit mit den AKP-Staaten darstellt. Sowohl nach 2008 kann es noch lange Übergangsfristen geben, in die finanzielle Ausstattung von bis zu 15,2 Milliarden denen die Märkte der AKP-Staaten sich gründlich auf das Euro für 2000 bis 2005 als auch die inhaltliche Neuge- an die Region angepasste Freihandelsabkommen vorbe- staltung des Abkommens sind wegweisend für die ge- reiten können. Die EU versteht sich dabei noch stärker als samte Entwicklungspolitik und deren Beitrag für mehr unter den Lomé-Abkommen als Partner der Entwick- Gerechtigkeit und Frieden in der Weit. lungsländer. Ich halte dieses Konzept für ein wichtiges politisches Signal für eine auf Interessensausgleich zielende Koope- Anlage 12 (B) ration zwischen Industrie- und Entwicklungsländern. Da- (D) bei muss allerdings sichergestellt werden, dass die Zu Protokoll gegebene Reden betreffenden Branchen in den AKP-Staaten den Umstruk- turierungsprozess auch meistern können; diese Prozesse zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur kann die gemeinschaftliche Entwicklungszusammenar- Neuordnung des Schuldbuchrechts des Bundes beit unterstützen und abfedern. Eine besondere Bedeu- und der Rechtsgrundlagen der Bundesschulden- tung kommt hierbei der Handelsliberalisierung innerhalb verwaltung (Bundeswertpapierverwaltungsge- der AKP-Regionen zu, die auch die Entwicklung regiona- setz – BWpVerwG) (Tagesordnungspunkt 24) ler Wirtschaftskreisläufe fördert. Ein weiterer mir wichtiger Punkt ist die angestrebte re- Hans Georg Wagner (SPD): Das heute zu be- gionale Integration, auch außerhalb des Handels. Zu Ihrer schließende Bundeswertpapierverwaltungsgesetz zielt Erinnerung: Für die regionale Integration sind 1,3 Milli- auf eine Modernisierung des Schuldbuchrechts des Bun- arden Euro vorgesehen. Warum ist regionale Zusammen- des. Durch diese Neugestaltung wird das Schuldenmana- arbeit so wichtig? Gerade innerhalb der Europäischen gement des Bundes effizienter werden, das heißt ganz Union haben wir erfahren und erfahren wir täglich, dass konkret: Es werden Kosten eingespart. Die Reform ist Aufgaben nicht an Grenzen Halt machen. Daher soll auch schon lange überfällig; denn die bisherigen Regelungen die regionale Zusammenarbeit zwischen den AKP-Staa- beruhen im Wesentlichen auf dem Reichsschuldbuchge- ten (unter anderem in den Bereichen Infrastruktur, Ge- setz von 1910 – das heißt: aus Kaisers Zeiten – sowie der sundheit, Katastrophenschutz) unterstützt werden. Nur Reichsschuldenordnung von 1924. mithilfe der regionalen Integration und Kooperation kön- Wie wenig zeitgemäß diese Rechtsgrundlagen heute nen viele Länder grenzüberschreitende Aufgaben, insbe- sind, lässt sich am bisherigen Bundesschuldenausschuss sondere auf dem Gebiet der Umwelt sowie der Nutzung deutlich ablesen. Dieses Gremium kontrollierte bislang und Bewirtschaftung der Naturschätze, effektiv bewälti- die Bundesschuldenverwaltung und setzte sich unter Vor- gen. Somit kann gerade die regionale Integration dazu sitz der Präsidentin des Bundesrechnungshofes aus drei beitragen, die Entwicklungsländer in die Weltwirtschaft Mitgliedern des Bundestages und drei vom Bundesrat ent- einzubeziehen. Aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen auf sandten Mitgliedern zusammen. Die Länder kontrollier- diesem Gebiet kann die Gemeinschaft hier wertvolle ten also die Schuldenverwaltung des Bundes, während der Hilfe leisten. Bund umgekehrt bei der Schuldenverwaltung der Länder Mit dem Partnerschaftsabkommen von Cotonou haben kein Wörtchen mitzureden hat. Diese heute anachronisti- EU- und AKP-Staaten gezeigt, dass sie ihre bewährte sche Regelung hat ihren Ursprung und ihre Begründung Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19841

(A) in längst vergangenen Zeiten, als die Länder an das Reich gebene Zuständigkeit des Bundesfinanzministers ist nicht (C) noch Matrikularbeiträge abzuführen hatten. Den Bundes- veränderbar. Mit der Finanzagentur, der sich das Ministe- schuldenausschuss schaffen wir nun ab, die Kontroll- rium bedient, werden Kompetenzen verlagert, Abläufe funktion wird auf ein parlamentarisches Gremium des kompliziert, die Transparenz reduziert und der Aufwand Deutschen Bundestages übertragen. nicht zuletzt wegen des Spielgelreferats im Ministerium erheblich ausgeweitet. Ob das Ministerium aufgrund des Dieses neu zu schaffende Gremium wird vom Deut- Kompetenz- und Erfahrungsvorsprungs bei der Finanz- schen Bundestag aus Mitgliedern des Haushaltsausschus- agentur seinem verfassungsmäßigen Auftrag überhaupt ses gewählt und der Bundesminister der Finanzen wird umfassend nachkommen kann, ist außerdem fragwürdig. dieses Gremium zeitnah über alle Fragen des Schulden- Die ursprünglich angestrebte und von uns für nicht mach- managements des Bundes in Anwesenheit des Bundes- bar gehaltene Auflösung der Schuldenverwaltung wird rechnungshofes unterrichten. nicht weiter verfolgt. Die ursprünglich ebenfalls ange- An die Adresse der Länder möchte ich noch sagen, dass strebte Entpflichtung der Bundesbank ist geändert. Da wir ihren gegen den Gesetzentwurf vorgebrachten Beden- auch die Finanzagentur entgegen früherer Planungen ken hinsichtlich der Verwahrbankfähigkeit von Sammel- noch immer nicht voll funktionsfähig ist, zeigt sich, wie schuldbuchforderungen in den Abschlussberatungen überzogen, wirklichkeitsfremd und ineffizient das vom Rechnung getragen haben. Durch einen neuen Abs. 2 in Finanzminister nach dem Andersen Consulting-Gutach- § 17 des Bundeswertpapierverwaltungsgesetzes wird die ten entwickelte Konzept gewesen ist. Die Wirklichkeit Verwahrbankfähigkeit zugunsten der Bundesländer er- stellt sich bescheidener, der Aufwand höher, die Schnitt- halten. stellen zahlreicher und der Erfolg in der prognostizierten Höhe jedenfalls in zeitlicher, aber auch in finanzieller Das zu beschließende Gesetz ist ein weiterer Schritt zur Hinsicht als unrealistisch dar. Modernisierung der Bundesverwaltung mit dem Ziel der Effizienzsteigerung. Die Aufnahme und Verwaltung der Wir werden uns der weiteren Entwicklung, dem Auf- Schulden des Bundes wird dadurch wirtschaftlicher, das wand und dem erwarteten Nutzen mit Unterstützung des heißt, die öffentliche Hand spart Kosten ein. Rechnungshofes kontinuierlich widmen. Als wesentliche Neuerung wurde im Gesetzentwurf mit § 4 a die Schaf- fung eines parlamentarischen Gremiums aus Mitgliedern Hans Jochen Henke (CDU/CSU): Der vorliegende des Haushaltsausschusses eingefügt. Dieses Gremium, in Entwurf eines Bundeswertpapierverwaltungsgesetzes dem der Bundesfinanzminister sowie der Bundesrech- schafft eine neue Grundlage für die Bundesschulden- nungshof vertreten sein werden, hat der Bundesfinanz- verwaltung, mit der die Weisungsunabhängigkeit der Ver- minister über alle Fragen des Schuldenmanagements zu waltung und des Bundesschuldenausschusses abgeschafft (B) unterrichten. Damit wird ein der parlamentarischen Kon- (D) sowie altes bzw. vorkonstitutionelles Recht abgelöst trolle voll entsprechendes Gremium mit kontinuierlicher werden soll. Auf die weitgehende Umgestaltung des Ma- Befassung und Geheimhaltungspflicht für diesen heraus- nagements und die Neuausgestaltung der parlamentari- ragenden Geschäftsbereich des Bundesfinanzministers schen Kontrolle durch ein nach der zusätzlichen Bestim- geschaffen. Besonders anzuerkennen ist der fraktions- mung des § 4 a noch auszugestaltendes parlamentarisches übergreifende Konsens, der maßgeblich auf Empfehlun- Gremium gehe ich noch ein. gen des Bundesrechnungshofes beruht. Bei dem Umgang mit den Schulden des Bundes han- Wir werden uns im Ergebnis deshalb der Stimme ent- delt es sich um einen zentralen Bereich der Bundesfinan- halten, unterstreichen aber ausdrücklich die kritisch ab- zen mit einer besonderen Bedeutung für den Bundeshaus- lehnende Haltung gegenüber der neuen Finanzagentur, halt, den Kreditmarkt und die Zukunftsfähigkeit des deren Geschäft nach wie vor originär ins Ministerium Standortes Deutschland. Die Organisation zu optimieren, gehört und dort wirkungsvoller erledigt werden könnte, den Aufwand zu minimieren, und die Bonität zu garantie- wie die Erfahrungen anderer großer westlicher Länder ren sind die herausragenden Ziele. Die Bundesregierung eindrucksvoll unterstreichen. Wir werden uns diesem ist angetreten, die Schuldenverwaltung im Lichte offener Thema weiter mit besonders kritischer Aufmerksamkeit internationaler Märkte und der Euromarktzone schnitt- widmen. stellenarm, schlank und effizient zu gestalten. Die neue Zuordnung der Schuldenverwaltung in die nachgeordnete Behördenstruktur und die Auflösung des Bundesschul- Oswald Metzger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das denausschusses als keinem wirkungsvollen Kontroll- Schuldenmanagement des Bundes bewältigt eine jährli- gremium aus vorkonstitutioneller Zeit tragen wir mit und che Bruttokreditaufnahme in Höhe von rund 300 Milliar- unterstreichen ausdrücklich den Modernisierungsbedarf den DM und verwaltet eine Bundesschuld in Höhe von für Planung, Steuerung, Umsetzung und Kontrolle der 1 500 Milliarden DM. Trotz der vorgesehenen Rück- Schulden des Bundeskreditgeschäfts. Bisher teilen sich führung der Nettokreditaufnahme auf null im Jahre 2006 das Ministerium und die Bundesbank mit der Schulden- haben wir weiterhin eine ansteigende Verschuldung des verwaltung diese Aufgabe. Bundes. Zusätzlich werden täglich Milliardenbeträge am Geldmarkt bewegt, um die Kassenschwankungen auszu- In Zukunft werden mit der neuen Finanzagentur GmbH gleichen. aus drei Akteuren vier Beteiligte mit allen Folgen für Per- sonal, Sachmittel, Investitionen und insbesondere IT- Aufgrund der finanz- und haushaltspolitischen Bedeu- Hard- und Softwarebereich. Die grundgesetzlich vorge- tung der Staatsverschuldung ist es längst an der Zeit, das 19842 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001

