Plenarprotokoll 13/107 (Zu diesem Protokoll folgt ein Nachtrag)

Deutscher

Stenographischer Bericht

107. Sitzung

Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996

Inhalt:

Wahl der Abgeordneten Erika Reinhardt e) Erste Beratung des von den Fraktionen zur Schriftführerin 9347 A der CDU/CSU und F.D.P. eingebrach- ten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- Erweiterung der Tagesordnung 9347 B rung von § 22 des Bundessozialhilfe- gesetzes (Drucksache 13/4614) . . . 9348 C Geänderte Ausschußüberweisung . . 9348A f) Antrag der Gruppe der PDS: Soziale Grundsicherung gegen Armut und Ab- Tagesordnungspunkt 3: hängigkeit, für mehr soziale Gerech- tigkeit und ein selbstbestimmtes Le- a) Erste Beratung des von den Fraktionen ben (Drucksache 13/3628) 9348 D der CDU/CSU und F.D.P. eingebrach- - ten Entwurfs eines Gesetzes zur Um- in Verbindung mit setzung des Programms für mehr Wachstum und Beschäftigung in den Zusatztagesordnungspunkt 1: Bereichen der Rentenversicherung und Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE Arbeitsförderung (Wachstums- und Be- GRÜNEN: Ökologisch gestalten, so- schäftigungsförderungsgesetz) (Druck- ziale Gerechtigkeit wahren und kom- sache 13/4610) 9348 B mende Generationen entlasten (Druck- b) Erste Beratung des von den Fraktionen sache 13/4671) 9348 D der CDU/CSU und F.D.P. eingebrach- ten Entwurfs eines Gesetzes zur Ergän- in Verbindung mit zung des Wachstums- und Beschäfti- gungsförderungsgesetzes (Wachstums- Zusatztagesordnungspunkt 2: und Beschäftigungsförderungs-Ergän- Antrag der Abgeordneten Marieluise zungsgesetz) (Drucksache 13/4611) . 9348 B Beck (Bremen), Annelie Buntenbach, weiterer Abgeordneter und der Frak- c) Erste Beratung des von den Fraktionen tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Ar- der CDU/CSU und F.D.P. eingebrach- beitsrechtliche Reformen als Baustein ten Entwurfs eines arbeitsrechtlichen zur Neugestaltung der Arbeit (Druck- Gesetzes zur Förderung von Wachs sache 13/4672) 9349 A tum und Beschäftigung (Arbeitsrechtli- ches Beschäftigungsförderungsgesetz) in Verbindung mit (Drucksache 13/4612) 9348 C d) Erste Beratung des von den Fraktionen Zusatztagesordnungspunkt 3: der CDU/CSU und F.D.P. eingebrach- Antrag der Abgeordneten Andrea Fi- ten Entwurfs eines Gesetzes zur Be- scher (Berlin), (Bre- grenzung der Bezügefortzahlung bei men), weiterer Abgeordneter und der Krankheit (Drucksache 13/4613) . . . 9348 C Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: II Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996

Zukunftsfähigkeit durch sozialstaat- - zu dem Entschließungsantrag des liche Innovationen gewinnen (Druck- Abgeordneten sache 13/4674 vom 22. Mai 1996) . 9349 A und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE CDU/CSU 9349 B GRÜNEN zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bericht Rudolf Dreßler SPD 9354 B über die Situation der Kinder und Kerstin Müller (Köln) BÜNDNIS 90/DIE Jugendlichen und die Entwicklung GRÜNEN 9359 A der Jugendhilfe in den neuen Bun- Dr. F.D.P. . . . . 9362 C desländern - Neunter Jugendbericht Dr. PDS 9365B, 9377 D - zu dem Entschließungsantrag der Hans Büttner (Ingolstadt) SPD 9367 C Fraktion der SPD zu der Unterrich- tung durch die Bundesregierung: Be- Dr. Norbert Blüm, Bundesminister BMA 9368 B, richt über die Situation der Kinder 9378 B und Jugendlichen und die Entwick- Rudolf Dreßler SPD 9368 D lung der Jugendhilfe in den neuen Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast SPD . 9371 B Bundesländern - Neunter Jugend- bericht - mit der Stellungnahme der Ulrike Mascher SPD 9371 D Bundesregierung zum Neunten Ju- SPD 9373 A gendbericht Dr. Heiner Geißler CDU/CSU . . 9378 C, 9385 A (Drucksachen 13/70, 13/709, 13/726, Joseph Fischer (Frankfurt) BÜNDNIS 13/3314) 9406 A 90/DIE GRÜNEN 9379 B , Bundesministerin BMFSFJ 9406 B Wilhelm Schmidt (Salzgitter) SPD . . 9381 D Christel Hanewinckel SPD 9408 A Ingrid Matthäus-Maier SPD . . 9382 B, 9388 D Matthias Berninger BÜNDNIS 90/DIE Detlev von Larcher SPD 9383 D GRÜNEN 9409 D Dr. Karl H. Fell CDU/CSU 9384 A Sabine Leutheusser-Schnarrenberger F.D.P 9411 B Wilhelm Schmidt (Salzgitter) SPD . . . 9384 C Rosel Neuhäuser PDS 9412 D Margot von Renesse SPD 9384 C CDU/CSU . . 9413 D Marieluise Beck (Bremen) BÜNDNIS 90/ Ursula Mogg SPD 9415 B DIE GRÜNEN 9385 B Kersten Wetzel CDU/CSU 9416 D Dr. F.D.P...... 9387 A Klaus Hagemann SPD 9418 B Dr. PDS 9388 B Hans Büttner (Ingolstadt) SPD . . . 9390 A Zusatztagesordnungspunkt 4: SPD 9390 C Beschlußempfehlung des Ausschusses Dr. Heiner Geißler CDU/CSU 9391D, 9392 B nach Artikel 77 des Grundgesetzes Dr. CDU/CSU . . . . 9392 D (Vermittlungsausschuß) zu dem Gesetz Dr. Guido Westerwelle F.D.P. . . 9393D, 9394 C über den Verkauf von Mauer- und Grenzgrundstücken an die früheren Julius Louven CDU/CSU 9395 B Eigentümer und zur Änderung ande- Peter Dreßen SPD 9396 B rer Vorschriften (Drucksachen 13/120, Dr. Heidi Knake-Werner PDS 9397 C 13/3734, 13/3950, 13/4589) 9419 B 9398 D Dr. F.D.P in Verbindung mit Ulrike Mascher SPD 9401 B Ernst Hinsken CDU/CSU 9401 D Zusatztagesordnungspunkt 5: Wolfgang Vogt (Düren) CDU/CSU . . . 9404 B Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes Tagesordnungspunkt 4: (Vermittlungsausschuß) zu dem Ersten Beschlußempfehlung und Bericht des Gesetz zur Änderung des Elften Bu- Ausschusses für Familie, Senioren, ches Sozialgesetzbuch und anderer Frauen und Jugend Gesetze (Erstes SGB Xi - Änderungs- gesetz) (Drucksachen 13/3696, 13/ - zu der Unterrichtung durch die Bun- 4091, 13/4521, 13/4688) 9419 C desregierung: Bericht über die Si- Dr. CDU/CSU 9419 C tuation der Kinder und Jugend- lichen und die Entwicklung der (Berlin) BÜNDNIS 90/DIE Jugendhilfe in den neuen Bundes- GRÜNEN 9420 D ländern - Neunter Jugendbericht - Dr. Peter Struck SPD 9421 C mit der Stellungnahme der Bundes- regierung zum Neunten Jugend- Ulrich Irmer F.D.P 9422 A bericht Klaus-Jürgen Warnick PDS 9423 A Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996 III

Zusatztagesordnungspunkt 6: d) Erste Beratung des vom Bundesrat ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes Beschlußempfehlung des Ausschusses über die Anrechnung von Dienstzeiten nach Artikel 77 des Grundgesetzes im Angestelltenverhältnis auf die be- (Vermittlungsausschuß) zu dem Ge- amtenrechtliche Probezeit nach dem setz zur Reform des Rechts der Ar- Einigungsvertrag (Drucksache 13/4385) 9436 A beitslosenhilfe (Drucksachen 13/2898, 13/3109, 13/3479, 13/3725, 13/3951, e) Erste Beratung des vom Bundesrat ein- 13/4591) 9424 A gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung eisenbahnrechtlicher in Verbindung mit Vorschriften (Drucksache 13/4386) 9436 A f) Antrag der Abgeordneten Susanne Zusatztagesordnungspunkt 7: Kastner, Klaus Lennartz, weiterer Ab- Beschlußempfehlung des Ausschusses geordneter und der Fraktion der SPD: nach Artikel 77 des Grundgesetzes Änderung der EG-Mineralwasser- (Vermittlungsausschuß) zu dem Ersten richtlinie (Drucksache 13/3335) . . . 9436 B Gesetz zur Änderung des Asylbewer- g) Antrag der Abgeordneten Otto Resch- berleistungsgesetzes und anderer Ge- ke, Hans Büttner (Ingolstadt), weiterer (Drucksachen 13/2746, 13/3475, setze Abgeordneter und der Fraktion der 13/3720, 13/3728, 13/3949, 13/3937, SPD: Änderung der Übergangsrege- 13/4686) 9424 A lung beim Eigenheimzulagengesetz (Drucksache 13/4408) 9436 B in Verbindung mit h) Antrag der Abgeordneten Dr. Winfried Zusatztagesordnungspunkt 8: Pinger, und der Frak- tion der CDU/CSU sowie der Abgeord- Beschlußempfehlung des Ausschusses neten Dr. , Roland nach Artikel 77 des Grundgesetzes Kohn und der Fraktion der F.D.P.: (Vermittlungsausschuß) zu dem Gesetz Verschuldung der Entwicklungsländer zur Reform des Sozialhilferechts (Drucksache 13/4670) 9436 C (Drucksachen 13/2440, 13/2764, 13/3904, 13/4211, 13/4239, 13/4687) 9424 B i) Beratung der Unterrichtung durch die Hans-Peter Repnik CDU/CSU 9424 B Bundesregierung: Bericht über die Entwicklung der Konvergenz in der Rudolf Dreßler SPD 9426B, 9433 D Europäischen Union im Jahre 1995 Andrea Fischer (Berlin) BÜNDNIS 90/DIE (Drucksache 13/4101) 9436 C GRÜNEN 9428 A Dr. Gisela Babel F.D.P 9429 B Tagesordnungspunkt 15: Dr. Heide Knake-Werner PDS 9430 D Abschließende Beratungen ohne Aus- CDU/CSU 9431 C sprache Horst Seehofer, Bundesminister BMG . 9435 A a) Zweite Beratung und Schlußabstim- mung des von der Bundesregierung Tagesordnungspunkt 14: eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu der Vereinbarung vom 21. Juni Überweisungen im vereinfachten Ver- 1994 über die Satzung der Europäi- fahren schen Schulen (Drucksachen 13/3106, a) Erste Beratung des vom Bundesrat ein- 13/4468) 9436 D gebrachten Entwurfs eines Gesetzes b) Zweite Beratung und Schlußabstim- zur Erweiterung des Zeugnisverwei- mung des von der Bundesregierung gerungsrechtes für Mitarbeiter/-innen eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes von Presse und Rundfunk und des zu dem Abkommen vom 10. Novem- entsprechenden Beschlagnahmever- ber 1993 zwischen der Bundesrepublik botes auf selbst erarbeitetes Material Deutschland und der Republik Male- (Drucksache 13/195) 9435 D diven über den Luftverkehr (Druck- b) Erste Beratung des vom Bundesrat ein- sachen 13/3846, 13/4473) 9437 A gebrachten Entwurfs eines Gesetzes c) Zweite Beratung und Schlußabstim- zur Änderung des Strafvollzugsgeset- mung des von der Bundesregierung 9436 A zes (Drucksache 13/3129) eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes c) Erste Beratung des von der Bundes- zu dem Abkommen vom 9. Mai 1995 regierung eingebrachten Entwurfs ei- zwischen der Regierung der Bun- nes Gesetzes über die Veräußerung desrepublik Deutschland und der von Teilzeitnutzungsrechten an Wohn- Regierung der Volksrepublik China gebäuden (Teilzeit-Wohnrechtegesetz) über den Seeverkehr (Drucksachen (Drucksache 13/4185) 9436 A 13/3847, 13/4474) 9437 A IV Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996 d) Zweite Beratung und Schlußabstim- k) Beschlußempfehlung und Bericht des mung des von der Bundesregierung Haushaltsausschusses zu dem Antrag eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes des Bundesministeriums der Finanzen: zu dem Abkommen vom 9. September Einwilligung gemäß § 64 Abs. 2 der 1994 zwischen der Bundesrepublik Bundeshaushaltsordnung in die Ver- Deutschland und Malta über den äußerung eines Grundstücks in Ber- Luftverkehr (Drucksachen 13/3848, lin-Steglitz (Drucksachen 13/4218, 13/ 13/4475) 9437 B 4603) 9438 C e) Zweite Beratung und Schlußabstim- 1) Beschlußempfehlung und Bericht des mung des von der Bundesregierung Haushaltsausschusses zu dem Antrag eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes des Bundesministeriums der Finanzen: zu dem Abkommen vom 10. Mai 1995 Einwilligung gemäß § 64 Abs. 2 der zwischen der Regierung der Bundes- Bundeshaushaltsordnung in die Ver- republik Deutschland und der Regie- äußerung eines Wohngrundstückes rung der Republik Bosnien und Herze- in Laage/Mecklenburg-Vorpommern gowina über den Luftverkehr (Druck- (Drucksachen 13/4255, 13/4604) . . . 9438D sachen 13/3850, 13/4500) 9437 B m) Beschlußempfehlung und Bericht des Haushaltsausschusses zu dem Antrag f) Zweite Beratung und Schlußabstim- des Bundesministeriums der Finanzen: mung des von der Bundesregierung Einwilligung gemäß § 64 Abs. 2 der eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes Bundeshaushaltsordnung in die Ver- zu den Protokollen Nr. 1 und Nr. 2 äußerung eines Grundstücks in Berlin vom 4. November 1993 zu dem Euro- Charlottenburg (Drucksachen 13/4256, päischen Übereinkommen zur Verhü- 13/4605) 9438D tung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder n) Beschlußempfehlung und Bericht des Strafe (Drucksachen 13/2482, 13/4501) 9437 C Haushaltsausschusses zu dem Antrag des Bundesministeriums der Finanzen: g) Zweite und dritte Beratung des von der Einwilligung gemäß § 64 Abs. 2 der Bundesregierung eingebrachten Ent- Bundeshaushaltsordnung in die Ver- wurfs eines Gesetzes zur Änderung äußerung der ehemaligen US-Liegen- von Verbrauchsteuergesetzen und des schaft Dolan-Barracks in Schwäbisch EG-Amtshilfe-Gesetzes (Drucksachen Hall-Hessental (Drucksachen 13/4285, 13/3845, 13/4664, 13/4665) 9437 D 13/4606) 9439A o) bis q) h) Beschlußempfehlung und Bericht des Beschlußempfehlungen des Petitions- Ausschusses für die Angelegenheiten ausschusses: Sammelübersichten 120, der Europäischen Union zu der Unter-- 121 und 122 zu Petitionen (Druck- richtung durch die Bundesregierung: sachen 13/4573, 13/4574, 13/4575) . . 9439 A Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat zur möglichen Anwendung von Arti- Zusatztagesordnungspunkt 9: kel K 9 des Vertrages über die Euro- Weitere abschließende Beratungen ohne päische Union (Drucksachen 13/3668 Aussprache Nr. 2.74, 13/4534) 9438 A a) Zweite und dritte Beratung des von i) Beschlußempfehlung und Bericht des der Bundesregierung eingebrachten Haushaltsausschusses zu dem Antrag Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- des Bundesministeriums der Finanzen: rung des AGB-Gesetzes (Drucksachen Einwilligung gemäß § 64 Abs. 2 der 13/2713, 13/4699) 9439 B Bundeshaushaltsordnung in die Ver- b) Zweite und dritte Beratung des von der äußerung der bundeseigenen Wohn- Bundesregierung eingebrachten Ent- siedlung Dr.-Martin-Luther-King-Vil- wurfs eines Markenrechtsänderungs- lage in Mainz (Drucksachen 13/4149, gesetzes 1996 (Drucksache 13/3841, 13/4601) 9438 B 13/4700) 9439 C j) Beschlußempfehlung und Bericht des c) Beschlußempfehlung und Bericht des Haushaltsausschusses zu dem Antrag Ausschusses für Familie, Senioren, des Bundesministeriums der Finanzen: Frauen und Jugend zu der Unterrich- Einwilligung gemäß § 64 Abs. 2 der tung durch die Bundesregierung: Vor- Bundeshaushaltsordnung in die Ver- schlag für eine Richtlinie des Rates äußerung der bundeseigenen, bisher zu der von UNICE, CEEP und EGB von den französischen Streitkräften geschlossenen Rahmenvereinbarung (FFA) genutzten Wohnungen in Frei- über Elternurlaub (Drucksachen 13/ burg (Drucksachen 13/4170, 13/4602) 9438 C 4514 Nr. 2.26, 13/4682) 9439 D Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996 V d) Beschlußempfehlung und Bericht des Ulrich Heinrich F D P. 9456 B Ausschusses für Arbeit und Sozialord- Ulrike Höfken BÜNDNIS 90/DIE GRÜ nung zu der Unterrichtung durch die NEN 9457B, 9463A, 9469A, 9472 B Bundesregierung: Mitteilung der Kom- Günther Bredehorn F.D.P. 9457 C mission zur Information und Konsulta- tion der Arbeitnehmer (Drucksachen Dr. Hansjörg Schäfer SPD . . . 9457 D, 9462 C 13/3668 Nr. 2.72, 13/4701) 9440A Dr. SPD . . . 9458 A, 9462 D Heinrich-Wilhelm Ronsöhr CDU/CSU . 9458 B Tagesordnungspunkt 5: Dr. PDS 9459 A Erste Beratung des von den Abgeord- Matthias Weisheit SPD 9460 C neten Alfred Hartenbach, Dr. Herta 9462 A, Däubler-Gmelin, weiteren Abgeordne- , Bundesminister BML 9464C, 9468 C ten und der Fraktion der SPD ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes Heidemarie Wieczorek-Zeul SPD . . 9464 B, 9466 C zur Änderung des Gesetzes über Ulrike Höfken BÜNDNIS 90/DIE GRÜ Ordnungswidrigkeiten, des Straßen- NEN 9465A der Bundesge- verkehrsgesetzes und Horst Seehofer CDU/CSU 9465 B bührenordnung für Rechtsanwälte (Drucksache 13/3691) 9440A Editha Limbach CDU/CSU 9467 A Alfred Hartenbach SPD 9440 B Dr. Wolfgang Wodarg SPD 9468 D 9469 D CDU/CSU 9443 A Editha Limbach CDU/CSU 9471 A Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) F.D.P. 9443 B Heinrich-Wilhelm Ronsöhr CDU/CSU . Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten CDU/ Tagesordnungspunkt 7: CSU 9443 C a) Große Anfrage der Abgeordneten (Köln) BÜNDNIS 90/DIE Hans Martin Bury, , wei- GRÜNEN 9445 A terer Abgeordneter und der Fraktion Detlef Kleinert (Hannover) F.D.P. . . . 9446 A der SPD: Postfilialen (Drucksachen Dr. Uwe-Jens Heuer PDS 9447 B 13/2504, 13/4234) 9473 A Franz Peter Basten CDU/CSU 9448 C b) Antrag der Abgeordneten Hans Martin Bury, Arne Börnsen (Ritterhude), weite- , Parl. Staatssekretär BMJ 9450 A rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Remailing unterbinden - Arbeits- 6: Tagesordnungspunkt plätze in Deutschland sichern (Druck- a) Große Anfrage der Abgeordneten sache 13/4448) 9473 A Klaus Kirschner, Antje-Marie Steen,- weiterer Abgeordneter und der Frak- in Verbindung mit tion der SPD: Gesundheitliche Gefah- ren durch Rinderwahnsinn (BSE) Zusatztagesordnungspunkt 11: 9451 A (Drucksachen 13/1972, 13/4436) . . . Beschlußempfehlung und Bericht des b) Antrag der Abgeordneten Ulrike Höf- Ausschusses für Post und Telekommu- ken, und der Fraktion nikation zu dem Entschließungsantrag BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Umfas- des Abgeordneten Dr. Manuel Kiper sende Verbraucherschutzmaßnahmen und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE gegen die Rinderseuche BSE - Sofort- GRÜNEN zu der Großen Anfrage der programm für regionale Fleischerzeu- Abgeordneten Hans Martin Bury, gung (Drucksache 13/4388) 9451 A Gerd Andres, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Postfi- in Verbindung mit lialen (Drucksachen 13/2504, 13/4001, 13/4662) 9473A Zusatztagesordnungspunkt 10: Hans Martin Bury SPD 9473 B Antrag der Fraktionen der CDU/CSU CDU/CSU 9474 D und F.D.P.: Maßnahmen zum umfas- Dr. Manuel Kiper BÜNDNIS 90/DIE GRÜ senden Schutz von Verbraucherinnen NEN 9476B, 9482B und Verbrauchern vor der Rinder- Dr. F D P. 9477 C seuche BSE und zur Stabilisierung des Rindfleischmarktes (Drucksache Gerhard Jüttemann PDS 9478 C 13/4676) 9451B Dr. Wolfgang Bötsch, Bundesminister Antje-Marie Steen SPD 9451B BMPT 9479 C Horst Seehofer, Bundesminister BMG . 9453 C Peter Dreßen SPD 9480 D Monika Knoche BÜNDNIS 90/DIE GRÜ SPD 9482 C NEN 9455 C Elmar Müller (Kirchheim) CDU/CSU . 9484 D VI Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996

Zusatztagesordnungspunkt 12: Vorschlag für eine Verordnung (EG) des Rates zur Änderung der Verord- Erste Beratung des von dem Abgeord- nung (EWG) Nr. 1107/70 über Beihil- neten Gerald Häfner und der Fraktion fen im Eisenbahn-, Straßen- und Bin- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einge- nenschiffsverkehr brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aussetzung der Diätenerhöhung für (Drucksachen 13/3286 Nr. 2.9, 13/4243) 9499 C Abgeordnete des Deutschen Bundesta- Renate Blank CDU/CSU 9500 A ges und des Europäischen Parlaments Annette Faße SPD 9501 B (Drucksache 13/4667) 9486A Gila Altmann (Aurich) BÜNDNIS 90/DIE Gerald Häfner BÜNDNIS 90/DIE GRÜ GRÜNEN 9502 D NEN 9486A, 9487D Lisa Peters F D P. 9503 D Peter Conradi SPD 9487B, 9495 B Dr. PDS 9505 D Andreas Schmidt (Mülheim) CDU/CSU . 9488 B , Parl. Staatssekretär BMV 9505 C Heinz-Georg Seiffert CDU/CSU . . . 9489 A Horst Eylmann CDU/CSU . . . . 9490A, 9496D Tagesordnungspunkt 9: Oswald Metzger BÜNDNIS 90/DIE GRÜ a) Beratung der Beschlußempfehlung und des NEN 9490 C Berichts des Ausschusses für Frem- denverkehr und Tourismus zu der Un- Wilhelm Schmidt (Salzgitter) SPD . 9491B, 9494 B terrichtung durch die Bundesregie- rung: Die Rolle der Union Antje Hermenau BÜNDNIS 90/DIE GRÜ im Bereich des Fremdenverkehrs - Grünbuch NEN 9493 C der Kommission (Drucksachen 13/2306 Dr. Helmut Lippelt BÜNDNIS 90/DIE Nr. 2.106, 13/4214) 9507 A GRÜNEN 9494 C b) Beratung der Beschlußempfehlung und Dr. Hermann Otto Solms F.D.P. . . 9495D, 9497 A des Berichts des Ausschusses für Frem- denverkehr und Tourismus zu dem Ent- Dr. Barbara Hendricks SPD 9496 B schließungsantrag der Abgeordneten Dr. Dagmar Enkelmann PDS . . . 9497 C, 9498 C Halo Saibold und der Fraktion BÜND NIS 90/DIE GRÜNEN zu der Unterrich- Michael Teiser CDU/CSU 9498 B tung durch die Bundesregierung: Be- Gerald Häfner BÜNDNIS 90/DIE GRÜ richt der Bundesregierung über die NEN (Erklärung nach § 30 GO) 9498 D Entwicklung des Tourismus (Druck sachen 12/7895, 12/8467 Nr. 1.36, 13/1513, 13/1548, 13/4216) 9507 A Tagesordnungspunkt 8: - c) Beratung der Beschlußempfehlung und a) Große Anfrage der Abgeordneten An- des Berichts des Ausschusses für Frem- nette Faße, Elke Ferner, weiterer Abge- denverkehr und Tourismus zu dem An- ordneter und der Fraktion der SPD: trag der Fraktionen der CDU/CSU und Perspektiven der deutschen Binnen- F.D.P.: Umweltschutz und Tourismus schiffahrt (Drucksachen 13/1796, 13/ (Drucksachen 13/1531, 13/4217) . . . 9507 B 3378) 9499 C Tagesordnungspunkt 10: b) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr zu der Unter- Erste Beratung des von der Bundesre- richtung durch die Bundesregierung: gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur erbrechtlichen Gleich- Mitteilung über eine gemeinsame stellung nichtehelicher Kinder (Erb- Politik bei der Gestaltung des Marktes rechtsgleichstellungsgesetz) (Druck- der Binnenschiffahrt und von Begleit- sache 13/4183) 9507 D maßnahmen Zusatztagesordnungspunkt 13: Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über die Einzelheiten der Befrachtung Große Anfrage der Abgeordneten Chri- und der Frachtratenbildung im inner- stina Schenk, Dr. Barbara Höll und der staatlichen und grenzüberschreiten- Gruppe der PDS: Die Situation von den Binnenschiffsgüterverkehr in der Lesben und Schwulen in der Bundes- Gemeinschaft republik Deutschland (Drucksachen 13/1946, 13/4152) 9508 A Vorschlag für eine Verordnung (EG) Christina Schenk PDS 9508 A, 9513 B des Rates zur Änderung der Verord- nung (EWG) Nr. 1101/89 über die Hanna Wolf (München) SPD . . 9509 A, 9510 A Strukturbereinigung in der Binnen- Volker Beck (Köln) BÜNDNIS 90/DIE schiffahrt GRÜNEN 9509 D Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996 VII

Dr. Dagmar Enkelmann PDS 9510 D Roll Kutzmutz PDS 9514 B Volker Beck (Köln) BÜNDNIS 90/DIE Friedhelm Julius Beucher SPD 9515 A GRÜNEN 9511 A, 9513 C Jörg van Essen F.D.P. 9512 A Simone Probst BÜNDNIS 90/DIE GRÜ NEN 9515 D Zusatztagesordnungspunkt 14: Jürgen Koppelin F.D.P 9516 A, 9518 C Rolf Kutz- Antrag der Abgeordneten Rolf Kutzmutz PDS 9516 B mutz, Dr. Christa Luft und der Gruppe der PDS: Einsetzung eines Unter- SPD 9517 B, 9518 B suchungsausschusses (Drucksache 13/ 4065) 9514 A Dr. Barbara Hendricks SPD 9517 C Dr. Christa Luft PDS 9518 A in Verbindung mit

Zusatztagesordnungspunkt 15: Nächste Sitzung 9519 C Antrag der Fraktion der SPD: Erweite- rung des Untersuchungsauftrages des Anlage 1 2. Untersuchungsausschusses (Druck- sache 13/4698) 9514 A Liste der entschuldigten Abgeordneten . 9591* A

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107. Sitzung

Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996

Beginn: 9.00 Uhr

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Liebe Kolleginnen 7. Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet. Artikel 77 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuß) zu dem Ersten Gesetz zur Änderung des Asylbewerber- leistungsgesetzes und anderer Gesetze - Drucksachen Ich komme zunächst zu den Amtlichen Mitteilun- 13/2746, 13/3475, 13/3720, 13/3728, 13/3949, 13/3937, gen. Die Kollegin Ortrun Schätzle legt ihr Amt als 13/4686 - Schriftführerin nieder. Ich möchte ihr herzlich für die 8. Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Unterstützung danken. Die Fraktion der CDU/CSU Artikel 77 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuß) zu schlägt als Nachfolgerin die Kollegin Erika Rein- dem Gesetz zur Reform des Sozialhilferechts - Druck- hardt vor. Sind Sie mit diesem Vorschlag einverstan- sachen 13/2440, 13/2764, 13/3904, 13/4211, 13/4239, 13/4687 - den? - Ich höre keinen Widerspruch. Damit ist die Abgeordnete E ri 9. Weitere abschließende Beratungen ohne Aussprache (Er- ka Reinhardt als Schriftführerin ge- gänzung zu TOP 15) wählt. a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des AGB-Gesetzes - Drucksachen 13/2713, Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die 13/4699 - verbundene Tagesordnung erweitert werden. Die b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregie- Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunkt rung eingebrachten Entwurfs eines Markenrechtsände- liste aufgeführt: rungsgesetzes 1996 - Drucksachen 13/3841, 13/4700 c) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des 1. Beratung des Antrags der Fraktion BÜNDNIS- 90/DIE GRÜ- Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend NEN: Ökologisch gestalten, soziale Gerechtigkeit wah- (13. Ausschuß) zu der Unterrichtung durch die Bundes- ren und kommende Generationen entlasten - Drucksache regierung: Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zu 13/4671 - der von UNICE, CEEP und EGB geschlossenen Rah- menvereinbarung über Elternurlaub - Drucksachen 2. Beratung des Antrags der Abgeordneten Marieluise Beck 13/4514 Nr. 2.26, 13/4682 - (Bremen), Annelie Buntenbach, Andrea Fischer (Berlin), d) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung (11. Aus- GRÜNEN: Arbeitsrechtliche Reformen als Baustein zur schuß) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Neugestaltung der Arbeit - Drucksache 13/4672 - Mitteilung der Kommission zur Information und Kon- 3. Beratung des Antrags der Abgeordneten Andrea Fischer sultation der Arbeitnehmer - Drucksachen 13/3668 (Berlin), Marieluise Beck (Bremen), Annelie Buntenbach, Nr. 2.72, 13/4701 - weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE 10. Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und GRÜNEN: Zukunftsfähigkeit durch sozialstaatliche Inno- F.D.P.: Maßnahmen zum umfassenden Schutz von Verbrau- vationen gewinnen - Drucksache 13/4674 - (vom 22. 5. cherinnen und Verbrauchern vor der Rinderseuche BSE 1996) und zur Stabilisierung des Rindfleischmarktes - Druck- sache 13/4676 - 4. Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuß) zu 11. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des dem Gesetz über den Verkauf von Mauer- und Grenz- Ausschusses für Post und Telekommunikation (17. Aus- grundstücken an die früheren Eigentümer und zur Ände- schuß) zu dem Entschließungsantrag des Abgeordneten rung anderer Vorschriften - Drucksachen 13/120, 13/3734, Dr. Manuel Kiper und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- 13/3950, 13/4589 - NEN zu der Großen Anfrage der Abgeordneten Hans Mar- tin Bury, Gerd Andres, Klaus Barthel, weiterer Abgeordne- 5. Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach ter und der Fraktion der SPD: Postfilialen - Drucksachen Artikel 77 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuß) zu 13/2504, 13/4001, 13/4662 - dem Ersten Gesetz zur Änderung des Elften Buches 12. Erste Beratung des von dem Abgeordneten Gerald Häfner Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze (Erstes SGB XI - und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrach- Änderungsgesetz - 1. SGB XI-ÄndG) - Drucksachen ten Entwurfs eines Gesetzes zur Aussetzung der Diäten- 13/3696, 13/4091, 13/4521, 13/4688 - erhöhung für Abgeordnete des Deutschen Bundestages 6. Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses nach und des Europäischen Parlaments - Drucksache 13/4667 - Artikel 77 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuß) zu 13. Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Christina dem Gesetz zur Reform des Rechts der Arbeitslosenhilfe Schenk, Dr. Barbara Höll und der Gruppe der PDS: Die (Arbeitslosenhilfe-Reformgesetz - AlhiRG) - Drucksachen Situation von Lesben und Schwulen in der Bundesrepu- 13/2898, 13/3109, 13/3479, 13/3725, 13/3951, 13/4591 - blik Deutschland - Drucksachen 13/1946, 13/4152 - 9348 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth 14. Beratung des Antrags der Abgeordneten Rolf Kutzmutz, c) Erste Beratung des von den Fraktionen der Dr. Christa Luft, Dr. Gregor Gysi und der Gruppe der PDS: CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Ent- Einsetzung eines Untersuchungsausschusses - Drucksache wurfs eines arbeitsrechtlichen Gesetzes zur 13/4065 - Förderung von Wachstum und Beschäf- 15. Beratung des Antrags der Fraktion der SPD: Erweiterung des Untersuchungsauftrages des 2. Untersuchungsaus- tigung (Arbeitsrechtliches Beschäftigungs- schusses - Drucksache 13/4698 - förderungsgesetz) 16. Beratung des Antrags der Abgeordneten Monika Knoche, - Marina Steindor, Kerstin Müller (Köln), weiterer Abge- - Drucksache 13/4612 ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Überweisungsvorschlag: Das solidarische Gesundheitswesen für die Zukunft sichern - Drucksache 13/4675 - Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung (federführend) Ausschuß für Wirtschaft Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, Ausschuß für Gesundheit soweit es erforderlich ist, abgewichen werden. Haushaltsausschuß Außerdem mache ich auf eine geänderte Aus- d) Erste Beratung des von den Fraktionen der schußüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Ent- aufmerksam: wurfs eines Gesetzes zur Begrenzung der Der in der 74. Sitzung des Deutschen Bundestages am Bezügefortzahlung bei Krankheit 30. November 1995 an den Innenausschuß zur federführenden Beratung überwiesene nachfolgende Antrag soll nunmehr - Drucksache 13/4613 - dem Haushaltsausschuß federführend überwiesen werden: Überweisungsvorschlag: Antrag der Abgeordneten Dr. Uwe-Jens Rössel, Dr. Barbara Höll, Rolf Kutzmutz, weiterer Abgeordneter und der Grup- Innenausschuß (federführend) pe der PDS Rechtsausschuß Ausschuß für Wirtschaft Vollständige Übernahme der sogenannten Altschulden auf Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung gesellschaftliche Einrichtungen ostdeutscher Kommunen Haushaltsausschuß durch den Bund - Drucksache 13/2434 - Überweisung: Haushaltsausschuß (federführend) e) Erste Beratung des von den Fraktionen der Innenausschuß CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Ent- Rechtsausschuß wurfs eines Gesetzes zur Änderung von Sind Sie ebenfalls mit diesen Vereinbarungen ein- § 22 des Bundessozialhilfegesetzes verstanden? - Das ist der Fall. Dann verfahren wir so. - Drucksache 13/4614 - Überweisungsvorschlag: Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3f sowie Ausschuß für Gesundheit (federführend) die Zusatzpunkte 1 bis 3 auf: Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung 3. a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Ent- f) Beratung des Antrags der Gruppe der PDS wurfs eines Gesetzes zur Umsetzung des Soziale Grundsicherung gegen Armut und Programms für mehr Wachstum und Beschäftigung in den Bereichen der Abhängigkeit, für mehr soziale Gerechtig- Rentenversicherung und Arbeitsförderung keit und ein selbstbestimmtes Leben (Wachstums- und Beschäftigungsförde- - Drucksache 13/3628 - rungsgesetz - WFG) Überweisungsvorschlag: - Drucksache 13/4610 - Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung (federführend) Überweisungsvorschlag: Finanzausschuß Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung (federführend) Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Gesundheit Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Technologie und Technikfolgenabschätzung Ausschuß für Gesundheit Ausschuß für Fremdenverkehr und Tourismus Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO ZP1 Beratung des Antrags der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN b) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Ent- Ökologisch gestalten, soziale Gerechtigkeit wurfs eines Gesetzes zur Ergänzung des wahren und kommende Generationen entla- Wachstums- und Beschäftigungsförderungs- sten gesetzes (Wachstums- und Beschäftigungs- - Drucksache 13/4671 - förderungs-Ergänzungsgesetz - WFEG) Überweisungsvorschlag: - Drucksache 13/4611 - Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung (federführend) Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuß Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung (federführend) Finanzausschuß Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Verteidigungsausschuß Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Gesundheit Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuß für Fremdenverkehr und Tourismus Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO Haushaltsausschuß Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996 9349

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth ZP2 Beratung des Antrags der Abgeordneten sichten, Steuermindereinnahmen in den Haushalten Marieluise Beck (Bremen), Annelie Bunten- von Bund, Ländern und Kommunen. Aber ich meine, bach, Andrea Fischer (Berlin), weiterer Abge- es gibt keinen Grund zur Hoffnungslosigkeit. Die ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE Aussichten für eine konjunkturelle Erholung sind GRÜNEN gut. Arbeitsrechtliche Reformen als Baustein zur (Lachen bei der SPD) Neugestaltung der Arbeit - Hören Sie doch bitte erst einmal zu! Sie haben - Drucksache 13/4672 - heute noch viel Zeit, sich so zu geben, wie Sie sich Überweisungsvorschlag: normalerweise im Plenum geben. Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung (federführend) Rechtsausschuß Die Geldpolitik wurde in den letzten Monaten Ausschuß für Wirtschaft weltweit gelockert. Wir haben praktisch Geldwert- Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend stabilität; wir haben niedrige Zinsen. Ausschuß für Gesundheit Die Finanzpolitik in den USA, ebenso wie in West- ZP3 Beratung des Antrags der Abgeordneten europa, ist auf Konsolidierungskurs gerichtet. Die Andrea Fischer (Berlin), Marieluise Beck Nachwirkungen der Wechselkursturbulenzen sind (Bremen), Annelie Buntenbach, weiterer Ab- kaum noch spürbar. Der Dollarkurs hat zugelegt und geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ ist im Verhältnis zur D-Mark immerhin um 10 Prozent DIE GRÜNEN höher. Ich glaube, daß das unserem Export und der Zukunftsfähigkeit durch sozialstaatliche In- Konkurrenzfähigkeit auf den eigenen Märkten nut- novationen gewinnen zen wird. Es besteht die berechtigte Aussicht, daß es in den Industrieländern im Laufe dieses Jahres zu ei- - Drucksache 13/4674 - (vom 22. Mai 1996) ner Belebung von Nachfrage und damit Produktion Überweisungsvorschlag: kommen wird. Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung (federführend) Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Allerdings hat die OSZE gestern festgestellt, daß Ausschuß für Gesundheit das Wirtschaftswachstum in Deutschland weit unter Haushaltsausschuß dem Durchschnitt der übrigen Industrieländer liegt. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind Deshalb müssen wir jetzt die Voraussetzungen schaf- für die gemeinsame Aussprache vier Stunden vorge- fen, damit Deutschland am weltweiten Konjunktur- sehen. - Auch dazu höre ich keinen Widerspruch. aufschwung teilnehmen kann. Dann ist es so beschlossen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge Ich eröffne die Aussprache. Das Wo rt hat als erster ordneten der F.D.P.) der Kollege Michael Glos. Wir müssen vor allen Dingen dafür sorgen - dem dient unser Programm -, daß dieser Konjunkturauf- Michael Glos (CDU/CSU): Frau Präsidentin!- Meine schwung in neue, sichere Arbeitsplätze und in mehr sehr verehrten Damen und Herren! Über vier Millio- Beschäftigung für die Menschen in Deutschland um- nen Menschen in Deutschland suchen derzeit Arbeit. gesetzt wird. Ihnen wieder eine Chance zu eröffnen, ihr Wissen und ihre Fähigkeiten am Arbeitsplatz einzusetzen, ist Wir wissen vor allen Dingen: Investitionen und die die wichtigste innenpolitische Aufgabe. Schaffung neuer Arbeitsplätze sind die allerbeste Sozialpolitik. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD und der (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) PDS) Gleichzeitig liegt darin auch der Schlüssel für die Was diese Menschen empfinden, weiß ich aus mei- zukünftige Festigung unserer sozialen Sicherungs- nem Wahlkreis. Wer dies in etwa nachlesen wi ll, dem systeme. Das ist Soziale Marktwirtschaft im besten empfehle ich den Artikel aus der heutigen „Süd- Sinne von Ludwig Erhard. deutschen Zeitung" mit der Überschrift „Angst und Wut als dominierendes Lebensgefühl" . Ich kann Für Bundesregierung und Koalition hat die Politik nicht alles unterstreichen, was in diesem Artikel für Arbeitsplätze Vorrang. steht. In ihm wird die Situation in der Region ( [Köln] [SPD]: Wo das denn?) Schweinfurt beschrieben, die nach wie vor leider die höchste Arbeitslosigkeit in Bayern hat. Uns geht es Deswegen haben wir uns intensiv mit diesen Fragen damm, wieder möglichst vielen Menschen in unse- auseinandergesetzt. Die CSU-Landesgruppe hat da- rem Land Arbeit, Brot und - vor allen Dingen der jun- mit Anfang dieses Jahres in Kreuth begonnen. gen Generation - eine Zukunftsperspektive zu ge- (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: 4 Millionen ben. Arbeitslose!) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Dies mündete in ein 50-Punkte-Programm der Bun- Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Kon- desregierung und der Koalitionsfraktionen, das be- junktur hat seit Herbst 1995 weltweit an Schwung reits Ende Januar beschlossen worden ist und in dem verloren. Die Folgen spüren wir in Deutschland: an- die Grundzüge des jetzt zu beratenden Pakets darge- steigende Arbeitslosigkeit, geringe Wachstumsaus legt worden sind. 9350 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996

Michael Glos Am 25. April haben die Bundestagsfraktionen von Die Steuermindereinnahmen bei Bund, Ländern CDU/CSU und F.D.P. das Programm für mehr und Gemeinden unterstreichen, daß es zu unserer Wachstum und Beschäftigung vorgelegt. Politik einer Stärkung der Wachstumskräfte keine Alternative gibt. Deswegen fordere ich auch die Län- (Detlev von Larcher [SPD]: Programm für der und Gemeinden auf zu konsolidieren. Es ist über- mehr Arbeitslosigkeit!) haupt nicht nachvollziehbar - da liegt Ihre Verant- Dieses Programm ist ein geschlossenes Gesamtkon- wortung, zept zur Schaffung von Arbeitsplätzen. (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Jetzt haben wir (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) wieder die Schuld! Das ist typisch!) Wir bringen es heute zur Beratung in den Deutschen meine sehr verehrten Damen und Herren von der Bundestag ein. Opposition -, warum die SPD-regierten Länder im Bundesrat wichtige Konsolidierungsgesetze blockie- Gestern hat die Bundesregierung den Entwurf des ren, Jahressteuergesetzes 1997 beschlossen. Er wird am Freitag dem Bundesrat zugeleitet. Wir befinden uns (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge also im Zeitplan. Ziel der Maßnahmen ist es, mehr ordneten der F.D.P.) Wachstumsdynamik zu ermöglichen, Arbeitsplätze in Deutschland zu sichern und Beschäftigungshemm- zum Beispiel die Kürzung von Leistungen für Asylbe- nisse zu beseitigen, damit zusätzliche Arbeitsplätze werber, die Sozialhilfereform, die Reform der Arbeits- entstehen können. Einzig und allein diesem Ziel die- losenhilfe usw. Warum zögern die Länder noch im- nen unsere Maßnahmen. mer, den Vorschlag von Bundesminister Waigel zu ei- nem nationalen Stabilitätspakt umzusetzen? Ich (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) glaube, auch dabei wird es höchste Zeit.