(A) Schuldenmanagement effizienter und moderner zu gestal- Notar und Treuhänder des Bundes die Kreditaufnahmen (C) ten. Mit dem Start der Europäischen Währungsunion sind und das Sondervermögen des Bundes sowie die staat- die Anforderungen an das staatliche Schuldenmanage- lichen Bürgschaften, Garantien und Beteiligungsver- ment gestiegen. Der Wettbewerb der Regierungen um die pflichtungen. Zu den weiteren Aufgaben gehört die Ver- Gunst der Anleger erfordert auch in Deutschland eine Re- waltung der Bundesschulden im Bundesschuldbuch. Die form des Schuldenmanagements. Bundesschuldenverwaltung selbst untersteht der Fachauf- sicht des Bundesschuldenausschusses. Der bisherige Zustand ist unhaltbar geworden. Die Bundesschuldenverwaltung arbeitet immer noch auf der Vergegenwärtigt man sich die Verschuldung des Bun- Grundlage der Reichsschuldenordnung aus dem Jahre des und die Höhe der Zinsausgaben, mag man die Bedeu- 1924, die ihrerseits auf die Reichsschuldenordnung von tung dieses Gesetzes ermessen. 1910 und die Schuldenordnung für Preußen zurückgeht. Mit Stand vom 30. Juni 2001 beträgt die Verschuldung Das vorkonstitutionelle Recht der Reichsschuldenord- des Bundes inklusive der Sondervermögen 1,458 Billio- nung bietet keine zeitgemäße Organisationsform mehr. nen DM. Als Folge der ständig gewachsenen Verschul- Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wird die bishe- dung ergeben sich Zinszahlungen im Bundeshaushalt von rige Bundesschuldenverwaltung völlig neu gestaltet. mehr als 80 Milliarden DM. Neuen Entwicklungen im Schuldbuchrecht und bei der Jeder von Ihnen weiß, dass Schuldenstand, Nettokre- Begebung von Bundeswertpapieren wird Rechnung ge- ditaufnahme und Zinsausgaben neben den Steuer- und tragen. So wird die Führung des Bundesschuldbuchs in Abgabenbelastungsquoten diejenigen Kenngrößen sind, elektronischer Form ermöglicht und der Direktvertrieb die die mittel- und längerfristige Tragfähigkeit einer Fi- von Bundeswertpapieren verbessert. Auch sollen neue Fi- nanzpolitik für die Staatsfinanzen und damit für das nanzinstrumente der Kapitalmärkte im staatlichen Schul- Staatswesen insgesamt widerspiegeln. Daher kommt der denmanagement verstärkt eingesetzt werden. ordnungsgemäßen Verwaltung der Schulden und der Auf- Bei allen Chancen durch die neuen Entwicklungen sicht über diese eine ganz besondere Bedeutung zu. bleibt die Kontrolle der staatlichen Verschuldung eine Mit der Abschaffung des Bundesschuldenausschusses sensible Angelegenheit. Infolge der Neukonzeption der und derAufhebung der Weisungsunabhängigkeit der Bun- Schuldenverwaltung müssen die legislativen Kontroll- desschuldenverwaltung müssen somit die legislativen rechte neu justiert werden. Kontrollrechte neu bestimmt werden. Im Gesetzentwurf Für das Parlament muss in seiner Funktion als Haus- heißt es dazu, dass der „originär zuständige Haushaltsaus- haltsgesetzgeber und im Rahmen seiner Kontrollfunktion schuss“diesineigenerZuständigkeitregelnsoll.NachAuf- (B) eine größere Transparenz zu Fragen der Verschuldung ge- fassung der FDP darf es hierbei hinsichtlich der parlamen- (D) schaffen werden. tarischenKontrollezukeinerSelbstentmachtungkommen. Ebenso ist eine Durchmischung von Exekutive und Legis- Nur mit umfassenden und zeitnahen Informationen lative in diesem Gremium kategorisch abzulehnen. über alle Fragen der Verschuldung kann das Parlament über Fragen der Verschuldungsplanung, des Verschul- Ein weiterer Aspekt aus Sicht der FDP ist vor dem Hin- dungsverfahrens und der Verschuldungsorganisation ur- tergrund der komplexen Thematik die Transparenz zu al- teilen, um entsprechende Erkenntnisse in künftige Bud- len Fragen der Staatsverschuldung. Hier muss das Parla- getbewilligungen einfließen zu lassen. ment in seiner Funktion als Haushaltsgesetzgeber und im Rahmen seiner Kontrollfunktion frühzeitig und im Sinne Daher haben wir gestern im Haushaltsausschuss die einer prozessualen Kontrolle informiert werden. Dabei Einrichtung eines parlamentarischen Gremiums beschlos- sollte eine kontinuierliche Information des Parlaments sen. Dieses Kontrollgremium wird im Gesetz verankert über alle Fragen der Verschuldung dauerhaft und zeitnah und hat umfassende Informationsrechte gegenüber dem sichergestellt sein. Bundesministerium der Finanzen. Damit wird die parla- mentarische Kontrolle ausreichend sichergestellt. Die FDP wird dem Gesetzentwurf zustimmen.

Gerhard Schüßler (FDP): Im Zuge der Modernisie- Dr. Uwe-Jens Rössel (PDS): Die Neuregelung des rung des Schuldenmanagements des Bundes soll die Schuldbuchrechts und der Rechtsgrundlagen der Bundes- Bundesschuldenverwaltung auf eine neue gesetzliche schuldenverwaltung sind überfällig. Die bisherigen Reg- Grundlage gestellt werden. Mit dem vorliegenden Ge- lungen gehen auf so genanntes vorkonstitutionelles Recht setzentwurf zur Neuordnung des Schuldbuchrechts des zurück. Sie müssen endlich auf eine zeitgemäße Grund- Bundes und der Rechtsgrundlagen der Bundesschulden- lage gestellt werden. So beruhen die noch gültigen Rege- verwaltung erfolgt die zweite Stufe der Neukonzeption, lungen zum Bundesschuldbuch auf dem 1910 in Kraft ge- nachdem in der ersten Stufe das Schuldenmanagement setzten und 1939 novellierten Reichsschuldbuch. Die ausgelagert und an die Finanzagentur GmbH übertragen gültige Bundesschuldbuchpraxis basiert weiterhin maß- worden ist. geblich auf der Reichsschuldenordnung, die weitgehend Dass dieses Gesetz nicht nachrangig gegenüber vielen unverändert aus dem Jahr 1924 stammt. anderen Gesetzen ist, erklärt sich bei näherer Betrach- Es ist für die PDS-Fraktion nicht nachvollziehbar, dass tung. Die Bundesschuldenverwaltung, die dann später Bundesregierungen – ich sage ausdrücklich: unterschied- Bundeswertpapierverwaltung heißen soll, beurkundet als licher politischer Farben – Jahrzehnte brauchten, um dem Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19843

(A) Deutschen Bundestag endlich neue, den derzeitigen An- Karl Diller (SPD): Der vorliegende Entwurf eines (C) forderungen gemäße Rechtsgrundlagen vorzulegen. Han- Bundeswertpapierverwaltungsgesetzes dient dem Ziel, delt es sich doch hierbei um Fragen, die für die Haushalt- das Schuldbuchrecht des Bundes umfangreich zu moder- und Finanzpolitik des Bundes, für die Bundespolitik über- nisieren. Ebenso soll damit die Tätigkeit der Bun- haupt, von existenzieller Bedeutung sind. desschuldenverwaltung, die sich künftig Bundeswertpa- Die Verschuldung des Bundes beläuft sich – aktuellen pierverwaltung nennen wird, auf eine moderne und Angaben zufolge – auf 700,0 Milliarden Euro. Dazu kom- zukunftsorientierte Rechtsgrundlage gestellt werden. men weitere 61,0 Milliarden Euro Schulden aus so ge- Eine Reform des Schuldbuchrechts ist seit Jahren er- nannten Sondervermögen, wie Fonds „Deutsche Einheit“, forderlich, weil die bisherigen Regelungen noch auf vor- Entschädigungsfonds, ERP-Fonds. Damit ergibt sich eine konstitutionellem Recht beruhen. Zu nennen sind hier ins- Gesamtverschuldung in Höhe von rund 761 Milliarden besondere das Reichsschuldbuchgesetz von 1910, die Euro. Im Bundeshaushalt 2001 sind allein Zinsausgaben Reichsschuldenordnung von 1924, sowie verschiedene in einem Umfang von 39,5 Milliarden Euro verankert. Rechtsverordnungen aus den Dreißiger- und Vierziger- Das ist ein Anteil von 16,2 Prozent an den Gesamtausga- jahren. Diese überalterten Rechtsgrundlagen bildeten den ben dieses Bundeshaushaltes. Bezogen auf die Steuerein- Rahmen für die bisherige Arbeit der Bundesschuldenver- nahmen des Bundes machen die Zinsausgaben im laufen- waltung. den Jahr 20,1 Prozent – es handelt sich um die so genannte Zins-Steuer-Quote – aus. Alles in allem gigantische, Sie unterlag danach nur insoweit den Weisungen des schwer vorstellbare Zahlen. Finanzministeriums, als dies mit der ihr verliehenen Wei- sungsunabhängigkeit vereinbar war. Kontrolliert wurde Bestandteil der Neuregelung des Schuldbuchrechts des sie von einem Gremium, das sich aus Mitgliedern des Bundes ist auch die Verankerung von dessen Finanzie- Deutschen Bundestages und des Bundesrates unter Vor- rungsinstrumenten. Eine besondere Rolle nimmt darin die sitz der Präsidentin des Bundesrechnungshofs zusam- Finanzagentur GmbH ein, deren 100-prozentiger Gesell- mensetzte – dem Bundesschuldenausschuss. Damit schafter die Bundesrepublik Deutschland ist. Diese Ge- wurde im Ergebnis für eine Behörde ein ministerialfreier sellschaft wird ermächtigt, die für die Kreditbeschaffung Raum geschaffen und das Schuldenmanagement des Bun- des Bundes erforderlichen Schuldverschreibungen und des durch die Bundesländer kontrolliert. Mit dem vorge- Schuldbuchforderungen zu begeben und zu veräußern. legten Entwurf eines Bundeswertpapierverwaltungsge- Mit der Gründung der Finanzagentur GmbH in diesem setzes wird dieser verfassungsrechtlich bedenkliche Jahr wurde das Ziel verfolgt, die Benchmarkfunktion der Zustand durch Aufhebung der Weisungsunabhängigkeit Bundesrepublik Deutschland bei der Emission von Wert- der künftigen Bundeswertpapierverwaltung und der Ab- papieren des Bundes auch unter den Bedingungen der schaffung des Bundesschuldenausschusses beseitigt. (B) Einführung des Euro dauerhaft gewährleisten zu können. (D) Die PDS-Fraktion hat das grundsätzlich unterstützt und Das neue Gesetz weist bestimmte Aufgaben der Bun- wird die weitere Entwicklung der Finanzagentur GmbH deswertpapierverwaltung zu und unterwirft sie der im Rahmen der parlamentarischen Kontrolle im Bundes- Rechts- und Fachaufsicht des Bundesministeriums der tagshaushaltsausschuss kritisch begleiten. Finanzen. Darüber hinaus erfolgt eine Rechtsbereinigung Für sehr bedenklich hält die PDS-Fraktion in diesem und moderne Gestaltung der Begebung für Bundes- Zusammenhang, dass im Rahmen der Beratungen über wertpapiere sowie des Bundesschuldbuchs. den Gesetzentwurf im federführenden Bundestagshaus- Im Übrigen wird die Kontinuität der bisherigen Arbeit haltsausschuss auch eine grundlegende Neuordnung der weitgehend gewahrt. Gleichwohl können Teilaufgaben parlamentarischen Kontrolle auf dem Gebiet der Schul- der Bundeswertpapierverwaltung durch Rechtsverord- denpolitik des Bundes einvernehmlich zwischen allen nung entzogen werden. Andererseits können ihr aber auch Fraktionen durchgesetzt werden könnte. Anstelle des bis- neue Aufgaben übertragen werden. Damit soll die Chance herigen Bundesschuldenausschusses, in dem vom Bun- eröffnet werden, die Wirtschaftlichkeit rund um das destag lediglich Vertreter von SPD, CDU/CSU und vom Schuldenmanagement zu verbessern. Die Führung des Bündnis 90/Grüne verankert waren, wird künftig der Einzelschuldbuchs und die Dokumentation der Gewähr- Deutsche Bundestag für die Dauer einer Wahlperiode ein und Sicherheitsleistungen des Bundes gehören weiterhin parlamentarisches Gremium wählen, das aus Mitgliedern zum Kernbereich der Arbeit und verbleiben auf Dauer bei des Bundestagshaushaltsausschusses bestehen soll. Die- der Bundeswertpapierverwaltung. ses Gremium, in das durch eine Protokollnotiz des Bun- destagshaushaltsausschusses vom 14. November 2001 Der Gesetzentwurf trägt auch der Tatsache Rechnung, Vertreter aller im Bundestag vertretenen Fraktionen ein- dass die Wertpapiere des Bundes in der Regel nur noch in bezogen sein werden, soll vom Bundesministerium der Form von Wertrechten und nicht mehr in Form von Ur- Finanzen über alle Fragen des Schuldenmanagements des kunden begeben werden. Hier erfolgt durch die Neu- Bundes unterrichtet werden. Es liegt auf der Hand, dass regelungen eine Rechtsbereinigung, indem alte und über die Mitglieder dieses neu zu schaffenden Gremiums zur mehr als sechs Gesetze und Verordnungen verstreute Vor- Geheimhaltung aller Angelegenheiten verpflichtet wer- schriften, die teilweise noch aus Zeiten des Deutschen den, die ihnen bei ihrer Tätigkeit bekannt geworden sind. Reiches stammen, aufgehoben werden. Die PDS-Fraktion stimmt dem Gesetzentwurf zur Neu- Die Mitwirkung der Legislative sichert künftig ein par- ordnung des Schuldenrechts des Bundes sowie der ent- lamentarisches Gremium. Der Deutsche Bundestag wird sprechenden Beschlussempfehlung des federführenden das Gremium, das aus Mitgliedern des Haushaltsaus- Bundestagshaushaltsausschusses zu. schusses bestehen soll, wählen. Dabei wird auch die Zahl 19844 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001