Meine sehr verehrten Damen und Herren von der Lassen Sie mich, ohne daß ich mich von der Politik Opposition, Sie sollten mehr auf die Menschen im her zu sehr einmischen will, etwas zur laufenden Lande hören. Tarifrunde im öffentlichen Dienst sagen. Diese Tarif- (Lachen bei der SPD und der PDS) runde ist von existentieller Bedeutung für die Konso- lidierung der öffentlichen Haushalte. Ohne Ab- Die Menschen in Deutschland spüren, daß wir in schlüsse mit Vernunft im öffentlichen Dienst bedarf Wirtschaft und Gesellschaft durchgreifende Verän- es Einschnitte größerer A rt an anderer Stelle. Ich bin derungen brauchen, um wieder mehr Wachstums- der Meinung: Wenn die öffentlichen Kassen leer dynamik zu ermöglichen. sind, dann müssen diejenigen, die sichere Arbeits- plätze bei der öffentlichen Hand besitzen, ganz be- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - sonderes Verständnis dafür haben und sich über ihre Zuruf des Abg. Detlev von Larcher [SPD] - Arbeitnehmerorganisationen entsprechend verhal- Hans Klein [München] [CDU/CSU]: Wer so ten. rumbrüllt wie der Herr von Larcher,- kann nicht zuhören!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.) Bei einer Meinungsumfrage des Mannheimer Insti- tuts für praxisbezogene Sozialforschung wurde die Für die aktuellen Warnstreiks habe ich deswegen Frage gestellt - das darf auch für Sie von Interesse persönlich wenig Verständnis. sein -: Deutschland hat die höchsten Löhne, die kür- zesten Arbeitszeiten und den längsten Urlaub - (Dr. Dagmar Enkelmann [PDS]: Das kann man sich vorstellen!) (Zuruf von der SPD: Stimmt doch nicht! Die höchsten Lohnnebenkosten!) Wer einen sicheren Arbeitsplatz besitzt, müßte wis- sen, daß er diesen Arbeitsplatz der Öffentlichkeit glauben Sie, daß wir uns das auch in Zukunft leisten können, oder glauben Sie das nicht? 80 Prozent aller und der Allgemeinheit verdankt. Befragten antworteten, daß wir uns das in Zukunft (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Und vielleicht nicht mehr leisten können. auch seiner Leistung, Herr Kollege!) (Christine Kurzhals [SPD]: Das ist die Streiks im öffentlichen Dienst wenden sich letztend- schlechteste Regierung, die wir uns leisten lich gegen die Bevölkerung. können! - Hans Klein [München] [CDU/ CSU]: Die Sozis gehören nicht zu den Der Standort Deutschland muß sich in einem immer 80 Prozent!) härteren Wettbewerb behaupten. Die Weltwirtschaft Soviel zum Bewußtsein in der Bevölkerung. unterliegt, ob Sie das wahrhaben wollen oder nicht, rasanten Veränderungen. Die Industriegesellschaf- Den Konsolidierungsprozeß auf allen Ebenen fort ten wandeln sich zu Informations- und Dienstlei- -zusetzen muß deshalb Vorrang haben. Dies gilt ins- stungsgesellschaften. Wir erleben eine Globalisie- besondere für die öffentlichen Haushalte, wo ihn rung mit neuen Märkten und neuen Wachstumszen- Finanzminister mit dem Bundeshaus- tren. Leider sind diese neuen Wachstumszentren, halt eingeleitet hat. wenn ich einmal von der Situation in den neuen Bun- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996 9351

Michael Glos desländern absehe, wo wir immer noch mit das höch- Wir müssen vor allen Dingen auch den Mittelstand ste Wachstum in Europa haben, außerhalb Europas. stärken; (Zuruf von der SPD: Warum wohl?) (Joseph Fischer [Frankfu rt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Er redet ja wir Karl Marx!) - Das kann ich Ihnen schon sagen. Ich nehme einmal die Situation bei uns: Durch Verkrustung, durch denn die kleinen und mittleren Unternehmen sind Mangel an Mobilität und durch falsche Weichenstel- die wichtigsten Arbeitgeber in unserem Lande. Wir lungen, müssen sie ermutigen, wieder mehr Menschen ein- zustellen und mehr Menschen zu beschäftigen. Des- (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Wer regiert hier halb wird der Schwellenwert des Kündigungsschutz- eigentlich seit 15 Jahren?) gesetzes von derzeit fünf auf zehn Beschäftigte ange- vor allen Dingen in der Lohn- und Arbeitszeitpolitik, hoben. Wir erwarten, daß davon in allererster Linie liegen wir bei den Produktionskosten vielfach um die Arbeitsuchenden profitieren werden. 20 Prozent über den wichtigen Konkurrenten auf den (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - Weltmärkten. Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Wieso eigentlich?) Zu Ihrer Frage, Frau Kollegin Fuchs - Sie sind ja ausgewiesene Gewerkschafterin -, wer hier eigent- - Der Zuruf von Frau Fuchs war: „Wieso eigentlich?" lich regiert, möchte ich noch einmal in Erinnerung Ich muß ihn wiederholen, weil ihn nicht alle gehört rufen, daß die Bedingungen und der Preis für Arbeit haben. Die Antwort auf diese Frage lautet: weil es - lassen wir einmal die Lohnzusatzkosten weg - eine psychologische Einstellungsbarriere ist. (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Lohnneben (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Heuern und feu kosten!) ern wollen Sie!) in allererster Linie von den Tarifpartnern in freier - Ich wiederhole auch das: Frau Fuchs wirft mir vor, Vereinbarung ausgehandelt werden, und dabei wol- wir wollen heuern und feuern. Das kommt ein biß- len wir trotz Ihres Geschreis von der linken Seite chen frei übersetzt von dem amerikanischen „hire auch in Zukunft bleiben. and fire". (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS - Joseph Fischer Nur Unternehmen, die Gewinne erwirtschaften [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: können, werden auch neue Arbeitsplätze schaffen. Jetzt muß er es nur noch schreiben kön Deshalb muß es unser gemeinsames Ziel sein, Mut nen!) zu machen für Investitionen und für unternehmeri- sches Risiko. Gerade bei den kleinen und mittleren Unternehmen, bei den Mittelständlern, bei den Handwerkern gibt - (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) es ungeheuer viele persönliche Bindungen zwischen Deswegen geht die Koalition einen klaren Weg: den Beschäftigten und den Unternehmungen. Ge- Wir wollen die Belastung der Wirtschaft abbauen. rade die kleinen Betriebe haben ihre Leute in Rezes- Wir wollen Steuern, Abgaben und Lohnkosten, so- sionszeiten viel länger im Bet rieb behalten, als das in weit es in unserer Hand liegt, senken. Wir wollen Großunternehmen, überflüssige Regulierungen beseitigen, notwendige (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Investitionen sollen rascher möglich sein, und wir wollen vor allen Dingen, daß die Arbeitswelt wieder die gewerkschaftlich mitbestimmt sind - ich will das flexibler wird. ganz klar sagen -, der Fall gewesen ist. Das sollten Sie nicht mit solchen Zwischenrufen diskriminieren, Der Vorsitzende der Arbeitgeberverbände, Herr gnädige Frau. Murmann, hat am Wochenende erklärt, daß bei Um- setzung aller Gesetzentwürfe der Koalition in den (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge nächsten Jahren 500 000 neue Arbeitsplätze in ordneten der F.D.P.) Deutschland erwartet werden. Wenn wir die aktuelle Beschäftigungskrise beseiti- (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Ich denke, zwei gen wollen, müssen wir vor allen Dingen die Ursa- Millionen?) chen sehr genau analysieren. Die Ursache besteht Auch wenn das eine Schätzung ist, betrachte ich es auch darin, daß deutsche Arbeitsplätze mit hohen als ein Zeichen der Hoffnung und vor allen Dingen Lohn- und Lohnzusatzkosten belastet sind. Wie stark als ein Zeichen der Zuversicht, und ich halte es auch sich übermäßige Lohnerhöhungen auswirken, zeigt für ein gutes Beispiel, weil viele aus dem Unterneh- der Vergleich mit Holland. Wir können unser Land merlager alles tun, um die Konjunktur herunterzure- von der Struktur her in vielen Bereichen mit diesem den, nur um im eigenen Bet rieb bei der einen oder hochentwickelten Nachbarland vergleichen. Die anderen Geschichte einen besseren Abschluß errei- wirtschaftliche Ausgangsposition war im letzten Jahr chen zu können. Das ist insgesamt ein grober Fehler. vergleichbar. In Holland gibt es mehr Beschäftigung als bei uns. Es stellt sich die Frage: Warum? Es gibt (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) einen wesentlichen Unterschied: Anfang 1995 stie- 9352 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996

Michael Glos gen dort die Löhne und Gehälter um 1 bis 2 Prozent, Ich zitiere. Wenn Sie zuhören, können Sie das zu- bei uns hingegen um 3 bis 4 Prozent. mindest akustisch verstehen; ansonsten scheint es gewisse Blockaden zu geben. Ich versuche jetzt ein- (Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast [SPD]: Ver mal, an Ihr akustisches Verständnis zu appellieren. gleichen Sie doch mal die Lohnnebenko sten!) Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Glos, darf ich Es hat zu lange gedauert, bis der Zusammenhang Sie kurz unterbrechen! Trotz aller Zwischenrufe müs- zwischen Lohn und Arbeitsplätzen auch von den sen wir uns zumindest noch hören können. deutschen Gewerkschaften anerkannt worden ist. (Detlev von Larcher [SPD]: Ihn doch nicht!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge ordneten der F.D.P.) Sonst braucht Herr Glos nicht mehr zu reden. Inzwischen sind wir auch hier auf einem guten Weg, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) obwohl das noch nicht alle Funktionäre eingesehen haben. Ich glaube auch, daß die Basis viel weiter ent- Michael Glos (CDU/CSU): „Geprüft werden sollen wickelt ist als diejenigen, die hauptberuflich von den in gemeinsamen Gesprächen Möglichkeiten zur Ver- hohen Beiträgen der Basis leben müssen. ringerung von Fehlzeiten in Betrieben", so hieß es in einer gemeinsamen Erklärung. Leider haben die Wir haben in Deutschland - ich sage das noch ein- Tarifparteien zwischenzeitlich nicht gehandelt. mal - die kürzeste Arbeitszeit, den längsten Urlaub und die höchsten Sozialbeiträge im Vergleich zu al- (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Warum wohl len wichtigen Konkurrenzländern. Die Folge ist: Un- nicht?) ternehmen in Deutschland, die wettbewerbsfähig Sie sind zu keinem Ergebnis gekommen. Deswegen bleiben wollen, sehen sich oft gezwungen, Beschäfti- müssen wir von der Politik handeln, auch um der gung abzubauen. Verantwortung gerecht zu werden, die sie ange- An dieser Stelle müssen wir ansetzen. Nur wenn mahnt haben. Arbeit wieder bezahlbar ist, wird der Arbeitsplatzab- Die deutsche Wirtschaft wird jährlich mit über bau gestoppt und werden wieder neue Arbeitsplätze 60 Milliarden DM aus Lohnfortzahlungen belastet. in Deutschland entstehen. Aus diesem Grunde wollen wir eine Kostenreduzie- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU rung bei der Lohnfortzahlung durch Selbstbeteili- und der F.D.P.) gung, die auch durch Anrechnung von Urlaubstagen erbracht werden kann. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Kollege Glos, (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Bütt- Wir wissen, daß ganz selbstverständlich für die Be- ner? amten gleichgewichtige Regelungen geschaffen wer- den müssen. Es darf hier keine Spaltung geben. - Michael Glos (CDU/CSU): Nein. Wenn es ein ernst- Im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit darf sich nie- zunehmender Kollege gewesen wäre, hätte ich es mand verweigern, auch nicht und gerade nicht die mir überlegt. Vertreter der Arbeitnehmer. Wer heute öffentlich (Zurufe von der SPD) Konfrontation und Neid schürt, dient weder den In- Herr Büttner, Ihre Zwischenrufe und das, was Sie an- teressen der Arbeitsuchenden noch denen der Be- sonsten schon im Bundestag aufgeführt haben, ha- schäftigten. Wer jetzt, da die notwendigen Schritte ben mich dazu veranlaßt. Ich sage das, damit das getan werden - ich zitiere den Vorsitzenden des ganz klar ist. Deutschen Gewerkschaftsbundes -, von „Bruch des sozialen Friedens von oben" spricht, der wird seiner (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - Verantwortung nicht gerecht. Zurufe von der SPD: Unglaublich!) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - Die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall ist ein we- Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Sehr richtig! - sentlicher Bestandteil der stark gestiegenen Lohnzu- Dr. Dagmar Enkelmann [PDS]: Er hat aber satzkosten. Auch die Tarifpartner sehen hier Hand- recht!) lungsbedarf. Ich darf deswegen an die gemeinsame Erklärung von Gewerkschaften und Arbeitgebern Wir haben heute den 47. Jahrestag der Verkün- beim Bundeskanzler vom 23. Januar 1996 erinnern dung unserer Verfassung. Streiks gegen die politi- und daraus zitieren. sche Verantwortung des Deutschen Bundestages sind nicht Aufgabe der deutschen Gewerkschaften. (Zurufe von der SPD) Dadurch würden die Grenzen der Tarifautonomie überschritten. - Hören Sie doch bitte zu! Der Bundeskanzler ist ernst zu nehmen, und die Tarifpartner sind ernst zu (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) nehmen. Die Frage, ob Sie ernst zu nehmen sind, be- antworten die Wählerinnen und Wähler. Deswegen - und dagegen sollten Sie sich wenden - dürfen wir es nicht hinnehmen, wenn Sprecher von (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU Einzelgewerkschaften - beispielsweise der IG-Me- und der F.D.P. - Zurufe von der SPD) dien - nicht ausschließen, wie erklärt worden ist, daß Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996 9353

Michael Glos es bei uns im Land einen Generalstreik gegen die Ich kann dem Deutschen Gewerkschaftsbund nur Maßnahmen des freigewählten Parlaments geben wünschen, daß diese Kraft größer ist als die Kraft, die wird. sich hier im Bundestag immer darstellt. (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Das tun wir doch (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Wir setzen auf gar nicht! Stellen Sie doch keine Papp die CDU-Kollegen in den Gewerkschaften!) ameraden auf!) Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich halte Die aktuellen Kampagnen der Gewerkschaften von einem so unguten Zusammenspiel überhaupt nützen also weder dem Arbeitsuchenden noch denje- nichts. Die Politik hat ihre Verantwortung wahrzu- nigen, die Arbeitsplätze schaffen können. Die Ge- nehmen, und auch die Arbeitnehmerorganisationen werkschaften täten sehr gut daran - ich hoffe, da haben ihre Verantwortung wahrzunehmen. Dann siegt die Vernunft -, diesen Weg nach rückwärts wie- funktioniert unsere Demokratie. Ihr falscher Klüngel der zu verlassen. hat noch zu nichts geführt. Beim Kanzlergespräch am 23. Januar hat die Bun- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) -desregierung dargelegt, was sie mit ihrem 50 Punkte-Programm beabsichtigt. Dieses 50-Punkte- Bundespräsident Herzog hat in seiner Rede anläß- Programm war also bekannt. Sie hat ihre grundsätzli- lich der Eröffnung der Hannover-Messe gemahnt: chen Überlegungen dafür dargelegt. Darauf hat auch unser Fraktionsvorsitzender Wolfgang Schäuble hin- Wir haben uns einen Umfang kollektiver sozialer gewiesen. Deswegen habe ich es eigentlich nicht Sicherheit zugelegt, der nicht nur an die Finan- verstanden, warum Herr Schulte in seiner Reaktion zierungsgrenze stößt, sondern dessen Legitimität jetzt behauptet, man durchaus hinterfragen kann. (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Haben Sie das In der Tat, unser Sozialstaat überschreitet die wirt- wirklich nicht verstanden?) schaftliche Leistungsfähigkeit unserer Volkswirt- schaft, und wir müssen das wieder zueinanderbrin- mit den Gewerkschaften sei über das Programm der gen. Bundesregierung im Kanzleramt nicht gesprochen worden. „Deutschlands System des sozialen Konsenses ist zum Hindernis für den Wandel geworden" , analy- (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Das sind zwei sierte die „Inte rnational Herald Tribune " vorgestern. verschiedene Papiere!) Wir wollen den Konsens; aber der Konsens darf nicht Da entsteht ein bißchen der bittere Eindruck, hier zum faulen Kompromiß werden, mit dem wir unsere möchte jemand nachträglich nichts mehr von seiner Zukunftsfähigkeit verspielen. Das ist die Maxime un- Verantwortung wissen. seres Handelns. (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Das ist unver Die Beiträge zur 'Sozialversicherung müssen bis schämt!) zum Jahr 2000 auf unter 40 Prozent gesenkt werden. -k- Deutschland steht damit nicht vor einem dramati- - Auf Ihren Zwischenruf „unverschämt! " möchte ich schen Sozialabbau, wie Sie den Menschen glauben doch - - machen wollen. Am 1. Juli wird die zweite Stufe der (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Sie wissen ganz Pflegeversicherung, die stationäre Pflege, in Kraft ge- genau, daß Sie jetzt nicht mehr bei der setzt. Dies erwähne ich, um zu zeigen, daß wir auch Wahrheit sind! - Detlev von Larcher [SPD]: gestalten und neue Sozialleistungen in Kraft setzen. Es ist ihm doch egal, ob er bei der Wahrheit (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Das mußten wir ist!) Ihnen auch mühsam abringen!) - Da täuschen Sie sich. - Ich habe hier eine Agentur- meldung in der Hand, die besagt - es gab jedoch Die Familien - ein ganz wichtiger Schwerpunkt - auch viele Zeugen dafür -, daß der Vorsitzende des erhalten seit dem letzten Jahr zusätzlich mehr als Deutschen Gewerkschaftsbundes am Dienstag in 7 Milliarden DM jährlich. Das Sozialbudget in Ihrer Fraktion gewesen ist. In der Agenturmeldung Deutschland wird in diesem Jahr insgesamt rund heißt es: Schulte rief denn auch vor den versammel- 1 200 Milliarden DM betragen; im Jahre 1991 waren ten SPD-Abgeordneten im Sitzungssaal der Fraktion es 894 Milliarden DM. zum Schulterschluß von Sozialdemokraten und Ge- Die strukturellen Kürzungen der Koalition betra- werkschaften gegen das Bonner Sparpaket auf. gen knapp 2 Prozent des deutschen Sozialbudgets; (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne das entspricht nicht einmal der nominellen Steige- ten der PDS) rungsrate von 1995. Wer jetzt deswegen von einem sozialen Kahlschlag spricht, ist nicht nur unmäßig, - Ich will trotzdem zu Ende zitieren: Er setze bei der sondern verkennt die Notwendigkeiten. Mobilisierung für die Großkundgebung des DGB am 15. Juni in Bonn auf die organisatorische Kraft der (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) SPD vor Ort. Ich kann Ihnen nur empfehlen: Werfen Sie einmal (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne einen Blick über den Zaun, in andere Länder, die ten der PDS - Heiterkeit bei der CDU/CSU nicht wie wir die nationale Herausforde rung der Fi- und der F.D.P.) nanzierung der Wiedervereinigung vor sich haben! 9354 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996

Michael Glos Sie werden feststellen, daß auch sie zum Handeln ge- dienen, deren Anliegen zu beschreiben, sondern sie zwungen sind. zu vernebeln. Schauen Sie doch einmal in das Land, das Sie im- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne mer als ein Musterland dargestellt haben, nämlich ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN nach Schweden, das in den letzten Jahrzehnten weit- und der PDS) gehend von Sozialdemokraten und Sozialisten re- giert worden ist! Do rt will man das Staatsdefizit um Dieses Mal hat man sich zu Sprachschöpfungen ge- rund 10 Prozent verringern. Geplant sind globale radezu Orwellschen Ausmaßes entschlossen, zu Ausgabenkürzungen, Kürzungen der Sozialleistun- Sprachschöpfungen, für die die Wertung „grobe Täu- gen, die Anhebung der Pensionsgrenze und Eingriffe schung des Parlaments und der Öffentlichkeit" ein bei der Familienförderung. Seit Beginn der 90er außerordentlich höfliches Urteil darstellt. Jahre hat Schweden bei der Lohnfortzahlung einen (Beifall bei der SPD und der PDS) Karenztag sowie Lohnkürzungen am zweiten und am dritten Krankheitstag eingeführt. Da nennt die Koalition „Arbeitsrechtliches Be- schäftigungsförderungsgesetz", was eigentlich In Österreich hat die SPÖ mit der ÖVP eine zwei- „Gesetz zur Beseitigung des Kündigungsschutzes jährige Nullrunde im öffentlichen Dienst, Einschnitte und zur Kürzung der Lohnfortzahlung im Krankheits- bei der Frühpensionierung und Einsparungen in der fall" heißen müßte. Renten- und Arbeitslosenversicherung sowie bei der Ausbildungsförderung vereinbart. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Meine sehr verehrten Damen und Herren, unser Paket für mehr Wachstum und Beschäftigung ent- Und „Wachstums- und Beschäftigungsförderungs- spricht den politischen und gesellschaftlichen Her- gesetz" heißt, was eigentlich „Gesetz zur Verlänge- ausforderungen und auch unserer internationalen rung der Lebensarbeitszeit und zum Ausverkauf der Wettbewerbsfähigkeit, die wir stärken müssen. Ar- Vermögenswerte der Rentenversicherung" genannt beitsplätze können nur in gesunden, investierenden werden müßte. Betrieben entstehen, die ihr Geld im nationalen und internationalen Wettbewerb selbst verdienen kön- (Beifall bei der SPD) nen. Arbeitsplätze entstehen nicht durch Sprüche im Deutschen Bundestag. Wenn die inhaltlichen Lobpreisungen, mit denen die Koalition ihre eigene Gesetzesarbeit derzeit be- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) gleitet, stimmten, dann frage ich, warum sie sich nicht dazu bekennt, sondern statt dessen schon im Deswegen müssen wir jetzt gemeinsam - diese Titel ihre wahren Absichten leugnet. Herausforderung richtet sich nicht nur an die die Re- gierung tragenden Parteien - unsere Pflicht tun und (Beifall bei der SPD) die Rahmenbedingungen schaffen, die für die Zu- kunft erforderlich sind. Wir müssen dabei vor allen Meine Damen und Herren, es ist eine Frage der gu- Dingen an diejenigen denken, die keinen- Arbeits- ten Sitten, die das ganze Haus beantworten muß, wie platz besitzen. Wir müssen an die Jüngeren denken, lange es sich eigentlich noch eine dera rtige Verhöh- die in den Arbeitsmarkt drängen. nung der parlamentarischen Arbeit bieten lassen will. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der SPD) Wir müssen eine Politik gestalten, die ihnen eine ent- Bundesregierung, CDU/CSU und F.D.P. reden sprechende Zukunft ermöglicht. ständig von der Notwendigkeit, die öffentlichen Ich sage es noch einmal: Eine Politik für Arbeit ist Haushalte zu konsolidieren, die finanzielle Lei- die allerbeste Sozialpolitik. Ich appelliere deswegen stungsfähigkeit der Sozialversicherungssysteme wie- an alle politisch verantwortlichen Kräfte im Lande: derherzustellen, die ökonomischen Rahmenbedin- Helfen Sie mit, daß dieses Paket rasch umgesetzt gungen in Deutschland zu modernisieren oder unser wird! Steuerrecht zu entrümpeln. Ich frage mich: Wer hat eigentlich die öffentlichen Haushalte so in Unord- Danke schön. nung gebracht, daß heute konsolidiert werden muß? (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS) Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster Ich frage mich: Wer hat die finanzielle Leistungsfä- spricht der Kollege Rudolf Dreßler. higkeit unserer Sozialversicherung durch eine fal- sche Politik aufs Spiel gesetzt? Rudolf Dreßler (SPD): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die heute zur Be- (Zurufe von der SPD: Kohl! Blüm!) ratung anstehenden Gesetzentwürfe der Fraktionen Wer, meine Damen und Herren, hat die ökonomi- von CDU/CSU und F.D.P. haben den Semantikfach- schen Rahmenbedingungen so vernachlässigt, daß leuten der Koalition besondere Fähigkeiten abver- wir heute einen Modernisierungsstau beklagen? langt. Es ist ja schon fast Tradition, daß die Titel von Gesetzentwürfen der Regierungsmehrheit nicht dazu (Lachen bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107, Sitzung, Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996 9355

Rudolf Dreßler Wer hat die Steuergesetze so gestaltet, daß sie heute len für das erste Quartal 1996 mit einer Schrumpfung entrümpelt werden müssen? des Bruttoinlandsprodukts um 0,5 Prozent belegen diese Tendenz. Die Wachstumsziffer für das gesamte (Zurufe von der SPD: Kohl!) Jahr 1996 werde allenfalls eine schwarze Null, sagen Wer regiert dieses Land eigentlich seit 14 Jahren? die meisten Vertreter der ökonomischen Zunft, werde also zwischen 0,1 und 0,5 Prozent liegen. (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Keiner! - Weitere „Schwarze Null", meine Damen und Herren, dieser Zurufe von der SPD) Begriff paßt zu dieser Bundesregierung, die hat näm- Die Koalition tut heute so, als habe sie mit den ver- lich gleich mehrere davon. gangenen 14 Jahren nichts zu tun, als sei sie gleich- (Beifall bei der SPD und der PDS) sam außer Haus gewesen und müsse jetzt, in heimat- liche Gefilde zurückgekehrt, erst einmal Ordnung Was diese Bundesregierung angesichts der akuten schaffen. Krisensymptome in unserem Land heute als Sparpro- gramm vorlegt, heißt nur so. Es ist in Wahrheit ein (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Programm zur Einleitung einer deflationären Wi rt GRÜNEN und der PDS) -schaftsentwicklung und zur Stabilisierung sozialer Das, meine Damen und Herren, ist Täuschung. Die Einseitigkeit und Ungerechtigkeit. Das Gesetzeskon- Wahrheit nämlich ist: Die Koalition aus CDU/CSU volut, das wir beraten, löst keines der drängenden Probleme, wirtschaftspolitisch nicht, finanzpolitisch und F.D.P. hat unser Land in die Krise geführt, die sie heute bekämpfen zu müssen vorgibt. nicht und gesellschafts- und sozialpolitisch schon gar nicht. Im Gegenteil, es trägt dazu bei, daß sich die (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Probleme verschärfen. Wir werden im nächsten Jahr vor den gleichen, sich dann aber noch schärfer stel- Hier dienen sich Leute der Bevölkerung als Gärtner lenden Fragen stehen. an, die in Wahrheit die Böcke sind. Ökonomisch und finanzwirtschaftlich steht dieses (Beifall bei der SPD und der PDS) Programm nicht in der Tradition von Ludwig Erhard, Nun begleiten Unternehmerfunktionäre die eigen- sondern in der von Heinrich Brüning. tümlichen Versuche dieser Regierung, wieder halb- (Beifall bei der SPD) wegs Ordnung zu schaffen, mit kaum verhüllter An- erkennung und möchten sich nach Kräften an der Gesellschaftspolitisch will es trennen und spalten, Problemlösung beteiligen. Sie vergessen dabei aller- statt zusammenzuführen und eine notwendige ge- dings, was offenkundig ist: Die Bundesregierung, meinsame Kraftanstrengung auch wirklich möglich meine Damen und Herren, löst keine Probleme; sie zu machen. Ich weiß nicht, ob sich die Damen und ist das Problem. Herren aus der CDU je gefragt haben, was ein Jakob Kaiser oder ein Karl Arnold zu den gesellschaftspoli- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE tischen Auswirkungen eines solchen Gesetzesmach- GRÜNEN und der PDS) - werkes gesagt haben würden. Aber eines weiß ich: Damit das klar ist: Wir verweigern uns nicht unse- Was deren Epigonen, die Eppelmänner, die Vogts rer Verantwortung, die wir auch als Opposition ha- oder die Kellers dazu sagen, interessie rt in CDU und ben, wenn es darum geht, unser Land wieder in Ord- CSU heute keinen Menschen mehr. nung zu bringen. Aber wir werden entschiedenen (Beifall bei der SPD - Anke Fuchs [Köln] Widerstand leisten, wenn die Sozialdemokratie auf [SPD]: Leider wahr!) kaltem Wege in eine Mitverantwortung für die -Fol- gen einer Politik gebracht werden soll, die sie immer Diejenigen, die von sich behaupten, Arbeitneh- bekämpft und die sie nie gewollt hat. merinteressen in den Unionsparteien zu vertreten, sind eine vernachlässigbare Größe geworden. Sie (Beifall bei der SPD) dürfen bei der Vorlage solcher Gesetze kurz öffent- Zum erstenmal in der Nachkriegsgeschichte der lich erklären, warum sie gegen die Einschränkung deutschen Wirtschaft haben wir eine Aufschwung- der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall oder die Be- phase erlebt, die mit ihrer einjährigen Dauer denk- seitigung des Kündigungsschutzes sind, um dann bar kurz war und sich von den bisherigen vier oder hinterher besser erläutern zu können, weshalb das fünf Jahre anhaltenden Konjunkturaufschwüngen alles eigentlich gar nicht so schlimm ist. grundsätzlich unterschieden hat. Die sich abzeich- (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Und sie zuge nende Rezession beginnt auf einem extrem hohen stimmt haben!) Sockel der Massenarbeitslosigkeit, und sie beginnt mit weitgehend geplünderten Haushalts- und Sozial- Nein, die Vertreter der Sozialausschüsse der Union kassen bei gleichzeitig hoher Abgabenbelastung für im Parlament vertreten nicht die Arbeitnehmerinter- Arbeitnehmer und Bet riebe. essen, sie sichern vielmehr einseitigen Arbeitgeber- interessen, deren Wahrnehmung sich die Regierung Die Möglichkeiten, einer weiteren Verschlechte- Kohl offenkundig zu eigen gemacht hat, die parla- rung der Lage politisch entgegenzuwirken, sind so- mentarische Mehrheit. mit eng begrenzt. Auch das ist eine Folge regie- rungsamtlicher Politik. Die Fachleute rechnen damit, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne daß die Wirtschaft im laufenden Jahr weitgehend sta- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN gniert oder nur noch geringfügig anwächst. Die Zah und der PDS) 9356 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996

Rudolf Dreßler Ich wage die Prognose: Jeder einzelne von Ihnen blanke Ideologie, und die ist Ihnen von der F.D.P. ja wird der Aufhebung des Kündigungsschutzgesetzes nicht fremd. und der Einschränkung der Lohnfortzahlung im ent- scheidenden Fall letztendlich zustimmen. (Beifall bei der SPD, der PDS sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE (Zurufe von der SPD: Leider wahr!) GRÜNEN) CDU/CSU und F.D.P. geben vor, sie wollten mit In dem Bestreben, die Rentenkassen zu entlasten, diesem Gesetz helfen, Arbeitsplätze zu schaffen. Ja, werden im gleichen Atemzug der Arbeitslosenversi- wer soll das denn eigentlich noch glauben? Bei Amts- cherung die Kosten belastet und millionenfach junge antritt dieser Regierung fehlten 1,5 Millionen Ar- Menschen der beruflichen Perspektive beraubt - ein beitsplätze. Heute, nach fast 14 Jahren politischer konzeptionsloses, wirres Manöver, das ein Loch Tätigkeit der Herren Kohl und Blüm, fehlen über stopft, indem es ein anderes aufreißt, finanzwirt- 7 Millionen wettbewerbsfähige Arbeitsplätze. Diese schaftlich ein Nullsummenspiel und gesellschaftspo- Regierung, in deren Amtszeit sich das Defizit an Ar- litisch zerstörerisch, weil es jung und alt gegeneinan- beitsplätzen fast verfünffacht hat, verspricht neue Ar- der in Stellung bringt. beitsplätze, und zwar durch eine Fortführung und In- CDU/CSU und F.D.P. schaffen den Kündigungs- tensivierung einer Politik, die das Defizit erst herauf- schutz für Betriebe mit bis zu zehn Vollzeitkräften ab. beschworen hat. Teilzeitkräfte werden dabei anteilsmäßig berücksich- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ tigt, was ja nichts anderes heißt, als daß es etwa auch DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der in Betrieben mit bis zu 20 Halbzeit- oder 33 Drit- PDS) telzeitbeschäftigten zukünftig keinen Kündigungs- schutz mehr geben wird. Dies offenbart eine geradezu abenteuerliche Form (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Wie wahr!) der politischen Ignoranz. Wie weit will diese Regie- rung es denn eigentlich noch treiben? Was muß denn Schätzungen der von diesen Maßnahmen betroffe- eigentlich noch geschehen, damit sie sich endlich nen Arbeitnehmer schwanken zwischen acht und eingesteht, daß nicht ein überforderter Sozialstaat, zwölf Millionen Menschen. Man stelle sich vor: Ge- der angeblich zu Faulenzertum und Drückebergerei schätzt bis zu zwölf Millionen Menschen sind zu- erzieht, sondern sie selbst und ihre verhängnisvolle künftig in Deutschland ohne Kündigungsschutz, ein Politik es sind, die den Arbeitsmarkt an den Rand des Recht, das selbst in einem Sozialstaat auf Primitivni- Abgrundes geführt haben? veau eigentlich eine Selbstverständlichkeit ist. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne (Beifall bei der SPD und der PDS) ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Herr Blüm sagt, das schaffe neue Arbeitsplätze. Ja, Was muß denn eigentlich noch geschehen, wie wie viele denn, Herr Blüm? Ich will von dieser Regie- hoch müssen die Arbeitslosenzahlen noch steigen, rung wissen, mit wieviel neuen Arbeitsplätzen sie rechnet, wenn zukünftig Millionen von Menschen bis diese Regierung endlich ihre Politik- ändert, bis in diesem Land endlich wieder Wirtschaftspolitik be- ohne Schutz vor Entlassung sein werden. Herr Blüm trieben wird, die ihren Namen verdient und die auf kann darauf natürlich keine Antwort geben, denn er Orthodoxie und Dogmatismus verzichtet? weiß selbst, daß das alles Quark ist. Kein einziger neuer Arbeitsplatz wird dadurch geschaffen. Die CDU/CSU und F.D.P. wollen Arbeitsplätze schaf- Wahrheit ist doch: Wer es zukünftig erleichtert, daß fen und verlängern die Lebensarbeitszeit generell Arbeitnehmer gefeuert werden können, schafft keine auf das 65. Lebensjahr. Wie soll das denn zusammen- neuen Arbeitsplätze, sondern erleichtert die Beseiti- passen? gung bestehender. ( [F.D.P.]: Das paßt!) (Beifall bei der SPD) Arbeitszeitverlängerung schafft keine Arbeitsplätze, Nicht weniger, sondern mehr Arbeitslose werden die sie produziert neue Arbeitslose, gnädige Frau. Konsequenz sein. (Beifall bei der SPD und der PDS sowie bei Die Bundesregierung will die Lohnfortzahlung im Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE Krankheitsfall um sage und schreibe 20 Prozent kür- GRÜNEN) zen. Der kranke Arbeitnehmer bekommt zukünftig zum Beispiel statt 3 500 DM nur noch 2 800 DM im Sie zwingen ältere Arbeitsplatzbesitzer durch die Monat. Darf ich den Finanzakrobaten Blüm fragen, Androhung von Rentenkürzungen um bis zu ob er den Sozialakrobaten Blüm, also sich selbst, offi- 18 Prozent, auf ihrem Arbeitsplatz zu verharren, an- ziell gefragt hat, wie groß die Einnahmelöcher sein statt in Rente zu gehen, und verhindern so, daß Jün- werden, die er durch diese Beitragsausfälle in der gere in den Arbeitsmarkt nachrücken. Renten-, Arbeitslosen- und Pflegeversicherung her- (Beifall bei der SPD und der PDS sowie bei aufbeschwört? Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: So weit rechnet GRÜNEN) er nicht!) Das können Sie nun drehen und wenden, wie Sie Wieviel fehlt Herrn Seehofer in der Krankenversi- wollen. Das ist keine Arbeitsmarktpolitik; das ist cherung, wieviel Herrn Waigel bei der Lohn- und Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996 9357