(A) der Mitglieder, die Zusammensetzung und die Arbeits- Es ist natürlich auch nur sinnvoll, wenn der Kreis der- (C) weise bestimmt. Scheidet ein Gremiumsmitglied aus dem jenigen, die von solchen sensiblen Akten auch bei einem Bundestag oder seiner Fraktion aus bzw. wird es zum „in-camera-Verfahren“ Kenntnis erhalten, möglichst ge- Bundesminister oder Parlamentarischen Staatssekretär er- ring bleibt. Wer darin ein Misstrauen gegen die Richter nannt, verliert es seine Mitgliedschaft im Gremium. Für erblickt, hat von Regierungsarbeit wenig Ahnung. Lang die ausscheidenden Mitglieder wird ein neues Mitglied möge es dabei bleiben. gewählt. Das Gremium wird vom Bundesministerium der Ich möchte gern noch einige weitere Änderungen und Finanzen über alle Aspekte des Schuldenmanagements Ergänzungen der Verwaltungsgerichtsordnung erwähnen, unterrichtet. Die Mitglieder sind zur Geheimhaltung ver- die wir bei dieser Gelegenheit vorgenommen haben. Das pflichtet, denn würden die ihnen zugänglichen Informa- betrifft vor allem die Zulassung als Prozessvertreter vor tionen an die Kapitalmärkte gelangen, könnten sich die den Verwaltungsgerichten. So werden in Zukunft Ange- Konditionen für den Bund bei der Kreditaufnahme ver- stellte von Gewerkschaften und Sozialverbänden in schlechtern. Angelegenheiten der Kriegsopferfürsorge, des Schwerbe- Mit dem vorgelegten Gesetz trägt die Bundesregierung hindertenrechts und damit zusammenhängender Angele- zur Modernisierung und Effizienzsteigerung in der genheiten der Sozialhilfe auftreten dürfen. Alle Praktiker Bundesverwaltung bei. Dies wird sich insbesondere auf wissen, dass diese Personen dort ein großes Fachwissen das Schuldenmanagement auswirken und die Wirtschaft- haben, was der Sache und der Entscheidungsfindung nur nützen kann. Außerdem werden künftig nicht nur Hoch- lichkeit aller Bereiche der Kreditaufnahme steigern. schul-, sondern auch Fachhochschullehrer als Prozess- vertreter zugelassen. Und schließlich haben wir dafür gesorgt, dass sich Gebietskörperschaften auch durch Ver- Anlage 13 treter kommunaler Spitzenverbände vertreten lassen kön- nen.Auch hier braucht man denjenigen, dieVerantwortung Zu Protokoll gegebene Reden tragen, nicht zu erklären, dass das eine Erleichterung und zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der Prozessvertretung sein kann – und nicht Bereinigung des Rechtsmittelrechts im Verwal- zuletzt auch eine Kostenersparnis für die Gemeinden. tungsprozess (RmBereinVpG) (Tagesordnungs- Nicht unerwähnt bleiben soll auch, dass die Frist für die punkt 25) Begründung des Antrags auf Zulassung der Berufung von einem auf zwei Monate verlängert worden ist. Damit sind Alfred Hartenbach (SPD): Im Oktober 1999 hat das wir einer von der Rechtsanwaltschaft vielfach geäußerten Bundesverfassungsgericht dem Bundesgesetzgeber auf- Bitte nachgekommen; es hat sich gezeigt, dass die bis- (B) gegeben, ein neues Verfahren im Verwaltungsprozess für herige Frist häufig nicht ausgereicht hat, insbesondere, (D) die Fälle zu entwickeln, in denen die Behörden bestimmte wenn sich die Parteien erst kurz vor Ablauf der Beru- Akten aus Geheimhaltungsgründen nicht vorlegen kön- fungsfrist an einen Anwalt gewandt haben. Das zeigt, dass Rechtspolitik der Koalition immer an der Sache orientiert nen und wollen. Das Bundesverfassungsgericht hatte ist und das Ziel verfolgt, den Menschen in ihren prakti- damals eine Übergangsfrist bis Ende dieses Jahres einge- schen Problemen zu helfen. räumt. Mit unserem Entwurf zur Bereinigung des Rechts- mittelrechts im Verwaltungsprozess halten wir diese Frist ein und kommen dem Verlangen des Bundesverfassungs- Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU): Die 7. VwGO-No- gerichts nach. velle steht – erst recht in diesen Tagen – nicht im Zentrum des öffentlichen Interesses. – Gerade weil nur eine Dabei ging es um eine durchaus schwierige Abwägung. Fachöffentlichkeit berührt ist, wäre es für das Bundesjus- Einerseits sieht die Koalition, die sich ja den Bürger- tizministerium und die Koalitionsfraktionen eine Chance rechten in besonderer Weise verpflichtet fühlt, natürlich gewesen, auch im Ergebnis sachorientiert und kooperativ sehr darauf, dass der Rechtsschutz des Bürgers gegenüber mit allen Seiten dieses Hauses zu sprechen. Leider wurde den Behörden nicht verkürzt wird. Andererseits muss es diese Chance vertan. Nach den Berichterstatterge- der Regierung möglich bleiben, bestimmte Vorgänge, sprächen hat sich mein Eindruck verfestigt, dass die Ver- insbesondere aus dem Bereich des Staatsschutzes, der antwortlichen im Bundesjustizministerium ziemlich bera- Nachrichtendienste etc. aus der Öffentlichkeit herauszu- tungsresistent sind und von den wirklichen Verhältnissen halten. Diese Konfliktlage hat auch das Bundesverfas- in der Verwaltungsgerichtsbarkeit nur wenig wissen. Dies sungsgericht gesehen und den sinnvollsten Lösungsweg erlaube ich mir als ehemaliger Richter am Hessischen gewiesen, den wir auch gegangen sind: Wenn die Behör- Verwaltungsgerichtshof – ohne Schärfe, aber aus eigener den behaupten, dass der Vorlage Bedenken aus Gründen Erfahrung – anzumerken. des Staatswohls entgegenstehen, dann muss ein Gericht in Schon die redaktionelle Überschrift „Entwurf eines einem so genannten „in-camera-Verfahren“, also einem Gesetzes zur Bereinigung des Rechtsmittelrechts im Ver- Verfahren ohne die Beteiligten des Prozesses, diese Be- waltungsprozess“ lässt den eigentlichen Anlass für diese hauptung überprüfen können. An sich sind solche „in- VwGO-Novelle vollkommen unerwähnt: Anlass war camera-Verfahren“ in einem Rechtsstaat unüblich. Sie nämlich die dem Gesetzgeber durch das Bundesverfas- müssen auch die absolute Ausnahme bleiben. Aber ohne sungsgericht aufgegebene Pflicht, bis zum 31. Dezember diese Ausnahme geht ein geordnetes Regieren auch 2001 eine verfassungskonforme neue Regelung der in wieder nicht, wie auch das Bundesverfassungsgericht § 99 VwGO enthaltenen Vorlage- und Auskunftspflicht eingeräumt hat. der Behörden zu schaffen. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19845

(A) Immerhin regelt der jetzt zur Beratung anstehende Ent- unterschiedlichen Zulassungsgründen zu sehen: Es wird (C) wurf – nach einem Berichterstattergespräch mit Experten das Geheimnis der Bundesregierung bleiben, warum die aus der Verwaltungsgerichtsbarkeit, der Anwaltschaft und Gründe einer Berufungszulassung durch das Verwal- der Geheimdienste – in einem so genannten ,,in-camera- tungsgericht in § 124 a auf die Gründe des § 124 Abs. 2 Verfahren“ sowohl den nur selten in der Praxis auftreten- Nrn. 3 und 4 beschränkt bleibt und nicht auch auf Nr. 2 er- den Fall der Einsichtsklage als auch den „Normalfall“ der streckt wird; ich jedenfalls vermag es nicht zu lüften. Anfechtungs- und Verpflichtungsklage.Auch mit der jetzt Warum der bisherige Zulassungsgrund der Divergenz gefundenen Formulierung wird sich allerdings nicht ver- (§ 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO alt) im Berufungsverfahren ei- hindern lassen, dass den ein oder anderen Richter in der nem neu geschaffenen Berufungsgrund „wenn die Fort- Verwaltungsgerichtsbarkeitdas Gefühl beschleichen wird, bildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen er sei nicht vertrauenswürdig genug, die jedem Richter in Rechtsprechung eine Entscheidung des Oberverwaltungs- jedem Verfahren obliegende Geheimhaltungspflicht ge- gerichts erfordert“ (§ 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO neu) zum rade auf dem hier anstehenden Gebiet einzuhalten. Opfer fällt, während er als Revisionsgrund unverändert Lassen Sie mich aber nunmehr zu den neu geregelten bleibt (§ 132 Abs. 2 VwGO), ist dagegen gänzlich uner- Fragen des Rechtsmittelsystems kommen. Mit der findlich. Vielleicht liegt es daran, dass das Bundesjustiz- 6. VwGO-Novelle führte der Gesetzgeber die Zulas- ministerium an dieser – dem Verwaltungsprozess freilich sungsberufung und die Zulassungsbeschwerde ein. Er bisher unbekannten – dreifachen Form der Grundsätz- glaubte, mit diesen Regelungen die Oberverwaltungsge- lichkeit, der Fortbildung des Rechts und der Einheitlich- richte bzw. die Verwaltungsgerichtshöfe von überflüssi- keit der Rechtsordnung geradezu einen Narren gefressen gen Berufungen freistellen und gleichzeitig das Bundes- zu haben scheint. verwaltungsgericht als Revisionsinstanz entlasten zu Soweit schließlich der Entwurf in § 124 c ein Verfah- können. Ob die Erfüllung dieser Erwartung belegt ist, ren der Vorlage des Oberverwaltungsgerichts an das Bun- bleibt freilich offen. Mit der jetzigen Reform, die – anders desverwaltungsgericht vorsieht, wird es nach meinem als in der Begründung des Entwurfs ausgeführt – mehr als Dafürhalten ein stumpfes Schwert bleiben. Auch hier be- eine Randkorrektur darstellt, ist das besondere vorge- gegnet uns erneut die dem Verwaltungsprozess fremde schaltete Zulassungsverfahren auch für Eilsachen (§§ 80, und aus dem Wettbewerbsrecht entlehnte Formel; denn 123 VwG0) zu Recht wieder aufgehoben worden. Inso- die Vorlage ist davon abhängig, dass das Oberverwal- weit hat der Entwurf der Praxis Rechnung getragen, die tungsgericht mit seiner Auslegung der Zulassungsgründe die Untauglichkeit dieses Verfahrens erwiesen hat. Nicht eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung verbun- selten hatten nämlich die Beschwerdeinstanzen, OVG den sieht oder aber die Fortbildung des Rechts oder die Si- und VGH, wegen der Eilbedürftigkeit über die Zulassung cherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Ent- (B) und über die Beschwerde in der Sache gleichzeitig ent- scheidung des Bundesverwaltungsgerichts erfordert. (D) schieden. Schon der den Richtern eingeräumte weite Beurteilungs- Dagegen bleibt es hinsichtlich der Zulassung der Be- spielraum und die bekanntermaßen gegen Null gehende rufung unerklärlich, warum die Bundesregierung das seit Neigung der Richter an den Obergerichten im Bewusst- über 40 Jahren gut funktionierende System der Revisi- sein ihrer eigenen intellektuellen Scharfsinnigkeit, sich onszulassung (§§ 132, 133 VwG0) nicht auch auf die Be- von Amts wegen vom Revisionsgericht belehren zu las- rufungszulassung erstreckt hat. Das gilt in doppelter sen, lässt diese meine Befürchtung zu. Ohne die Einlei- Hinsicht: Während nach der 6. Novelle nur das Beru- tung eines solchen Vorlageverfahrens auf Antrag eines fungsgericht auf Antrag der Beteiligten die Berufung zu- Beteiligten mit anschließender Beschwerdemöglichkeit lassen konnte, führt der jetzige Entwurf – insoweit gegen die Nichtvorlage – das sah auch der Vorschlag des systemkonform – die Entscheidung über die Rechtsmit- Verwaltungsrechtsausschusses des Deutschen Anwaltver- telzulassung unmittelbar durch die Verwaltungsgerichte eins vor – wird dieses Verfahren zur Bedeutungslosigkeit ein. Allerdings bleibt der Entwurf auf halber Strecke ste- verkümmern. hen. Anstatt die Nichtzulassung der Berufung durch das Die zentralen Vorschläge dieser Novelle sind für die Verwaltungsgericht zu regeln mit der Möglichkeit, diese Praxis eher ungeeignet. Sie sollten daher besser nicht Ge- durch Nichtzulassungsbeschwerde mit Abhilfemöglich- setz werden. Meine Fraktion kann deshalb im Ergebnis keit des erlassenden Gerichts erster Instanz (VG) oder der diesem Gesetzentwurf auch nicht zustimmen. Entscheidung des mit der Berufung anzurufenden Ge- richts zweiter Instanz (OVG, VGH) erstreiten zu können, muss – für den Fall, dass die Berufung nicht ausdrücklich Helmut Wilhelm (Amberg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- vom Gericht zugelassen wird – ein selbstständiger neuer NEN): Der Rechtsschutz im Verwaltungsprozess ist be- Antrag auf Zulassung an das OVG bzw. an den VGH ge- sonders wichtig für die Durchsetzung der Rechte der Bür- stellt werden. gerinnen und Bürger gegenüber dem Staat. Daher macht Rot-Grün zahlreiche Einschränkungen des Rechts- Abgesehen davon, dass nicht erkennbar ist, inwieweit schutzes im Verwaltungsprozess durch die Vorgänger- ein insolierter Antrag auf Zulassung an das OVG einen regierung wieder rückgängig, Nachdem Schwarz-Gelb größeren Entlastungseffekt bewirken sollte als eine Nicht- den Rechtsschutz kräftig zusammengestrichen hat, wird zulassungsbeschwerde, wird darüber hinaus ein neuer der Rechtsschutz jetzt wieder wesentlich erweitert. Dabei Verfahrensweg erfunden, der naturgemäß auch neue Fra- wurden wertvolle Anregungen aus dem Bund Deutscher gen aufwerfen wird. Der zweite Wertungswiderspruch im Verwaltungsrichter und der Verwaltungsrichterschaft ins- System der Rechtsmittel Berufung und Revision ist in den gesamt aufgenommen. 19846 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001

(A) Folgende Kernpunkte möchte ich an dieser Stelle her- Diskutiert wurde darüber, welches Gericht die Recht- (C) vorheben: Die Frist für die Begründung des Antrags auf mäßigkeit der Verweigerung der Akteneinsicht überprü- Zulassung der Berufung wird auf zwei Monate ab Zustel- fen soll. Die Geheimdienste und auch das AA wollten, lung des Urteils verlängert. Die derzeitige Frist von einem dass dies nur das BVerwG sein darf, weil bei einer Zu- Monat macht in der Praxis Schwierigkeiten namentlich in ständigkeit der OVGs die Gefahr, dass geheime Inhalte komplizierten Fällen, zum Beispiel wenn für eine sachge- öffentlich werden, zu groß sei. Dann hätte es aber nur eine rechte Begründung ausgedehntes Aktenstudium erforder- Instanz gegeben, die über die Rechtsmäßigkeit der Ver- lich ist. Weiter entfällt das Zulassungserfordernis bei der weigerung der Akteneinsicht entschieden hätte. Beschwerde in den Verfahren des vorläufigen Rechts- schutzes und der Prozesskostenhilfe. Es hat sich in der Jetzt wurde ein Kompromiss gefunden, nach dem Praxis nicht bewährt. Weder ist die Dauer der Beschwer- grundsätzlich die OVGs entscheiden, das BVerwG aber deverfahren vor den Oberverwaltungsgerichten zurück- zuständig ist, wenn die oberste Bundesbehörde die Vor- gegangen noch hat die Zulassungsbeschwerde zu einer lage mit der Begründung verweigert, das Bekanntwerden Beschleunigung der Verfahren geführt. Es spricht – im der Inhalte würde dem Wohl des Bundes Nachteile berei- Gegenteil – viel dafür, dass die Zwischenschaltung des ten. Insofern haben wir hier durchgesetzt, dass es jeden- Zulassungserfordernisses Verfahrensverzögerungen pro- falls grundsätzlich eine zweite Instanz gibt. voziert. Die Gründe, unter denen die Berufung durch das Oberverwaltungsgericht zuzulassen ist, werden moderat Rainer Funke (FDP): Der vorliegende Gesetzentwurf erweitert: Danach ist die Berufung zuzulassen, wenn die zur Bereinigung des Rechtsmittelrechts im Verwaltungs- Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheit- prozess beinhaltet neben zahlreichen zweckmäßigen Än- lichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Oberver- derungen auch zwei Änderungen, die für uns Liberale waltungsgerichts erfordert. In diesen Fällen besteht über nicht akzeptabel sind und daher von unserer Seite zur Ab- den Einzelfall hinaus ein allgemeines Interesse an einer lehnung des Gesetzesentwurf führen. Entscheidung des Berufungsgerichts. Der selbst gewählte Zwang, für jede Novelle einen Das Verwaltungsgericht kann die Berufung in Fällen möglichst passenden Namen und Abkürzungen zu finden, zulassen, in denen eine Entscheidung des Oberverwal- führt manchmal zu kuriosen Abkürzungen, wie im vorlie- tungsgerichts zur Rechtsfortbildung und Rechtsverein- genden Fall, aber auch zu einer Namensgebung, die mit heitlichung geboten ist. Die Zulassung ist im Urteil aus- den tatsächlichen Änderungen des Verwaltungsprozesses zusprechen. Damit wird eine Verzögerung des Verfahrens mehr am Rande zu tun hat. Eine manchmal schlichtere durch ein gesondertes Zulassungsverfahren vermieden. Formulierung wie die x-te Novelle zur Verwaltungsge- Das Oberverwaltungsgericht ist an die Zulassungsent- richtsordnung VwGO wäre da schon zweckdienlicher. scheidung des Verwaltungsgerichts gebunden. Trifft das (B) Verwaltungsgericht keine positive Zulassungsentschei- Das ist aber nicht der Grund für unsere Ablehnung, wie (D) dung so ist – wie bisher – hinsichtlich aller Zulassungs- Sie sich denken können, sondern die Gestaltung des In- gründe ein Antrag auf Zulassung der Berufung zu stellen, camera-Verfahrens. Hierbei handelt es sich im Grunde ge- über den das Oberverwaltungsgericht entscheidet. Es gibt nommen um ein Geheimverfahren nach § 99 VwGO. In also keine Einschränkung der Zulassungskompetenz der diesem Verfahren haben weder Kläger noch Beklagte, Obergerichte. also die Parteien des Prozesses, Einsichtnahme in ge- Das Gesetz soll zum 1. Januar 2002 in Kraft treten. heime Unterlagen, die von den Diensten in den Prozess Dieses Datum ist im Hinblick auf die ebenfalls vorgese- eingeführt werden. Demgemäß kann sich eine Prozess- hene Änderung des § 99 VwGO geboten. Mit Beschluss partei auch gegen eventuell belastende Angaben in den vom 27. Oktober 1999 hat das Bundesverfassungsgericht geheimen Unterlagen nicht äußern oder wehren, das Ge- bekanntlich § 99 VwGO für unvereinbar mit Art. 19 richt darf noch nicht einmal in den Urteilsgründen diese Abs. 4 GG erklärt. Den Gesetzgeber hat es verpflichtet, geheimen Unterlagen erwähnen und darstellen, in wel- dies bis zum Ablauf des 31. Dezember 2001 sicherzustel- chem Umfang sie entscheidungserheblich sind. So ist ein len. Der angesprochene Punkt liegt mir besonders am Her- solches Verwaltungsgerichtsverfahren für den betroffenen zen: Aufgrund einer Entscheidung des BVerfG wird durch Bürger kein faires Verfahren mit Rede und Gegenrede. unser Betreiben nun endlich in § 99 eine Möglichkeit der Ich verkenne nicht, dass es im Einzelfall auch zum gerichtlichen Kontrolle eingeführt werden, wenn eine Be- Schutz von Informanten und geheimzuhaltenden Quellen hörde eineAuskunft oder die Einsichtnahme inAkten oder Regelungen für vertrauliche und geheime Angaben geben Urkunden wegen Geheimhaltungsinteressen verweigert. muss. Ich verkenne auch weiterhin nicht, dass es sich um Im Regierungsentwurf war der Rechtsschutz nur für seltene Fälle handeln wird. Nach den Angaben im Be- Verfahren geregelt, deren Klagegegenstand die Heraus- richterstattergespräch handelt es sich auf Bundesebene gabe der Akten beziehungsweise die Erteilung der Aus- um vier bis fünf Fälle, in denen geheime Angaben der kunft war. Wir haben uns demgegenüber von Anfang an Dienste verwertet werden. Aus grundsätzlichen Erwägun- dafür eingesetzt und das nun im Ergebnis auch durchge- gen lehnen wir Liberale dieses „in-camera-Verfahren“ ab, setzt, dass der Rechtsschutz auch gegeben ist, wenn die auch in der Furcht, dass diese Verfahren immer mehr Ein- Akteneinsicht nicht Klagegegenstand ist, eben in einem gang in unsere Prozessordnungen finden könnten. Das Verfahren inzident eine Rolle spielt. Die Art der Verfah- Prinzip, dass nur das zur Urteilsfindung herangezogen ren, in dem die Verweigerung einer Auskunft oder Ak- werden darf, was im Prozess von den Parteien eingebracht teneinsicht auf ihre Rechtmäßigkeit überprüft werden worden ist, darf im Interesse unserer Rechtsstaatlichkeit kann, ist jetzt nicht mehr begrenzt. nicht durchbrochen werden. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19847