Rudolf Dreßler Einkommensteuer? Kann dem Hause einmal einer welche Basis die Auseinandersetzung um das aus dieser Chaostruppe den Sinn solchen finanzwirt- Kürzungspaket gelangen wird, wenn sie nicht um- schaftlichen Irrwitzes deutlich machen, meine Da- kehrt. men und Herren? Die Arbeitnehmerschaft versteht diese Auseinan- (Beifall bei der SPD und beim BÜNDNIS dersetzung als etwas Grundsätzliches. Sie wird einen 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten Kampf führen, in dem sie ihren Anspruch auf ihren der PDS) Platz in der Gesellschaft zu behaupten gedenkt, Vor allem aber: Wieviel neue Arbeitsplätze werden wenn man sie dazu zwingt. CDU/CSU und F.D.P. denn dadurch geschaffen? Zu hören war dazu bisher sollten sich darüber im klaren sein, wo die deutsche jedenfalls noch nichts. Meine Vermutung ist: Man Sozialdemokratie in dieser Auseinandersetzung ste- wird dazu auch nichts hören. hen wird. In diesen Zusammenhang gehört auch eine Maß- Mit dem vorliegenden Sparpaket geht es nicht nur nahme, über die eigentlich erst morgen zu beraten um die Stellung der Arbeitnehmer und um ihre sein wird. Herr Seehofer setzt nämlich noch eines Rechte. Es geht auch um das zentrale Instrument un- darauf: Er kürzt auch noch das Krankengeld um serer Sozialversicherung, um die gesetzliche Renten- 10 Prozent. Man stelle sich vor, Herr Blüm kürzt kran- versicherung. Wir haben dazu in diesem Hause in ken Arbeitnehmern die Lohnfortzahlung um 20 Pro- den letzten Wochen mehrere heftige Debatten ge- zent, und wenn die ausgelaufen ist, kommt Herr See- führt. Der Bundesminister für Arbeit und Sozialord- hofer und kürzt auch noch um 10 Prozent! Wissen Sie nung hat meine damalige Prognose, der Rentenversi- eigentlich, welchen Personenkreis Sie damit treffen? cherungsbeitrag müsse am 1. Januar 1997 auf deut- Das sind Menschen, die länger als sechs Wochen lich über 20 Prozent - wahrscheinlich auf 20,4 Pro- krank sind, Schwerkranke mit Krebs, Herzinfarkten, zent - angehoben werden, als Horrorspektakel abge- schlimmen Infektionen. Neben all dem menschlichen tan. Seit wenigen Tagen wissen wir aus dem Munde Leid, das diese Menschen zu tragen haben, beein- des Vorstandsvorsitzenden des Verbandes der Ren- trächtigen die Herren von der Bundesregierung de- tenversicherungsträger: Es werden nicht 20,4, es ren und ihrer Familien ökonomische Basis nachhaltig werden sogar 20,6 Prozent werden. und fügen noch neues Leid hinzu. Die Realität, Herr Blüm, ist sogar schlimmer als das Ich frage die beiden Minister: Wie weit wollen Sie vermeintliche Horrorspektakel. Der Verantwortliche eigentlich noch gehen? dafür sind Sie - damit das klar ist. (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Wenn Sie sich angesichts dera rtiger Gesetze zu der und der PDS) Behauptung erdreisten, das sei notwendig, um die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit unseres Landes zu Herr Blüm, Sie haben die Öffentlichkeit getäuscht. sichern, können Sie sich dann eigentlich- noch schä- Keine Ihrer Zahlen hatte Substanz oder stimmte. Das men? Defizit beträgt nicht 10 Milliarden DM - wie Sie hier vor diesem Hause behauptet haben -, sondern mitt- Angesichts der heftigen öffentlichen Reaktionen lerweile das Doppelte, also 20 Milliarden DM. Mit auf das sogenannte Sparpaket der Koalition aus seiner Taktik des Vertuschens und Verdrängens CDU/CSU und F.D.P. werden nicht wenige Mitglie- spielt Herr Blüm den Systemgegnern unserer Ren- der dieses Hauses Gespräche mit den Arbeitneh- tenversicherung, die in seiner Partei sitzen, indirekt mern führen. Ich will von einem der Gespräche be- in die Hände. richten, die ich geführt habe. Auf die Frage, warum er sich an den Protestaktionen beteilige, sagte mir (Beifall bei Abgeordneten der SPD) der Gesprächsteilnehmer: Ich tue das nicht nur, um gegen die empörende Ungerechtigkeit dieser Ge- Denn denen paßt die ganze Richtung nicht. Dabei ist setze zu protestieren; ich tue das vor allem, um mei- das System von seiner Struktur her gesund. Die aktu- nen Beitrag zu leisten, daß meine Kinder und Enkel ellen Schwierigkeiten sind Ergebnis politischer Feh- mit ihren Rechten und ihrer Stellung als Arbeitneh- ler dieser Regierung, die ihm aus Gründen der Op- mer nicht eines Tages da landen, wo mein Großvater portunität Lasten auferlegte, die es nicht tragen vor vielen Jahren begonnen hat. Eine solche Ent- kann. wicklung schon im Keime ersticken zu helfen, das ist (Beifall bei der SPD) für mich eine Frage der Ehre. (Lebhafter Beifall bei der SPD - Beifall beim Die im Kürzungspaket aufgeführten gesetzlichen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS) Maßnahmen weisen aus, daß die Regierung nicht be- reit ist, daraus Konsequenzen zu ziehen. Sie werden Nun mag das alles aus dem Lebensmilieu von daher die aktuellen Probleme nicht lösen. Darüber CDU/CSU und F.D.P. verbannt worden sein. Jeder hinaus brechen Sie mit den Vereinbarungen, die die aber, der sich mit unserer Gesellschaft und ihrer Ge- Koalitionsfraktionen und die SPD anläßlich der Ren- schichte beschäftigt, weiß: Das Wort „Ehre" gehört tenreformgesetze miteinander getroffen haben. Die nicht zu den gerade häufig gebrauchten Beg riffen Regierung hat durch ihre Politik den Rentenkonsens bei Arbeitnehmern. Sie gehen damit äußerst sparsam aufgekündigt und die notwendige Vertrauensbasis um. Die Regierung möge sich bitte klarwerden, auf untergraben. 9358 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996

Rudolf Dreßler Für die sozialdemokratische Bundestagsfraktion Warum verschweigen Sie das, Herr Blüm? Vereinbart stelle ich dazu fest: Wir nehmen das zur Kenntnis wurde, daß wir gemeinsam eine eigenständige Ver- und erklären hiermit: Der Rentenkonsens ist been- besserung der Alterssicherung für Frauen ab diesem det. Jahr auf den Weg bringen, aber doch nicht, daß wir (Beifall bei der SPD) die Lebensarbeitszeit für Frauen ab nächstem Jahr auf 65 Jahre anheben. Auch das muß klar bleiben: Die SPD wird sich an der von der Regierung ins Leben gerufenen Renten- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne kommission nicht beteiligen. Die notwendige Berei- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN nigung der aktuellen Finanzkrise der Rentenversi- und der PDS) cherung und eine spürbare kurz- und mittelfristige Beitragsentlastung sind auf dem Weg, den die Bun- Sie wissen genau wie wir, eine Prüfung der Verlän- desregierung mit ihrem Kürzungspaket einschlägt, gerung der Lebensarbeitszeit im Lichte des Arbeits- nicht möglich. Auch hier gilt: Kein Problem wird marktes käme schon 1996 zu dem Ergebnis: arbeits- wirklich gelöst. Die vorgesehenen rentenversiche- marktpolitisch nicht angeraten. Vor diesem Hinter- rungsrechtlichen Maßnahmen passen allerdings grund stelle ich fest: Herr Blüm tut heute genau das nahtlos in die sozialpolitische Inkompetenz, die das Gegenteil von dem, was 1989 vereinbart worden ist. gesamte Gesetzeskonvolut auszeichnet. Auch hier (Beifall bei der SPD - Dr. Peter Struck gilt das Motto: Wir schließen eine Lücke, indem wir [SPD]: Unerhört!) eine andere aufreißen. Meine Damen und Herren, wer die Altersgrenzen Und zum letzten - damit auch das klar ist -: Zum anhebt, wer die Rehabilitationsleistungen ohne Sinn rentenversicherungsrechtlichen Teil des sogenann- und Verstand so zusammenstreicht, daß bei den Re- ten Kürzungsprogrammes wird es keine Zustimmung habilitationseinrichtungen rund 18 000 Arbeitsplätze der SPD geben. Wir verlangen zur Vermeidung einer überflüssig werden, wer an der arbeitsmarktbeding- deutlichen Beitragssatzanhebung zum 1. Januar ten Berufs- und Erwerbsunfähigkeit herumbastelt, 1997 eine Erstattung der Aufwendungen für das erreicht nur eines: eine Verschiebung der Finanzla- Fremdrentengesetz durch den Bund, Erstattung der sten von der Renten- in die Arbeitslosenversiche- Aufwendungen für die Auffüllbeträge Ost durch den rung. Bund in einem ersten gemeinsamen Schritt, Erstat- (Beifall bei der SPD) tung der Aufwendungen für das Zweite SED-Un- rechtsbereinigungsgesetz durch den Bund und end- Wenn die Regierung so tut, mit den angestrebten lich eine Debatte darüber, wie stark sich die Unter- Maßnahmen sei die Beitragssatzanhebung zum nehmer an den beabsichtigten weiteren Vorruhe- 1. Januar 1997 in erträglichem Rahmen zu halten, standsregelungen zu beteiligen haben. täuscht sie erneut die Öffentlichkeit. Die Wahrheit ist: Alle Maßnahmen wirken sich bestenfalls mittelfri- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne stig aus, können also den Beitragssatzanstieg nicht ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN verhindern. und der PDS) - Was die vorgesehene Verlängerung der Lebensar- Denn dies allein verhindert eine Beitragssatzanhe- beitszeit auf 65 Jahre angeht, die schrittweise bereits bung, und man hätte die Chance, den Beitrag zum 1997 für Frauen wirksam werden soll - was haben Stichtag 1. Januar 1997 stabil zu halten. die Frauen Ihnen eigentlich getan, daß Sie sie jetzt Das vorliegende Gesetzespaket wird in keinem sei- plötzlich so abstrafen müssen? - ner Einzelbestandteile die Zustimmung der SPD- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne Bundestagsfraktion finden können. Es ist wirtschafts- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN politisch wirkungslos, finanzpolitisch schädlich, ver- und der PDS) teilungspolitisch einseitig und sozialpolitisch ver- hängnisvoll. Dieses Paket ist so konstruiert, daß es im und 2001 für alle eingeführt werden soll, so leidet der nächsten Jahr die nächste Kürzungsrunde geradezu Bundessozialminister offenkundig an Gedächtnis- provoziert, ohne daß ein einziges Problem wirklich schwund. Wenn er so tut, als sei das gemeinsam von gelöst wäre. Koalition und SPD im Rentenreformgesetz vereinbart worden und als werde diese Vereinbarung im Spar- (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Das wollen die!) paket gleichsam nur vorgezogen, dann ist das eine reichlich freche Verbiegung von Tatsachen. An der mit diesem Gesetz in Bewegung gesetzten Spirale nach unten wird die SPD-Bundestagsfraktion (Beifall bei der SPD) nicht mitdrehen. Die halbe Wahrheit, meine Damen und Herren, ist (Anhaltender Beifall bei der SPD - Beifall nämlich auch Unwahrheit. Vereinbart ist etwas ande- bei der PDS sowie bei Abgeordneten des res. Vereinbart ist, daß die Notwendigkeit der im BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Zuruf Rentenreformgesetz enthaltenen schrittweisen Ver- von der SPD: Das sind endlich einmal klare längerung der Lebensarbeitszeit von beiden Seiten Verhältnisse!) gemeinsam im Lichte der Entwicklung am Arbeits- markt noch einmal überprüft werden soll, und zwar im Jahre 1997. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort hat jetzt (Beifall bei der SPD) die Kollegin Kerstin Müller. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996 9359

Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Was noch schlimmer ist: Ich glaube, Sie verspielen NEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! die Chancen zu einer wirklichen Modernisierung, Es gibt vieles, was wir der Regierung vorwerfen kön- die es auch in einer Krise gibt. Wir, meine Fraktion, nen, aber eines sicher nicht - wenn man sich das meinen aber: Modernisieren heißt Umsteuern. Mo- Sparpaket anschaut -, nämlich daß sie inkonsequent dernisierung verlangt neue Wege. Sie aber bleiben ist. Herr Glos hat das heute morgen auch noch ein- auf den alten Wegen. mal gezeigt. Was Sie uns heute vorgelegt haben, ist Ihre Antwort auf die fehlenden 6 Millionen Ar- die konsequente Fortsetzung einer Politik, mit der beitsplätze ist der Abbau von Arbeitnehmerrechten. Sie dieses Land seit 1983 immer weiter verändert ha- Glauben Sie denn im E rnst, daß neue Arbeit entsteht, ben. Es ist die Fortsetzung einer Politik der Umvertei- wenn Sie den Kündigungsschutz aushebeln? Glau- lung von unten nach oben, des Abbaus von Arbeit- ben Sie, daß es dann mehr Aufträge gibt, daß die Fir- nehmerrechten - hier kann ich Ihnen, Herr Dreßler, men mehr Umsatz machen und deswegen mehr nur zustimmen - und des Abbaus von sozialen Stan- Leute beschäftigen? Das ist doch völlig absurd. dards. Die Heraufsetzung des Schwellenwertes beim (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Kündigungsschutz von fünf auf zehn Beschäftigte sowie bei Abgeordneten der SPD) setzt die Beschäftigten in 80 Prozent der Betriebe völ- lig der Willkür von Unternehmensentscheidungen Das Ergebnis haben wir vor uns: Dieses Land aus. steckt in einer Krise; es ist die schlimmste Beschäfti- gungskrise in der Geschichte der Bundesrepublik. Es (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Ein Drittel der ist eine Krise der sozialen Sicherungssysteme. Die Arbeitnehmer!) Antwort hierauf darf nicht Flickschusterei sein. Nein, - Ein Drittel der Arbeitnehmer. ich glaube, Ihre Vorschläge müssen sich daran mes- sen lassen, ob Sie eine Antwort auf die zentralen Pro- Das betrifft nicht nur viele Verkäuferinnen im Han- bleme der Zukunft geben. del; (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Alle!) Meiner Meinung nach brauchen wir eine umfas- sende Modernisierung. Wir brauchen zukunftsfähige es betrifft Schlosser, Kfz-Mechaniker, einen großen Arbeitsplätze, zum Beispiel durch den ökologischen Teil der Schreiner. 8 Millionen Menschen, die heute Wandel; dies ist heute nicht angesprochen worden. im Handel relativ gesicherte Arbeitsplätze haben, Wir brauchen mehr Verteilungsgerechtigkeit und ei- wird diese Existenzsicherheit entzogen. nen solidarischen Umbau des Sozialstaates, der auch Dabei erscheint mir das so sinnlos. Es gibt eine künftigen Generationen Sicherheit gibt. Umfrage des Zentralverbandes des Deutschen Hand- werks. Danach sehen 84 Prozent aller befragten Han- Die Regierung gibt auf diese zentralen Fragen im- delsbetriebe in dem Schwellenwert von fünf Beschäf- mer dieselbe Antwort. Herr Glos, Sie haben noch tigten kein Beschäftigungshindernis. Da frage ich heute in gleicher Weise geantwortet. Sie begünsti- mich doch, was diese Maßnahme eigentlich soll. gen Unternehmensgewinne. Sie entlasten die Unter- nehmen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Ideologie!) Seit 1982 haben Sie die Belastung der Unterneh- mensgewinne mit direkten Steuern insgesamt um die Ich kann hier nur das „Handelsblatt" vom April Hälfte gesenkt. Das Wirtschaftsministerium bilan- dieses Jahres zitieren. Da wird nämlich klar gesagt, zierte nach dem Standortsicherungsgesetz 1993 die daß es heute schon genügend Möglichkeiten gibt. niedrigsten Ertragsteuern, die es je in der Bundesre- Über das Instrument befristeter Verträge zum Bei- publik gegeben hat. Bei den Arbeitnehmern hinge- spiel kann heute jeder Kleinbetrieb ohne rechtliches gen stieg die Steuerbelastung des Einkommens im Risiko kurzfristig Beschäftigte einstellen. Ein Be- gleichen Zeitraum erheblich an. schäftigungshindernis ist der Kündigungsschutz also schon heute nicht. Heute stehen wir vor den Folgen dieser Umvertei- Ich glaube aber, daß es Ihnen gar nicht auf mehr lungspolitik. Sie haben auf diese A rt und Weise Mil- Beschäftigung ankommt. Sie wollen die Krise benut- liarden DM verschenkt und Arbeitslosigkeit geern- zen, um Arbeitnehmer- und Mitbestimmungsrechte tet. Wir haben heute die höchste Arbeitslosigkeit, die auszuhebeln. Sie weichen den Kündigungsschutz höchste Zahl von Sozialhilfeempfängern und zu- noch weiter auf: Bei Kündigungen - bei der sozialen gleich Rekordgewinne zu verzeichnen. Auswahl - sollen nur noch die Grunddaten wie Be- triebszugehörigkeit, Lebensalter und Unterhalts- Ihre Politik - auch das, was Sie heute vorgelegt ha- pflicht zählen. Damit werden vor allem die Kündi- ben - verschärft die Krise und macht die Ungerech- gungen von Frauen leichter. Sie können nämlich tigkeiten immer größer. Diesen falschen Weg gehen meist nur eine kürzere Beschäftigungszeit als Män- Sie mit dem Sparpaket weiter. Was Sie heute an ner aufweisen. Die Pflege von Angehörigen, schwie- Stückwerk vorgelegt haben, ist durch die Zahlen der rige Familienverhältnisse - all das soll keine Rolle Steuerschätzung, über die wir letzte Woche disku- mehr spielen. tiert haben, schon überholt. Das nächste Sparpaket - auch hier kann ich Herrn Dreßler nur zustimmen - Herr Geißler und Herr Eppelmann, ich verstehe kommt bestimmt. Mit jedem Schritt in diese falsche nicht, wie das zu Ihren Vorstellungen oder, vielleicht Richtung verschlechtern Sie die Situation. sollte ich besser sagen: wie das zu Ihren Reden über 9360 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996

Kerstin Müller (Köln) Gleichberechtigung und Familienförderung paßt. Ich Arbeitsmarktpotentiale sich allein in diesen Bran- verstehe es nicht; denn ich finde, es ist weder mo- chen durch den ökologisch-sozialen Umbau erschlie- dern noch sozial. Es ist nicht einmal ökonomisch ver- ßen lassen. nünftig. Ein Schlüsselelement dabei ist die ökologische (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Steuerreform. Umweltverbrauch muß teurer werden. Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Auch nicht christ Dadurch, Herr Glos, können wir die Arbeit billiger lich!) machen. Damit können wir auch die Lohnnebenko- sten senken, von denen Sie immer so schön reden. Ähnlich ist es mit den Kürzungen bei der Lohn- Aber an diese neuen Projekte, an den ökologischen fortzahlung. Wenn man Ihnen zuhört, fragt man sich, Umbau der Industriegesellschaft, wollen Sie sich warum die Arbeitnehmer überhaupt noch am Ar- nicht machen. beitsplatz erscheinen, Herr Glos. Sie könnten doch einfach krankfeiern. Der Krankenstand - um noch (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einmal über Modernität zu reden - hat sehr viel mit sowie des Abg. Rolf Kutzmutz [PDS]) der Arbeitsorganisation und der Identifikation mit der eigenen Arbeit zu tun. Zum zweiten müssen wir die Arbeit umverteilen, und zwar gerade zugunsten der Frauen. Erforderlich

(Rudolf Dreßler [SPD]: Sehr wahr!) ist eine Arbeitszeitverkürzung - dieses Wort fiel in Ihrer Rede überhaupt nicht - auf allen Ebenen und in In vielen Bet rieben ist der Krankenstand zurückge- allen Bereichen. Das nämlich wird neue Arbeits- gangen, aber nicht, weil man die Arbeitnehmer be- plätze schaffen. straft hat, sondern durch eine intelligente Arbeitsor- ganisation. Sie hingegen versuchen es wieder einmal Der Gesetzgeber kann die Tarifpartner auch beim mit gesellschaftlichem Rückwärtsgang. Die moder- Überstundenabbau unterstützen, zum Beispiel durch nen Debatten gehen völlig an Ihnen vorbei. ein modernes Arbeitszeitrecht. Die zulässige Höchst- arbeitszeit muß sich wenigstens an dem orientieren, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN was überall in Tarifverträgen erreicht ist. Gesetzlich sowie bei Abgeordneten der SPD) erlaubt ist heute noch die 60-Stunden-Woche mit Sie bestrafen die Beschäftigten, wenn sie krank einer täglichen Arbeitszeit von zehn Stunden. Ich werden. Je schwerer die Krankheit ist und je länger frage mich, warum wir das nicht angehen. sie dauert, desto höher die Geldstrafe. Deshalb soll (Beifall des Abg. Joseph Fischer [Frankfu rt] wohl auch das Krankengeld gleich mitgekürzt wer- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) den, und zwar, wenn man es einmal nachrechnet, um volle 12,5 Prozent. Damit machen Sie die Krankheit Wir brauchen eine Teilzeitoffensive. Teilzeitarbeit wieder zum wirtschaftlichen Existenzrisiko. Dabei in allen Formen muß attraktiv gemacht werden. Ein geht es Ihnen offenbar noch nicht einmal um die Rechtsanspruch auf die Reduzierung der Arbeitszeit Senkung des Krankenstandes; denn dann müßten und die Möglichkeit der Einrichtung von Jahreskon- Sie größeren Wert auf eine verbesserte Gesundheits- ten würden erhebliche Anreize zur Arbeitszeitver- vorsorge legen. Aber die Gesundheitsvorsorge schaf- - kürzung geben. Außerdem schlagen wir Ihnen vor, fen Sie im gleichen Atemzug mit Ihren Gesetzesvor- durch ein Bonus-Malus-System Teilzeitarbeit spürbar haben ab. zu entlasten, regelmäßige Mehrarbeit hingegen zu verteuern. Das kann man heute im Wege der Bei- (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das stimmt träge zur Arbeitslosenversicherung machen. Eine nicht!) bessere Verteilung der Arbeit muß sich auch wirt- - Das können wir gerne noch diskutieren. Unserer schaftlich lohnen. Ansicht nach ist das so. So sieht nach unserem Verständnis eine mode rne Was Sie betreiben, hat mit Konsolidierungspolitik Arbeitszeitpolitik aus: Politik für mehr Arbeitsplätze nichts zu tun. Sie zerstören den sozialen Frieden. Sie und nicht Politik gegen Arbeitslose. suchen offensichtlich bewußt die direkte Konfronta- Sie bleiben weiterhin auf alten Wegen, und zwar in tion mit den Gewerkschaften; denn Ihre Vorschläge jeder Hinsicht. Sie zeigen keinen Weg aus der Mas- müssen eine Provokation für alle Tarifverhandlungen in allen Branchen sein. Ich kann nur begrüßen, daß senarbeitslosigkeit. Ich finde auch, Sie zeigen wenig die Gewerkschaften angefangen haben, sich diesem Sinn für soziale Gerechtigkeit. Was für ein Sparpaket Vorhaben zu widersetzen. Meine Fraktion und ich überraschend ist: Sie haben in diesem Jahr ein Haus- haltsloch von 15 Milliarden DM und im nächsten unterstützen ausdrücklich die derzeitigen Wa rn -streiks. Jahr eines von 30 Milliarden DM zu verantworten. Trotzdem befriedigen Sie erst einmal die alten Be- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) gehrlichkeiten Ihrer Klientel, nämlich zielgenau die der Spitzenverdiener. Modernisierung verlangt Phantasie und Mut. Bei- des fehlt Ihnen. Wirkliche Modernisierung hat näm- Herr Waigel, ich möchte an einem Beispiel aufzei- lich nichts mit sozialer Demontage zu tun. Wirkliche gen, daß dieses Sparpaket meiner Meinung nach Modernisierung schafft neue, zukunftsfähige Ar- knallharte Interessenpolitik ist. Nehmen wir einmal beitsplätze. Wir müssen deshalb mit dem ökolo- einen Geschäftsführer ohne Kinder mit einem Jahres- gischen Umbau beginnen. Meine Fraktion hat in einkommen in Höhe von 250 000 DM. Was bedeutet der letzten Woche bei Beratungen mit der Gewerk- für ihn das Sparpaket? - Seine Belastung sinkt durch schaft Bauen - Agrar - Umwelt festgestellt, welche den Abbau des Solidaritätszuschlages. Seine Bela- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996 9361

Kerstin Müller (Köln) stung sinkt weiter durch die Subventionierung seiner signalisieren mit Ihrem Sparpaket genau das Gegen- Haushaltshilfe. Für seine Immobilienanlagen braucht teil. er keine Vermögensteuer mehr zu bezahlen. Für seine Dienstreisen bekommt er höhere steuerfreie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Spesensätze, und sein neues Auto kostet weniger und der SPD sowie bei Abgeordneten der Kfz-Steuer. Das Sparpaket der Koalition wird diesen PDS) Menschen locker um 20 000 DM im Jahr reicher ma- In der Rede des Kanzlers anläßlich der Vorstellung chen. Wohlgemerkt: Hier geht es nicht um Investitio- des Sparpakets - ich habe es ziemlich genau nachge- nen, sondern hier geht es um schlichten Wohlstands- lesen - kam die Jugend exakt einmal vor, und zwar gewinn für Spitzenverdiener. als Rentner im Jahr 2030. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Heiterkeit bei der SPD) und bei der SPD sowie bei Abgeordneten Ich sage Ihnen aus der Sicht meiner Generation: Das der PDS) zeigt, wieweit sich diese Regierung gerade von den jungen Menschen in unserer Gesellschaft entfernt Ich meine, dieses Sparpaket ist in weiten Teilen hat. schlicht und einfach ein Paket zur Umverteilung von unten nach oben. Was Sie oben mit vollen Händen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN austeilen, müssen Sie unten wieder einsparen. Sie und der SPD sowie bei Abgeordneten der sparen auf Kosten kranker Arbeitnehmer, auf Kosten PDS) der Familien und der Arbeitslosen, auf Kosten der so- zial Schwachen und der jungen Generation. Ich Die meisten Menschen meiner Generation wollen glaube, das ist es, was die Menschen im Land an die- jetzt eine Ausbildung beginnen. Sie wollen jetzt eine sem Vorgang so empört: Allen ist klar, daß die Zeiten Familie gründen. Aber dafür brauchen sie heute ei- sich geändert haben, und die Bereitschaft, Verände- nen Arbeitsplatz. Ausgerechnet in diesem zentralen rungen mitzutragen, ist groß; aber niemand sieht ein, Bereich der Zukunftsfähigkeit dieser Gesellschaft, im daß Sie die Lasten so ungerecht verteilen. Bereich der Familien und Frauen - dies haben Sie sich ins Programm geschrieben -, wollen Sie vor al- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN lem sparen, indem Sie den Zeitpunkt der Erhöhung und der SPD sowie bei Abgeordneten der des Kindergeldes verschieben. PDS) (Rudolf Dreßler [SPD]: Leider wahr!) Ich meine, in einer solchen Situation müssen auch Ich darf daran erinnern: Hier geht es um die Siche- die Wohlhabenden ihren Beitrag leisten. Deshalb rung des Existenzminimums - immerhin eine Forde- wollen wir die Vermögensteuer beibehalten. Die rung des Verfassungsgerichts - und um das Signal, Erbschaftsteuer soll - bei vernünftigen Freigrenzen - welchen Stellenwert Familien mit Kindern in dieser einfacher gestaltet werden. Aber sie muß endlich ei- Gesellschaft haben. nen akzeptablen Beitrag zum Steueraufkommen lei- sten. Allein bei einer Angleichung der Erbschaft- Meine Damen und Herren, was Sie da vorhaben, steuer an normales westeuropäisches und amerikani- ist ein Skandal. Wir fordern Sie nachdrücklich auf, an sches Niveau wäre ein dreimal so hohes Aufkommen der Kindergelderhöhung festzuhalten. Finanzie- zu erzielen. Ich finde, es stünde gut an, uns erst ein- rungsvorschläge haben wir gemacht. mal an dieses Niveau anzupassen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Hinzu kommt die Ausbildungssituation. Das An- gebot an Ausbildungsplätzen ist weiter zurückge- Bei der Einkommensteuerreform wollen wir die gangen. Allein im Osten finden zwei Drittel der Ju- nominalen Steuersätze für alle senken, unten wie gendlichen keine Lehrstelle. Ich frage mich: Wo oben, und die Steuerprivilegien radikal abschaffen. bleibt da Ihre Ausbildungsplatzoffensive? Wir sagen ganz offen: Das wird unter dem Strich den (Zuruf von der CDU/CSU: Unsinn!) realen steuerlichen Beitrag der Spitzenverdiener nicht senken, sondern erhöhen. Aber das finde ich in - Das ist aus dem Jugendbericht der Bundesregie- solchen Zeiten gerecht. rung, Entschuldigung.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Gerade für junge Leute hat sich doch die Situation sowie des Abg. Rolf Kutzmutz [PDS]) auf dem Arbeitsmarkt verschlechtert. Über eine halbe Million junger Menschen unter 25 Jahren wa- Lassen Sie mich zum Schluß noch folgendes sagen: ren im Februar 1996 arbeitslos. Im Westen bedeutet Ich glaube, die eigentliche Zukunftsfähigkeit Ihrer das eine Steigerung um 12 Prozent und im Osten um Konzepte zeigt sich daran, was sie für die junge Ge- 15 Prozent. neration bedeuten. Sie beklagen bei der Rentende- In dieser Situation wollen Sie das Rentenalter für batte zu Recht, daß immer mehr Bezieher immer we- Frauen heraufsetzen. Das ist doch völlig absurd. niger Beitragszahlern gegenüberstehen. Aber dann müßte diese Gesellschaft doch besonders kinder- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN freundlich, besonders jugendfreundlich und beson- sowie bei Abgeordneten der SPD und der ders familienfreundlich gestaltet werden. Sie jedoch PDS) 9362 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996

Kerstin Müller (Köln) Allein bei dieser Maßnahme geht es um 200 000 Ar- gramm der Bundesregierung zu verhindern. Unsere beitsplätze pro Jahr. Diese Arbeitsplätze müssen Sie Unterstützung haben Sie. erst einmal schaffen. Meiner Meinung nach wollen Sie unter dem Vorwand der Gleichberechtigung auf (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Kosten der Frauen und der jungen Generation spa- sowie bei Abgeordneten der SPD und der ren. PDS) (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Früher waren Das Wort hat der Sie für Gleichberechtigung!) Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Fraktionsvorsitzende der F.D.P., Dr. Hermann Otto Meine Damen und Herren, Ihre hektischen Lei- Sohns. stungskürzungen zeigen nicht nach vorn. Moderni- sierung, wie sie auch in der Krise möglich wäre, ver- (F.D.P.): Sehr verehrte langt Lösungen, die für die nächsten Jahrzehnte tra- Dr. Hermann Otto Solms Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol- gen. Ein zentraler Punkt dabei ist: Wir können so- legen! Sie alle und die Bürger im Lande wissen, daß nicht mehr mit der Gießkanne aus- ziale Leistungen wir an einer sehr schwierigen Weggabelung stehen, schütten, wie Sie, Herr Blüm, das bei der Pflegeversi- daß die Politik geändert werden muß, daß unser Ver- cherung tun. Wer hohes Einkommen oder großes halten geändert werden muß und daß unsere Einstel- Vermögen hat, der braucht doch, bitte schön, keine lung geändert werden muß, wenn wir mit den Her- Sozialleistungen. Wir wollen deshalb eine Umgestal- ausforderungen, die sich uns stellen, fertig werden tung, die den tatsächlichen Bedarf in den Mittel- wollen. punkt stellt. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne Für die Alterssicherung brauchen wir einen völlig ten der CDU/CSU) neuen Generationenvertrag, einen Generationen- vertrag, der die ganze Gesellschaft einbezieht. Sie Schuldzuweisungen sind ja schön und in diesem können doch nicht die Sicherheit der Renten herbei- Hause üblich, helfen aber niemandem. Das ist auch reden, ohne zugleich offenzulegen, wie es um die Be- der Grund, warum die Wähler so reagieren, wie sie amtenpensionen steht. Hier liegt eine Zeitbombe für reagieren: Sie wollen Antworten. das nächste Jahrzehnt. Herr Kollege Dreßler, ich habe Ihnen sehr auf- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN merksam zugehört. sowie bei Abgeordneten der SPD) (Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast [SPD]: Das Wir meinen - wir werden einen entsprechenden wollen wir hoffen!) Antrag einbringen -: Auch Beamte, Selbständige und wir als Abgeordnete müssen künftig einen Bei- Ein wie immer wortgewaltiger Rudolf Dreßler prügelt trag in die Rentenversicherung zahlen. Nur wenn die eigene Fraktion in die Tabugrenzen der vergan- alle die Lasten gleichermaßen tragen, schafft das genen Jahrzehnte zurück. dauerhafte Akzeptanz für die Sozialversicherungs- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne systeme. Nur dann werden sie wirklich- zukunfts- ten der CDU/CSU) fähig sein. Wir werden hier einen entsprechenden Antrag vorlegen, und die Fraktionen müssen ihre Mit Ihrer Argumentation verhindern Sie, daß sich die Haltung dazu offenlegen. Ich bin auf diese Debatte SPD den Herausforderungen der Zeit stellen kann. sehr gespannt. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne Wir brauchen ebenso eine moderne Einwande- ten der CDU/CSU - Anke Fuchs [Köln] rungspolitik; denn auch Einwanderer können dazu [SPD]: Die Ideologen sind doch Sie! Sie beitragen, die Renten der Zukunft zu sichern. haben das Denken von gestern!) Aber nichts von alledem ist von Ihnen zu erwarten. Ich darf an das erinnern, was Klaus Dohnanyi vor Mit Ihrer Politik werden Sie die Krise nicht überwin- kurzem in der „Welt am Sonntag" geschrieben hat: den. Herr Dreßler hat es angesprochen: Der Wider- Die SPD steht auf einem Gleis, an dem in absehbarer stand in der Gesellschaft gegen diese Politik der Koa- Zeit kein Zug mehr halten wird. lition wird immer stärker. Wenn es zu einem heißen Sommer kommt, dann hat das diese Koalition zu ver- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne antworten. Denn Sie haben mit Ihrer Konfrontations- ten der CDU/CSU - Hans-Eberhard Urba politik den sozialen Frieden in diesem Land aufge- niak [SPD]: Das ist doch lächerlich!) kündigt. Im übrigen sagt er, daß das, was die Bundesregie- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN rung vorschlägt und tut, der richtige Ansatz ist. sowie bei Abgeordneten der SPD und der Meine Damen und Herren, von Herrn Dreßler ka- PDS) men keine Alternativen, außer einer einzigen, Herr Dreßler, Sie haben soeben gesagt: keine Kon- (Zuruf von der F.D.P.: Das ist es also!) senspolitik mehr. Sie wollen das Sparpaket verhin- dern. Ich sage jetzt mit Blick auf die Verantwortung, nämlich daß die Erstattung von Leistungen aus der die die SPD in den Ländern trägt: Lassen Sie uns ge- Rentenversicherung aus dem Haushalt finanziert meinsam alle parlamentarischen Möglichkeiten nut- werden soll. Darüber kann man ja diskutieren, aber zen, um dieses unsoziale und zukunftsfeindliche Pro das hilft direkt überhaupt nicht, denn dann müßten Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996 9363