(A) Ein weiterer Grund, der aber nicht ganz so schwerwie- So wie bei der Diskussion um die ZPO-Reform muss (C) gend ist, ist die Erweiterung der Postulationsfähigkeit in ich aber auch hier kritisieren, dass das Verwaltungsgericht § 67 in Verbindung mit § 52. Es mag durchaus sein, dass die Berufung nicht zulassen soll, wenn es sich bei dem durch die Erweiterung der Postulationsfähigkeit sachkun- vorliegenden Sachverhalt um eine schwierige tatsächliche dige Personen zusätzlich postulationsfähig werden. In ei- oder rechtliche Frage – § 124 Abs. 2 Nr. 2 – handelt. Eine nem immer komplizierter werdenden Prozess kommt es solche Bereinigung des Rechtsmittelrechts habe ich mir jedoch nicht nur auf die reine Fachkunde an, sondern auch nicht gewünscht. auf die richtige Subsumierung des Tatbestandes auf die Für begrüßenswert erachte ich dagegen die Erweite- gegebene Rechtslage. Nach unserer Rechtsordnung, auch rung der Postulationsfähigkeit insbesondere von Mitglie- des Rechtsberatungsgesetzes, ist dies die Aufgabe der An- dern und Angestellten von Gewerkschaften. Ihre spezielle waltschaft und sollte aus gutem Grund nicht auf Dritte Sachkunde rechtfertigt meines Erachtens unbedingt ihre übertragen werden, denen im Übrigen die Erfahrungen unmittelbare Teilnahme an einschlägigen Verwaltungs- der Prozessführung häufig fehlen wird und die nicht der verfahren. Ihre fehlende Prozesserfahrung, die von Geg- beruflichen Schweigepflicht unterliegen, und zudem nern dieser Regelung ins Felde geführt wird, dürften sie keine Haftpflichtversicherung für den Fall der Schlecht- nach entsprechender Gerichtspraxis sehr schnell gewin- beratung haben. Eine Einschränkung der Postulations- nen. Ein neuer Weg wird im Verwaltungsprozess mit dem fähigkeit kommt damit dem Mandanten zugute und ist so genannten „in camera“-Verfahren beschritten. Auch auch eine Form des Vertrauensschutzes. Daher ist eine Er- hier geht es letztlich um die Gewährung von Rechts- weiterung der Postulationsfähigkeit abzulehnen. schutz, nämlich dann, wenn die Vorlage wichtiger ge- Für die gute Atmosphäre in den geführten Bericht- heimhaltungsbedürftiger Akten durch die Behörden von wesentlicher Bedeutung für das betreffende Verfahren ist. erstattergesprächen und bei der Anhörung der Sachver- Es ist dem Bundesverfassungsgericht zu danken, dass es ständigen möchte ich mich an dieser Stelle abschließend durch einen Beschluss vom 27. Oktober 1999 den Weg für ausdrücklich bedanken. die Einführung des „in camera“-Verfahrens im deutschen Verwaltungsprozessrecht frei gemacht und den Gesetzge- Dr. Evelyn Kenzler (PDS): Ich bin keine Anhängerin ber bis zum 31. Dezember dieses Jahres zur Neuregelung ständiger Änderungen von Rechtsvorschriften, da dies verpflichtet hat. nicht zur Rechtsstabilität und Rechtssicherheit beiträgt. Unbefriedigend bleibt aber die Situation im Falle einer Es sind eben nicht immer neue Lebenssachverhalte bzw. berechtigten Verweigerung der Aktenvorlage aus aner- gewandelte Verhältnisse, die gesetzgeberisches Handeln kannten Geheimnisschutzgründen. Was ist dann mit dem erforderlich machen, sondern nicht selten auch Rege- effektiven gerichtlichen Rechtschutz? Ein wenig erinnert (B) lungsunzulänglichkeiten, die in der Rechtspraxis zutage dieses Verfahren schon an Kabinettsjustiz. Gleichwohl ist (D) treten. Doch wenn es darum geht, ein Gesetz aus Gründen es ein Fortschritt im Vergleich zur bestehenden Rechtslage. des Rechtsschutzes im Interesse der Bürgerinnen und Ich denke aber dennoch, dass wir uns über kurz oder lang Bürger nachzubessern, dann muss erneut und auch kurz- mit der zugegebenermaßen sehr schwierigen Frage der „in fristig geändert werden. camera“-Verwertung auseinander setzen müssen. Es muss So verhält es sich mit dem vorliegenden Entwurf eines sowohl eine rechtsstaatlich als auch eine sicherheitspoli- Gesetzes zur Bereinigung des Rechtsmittelrechts im Ver- tisch vertretbare Möglichkeit geben, dass im Extremfall der waltungsprozess. Hier hat die Rechtsprechung sehr Sicherheit wegen die Gerechtigkeit nicht geopfert wird. schnell nach dem In-Kraft-Treten des 6. VwGO-Ände- In den Gesamtabwägung gebe ich dem Gesetzentwurf rungsgesetzes offenbart, dass das Zulassungsrecht eine dennoch meine Zustimmung, da seine Vorteile gegenüber erhebliche Hürde für den Zugang zu den Rechtsmittelver- dem geltenden Recht eindeutig überwiegen. fahren darstellt. Die Praxis hat bekanntlich von allem ge- zeigt, dass die bisherigen Fristen für die Einlegung und Dr. Eckhart Pick, Parl. Staatssekretär bei der Bun- Begründung der Anträge auf Zulassung von Berufung und desministerin der Justiz: Der heute zur Verabschiedung Beschwerde viel zu knapp bemessen sind. Nicht selten stehende Entwurf bringt eine Reihe praktischer Änderun- werden deshalb Zulassungsanträge mangels hinreichen- gen für das verwaltungsgerichtliche Verfahren. Die bei- der Begründung als unzulässig verworfen. Da es nicht den Schwerpunkte sind: Änderungen im Bereich der sein darf, dass in der Sache aussichtsreiche Rechtsmittel Rechtsmittel gegen erstinstanzliche Entscheidungen und an solchen Schwierigkeiten scheitern, ist allein schon die die Umsetzung einer bundesverfassungsgerichtlichen Verlängerung der Frist für die Begründung des Antrags Entscheidung zur Frage, wie im Verwaltungsprozess mit auf Berufungszulassung ein hinreichender Grund für die geheimhaltungsbedürftigen Urkunden, Akten oder Aus- Änderung des Gesetzes. künften der Behörden umzugehen ist. Ganz im Interesse eines optimalen Rechtsschutzes, der Lassen Sie mich mit dem zweiten Komplex beginnen: Rechtsfortbildung als auch der Rechtseinheitlichkeit steht Effektiver verwaltungsgerichtlicher Rechtsschutz setzt weiterhin die Verbesserung der Möglichkeiten der Ver- regelmäßig die Kenntnis der bei der Behörde entstande- waltungsgerichte, Berufungen an die Oberverwaltungs- nen Verwaltungsvorgänge voraus. Daher müssen diese gerichte zur Klärung von Rechtsfragen zuzulassen. Dem Vorgänge im Verwaltungsprozess grundsätzlich vorgelegt dient natürlich auch das Vorlageverfahren an das Bundes- werden. Im Konflikt zwischen effektiver Rechtsschutzge- verwaltungsgericht zur Auslegung und Klärung von währung und behördlichem Interesse an der Geheimhal- Zweifelsfragen bei der Zulassung der Berufung. tung der Vorgänge ließ das bisher geltende Recht jedoch 19848 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001

(A) ausreichen, dass die Behörde die zur Nichtvorlage be- Bundesnachrichtendienstes, des Bundesamtes für Verfas- (C) rechtigenden Umstände gegenüber dem Gericht glaubhaft sungsschutz oder des Militärischen Abschirmdienstes machte. geht. Die Konzentration der Verfahren bei einigen weni- gen Gerichten hält auch den Aufwand der für die nicht Diese Rechtslage hat das Bundesverfassungsgericht in richterlichen Mitarbeiter der Gerichte durchzuführenden der ihnen bekannten Entscheidung vom 27. Oktober 1999 Sicherheitsüberprüfungen gering. Die Entscheidung des mit dem aus Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes folgenden Oberverwaltungsgerichts unterliegt – anknüpfend an das Gebot effektiven Rechtsschutzes für unvereinbar erklärt. geltende Recht – der Beschwerde. Für die unmittelbar Die jetzt vorgesehene Neuregelung greift das vom durch das Bundesverwaltungsgericht zu entscheidenden Bundesverfassungsgericht vorgeschlagene Modell eines Fälle steht naturgemäß nur eine Instanz zur Verfügung. „in-camera-Verfahrens“ auf: In einem Zwischenverfahren Dies erscheint mir angesichts der regelmäßigen Qualität entscheidet ein Gericht in Kenntnis der betroffenen Vor- oberstgerichtlicher Entscheidungen aber auch gut vertret- gänge oder Auskünfte über deren Geheimhaltungsbedürf- bar. tigkeit. Zu diesem Zweck sind die Vorgänge allein dem Gericht zugänglich zu machen. Der Kläger oder Antrag- In seinem zweiten Schwerpunkt bringt der Entwurf steller erhält bis zu einer gegenteiligen Entscheidung des notwendige Korrekturen für das Rechtsmittelverfahren Gerichts von ihrem Inhalt keine Kenntnis. Er hat kein gegen Entscheidungen der ersten Instanz. Einige der mit Recht auf Akteneinsicht. Die Entscheidungsgründe dür- der 6. Novelle zur VwGO 1997 in Kraft getretenen fen sich zu dem geheimhaltungsbedürftigen Akteninhalt Regelungen haben zu praktischen Schwierigkeiten ge- nicht verhalten. Die mit der Neuregelung verbundene Ein- führt, die jetzt behoben werden. So mussten die Fristen für schränkung des rechtlichen Gehörs ist im Interesse eines die Begründung des Antrags auf Zulassung der Berufung effektiveren Rechtsschutzes hinzunehmen. verlängert werden. Die Zulassungsbeschwerde in den Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes und der Pro- Die Begründungspflicht der Gerichte nach § 122 zesskostenhilfe hat sich nicht bewährt, insbesondere nicht Abs. 2 VwGO ist durch die Neuregelung übrigens nicht zu der erhofften Verkürzung der Verfahrensdauer geführt. berührt. Soweit danach eine Begründungspflicht besteht, Sie wird daher wieder abgeschafft. muss das Gericht plausibel darlegen, worauf es seine Ent- scheidung stützt. Dazu gehört in jedem Fall die Mittei- Die Notwendigkeit der Berufungszulassung durch das lung, dass das Gericht die Akten oder Urkunden eingese- Oberverwaltungsgericht hat die notwendige und erhoffte hen hat oder dem Gericht die geheim zu haltenden Entlastung der zweiten Instanz gebracht. Jedoch hat sich Auskünfte erteilt worden sind. die Zulassungspraxis der Oberverwaltungsgerichte deut- lich restriktiver entwickelt als vom Gesetzgeber der Auch wenn das Bundesverfassungsgericht mit dem 6. Novelle erwartet und bei Formulierung der Zulassungs- „in-camera-Verfahren“ ein praktikables Modell bereits (B) gründe zugrunde gelegt. Darüber hinaus kann es ein deut- (D) vorgegeben hatte, blieben im Gesetzgebungsverfahren liches – zuerst von den Verwaltungsgerichten wahrgenom- eine Reihe von Fragen zu klären: menes – Bedürfnis geben, in neu auftretenden Streitfragen Sollte das „in-camera-Verfahren“ auf den – der verfas- rasch zu einer einheitlichen obergerichtlichen Rechtspre- sungsgerichtlichen Entscheidung zugrunde liegenden – chung zu gelangen. Diesen Gesichtspunkten wird Rech- Fall beschränkt werden, in dem mit der Klage Auskunft nung getragen durch die Einführung eines erweiterten Zu- oder Einsicht in die Verwaltungsvorgänge gefordert wird? lassungsgrundes in § 124 Abs. 1 Nr. 4 und durch die Oder sollten die Fälle einbezogen werden, in denen das Befugnis des Verwaltungsgerichts, unter bestimmten Vor- Klageziel zwar ein anderes Verwaltungshandeln ist, die aussetzungen seinerseits die Berufung zuzulassen. Be- Rechtmäßigkeit des Verwaltungshandelns aber nur in wusst entscheidet sich der Entwurf für das Nebeneinander Kenntnis der nach Auffassung der Behörde geheim- von