Dr. Hermann Otto Solms die Steuern erhöht werden, um diese Ausgaben do rt Das geht nicht mehr. Ich sage Ihnen ganz deutlich - auszugleichen. wir sind mit daran schuld; ich befreie uns doch über- haupt nicht aus der Verantwortung -: (Beifall bei der F.D.P. - Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Aber die Beiträge könnten sinken!) (Zuruf von der SPD: Gefälligkeitspolitik!) Jetzt hilft nur Sparen. Wir haben den Staat überfor- Wir alle haben jedem Wunsch nachgegeben und für dert, alles staatliche Lösungen angeboten. (Zuruf von der F.D.P.: Richtig!) (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Deswegen schaf wir alle zusammen. Ich erinnere Sie, Herr Dreßler: Es fen Sie die Vermögensteuer ab!) gibt kein einziges Leistungsgesetz, das wir hier im Das Ergebnis ist, daß der Staat überfordert worden Bundestag beschlossen haben, dem Sie nicht zuge- ist. stimmt hätten und bei dem Sie nicht zusätzliche For- derungen erhoben hätten, kein einziges! Wer ist denn der Staat, meine lieben Kolleginnen und Kollegen? (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne ten der CDU/CSU) (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Nicht die F.D.P.!) Im übrigen - und deswegen nützen die Schuldzu- Der Staat sind wir alle. Jede Forderung, die Sie erhe- weisungen auch gar nichts - stehen Sie in vielen ben, müssen alle Bürger bezahlen. Jeder Pfennig Ländern und darüber hinaus in sehr vielen Gemein- Neuverschuldung muß von der nachfolgenden Gene- den in der Verantwortung. Die Probleme, die uns ration mit Zins und Zinseszins über höhere Steuern treffen, treffen nicht nur den Bund, sondern sie tref- zurückgezahlt werden. fen Länder und Gemeinden, sie treffen den gesam- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne ten Staat. Wenn der gesamte Staat in Not ist, dann ten der CDU/CSU) steht man zusammen und versucht, Lösungen zu fin- den, Das Geld fällt doch nicht vom Himmel, und die ande- ren Länder werden uns die Kreditmittel auch nicht (Beifall bei der F.D.P. - Zurufe von der SPD) auf Dauer zur Verfügung stellen, wenn wir nicht un- seren eigenen Beitrag dazu leisten. und kündigt nicht die Zusammenarbeit insbesondere in dem Bereich auf, der die höchste Sensibilität erfor- Das heißt, wir dürfen den Staat, wir dürfen unsere dert, nämlich im Rentenbereich, in dem der Konsens Bürger nicht weiter überfordern, wenn wir die Lei- immer getragen hat. stungskräfte, die ja in den Bürgern stecken, nicht weiter dämpfen wollen. (Carl-Ludwig Thiele [F.D.P.]: Sehr richtig!) (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) Ich halte es für eine sehr armselige Antwort, die Sie da gegeben haben. Es gibt keinen abgeschotteten Markt. Wenn wir so - wie bisher weitermachen, wie es insbesondere das (Beifall bei der F.D.P.) Tarifkartell der Arbeitgeber- und Gewerkschaftsor- ganisationen in den letzten Jahrzehnten praktiziert Meine Damen und Herren, es hilft nichts: Wir brau- hat, dann wird der Arbeitsmarkt seine Funktion zu- chen eine marktwirtschaftliche Erneuerung, weil nehmend verlieren, dann werden die Arbeitnehmer wir nicht auf einer Insel des Wohlstands in einer Welt in die Schwarzarbeit oder in die Arbeitslosigkeit ge- leben können, die immer enger zusammenrückt; das drängt, und dann werden die Investoren ins Ausland weiß doch jeder. abwandern. Genau das ist es, was eingetreten ist. Es gibt keine nationalen Märkte mehr. Finanz- (Carl-Ludwig Thiele [F.D.P.]: Sehr wahr!) dienstleistungen können in Sekundenschnelle rund um die Uhr weltweit angeboten werden, Dienstlei- Wenn Sie das ändern wollen, dann müssen Sie An- stungen von Ingenieuren können über die Telekom- sätze finden, die dazu führen, daß die Menschen wie- munikation in Blitzesschnelle abgefordert werden. der freiwillig in der Bundesrepublik investieren, Wir können uns nicht von den Entwicklungen in der Welt isolieren, und wir können auf Dauer auch kein (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Deswegen müs höheres Wohlstandsniveau sichern, wenn wir nicht sen die Frauen bis 65 arbeiten!) die Leistungskräfte in diesem Lande stärken und die denn nur das schafft Arbeitsplätze - das werden Sie Schranken, die wir selbst aufgebaut haben, reduzie- nicht bestreiten, Frau Fuchs; dazu sind Sie viel zu ren. kenntnisreich -, und dann werden die Menschen auch eher bereit sein, zusätzliche Leistungen zu er- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne bringen. ten der CDU/CSU) Schauen Sie sich doch gerade die Spitzenkräfte in Das ist der Gesamtzusammenhang. der Wissenschaft an, auf die wir ja auch angewiesen Meine Damen und Herren, die Zeit der Gefällig- sind. Wenn Sie an Spitzenuniversitäten in den Verei- keitspolitik ist vorbei. nigten Staaten gehen, dann finden Sie vielfach ge- rade dort die besten deutschen Nachwuchskräfte der (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Aber was haben Wissenschaft, weil sie da besser honoriert werden, Sie denn 14 Jahre lang gemacht?) weil sie da weniger Steuern und Abgaben zahlen 9364 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996

Dr. Hermann Otto Solms müssen und ein besseres Umfeld für ihre For- Urlaubstage zur Verfügung stellen müssen. Dann ha- schungstätigkeit vorfinden. ben Sie immer noch 26 Urlaubstage im Jahr. (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) (Zuruf von der SPD: Nein, 24!) Das gleiche finden Sie beim Spitzensport. Es steht - 32 minus 6 ist 26. Ich darf Ihnen hellen. heute in jeder Zeitung, wo die Spitzensportler ihre (Beifall bei der F.D.P.) Steueroasen gefunden haben. Das ist immer noch mehr als in den meisten Ländern Meine Damen und Herren, dieser Zusammenhang der Welt. ist nicht aufzuheben. Wir müssen sparen, und wir müssen dort sparen, wo es am wenigsten weh tut. Also, meine Damen und Herren, dies ist ein zumut- Wir kommen aber um eine konsequente Konsolidie- barer Beitrag zur Konsolidierung unserer sozialen rung der Haushalte von Bund, Ländern und Gemein- Sicherungssysteme. Wir tun dies nicht aus Spaß an den nicht herum. der Freud, sondern wir tun das, um die sozialen Sicherungssysteme für die Zukunft tragfähig zu ma- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) chen. Es ist von der jungen Generation gesprochen wor- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) den. Das Beste, was wir für die nachfolgende Gene- Meine Damen und Herren, es gibt doch keine so- ration tun können, ist, die Schulden, die wir bereits zialere Leistung, aufgebaut haben, abzubauen, denn sie muß sonst die Schuldenlast übernehmen. (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Als die Vermö gensteuer abzuschaffen!) (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) als den Menschen dazu zu verhelfen, durch eigene Ar- Wenn wir so weitermachen, werden sie die Erbschaft beit ihr Leben gestalten zu können. Es gibt doch keine ausschlagen und die Leistungen nicht mehr erbrin- sozialere Leistung, als die sozialen Sicherungssy- gen, weil die Belastungen zu stark geworden sind. steme auf ein für die Zukunft tragfähiges Niveau zu Meine Damen und Herren, natürlich müssen wir stellen. Wir wissen, daß das gegenwärtig nicht der Fall als Abgeordnete beim Sparen mit gutem Beispiel vor- ist. Wir kommen um diese Erkenntnis nicht herum. angehen. Deswegen hat die F.D.P.-Fraktion vorge- Deswegen gibt die Bundesregierung, gibt die Koa- schlagen - ich hoffe, die großen Fraktionen werden lition mit diesem Paket die Antwort. zu einer solchen Lösung bereit sein -, die bereits be- schlossene Diätenerhöhung um ein Jahr hinauszu- (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ schieben. DIE GRÜNEN]: Sie sind ein adliges Kroko dil!) (Beifall bei der F.D.P.) Diese Antwort ist die richtige Antwort, denn sie weist In einer Zeit, in der wir eine Nullrunde im öffentli- in die richtige Richtung: Zukunftsgestaltung durch chen Dienst fordern, und zwar zu Recht,- in der wir eine Reform des Rentensystems; durch eine grund- die Aufschiebung der Anhebung der Sozialhilfe for- sätzliche Reform des Steuertarifs mit einer deutlichen dern, müssen wir mit gutem Beispiel vorangehen. Senkung der Belastung der Leistung und einer Ver- Das gilt selbstverständlich auch für die Reduzierung breiterung der Bemessungsgrundlage bei der Lohnfortzahlung. Auch hier müssen die Ab- geordneten einen eigenen Beitrag leisten. Deswegen (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ schlagen wir vor, daß die Abzüge bei Krankheit an DIE GRÜNEN]: Dann machen Sie es doch!) Präsenztagen in Höhe von 30 DM auf 90 DM angeho- - wir sind dabei -; durch eine Konsolidierung der ben werden. sozialen Sicherungssysteme; durch den Abbau von (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne nicht beitragsbezogenen Leistungen; durch die Kon- ten der CDU/CSU) zentration auf das Notwendige, auf die Bedürftigen und nicht auf die, die clever sind; schließlich durch Meine Damen und Herren, die Kürzung der Lohn- eine Konsolidierung der Haushalte, damit die öffent- fortzahlung ist notwendig. Als Grundprinzip muß lichen Haushalte wieder weniger auf die Verschul- gelten, daß man für Arbeit immer mehr Geld erhält dung angewiesen sind. als für Nichtarbeit, als für die Zeiten, in denen man von den Sozialsystemen unterstützt wird; denn sonst (Beifall bei der F.D.P.) gibt es keinen Anreiz zur Arbeit. Es ist doch wirklich Wenn wir diesen Weg konsequent gehen, dann zumutbar, daß man für eine Woche Krankheit einen wird wieder Zuversicht eintreten, dann wird ein inve- Urlaubstag opfert, in einer Zeit, in der man durch- stitionsfreundliches Klima entstehen, dann werden schnittlich 32 Urlaubstage im Jahr zur Verfügung Ausländer in der Bundesrepublik zunehmend inve- hat. stieren, dann werden Arbeitsplätze geschaffen. Das (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der ist es, worauf es ankommt: Jede Maßnahme muß sich CDU/CSU) daran messen lassen, ob sie einen Beitrag für neue Arbeitsplätze leistet. Darauf müssen wir uns konzen- Als die Lohnfortzahlung eingeführt wurde, war der trieren. Die Koalitionsparteien sind dazu entschlos- Urlaubsanspruch etwa halb so groß: 14, 15 Tage. sen. Wir sind weiterhin bereit, mit Ihnen darüber zu Wenn Sie sechs Wochen krank sind, sollen Sie sechs reden und um bessere Vorschläge zu ringen. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996 9365

Dr. Hermann Otto Solms Eines kann man aber wirklich verlangen: Jede Ab- platz? Das haben Sie noch niemandem in diesem lehnung einer Maßnahme, gerade bei den Einspa- Lande erklärt! rungen, muß von entsprechenden Vorschlägen Ihrer Seite begleitet werden; denn um die Sparpolitik (Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordne kommen wir nicht herum. ten der SPD) (Zustimmung bei der F.D.P.) Es schafft auch keine Arbeitsplätze, sondern kostet sie sogar. In den Haushalten jener Länder, in denen Sie von der SPD die Verantwortung tragen - im Saarland, in Zusätzlich erklären Sie auch noch: Die Zeit der Ge- Niedersachsen, Hamburg, Nordrhein-Westfalen -, fälligkeitspolitik ist vorbei. - Das sagt eine F.D.P., die findet sich die schlechteste Finanzsituation über- ihre Klientel seit über 30 Jahren permanent bedient haupt, viel schlechter als beim Bund. und da keine einzige Streichung zuläßt. (Widerspruch bei der SPD) (Beifall bei der PDS, der SPD und dem Sie sind selbst darauf angewiesen, Ihre Haushalte BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sauber zu finanzieren und nicht immer wieder neue Schulden aufzunehmen. Das sagt eine F.D.P., die zu demselben Zeitpunkt, zu dem die Sozialhilfe eingefroren wird, forde rt, die (Beifall bei der F.D.P.) Vermögensteuer abzuschaffen. Sie machen doch Ge- Sie kommen nicht drum herum, mit uns gemeinsame fälligkeitspolitik für Ihre Klientel, und zwar die ganze Arbeit zu leisten. Zeit! Ich möchte Ihnen gern die Blamage vom letzten (Beifall bei der PDS, der SPD und dem Jahr ersparen: Beim Jahressteuergesetz haben Sie BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Dr. Wolfgang großartige Ankündigungen in die Welt gesetzt; Ihre Gerhardt [F.D.P.]: Das werden Sie nie Ministerpräsidenten haben im Vermittlungsausschuß begreifen! - Dr. Hermann Otto Solms aber genau das Gegenteil gemacht. Ich warne Sie, [F.D.P.]: Was haben Sie vor 30 Jahren nicht wieder in die gleiche Situation zu kommen. gemacht? Erzählen Sie's doch mal!) Wir kommen an dieser gemeinsamen Aufgabe - Das kann ich Ihnen genau erzählen. Das ist viel er- nicht vorbei. Wir sollen und müssen uns dieser Auf- forschter als das, was Sie gemacht haben. Der Adel gabe stellen - auch wenn sie unbequem ist. Wir sind ist hier doch nicht schlecht begünstigt, Herr Solms. dazu bereit. Auf jeden Fall habe ich keine Sozialhilfe gekürzt.

Danke. Ich sage Ihnen folgendes: Sie erzeugen mit Ihren (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Maßnahmen sogar zusätzliche Arbeitslosigkeit, und zwar in beachtlichem Umfang. Ich wi ll nur ein Bei- - spiel nennen: Die Reduzierung der Lohnfortzahlung, Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster die Sie vorschlagen, wird bei den Unternehmen spricht der Kollege Dr. Gregor Gysi. 12 Milliarden DM einsparen. Diese 12 Milliarden DM fehlen dann aber auch an Kaufkraft und Binnennach- Dr. Gregor Gysi (PDS): Frau Präsidentin! Meine frage. Das kostet in etwa 60 000 Arbeitsplätze. Damen und Herren! Die Bundesregierung hat eine Fülle von Gesetzentwürfen vorgelegt, die eine (Vorsitz : Vizepräsident Hans Klein) ebenso große Anzahl sozialer Grausamkeiten enthal- ten. Um dennoch eine positive Absicht vorzutäu- Ihre sogenannten Sparvorschläge zusammenge- schen, verbindet die Bundesregierung diese Grau- nommen bewirken eine Reduzierung von Kaufkraft samkeiten mit Worten wie Einsparen, Wachstum und und Nachfrage, die in etwa 500 000 Arbeitsplätzen Beschäftigung. Aber in Wirklichkeit handelt es sich entspricht. Dabei ist die Heraufsetzung des Renten- um die dreisteste Umverteilung von unten nach eintrittsalters noch überhaupt nicht berücksichtigt. oben, die es in der Geschichte der Bundesrepublik (Beifall bei der PDS) Deutschland gegeben hat. (Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordne In Wirklichkeit ist es ein Programm für höhere Mas- ten der SPD) senarbeitslosigkeit. - Das ist einfach eine Tatsache; das können Sie auch gar nicht bestreiten. Von den Herr Solms, ich stimme Ihnen zu, wenn Sie erklä- Gewerkschaften ist schon ausgerechnet worden, ren, daß die sozialste Leistung die Ermöglichung von welche Arbeitsplatzverluste im gesamten Kurbetrieb Erwerbstätigkeit bei entsprechenden Löhnen ist. allein die Einschränkung der Kurleistungen zur Aber erklären Sie mir doch mal - das haben Sie wie- Folge haben wird. der unterlassen, trotz einer Redezit von 20 Minuten -: Wo und an welcher Stelle schaffen das Einfrieren von Jetzt sage ich Ihnen noch etwas anderes. Sie stel- Kindergeld, das Einfrieren von Sozialhilfe, die Kür- len eine einfache These auf und sagen, die Kosten zung der Lohnfortzahlung, die Kürzung von Kran- für Arbeit und Soziales sind zu hoch; wenn wir die kengeld, das Versteuern von Renten, das Heraufset- reduzieren, gibt es mehr Gewinne. Wenn es mehr zen des Renteneintrittsalters, die Abschaffung von Gewinne gibt, wird mehr investiert. Wenn mehr inve- Kündigungsschutzrechten einen einzigen Arbeits- stiert wird, entstehen mehr Arbeitsplätze. - Wenn 9366 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996

Dr. Gregor Gysi diese einfache Logik stimmen würde, müßten wir ge- die kann man sich mit seinen politischen Angeboten radezu einen Job-Boom haben. wenden.

Ich will Ihnen auch sagen, weshalb: Die Netto- (Joseph Fischer [Frankfu rt] [BÜNDNIS 90/ löhne sind in den letzten 15 Jahren real um DIE GRÜNEN]: Deswegen die Grünen wäh 1,4 Prozent gestiegen. In derselben Zeit sind die Ge- len! - Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE winne der Unternehmen aber um 116 Prozent gestie- GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der gen. Danach müßte es geradezu einen sagenhaften SPD) Aufschwung bei den Arbeitsplätzen gegeben haben. Weil Sie immer bestreiten, daß Sie Klientelpolitik Das Gegenteil ist der Fall. Und weshalb? - Unter an- machen, will ich Ihnen ein ganz praktisches Beispiel derem deshalb, weil Sie eine völlig falsche Steuerpo- bringen. Die Commerzbank - um es konkret zu ma- litik machen, weil die Spekulations- und Finanzge- chen - hat ihr Betriebsergebnis im vergangenen Jahr schäfte im Vergleich zur Wirtschaftstätigkeit steuer- um 109 Prozent erhöht lich immer noch wesentlich mehr begünstigt sind, so daß die Unternehmen ihre Gewinne zur Bank tragen (Joseph Fischer [Frankfu rt] [BÜNDNIS 90/ und nicht investieren, schon gar nicht so, daß neue DIE GRÜNEN]: Unglaublich!) Arbeitsplätze entstehen. und zugleich die Steuerleistung an die Bundesrepu- Im übrigen: Wissen Sie, weshalb Unternehmen ins blik Deutschland um 67 Prozent reduziert. Größere Ausland gehen? Nicht wegen der Steuern! Sie gehen Steuergeschenke können Sie doch gar nicht machen! dorthin, wo der Markt ist, dorthin, wo sie verkaufen Das Ergebnis sind nicht mehr, sondern weniger Ar- können. Weil Sie seit mehr als 15 Jahren den Binnen- beitsplätze, weil die Gewinne eben nicht in die Pro- markt vernachlässigen und die Nachfrage reduzie- duktion fließen, unter anderem auch deshalb nicht, ren, haben die Unternehmen gar keine andere weil diese Regierung - entgegen ihren Ankündigun- Chance, als im Ausland zu verkaufen. gen - zwar große Konzerne und Banken befördert, aber die Kleinunternehmen und den Mittelstand per- (Beifall bei der PDS) manent benachteiligt. Die können sich all diese Steu- ertricks gar nicht leisten. Siemens und andere Kon- Das ist eine der ökonomischen Ursachen, mit denen zerne können ihre Gewinne in den USA entstehen wir es hier zu tun haben. lassen und sie dort versteuern. Das kann ein Mittel- ständler nicht. (Dr. [F.D.P.]: Ich würde das an dem Punkt nicht vertiefen! - Zuruf Im übrigen ist Ihr schlagendes Argument immer: von der CDU/CSU: Das ist Schwachsinn! - Wenn man die Unternehmen zu hoch besteue rt, Weitere Zurufe von der CDU/CSU und der dann geht das Kapital ins Ausland. Wenn Sie das F.D.P.) wirklich bekämpfen wollen, dann regeln Sie doch, daß der Weggang des Kapitals, das Verbringen von - Ich verstehe Ihre Erregung gar nicht. Ihre Klientel- Kapital ins Ausland unter bestimmten Voraussetzun- gen steuerpflichtig wird. Das wäre zum Beispiel eine politik hat sich ja bewährt. Sie haben selber- erklärt, daß Sie die Partei der Besserverdienenden sind. Das Maßnahme zur Eindämmung solcher Verhaltenswei- entspricht etwa 4 bis 5 Prozent der Bevölkerung. - sen. Aber genau das lehnen Sie ab. Ihre ganze Argu- Darauf kann man sich natürlich reduzieren. Aber Sie mentation läuft darauf hinaus, daß Sie immer wieder werden begreifen, daß andere Parteien dieses Spiel erklären: Wenn wir das machen würden, wäre illega- nicht mitmachen. - In den neuen Bundesländern ent- les Verhalten der Steuerpflichtigen die Folge. Mit spricht das etwa 1 Prozent der Bevölkerung, und das dieser Begründung erlassen Sie ihnen das Steuerzah- ist auch dort Ihre Klientel. Das macht den Unter- len gleich. Denken Sie nur an Ihre ganze Argumen- schied aus zwischen Ihnen und uns. tation zum Dienstmädchenprivileg. Obwohl die Einnahmen der Banken und der gro- (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ ßen Konzerne ständig gestiegen sind, sind ihre Steu- DIE GRÜNEN]: Na ja, von den Besserver erzahlungen an die Bundesrepublik immer geringer dienenden habt ihr auch ein paar in den geworden, wie ich es in meinem Beispiel angeführt neuen Bundesländern, wenn du ehrlich habe. Wann hat der Kanzler, wann hat der Bundesfi- bist!) nanzminister darauf je empört reagie rt und gesagt, das lasse er sich nicht länger bieten? Aber von Sozial- - Das liegt einfach daran, daß wir eine so kluge Poli- mißbrauch faselt er das ganze Jahr, weil irgendwo tik machen, eine Sozialhilfeempfängerin 10 DM mehr bekommt, (Lachen und Widerspruch bei der CDU/ als ihr zusteht. Das ist die A rt der Kämpfe, die Sie CSU und der F.D.P.) führen: immer gegen den gleichen und immer für den gleichen Personenkreis. daß Besserverdienende gelegentlich die PDS wäh- (Beifall bei der PDS) len. Das finde ich völlig berechtigt. Es ist Besserver- dienenden nicht verboten, die PDS zu wählen, es ist In der Zeit von 1983 bis 1989 hat zum Beispiel die sogar sehr sinnvoll. Aber es setzt voraus, daß man ge- Zahl derjenigen, die 250 000 DM oder mehr in dieser rade als Besserverdienender bereit ist, Solidarität mit Gesellschaft verdienen, um 70 Prozent zugenommen. den sozial Schwachen in dieser Gesellschaft zu üben. Sie können es nicht leugnen: So wie die Armut in Solche Besserverdienenden gibt es ja auch, und an dieser Gesellschaft zugenommen hat, so hat auch der Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996 9367

Dr. Gregor Gysi Reichtum in dieser Gesellschaft zugenommen, und bestimmte Klientel bedienen. Aber dann sagen Sie zwar in immer weniger Händen. auch ehrlich, daß Sie Politik nur für die Besserverdie- nenden, die Vermögenden und die Reichen machen. (Beifall bei der PDS) (Dr. Hermann Otto Solms [F.D.P.]: Setzen!) Inzwischen macht das Sparvermögen in der Bundes- republik Deutschland 4 Billionen DM aus. Das sind Bemänteln Sie Ihre Programme nicht mit den Stich- 4000mal 1 Milliarde DM. Das ist eine unbeschreibli- worten „Abschaffung von Arbeitslosigkeit" und che hohe Summe, in immer weniger Händen konzen- „Stärkung von Wachstum", obwohl Sie damit nichts triert. Dort könnte man etwas verändern, wenn man im Sinn haben! das wollte. (Beifall bei der PDS) Sie sagen: Die beabsichtigte Änderung beim Kün- digungssschutz betrifft nur kleine Unternehmen und Zu einer Kurzinterven- wenig Beschäftigte. - Herr Dreßler hat die Zahl von 8 Vizepräsident Hans Klein: bis 12 Millionen genannt. Ich habe noch eine andere tion erteile ich dem Kollegen Hans Büttner das Wo rt. Zahl: 80 Prozent der Unternehmen sind davon betrof- (Julius Louven [CDU/CSU]: Der meldet sich fen, wenn Sie den Kündigungsschutz so abschaffen, nur, wenn das Fernsehen da ist!) wie Sie das vorschlagen. Das entspricht 30 Prozent der Beschäftigten. Für ein Drittel der Beschäftigten heben Sie den Kündigungsschutz in der Bundesrepu- Hans Büttner (Ingolstadt) (SPD): Herr Präsident! blik Deutschland auf und gehen damit im sozialen Liebe Kolleginnen und Kollegen! Debatten im Bun- Standard dieser Gesellschaft weit vor das Jahr 1949 destag sollen - so haben es Demokraten immer ver- zurück. standen - ein Austausch von Argumenten sein - (Beifall bei der PDS) wenn nötig, mit harten Bandagen, aber mit dem Ziel, miteinander ins Gespräch zu kommen. Daß sich Kol- Das ist die Realität, mit der wir es hier zu tun haben. lege Glos einer solchen Debatte hier entzieht, ist für mich durchaus verständlich; denn sein ideologisch Es gibt geeignete Maßnahmen, wenn man die geprägter, tumber Populismus steht in eklantantem Massenarbeitslosigkeit bekämpfen will. Man muß Gegensatz zu seinen volkswirtschaftlichen Kompe- über Arbeitszeitverkürzungen und über Überstun- tenzen. Das hat er heute erneut unterstrichen. denabbau nachdenken. Man muß darüber nachden- ken, wie man die Lohnnebenkosten anders verteilt, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne zum Beispiel könnte man die Zahlungen von Unter- ten der PDS) nehmen in Versicherungssysteme in erster Linie vom Umsatz oder Gewinn und nicht von der Bruttolohn Ich will das mit einigen Argumenten begründen: summe und der Zahl der Beschäftigten abhängig Wer hier davon redet, daß die Lohnkosten in machen, um sie nicht weiter für die Bereitstellung Deutschland zu hoch sind, und gleichzeitig vernach- von Arbeit zu bestrafen. lässigt, daß der Anteil der Arbeitnehmereinkommen - am Bruttosozialprodukt in Deutschland - das ist die Es gibt Möglichkeiten zum Einsparen. Sie wollen volkswirtschaftlich entscheidende Meßgröße - inzwi- einsparen - ja, dann verzichten Sie doch zum Bei- schen wesentlicher geringer als in den USA, Frank- spiel auf den Transrapid, verzichten Sie doch auf reich, Großbritannien oder unseren übrigen Nach- Prunkbauten für die Regierung im Rahmen des Um- barstaaten oder sogar in Japan ist, der zeigt, wie we- zugs nach Berlin nig er von solchen Zusammenhängen versteht. (Dr. Hermann Otto Solms [F.D.P.]: Das sind (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne Investitionen!) ten der PDS) und auf viele andere Maßnahmen, für die es leider Wer die mangelnde Wettbewerbsfähigkeit unserer nie an Geld fehlt. Wirtschaft beklagt und dabei ignoriert, daß die deut- (Beifall bei der PDS) sche Volkswirtschaft im letzten Jahr mit einem Ex- portüberschuß von 96 Milliarden DM fast wieder Nein, diese Bundesrepublik Deutschland hat nicht eine Höhe wie Mitte der 80er Jahre erreicht hat, der zuwenig Geld, sie verteilt es nur ungerecht und spart zeigt, daß er volkswirtschaftliche Zusammenhänge immer bei den Falschen. Wer hinde rt Sie daran, eine nicht begriffen hat. Wer darüber hinaus kein Wo rt Abgabe für die Besserverdienenden in Höhe von darüber verliert, welche Auswirkungen die Untätig- 10 Prozent auf die Steuerschuld zu machen? keit dieser Regierung - allerdings auch anderer - auf die Wechselkursrelationen hat, der zeigt auch, wie Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege, Ihre Rede- wenig er begriffen hat, wo volkswirtschaftliche und zeit ist ein gutes Stück überschritten. politische Ansätze notwendig sind. (Dr. Wolfgang Gerhardt [F.D.P.]: Der über (Beifall bei der SPD) zieht auch die Finanzen!) Wer in der Frage der Arbeitszeit selbt die Erhebun- gen seiner eigenen Regierung nicht zur Kenntnis Dr. Gregor Gysi (PDS): Wer hindert Sie daran, we- nimmt, daß nämlich die Arbeitszeitverkürzung in nigstens den Teil der Vermögensteuer zu erheben, den letzten Jahren die Hauptursache dafür war, daß den das Bundesverfassungsgericht zugelassen hat? - wir mehr Beschäftigungsverhältnisse haben als ei- Nein, das alles machen Sie nicht, weil Sie nur eine nige Jahre vorher - nachzulesen in der Antwort die- 9368 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996

Hans Büttner (Ingolstadt) ser Regierung auf eine Anfrage von uns -, der zeigt - Auf das Thema Fremdleistungen komme ich gleich auch, daß er nicht einmal bereit ist, Sachverhalte noch; das ist auch aus meiner Sicht eine wirklich be- überhaupt wahrzunehmen. rechtigte Prüfungsfrage an uns. Aber wo werden in Ihrem Vorschlag Kosten gespart? Die Sparvor- Und ein Letztes. Wer über die Fehltage in diesem schläge der SPD sind das bestgehütete Geheimnis Land diskutiert, ohne einen Blick in die Statistiken dieses Parlaments. der Sozialversicherungsträger zu werfen, über hun- dert Jahre hinweg, und dabei einfach nicht zur (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Kenntnis nimmt, daß die bei den Krankenversiche- Das haben Sie heute morgen an Herrn Dreßler stu- rungen gemessenen Fehltage seit nahezu hundert dieren können. Er hat gesagt: Im nächsten Jahr ste- Jahren gleichgeblieben sind, wenn man statistisch hen wir wieder hier, und dann wird es noch schlim- saubere Vergleiche anstellt, der zeigt auch, daß er mer sein. - Und weil es nach seinen Aussagen noch nicht begriffen hat, daß Politik in diesem Land volks- schlimmer sein wird, deshalb wollen Sie weniger wirtschaftliche Rahmenbedingungen setzen muß sparen. Das ist das Ergebnis. und daß man dieses Land nicht betriebswirtschaftlich wie eine Industrie AG verwalten darf. Ich bin immer gespannt auf Ihre konkreten Vor- schläge. Das frage ich auch in der Öffentlichkeit. Es (Beifall bei der SPD - Dr. Wolfgang Schäu ist die Kardinalfrage, wie wir Beitragslasten ganz ble [CDU/CSU]: Ein Höhepunkt reiht sich konkret mindern, aber nicht allein dadurch, daß wir an den anderen!) die Fremdleistungen aus der Sozialversicherung her- ausnehmen. - Sie suchen nach dem Wundermittel „Sparen ohne Einschränkungen". Herr Scharping, Herr Kollege Glos, wün- Vizepräsident Hans Klein: Sie sind der Böttcher der Sozialpolitik: Aus Nichts schen zu replizieren? machen Sie Gold. Nur heiße Luft, nur heiße Luft! (Michael Glos (CDU/CSU): Nein! - Zurufe Ganz konkret erwarte ich heute von Ihnen Vor- von der SPD) schläge, wo Sie Beitragslasten senken. - Meine verehrten Damen und Herren, es besteht in (Zurufe von der SPD) diesem Parlament ein Rederecht, aber kein Rede- - Auf das Thema Fremdleistungen komme ich noch, zwang. Herr Dreßler. Ich erteile das Wort dem Bundesminister für Arbeit Immer wenn ich morgens Radio höre, bin ich ganz und Sozialordnung, Dr. Norbert Blüm. gespannt auf die neuesten Meldungen. In der WDR- Sendung „Morgenecho" am 22. Mai wird mein hoch geschätzter Kollege Dreßler mit der Frage konfron- Dr. Norbert Blüm, Bundesminister für Arbeit und tiert: Wo wollen Sie denn sparen, Sozialkosten sen- Sozialordnung: Herr Präsident! Meine Damen und ken? - Und dann kommt: Ich halte es für grotesk, in Herren! Die Sozialdemokratische Partei hat im letz- einer solchen Situation einen Transrapid mit über ten Bundestagswahlkampf das Plakat geklebt: „Ar- - 10 Milliarden DM Steuergeldern zu finanzieren! - beit! Arbeit! Arbeit! " In der Tat ist dies das Haupt- Herr Dreßler, erklären Sie mir mal, wieso die Kosten wort unserer Sozial- und Gesellschaftspolitik. Es ist in der Rentenversicherung sinken, wenn der Trans- die größte und schärfste existentielle Ungerechtig- rapid nicht gebaut wird? keit, wenn Menschen arbeiten wollen, dies aber nicht dürfen, nicht können. Das ist die größte Unge- (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der rechtigkeit! F.D.P.) (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und der SPD) Vizepräsident Hans Klein: Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dreßler? Deshalb gehen wir mit unserem Programm für mehr Wachstum und Beschäftigung der Frage nach: Was Dr. Norbert Blüm, Bundesminister für Arbeit und hilft es den Arbeitslosen, und wo schaffen wir Ar- Sozialordnung: Ja, bitte. - Aber wenn Sie sich gedul- beitsplätze? Das ist die Hauptfrage. Keine noch so den können, würde ich das zweite Zitat auch noch hohe Unterstützung, auch wenn wir sie verdreifa- bringen. chen, ist so gut wie selbstverdienter Lohn. Deshalb geht es nicht um Unterstützung, sondern es geht darum, daß die Menschen ihren Lohn selber verdie- Rudolf Dreßler (SPD): Herr Minister, Sie haben ei- nen können. Das ist die Hauptfrage der Gerechtig- nen Wunsch geäußert; ich will ihn Ihnen sofort erfül- keit. len.

Herr Scharping, Sie selber sagen im „Handels- Dr. Norbert Blüm, Bundesminister für Arbeit und blatt" vom 13. Mai 1996: Die Kosten der Arbeit sind Sozialordnung: Ja, bitte. eindeutig zu hoch. - So, Herr Scharping, und jetzt sa- gen Sie uns mal, wo Sie die Kosten der Arbeit senken wollen, und zwar, wenn es geht, ganz konkret - nicht Rudolf Dreßler (SPD): Stimmen Sie mir zu, daß der nur durch Verschiebung. Bundesfinanzminister die - nach seiner eigenen Aus- sage - im Augenblick offensichtlich nicht vorhande- (Zurufe von der SPD) nen Gelder für staatliche Hoheitsaufgaben, die in der Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996 9369

Rudolf Dreßler Rentenversicherung bezahlt werden, unter anderem brauchen ganz konkrete Vorschläge, nicht nur heiße dadurch gewinnen könnte, daß zum Beispiel der Bau Luft. des Transrapids nicht erfolgt? Natürlich halte ich das Thema Fremdleistungen (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Roll für berechtigt: Welche Leistungen müssen im Sozial- Kutzmutz [PDS]) staat an den Arbeitsplatz gebunden werden? - Diese Frage ist berechtigt, genauso wie der Gerechtigkeits- aspekt: Sollen allgemeine Leistungen nur von Bei- Dr. Norbert Blüm, Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung: Das war wieder ein Musterbeispiel: tragszahlern oder von allen finanziert werden? Nur, Die Sparvorschläge der SPD beschränken sich dar- die Beantwortung dieser Fragen entbindet uns nicht auf, Finanzen von einem Konto auf das andere zu von der Beantwortung der Frage: Wie führen wir das verschieben. zu hohe Gesamtvolumen zurück? Dazu gehört Mut. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Dazu gehören Arbeitsplätze geschaffen!) Ich sage ausdrücklich: Auch diese Diskussion - wer bezahlt was? - muß man führen. Ich halte diese Wir dürfen nicht bei Beschreibungen stehenbleiben. Frage für wichtig; nur löst man damit nicht das Pro- Wir brauchen keine Besprechungen, sondern hand- blem. Ob man einen Rucksack auf dem Buckel trägt feste Vorschläge, auch wenn sie unpopulär sind. oder ihn auf die Brust hängt - es ist immer das glei- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) che Gewicht. Unsere Diskussion kommt mir so vor, als wenn einer, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) der nach dem Weg gefragt wird, sagt: „Weiß ich Es geht also um die Frage, wo das Gesamtvolumen nicht, aber Hauptsache, wir haben darüber gespro- verringert werden kann - immer unter Würdigung chen!" - Man muß Antwort geben auf ganz konkrete von Gerechtigkeitsgesichtspunkten, unter dem Ge- Vorschläge. Die müssen diskutiert werden. sichtspunkt der Frage, wie wir eine Entlastung bei Ich hoffe, auch die Bevölkerung merkt: Wir kom- den Arbeitskosten erreichen können. Ich komme men in dieser Situation nur mit dem Mut zu konkre- gleich auf die Frage der Fremdleistungen in der So- ten Vorschlägen vorwärts, nicht mit Allgemeinplät- zialversicherung zurück. zen. Die Zeit der Allgemeinplätze ist vorbei. Zu welchen Einschränkungen des klassischen So- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. zialsystems sind Sie bereit? Ihr Geheimnis heißt: Ein- sowie des Abg. Joseph Fischer [Frankfu rt] schränkungen, die man nicht spürt. - Das gibt es [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) nicht. Sie brauchen den Mut, zu sagen, wo ganz kon- kret Beitragslasten abgebaut werden können. Dann Wir müssen Leistungen zurücknehmen; das geht diskutieren wir auch über das Thema Fremdleistun- nicht ohne Schmerzen. gen. (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ - Ich war aber mit dem Zitat noch nicht fertig. Herr DIE GRÜNEN]: Allgemeinplätze sind offen Kollege Dreßler fuhr in dem Interview fo rt : Ich halte sichtlich noch nicht vorbei, wenn man Ihre es für grotesk, über 100 Milliarden DM in der lang- Rede hört!) fristigen Entwicklung anzusetzen zur Finanzierung - In Ihren Reden habe ich nie etwas anderes gehört. eines Jägers 90. - Das ist Dreßlers zweiter Vorschlag Aber lassen wir das! zur Entlastung der Rentenkassen. Für was Sie die Ko- sten des Jäger 90 schon alles gebraucht haben! Das Auch ich will einmal die Sprache bemühen - Herr ist die sozialpolitische Allzweckwaffe der SPD. Dreßler hat sie ja heute morgen kritisiert -: Halten Sie, Herr Kollege Dreßler, das Wort „Kahlschlag" an- (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ gesichts unserer Sparmaßnahmen für berechtigt? DIE GRÜNEN]: Ja, ja, die SPD ist schlecht!) (Zurufe von der SPD: Ja!) Wenn mein Religionslehrer im Unterricht nicht mehr weiterkam, hat er gesagt: „Gottes Wege sind uner- - Dann bitte ich zu bedenken: Jede dritte Mark unse- forschlich. " Wenn die SPD nicht mehr weiterkommt, res Sozialproduktes geben wir für Soziales aus. Die sagt sie: „Jäger 90" . Soziallastquote sinkt auf Grund unserer Sparvor- schläge um 0,4 Prozent, von 33,4 auf 33,0 Prozent. (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU Weiterhin wird jede dritte Mark für den Sozialstaat und der F.D.P.) ausgegeben - einmalig in Europa! Deshalb noch einmal ganz konkret - damit Sie mir (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Arbeitslosigkeit!) nicht ins Wort fallen: zu den Fremdleistungen komme ich gleich -: Wir senken die Soziallastquote um 0,4 Prozent mit, wie ich zugebe, schmerzlichen Maßnahmen. Aber (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ wer dazu „Kahlschlag" sagt, verkennt die Proportio- DIE GRÜNEN]: Das kündigt er jetzt zum nen, um die es in dieser Welt geht. fünften Mal an!) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Wo können in der Krankenversicherung Beitragsla sten zurückgenommen werden, wo in der Rentenver Nur, damit jeder weiß, worum es geht: 11,2 Milliarden sicherung, wo in der Arbeitslosenversicherung? Wir DM von 411 Milliarden DM Ausgaben sparen wir in 9370 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996

Bundesminister Dr. Norbert Blüm der Rentenversicherung, 6,5 Milliarden DM von 100 Wenn dafür als Ausgleich noch Urlaubstage genom- Milliarden DM Ausgaben bei der Bundesanstalt für men werden können, dann müssen Sie mit dem Wo rt Arbeit. Das ist schmerzhaft; aber wo ist da Kahl- „Kahlschlag" vorsichtig sein. schlag? Wer Ihnen das glaubt, könnte ja auf die Idee kommen, wir würden den Sozialstaat beseitigen. Um Vom gesunden Menschenverstand her geht es um 0,4 Prozent sinkt die Soziallastquote. Lassen Sie doch folgendes: ' Wenn du arbeitest, mußt du immer ein die Kirche im Dorf und machen Sie die Leute nicht bißchen mehr haben, als würdest du nicht arbeiten, mit solchen Parolen verrückt! weil sonst die Versuchung groß ist, durch Nichtarbeit dasselbe Einkommen wie durch Arbeit zu erzielen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Das kann auch nicht im Sinne der Arbeitnehmer sein. Jetzt gehen wir einmal die einzelnen Maßnahmen durch: (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - Zuruf von der SPD) Die Rehabilitation ist ganz wichtig. Natürlich gilt auch weiterhin der Grundsatz „Rehabilitation vor - Mit Faulenzern hat das nichts zu tun. Das hat etwas Rente". Aber will jemand sagen, er habe 1993 nicht mit der Logik von Lohnabstandsgeboten zu tun. Die gegolten? Wir werden 1997 mit den Ausgaben im Sozialleistung muß immer etwas niedriger sein als Grunde auf das Niveau von 1993 zurückgehen. Ist der Lohn, der auf Arbeit beruht, sonst verliert der So- hier jemand im Parlament, der behauptet, 1993 sei zialstaat seine Akzeptanz. ein rehabilitationsfreies Jahr gewesen? Wir gehen auf ein Niveau zurück, das dem von vor vier Jahren (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) entspricht. Jetzt komme ich noch zum Thema Rente; wir In dem Zusammenhang sagen Sie, es würden Ar- wollen nichts auslassen. Der Kollege Dreßler hat beitsplätze gefährdet. Meine Damen und Herren, einen Rentenversicherungsbeitrag in Höhe von wenn Kosten keine Rolle spielen, dann bringen Sie in 20,4 Prozent beklagt und der Regierung diese 20,4 dieser Logik doch alle Arbeitslosen in Kurbetrieben oder 20,6 Prozent vorgeworfen. Aber er hat keinen unter. Dann sind sie weg. einzigen Vorschlag gemacht, um diese Beitragshöhe (Heiterkeit bei der CDU/CSU - Wider zu verhindern. Er wirft uns die 20,4 Prozent vor, be- spruch bei der SPD) kämpft aber alle Maßnahmen, mit denen wir unter 20 Prozent kommen können. Welche Logik, welches - Nein, ich prangere nur Ihr kindliches Denken an. Denkschema, uns eine Gefahr vorzuwerfen und Es spielt doch auch eine Rolle, daß die Rehabi litation gleichzeitig alles zu tun, damit die Gefahr auch Wirk- von den Arbeitnehmern bezahlt werden muß, und lichkeit wird! Das ist gegen jede seriöse Politik. Sie können die Kuh nicht schlachten, die Sie melken Wenn 20,4 oder 20,6 Prozent eine Bedrohung sind, wollen. So dumm ist kein Bauer, so dumm sind nur lieber Kollege Dreßler, dann müssen Sie Vorschläge noch die Sozialdemokraten. machen, wie wir noch weiter herunter kommen. - (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Zuruf von der SPD: Hat er doch!)