Berufungszulassung durch Verwaltungsgericht und zuhaltenden Vorgänge beurteilt werden kann? Im Gesetz- Oberverwaltungsgericht – damit auch für eine Abwei- gebungsverfahren hat sich – zu Recht, wie ich meine – die chung vom Modell der Revisionszulassung. Die Alterna- weitere Auffassung durchgesetzt. Praktikabilitätserwä- tive – Zulassungskompetenz für alle Zulassungsgründe gungen sprechen dafür, den Gerichten in allen Verfahren, allein beim Verwaltungsgericht – hätte die durch die in denen es für die Entscheidung auf geheimhaltungsbe- 6. Novelle erreichte Entlastung weitgehend infrage ge- dürftige Vorgänge ankommt, ein einheitliches Verfahren stellt. Das haben uns die Länder nachdrücklich vor Augen an die Hand zu geben. Die uneingeschränkte Nachprü- geführt. fung durch ein unabhängiges Gericht ist unter dem Ge- Um bei der Auslegung der Berufungszulassungs- sichtspunkt des effektiveren Rechtsschutzes der bloßen gründe eine rasche oberstgerichtliche Klärung zu ermög- Überprüfung der von der Behörde nur glaubhaft zu ma- lichen, sieht der Entwurf ein Vorlageverfahren der Ober- chenden Geheimhaltungsgründe vorzuziehen. verwaltungsgerichte an das Bundesverwaltungsgericht Zu entscheiden war auch, vor welchem Gericht der vor. Von der Möglichkeit einer Beschwerde, falls das OVG von der Vorlagemöglichkeit keinen Gebrauch Zwischenstreit über die Frage der Geheimhaltung ausge- macht, haben wir abgesehen: Damit soll weiteren Verzö- tragen werden soll. Der Entwurf entscheidet sich für die gerungen des Verfahrens vorgebeugt werden. Ich halte Zuständigkeit der Oberverwaltungsgerichte und in den diese Ausgestaltung des Vorlageverfahrens für einen besonders sensiblen Fällen, in denen das Bekanntwerden guten Kompromiss zwischen der Ermöglichung einer der Vorgänge Nachteile für das Bundeswohl nach sich zie- oberstgerichtlichen Entscheidung und dem Interesse an hen kann, für die Zuständigkeit des Bundesverwaltungs- der Verfahrensbeschleunigung. gerichts. Das Bundesverwaltungsgericht wird damit re- gelmäßig zuständig sein, wenn es um Vorgänge des Ich bitte um Ihre Zustimmung zu dem Entwurf. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19849

(A) Anlage 14 derlegt sind, oder im Falle der Aufnahme von Vorsorge- (C) werten Umweltschädigungen des Menschen – von den Zu Protokoll gegebene Reden Umweltkompartimenten Boden, Wasser und Luft einmal gar nicht zu reden – ausgeschlossen werden können? zur Beratung der Anträge Über die Einführung von Genehmigungsverfahren un- – Mobilfunkstrahlung minimierten – Vorsorge ter Beteiligung der Öffentlichkeit kann man nachdenken stärken und es spricht auch nichts dagegen, sofern seitens der be- – Mobilfunkforschung und Information voran- troffenen genehmigenden Behörden die Durchführung treiben der Verfahren bewältigt werden kann und auch sonst die Sinnhaftigkeit geklärt ist. Es ist auch ernst zu nehmen, (Tagesordnungspunkt 26 a und b) was über den Gebrauch von Handys durch Kinder während der Anhörung gesagt wurde. Eine Informations- Marlene Rupprecht (SPD): Wir haben die Besorgnis pflicht der Hersteller über die SAR-Werte sollte aufge- und Unsicherheit in der Bevölkerung hinsichtlich mögli- nommen werden. Einige Firmen wie Siemens zum Bei- cher Belastungen durch nicht ionisierende elektromagne- spiel reagieren bereits auf die Forderung und tische Strahlung immer ernst genommen und bereits in der veröffentlichen ihre Daten im Internet, einige leider nur in 13. Wahlperiode in mehreren Anfragen und einem Ent- englischer Sprache. schließungsantrag gefordert, dass die Regelungen der Der vorliegende PDS-Antrag gibt in vielen Punkten 26. BlmSchVO jeweils dem aktuellen Stand der wissen- den aktuellen Diskussionsstand wieder. Die PDS beruft schaftlichen und technologischen Erkenntnisse angepasst sich aber leider in einigen Punkten des Antrages nur auf werden. Seit 10 Jahren nimmt nun die Entwicklung des die Argumente der Mobilfunkgegner, obwohl bei der An- Mobilfunks einen dynamischen Verlauf mit der Folge, hörung klar herauskam, dass es für einen großen Bereich dass bis heute in Deutschland 62 Millionen Handys benutzt keine wissenschaftlich fundierten Erkenntnisse gibt. Der werden. Allein die Tatsache, dass die 26. BlmSchVO gar Antrag enthält Forderungen, die grundsätzlich das Pro- nicht für das Handy gilt, sondern nur für die ortsfesten Sen- blem treffen, die dafür vorgeschlagenen Lösungsansätze deanlagen, zeigt, wie wichtig die Überprüfung dieser Ver- schießen aber oft über das Ziel hinaus oder sind schlicht ordnung bzw. die Umgangsweise mit dieser Technik ist. nicht praktikabel, weil sie jede Verwaltung mit der Fülle Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktor- von Prüfungsverfahren lahm legen würde. sicherheit hat zur Vorbereitung einer Novellierung des- Zum CDU/CSU-Antrag lässt sich Folgendes sagen: Er halb im Juli 2001 eine Anhörung mit allen Betroffenen, fokussiert die Probleme im Zusammenhang mit Mobil- (B) Betreibern, Herstellern, Wissenschaftlern und Bürger- funk auf einen Informationsmangel der Bürger als Ursa- (D) initiativen durchgeführt. Die Fraktionen haben anschlie- che. Es ist sicher richtig, dass hier ein Nachholbedarf ßend für sich beraten, was sie aus den Ergebnissen in besteht. Dass die Forschung intensiviert werden soll, be- parlamentarische Anträge umsetzen wollen. Zwei dieser grüßen wir ebenfalls. Leider sieht die CDU/CSU nur die Anträge sind heute Gegenstand der Beratung. Bundesregierung allein in der Pflicht als Geldgeber für Auch die Bundesregierung überprüft zurzeit die Rege- Informationsmaßnahmen und die Forschung. Hier sind lungen in dieser Verordnung und so stehen auch die bis- aber die Mobilfunkbetreiber als Verursacher wie auch als herigen Grenzwerte auf dem Prüfstand. Die Strahlen- diejenigen, die mit dieser Technik Gewinne machen wol- schutzkommission hat in ihrem Gutachten zunächst len, gefragt. Die Notwendigkeit weiterer Forschung Entwarnung gegeben, weil sie nach der Bewertung der wurde von der Bundesregierung bereits erkannt. Sie hat, neueren wissenschaftlichen Literatur keine neuen wissen- wie im CDU/CSU-Antrag bereits erwähnt, Leistungen schaftlichen Erkenntnisse gefunden hat, die Zweifel an des Bundesumweltministeriums in Höhe von 8,5 Milli- der bisherigen Einschätzung aufkommen ließen. Dennoch onen Euro für die Jahre 2002 bis 2005 für diesen Bereich halten wir aus Gründen der Vorsorge auch die Prüfung der eingestellt. Das heißt nicht, dass nicht alle Mobilfunkbe- Aufnahme von Vorsorgewerten zu den bisherigen Grenz- treiber aufgerufen sind, ähnliche Anstrengungen zu er- bringen. werten in die Verordnung für unabdingbar. Des Weiteren halten wir die Lösung wichtiger Probleme wie fehlende Alle anderen Aspekte im Themenbereich Mobilfunk Informationen vor Ort über die Mobilfunktechnik selbst, wurden im Antrag der CDU/CSU wenig oder nicht be- ihre Strahlungswerte sowie über das, was in den Häusern achtet. Deshalb ist auch dieser Antrag keine Lösung und ankommt, für äußerst dringend. Auch sind wir der Mei- muss abgelehnt werden. nung, dass die Mobilfunkbetreiber zu verpflichten sind, bei Einführung neuer Technologien zukünftig und früh- Ilse Aigner (CDU/CSU): Die Mobilfunktechnologie zeitig alle notwendigen Daten zur gesundheitlichen Be- ist in den letzten Jahren zu einer in breiten Bevölkerungs- wertung vorzulegen bzw. zu generieren. schichten genutzten Technologie geworden. Etwa 50 Mil- Die Forderung der PDS nach Einführung von immissi- lionen Benutzer sind allein in Deutschland registriert. Es onsschutzrechtlichen Planfeststellungsverfahren ist dem- wird überall telefoniert: auf der Straße, in Gaststätten, in gegenüber angesichts der Zahl zu erwartender Verfahren Schulen, im Auto und wo auch immer. Damit dies über- völlig überzogen. Was sollen 40 000 Umweltverträglich- haupt geschehen kann, sind mittlerweile Tausende von keitsprüfungen bei dieser Technologie ergeben, wenn eine Basisstationen aufgestellt worden bzw. sollen noch auf- Anlage Grenzwerte einhält, die wissenschaftlich nicht wi- gestellt werden. Hinzu kommen weitere Stationen, da die 19850 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001

(A) Bundesregierung die UMTS-Lizenzen mit der Bedingung die Mobilfunktechnik sicher und rücksichtsvoll genutzt (C) versteigert hat, dass künftig 50 Prozent der Bevölkerung werden kann. Hier müssen dem Verbraucher Fakten und mit dieser neuen Technologie erreichbar sein soll. verständliche Daten an die Hand gegeben werden. Durch eine entsprechende Kennzeichnung ist zu gewährleisten, Mittlerweile regt sich in der Bevölkerung erheblicher dass der Verbraucher die Möglichkeit hat, diese Daten und Widerstand gegen die Errichtung der Basisstationen der Fakten seiner Kaufentscheidung zugrunde zu legen. jetzigen Mobilfunktechnik GSM und Befürchtungen we- gen der neuen UMTS-Technik. Die Bundesregierung Deshalb fordern wir die Bundesregierung auf: eine verfugt über vielfältige Erkenntnisse durch Studien und Aufklärungskampagne zu intiieren; dafür Sorge zu tra- hat diese auch durch die Strahlenschutzkommission be- gen, dass Handys in der Weise gekennzeichnet werden, werten lassen. Als Grundlage hierzu dienen die in der dass sie verlässliche und eindeutige Angaben über die 26. BImSchV festgesetzten Grenzwerte. Sende-, Empfangs- und Strahlungseigenschaften liefern und für eine dauerhafte, entwicklungs- und forschungsbe- Aufgrund der Verunsicherung in der Bevölkerung über gleitende Informationspolitik zu sorgen. die gesundheitlichen Auswirkungen des Mobilfunks hat die CDU/CSU-Bundestagsfraktion bereits am 3. April Über die wissenschaftlichen Erkenntnisse kann man dieses Jahres eine Große Anfrage an die Bundesregierung eigentlich nur eines sicher sagen, dass sich die Wissen- gestellt. In seinem Schreiben vom 22. Mai 2001 teilte der schaftler uneinig sind. Die einzige gesicherte Gemein- Bundesumweltminister Trittin mit, dass die Bundesregie- samkeit zwischen allen Experten ist, dass weiterhin For- rung die Antworten bis Ende Juli vorlegen wird. schungsbedarf hinsichtlich der athermischen Wirkungen besteht. Die Kritiker verweisen dabei auf wissenschaftli- Nachdem mehrfach nachgefragt wurde, setzte das che Beweise der Schädlichkeit. Bei genauerer Betrach- Bundesumweltministerium in einem zweiten Schreiben tung handelt es sich hier jedoch um wissenschaftliche vom 16. Juli 2001 die CDU/CSU-Bundestagsfraktion le- Hinweise. Dies soll jedoch nicht heißen, dass man genau diglich davon in Kenntnis, dass die Beantwortungsfrist diesen Hinweisen, die nicht den strengen und reprodu- von ihrer Seite bis zum 15. Oktober verlängert wurde. In zierbaren Kriterien eines wissenschaftlichen Beweises der Begründung heißt es, dass die Sitzung und der Bericht genügen, nicht nachgehen sollte. der Strahlenschutzkommission, SSK, für die Beantwor- tung der komplexen Anfragen nötig ist. Dieser Bericht Um Ihnen ein paar Bereiche, bei denen noch For- liegt der Öffentlichkeit seit dem 13. September, seit nun- schungsbedarf besteht, aufzuzeigen, möchte ich einfach mehr zwei Monaten vor. Die Antwort der Bundesregie- aus den Empfehlungen der Strahlenschutzkommission rung ist jedoch immer noch offen. vom September diesen Jahres zitieren. Ich beziehe mich hier auf die Bewertungen wissenschaftlicher Studien Interessant war übrigens eine Formulierung im ersten hochfrequenter Felder seit 1998 im Kapitel A 3. (B) Schreiben des Bundesministers: „Die Bundesregierung ist (D) bereit, die Große Anfrage zu beantworten.