Jetzt zu dem Thema Lohnfortzahlung: Ich gestehe, Ich nehme jeden Vorschlag an. Aber ohne Vor- daß mir dieser Vorschlag nicht leichtfällt; das gestehe schläge werden Sie nicht unter 20,6 Prozent kom- ich hier an diesem Pult ausdrücklich. men.

(Zurufe von der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) - Hören Sie doch ruhig zu! - Aber nicht der Sache Jetzt zu den Rentnern: Einen Restbestand von wegen, sondern weil in die Lohnfortzahlung ein Teil Eitelkeit habe ich auch. Das, was Sie in Ihrer der Geschichte auch der Arbeiterbewegung einge- Renten- gemacht haben, habe ich nie gemacht und flossen ist. Bei dem damaligen Streik ging es gar politik werde ich auch nie machen. Ich werde nie dazu nicht um das eigentliche Thema Lohnfortzahlung. Da ging es vielmehr darum, daß die Arbeiter den Ange- meine Hand geben, eine Rentenanpassung ausfallen zu lassen; das aber haben Sie gemacht. Dreimal ha- stellten gleichgestellt werden. ben Sie sie willkürlich festgesetzt, siebenmal haben (Beifall bei der CDU/CSU) Sie den Bundeszuschuß manipuliert. Das kann ich sehr gut verstehen: Es verletzte die (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Sie machen Ren Ehre der Arbeiter, daß sie als Arbeitnehmer zweiter ten auf Pump!) Klasse behandelt wurden. Da war ein verletztes Ehr- gefühl im Spiel. Aber, meine Damen und Herren, wo Unsere Rentenpolitik, das gebe ich zu, ist nicht popu- in der Welt gibt es noch bei Nichtarbeit ebenso listisch. Wir haben die Rentenerhöhung nicht ausf al- 100 Prozent Lohn wie bei Arbeit? Es kann doch nicht len lassen. - Je mehr Sie dazwischenrufen, um so der Sinn von Sozialleistungen sein, daß man bei mehr halte ich Ihnen Ihre ganzen Sünden vor. Nichtarbeit dasselbe Geld wie bei Arbeit bekommt. Das ist gegen jede Logik des Sozialstaates. Sie haben die Rentenerhöhung vom süddeutschen Wetteramt abrufen lassen. Das hat mit seriöser Ren- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) tenanpassung überhaupt nichts zu tun. Von solchen Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996 9371

Bundesminister Dr. Norbert Blüm Stümpern lasse ich mir nicht vorwerfen, wir seien un- nach dem Winde hängen, ob das nun eine rote Fahne seriös. oder eine andere ist. (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU und (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) der F.D.P.) Zu den Frauen: Wir haben die Altersgrenze für Heute wird Tacheles geredet. Räumen wir das Holz Männer, für Arbeitslose von 60 erhöht - ich hoffe, mit einmal weg! Ihrer Zustimmung, jedenfalls mit Zustimmung der Sozialpartner. Die Altersgrenze für Arbeitslose heben Jetzt zu den einzelnen Maßnahmen. Zunächst zum wir von 60 auf 63 an. Jetzt frage ich Sie: Wenn wir die Bundeszuschuß - ein bestgehütetes Geheimnis: Altersgrenze für Frauen bei 60 lassen würden, 76 Milliarden DM zahlt der Bund an Bundeszuschuß. würde sich der gesamte Entlassungsdruck auf dieje- Die Erstattung beläuft sich auf 9 Milliarden DM. - nigen richten, die bisher noch mit 60 in Rente gehen Das sind 19 Prozent des Bundeshaushalts. Damit können. Was haben Sie, um die Frage von Herrn setzen wir fast jede fünfte Mark des Bundeshaushalts Dreßler zurückzugeben, dagegen, daß die Alters- für die Rentenversicherung ein. Deshalb, meine Da- grenze von Frauen und Männern die gleiche ist? Sie men und Herren, erwecken Sie hier nicht den Ein- selber haben im Rentenkonsens - unter welchen Be- druck, der Bund würde die Rentenversicherung im dingungen auch immer - den Grundsatz, Frauen und Stich lassen. So viel Bundeszuschuß, nicht nur in der Männer haben die gleiche Altersgrenze, 1989 mitbe- absoluten Höhe, sondern auch prozentual, ist noch schlossen. So gedächtnisschwach sind wir nicht. Was nie gezahlt worden. Ich sage noch einmal: Wir müs- wir anders machen, ist nicht ein prinzipieller Unter- sen der Frage der Fremdleistungen nachgehen - ich schied, sondern ein temporärer Unterschied. Wir be- weiche dieser Diskussion nicht aus -, aber alles, was ginnen mit der Anhebung früher und bieten dazu Sie als „versicherungsfremde Leistungen" bezeich- eine Reihe von Maßnahmen an, die in der Tat den nen, haben Sie mitbeschlossen. Übergang von der Erwerbsarbeit in den Ruhestand für Männer und Frauen sanfter, menschlicher gestal- Vizepräsident Hans Klein: Herr Bundesminister, ten, als das heute ist. gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Sonn- (Widerspruch bei der SPD) tag-Wolgast? - Sie nehmen nicht zur Kenntnis, daß die IG Chemie weit fortschrittlicher ist als Sie. Sie hat nämlich dazu, Dr. Norbert Blüm, Bundesminister für Arbeit und wogegen Sie anschreien, schon einen Tarifvertrag Sozialordnung: Immer. abgeschlossen. Sie sind wirklich weit hinter der Ge- werkschaftsbewegung zurück. Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast (SPD): Herr Mi- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) nister, seit einer Viertelstunde präsentieren Sie uns hier eine rosige Zahl nach der anderen in Form einer Intelligente Lösungen werden nur kommen, wenn Milchmädchenrechnung. Schlupflöcher zugemacht werden. So war es beim - Schlechtwettergeld. (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Stimmt doch gar nicht!) (Widerspruch bei der SPD) Wagen Sie auch, einer Frau, die durch die Erhöhung - Doch! Das Schlechtwettergeld, so wie es durch den des Rentenalters um ihre Lebensplanung betrogen Tarifvertrag jetzt geregelt ist, ist besser geregelt, als wird, diese Rechnung so aufzumachen, wie Sie es das vorher der Fall war. Es orientiert sich jetzt an Jah- seit einer Viertelstunde tun? resarbeitszeiten. So wird es auch hier sein. Laßt die SPD in ihren alten Festungen bleiben! Die moderne (Beifall bei der SPD) Gewerkschaftsbewegung - sie ist nicht überall mo- dern - wird an dieser veralteten Truppe vorbeizie- hen, und Sie werden Last haben, die Gewerkschaf- Dr. Norbert Blüm, Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung: Sie müssen mich mißverstanden ha- ten einzuholen. ben. Ich habe die ganze Zeit überhaupt nicht über (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) rosige Zahlen gesprochen. Ich habe - genau umge- kehrt - darüber gesprochen, daß die Zahlen so sind, Bitte, Frau Mascher! daß wir sparen müssen. (Zuruf von der SPD: Einmal nur ist Karne (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge val!) ordneten der F.D.P.) - Wenn die Wahrheit Karneval ist, dann ist das Kar- Sie verwechseln meine Äußerungen mit der Darstel- neval, jawohl! lung Ihrer Seite. Ich habe nicht davon gesprochen, daß wir nicht handeln müssen. Sie haben doch, um Ulrike Mascher (SPD): Herr Arbeitsminister, hat Ih- diese schlimmen Zahlen zu verhindern, bis zu dieser nen Ihr Parlamentarischer Staatssekretär, der genau Stunde - außer Verschiebungen von Kosten von ei- wie ich gestern an der Anhörung zu Ihrem Gesetz- nem auf den anderen - keinen konkreten unpopulä- entwurf zur Altersteilzeit und zum gleitenden Über- ren Vorschlag gemacht. Ich sage Ihnen: Ohne un- gang teilgenommen hat, nicht mitgeteilt, daß unter populäre Vorschläge, ohne Mut werden wir nicht anderem der Zentralverband des Deutschen Hand- weiterkommen. Man darf sein Fähnchen nicht nur werks entschieden verneint hat, daß die Altersteil- 9372 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996

Ulrike Mascher zeit überhaupt wirksam werden kann, weil die Rah- Universitätsausbildung erst mit 30 Jahren Beiträge menbedingungen nicht stimmen, hat er Ihnen nicht gezahlt haben. berichtet, daß der Bundesverband der deutschen Ar- beitgeber erhebliche Probleme hat, weil die Rahmen- (Beifall bei der CDU/CSU) bedingungen zu eng sind, daß die Gewerkschaften Warum soll der Maurer für den Universitätsabsol- gesagt haben, so, wie das Gesetz ausgestaltet sei, venten bezahlen? Das sehe ich überhaupt nicht ein. werde es eben nicht den von Ihnen als Silberstreif Hier muß Beitragsbezogenheit hergestellt werden. am Horizont beschworenen schönen gleitenden Übergang in die Pension geben? Ist Ihnen das nicht (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) berichtet worden? Es wäre noch viel zu sagen, aber lassen Sie mich nur das eine noch abschließend sagen: Seien Sie vor- Dr. Norbert Blüm, Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung: Frau Mascher, darf ich Ihnen mit ei- sichtig! Kritisieren, diskutieren, mein Gott, das ge- ner Gegenfrage antworten? hört zu unserem parlamentarischen Leben, aber nicht, die großen Keulen, wie „Kahlschlag" oder, (Zurufe von der SPD: Nein!) Herr Gysi, „Grausamkeit" zu verwenden und dann die DDR zu erwähnen! Die größte sozialpolitische - Doch! Grausamkeit der letzten 40 Jahre war die DDR. Sind Hat Ihnen Ihr verehrter Kollege Rappe nicht mitge- Sie vorsichtig mit dem Wort „Grausamkeit". teilt, daß die IG Chemie bereits einen Tarifvertrag (Beifall bei der CDU/CSU) hat, der das herstellt? Hat Ihnen Ihr IG-Metall-Kol- lege nicht berichtet, daß es im Stahlbereich auch be- „Kahlschlag", „Kapitalismus pur" , solche Hämmer, reits Altersteilzeit gibt? Bedenkenträger wird es im- solche Totschlagworte lösen kein einziges Problem, mer geben. Das weiß ich. Der Fortschritt muß sich ge- das differenziert behandelt werden muß. Wir müssen gen manche Widerstände nicht nur auf einer Seite sparen; es führt kein Weg daran vorbei. Wir müssen durchsetzen. auch die richtige Zuordnung - Fremdleistung, Bei- (Lachen bei der SPD) tragsleistung - klären. Das entzieht uns überhaupt Sagen Sie mir doch einmal, wie wir das schaffen! nicht der Notwendigkeit einzusehen, daß das Ge- Die Lebenszeiten wachsen - ich sage: Gott sei Dank; päck zu schwer ist, daß Arbeitnehmer und Arbeitge- wir alle wünschen uns das ja -, und zwar bei Män- ber an der Grenze ihrer Belastbarkeit angekommen nern und Frauen, bei Frauen sogar stärker als bei sind. Wir sparen doch nicht für irgendwelche Öl- Männern, was ich ihnen gönne. Wenn die Lebenszei- scheichs. Wir sparen für Millionen von Arbeitneh- ten wachsen, dann können wir darauf nicht mit frü- mern, Handwerkern und Bet rieben. herem Renteneintritt antworten. Wären die Renten- (Widerspruch bei der SPD) laufzeiten noch so lang wie 1960, dann hätten wir jetzt einen Beitragssatz von 12 Prozent, meine Da- Es ist wichtig, daß diese von Kosten entlastet werden, men und Herren. Sie sehen, welcher Schub aus den damit neue Arbeitsplätze entstehen. Rentenlaufzeiten resultiert. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Nur darüber zu klagen, die Demographie auf Aka- demietagungen vor- und rückwärts zu besprechen, Bevor Sie noch einmal „Kahlschlag" sagen, wende das nützt gar nichts. Handeln müssen wir. Wir kön- ich mich an alle: nen bei verlängerter Lebenserwartung - erfreulich und erwünscht - nicht zusehen, wie die Rentenein- (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ trittsalter immer weiter sinken. Wir verbinden das DIE GRÜNEN]: Weihnachten und Ostern auch mit einem Angebot, selbst zu entscheiden, für die Arbeitnehmer in einem!) wann man ausscheidet, sich freilich dann dieses frü- here Ausscheiden nicht von denen bezahlen zu las- In dieser Zeit, in der wir 11 Milliarden DM gegen sen, die länger arbeiten. großen Widerstand bei Ihnen in der Rentenversiche- rung, 6,5 Milliarden DM im Bereich der Bundesan- Deshalb ist es ein Gebot der Gerechtigkeit, daß es stalt für Arbeit sparen, genau in dieser Zeit verab- hier zu Abschlägen kommt, die man durch freiwillige schieden wir eine Pflegeversicherung. Deshalb seid oder tarifvertraglich vereinbarte Beiträge ausglei- vorsichtig zu behaupten, die Sozialpolitik hätte chen kann. nichts anderes im Kopf als einzusammeln. Nein, Um- bau heißt, dort, wo neue Fragen entstanden sind, Dann zu den beitragsfreien Zeiten: Wenn wir das neue Antworten zu geben und dafür alte Besitz- System stimmiger machen wollen, wenn wir soziale stände in Frage zu stellen. Dazu gehört mehr als nur Lasten von den Arbeitsplätzen wegnehmen wollen, heiße Luft. Dazu gehört mehr, als nur zu reden. Dazu dann muß die Beitragsbezogenheit gestärkt werden. gehört Mut, der Ihnen offenbar fehlt. Wenn früher 13 beitragsfreie Jahre in der Rentenver- sicherung bezahlt wurden, dann frage ich: Von wem (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und wurden sie denn bezahlt? Sie wurden von denjeni- der F.D.P.) gen bezahlt, die mit 15 in die Lehre kamen und mit 65 ausgeschieden sind. Sie sind von denjenigen be- zahlt worden, die 45 oder 50 Jahre Beiträge zugun- Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Kol- sten derjenigen gezahlt haben, die auf Grund von lege Rudolf Scharping. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996 9373

Rudolf Scharping (SPD): Herr Präsident! Meine Verhalten und an dem, was Sie früher gesagt haben. sehr verehrten Damen und Herren! Heute auf den Ich zitiere Norbert Blüm vom 26. Oktober 1995: Tag genau, vor 47 Jahren, wurde das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verabschiedet. Es Der Rentenversicherung steht keine Verände- bestimmt in seinem Art. 1, daß die Würde des Men- rung ins Haus. schen unantastbar ist. Es bestimmt in seinem A rt . 20, daß die Bundesrepublik Deutschland ein demokrati- (Lachen bei der SPD) scher und sozialer Rechtsstaat ist. Norbert Blüm am 23. Dezember 1995: Damit hat dieses Grundgesetz einen Wertekon- Unser Sozialstaat ist konkurrenzlos ... Die Siche- sens beschrieben. Dieser Wertekonsens ist in den rungssysteme sind weltweit konkurrenzlos: letzten Jahren immer stärker beschädigt worden. Mit dem, was Sie uns vorlegen, wird er noch stärker be- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) schädigt, an manchen Stellen aufgekündigt. Die Renten in Deutschland bleiben auch künftig (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sicher. Ich werde sie bewachen wie die Wach- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der und Schließgesellschaft. PDS) Dieser Wertekonsens hat im Vorspruch zur Ham- (Lachen bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/ burger Verfassung einen schönen Ausdruck gefun- DIE GRÜNEN und der PDS - Beifall bei der den. Diese wurde im Jahre 1952 verabschiedet. In ih- CDU/CSU) rer Präambel heißt es: Jede private „Wachklitsche" ist bei ihren Bewa- Jedermann hat die sittliche Pflicht, für das Wohl chungsaufgaben konsequenter und besser als diese des Ganzen zu wirken. Die Allgemeinheit hilft in Bundesregierung. Fällen der Not den wirtschaftlich Schwachen und ist bestrebt, den Aufstieg der Tüchtigen zu för- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE dern. Die Arbeitskraft steht unter dem Schutze GRÜNEN und der PDS) des Staates. Das wird auch keinen Deut dadurch besser, daß Sie Dieser Konsens, der in dieser schönen Formulierung hier nach der Methode verfahren: Ihr habt mich beim enthalten ist, wird von der Bundesregierung und den Lügen erwischt, ihr unverschämten Lümmel. sie tragenden Kräften nicht mehr ernst genommen - zum Schaden der Allgemeinheit, zum Schaden der (Heiterkeit bei der SPD) Zukunft unseres Landes, insbesondere zum Schaden Genauso argumentieren Sie. der Kinder, der Arbeitslosen, der Schwächeren, der Familien und vieler anderer. Sie haben den Menschen bis unmittelbar vor den Landtagswahlen am 24. März dieses Jahres schlicht (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ - die Unwahrheit gesagt. Sie wußten, daß Sie die Un- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der wahrheit sagen. PDS) Diese Bundesregierung ist unfähig, zu fragen, was (Walter Hirche [F.D.P.]: Das ist falsch!) John F. Kennedy gefragt hat: Die Eliten unseres Lan- Der Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutsch- des - so sagte John F. Kennedy - müssen sich fragen land hat im März 1996 an Rentnerinnen und Rentner lassen, was sie selbst zur Besserung der Lage tun geschrieben: können, anstatt nur danach zu trachten, was sie an- deren zumuten können. ... in jüngster Zeit ist in der Öffentlichkeit der (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne Eindruck erweckt worden, die Renten seien unsi- ten der PDS) cher geworden. Viele ältere Mitbürger haben mir geschrieben, daß sie sich Sorgen machen. Des- Sie sind aus Feigheit und mangelnder Konsequenz halb wende ich mich heute mit diesem B rief per- zukunftsfeindlich. sönlich an Sie. (Beifall bei der SPD) Sie können sich darauf verlassen: Ihre Rente ist Sie sind unglaubwürdig, und Sie haben die Men- und bleibt sicher. Am Generationenve rtrag wird schen in Deutschland belogen, was das Zeug hält. nicht gerüttelt. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS - Widerspruch bei der CDU/ Den Frauen, die ihre Lebensplanung entsprechend CSU und der F.D.P.) ausgerichtet haben, die in den Zeiten des Wiederauf- baus der Bundesrepublik Deutschland mit schlecht Verehrter Herr Kollege Blüm, persönlich mag ich bezahlten und schlecht abgesicherten Arbeitsver- Sie ja. Vieles von dem, was Sie politisch wollen, hältnissen zufrieden sein mußten, die Kinder großge- könnte ich sogar mittragen. Daß Sie hier Dinge ver- zogen haben und jetzt in Deutschland im Durch- treten müssen, hinter denen Sie nicht mit Ihrem Her- schnitt unter 1 000 DM Rente im Monat haben, sagen zen stehen, ist offenkundig. Das merkt man an Ihrem Sie implizit: Sie sollen die Last der unerträglichen 9374 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996

Rudolf Scharping Unfähigkeit der Regierung tragen. Das werden wir tigkeit, Sie sparen an Glaubwürdigkeit, Sie sparen nicht mitmachen. an der Zukunft unseres Landes. Das betrifft auch die Arbeitnehmer. In dieser Beziehung ist das ein Kür- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne zungspaket. ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS) Ich will das an einem zweiten Beispiel deutlich ma- chen. Sie haben den Eindruck erweckt, Sie wollten Sie reden viel über den Wirtschaftsstando rt; wir re- gemeinsam mit den Arbeitnehmern und den Ge- den über den Lebensstandort und darüber, wie es werkschaften über die Zukunft der Arbeit reden. Tat- mit dem Vertrauen und der Glaubwürdigkeit der sächlich haben Sie deren Bereitschaft mißbraucht, also dem Grundkapital der Demokratie, aus- Politik, gemeinsam etwas Vernünftiges zu machen. sieht. Wer am 9. November 1989 den Bürgerinnen und Bürgern in Deutschland sagt, er habe ein Jahr- Auch das will ich mit einem Zitat belegen. Am 17. hundertwerk verabschiedet, wer wie der Bundes- April 1996 hat der Vorsitzende der Sozialausschüsse, kanzler der Bundesrepublik Deutschland einen sol- Eppelmann, der sich vermutlich hier nicht äußern chen Brief an die Rentnerinnen und Rentner schreibt, wird wer wie der Bundesarbeitsminister in Dutzenden von (Zurufe von der SPD: Er darf nicht!) öffentlichen Erklärungen den Eindruck erweckt, an der Rente werde nichts geändert, und dann solche - nun gut; dafür mag es Gründe geben -, in einem Vorschläge macht, der begeht nicht nur einen Akt Gespräch mit der NRZ auf die Frage, ob denn die bitterer sozialer Ungerechtigkeit, sondern zerstört Einschränkung der Lohnfortzahlung mit der CDA das Grundkapital der Demokratie, nämlich Ver- machbar sei, gesagt: trauen und Glaubwürdigkeit. Nur im Einvernehmen mit den Tarifpartnern. Ab- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne solute Priorität hat das Bündnis für Arbeit. ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) NRZ: Selbst die Erhöhung des Kindergeldes wird Ich sage das mit großem Ernst, weil es ja, wie die schon in Frage gestellt ... Eppelmann: Ein Aus- Beispiele zeigen, durchaus andere Möglichkeiten setzen ist mit uns nicht zu machen. Sparen ist gäbe. Vor wenigen Tagen hat die Bundesregierung keine Spezialdisziplin der kleinen Leute. Jetzt eine Anfrage mit Hinweisen auf die geringfügige Be- müssen wir an den Steuer- und Subventionsmiß- schäftigung beantwortet. Diesen Zahlen ist zu ent- brauch. nehmen, daß schon 1991 in der Bundesrepublik (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Kerstin Deutschland rund 4 Millionen Menschen außerhalb Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) der Sozialversicherung beschäftigt wurden - es sind seither viel, viel mehr geworden -; diesen Zahlen ist NRZ: Die Sozialausschüsse ... Was können zu entnehmen, daß insbesondere Frauen davon be- Sie ... noch gestalten .. . troffen sind; diesen Zahlen ist zu entnehmen, daß ne- Eppelmann: Eingriffe in die Tarifautonomie oder ben den wirtschaftlichen Folgen - unfairer Wettbe- auch das Einfrieren der Renten sind weltfremd werb, Zerstörung selbständiger Existenzen,- Zerstö- und schaden der Union als soziale Volkspartei. rung von Arbeits- und Ausbildungsplätzen - der Rentenversicherung 10 Milliarden DM entzogen (Beifall bei Abgeordneten der SPD) wurden. Was überfällig ist, sind wirksame Maßnahmen Herr Bundesarbeitsminister, es gibt einen einf a- gegen den Mißbrauch mit den geringfügigen Be- chen Weg. Da Sie nach Vorschlägen fragen und Ihre schäftigungsverhältnissen. Allein hierdurch ge- offenkundige Perspektiv- und Ideenlosigkeit damit hen der Sozialversicherung jährlich über dokumentieren, will ich Ihnen ein bißchen helfen. 11 Milliarden Mark verloren. Was Sie in der Rentenversicherung zu Lasten der Frauen, zu Lasten der Lebensschicksale, zu Lasten (Beifall bei Abgeordneten der SPD) des Vertrauens und der Glaubwürdigkeit sparen wol- Meine Damen und Herren von der CDU, eines ist len, könnten Sie ausweislich Ihrer eigenen Zahlen bei Ihnen deutlich geworden: Sie geben den Charak- dadurch hereinholen, daß Sie endlich dieses Übel der ter der CDU als sozialer Volkspartei auf. versicherungsfreien Tätigkeit gerade von Frauen be- enden. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS) Sie unterwerfen sich der Erpressung durch die F.D.P. Aber Sie haben ja nicht nur das Vertrauen der (Beifall bei der SPD - Zurufe von der F.D.P.: Rentnerinnen und Rentner beschädigt, Sie haben ja Oh!) zugleich auch das Vertrauen der Gewerkschaften, Neben dem Vertrauensschaden, der dadurch ent- der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beschä- steht - wie Sie den Charakter Ihrer Partei verändern, digt. Sie haben den Eindruck erweckt, Sie wollten könnte uns zunächst einmal egal sein -, führen Sie ein Bündnis für Arbeit schaffen. Herausgekommen zudem systematisch Leute hinters Licht. ist ein Bündnis gegen die Arbeit, gegen die soziale Gerechtigkeit. Sie nennen das ein Sparpaket. Ich will Wir werden im Verlaufe der Erörterung dieses Pa- gerne konzedieren: Sie sparen. Sie sparen an wirt- kets merken, ob die heutigen Äußerungen der Präsi- schaftlicher Vernunft, Sie sparen an sozialer Gerech- dentin des Deutschen Bundestages, ob frühere Äuße- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996 9375

Rudolf Scharping rungen des Kollegen Keller und ob die Äußerungen Dabei geht es um die Sicherung von Exportmärk- des Kollegen Eppelmann oder auch anderer irgend ten. Der Lohnkostenfaktor ist untergeordnet, etwas wert sind. Was Sie hier machen, ist nichts an- denn 90 Prozent der deutschen Direktinvestitio- deres als die Beschädigung des sozialen Konsenses. nen gehen in die westlichen Industriestaaten .. .

(Beifall bei der SPD) Wenn Sie den Menschen in Deutschland einreden wollen, Ihr Paket sei wegen weltwirtschaftlicher Ent- Was viel schlimmer ist: Sie reden den Leuten ein, sie wicklungen und Zwänge notwendig, dann halte ich müßten weltwirtschaftlichen Zwängen folgen. Ihnen die Worte Ihres eigenen Staatssekretärs entge- Ich sage Ihnen: Politik besteht nicht da rin, angebli- gen und sage: Sie belügen die Leute über die Wirk- che Zwänge in das gesellschaftliche und soziale Ge- lichkeit und versuchen, den Charakter unseres Lan- füge unseres Landes zu übernehmen, sondern da rin, des zu verändern. nach Gestaltungsmöglichkeiten zu suchen, die den Zusammenhalt von Menschen stärken und die Ge- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE rechtigkeit aufrechterhalten. GRÜNEN und der PDS) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne Herr Günther sagt: ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS) Die Lohnstückkostenentwicklung in nationaler Währung Damit bin ich bei einem dritten Stichwort. Nicht nur, daß Sie die Rentnerinnen und Rentner belogen - nur um diese kann es gehen - und betrogen haben, nicht nur, daß Sie die Arbeit- nehmerinnen und Arbeitnehmer beim Kündigungs- verlief in Deutschland günstiger als in den wich- schutz, bei der Lohnfortzahlung oder anderem heran- tigsten Konkurrenzländern. Deutschland hat sich nehmen wollen. Sie sind auch unfähig, für eine sozial von der Lohnkostenseite her ständig Wettbe- geradlinige, in den Rahmenbedingungen verläßliche werbsvorteile erarbeitet. Diese wurden durch Politik zu sorgen. Aufwertungen der D-Mark jedoch wieder „ein- geebnet" . (Zuruf von der CDU/CSU: Wo ist Ihre Alter native?) Wenn Sie den Menschen in Deutschland gegen- über weltwirtschafliche Zwänge als Vorwand benut- Wer in der Lage ist, sich selbst das Etikett des Ch rist zen, um den sozialen Zusammenhalt dieses Landes lichen und des Sozialen zu attestieren, der sollte zu beschädigen, dann sage ich Ihnen mit den Worten auch in der Lage sein, nach einem fairen Lastenaus- Ihres eigenen Staatssekretärs: Sie belügen die Leute gleich zu suchen, bevor er über 9 Millionen Familien über die Realität. Sie täuschen über das hinweg, was und über 20 Millionen Kinder durch das Einfrieren Sie wirklich erreichen wollen. Es ist Ihre Finanzpoli- des Kindergeldes belastet. Es ist eine Unanständig- tik, die die wirtschaftliche Kraft der Bundesrepublik keit, daß die Familien bestraft werden- und für die Deutschland beschädigt hat, nicht etwa die sozialen Vermögensbesitzer Sekt ausgeschenkt wird. Rechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.

(Lebhafter Beifall bei der SPD - Beifall beim (Lebhafter Beifall bei der SPD - Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der PDS) Abgeordneten der PDS) Da Sie davon reden, die Bundesrepublik Deutsch- Schließlich sage ich Ihnen drittens wiederum mit land müsse weltwirtschaftlichen, globalen Zwängen den Worten Ihres eigenen Staatssekretärs, der etwas folgen, möchte ich wieder jemanden aus Ihren eige- über die versicherungsfremden Leistungen sagt: nen Reihen zitieren; er ist sogar Mitglied der Regie- rung. Vielleicht beginnen Sie dann einmal ernst zu Darüber hinaus ist ein beträchtlicher Teil der nehmen, was Mitglieder Ihrer eigenen Regierung sa- Finanztransfers im Zusammenhang mit der Wie- gen. dervereinigung über die Sozialversicherungs- 1994 systeme organisiert. Wie aus dem Sozialbericht 1993 der Bundesregierung hervorgeht, waren - so sagt der Parlamentarische Staatssekretär im Bun- dies allein im Bereich der Arbeitslosen- und Ren- desarbeitsministerium, Horst Günther - tenversicherung im Zeitraum von 1991 bis 1993 rd. 118 Milliarden Mark, was etwa drei Prozent- exportierten nur die USA mit 512 Milliarden Dol- punkten des Sozialversicherungsbeitrags ent- lar mehr als Deutschland ... Auf dem dritten sprach. Platz folgte Japan .. . Es ist nicht so, daß die Menschen in Deutschland Dann: zuviel Lohn beziehen. Es ist aber eindeutig so, daß Deutsche Direktinvestitionen sind ein Reflex des Sie mit Ihrer verhängnisvollen Politik die Kosten der Außenhandelsüberschusses und damit ein Zei- Arbeitsplätze so hoch getrieben haben, daß Sie das chen wirtschaftlicher Stärke. jetzt als Entschuldigung und als Vorwand mißbrau- chen wollen, um arbeitsrechtliche Sicherheit zu zer- (Zuruf von der CDU/CSU: Stimmt doch!) stören. Das ist der falsche Weg. Sorgen Sie endlich 9376 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996

Rudolf Scharping dafür, daß alle gemeinsam die großen Zukunftsauf- sen etwas ändern? Es wird die Ergebnisse nur ver- gaben finanzieren. schärfen, wie die letzten 13 Jahre bewiesen haben. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE DIE GRÜNEN) GRÜNEN und der PDS) Ich kann nicht viel mehr sagen, sonst wird es eine Was bedeutet das politisch? - Der katholische Bi- allzu heftige Vorlesung, und dem Mann wird zuviel schof von Limburg, Franz Kamphaus, spricht von ei- Ehre getan. Herr Günther sagt auch, daß Deutsch- ner strukturellen Rücksichtslosigkeit gegenüber Fa- land bei den indirekten Steuern mit 13,1 Prozent des milien. Der Deutsche Caritasverband bezeichnet Ihre Bruttoinlandsproduktes deutlich hinter Dänemark Pläne - das ist eine sehr höfliche Formulierung - als mit 18,3 Prozent, Großbritannien mit 16,1 Prozent, unausgewogen. Der Reichsbund der Kriegs- und Österreich mit 16 Prozent und Frankreich mit Wehrdienstopfer beklagt die finanzielle Strangulie- 15,1 Prozent liegt. Die direkten Steuern betragen in rung von Rentnern und Arbeitnehmern; dies tut auch Deutschland 11,9 Prozent, Dänemark 27,4 Prozent - das Diakonische Werk. So könnte ich Ihnen Stimme Sie wollen doch immer über weltwirtschaftliche und um Stimme zitieren. globale Zusammenhänge reden -, Schweden 22 Prozent, Belgien 18 Prozent, Großbritannien Machen Sie sich bitte über eines keine Illusionen: 13 Prozent und Österreich 13 Prozent. Sie haben den Bogen überspannt. Das bedeutet folgendes: Sie haben mittlerweile ei- (Zuruf von der CDU/CSU: Vorschlag!) nes fertiggebracht: Wir haben die niedrigste Steuer- Sie haben ein Paket auf den Tisch gelegt, das wirt- belastung im Bereich der direkten Steuern, nament- schaftlich nichts außer Risiken bedeutet und das den lich für Unternehmen. Wir haben die höchste Bela- sozialen Konsens in Deutschland weiter stark be- stung der Arbeitsplätze. Wer diesen verhängnisvol- schädigt. Sie haben keine vernünftige Konzeption. len Weg nicht endlich verläßt, der kann keine Ar- beitsplätze und vernünftigen Rahmenbedingungen (Zuruf von der CDU/CSU: Vorschlag! - Wei für Arbeitsplätze in Deutschland erreichen. Das ist tere Zurufe von der CDU/CSU) völlig ausgeschlossen. Anstatt den Menschen immer - Verehrter Herr Kollege, ich werde nachher Ihre ihre Leistung zu kürzen und ihre Sicherheit zu ver- Adresse aus dem Bundestagshandbuch heraussu- teuern, sollten Sie endlich hingehen und einen kla- chen und Ihnen dann das Alternativprogramm der ren Weg verfolgen. Das tun Sie nicht, wie ich durch Sozialdemokratischen Partei Deutschlands schik- diese Beispiele deutlich machen wollte. ken. Ich sage Ihnen, welche politischen Folgen das hat. (Beifall bei der SPD - Ernst Hinsken [CDU/ Wir sind der Auffassung: Sorgen Sie endlich dafür, CSU]: Das hätte ich auch gern!) daß die Arbeit und die Arbeitsplätze von Kosten ent- lastet werden. Sorgen Sie dafür, daß die versiche- Dann können Sie es lesen, und dann können wir uns rungsfremden Leistungen aus der Renten- und Ar- gelegentlich einmal darüber unterhalten; denn wir beitslosenversicherung herauskommen. Sorgen Sie - können doch eine Debatte nicht so führen, daß Sie dafür, daß der gemeinsame Aufbau in Deutschland jetzt von mir noch Belehrungen über etwas erwarten, von allen gemeinsam bezahlt wird. Sorgen Sie dafür, was Sie doch sowieso nicht zur Kenntnis nehmen daß es einen fairen Lastenausgleich gibt, damit sich wollen. die Schaffung von Arbeitsplätzen und der Einsatz von Arbeitskraft wieder stärker lohnen als die bloße (Zuruf von der CDU/CSU: Sie wissen doch Finanzanlage in Deutschland; denn das ruiniert uns. nichts!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne Ich habe Sie im Deutschen Bundestag mehrfach ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN aufgefordert, Überstunden in bezahlte Arbeitsplätze und der PDS) zu verwandeln, und Ihnen vorgerechnet, daß dies 400 000 Arbeitsplätze ergibt. Sorgen Sie dafür, daß nicht eine Politik gemacht wird, die immer stärker die Spirale nach unten in (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne Gang setzt, was Ihnen mittlerweile alle Wirtschafts- ten der PDS - Ernst Hinsken [CDU/CSU]: forschungsinstitute, der Sachverständigenrat, die Ge- Ach Gott, ach Gott!) werkschaften, die Arbeitgeber und viele andere be- Verwandeln Sie wenigstens die Hälfte der gering- stätigen. Ihr Weg ist sozialpolitisch völlig unverant- fügigen Beschäftigungsverhältnisse, der versiche- wortlich, und wirtschaftlich führt er in die Irre, wie rungsfreien Arbeit in bezahlte Teilzeitarbeit. Das er- die Politik der letzten 13 Jahre bewiesen hat. gibt zweimillionenmal Sicherheit für Frauen. Wie kommt eigentlich eine Regierung, die zu ver- (Beifall bei der SPD) antworten hat, daß wir die höchste Steuerbelastung haben, die zu verantworten hat, daß wir die höchste Sorgen Sie dafür, daß dadurch Beiträge für die Ren- Arbeitslosigkeit haben, die zu verantworten hat, daß tenversicherung bezahlt werden. Machen Sie einen wir die höchste Zahl von Armen in Deutschland ha- fairen Lastenausgleich, und sorgen Sie dafür, daß ben, kombiniert mit einem enormen Wachstum des nicht nur die kleinen Leute, nicht nur die normalen privaten Reichtums, zu der unverschämten Chuzpe, Verdienste, nicht nur die Leistungsträger in dieser dem deutschen Volk zu sagen, die Fortsetzung und Gesellschaft, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, Verschärfung ihres Kurses würde an den Ergebnis Facharbeiter und Ingenieure, Handwerker und viele Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996 9377

Rudolf Scharping andere, belastet werden, sondern daß es wieder Die Grundzüge unseres Konzeptes sind klar und einen Konsens im Sinne dessen gibt, was vor zukunftsträchtig. Die Grundzüge Ihres Konzeptes 47 Jahren verabschiedet worden ist. Im Verhältnis zu sind zukunftsfeindlich und beschädigen den sozialen Ihrer Politik waren doch Konrad Adenauer, Ludwig Konsens. Ich will Ihnen eines sagen: Wir werden - Erhard und auch der frühere amerikanische Prä- Sie werden das erleben - mit großer Entschlossen- sident Roosevelt, die den Lastenausgleich und die heit, mit großer Klarheit Soziale Marktwirtschaft miteinander verbunden ha- ben, regelrechte Sozialrevolutionäre. (Joachim Hörster [CDU/CSU]: Ja bitte! Hier ist die Gelegenheit! Kommen Sie mit Ihrer (Lebhafter Beifall bei der SPD - Beifall beim Klarheit rüber!) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS) und übrigens auch mit einem erheblichen Maß an Sie haben noch etwas verstanden, während Sie in Zuversicht jetzt darangehen, das zu verhindern, was einer plebejischen Dummheit gefangen sind. Sie vorschlagen und was zu Lasten der Rentnerinnen Wenn Sie sich anschauen, was beispielsweise Herr und Rentner, zu Lasten der Familien und Kinder, zu Monti - das ist ein konservativer Kommissar in der Lasten der sozialen Sicherheit und zu Lasten des Ar- Europäischen Union - gesagt hat, was beispielsweise beitsmarktes geht. Das werden wir mit großer Zuver- die Politik von Adenauer und Erhard gewesen ist, sicht und großer Entschlossenheit tun. was Roosevelt im New Deal gemacht hat, und sich Ihre Politik anschauen, dann werden Sie die klaf- Sie werden sehen: Die nächsten Monate werden fende Differenz feststellen. spannend. Was Sie nach der Verabschiedung Ihres sogenannten Pakets tun werden, habe ich in den Zei- Es hat in diesem Haus allein im Januar und Fe- tungen gelesen: Die Sektkorken knallten auf den bruar dieses Jahres eine Serie von Vorschlägen und Wahlsieg 1998. Wir werden uns im Herbst gemein- das Angebot zur Kooperation gegeben. Es hat in der sam anschauen, ob Sektkorken knallen werden. Ich deutschen Öffentlichkeit, bei den Wohlfahrtsverbän- habe nichts dagegen, wenn Sie davon reden, wir sä- den, bei den Familienverbänden und bei den deut- ßen in einem Boot. Aber hören Sie endlich damit auf, schen Gewerkschaften Angebote zur Kooperation auf dem Sonnendeck für ganz wenige den Champa- gegeben. gner auszuschenken und die übrigen zum Schuften in den Maschinenraum zu schicken. Diese Politik (Dr. Hermann Otto Solms [F.D.P.]: Was sind machen wir nicht mehr mit. denn Ihre Vorschläge?) (Langanhaltender lebhafter Beifall bei der Es hat diese Angebote auf der Grundlage einer einfa- SPD - Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ chen Einsicht gegeben: Dieses Land braucht die Be- NEN und bei der PDS) wahrung seines sozialen Konsenses. Es braucht die Entfaltung seiner wirtschaftlichen Stärke. Sie haben die Zeit bis zum 24. März genutzt, um herumzutrick- Mir liegt die Meldung sen, mit der Bereitschaft zur Verantwortung taktisch Vizepräsident Hans Klein: - zu einer Kurzintervention der Kollegin Dr. Dagmar zu spielen und dann das zu tun, was Sie unter dem Enkelmann vor. Ich erteile ihr das Wo rt. Druck der F.D.P. glaubten tun zu müssen. (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Die (Abg. Dr. Gregor Gysi [PDS] steht am Saal Lüge wird durch Wiederholung nicht wahr!) mikrophon) - Herr Kollege Schäuble, das hat nichts mit Wieder- - Entschuldigung! Das ist mir dann falsch gemeldet holung zu tun. Bei Ihnen kann man es allerdings worden. zehn-, zwanzig-, fünfzig- oder hundertmal wiederho- (Heiterkeit) len, aber es kommt bei Ihnen nicht an. Das ist, wie man bei uns in Rheinland-Pfalz sagt, dem Ochs' ins Horn gepetzt; es kommt nichts an. Dr. Gregor Gysi (PDS): Diese Verwechslung halte (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne ich aus, Herr Präsident. ten der PDS) Herr Bundesminister Blüm hat darauf hingewie- Nachdem Sie das alles gemacht und jedes Ange- sen, daß ich nicht das Recht hätte und daß es unver- bot zur Kooperation ausgeschlagen haben, ist jetzt froren sei, von sozialen Grausamkeiten im Zusam- die Zeit für das gekommen, was die Demokratie aus- menhang mit diesen Gesetzen zu sprechen, wenn zeichnet, nämlich Wettbewerb und Streit über ein man daran denke, daß die Geschichte der DDR eine Konzept, das Sie vorgelegt haben, und über ein Al- Geschichte sozialer Grausamkeiten gewesen sei. ternativkonzept, das die SPD vorgelegt hat. (Joachim Hörster [CDU/CSU]: Eine einzige (Zurufe von der CDU/CSU: Oh! - Zurufe Grausamkeit!) von der CDU/CSU: Wo?) Dazu würde ich gerne einige wenige Bemerkungen - Die Tatsache, daß Sie so laut schreien, beweist doch machen. nur, daß Sie nie hineingeschaut haben. Das ist doch alles. Meine erste Bemerkung: Herr Bundesminister, da- (Beifall bei der SPD) mit beleidigen Sie natürlich Millionen Menschen in 9378 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996

Dr. Gregor Gysi dem, was sie in der früheren DDR geleistet haben, Sozialhilfe noch weitaus höher ist, als es der sozialen auch in sozialer Hinsicht. Sicherheit in der alten DDR jemals entsprach, (Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.]: Nein! Die (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - Funktionäre werden beleidigt! Die Täter, Widerspruch bei der PDS) nicht die Opfer!) und die Kürzungen bei den Renten zu beklagen, da Es gab selbstverständlich Defizite. Aber es gab so- sie doppelt so hoch sind wie zu DDR-Zeiten. ziale Chancengleichheit beim Zugang zu Kultur, Kin- Zweitens. Mein Hauptargument ist, daß soziale dertagesstätten, Ferienlagern und anderen Einrich- Si- nicht ohne zu haben ist, sonst wäre tungen, wovon die Bundesrepublik Deutschland cherheit Freiheit das größte Sicherungsangebot in Bautzen zu finden heute noch weit entfernt ist und durch Ihre Politik gewesen. Von dieser Sicherheit halten wir in der Tat sich immer weiter entfernt. in unserer gemeinsamen Bundesrepublik nichts, (Beifall bei Abgeordneten der PDS - Wider überhaupt nichts. spruch bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - Meine zweite Bemerkung: Selbst wenn es so ge- Detlev von Larcher [SPD]: Was ist das hier wesen wäre, wenn man die Geschichte der DDR als für ein Niveau!) Geschichte sozialer Grausamkeiten bezeichnen könnte, gäbe es überhaupt keine Rechtfertigung, Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile dem Kollegen heute in der Bundesrepublik Deutschland eine Poli- Dr. Heiner Geißler das Wo rt . tik sozialer Grausamkeiten zu betreiben.

Meine dritte Bemerkung: Wenn Sie zum Ausdruck Dr. Heiner Geißler (CDU/CSU): Herr Präsident! bringen, daß ich nicht das Recht hätte, so etwas zu Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich sagen, dann drücken Sie damit im Grunde genom- glaube, wir könnten die anstehenden Probleme bes- men aus, daß Sie die Einheit nicht wollen. ser miteinander erörtern und damit auch weiterkom- men, wenn wir vielleicht die Argumente, die in der (Lachen bei der CDU/CSU) parlamentarischen Auseinandersetzung zu demsel- - Ja sicher! - Dahinter steckt nämlich folgende An- ben Thema das letztemal ins Feld geführt worden schauung: Die Ostdeutschen durften zwar beitreten, sind, berücksichtigen. aber sie haben sich nicht in die inneren Angelegen- Herr Scharping, bevor ich zu den Gesetzentwür- heiten dieser Bundesrepublik Deutschland einzumi- fen, die wir einbringen, etwas sagen werde, will ich schen. Genau das wird nicht funktionieren. Ihnen antworten: Sie reden von „gelogen" und „be- (Beifall bei der PDS) trogen" . Wenn hier jemand die Unwahrheit sagt - Entschuldigung -, dann ist es Ihr Parteivorsitzender, Wer die Einheit will, muß sich mit der PDS und indem er die Behauptung aufstellt, daß die wesentli- auch mit mir abfinden. Billiger ist die Einheit nicht zu chen Inhalte dieses Beschäftigungsprogramms nicht haben. Ich mußte mich an Ihren Kanzler- gewöhnen, vor den Landtagswahlen bekanntgegeben worden und jetzt müssen Sie sich auch an mich gewöhnen. sind. (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ (Detlev von Larcher [SPD]: Hören Sie doch DIE GRÜNEN]: Gregor, wir lieben dich!) auf!) - Danke, Joschka. Die Inhalte, wie Lohnfortzahlung und Kündigungs- schutz, sind in dem 50-Punkte-Programm enthalten, Meine letzte Bemerkung: Herr Solms, Sie haben welches vor den letzten Landtagswahlen bekanntge- mich vorhin gefragt, was ich vor 30 Jahren gemacht geben worden ist. Ich kann an Sie jetzt nur dieselbe habe. Ich wollte keine falsche Auskunft geben und Aufforderung richten, die das letztemal Wolfgang mußte erst nachdenken. Im Mai 1966 habe ich mich Schäuble an gerichtet hat: Nehmen auf die mündlichen Prüfungen zum Abitur und auf Sie diese Unwahrheiten bitte zurück! meine Prüfung als Facharbeiter für Rinderzucht vor- bereitet. Ich hoffe, das findet auch Ihre Zustimmung (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) oder zumindest Ihre Akzeptanz. Was mich bei Ihren Reden - auch bei Ihren Reden, Danke. Herr Scharping und Herr Dreßler - wirklich stutzig (Beifall bei der PDS) macht und was ich auch überhaupt nicht verstehen kann, ist, warum Sie diese Auseinandersetzung mit einer fast agitatorischen Argumentation führen. Wir Vizepräsident Hans Klein: Herr Minister Blüm, können doch miteinander über einzelne Punkte re- wünschen Sie zu replizieren? den. Sie haben heute morgen die Ausführungen von Frau Süssmuth zur Frage der Verlängerung der Le- bensarbeitszeit gehört. Über diese Frage wird bei Dr. Norbert Blüm, Bundesminister für Arbeit und uns diskutiert. Sozialordnung: Erstens. Herr Abgeordneter Gysi, ich werde Ihnen nie das Recht bestreiten, hier zu spre- Unsere Fraktion ist doch nicht dazu da, um jeden chen. Nur, ich halte es für eine Diskrepanz, Kür- einzelnen Vorschlag hundertprozentig bis zum letz- zungen von Sozialhilfe zu beklagen, da die gekürzte ten Komma zu übernehmen, sondern wir werden Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996 9379 Dr. Heiner Geißler selbstverständlich über einzelne Fragen - der Punkt, ritätszuschlages in zwei Stufen, in 1997 und 1998, den Sie hier angesprochen haben, ist ein zentraler diskutieren und nicht über eine Verrechnung bei den Punkt - reden. Nur, alles, was wir an Änderungen im versicherungsfremden Leistungen und damit über Gesetzgebungsverfahren miteinander bereden, steht eine Entlastung bei den Lohnkosten diskutieren, unter der Bedingung, daß wir dann einen Ausgleich wenn es diese Spielräume gäbe? bringen müssen, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Dr. Heiner Geißler (CDU/CSU): Zu dem, was ich von der Sache halte, paßt es natürlich nicht so gut. daß wir sagen müssen, was an Stelle einer solchen Da haben Sie Recht. Aber die SPD hat in ihrem Pro- Maßnahme gemacht werden muß. Das ist genau das, gramm die totale Abschaffung des Solidaritätszu- was mir bei Ihren Ausführungen - das muß ich leider schlages verlangt. Insofern, Herr Fischer, müssen Sie Gottes auch sagen; ich habe das Programm, daß das die Hauptauseinandersetzung zu diesem Thema mit Parteipräsidium der SPD beschlossen hat, dabei; ich Ihrem zukünftigen Koalitionspartner führen, wenn habe es auch gelesen - bis auf den heutigen Tag Sie das hinkriegen. nicht klargeworden ist; denn alle Vorschläge, die Sie machen, beziehen sich entweder auf Umschichtun- (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der F.D.P. gen im Gesamtfinanzierungssystem, oder Sie schla- - Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Wenn Sie so gen Steuererhöhungen vor, oder Sie machen völlig weitermachen, ja!) untaugliche Vorschläge, wie zum Beispiel bei der Vermögensteuer. Meine sehr verehrten Damen und Herren, Herr Scharping hat am Anfang etwas gesagt, auf das ich Hier kann ich Ihnen die neueste Verlautbarung des eingehen möchte. Sie haben das Grundgesetz, die Präsidenten der Raiffeisenbanken und der Volksban- Menschenwürde und die Sozialstaatsklausel zitiert. ken sagen. Wenn Sie realisieren wollen, daß Sie Sie haben die Behauptung aufgestellt, diese Grund- durch die Vermögensabgabe 35 Milliarden DM oder lagen unserer Verfassung seien immer stärker be- 34 Milliarden DM erzielen, dann bedeutet dies, daß schädigt worden. Sie an das Sparvermögen der kleinen Sparer heran müssen, denn sonst bekommen Sie die Summe gar (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Richtig!) nicht. Ich will Ihnen dazu folgendes sagen. Ich bezie- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - he mich jetzt nur auf die Sozialgesetze: Mitbe- Lachen bei der SPD) stimmung, Betriebsverfassung, Familienleistungsaus- gleich, Kriegsopferversorgung, die große Renten- Das müssen Sie den Leuten einmal klarmachen. Da reform, Bundessozialhilfegesetz, Lastenausgleich für hilft kein Lachen. Bei einer Freigrenze von 900 000 über 12 Millionen Heimatvertriebene und Flücht- DM und einer Vermögensteuer von einem Prozent linge, Arbeitsförderungsgesetz, in den 80er Jahren Er- kommen wir gerade auf 3,5 bis 4 Milliarden DM. Und ziehungsurlaub, Erziehungsgeld, Kündigungsschutz dann wollen Sie bei denselben Einkommensgrenzen von drei Jahren für berufstätige Frauen, die ein Kind - das haben Sie gesagt - das Zehnfache- der Summe bekommen, Anerkennung von Erziehungsjahren, bis erreichen. Derjenige, der Ihnen das aufgeschrieben zum Schluß Pflegeversicherung mit einem Gesamtvo- hat, hat wahrscheinlich eine integ rierte Gesamt- lumen von über 1 Billion DM - Norbe rt Blüm hat diese schule in Bremen besucht und kann die Grundre- Zahlen genannt. An der Substanz aller Sozialgesetze, chenarten nicht beherrschen. die Deutschland zum modernsten Indust rie- und (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU Sozialstaat gemacht haben, wird das, was wir hier und der F.D.P.) machen, überhaupt nichts ändern. Weisen Sie das einmal nach. Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Geißler, Was Sie hier machen, ist etwas ganz anderes. Sie gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Fi- versuchen mit Ihrer Argumentation, bei den Leuten scher? den Eindruck zu erwecken, als ob das, was wir hier machen, ein Anschlag auf den Sozialstaat sei. Dr. Heiner Geißler (CDU/CSU): Bitte schön. (Zuruf von der SPD: Ist es ja auch!) Dabei handelt es sich um gar nichts anderes als um Vizepräsident Hans Klein: Bitte. den notwendigen Versuch, dem Sie sich allerdings verweigern, diesen Sozialstaat so zu reformieren, daß Dr. Heiner Geißler (CDU/CSU): Ich nehme Bremen wir auch in der Zukunft eine sozial gerechte Gesell- wieder zurück und beziehe mich auf eine andere schaft haben und vor allem neue Arbeitsplätze schaf- Schule zu früheren Zeiten. fen können. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Joseph Fischer (Frankfurt) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Dr. Geißler, es wurden vom Bundes- Wir sparen doch nicht um des Sparens willen. Das arbeitsminister zu Recht die Höhe der versicherungs- wäre wirklich Unsinn. Man kann niemandem Ver- fremden Leistungen, die Belastungen durch Versi- nunft mit dem Finanzknüppel beibringen. Wir haben cherungsbeiträge und damit die Lohnkosten ange- in Deutschland 4 Millionen Arbeitslose. Alles, was sprochen. Ich weiß dies auch von Ihnen. Wie paßt es, wir hier machen, dient dem einen Ziel - man kann daß wir gleichzeitig über eine Absenkung des Solida darüber debattieren, ob es ausreichend ist, ob Sie 9380 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996

Dr. Heiner Geißler bessere Vorschläge haben -, in den kommenden Jah- und selbstverständlich auch - das ist unser Thema; ren mehr Beschäftigungsmöglichkeiten zu schaffen. davon handeln die Gesetze, die wir heute einbrin- Das ist der zentrale Punkt. gen - die Kosten für unsere Bet riebe wettbewerbsfä- hig gestalten. Es nützt uns doch überhaupt nichts, Herr Scharping, man kann das alles natürlich so über diese Problematik hinwegzugehen. darstellen. Ich hätte mir aber gewünscht, daß wir uns einmal darüber unterhalten, in welcher Situation wir Ich wehre mich immer wieder dagegen, daß wir uns eigentlich befinden. Wir sind die Zeitzeugen des uns nur auf die Arbeitskosten konzentrieren. Das ist wahrscheinlich größten Umbruchs, den die Mensch- ein Fehler. Das Problem, das wir haben, hängt mit heit in den letzten Jahrhunderten erlebt hat: Im poli- diesem Umbruch zusammen. tischen Bereich gab es vor sechs Jahren eine Revolu- (Dr. Wolfgang Gerhardt [F.D.P.]: Richtig! - tion - es war keine Wende; ich halte „Wende" nicht Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Richtig! Geben für einen geeigneten Ausdruck für das, was da pas- Sie doch mal eine Antwort!) siert ist -, in deren Folge die Grenzen gefallen sind und fast 2 Millionen deutsche Spätaussiedler nach Das ist ein zentraler Vorgang. Deutschland gekommen sind. Wenn wir im Deutschen Bundestag angesichts von Deutschland - ein Volk in der Mitte Europas: Kein 4 Millionen Arbeitslosen über diese Probleme reden, Land hat mehr Nachbarn als wir. Wir haben die können wir doch nicht über die grundlegenden Pro- Flüchtlingsströme aufnehmen müssen. Wir haben - bleme, mit denen wir uns beschäftigen müssen, die das ist die Wahrheit; das wird dauernd unterschla- ich gerade ganz kurz dargestellt habe - den politi- gen - heute 2,6 Millionen Menschen mehr in Arbeit schen Umbruch, den ökonomischen Umbruch mit als 1983, Frau Müller. Trotzdem haben wir 4 Mil- seinen Auswirkungen auf den Sozialstaat -, hinweg- lionen Arbeitslose. Das hängt damit zusammen, daß gehen. wir in dieser Umbruchsituation fast 2 Millionen Spätaussiedler, Hunderttausende von Flüchtlingen Ihre Kritik nützt uns außerdem doch überhaupt bei uns aufgenommen und ihnen einen Arbeitsplatz nichts, solange Sie unsere Vorschläge abblocken, wie gegeben haben. gestern wieder im Vermittlungsausschuß, und mit ei- genen Vorschlägen nicht überzeugend herüberkom- Wenn Sie so reden, sollten Sie vielleicht einmal zur men. Kenntnis nehmen: Wir haben eine historische Auf- gabe zu erfüllen gehabt, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Das bringt uns auch bei der Bekämpfung der Ar- beitslosigkeit nicht weiter. die natürlich auch unseren Sozialstaat tangiert hat. Frau Müller, nun muß ich mich dem zuwenden, Sie geben keine Antwort auf die Herausforderun- was Sie gesagt haben, was seit 1983 alles passiert ist; gen: die Einführung des Computers, die Datenauto- das war ja geradezu ein Horrorszenario. Meine sehr bahn, das Internet, die unsere Wirtschafts-- und Ar- verehrten Damen und Herren, ich habe schon die beitswelt zumindest genauso radikal verändert ha- 2,6 Millionen Menschen genannt, die zusätzlich Ar- ben wie vor 200 Jahren die Elektrizität, die Dampf- beit haben gegenüber damals. Unser Sozialversiche- maschine und der mechanische Webstuhl. rungssystem ist nach wie vor das beste aller Indu- striestaaten der Welt. Wir haben das beste Gesund- (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Aber darauf heitssystem. Ich habe vom Erziehungsgeld geredet. geben Sie doch auch keine Antwort!) Wir haben ein wachsendes Bruttosozialprodukt. Und - jetzt würde ich gern einen unparlamenta rischen So hat sich die Welt verändert. Das ist die dritte indu- Ausdruck verwenden wollen, ich verkneife mir das strielle Revolution, die natürlich dazu geführt hat, aber - wir haben die Aufgaben, die durch den sozia- (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Deswegen schaf listischen Unfug und den sozialistischen Bankrott im fen Sie doch die Vermögensteuer ab!) anderen Teil Deutschlands entstanden sind, im Rah- men der deutschen Einheit aufarbeiten müssen, ha- Frau Fuchs, daß durch die Rationalisierung Arbeits- ben in den vergangenen vier bis fünf Jahren plätze in den klassischen Produktionsbereichen weg- 700 Milliarden DM für den Aufbau Ost geleistet und gefallen sind. haben das alles bei Preisstabilität und einer knallhar- ten Währung erreicht. Jetzt geht es doch darum, daß wir nicht bei zusätz- lichen Innovationen - bei der Umwelttechnologie ha- (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU und ben wir das gut geschafft - in den Bereichen der In- der F.D.P.) formationstechnologie, der Gen- und Biotechnologie durch unsinnige Genehmigungsverfahren die Inno- Da glauben Sie, Sie könnten mit solchen Tönen un- vationszyklen, die sich halbiert haben, noch weiter sere konkrete Situation beschreiben! Wir können verlängern und dadurch unsere Konkurrenzfähig- Gott eigentlich nur danken, daß im Jahre 1990, als keit beschneiden. Es geht auch darum, daß wir die wir herausgefordert waren, nicht diejenigen an der Währungsdisparitäten abbauen Macht waren, die uns neun Jahre vorher, im Jahre 1982 - da bin ich als Mitglied des Bundeskabinetts (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU Zeuge gewesen -, eine Inflationsrate von sechs Pro- und der F.D.P.) zent und eine Nettokreditaufnahme von fast Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996 9381

Dr. Heiner Geißler 60 Milliarden DM ohne deutsche Einheit überlassen Sie haben mich gefragt: Wo sind die Sozialaus- haben, was wir nachher wieder aufräumen mußten. schüsse und Heiner Geißler? Was sagen Sie dazu? - Ich stimme diesen Vorschlägen doch nicht deswegen (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU und zu, weil mir diese Dinge Spaß machen, sondern ich Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. - Zuruf habe in meinem Leben als Sozialminister die Er- von der SPD) kenntnis gewonnen, daß sich in Zeiten knapper Kas- sen die soziale Gerechtigkeit bewähren muß. - Ich kenne das. Aber an der Geschichte waren im wesentlichen Sie verantwortlich. Die F.D.P. hat Ihre (Beifall des Abg. Michael Glos [CDU/CSU]) Koalition genau deswegen verlassen, weil Sie sich damals so verhalten haben, wie Sie es heute wieder Solange ich viel Geld habe, kann ich soziale Lei- tun. stungen begründen. Aber wenn die Kassen knapp (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) sind, muß ich zu einer Güterabwägung kommen. Das ist der Punkt. Ich will mich, weil dies eine Rolle gespielt hat, nun aber einem grundsätzlichen Punkt zuwenden. Wir Lieber , in der letzten Debatte ha- können die Frage vielleicht miteinander erörtern. Sie ben Sie in Richtung SPD den Zuruf gemacht: Sie haben die Sozialausschüsse angesprochen, und Frau müssen aufpassen! Eine neue Qualität des Sozialab- Müller hat mich angesprochen. Die Frage der Ge- baus steht bevor. - Am vorletzten Freitag haben wir rechtigkeit ist eine Frage, die einen umtreibt. die Pflegeversicherung verabschiedet. Herr Fischer, nach dem, was ich gerade dargelegt habe - nach wie (Lachen der Abg. Anke Fuchs [Köln] [SPD]) vor über 1 Billion DM Sozialleistungen -, kann ich - Warum lachen Sie da? Entschuldigen Sie, Frau das als nichts anderes bezeichnen als die Ausgeburt Fuchs, vielleicht kann man die Sache einmal etwas der Gedankenwelt hochpolitisierter Randzirkel in un- grundsätzlicher erörtern. Durch die gesamte Sozial- serer Gesellschaft, die aber keine Ahnung von dem geschichte und Sozialphilosophie zieht sich die haben, was heute in Deutschland sozialstaatlich vor- Frage: Was ist Gerechtigkeit? In einer solchen Situa- handen ist. tion wie jetzt muß man diese Frage einmal erörtern. Es gibt die Gemeinwohlgerechtigkeit - bei Thomas (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge von Aquin hieß es justitia legalis -, und es gibt die ordneten der F.D.P.) austeilende und die ausgleichende Gerechtigkeit. Es geht um mehr Beschäftigung. Alle drei Gerechtigkeitsperspektiven stehen immer in einem gewissen Spannungsverhältnis zueinander. (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Geißler, DIE GRÜNEN]: Die F.D.P. vertritt eine läh der Kollege Schmidt würde gern eine Zwischenfrage mende Gerechtigkeit!) stellen. - Sie haben das noch gar nicht durchdiskutiert,- Herr Fischer; das werden Sie vielleicht auch noch einmal Dr. Heiner Geißler (CDU/CSU): Bitte schön. schaffen. Wir haben bei uns in der CDU anläßlich des Grundsatzprogramms eine Diskussion über die Grundwerte Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität ge- Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Herr Kollege habt. Wer hat Vorrang? Einige haben gemeint, die Geißler, ist Ihnen eigentlich bewußt, daß das, was Sie Freiheit habe Vorrang. Wir sind zu der Auffassung uns vorzutragen versuchen, wahrscheinlich nur noch gekommen: Alle Grundwerte sind gleichwe rtig. Aber Nebelkerzen im Lichte der Tatsache sind, daß zum es gibt Zeiten, in denen der eine Grundwert mehr ge- Beispiel Ihr Kollege Fell unter dem Druck der Ver- fährdet ist und der andere weniger. Dann muß man hältnisse, den Sie mit diesem Konzentrierungspro- sich dem Grundwert, der mehr gefährdet ist, zuwen- gramm auf Kürzungen erzeugen, als Vorsitzender den. des Katholischen Familienverbandes zurückgetreten ist? Was sagen Sie dazu? Hier haben wir es innerhalb unserer Gerechtig- keitsdiskussion mit einem ähnlichen Problem zu tun. Gerechtigkeit und Solidarität können heute ange- (CDU/CSU): Dazu kann ich gar sichts von vier Millionen Arbeitslosen nicht in erster Dr. Heiner Geißler nichts sagen. Das ist die Sache von Herrn Fell. Ich Linie denen gelten, die durchaus zu Recht und für sage: Er hätte wegen unserer Beschlüsse von diesem mich auch verständlich gern ein höheres Einkommen Vorsitz nicht zurücktreten müssen. Das möchte ich hätten oder die beklagen, daß ihre Einkommenszu- klar sagen. wächse nicht mehr so hoch sind, wie sie das viel- leicht erwartet haben, sondern die Solidarität - jetzt (Beifall bei der CDU/CSU) eben im Sinne von Gemeinwohlgerechtigkeit - muß heute zunächst einmal denen dienen und zugute Um die Geschichte gleich abzuhaken: Ich bin kommen, die der Hilfe vordringlich bedürfen. Das lange genug Familienpolitiker gewesen. Die 20 DM waren am vorletzten Freitag die Pflegebedürftigen Kindergelderhöhung gehören in das Kapitel, das ich und sind heute die Arbeitslosen. Darum geht es. Ihnen vorwerfe. Sie tun so, als würden wir das tun, was Sie im Jahre 1980 gemacht haben. Da ist es näm- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) lich passiert. Sie tun so, als würden wir das Kinder- 9382 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996

Dr. Heiner Geißler geld kürzen, Frau Fuchs. Das haben Sie gemacht. Sie Wie können Sie das verfassungsrechtlich begründen, haben das Kindergeld im Jahre 1980 gekürzt. nachdem wir doch gemeinsam der Ansicht sind, das Kindergeld ist nicht eine Art Gnade des Staates, son- (Beifall bei der CDU/CSU - Anke Fuchs dern die verfassungsrechtlich gebotene Freistellung [Köln] [SPD]: Sie schaffen die Vermögen des Existenzminimums der Kinder? steuer ab!) Wie können Sie es schließlich ökonomisch, also Sie haben die Altersgrenze beim Kindergeld für wirtschaftspolitisch begründen - es soll ja angeblich Kinder von Arbeitslosen gesenkt. Sie haben a ll sol- um Arbeitsplätze gehen -, daß Sie einer Familie mit che Sachen durchgeführt. Das kommt bei uns gar zwei Kindern im nächsten Jahr durch die Verschie- nicht vor, sondern wir haben in diesem Jahr eine bung des Kindergeldes 480 DM vorenthalten - diese neue Kindergeldleistung beschlossen - Sie waren da- Familien könnten noch sehr viel ausgeben -, damit bei -: 200 DM für das erste Kind, 200 DM für das die Binnennachfrage um 3,8 Milliarden DM schädi- zweite Kind, 300 DM für das dritte Kind, 350 DM für gen, gleichzeitig aber zumindest bei der p rivaten das vierte und jedes weitere Kind. Vermögensteuer keinen einzigen Arbeitsplatz da- durch schaffen, daß Sie diese abschaffen. Wir haben beschlossen, das Kindergeld im näch- (Beifall bei der SPD) sten Jahr um 20 DM zu erhöhen. Es handelt sich nicht um eine Kürzung, sondern wir sagen: Wir schieben die Anhebung um 20 DM um ein Jahr hin- Dr. Heiner Geißler (CDU/CSU): Frau Matthäus aus. Ich will Ihnen auch sagen, warum ich das für ge- Maier, nun machen Sie es doch nicht so dramatisch. rechtfertigt halte. Die Sache mit der Gegenrechnung der Vermögen- steuer ist hier nun schon siebenmal - ich habe es vor- (Joseph Fischer [Frankfu rt] [BÜNDNIS 90/ hin auch gesagt - erörtert und erläutert worden, und DIE GRÜNEN]: Bauen den Solidaritätszu mir fehlt die Zeit, um es noch einmal zu sagen. 4 Mil schlag ab!) -li arden DM betriebliche Vermögensteuer - das ist die Hälfte der 8 Milliarden DM - müssen wir streichen Ich halte es deswegen für gerechtfertigt, weil wir wegen des Bundesverfassungsgerichts. Für die restli- in Deutschland Preisstabilität haben und keine Infla- chen 4 Milliarden hat man einen Erhebungsauf wand tion von 7 Prozent. von 2 Milliarden DM. Sie sind doch angeblich oder wirklich finanzpolitische Spreche rin Ihrer Fraktion. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Alle Finanzminister aller Länder, auch die SPD- Leute, sagen, es gibt einen Erhebungsaufwand von 1982 hatten wir eine Inflation, eine Lebenshaltungs- 2 Milliarden DM. Da ist es Unsinn, wegen 4 Milliar- kostensteigerung von 7 Prozent für die einfache Le- den DM einen Erhebungsaufwand von 2 Milliarden benshaltung eines Kindes. So war das 1982, im letz- DM in Kauf zu nehmen. Deswegen sagen wir: Wir ten Jahr Ihrer Regierungsverantwortung. fassen die Vermögen mit der Erbschaft zusammen und unterwerfen sie der Erbschaftsteuer. Das ist un- Wir haben Preisstabilität. Wenn ich Preisstabilität- habe, kann ich es sozialpolitisch verantworten, eine ser Vorschlag. Sagen Sie doch bitte die Wahrheit, Anhebung um 20 DM um ein Jahr zu verschieben, wenn Sie solche Fragen stellen. wenn Gemeinwohl, Gerechtigkeit und übergeord- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) nete Interessen das erforderlich machen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege, jetzt möchte gern noch die Kollegin von Renesse eine Frage stellen. Vizepräsident Hans Klein: Die Kollegin Matthäus Maier würde Ihnen gern eine Zwischenfrage stellen. Dr. Heiner Geißler (CDU/CSU): Ich muß jetzt erst - Bitte. einmal weitermachen. (Zuruf des Abg. Dr. Gregor Gysi [PDS]) Ingrid Matthäus-Maier (SPD): Herr Kollege Geißler, - Zu Ihnen komme ich noch, wenn ich die Zeit habe. Sie haben die Verschiebung der Erhöhung des Kin- Sie können sich darauf verlassen, aber am besten las- dergeldes wegen der Geldschwierigkeiten vehement sen Sie das mal bleiben. verteidigt. Ich darf Sie fragen: (Heiterkeit bei der CDU/CSU) Wie können Sie es eigentlich mit der sozialen Ge- rechtigkeit vereinbaren, daß Sie ab 1997 die von uns Jetzt will ich noch etwas zu dem Sinn unserer Vor- gemeinsam vereinbarte Kindergelderhöhung um schläge sagen. Alles was wir tun, Präzisierung des 20 DM ab dem ersten Kind verschieben - 3,8 Mil Kündigungsschutzgesetzes - - arden DM Kosten -, gleichzeitig aber 9 Milliarden -li (Zuruf der Abg. Anke Fuchs [Köln] [SPD]) DM zur Verfügung haben, um die Vermögensteuer komplett abzuschaffen? - Frau Fuchs, sparen Sie doch mal! Herr Präsident, sie sitzt am falschen Platz. Man müßte sie weiter (Beifall bei der SPD - Zuruf von der CDU/ nach hinten setzen. Die Akustik ist ganz schlecht, CSU: Das stimmt doch gar nicht!) wenn Sie dauernd so dazwischenschreien. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996 9383

Dr. Heiner Geißler Vielleicht hören Sie doch mal zu, was ich jetzt sa- Angesichts von 4 Millionen Arbeitslosen kann man gen will: Die Präzisierung des Kündigungsschutzge- doch nur zu dem Schluß kommen: Jetzt machen wir setzes, die Anhebung der Schwellenwerte, die befri- es halt! Jetzt müssen wir es einfach einmal tun! steten Arbeitsverhältnisse - - Vorhin hat Herr Schar- ping davon geredet, Überstunden abzubauen. Daß (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) wir nun die befristeten Arbeitsverhältnisse erleich- Dann müssen wir von den Arbeitgebern aber auch tern, auf zwei Jahre, und innerhalb der zwei Jahre erwarten - wir müssen es erwarten, dürfen nicht nur dreimal erneuern wollen, hat doch den Sinn - im die Bitte aussprechen -, daß sie die Konsequenzen übrigen auch für mittlere und größere Bet riebe -, daß einhalten, die sie für den Fall zugesagt haben, daß diese Betriebe in der Zukunft, ohne daß sie lange wir diese gesetzgeberischen Maßnahmen ergreifen. Prozesse fürchten müssen, Leute einstellen können Sie müssen Ihre Zusagen realisieren, sie müssen und dafür Überstunden abbauen. Das ist ein Beispiel Leute einstellen. Das bezieht sich im wesentlichen dafür, warum wir so etwas machen. Das hat doch sei- auf die kleinen und mittleren Betriebe. nen Sinn. An die Adresse der Arbeitgeber: Wir sollten neben Auch bei den Einsparungen bei der Rentenversi- der Tatsache, daß wir Standortnachteile haben, auch cherung und den Krankenversicherungen muß ich die Standortvorteile nicht verschweigen. General den Norbert Blüm jetzt noch einmal in Schutz neh- Motors hat als Begründung für die Milliardeninvesti- men. Es ist wirklich unglaublich, was Sie da sagen. tionen bei Opel vor zwei Monaten angeführt: stabile Natürlich werden Strukturänderungen vorgenom- politische Verhältnisse - da haben sie, das ist wahr, men. Dazu gehört auch die Anhebung der Alters- nicht die in Nordrhein-Westfalen gemeint, grenze - das ist wahr -, die Reduzierung bei der An- rechnung von Ausbildungszeiten und bei beitrags- (Heiterkeit bei der CDU/CSU) freien Zeiten. Aber es ändert sich nichts an dem, was wir alle miteinander gesagt haben, was der Bundes- sondern die Bonner Ebene -, qualifizierte Produkte, kanzler gesagt hat, was von Norbert Blüm gesagt hochqualifizierte und motivierte Arbeitnehmerinnen wird: Die Anpassung der Renten wird nicht verscho- und Arbeitnehmer. Ich füge hinzu: eine korruptions- ben, weder in diesem noch im nächsten Jahr, wie Sie freie Verwaltung, eine gute Infrastruktur. es im übrigen in den 70er Jahren gemacht haben. Wir können von den Arbeitgebern verlangen und (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) erwarten, daß sie die Konsequenzen ziehen und tat- sächlich Einstellungen vornehmen. Dann hat es sich Wir tun es nicht. Deswegen ist dieser Vorwurf Nor- doch gelohnt, einschließlich der 20prozentigen Betei- bert Blüm gegenüber einfach ungerecht. Das ist nun ligung des Arbeitnehmers an der Lohnfortzahlung. schon so oft gesagt worden, daß Sie das in dieser Aber auch sie darf man natürlich nicht zu einem Form hier nicht wiederholen sollten. Symbol erheben dergestalt, daß an dieser Sache alles Nun, warum machen wir das? Das Ganze dient nur scheitern kann. dem Zweck, neue Arbeitsplätze zu schaffen. Und nun will ich Ihnen einfach einmal folgendes sagen: Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Geißler, Wenn bei 4 Millionen Arbeitslosen der Zentralver- der Kollege von Larcher würde gerne eine Zwischen- band des Deutschen Handwerks sagt, daß sich viele frage stellen. Zustimmung? - Bitte. Betriebe scheuen, diese Beschäftigungsschwelle zu überschreiten, weil sie sich im Kündigungsfall er- schwerten Kündigungsgründen und einer Rechtspre- Detlev von Larcher (SPD): Herr Kollege Geißler, chung ausgesetzt sehen, die eine Kündigung prak- kann ich das, was Sie gerade ausgeführt haben, so tisch unmöglich macht - - Ich habe neulich mit Ge- verstehen, wie es ein Vertreter der Sozialausschüsse werbetreibenden gesprochen. Die Abfindungspro- im Fernsehen gesagt hat: „Wir machen jetzt alles, blematik - die steht nämlich am Ende der ganzen was die Arbeitgeber von uns verlangen, und dann Kündigungsprozesse - führt in der Tat dazu - ich wollen wir einmal sehen, ob sie ihre Versprechen ein- kann es auch nicht ändern -, daß die Leute, obwohl halten" ? sie vielleicht jemanden einstellen könnten, dennoch Was werden Sie machen, wenn diese Versprechen niemanden einstellen. nicht eingehalten werden? Ich erinnere Sie daran, Die Analyse des Zentralverbandes des Deutschen daß Sie auf die Forderung des Deutschen Gewerk- Handwerks kommt zu dem Ergebnis: Wenn Ihr das schaftsbundes, von den Arbeitgebern Einstellungen macht, dann werden ungefähr 40 Prozent der Hand- zu erwarten, wenn man Angebote macht, gesagt ha- werksbetriebe - bei 1 Mi llion Betrieben wären das ben: Die können das gar nicht zusagen. - Worauf 400 000 - neue Leute einstellen. Herr Murmann er- gründet sich dann Ihre Zuversicht? klärte in der letzten Ausgabe der „Welt am Sonn- tag" , er rechne im nächsten Jahr mit 500 000 neuen Dr. Heiner Geißler (CDU/CSU): Herr Kollege, Sie Stellen durch das Programm für mehr Wachstum und können keine Arbeitsplätze schaffen, ich auch nicht Beschäftigung. Das wurde ja jeweils nicht in arcanis, - wir alle miteinander nicht. Aber wir müssen es den- im Geheimen, gesagt, sondern öffentlich. Darüber jenigen, die Arbeitsplätze schaffen - das sind nun hinaus machen wir das mit den Familienarbeitsver- einmal die Unternehmer -, erleichtern, daß sie neue hältnissen. Bernhard Jagoda sagt, damit könnten Leute einstellen. Das ist der Sinn der Sache. 300 000 bis 400 000 Arbeitsplätze zusätzlich ermög- licht werden. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) 9384 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996

Dr. Heiner Geißler Wir brauchen eine Bewußtseinsänderung - das gilt tritt vom Amt des Präsidenten des Familienbundes auch für Sie; sonst könnte man angesichts des Ern- der Deutschen Katholiken überhaupt nichts. stes der Situation und der Tatsache, daß wir uns in einer Umbruchsituation befinden, solche Reden nicht (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU halten -, sowie des Abg. Otto Schily [SPD]) (Beifall bei der CDU/CSU) Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Schmidt wir brauchen eine neue Gesinnung und eine neue wünscht zu replizieren. Moral, damit wir mit den Herausforderungen fertig- werden. Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Herr Dr. Fell, Krankfeiern, Gewinne machen und gleichzeitig zunächst stelle ich fest, daß meine Frage nicht impli- nicht investieren, Steuern hinterziehen - das ist die zierte, daß Sie Druck aus der CDU/CSU-Fraktion in falsche Gesinnung. Wenn wir alle anständig wären, Richtung auf diesen Rücktritt haben erleiden müs- gerecht denken würden und die Prioritäten richtig sen. Das ist völlig klar. Ich halte Sie auch für einen setzen könnten, auch im Rahmen der sozialen Ge- sehr honorigen Menschen. rechtigkeit, dann hätten wir ein blühendes Gemein- wesen. Aber ich sage sehr deutlich: Das, was Sie eben er- klärt haben, begründet meine Frage von vorhin noch (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und einmal mit aller Deutlichkeit und mit Nachdruck. der F.D.P.) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Vizepräsident Hans Klein: Mir liegen zwei Begeh- und der PDS) ren auf Kurzintervention von Dr. Karl Fell und von Margot von Renesse vor. - Herr Kollege Fell, Sie wa- ren der erste, der sich gemeldet hat. Bitte. Vizepräsident Hans Klein: Eine weitere Kurzinter- vention der Kollegin von Renesse.