“ Diese Formu- A 3.1 Interaktionen hochfrequenter elektromagneti- lierung zeigt schon ein hohes Maß an Arroganz. Ist doch scher Felder mit Zellen und subzellulären Strukturen. die Bundesregierung laut Geschäftsordnung des Deut- A 3.1.1. Moleküle und Membranen Bewertung: schen Bundestages dazu verpflichtet, Große Anfragen in- „... Deswegen sind weitere Untersuchungen unter gut nerhalb von sechs Monaten zu beantworten! Alles andere kontrollierbaren Bedingungen erforderlich“. ist Willkür. Anscheinend ist der Bundesregierung die In- formation und das Interesse der Bevölkerung nicht wich- A 3.1.2. Kalzium Bewertung: „ ... weitere Forschung tig. Oder soll hier etwas verschwiegen werden? ist daher gerechtfertigt“. Mittlerweile hat die Bundesregierung eine erneute Ver- 3.2 Untersuchungen zum Einfluss hochfrequenter längerung bis Mitte Dezember beantragt. Offensichtlich elektromagnetischer Felder auf Menschen und Tiere. spielt die Bundesregierung auf Zeit und hofft, dass sich A 3.2.2. Elektroenzephalogramm beim Menschen: das Thema Mobilfunk von allein löst. Dies ist aber wahr- „... Es kann zusammengefasst werden, dass die bisheri- scheinlich eine beträchtliche Fehleinschätzung, insbeson- gen Studien nicht im Ergebnis übereinstimmen, aber, den- dere deshalb, weil gerade auch Repräsentanten der Re- noch Hinweise auf expositionsbedingte Änderungen neu- gierungskoalition vor Ort alles Mögliche fordern, ohne rophysiologischer Prozesse geben ... Daher sind weitere selbst auf Bundesebene tätig zu werden. Untersuchungen notwendig“. Durch die für die Bundesregierung typische Hinhalte- A 3.2.3. Schlaf „... Deshalb sind die ... Ergebnisse der und Schweigetaktik lässt sie die Bürgerinnen und Bürger Einzelstudie ... als unbestätigte Hinweise einzustufen. Zur im Regen stehen und gibt auch der Industrie keine Pla- Abklärung, ob es Schlafstörungen durch hochfrequente nungs- und Rechtssicherheit. Nachdem die Beantwortung Felder gibt, sind kontrollierte, doppelblind durchgeführte nun schon mehrfach verschoben worden ist, hat sich die Schlafexperimente geeigneter, um zwischen physischen CDU/CSU-Bundestagsfraktion – auch aufgrund der Er- und psychischen Ursachen der Störung unterscheiden zu gebnisse der Strahlenschutzkommission – entschlossen, können“. den Ihnen vorliegenden Antrag zu stellen. A 3.2.4. Kognitive Funktionen beim Menschen: „ Die Wir sehen den primären Grund für die Verunsicherung Vielzahl an untersuchten, unterschiedlichen Reaktions- in der Bevölkerung in dem Fehlen von ausreichenden zeittypen, die bei Exposition zum Teil verkürzt, aber an- Kenntnissen über das Funktionieren des Mobilfunknet- dere auch verlängert waren, lässt keine eindeutige Be- zes. Notwendig ist, den Verbraucher zu informieren, wie wertung zu, gibt aber Hinweise auf eine mögliche Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19851

(A) Beeinflussung von physiologischen Prozessen. Es ist wei- rungsbehörde für Post und Telekommunikation, RegTP, (C) tere Forschung notwendig, um zu klären, ob bei der Nut- zu nennen. Diese Behörde muss unter Federführung des zung von Handys die Leistungsfähigkeit des Gehirns be- Bundeswirtschaftsministeriums ein Standortkataster mit einflusst wird“. Informationen über die Standorte aller emitierenden An- lagen und der Sendeleistung erstellen. A 3.2.5. Blut-Hirn-Schranke: „Schirmacker (Studie SchiOO) sahen an einem In-vitro-Blut-Hirn-Schranken- Begleitend dazu müssen fortlaufend flächendeckende modell eine Permeabilitätsänderung für Sacherose bei Immissionsmessungen durchgeführt und von der RegTP 1,6 GHz (0,3 W/kg). Da es sich um ein künstliches Mo- veröffentlicht werden. Die Kommunen müssen auf diese dell handelte, sollte diese Einzelstudie unabhängig im Ergebnisse zugreifen können und müssen ebenso bei der Tierversuch wiederholt werden. In weiteren Experimen- Standortfindung von Sendeanlagen gemäß der Bundes- ten sollten bekannte, für das Gehirn toxische Substanzen vereinbarung der kommunalen Spitzenverbände und der auf ihr Permeabilitätsverhalten unter Feldeinwirkung un- Mobilfunkbetreiber mit einbezogen werden. tersucht werden. All diese Maßnahmen sollen dazu führen, die Diskus- Es kann zusammengefasst werden, dass die Ergebnisse sion über die Auswirkungen des Mobilfunks auf den Men- zu einer expositionsbedingten Permeabilitätsänderung schen zu versachlichen, zugleich aber die Befürchtungen der Blut-Hirn-Schranke kein konsistentes Bild ergeben aufzunehmen und diese durch eine intensive Forschung und lediglich als Hinweise zu werten sind. Die offenen aufzuklären. Es kann nicht sein, dass wir die Bürgerinnen Fragen erfordern in Zukunft vorsorglich weitere Untersu- und Bürger, aber auch die kommunalen Mandatsträger bei chungen zu dieser Thematik.“ dieser Thematik im Stich lassen. Bei aller Kompetenzzu- A 3.2.7. Blutparameter und Immunsystem. „..Einzeler- messung der Betroffenen ist es nicht sehr wahrscheinlich, gebnisse können als Hinweise gedeutet werden. Ob diese dass sie sich bei solch unterschiedlichen Aussagen gerade Reaktion beim Menschen auftritt, muss durch weitere aus der Wissenschaft ein objektives Bild verschaffen kön- Studien geklärt werden. nen. Dies liegt eindeutig in der Kompetenz des Bundes und hier muss die Bundesregierung ihrer Verpflichtung Im Hinblick auf neue technische Anwendungen, die nachkommen. diesen Frequenzbereich nutzen werden, sind, unabhängig von den vorliegenden Ergebnissen, weitere Untersuchun- gen notwendig“. Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Schnelle Autos und beeindruckend große Funktelefone A 3.3. Hochfrequente elektromagnetische Felder und gehörten für Tom Selleck stets zusammen: Wer Anfang Krebs. der 90er-Jahre in amerikanischen Krimiserien wie „Mag- (B) A 3.3.1. Untersuchungen zu krebsrelevanten Protei- num“ Funktelefone vom Ausmaß eines Hundeknochens (D) nen, Krebsentstehung und -promotion „... Es kann zu- sah, konnte es sich kaum vorstellen: Seit in Deutschland sammenfassend festgestellt werden, dass die Untersu- 1992 das erste Mobilfunknetz in Betrieb ging, sind bereits chungen zu krebsrelevanten Proteinen, Krebsentstehung über 50 Millionen Handys über die Ladentheke gegangen. und Krebspromotion ein sehr uneinheitliches Bild liefern. Der Mobilfunk boomt. Am Strand, im Supermarkt, an der Inwieweit im Einzelnen und nicht Reproduzierbaren Hin- Bushaltestelle: Das Handy ist bei Millionen Menschen weise eine Bedeutung für gesundheitliche Beeinflussun- immer dabei. Die kleinen Helfer sind längst kein Privileg gen haben, muss durch weitere Forschung geklärt wer- von Managern und Maklern mehr. Mittlerweile gibt es den.“ Schulen, an denen es keine Schüler ohne Handys mehr gibt. A 3.3.2. Spontane und initiierte Tumorbildung „... Wei- tere Studien zur Tumorentwicklung sollten durchgeführt Entsprechend groß ist die Verunsicherung in der Be- werden“. völkerung: Immer mehr Mobilfunkmasten stehen auf Krankenhäusern, Schulen oder in Wohngebieten. Und Für all die offensichtlich nötige Forschungsarbeit hat überall schließen sich dagegen Bürgerinitiativen zusam- die Bundesregierung für die Jahre 2002 bis 2005 lediglich men – inzwischen schon weit über 600. Über 34 000 Mo- 8,5 Millionen Euro eingeplant. Ob diese Mittel ausrei- bilfunksender gewährleisten zwar eine optimale Funkab- chend sind, darf wohl angezweifelt werden. Deshalb for- deckung, aber Zweifel an ihrer Unbedenklichkeit sind dert die CDU/CSU-Bundestagsfraktion die Bundesregie- angebracht. Und die Auseinandersetzung um Mobilfunk rung auf, Mittel einzustellen für ein, den internationalen wird sich noch weiter verschärfen: Die Vergabe der wissenschaftlichen Regeln und Kriterien der WHO genü- genden Programms zur Erforschung der Auswirkungen UMTS-Lizenzen erfordert bis zu 40 000 weitere Sende- elektromagnetischer Felder auf die menschliche Gesund- anlagen. heit. Diese sollen ferner laufend unter Einbeziehung von Ist da der Gesundheitsschutz noch ausreichend Mobilfunkkritikern überprüft und fortgeschrieben wer- gewährleistet? Wir meinen: Nein. den. Die Bundesregierung hat durch die Versteigerung der UMTS-Lizenzen 100 Milliarden DM eingenommen und Nicht zuletzt die Anhörung des Umweltausschusses will für die Erforschung der eventuellen gesundheitlichen am 2. Juli hat eines gezeigt: Ein Beweis der Unschädlich- Auswirkungen dafür lediglich 0,41 Prozent pro Jahr ein- keit elektromagnetischer Mobilfunkfelder existiert nicht. setzen – und das unter einem grünen Umweltminister! Im Gegenteil, unabhängige Wissenschaftler haben in den letzten Jahren eine Vielzahl von Hinweisen auf Schädigun- Als weiterer wichtiger Punkt hin zu vertrauensbilden- gen gefunden, die auf diese Felder zurückgeführt werden den Maßnahmen ist der Zugang zu den Daten der Regulie- können. Sie gehen aus von der Gefahr von Missbildungen 19852 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001