Dr. Karl H. Fell (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine (SPD): Liebe Kolleginnen und Damen und Herren! Herr Kollege Schmidt hat eben Margot von Renesse Kollegen! Auch ich bin Mitglied des Präsidiums eines in seiner Zwischenfrage an Herrn Geißler unterstellt, Familienverbandes, und zwar des Evangelischen Fa- ich hätte meinen Rücktritt vom Amt des Präsidenten milienverbandes. Ich bin es nach wie vor. des Familienbundes der Deutschen Katholiken we- gen Drucks aus der Fraktion oder Regierung oder Aber in diesem Fall nehme ich Ihre Zeit in An- wegen der entsprechenden Einzelentscheidungen spruch, weil meine Zwischenfrage von Herrn Kolle- erklärt. Ich stelle fest: gen Geißler nicht zugelassen wurde und ein Be- - standteil der Frage von Frau Matthäus-Maier nicht Erstens. Niemand hat mich aufgefordert zurückzu- beantwortet worden ist. Die Frage nach der verfas- treten oder hat deswegen Druck auf mich ausgeübt. sungsrechtlichen Verantwortbarkeit der Maß- nahme, die Sie vorhaben, die die Regierung jeden- Zweitens. Ich habe diesen Rücktritt erklärt, weil falls vorgeschlagen hat, die Erhöhung des Kindergel- ich Loyalitätskonflikte kommen sehe, die darin be- des zu verschieben, halte ich nach wie vor für sehr stehen, daß das Amt des Präsidenten eines großen wichtig. Sozialverbandes auf der einen Seite und das Abstim- mungsverhalten hier im Deutschen Bundestag zu Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir alle wissen, Mißdeutungen Anlaß geben könnten, indem bei- daß es sich bei dem Kindergeld nicht um eine Sub- spielsweise eine Zustimmung zu einem Gesamtpa- vention, Förderung oder gar Wohltat für Familien ket, in dem auch die Verschiebungen der Kindergeld- handelt, sondern um die Rückgabe verfassungswid- erhöhungen enthalten wären, als Verrat an den Posi- rig hoher Steuern an Familien mit Kindern. tionen des Verbandes ausgelegt wird. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der PDS - Zurufe von der PDS: DIE GRÜNEN) Bravo!) Hier gibt es keine Begründung aus der Finanznot des Daraufhin habe ich erklärt, daß ich von diesem Staates heraus, die zutreffend wäre und vor dem Ver- Amt zurücktrete, weil der Verband volle Handlungs- fassungsgericht halten könnte; denn seit den 50er freiheit haben und behalten muß. Er muß seine Posi- Jahren, Herr Kollege Geißler, gibt es einen wunder- tionen darstellen können. Ich wi ll als Abgeordneter baren Satz des Verfassungsgerichts bei allen ein- meine Handlungsfreiheit haben und will nicht durch schlägigen Entscheidungen, unabhängig von Zeit falsche Bindungen, durch falsche Rückbezüge in und Situation. Dieser Satz ist in seiner Banalität meiner Entscheidungsfreiheit behindert sein. schlagend: Die Finanznot des Staates rechtfertigt keine verfassungswidrige Belastung. Damit Sie mich richtig verstehen: Wenn über die Verschiebung der Kindergelderhöhung isoliert abge- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ stimmt wird, werde ich sie ablehnen. An dieser mei- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der ner Position in der Sache ändert sich durch den Rück PDS) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996 9385

Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Dr. Geißler von denen ein Teil der Kollege Geißler eben benannt zur Beantwortung. hat. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Dr. Heiner Geißler (CDU/CSU): Ich spreche jetzt Wer wollte denn bestreiten, daß die Globalisierung nur zur Frage der Verfassungswidrigkeit. Die Verf as- der Märkte zu rasanten Umwälzungen in den natio- sungswidrigkeit hängt davon ab, ob durch die Frei- nalen Ökonomien führt und daß durch die Global- beträge bzw. dort, wo die Menschen nach unserem isierung die Möglichkeiten nationaler Politik teil- Modell das Kindergeld statt den Kinderfreibetrag in weise sogar eingeschränkt werden? Wer wollte denn Anspruch nehmen, durch das Kindergeld das Exi- bestreiten, daß der Fall der Mauer, das Ende des da- stenzminimum abgedeckt ist oder nicht. Der Kinder- mit verbundenen Protektionismus und der Staats- freibetrag deckt heute eine Summe von, ich glaube, wirtschaften im Osten den Arbeitsmarkt weltweit 6 240 DM ab. Dieser Kinderfreibetrag ist verfas- verändern? Wer wollte denn bestreiten, daß diese sungsrechtlich einwandfrei. Das können Sie bestrei- veränderten ökonomischen Rahmenbedingungen ten, da gibt es unterschiedliche Meinungen. Die Ver- das deutsche Wohlstandsmodell und damit auch den fassungsministerien der Bundesregierung, im übri- Sozialstaat, wie er in den vergangenen 40 Jahren gen in überwiegender Anzahl auch die Länder sind hier gewachsen ist, radikal in Frage stellen? der Auffassung, daß die 6 240 DM Kinderfreibetrag das Existenzminimum für Kinder abdecken. Derartige tiefgreifende Veränderungen sind eine große Herausforderung für eine Gesellschaft. Wir ste- Jetzt können Sie nur die Frage stellen: Würde sich hen wirklich vor der Frage - sie ist viel zu lange auf- das möglicherweise am 1. Januar 1997 ändern? Da ist geschoben worden -, auf welche Basis die Zukunft man aus den Gründen, die ich vorhin genannt habe - dieses Landes gegründet werden soll. weil wir nämlich Preisstabilität haben -, ganz über- wiegend der Auffassung, daß eine Anhebung des (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Existenzminimums nicht notwendig ist. Selbst wenn Ich behaupte, meine Damen und Herren, daß das wir das Kindergeld 1997 um die 20 DM erhöht hät- von Ihnen heute eingebrachte Paket für Wachstum ten, wäre das Existenzminimum höchstwahrschein- und Beschäftigung die Größenordnung der notwen- lich - ich sage einmal „höchstwahrscheinlich"; ich digen Veränderungen nicht einfängt. bin nicht der Finanzminister und auch nicht dafür zu- ständig - nicht angehoben worden, weil wir Preissta- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) bilität haben. Das ist im übrigen auch der Grund, Dieses Paket geht einerseits zu weit - ich werde dar- warum die Regelsätze in der Sozialhilfe im nächsten auf gleich noch kommen - und greift gleichzeitig zu Jahr nicht angehoben werden müssen. kurz. Infolgedessen, verehrte Frau Kollegin, geht der Den ideologischen Hintergrund für Ihre gesetzli- Vorwurf der Verfassungswidrigkeit völlig daneben. chen Vorschläge bereiten Sie schon seit geraumer (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Zeit vor. Ich erinnere an die Auseinandersetzung mit dem Kollegen Louven, der schon vor einem Jahr die Notwendigkeit einer radikalen Deregulierung der Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin Marie- bundesrepublikanischen Arbeit gefordert hat. Auch luise Beck, Sie haben das Wort . Graf Lambsdorff, der ja immer noch sehr viel deutli- cher und schonungsloser ist, sagt seit langem in dan- Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- kenswerter Offenheit, wo nach seiner Meinung die NEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es Antwort auf die deutsche Krise zu finden ist: Verlän- ist wahr, dieses Land steckt in einer tiefen K rise, und gerung der Arbeitszeit, Abbau von Schutzrechten, diese Krise ist nicht über Nacht gekommen. Schon Öffnung der Niedriglohnbereiche, Abbau von sozia- lange zeichnet sich ab, daß die Zahl der Erwerbslo- len Leistungen. Ganz deutlich und klar hat Herr sen mit erschreckender Stetigkeit zunimmt. Die Ste- Lambsdorff das Programm umschrieben. Im Hinter- tigkeit, mit der sie trotz konjunktureller Aufs und grund steht tatsächlich die Auseinandersetzung, in Abs zunimmt, ist das Problem. Schon lange können welche Richtung sich die Gestaltung der nationalen, wir beobachten, daß sich der Aufbau der fünf neuen der bundesdeutschen Ökonomie bewegen soll. Länder viel schwieriger gestaltet, als sich wohl alle in (Dr. [F.D.P.]: Das ist diesem Haus vorgestellt haben. Schon lange kämp- nichts Neues!) fen die öffentlichen Haushalte gegen einen wachsen- den Schuldenberg. Insbesondere die Kommunen und Natürlich sind Sie umgetrieben von dem Beispiel Länder haben das bei dem Versuch, ihren täglichen Amerika, dem amerikanischen Weg und dem ameri- Aufgaben in der Politik nachzukommen, früher ge- kanischen Jobwunder, auch wenn Sie das nach wie spürt als wir im Bund. vor weit von sich weisen; Ebensowenig ist neu, daß die Erwerbslosigkeit (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) nicht die Folge einer vorübergehenden konjunkturel- denn Sie, zumindest einige von Ihnen, wissen, daß len Schwäche ist, sondern daß sie strukturelle Ursa- der soziale Preis für dieses Jobwunder extrem hoch chen hat. Ich verstehe nicht, Herr Glos, daß Sie sich ist. heute morgen wieder darauf zurückgezogen haben, daß jetzt ein konjunktureller Lichtstreif am Horizont Die heute vorgelegten Gesetzentwürfe sind von ei- zu sehen wäre. Es geht um strukturelle Ursachen, ner Amerikanisierung der Verhältnisse noch entfernt; 9386 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996

Marieluise Beck (Bremen) aber ich sage Ihnen: Es geht um die Richtung. Herr Ein drittes Beispiel: Mit dem Wachstums- und Be- Sohns hat deutlich gesagt: Wir stehen an einem schäftigungsförderungsgesetz wird das Ziel auf gege- Scheideweg. ben, Behinderte gezielt durch Maßnahmen der beruf- lichen Rehabilitation in den Arbeitsmarkt zu integrie- Es geht also darum, auf die Krise der Erwerbswirt- ren. Sie verändern eine Muß-Leistung in eine Kann schaft Antworten zu finden, die einerseits die not- Leistung. wendigen Veränderungen herbeiführen und trotz- dem den sozialen Konsens und die Gerechtigkeit Das sind synergetische Wirkungen, Herr Geißler. nicht in Frage stellen. Hier wird nicht Gefälligkeitsdemokratie gemacht, hier wird nicht Leistungsträgern Belohnung zuge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sprochen, sondern die, die in ihrer Möglichkeit, Lei- Die Gewerkschaften haben mit ihrem Angebot zu stung zu erbringen, eingeschränkt sind, aber teilha- einem Bündnis für Arbeit genau diesen Weg mit der ben wollen, werden getroffen. Deswegen ist die Em- Bundesregierung und den Unternehmen gehen wol- pörung in der Bevölkerung auch so groß, und sie ist len. Es war ein Risiko für die Gewerkschaften, diesen zu Recht so groß. Weg einzuschlagen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Unruhe) und der SPD)

Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin, darf ich Wir alle kennen das Einmaleins des Sozialstaats. Sie eine Sekunde unterbrechen. - Es gibt zwei For- Seine Basis ist im wesentlichen eine ausgeglichene men von Unruhe: Die eine entzündet sich an Inhalt Arbeitsgesellschaft. Wir alle kennen aber auch die und Form einer Rede, und die andere nimmt auf Red- Tatsache, daß durch den Einsatz neuer Technologien ner oder Rednerin keine Rücksicht. Die zweite finde und durch neue Produktionsorganisationen das Er- ich eigentlich die schlechtere, und die bitte ich zu be- werbsvolumen eher abnimmt. Die vergangenen enden. - Bitte fahren Sie fo rt . Jahre haben gezeigt, daß selbst normale Wachstums- raten nicht den Verlust von Arbeitsplätzen ausglei- chen können, den diese technische Beschleunigung Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- mit sich bringt. Auf diese Frage müssen Sie eine Ant- NEN): Die Hauptbotschaft des Bündnisses war das wort geben. Es ist eine große und schwierige Auf- Angebot zu teilen: Arbeit und Einkommen zu teilen, gabe, die Erwerbs- und Arbeitsgesellschaft unter die- sozialen Ausgleich herzustellen, der Spaltung der sen Umständen so umzubauen, daß alle trotzdem die Gesellschaft entgegenzuwirken, neue Wege in der Chancen auf Teilhabe, eigenes Erwerbseinkommen Gestaltung der Industriegesellschaft zu gehen. Das und Absicherung haben. war das Angebot, und Sie haben dieses Angebot mutwillig ausgeschlagen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der PDS) Dazu braucht es Flexibilisierung. Das wissen wir inzwischen alle. Sie müssen dann aber gleichzeitig Man muß davon ausgehen, daß Sie sich- politisch Rahmenbedingungen schaffen, die die flexibilisier- entschieden haben, daß Sie den Weg gemeinsam mit ten Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen nicht den Gewerkschaften gar nicht gehen wollten, son- schutzlos machen. Das bedeutet eine moderne Ar- dern daß Sie darauf setzen, Ihre Politik gegen die Ge- beitsgesetzgebung; das bedeutet Reregulierung, werkschaften und damit gegen einen wesentlichen statt Deregulierung. Teil der Bevölkerung zu machen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sowie bei Abgeordneten der SPD) Die heute zur Debatte stehenden Einzelgesetze Das hat auch für das soziale Sicherungssystem entfalten ihre Sprengkraft erst in ihrer synergetischen Wirkung. Synergie bedeutet: Wen treffen Einzelent- Konsequenzen, das sich diesen veränderten Bedin- scheidungen immer wieder an der gleichen Stelle? gungen stellen muß. Diese Veränderung muß die Wenn Herr Sohns sagt, es gehe um das Ende der Ge- Tatsache aufgreifen, daß Erwerbsbiographien nicht mehr die Geschlossenheit der Jahrhundertwende ha- fälligkeitsdemokratie, dann greife ich mir einen Per- sonenkreis heraus, der mit unterschiedlichen Geset- ben. Die Frauen wissen das schon lange. Das erfor- zen immer wieder neu getroffen wird: Das sind die dert auch ein verändertes Steuersystem, das auch der Behinderten. Mit der Sozialhilfereform haben Sie mit der Verteilung von Erwerbsarbeit verbundenen Einkommensumverteilung Rechnung trägt und zum den Vorrang ambulanter Hilfen unter einen Kosten- Beispiel die Transfers, die die Familien brauchen, vorbehalt gestellt. Das bedeutet das Ende des Rechts nicht kappt. auf Selbstbestimmung von Behinderten, ob sie im Heim oder zu Hause betreut werden. Hier gibt es wirklich Ansatzpunkte für Reformen, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) die so weit greifen, wie die ökonomischen Verände- rungen es erfordern. Statt dessen gehen Sie den hilf- Bei der Pflegeversicherung - das ist jetzt durch den losen Weg, Stückchen für Stückchen Rechte abzu- Vermittlungsausschuß abgewendet worden - wollten bauen. Sie erzeugen damit eine gesellschaftliche Si- Sie die Behinderten, die in Heimen leben, von den tuation, in der die Besitzstandswahrung, das Festhal- Leistungen ausschließen, also wieder gegen den ten am Alten, immer stärker vorangetrieben wird, gleichen Personenkreis. weil Sie eines nicht deutlich machen: Wir wissen, daß Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996 9387

Marieluise Beck (Bremen) es Veränderungen geben muß. Die müssen aber un- Sonntag" vom 28. April dieses Jahres bemerkens- ter den Vorzeichen der gleichen Verteilung, der so- wert deutlich. Da heißt es: zialen Gerechtigkeit, der Solidarität stattfinden. Nein, das Problem der SPD ist nicht ihre Führung, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sondern letztlich ihre Tradition ... Die SPD hat sowie bei Abgeordneten der PDS) noch immer eine Mitgliedschaft, eine historische Herkunft, einen „Stall", der emotional mehr als Im Augenblick schaffen Sie eine Situation, in der ein gutes Jahrhundert hinter der heutigen Zeit jeder für seine Interessen kämpft. Das Drama ist, daß „fühlt" ... Die SPD trägt ihr 19. Jahrhundert Sie die Chance nicht aufgegriffen haben, die das schwermütig auch in das 21 ste ... „Bündnis für Arbeit" beinhaltet hat, die Chance, die Veränderungen, die diese Gesellschaft unabweisbar Bemerkenswert ist auch der folgende Satz von Herrn hinnehmen muß, gemeinsam mit den tragenden von Dohnanyi, die SPD müßte Kreisen der Bevölkerung anzugehen auf dem Weg in erkennen, sie müßte sich eingestehen und inner- eine wirklich moderne, aber gleichzeitig auch solida- parteilich umsetzen, daß ihre heutige Einstellung rische Gesellschaft. zur Gesellschaft veraltet ist und daß die von der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN CDU/CSU-FDP-Koalition für Deutschland for- sowie bei Abgeordneten der SPD und der mulierte Standortpolitik heute eine richtigere PDS) Richtung steuert als die Parteitagsbeschlüsse der SPD. Bravo, Herr von Dohnanyi! Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Dr. Guido Westerwelle, Sie haben das Wo rt. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne ten der CDU/CSU) Dr. Guido Westerwelle (F.D.P.): Herr Präsident! Wenn sich die SPD-Bundestagsfraktion etwas mehr Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die De- von dieser Erkenntnis zu Herzen nehmen würde, batte, die wir heute im Deutschen Bundestag erle- wäre das hilfreich. ben, ist meiner Einschätzung nach genau das Spie- Die Tatsache, daß Herr Scharping hier zwar heftig gelbild der gesellschaftlichen Diskussion. Es gibt geredet hat, daß er aber in keiner Weise irgendeine eben in dieser Modernisierungsdebatte solche, die Alternative vorgeschlagen hat, verwundert doch Strukturen verändern wollen, und solche, die Struk- nicht. Sie sind doch selbst bei der Frage der Finanz- turen wirklich kräftig verteidigen. Es geht hier eben politik vollkommen zerstritten. Herr Schwanhold nicht nur um einzelne Maßnahmen steuerpolitischer, sagt, ohne höhere Neuverschuldung geht es nicht, ,) arbeitsmarktpolitischer, finanzpolitischer oder sozial- und Frau Matthäus-Maier antwortet am gleichen politischer Art, sondern im Kern um die Frage, ob wir Tag: Angesichts riesiger Schuldenberge und enormer eine wirtschaftliche und auch eine mentale Standort- Zinsbelastungen der öffentlichen Haushalte ist das fähigkeit in Deutschland erhalten. Das ist die eigent- ein großer Fehler und verschiebt die Probleme nur liche Frage, über die wir heute debattieren.- auf die kommenden Jahre. (Beifall bei der F.D.P.) Sie haben versucht, in dieser Debatte Zwietracht in Deswegen möchte ich Bundespräsident Roman den Reihen der Koalition zu säen, und sind jetzt ver- Herzog zitieren, der im Frühjahr bei der Hannover wundert darüber, daß die Koalition in dieser Debatte Messe gesagt hat: einig aufgetreten ist. Wir brauchen in Deutschland ... mehr „mentale (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne Standortfähigkeit". Wir müssen uns fragen, ob ten der CDU/CSU) die zweifellos vorhandene Bereitschaft zum Wan- Ich glaube, es geht um sehr viel mehr. Es geht del - zum Wandel in Wirtschaft, Gesellschaft, darum, ob wir am Ende des sozialdemokratischen Staat und Technik - heute bereits ausreicht. Oder Jahrhunderts, dessen Charakteristikum die Unfinan- verbaut uns eine noch größere Beharrung auf zierbarkeit unseres Gemeinwesens geworden ist, in Hergebrachtem und dem Liebgewonnenen die der Lage sind, auch die notwendigen Kurskorrektu- Wege in die Zukunft? ren durchzusetzen, oder ob wir so weitermachen wie bisher, mit dem Erfolg, daß die Schere immer größer Wenn man heute die Redner von der SPD und wird, nämlich auf der einen Seite immer mehr Rechte auch von den Grünen aufmerksam verfolgt hat, wird und immer mehr Freiheiten den Bürgern zuzugeste- man finden, daß Sie alle eigentlich den gleichen hen und auf der anderen Seite immer mehr Pflichten Tenor hatten: Es muß etwas geschehen, aber passie- und immer mehr Verantwortung beim Staat anzusie- ren darf nichts. deln. Darin liegt auch der große Unterschied zwi- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) schen uns und Ihnen, Frau Beck von den Grünen. Wir wollen mehr Freiheit für mehr Menschen, aber Das ist die Politik, die Sie machen. wir wissen, daß das heißt: mehr Verantwortungsbe- reitschaft des einzelnen und auch für seinen Näch- Herr Scharping hat hier ja eine ganze Anzahl von sten. Das ist das Entscheidende. Zitaten vorgetragen. Daß Sie in der Sozialdemokratie allerdings Schwierigkeiten haben, das macht ja der (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne Beitrag von Klaus von Dohnanyi in der „Welt am ten der CDU/CSU) 9388 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996

Dr. Guido Westerwelle Sie wollen Freiheit von Verantwortung; wir setzen Warum legt dann diese Bundesregierung, der Ihre dem Freiheit zur Verantwortung entgegen. Darum Partei angehört, nicht ein Sofortprogramm auf, das geht es nämlich. die Einstellung von zusätzlichen Betriebsprüfern und Steuerfahndern vorsieht, damit man zumindest (Lachen bei der SPD) 10 Prozent, 15 Prozent oder 20 Prozent dieser Gelder Wenn Sie den Eindruck erwecken - das ist schon sofort einsammeln kann? bemerkenswert -, als ob es sich um radikalkapitalisti- Darf ich noch eine Frage anfügen? - sche Methoden oder um frühkapitalistische Ansätze handeln würde, so möchte ich Ihnen sagen: Die (Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.]: Natürlich!) Lohnfortzahlung im Krankheitsfall in Höhe von 100 Prozent ist ja für Sie unantastbar; alles andere Sind Sie nicht mit mir der Meinung, daß eine Steuer- wäre, so IG Metall-Chef Zwickel, Kapitalismus pur. hinterziehung - generell und auch in einer solchen Größenordnung - mit der Sozialpflicht des Eigen- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) tums, wie sie das Grundgesetz vorsieht, überhaupt nichts zu tun hat? Es stört offensichtlich überhaupt nicht, daß Schwe- den, das man dann ja auch als frühkapitalitisch be- (Beifall bei der PDS) zeichnen müßte, viel weiter als wir gegangen ist und eine Gesetzgebung in bezug auf Lohnfortzahlung in dieser Form nie gekannt hat. Dr. Guido Westerwelle (F.D.P.): Erstens möchte ich Ihnen in Ihrer Einschätzung ausdrücklich zustim- men. Die Bundesregierung und die Koalition sind Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Wester- selbstverständlich der Auffassung, daß Steuerhinter- welle, die Kollegin Luft würde Ihnen gern eine Zwi- ziehung ebenso wie illegale Formen von Steuerflucht schenfrage stellen. in keiner Weise akzeptabel ist. Gerade um diesen Mißstand strukturell beseitigen zu können, legt die Koalition in dieser Legislaturpe riode eine große Dr. Guido Westerwelle (F.D.P.): Bitte, gerne. Steuerreform vor.

Vizepräsident Hans Klein: Darf ich gleich in einem (Lachen bei der SPD) Aufwasch fragen, ob Sie auch die Frage der Kollegin Wir müssen an die Strukturen herangehen und von Matthäus-Maier beantworten wollen? dem Steuerdickicht wegkommen. Mehr Steuerver- einfachung und niedrigere Steuersätze sind viel ge- Dr. Guido Westerwelle (F.D.P.): Ja, bitte. scheiter - das werden Sie sehen - als das, was Sie vorschlagen. (Beifall bei der F.D.P.) Vizepräsident Hans Klein: Bitte, Frau Kollegin Luft. Zweitens. Frau Kollegin Luft, ich war bei der Lohn- fortzahlung, als Sie mit diesem Thema gekommen (Joseph Fischer [Frankfu rt] [BÜNDNIS- 90/ sind. Ich habe gehört, was der Sprecher Ihrer Gruppe DIE GRÜNEN]: Warum schreit der heute heute vorgetragen hat. Ich möchte Sie nur einmal so? - Gegenruf des Abg. Dr. Uwe Küster darauf aufmerksam machen, daß das, was Sie hier [SPD]: Weil es ihm weh tut!) heftig bekämpfen, nämlich die Änderung bei der Lohnfortzahlung, etwas ist, was Sie in der DDR über- Dr. Guido Westerwelle (F.D.P.): Herr Fischer, wenn haupt nicht gekannt haben. Sie hatten eine Lohnfort- Sie beklagen, ich sei zu laut, dann finde ich das zahlung im Krankheitsfall von 90 Prozent. Bei uns putzig. aber werden sogar noch die Überstunden eingerech- net, wenn man krank wird, so daß man, wenn man (Heiterkeit und Beifall bei der F.D.P. und krank ist, manchmal mehr Geld bekommt als andere, der CDU/CSU - Joseph Fischer [Frankfurt] die arbeiten. Das ist in Deutschland nicht in Ord- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Im Verhältnis nung. zu sonst heute sehr viel!) (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne ten der CDU/CSU) Dr. Christa Luft (PDS): Herr Kollege, Sie sprechen von Verantwortung. Ich darf doch wohl davon ausge- Bitte. hen, daß sich das auch auf die Unternehmer bezieht. Darf ich Sie fragen, was Sie von der Angabe des Bun- des der Steuerzahler - das wiederholt sich ja nun Ingrid Matthäus-Maier (SPD): Herr Kollege Wester- schon seit vielen Jahren - halten, wonach pro Jahr welle, da nicht nur Sie, sondern auch andere Redner allein die Wirtschaft an die 130 Milliarden DM Steu- der Koalition immer wieder auf Schweden hingewie- ern hinterzieht? Wenn diese Angabe zutreffend ist - sen und gesagt haben, die sozialdemokratische Re- ich habe dazu von der F.D.P. oder dem BDI noch kein gierung dort habe gekürzt und gespart, möchte ich Dementi gehört -: die Frage stellen: Wollen Sie bitte zur Kenntnis neh- men, daß wir die sozial ungleiche Gewichtung kriti- (Joseph Fischer [Frankfu rt] [BÜNDNIS 90/ sieren? Selbstverständlich hat die schwedische Re- DIE GRÜNEN]: Von Steuerhinterziehung gierung gekürzt; an Kürzen und Sparen führt auch verstehen die ja was!) kein Weg vorbei. Sie hat aber im Unterschied zu Ih- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode -- 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996 9389

Ingrid Matthäus-Maier nen die Vermögensteuer nicht abgeschafft - das ha- Steuer- und Abgabenquote ist do rt ungefähr ben Sie vor -, sondern angehoben. 10 Prozentpunkte niedriger als bei uns. Dann darf man sich nicht wundern, daß das im internationalen Wettbewerb auf Dauer nicht gutgehen kann. Dr. Guido Westerwelle (F.D.P.): Frau Matthäus Maier, das ist eine Frage, die meines Erachtens deut- Daß im Jahre 1994 von deutschen Firmen ungefähr lich macht, daß Sie mit Ihrem klassenkämpferischen 50 Milliarden DM an Direktinvestitionen ins Ausland Denken nicht mit den neuen Strukturen zurechtkom- gegangen sind und gleichzeitig von den ausländi- men. schen Firmen in Deutschland lediglich 13 Milliarden (Lachen bei der SPD - Dr. Uwe Küster DM investiert wurden, das ist ein Zeichen dafür, daß [SPD]: Sie sind doch Klassenkämpfer!) wir nicht mehr beliebig lange vom Speck leben kön- nen. Deswegen legen wir dieses Modernisierungs- Ich will Ihnen das an einem Punkt deutlich ma- paket vor. Deswegen versuchen wir, Verkrustungen chen. Sie sagen, die Vermögensteuer sei eine Steuer, und Strukturen aufzubrechen. Ich habe den Ein- die nur die Reichen betreffe. Diesen Eindruck wollen druck, die Mitglieder sind in diesem Falle viel weiter Sie erwecken, Frau Matthäus-Maier. Sie nehmen da- als die Gewerkschaften, und die Bürger sind viel wei- bei aber nicht zur Kenntnis, daß die Vermögensteuer ter als Rot-Grün. in Deutschland zu zwei Dritteln eine betriebliche Vermögensteuer ist. Es ist, auch bezogen auf die Ge- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne werbekapitalsteuer, Unsinn, daß wir die Substanz ei- ter der CDU/CSU) nes Unternehmens besteuern anstatt den wirtschaft- Das Motto „Streiken statt Sparen" ist kein gelun- lichen Erfolg. Deswegen wollen wir die Substanz- genes Rezept, Arbeitsplätze zu schaffen. Sie sagen, steuern abschaffen. Sie verträten Arbeitnehmerinteressen. Dazu will ich (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne Ihnen entgegenhalten: Arbeitnehmerinteressen wer- ten der CDU/CSU) den heute von den Parteien vertreten, die dafür sor- gen, daß in Deutschland investiert wird, daß Arbeits- Das hat überhaupt nichts mit fehlender sozialer Sym- plätze geschaffen werden. Denn Arbeitsplätze sind metrie zu tun. in Deutschland die beste Sozialpolitik, die man sich überhaupt vorstellen kann. Ich sage Ihnen eines: Sie haben sich gegen alles, was gekommen ist, gewehrt. Sie waren gegen die (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) steuerliche Abzugsfähigkeit von Haushaltshilfen und Wir wollen an die Politik der marktwirtschaftlichen haben mit dem Stichwort Dienstmädchenprivileg Erneuerung anknüpfen, die auch dieses Land zwi- argumentiert. Sie haben sich hingestellt und hin- schen 1983 und. 1989 so erfolgreich gemacht hat. Wir sichtlich der Gewerbekapitalsteuer zunächst gesagt: wissen, daß es eine Sonderaufgabe der deutschen Das kommt mit uns auf keinen Fall in Frage! In bei- Einheit gab. Und für uns ist diese deutsche Einheit den Fällen sind Sie mittlerweile zu einer besseren immer noch ein Glück für unser gesamtes Land, Einsicht gekommen. - meine Damen und Herren. (Dr. Uwe Küster [SPD]: Wo denn?) (Zustimmung bei der F.D.P. und der CDU/ Ich sage Ihnen voraus: Die Zeit geht an Ihnen vor- CSU) über. Sie werden auch hier eines Tages die Kurve Aber eines möchte ich auch ganz klar sagen: Wir dür- kriegen, nur leider zu spät. fen uns nicht an die zu hohe Steuer- und Abgaben- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne last gewöhnen. Wir dürfen uns nicht an dieses ten der CDU/CSU) Niveau von Lohnzusatzkosten gewöhnen. Wenn ein Handwerker in Deutschland selber vier Stunden Meine Damen und Herren, im Entscheidenden arbeiten muß, um sich eine Arbeitsstunde eines an- geht es darum, daß wir in Deutschland eine Steuer- deren Handwerkers leisten zu können, dann stimmt und Abgabenlast, Lohnzusatzkosten und eine Rege- in diesem Lande etwas nicht. lungsdichte haben, die Investitionen ins Ausland trei- ben und die viele Investoren veranlassen, ins Aus- (Beifall des Abg. Carl-Ludwig Thiele land zu gehen. [F.D.P.]) Wenn die Grünen und Herr Scharping in der Wenn wir die Situation haben - Herr Kollege Geißler Debatte auf Amerika hinweisen, so ist dies wirklich hat in einer bemerkenswe rten Rede darauf hingewie- bemerkenswe rt . Frau Müller verweist im Hinblick sen -, daß die Kündigungsschutzprozesse vor den auf die Erbschaftsteuer auf das Steuersystem in den Arbeitsgerichten im Endeffekt ein Abschreckungs- USA, und Herr Scharping zitiert Herrn Kennedy, daß mechanismus geworden sind, das heißt, Bürgerinnen die Mentalität dort eine andere sei. Ihnen beiden und und Bürger nicht zusätzlich zu Arbeit und Brot kom- den verehrten Kolleginnen und Kollegen von den men, dann müssen wir hier korrigieren. Grünen möchte ich sagen: Wenn Sie allen Ernstes (Beifall der Abg. Dr. Gisela Babel [F.D.P.]) Besteuerungsmodelle in den Vereinigten Staaten als vorbildlich vortragen, dann freue ich mich auf die Wir haben die Schwellenwerte festgesetzt, als wir Diskussion bei der Detailberatung. Dann nämlich diese Form von Teilzeitarbeit überhaupt nicht ge- können wir uns zum Beispiel die Einfachheit von kannt haben. Ich kenne genügend Handwerksbe- Tarifen und die tatsächliche Steuer- und Abgaben- triebe, Freiberufler, Selbständige, kleine Unterneh- quote im amerikanischen Steuerrecht ansehen. Die men, die sagen: Um Gottes willen! Nicht mehr als 9390 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996