(A) über eine chromosomenschädigende und krebsfördernde UMTS-Lizenzpoker begrüßt. Er hat finanzielle Hand- (C) Wirkung bis hin zu Störungen des Hormonhaushaltes und lungsspielräume eröffnet, die angesichts der prekären neurochemischen Effekten wie Schlafstörungen oder Haushaltslage Entlastung geschaffen haben. Andererseits Aufmerksamkeitsdefiziten. sind mit der öffentlichen Diskussion Sorgen und Ängste Für uns gilt, dass bis zur Klärung dieser unsicheren Da- in der Bevölkerung gewachsen. Das betrifft vor allem das tenlage das Vorsorgeprinzip greifen muss. Wir setzen uns Verfahren zur Aufstellung von Sendemasten und deren daher mit dem Umweltminister für die Einführung von Standortwahl sowie mögliche Gesundheitsgefahren beim Vorsorge-Grenzwerten ein, die mit den Zielsetzungen ei- Telefonieren mit Handys. nes vorsorgenden Gesundheitsschutzes vereinbar sind. Wir müssen Studienergebnisse ernst nehmen, wir dür- Wir setzen uns für eine bessere Beteiligung von Kommu- fen uns aber keinesfalls vorschnell zu Festlegungen und nen und Bürgern bei der Aufstellung von Mobilfunkmas- Vorverurteilungen verleiten lassen. Genau das tut der ten ein. Es kann nicht sein, dass weiterhin in Nacht-und- PDS-Antrag, den wir deshalb ablehnen müssen. Es ist Nebel-Aktionen Sendestationen errichtet werden, ohne schon seltsam: Da stimmt die PDS der überfälligen und dass vorher in einem transparenten Verfahren Standortal- sehr sinnvollen Vergabe eines Forschungsauftrages an das ternativen ausgelotet worden sind. Die Selbstverpflich- Büro für Technikfolgenabschätzung zu, alle nationalen tung der Mobilfunkbetreiber mit den kommunalen und internationalen wissenschaftlichen Studien abzuglei- Spitzenverbänden kann nur ein erster Schritt in die rich- chen und dadurch zu neuen Erkenntnissen zu kommen, tige Richtung sein. Solange bei uns Beschwerden besorg- und dann stellt die gleiche PDS einen Antrag mit kon- ter Bürger eingehen, die nicht am Verfahren beteiligt wur- kreten Forderungen, ohne die Ergebnisse der TAB-Unter- den, die nicht einmal informiert wurden, braucht die suchungen abzuwarten. Das machen wir nicht mit! Öffentlichkeitsbeteiligung einen gesetzlichen Rahmen. Die Kernfrage, auf die alles hinausläuft, ist: Ist die Wir setzen uns für einen Ausschluss von Sendemasten elektromagnetische Strahlung von Mobilfunksendern im nahen Umkreis von Schulen, Kindergärten und Wohn- eine reale Gesundheitsgefahr oder hat sich da nur in den gebieten ein. Damit folgen wir auch den Empfehlungen Köpfen und emotional etwas aufgebaut? Die Anhörung der unabhängigen Expertengruppe für Mobilfunk unter am 2. Juli 2001 hat auf diese Frage keine hinreichend Sir Steward, die in Großbritannien beispielsweise auch zu klaren Antworten gegeben. Die „Ärzte-Zeitung“ kom- Warnhinweisen der Regierung vor der Handynutzung mentiert den Verlauf mit der Schlagzeile: „Experten – durch Kinder und Jugendliche geführt hat. orientierungslos im Antennenwald“. Dennoch gibt es kei- Nicht zuletzt fordern wir einen verbesserten Verbrau- nen Grund zu überzogenen Reaktionen. Ein hieb- und cherschutz beim Einsatz der Handy-Endgeräte selbst. stichfester wissenschaftlicher Beweis eines Zusammen- Nicht erst der vergleichende Blick in Fachzeitschriften, hangs von Mobilfunk und Gesundheitsschädigungen liegt (B) nein ein einfaches Labeling muss dem Verbraucher Aus- bisher nicht vor. (D) kunft über die Strahlungsintensität seines Gerätes geben, und das, noch bevor er die Verkaufsverpackung öffnet. Eines möchte ich aber für mich persönlich heraus- Veraltete, strahlungsreiche Geräte müssen rasch ausgelis- stellen: die besondere Schutzwürdigkeit von Kindern und tet werden. Jugendlichen, die in ihrer Wachstumsphase hochempfind- lich für die Strahlungen beim mobilen Telefonieren sein Nicht zuletzt möchte ich darauf hinweisen, dass das können. In fünf Wochen ist Weihnachten. Ich fürchte, wir Umweltministerium in diesem Jahr die Forschungsmittel gehen wieder einen Riesenschritt voran in der flächen- für die Risikoabschätzung des Mobilfunks verdoppelt hat. deckenden Versorgung unseres Nachwuchses mit Handys. Vorsorgende Politik heißt jedoch, nicht erst auf erst lang- Bis vergleichbare aussagekräftige Forschungsergebnisse fristig erwartbare Ergebnisse zu warten. Vorsorge ist Ge- vorliegen, sollten wir meines Erachtens die objektiven In- genwartspolltik. formationen über die Sendeempfangs- und Strahlungsei- Der Umweltminister bleibt daher dabei, die anderen genschaften deutlich verstärken. Eltern sollten sich recht- Ressorts von der Notwendigkeit dieser Maßnahmen zu zeitig Gedanken darüber machen, ob überhaupt und, wenn überzeugen. Er bleibt dabei, dass dafür ein Beschluss in ja, zu welchem Zeitpunkt ihre Kinder mit einem Handy der nächsten Länderumweltministerkonferenz herbeige- beglückt werden und wie sie damit umgehen sollen. Han- führt werden soll. Und wir hoffen, dass die Landesregie- dys sind kein Spielzeug und eine Rundumerreichbarkeit rungen schnellstens dort tätig werden, wo sie – wie im kein Gradmesser für eine erfüllte Kindheit. Baurecht – eigene Verantwortung tragen. Dem Grundsatz Die angestoßene Debatte wird zweifelsfrei aber ein des vorsorgenden Gesundheitsschutzes muss Genüge ge- Gutes haben: Die Industrie wird Geräte und Sendeanlagen tan werden. so optimieren, dass die Strahlenbelastungen sinken. Da Weil der Umweltminister in dieser Sache längst tätig braucht es keine neuen Gesetze und Veränderungen von geworden ist und wir noch in den nächsten Monaten mit Grenzwerten; davon bin ich überzeugt. Wir sind wach ge- der Vorlage des Entwurfs einer novellierten 26. Bundes- worden und werden nach Vorlage des TAB-Berichtes eine Immissionsschutzverordnung rechnen, werden wir dem solide Grundlage zur Fortsetzung unserer Beratungen ha- Antrag der PDS nicht folgen. ben. Bis dahin sollten wir uns gedulden, die Debatte ent- emotionalisieren und auf Aktivismus verzichten. Detlef Parr (FDP): Wir befinden uns in einem Zwiespalt: Einerseits ist die Mobilfunknutzung gesamt- Gerhard Jüttemann (PDS): Sind Mobilfunkstrahlen gesellschaftlich akzeptiert und wir alle haben den gefährlich? Viele haben Angst. Anfang Juli hat der Um- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 201. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 15. November 2001 19853

(A) weltausschuss eine Anhörung zur Mobilfunkstrahlung der Bundeskanzler das Thema nach einem Bericht der (C) durchgeführt. Viele Fragen zu diesem komplexen Thema „Berliner Zeitung“ vom letzten Wochenende inzwischen blieben sicher auch danach offen. Aber einiges wurde zur Chefsache erklärt haben. auch sehr deutlich. Dazu kann ich als Sprecher für die Angelegenheiten Vor allem wurde deutlich, dass die Mobilfunktechno- der neuen Länder nur sagen: Mir reicht schon der Aufbau logie ohne ausreichende Kenntnis der Wirkungen ihrer Ost als Chefsache. Bei diesem Kanzler bedeutet Chefsa- Strahlung auf die menschliche Gesundheit eingeführt che: Es tut sich wenig bis gar nichts. Und so blockiert die worden ist. Und es wurde deutlich, dass der Vorsorgege- Bundesregierung jegliche Vorschläge zur Absenkung der danke bei der Betreibung der Netze bis heute keine Rolle Grenzwerte, um Unruhe in der TK-Branche zu vermei- spielt. Mobilfunkstrahlung kann möglicherweise gesund- den. Diese stellt derweil zu ihren heute 50 000 Mobil- heitliche Beeinträchtigungen wie Ohrgeräusche, Kopf- funksendeanlagen an 35 000 Standorten 40 000 neue schmerzen, Schlafstörungen, Konzentrationsschwierig- hinzu und verschärft unser Problem weiter. keiten, aber auch Tumorbildungen hervorrufen. Das sagt Antworten Sie nun bitte nicht mit dem Scheinargu- eine Vielzahl wissenschaftlicher Studien. ment, dass eine Einführung von Vorsorgegrenzwerten Dennoch ist in den nun fast fünf Monaten seit der An- eine noch größere Zahl von Sendeanlagen notwendig ma- hörung vonseiten der Bundesregierung praktisch nichts chen würde. Denn zu guter Letzt kommt es ja nicht auf die geschehen, was uns der Lösung der Probleme wenigstens Zahl der Anlagen an, sondern auf die Gesundheitsgefah- einen Schritt näher bringen könnte. Gebetsmühlenartig ren, die von jeder einzelnen ausgehen. wird stattdessen wiederholt, es gebe keine wissenschaftli- Die allgemeine Verunsicherung zu diesem Thema hat chen Beweise für die gesundheitliche Schädlichkeit der in der Bevölkerung inzwischen einen vorläufigen Höhe- Mobilfunkstrahlung und somit keinen Handlungsbedarf. punkt erreicht. Nach Angaben des Bundesverbandes ge- Dieser hanebüchenen Argumentation bedient sich bei- gen Elektrosmog gibt es bereits in circa jeder zweiten Ge- spielsweise der Bundesumweltminister. Wenn es diese meinde in der Bundesrepublik organisierten Widerstand klaren wissenschaftlichen Beweise gäbe, müssten Sie die gegen Mobilfunkantennen. Die Menschen wissen doch, ganze Veranstaltung Mobilfunk sofort komplett abblasen. dass beispielsweise die britische Regierung alle Schulen Kein Mensch verlangt das. Aber wenn es wissenschaftli- schriftlich aufgefordert hat, Schülern unter 16 Jahren vom che Hinweise darauf gibt, dass die Strahlung gefährlich Telefonieren mit dem Handy abzuraten. Sie nehmen doch sein könnte, dann müssen Sie doch auch etwas tun. Im- wahr, dass sich der Präsident des Bundesamtes für Strah- merhin sagt auch Herr Trittin – ich zitiere – „Wissen- lenschutz in ähnlicher Weise äußert und es für notwendig schaftlich noch nicht abschließend geklärt ist die Frage, hält –ich zitiere – „Standorte zu vermeiden, die bei Kin- (B) ob und inwieweit auch Felder mit Intensitäten unterhalb dergärten, Schulen und Krankenhäusern zu erhöhten Fel- (D) der geltenden Grenzwerte gesundheitliche Beeinträchti- dern führen“. gungen verursachen können.“ Sie werden aber nicht vermieden. In Deutschland tut Ich bitte Sie: Wenn das nicht geklärt ist, dann müssen sich überhaupt nichts auf diesem Gebiet. Diese Lähmung Sie doch die Menschen schützen, bis es geklärt ist. Ein muss endlich überwunden werden. Es muss doch nicht Weg dafür wäre die Einführung von Vorsorgegrenzwer- erst eine Katastrophe eintreten, die die Menschen zu ver- ten, wie es sie ja in einigen unserer Nachbarländer gibt. nünftigem Handeln zwingt. Reale Handlungsmöglichkei- Dort kann übrigens dennoch problemlos mobil telefoniert ten haben wir in unserem Antrag formuliert. Einiges habe werden. Dann müssen Sie natürlich auch die unabhängige ich dazu gesagt. Wichtig ist natürlich auch die Beteiligung Forschung forcieren, die in der Vergangenheit in Deutsch- der Betroffenen an den Standortentscheidungen. Vor al- land entschieden vernachlässigt wurde. Bis heute sind lem aber kommt man um eines nicht herum: Die Men- dafür allerdings keine befriedigenden Ansätze in der Po- schen und ihre Gesundheit und nicht die Interessen der In- litik der Bundesregierung zu erkennen. Stattdessen soll dustrie müssen im Vordergrund stehen. Druck: MuK. Medien- und Kommunikations GmbH, Berlin Vertrieb: Bundesanzeiger Verlagsgesellschaft mbH, Postfach 13 20, 53003 Bonn, Telefon: 02 28 / 3 82 08 40, Telefax: 02 28 / 3 82 08 44 ISSN 0722-7980