Dr. Guido Westerwelle fünf Arbeitnehmer, sonst fallen wir unter das Kündi- sagen: Ab und zu etwas mehr von der Erkenntnis, gungsschutzgesetz; dann habe ich große Schwierig- daß man alles, was man verteilen wi ll, vorher erst keiten in meinem Betrieb. einmal erwirtschaften muß, würde Ihnen nicht scha- den. Wir sagen ihnen: Wenn ihr jetzt bereit seid, neu einzustellen, tritt das Kündigungsschutzgesetz erst Ich möchte Ihnen ein Zweites dazu sagen: Nicht ab einem Schwellenwert von zehn Arbeitnehmern in derjenige gefährdet den Sozialstaat, der ihn refor- Kraft. Das ist nicht die Beseitigung des Kündigungs- mieren will, sondern derjenige, der ihn weiter über- schutzes, wie Sie behaupten, das ist die Anpassung fordert. Wir sind jetzt in einer Situation, in der wir an die Situation vor den Arbeitsgerichten und in un- rechtzeitig zum Nutzen unseres Landes korrigieren serer Gesellschaft, meine Damen und Herren. müssen. Demokratie lebt davon, daß sie ihre Irrtümer (Beifall bei der F.D.P.) korrigiert. Ich meine, es wäre an der Zeit, daß Sie sich diesem wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, staatlichen Wandel stellen. Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Wester- welle, der Kollege Büttner würde Ihnen gerne eine (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne Zwischenfrage stellen. ten der CDU/CSU)

Dr. Guido Westerwelle (F.D.P.): Bitte, gern. Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Kol- lege Ottmar Schreiner. Vizepräsident Hans Klein: Bitte, Herr Kollege Bütt- ner. Ottmar Schreiner (SPD): Herr Präsident! Liebe Kol- leginnen und Kollegen! Was wir heute morgen erlebt Hans Büttner (Ingolstadt) (SPD): Herr Kollege We- haben, war die Kapitulation, die Abdankungserklä- sterwelle, Sie wie auch Herr Kollege Geißler haben rung der Vertreter der katholischen Soziallehre in der gesagt, das Kündigungsschutzgesetz sei mit Blick CDU/CSU-Fraktion. auf die Beschäftigung eine Abschreckung. Würden Sie es als Abschreckung bezeichnen, wenn über (Beifall bei der SPD und der PDS) 95 Prozent aller Kündigungen zwar in Form von Ver- gleichen und Abfindungen enden, aber die Summe, Wenn der Kollege Geißler hier ausdrücklich er- die dafür bezahlt wird, pro Beschäftigungsjahr zwi- klärt, die Koalitionsfraktionen hätten alle Anliegen schen 0,1 und 0,5 Monatsgehältern liegt, das heißt der Arbeitgeberseite aufgegriffen in der Hoffnung, für eine zehnjährige Beschäftigung als Abfindung daß die damit versprochenen Arbeitsplätze auch ge- zwischen einem und fünf Monatsgehältern heraus- schaffen würden. kommt? Ist das Abschreckung angesichts einer Lei- (Dr. Heiner Geißler [CDU/CSU]: Mit keinem stung, die die Menschen für einen Bet rieb und auch Wort!) für das Fortkommen des Bet riebes vollbracht haben? - - Das haben Sie sinngemäß auch in der Sendung „ZAK" gesagt! In der Sendung „ZAK" haben Sie zu- Dr. Guido Westerwelle (F.D.P.): Bevor ich in die Politik gekommen bin, habe ich selber als Anwalt in dem hinzugefügt: Für den Fall, daß das Versprechen solchen Prozessen mitgewirkt. Ich kann Ihnen dazu der Arbeitgeber, die Halbierung der Arbeitslosigkeit nur eines sagen - und das meine ich mit allem Ernst -: bis zum Jahre 2000, nicht gehalten werden sollte, Wenn Sie einen Handwerker mit sechs bis sieben Be- wollen wir eine Art Rückversicherung und eine Befri- schäftigten beispielsweise mit der Abfindungs- stung der Gesetzgebung bis zum Jahre 2000. Davon summe von 30 000 DM konfrontieren - was bei ent- haben Sie heute morgen nichts mehr gesagt. Aber sprechenden Beschäftigungsverhältnissen in der ge- das nur am Rande. richtlichen Realität nämlich herauskommt -, dürfen Wenn der Kollege Geißler - der Kollege Blüm hat Sie sich nicht wundern, wenn diese Schwellenwerte es ja im Grunde genommen ganz ähnlich gemacht; wie bisher ein tatsächliches Einstellungshemmnis ge- ich komme darauf noch zurück - erklärt, wir über- worden sind. Dieses Problem wollen wir angehen. nehmen alle Anliegen der Arbeitgebervertreter - (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU - (Dr. Heiner Geißler [CDU/CSU]: Mit keinem Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Das ist Wort!) unwahr! ) Meine Damen und Herren, ich möchte am Schluß - sicher haben Sie das so erklärt -, in der Hoffnung, noch auf eine Sache hinweisen: Ich denke, es geht daß die Arbeitslosigkeit damit abgebaut wird, dann nicht nur um Steuerpolitik, es geht nicht nur um können Sie, Herr Kollege Geißler, alle Bücher der ka- Schwellenwerte, es geht nicht nur um Sozialpolitik tholischen Soziallehre in Ihrem Bücherschrank ver- insgesamt, sondern es geht darum, daß wir vor allen brennen. Dingen mit einem Vorurteil aufräumen müssen, was (Beifall bei der SPD und der PDS) ich für nicht akzeptabel halte. Ich finde es nicht akzeptabel, wenn diejenigen, die den Sozialstaat auf Die können Sie alle wegschmeißen. Dann können diesem hohen Niveau reformieren wollen, in die Sie den Gedanken an Mitbestimmung, an Beteili- Ecke der Ellenbogengesellschaft, der Egoisten und gung am Produktivkapital, an Kündigungsschutz Darwinisten gestellt werden. Ich möchte Ihnen usw. usf. vergessen. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996 9391

Ottmar Schreiner Was passiert eigentlich, Herr Kollege Geißler, schen auch die Herren Blüm und Geißler begeben wenn unsere Prognosen zutreffen, die da lauten, das haben: Kapitulation der katholischen Soziallehre. Os- Paket der Bundesregierung führt nicht zu einem Ab- wald von Nell-Breuning würde sich im Grabe umdre- bau der Arbeitslosigkeit, sondern zu einer Auswei- hen, wenn er dieses Debakel heute morgen miterlebt tung der Arbeitslosigkeit in den nächsten Jahren? hätte. Was machen Sie dann eigentlich? Ich komme darauf (Beifall bei der SPD und der PDS) zurück. Es gibt zwei zentrale Fragestellungen, an denen Wenn Sie schon auf die Logik der Arbeitgeberar- wir das Paket der Bundesregierung messen. Die eine gumentation eingehen, frage ich Sie: Was machen Fragestellung ist die des Kollegen Geißler: Geht es Sie eigentlich, wenn die Arbeitgeber im nächsten einigermaßen gerecht zu? Findet ein halbwegs soli- Jahr sagen: Das reicht uns nicht, wir brauchen noch darischer Lastenausgleich in Deutschland statt, oder ein bißchen mehr; wir brauchen die gänzliche Ab- ist es so - wie der Kollege Westerwelle behauptet schaffung des Kündigungsschutzes, wir brauchen hat -, daß ein rabiater Klassenkampf zu Lasten der die Aushöhlung der Tarifautonomie, die Abschaffung Bezieher von Normaleinkommen, von Sozialleistun- der Tarifautonomie, wie sie von Graf Lambsdorff hier gen, der Familien und der Kranken stattfindet? Ge- gefordert worden ist. Was machen Sie dann eigent- nau das ist die Stoßrichtung Ihres Pakets: Klassen- lich? Dann können Sie eigentlich gar nicht mehr an- kampf gegen die Kranken, die Familien, die norma- ders, als weiter nachzugeben, weiter beizudrehen len Arbeitnehmer, die Arbeitslosen und die Soziallei- und diese Republik sozialstaatlich ins vorige Jahr- stungsempfänger. hundert zurückführen. Das ist wirklich eine Abdan- kungserklärung der führenden Vertreter der katholi- (Beifall bei der SPD und der PDS) schen Soziallehre hier im Parlament. Keine andere Gruppe ist an der Finanzierung totai- (Beifall bei der SPD und der PDS) ligt. Insofern ist dem Kollegen Westerwelle völlig zu- zustimmen: Die Bundesregierung setzt ihren Mas- Der Kollege Blüm - der Minister Blüm, der Herr senkampf von oben in massivster Form fo rt . Minister Blüm - hat versucht, die SPD-Fraktion als Steinzeittruppe zu entlarven mit dem Hinweis, die (Beifall bei der SPD) IG Chemie habe einen Tarifvertrag geschlossen, der mit dem Altersteilzeitgesetz der Bundesregierung Ist es gerecht, wenn einerseits Wohlhabenden viele korrespondiere. Herr Minister, ist Ihnen entgangen, Milliarden D-Mark über die Abschaffung der Vermö- daß der Tarifvertrag der Chemiewirtschaft nicht mit gensteuer zusätzlich geschenkt werden sollen und Ihrem Gesetzesvorschlag vereinbar ist? andererseits Einkommensschwachen der Zuschuß für das Gebiß genommen wird? Wer dies macht, hat Herr Minister, Sie werden erleben, daß die SPD- jedes soziale Augenmaß verloren. Bundestagsfraktion einen Änderungsantrag stellen wird mit dem Ziel, die Gesetzeslage so zu ändern, (Beifall bei der SPD und der PDS) daß der Tarifvertrag mit dem Gesetzestext kompati- - bel gemacht wird. Deshalb können Sie doch nicht Ist es sozial gerecht, wenn in Deutschland einer- hergehen und sagen, hier säßen die Traditionskom- seits einer 80jährigen Frau, die nach dem Kriege un- panien und die IG Chemie sei gemeinsam mit dem ter schwierigsten Bedingungen und in einer grandio- Bundesarbeitsminister an der Spitze des Fortschritts. sen Lebensleistung vier oder fünf Kinder großgezo- gen hat, die Sozialhilfe gekürzt wird und anderer- (Elke Ferner [SPD]: O Gott! O Gott!) seits die Vermögensteuer abgesenkt werden soll? Um dies noch ein bißchen zu illustrieren, lese ich Ih- Das ist eine sozialpolitische Sauerei. Das ist der Ver- nen aus dem heutigen „Handelsblatt" vor: Die lust des letzten sozialen Anstands in dieser Republik. IG Chemie betrachtet die geplanten Einschränkun- (Beifall bei der SPD und der PDS) gen bei der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und dem Kündigungsrecht als einen g rundsätzlichen Wandel des Systems. Wie Gewerkschaftschef Huber Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Schreiner, tus Schmoldt sagte, seien die Pläne ein direkter Ein- gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen griff in unsere Zuständigkeitsbereiche. Die Kürzung Dr. Geißler? der Lohnfortzahlung um 20 Prozent greife mittelbar in die Tarifhoheit ein, da die IG Chemie und manch andere Gewerkschaft im Vertrauen auf den Gesetz- Ottmar Schreiner (SPD): Ja. geber dies nicht tarifvertraglich abgesichert hätten. Wenn die Arbeitnehmervertreter diesen Trend nicht Bitte, Herr Kollege stoppten, werde morgen das ganze Tarifvertragsge- Vizepräsident Hans Klein: Geißler. setz in Frage gestellt. „Am Ende wird man uns das Recht nehmen, Löhne und Arbeitsbedingungen mit den Arbeitgebern in Tarifverträgen abschließend zu Dr. Heiner Geißler (CDU/CSU): Herr Schreiner, regeln" , so Gewerkschaftschef Schmoldt. würden Sie mir und den anderen Anwesenden bitte (Beifall bei der SPD) erklären, in welchem unserer Gesetzentwürfe die So- zialhilfe für die Frau, deren Leben Sie gerade ge- Meine Güte, genau das ist auch unsere Auffas- schildert haben, gekürzt wird? Sie brauchen mir gar sung. Das ist die schiefe Ebene, auf die sich inzwi nicht den entsprechenden Paragraphen zu nennen. 9392 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996

Ottmar Schreiner (SPD): Der Gesetzentwurf der Ottmar Schreiner (SPD): In dem Gesetzentwurf ist Bundesregierung, federführend das Bundesministe- ausdrücklich vorgesehen, daß das Bedarfsdeckungs- rium für Gesundheit, sieht einen prinzipiellen Sy- prinzip durch die Anpassung der Sozialhilfe an die stemwechsel bei der Berechnung der Sozialhilfe vor. Nettolohnentwicklung ersetzt wird. Nochmals: Alle Prognosen gehen davon aus, daß in den nächsten (Dr. Heiner Geißler [CDU/CSU]: Was?) Jahren die Nettolohnentwicklung eher negativ sein Es soll nicht mehr das Bedarfsdeckungsprinzip gel- wird. Das heißt im Ergebnis, daß die Sozialhilfe, ge- ten, sondern es soll durch die Ankopplung der Sozial- messen an dem bisherigen Bedarfsdeckungsprinzip, hilfesätze an die Nettolohnentwicklung, die in den gekürzt wird. Jetzt können Sie sich aber wirklich set- nächsten Jahren vermutlich negativ sein wird, abge- zen. Ich sage das nicht ein drittes Mal. löst werden. Das heißt faktisch eine deutliche Kür- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) zung der Sozialhilfesätze. Der zweite Schwerpunkt, zu dem ich etwas sagen (Beifall bei der SPD und der PDS) will, ist entscheidend. Der entscheidende Punkt ist, ob das Maßnahmepaket der Bundesregierung zu der Das trifft Menschen, Herr Kollege Geißler, wie die von der Bundesregierung versprochenen soeben beispielhaft genannte 80jährige Frau, die Halbierung der Zahl der Arbeitslosen bis zum Jahre 2000 führen keine Erwerbsbiographie aufbauen konnte, weil sie wird. vier oder fünf Kinder in einem Haushalt ohne Wasch- maschine und Spülmaschine großgezogen hat. Ver- (Abg. Dr. Peter Ramsauer [CDU/CSU] mel mutlich wäre meine Mutter, wenn sie noch leben det sich zu einer Zwischenfrage) würde, in dem Kreis der Betroffenen. Was hier pas- siert, ist eine grandiose Sauerei. Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Schreiner? Auf der anderen Seite werden die Besitzer großer Vermögen von Ihnen beschenkt. Das Argument, Sie wollten die Vermögensteuer in die Erbschaftsteuer Ottmar Schreiner (SPD): Ich wehre mich überhaupt einarbeiten, ist nichts anderes als Nebelwerferei. nicht gegen das politische Vorhaben, die Zahl der Ar- Denn nach den Zahlen, die mir zur Verfügung ste- beitslosen bis zum Jahre 2000 halbieren zu wollen, hen, soll bestenfalls ein Bruchteil der gegenwärtig weil ich der festen Überzeugung bin, daß dann, geleisteten Vermögensteuer in die Erbschaftsteuer wenn man es wirklich will, dieses Ziel erreichbar eingearbeitet werden. Das zusätzliche Argument der sein könnte. Erhebungsprobleme gilt offenkundig für andere Bereits im Dezember 1993 hat die EU-Kommission Steuerarten nicht. Wenn es wirklich technische Pro- in Brüssel in ihrem umfänglichen Weißbuch bleme gäbe, dann wären sie lösbar, wenn nur der po- „Wachstum, Beschäftigung, Wirtschaftsentwicklung" litische Wille dazu vorhanden wäre. formuliert, daß bis zum Jahre 2000 eine Halbierung (Beifall bei der SPD und der PDS) der Massenarbeitslosigkeit auf der Ebene der Euro- päischen Union denkbar wäre, wenn nur gehandelt - werden würde. Vizepräsident Hans Klein: Verzeihung, ich glaube, der Kollege Geißler möchte eine Zusatzfrage stellen. Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Schreiner, der Herr Kollege Dr. Ramsauer würde Ihnen auch Ottmar Schreiner (SPD): Bitte. gerne eine Zwischenfrage stellen.

Dr. Heiner Geißler (CDU/CSU): Herr Kollege Ottmar Schreiner (SPD): Der hat doch die ganze Schreiner, ich frage Sie noch einmal: Durch welches Zeit geschlafen. Ist er jetzt aufgewacht? Gesetz wird der Frau in Zukunft die Sozialhilfe ge- kürzt, einmal unterstellt, daß das, was Sie gesagt (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das ist unver haben, sogar zuträfe, nämlich daß wir anstelle des schämt! Eine Frechheit!) Bedarfsdeckungsprinzips entsprechend der Renten- formel eine Sozialhilfeformel erarbeiten wollten - die Dr. Peter Ramsauer (CDU/CSU): Herr Kollege dann ab 1999 gälte -, in der das Bedarfsdeckungs- Schreiner, Sie sind überheblich wie immer. Ich stehe prinzip, die Nettolohnentwicklung und vielleicht schon eine ganze Zeit. Offensichtlich war das Präsi- noch ein anderes Element der Definition der Sozial- dium von Ihrer Rede so fasziniert, daß es nicht nach hilfesteigerung enthalten ist? rechts geschaut hat. Es kann ja wohl nicht wahr sein, daß eine solche (Beifall bei der SPD) Formel dazu führt, daß die Sozialhilferegelsätze ge- kürzt werden. Sie werden selbstverständlich auch in der Zukunft erhöht werden, aber nach einem ande- Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Ramsauer, ren Maßstab, nach einem anderen Kriterium. Deswe- Sie sollten mir jetzt keine falsche Faszination unter- gen frage ich Sie noch einmal: Wie kommen Sie zu stellen. Die Rhetorik des Kollegen Schreiner ist so der Behauptung, in dem Gesetzentwurf seien Vor- überwältigend, daß man nur schwer unterbrechen schläge enthalten, um alten Leuten die Sozialhilfe zu kann. kürzen? (Heiterkeit bei der CDU/CSU) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996 9393

Dr. Peter Ramsauer (CDU/CSU): Herr Präsident, Aus meiner Sicht ist viel entscheidender, daß das Sie kennen doch meine Ironie. Sparprogramm selbst diejenige Kaufkraft zu Lasten der normalen und der unteren Einkommen ab- Herr Schreiner, halten Sie es für gerecht, wenn die schöpft, die wir dringendst zur Belebung der Binnen- Sozialhilfebezüge stärker steigen als die Nettolöhne nachfrage in Deutschland brauchen würden. der aktiv tätigen Arbeitnehmer? (Beifall bei der SPD)

Ottmar Schreiner (SPD): Ich wäre sehr dafür, daß Wir haben kein Standortproblem, Herr Kollege die Löhne der aktiven Arbeitnehmer stärker steigen, Westerwelle - die Außenhandelswirtschaft, die Ex- als es heute der Fall ist, weil dies ein wesentlicher portwirtschaft blühen -, wir haben ein Wachstums- Schritt zur Lösung unseres Beschäftigungsproblems problem; das ist das zentrale Problem. wäre. (Peter Dreßen [SPD]: Ein weltweites!) (Beifall bei der SPD) Wenn Sie mit Ihrem Sparprogramm die Konjunktur Die Tatsache, daß die Arbeitnehmereinkommen weiter abwürgen, wird dies die Arbeitslosigkeit um nicht in dem Maße steigen, hängt im wesentlichen eine weitere bemerkenswe rte Größenordnung nach damit zusammen, daß die Bundesregierung in den oben treiben. letzten fünf Jahren die Arbeitnehmer zu den „Melk- kühen" der Finanzierung der deutschen Einheit ge- (Vorsitz : Vizepräsidentin Dr. Antje Voll macht hat, aber alle anderen geschont hat. Das ist ein mer) wesentlicher Grund für die Entwicklung der Arbeit- Die zentrale Frage in Deutschland und Europa ist nehmereinkommen. zur Zeit, wie wir die Nachfrage beleben können. Dies ist insbesondere für Deutschland wichtig, weil der al- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne lergrößte Teil der in Deutschland hergestellten, für ten der PDS) den Export bestimmten Güter in den europäischen Im übrigen, wenn man das Bedarfsdeckungsprin- Binnenmarkt geht. Dazu zitiere ich Äußerungen von zip aufgeben würde, zwei Experten. Der eine Expe rte ist Herr Bleyfuß, Konjunkturexperte des Instituts der deutschen Wi rt (Dr. Heiner Geißler [CDU/CSU]: Wir geben -schaft. es ja nicht auf!) hätte man keine Möglichkeit mehr zu formulieren, Vizepräsidentin Dr. : Herr Kollege was man tun will, um den tiefen Fall in die bitterste Schreiner, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kol- Armut zu verhindern. Das ist der entscheidende legen Westerwelle? Punkt. Ottmar Schreiner (SPD): Ich zitiere noch den Herrn Ich will zu dem Thema Beschäftigungspolitik noch Bleyfuß. Danach gebe ich dem Kollegen Westerwelle ein paar Sätze sagen, weil dieses der zentrale Punkt - die Möglichkeit, seine Erkenntnisse in einer Frage- der Auseinandersetzung ist. Wenn die Beschäftigung form zu verbreiten. steigt und die Arbeitslosigkeit abgebaut wird, dann hätten wir die finanzielle Lage der Renten und viele Der Herr Bleyfuß hat vor wenigen Tagen geäußert, andere Probleme vollständig im Griff. Ich will Ihnen überall in Europa werde derzeit gespart; man könne drei Beispiele aus Ihrem eigenen Programm nennen, nicht mehr ausschließen, daß daraus ein europäi- das nicht zu einer Senkung, sondern zu einem deut- scher Gleichschritt in die Rezession werde. Wenn die lichen Anstieg der Arbeitslosigkeit führen wird. deutsche Politik mit schlechtem Beispiel vorangeht und über eine massive Reduktion der verfügbaren Der erste Punkt. Wenn man die Lebensarbeitszeit Einkommen in den Arbeitnehmerhaushalten, in den von Frauen und Männern verlängert, dann verteilt Haushalten mit unteren und mittleren Einkommen, man das vorhandene Arbeitsvolumen auf weniger dazu beiträgt, daß die Kaufkraft drastisch beschnit- Schultern. Das Ergebnis wird eine höhere Arbeitslo- ten wird, und sich dann noch als europäischer Mu- sigkeit sein. Wir haben ausgerechnet, daß dies im sterknabe aufführt, nach dem Motto: Die anderen Rahmen des von Ihnen vorgesehenen Stufenplanes müssen uns folgen, dann wird die Prognose des zu einem Anstieg der Arbeitslosigkeit in einer Grö- Herrn Bleyfuß zutreffen. Es ist ein Gleichmarsch, ein ßenordnung von 500 000 bis 550 000 führen wird. Gleichschritt in eine tiefere europäische Rezession Der zweite Punkt. Wenn man die Arbeitsmarktpoli- mit dem Ergebnis: Die Defizite werden größer, die tik so radikal zusammenstreicht, wie Sie es vorhaben Arbeitslosigkeit steigt, die Staatsverschuldung wird - zum Beispiel dadurch, daß die arbeitsmarktpoliti- noch problematischer, und die sozialen Sicherungs- schen Instrumente in Ostdeutschland denen in West- netze geraten endgültig in finanzielle Bedrängnis. deutschland trotz steigender sozialökonomischer Pro- Das wird dann das Ergebnis sein, wenn Sie auf die- bleme angenähert werden sollen; Sie haben do rt ja sem Wege fortfahren. nichts im Griff -, wenn gleichzeitig der Bund seine (Beifall bei der SPD) Ankündigung wahr macht, den Bundeszuschuß für die Bundesanstalt für Arbeit im nächsten Jahr auf Herr Kollege, bitte. Null zu bringen, dann hat dies wiederum einen An- stieg der Arbeitslosigkeit in einer Größenordnung Dr. Guido Westerwelle (F.D.P.): Habe ich Sie richtig von mehreren hunderttausend zur Folge. verstanden, daß Sie die Auffassung vertreten, es 9394 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996

Dr. Guido Westerwelle gehe um die Belebung der Konjunktur, und um eine Deutschen Reich vor. Reichskanzler Brüning ver- Konjunkturbelebung nicht zu verhindern, könnten suchte, die Probleme mit einer rigiden Sparpolitik zu bestimmte Sparmaßnahmen nicht durchgesetzt wer- Lasten der Bezieher niedriger Einkommen zu lösen. den? Mit anderen Worten: Sie wollen die Konjunktur Damals hatte im übrigen der Allgemeine Deutsche durch Staatsausgaben beleben. Habe ich Sie da rich- Gewerkschaftsbund ein öffentlich finanziertes Ar- tig verstanden? Es ist wirklich eine informative beitsbeschaffungsprogramm gefordert. Das Ergebnis Frage. von Herrn Brüning waren 1932 nicht mehr 4 Millio- (Zurufe von der SPD) nen Arbeitslose, sondern 6 Millionen Arbeitslose. Die 6 Millionen Arbeitslosen des Jahres 1932 waren der - Ich frage ihn. Wir sind doch miteinander im Ge- soziale Anfang vom politischen Ende der Weimarer spräch. Republik. (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Stören Sie ihn (Beifall bei der SPD) doch nicht!) Geben Sie Ihrem Redner eine Chance! Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Kollege, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Kolle- gen Westerwelle? Ottmar Schreiner (SPD): Ich will Ihnen drei Ant- worten geben. Ottmar Schreiner (SPD): Er ist offenkundig heute (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Eine genügt! sehr wißbegierig. Er könnte ja häufiger einmal zu - Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.]: Eine wäre uns in den Ausschuß kommen. mir genug!)

Die eine Antwort stammt von einem Herrn, den ich Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Bitte. bereits in die Diskussion eingebracht habe. Es ist nicht Herr Blüm, auch wenn er so erwartungsvoll guckt. Die Antwort ist von Oswald von Nell-Breu- Dr. Guido Westerwelle (F.D.P.): Ich möchte nur ning. Dies war ein bekannter Ökonom, der damals nachfragen, ob ich Sie richtig verstanden habe. Ihre von Teilen der CDU/CSU-Fraktion hoch geschätzt Antwort bedeutet im Klartext, daß Sie die steigenden wurde. Inzwischen ist er leider in Vergessenheit ge- Staatsausgaben durch eine höhere Nettoneuver- raten. Er hat in seinem Buch „Soziale Sicherheit" ge- schuldung finanzieren wollen - das schlägt Ihr Kol- schrieben: lege Schwanhold vor -, was zum einen eine Zinser- höhung mit einer entsprechenden konjunkturabwür- Eine fortschreitende Wi rtschaftsentwicklung genden Wirkung haben wird und was zum zweiten macht es notwendig, die Sozialleistungen verän eine ziemlich unverschämte Hypothek gegenüber derten wirtschaftlichen und sozialen Verhältnis- der nächsten Generation sein wird. Das andere Prin- sen anzupassen. Der Gedanke liegt nahe, diese zip ist das der Steuererhöhung, das de facto ebenfalls Anpassungen in Zeiten konjunkturellen Auf- eine konjunkturabwürgende Wirkung haben muß. schwungs vorzunehmen. Aus konjunkturpoliti- schen Gründen müßte jedoch gerade- umgekehrt verfahren werden. Erhöhte Sozialeinkommen Ottmar Schreiner (SPD): Das ist nicht ganz so alter- sind gerade in den Zeiten erwünscht, in denen nativ zu sehen. Ich will Ihnen nochmals dick unter- die wirtschaftliche Aufwärtsentwicklung ihr strichen sagen, daß meiner persönlichen Auffassung Tempo verlangsamt oder gar Rückschritte erlei- nach eine restriktive Interpretation des in Maast richt det. festgelegten Kriteriums der Jahresverschuldung nicht nur Deutschland, sondern ganz Europa in eine Das heißt, Nell-Breuning forde rt ausdrücklich, in weitere tiefe Rezession mit steigender Arbeitslosig- einer rezessiven Konjunkturphase die Sozialeinkom- keit, steigenden Staatsdefiziten und einer steigenden men nicht nur zu stabilisieren, sondern sogar zu er- Anzahl von sozialen Problemen führen wird. höhen, um die Konjunktur wiederbeleben zu kön- nen. Die Kriterien von Maastricht sind zu Zeiten einer (Beifall bei der SPD) Hochkonjunktur definiert worden. Wir haben jetzt al- les andere als eine Phase der Hochkonjunktur. In Ich will Sie an die Aussage der Wirtschaftsfor- dem Maße, in dem Sie konjunkturpolitisch bedingte schungsinstitute in Deutschland vor wenigen Wo- Steuermindereinnahmen des Staates über reine chen erinnern, die starke Zweifel an der regierungs- Sparmaßnahmen ausgleichen wollen, vergrößern Sie amtlichen These angemeldet haben, durch massive perspektivisch die Defizite des Staatshaushalts. Einsparungen ließen sich die Probleme zu geringes Wachstum und mangelnde Beschäftigung lösen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Wortlaut: Die Gefahr sei groß, Das ist eine uralte Grundeinschätzung a ller Ökono- daß der Staat mit einer prozyklischen Politik den men, die sich mit Konjunkturpolitik beschäftigt ha- Abschwung verstärkt und damit am Ende auch ben. Offenkundig sind aber selbst diese bescheide- der Staatshaushalt nicht saniert ist. nen Grundsätze bislang nicht durch das Tor der mo- dernen F.D.P. gestoßen. Jetzt kommt ein letztes Beispiel, und dann haben wir es geschafft. Der ehemalige Reichskanzler Brü- Meine Damen und Herren, ich will abschließend ning fand Anfang der 30er Jahre, als er Kanzler sagen, wurde, eine Arbeitslosigkeit von 4 Millionen im (Zuruf von der CDU/CSU: Bravo!) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996 9395

Ottmar Schreiner daß das Sparpaket der Bundesregierung die Arbeits- eine bessere Republik. Ich bin sicher, dies gelingt losigkeit in Deutschland in den nächsten Jahren uns. nicht verringern wird, sondern daß die Arbeitslosig- keit aus den dargestellten Gründen zunehmen wird. (Horst Kubatschka [SPD]: Für wenige, jawohl!) Ich will darauf hinweisen, daß die Koalition mut- Ich hatte mich darauf eingestellt, mich zu diesem willig mit dem sozialen Zusammenhalt in dieser Re- späten Zeitpunkt der Diskussion mit SPD-Vorschlä- publik spielt. Wer Wind sät, wird Sturm ernten. Der gen, wie man in der Frage der Beschäftigung weiter- amerikanische Publizist und Buchautor Jeremy Rif- kommt, auseinandersetzen zu müssen. Aber bei kin hat vor wenigen Monaten die amerikanischen Dreßler null, bei Scharping null, bei Schreiner - er Verhältnisse so umschrieben: hat laut gesprochen - ebenfalls null. Der Staat wird seine wenigen Mittel nicht für die (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Lauter Nullen!) Wohlfahrt und für Arbeitsbeschaffungspro- gramme, sondern für die Aufrüstung der Polizei Alle haben gemeinsam, daß sie Schuldzuweisungen und neue Gefängnisse ausgeben. Was die wach- an diese Regierung vorgenommen haben. sende Zahl von Menschen anbelangt, die in der Ich lese Ihnen daher jetzt, Herr Schreiner, Herr Wirtschaft keinen Platz mehr finden, so steht der Scharping, Herr Dreßler, vor, was in einem Papier Staat vor der Wahl, entweder mehr Geld für Poli- Ihrer Arbeitsgruppe Sozialpolitik von Ende 1994 zisten und Gefängnisse auszugeben, um eine ste- steht. Da heißt es: tig größer werdende Zahl von Kriminellen weg zusperren, oder mehr Geld für den Arbeits- Die Wirtschafts- und Arbeitsmarktkrise in marktsektor zu investieren, um do rt für Beschäfti- Deutschland ist überwiegend Folge einer welt- gung zu sorgen. weiten Rezession, die sich wegen der D-Mark Aufwertung und der ausgeprägten Exportorien- Das ist genau die Alternative; das ist die zentrale Al- tierung unserer Volkswirtschaft in Deutschland ternative: Entweder sind Sie bereit, mehr Geld für besonders stark auswirkt. Die Sonderprobleme mehr Beschäftigung auszugeben, der deutschen Einheit verstärken und überlagern die Krise. (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Was wir nicht haben!) Dies ist in der Tat die Wahrheit. Sie können dieser Regierung doch wohl nicht die weltweite Entwick- oder Sie werden in absehbarer Zeit bereit sein müs- lung vorwerfen wollen. Diese Regierung geht jetzt sen, mehr Geld für mehr Polizei und mehr Gefäng- daran, die Probleme zu bewältigen, nisse auszugeben. (Zuruf von der SPD: Zu verschärfen!) Schönen Dank. um zu mehr Beschäftigung zu kommen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- Hohe Lohnzusatzkosten - dies ist wohl unstreitig - ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN gefährden Arbeitsplätze und lassen neue nicht ent- und der PDS) stehen. In der Kanzlerrunde im Januar haben Arbeit- geber und Arbeitnehmer mit der Bundesregierung einvernehmlich beschlossen, daß aus diesem Grunde Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat der Gesamtsozialversicherungsbeitrag wieder auf jetzt der Kollege Julius Louven. unter 40 Prozent sinken muß. Dazu gibt es aber von Ihnen und von den Tarifpartnern bis heute keine Vorschläge, und deshalb muß die Politik handeln. Julius Louven (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Die Ministerpräsidenten, die neulich auf Schloß Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Krickenbeck - das liegt in meinem Wahlkreis; des- Schreiner, Sie werden es trotz aller Diskriminierungs- halb erwähne ich den Namen - getagt haben, haben versuche nicht schaffen, unser Programm für mehr einvernehmlich festgestellt, daß an Einsparungen Wachstum und Beschäftigung als ein Programm für und Leistungskürzungen im Sozialbereich kein Weg den Abbau des Sozialstaates hinzustellen. Es ist ein vorbeiführt. Die meisten gehören ja zu Ihnen. Offen- Programm zur Sicherung des Sozialstaates. sichtlich sind die Ministerpräsidenten also weiter als (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge Sie. ordneten der F.D.P.) Nun zu Ihrem Reizthema Lohnfortzahlung. Wir ha- ben hier schon einmal eine Aktuelle Stunde dazu ge- Am 1. Mai hörten wir, wir träten mit diesem Pro- habt, in der Sie den Mißbrauch bestritten haben. gramm den Marsch in eine andere Republik an. Dar- Dazu darf ich Ihnen sagen: Selbst der Präsident des über kann ich eigentlich nur lachen. Wir haben in Bundessozialgerichts, Herr von Wulffen, hat in einem der vergangenen Woche die Pflegeversicherung end- Interview festgestellt, daß eine Lohnersatzleistung, gültig in Kraft gesetzt. Wir haben gestern im Aus- die zu 100 Prozent gewährt wird, Mißbrauch ge- schuß ein neues modernes Unfallversicherungsge- radezu herausforde rt. setz verabschiedet. Und dann redet man hier von einem Marsch in eine andere Republik? Nein, meine Nun weiß ich auch, daß wir mit einer Absenkung Damen und Herren von der Opposition, wir wollen in des Lohnes bei Krankheit um 20 Prozent auch die 9396 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996

Julius Louven wirklich Kranken mit treffen. Aber ich bitte, auch rung, zum Beispiel die, daß man sofort einen „gelben einmal zu berücksichtigen, meine Damen und Her- Schein" vorlegen muß usw. Sie kennen das, und Sie ren von der Opposition, daß der Arbeitslose - das wissen, daß man dagegen anders vorgehen kann. Schicksal, arbeitslos zu sein, ist in der Regel größer, Aber mit der Globalisierung der Lohnkürzung treffen weil Arbeitslosigkeit heute länger dauert - bei uns in Sie diejenigen, die lange Zeit krank sind. Deutschland 63 Prozent und, fällt er in die Arbeitslo- senhilfe, nur noch 53 Prozent seines letzten Lohns Können Sie mir in diesem Zusammenhang einmal bekommt. sagen, wieviel Einnahmen die Bundesregierung durch diese Lohnkürzung haben wird, oder hat sie Meine Damen und Herren, wir brauchen ein In- etwa Steuerausfälle, weil weniger Steuern gezahlt strument gegen den Mißbrauch. Herr Dreßler hat werden? hier heute morgen ausgeführt, daß er ein Gespräch mit jemandem geführt habe, der gegen unsere Be- schlüsse demonstriert und gesagt habe, er tue dies, Julius Louven (CDU/CSU): Herr Dreßen, darüber damit es seinen Kindern nicht so ergehe, wie es sei- was in Gorleben geschehen ist, sollten Sie einmal mit nem Großvater ergangen sei. Herr Dreßler, ich will der Landesregierung in Niedersachsen reden. Das, Ihnen von einem anderen Gespräch berichten: Ich was die Politik dort den Polizisten zugemutet hat, kenne einen jungen Unternehmer, der Dachdecker war, gelinde gesagt, eine Schweinerei. ist und 25 Leute beschäftigt. Er hat vor einigen Mo- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) naten drei seiner Gesellen, die sich am Freitag mor- gen bei ihm krankgemeldet hatten, auf einer Bau- Zur Problematik selbst: Ich habe eben ausgeführt, stelle bei der Schwarzarbeit erwischt. Dieser gleiche daß von dieser Regelung in der Tat auch wirklich Unternehmer rief mich am letzten Freitag, also am Kranke betroffen werden; ich habe aber auch gesagt, Tag nach Christi Himmelfahrt, an und erklärte mir, daß Sie bitte berücksichtigen mögen, daß ein Ar- daß er wiederum zwei seiner Gesellen bei der beitsloser nur 63 Prozent und nicht 80 Prozent oder Schwarzarbeit erwischt habe. Da sie sich krankge- 100 Prozent als Lohnersatzleistung bekommt. meldet hatten, muß er für diese Ausfalltage den Lohn weiterzahlen. So kann es doch wohl bei uns in Sie fragen: Was wird damit eingespart? Wir senken Deutschland nicht weitergehen! damit Lohnzusatzkosten für die Unternehmen. Es müßte doch ein gemeinsames Anliegen sein, zu nied- (Beifall bei der CDU/CSU) rigeren Lohnzusatzkosten zu kommen. Dieser Unternehmer überlegt ernsthaft, seinen La- Ich wende mich jetzt einem zweiten Reizwort zu, den aufzugeben, weil er die Schnauze voll hat. Wir der Veränderung des Kündigungsschutzes. brauchen Unternehmer, um Arbeitsplätze zu schaf- fen, insbesondere im mittelständischen Bereich, und wir sollten diesen Unternehmern dabei helfen. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Es besteht noch der Wunsch nach einer Zwischenfrage des Kollegen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Singer. - Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Kollege Louven, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kolle- Julius Louven (CDU/CSU): Im Moment nicht. gen Dreßen? Heute morgen wurde davon gesprochen, unsere Regelung würde zum Heuern und Feuern führen. Julius Louven (CDU/CSU): Bitte. (Johannes Singer [SPD]: Führt sie auch!)

Peter Dreßen (SPD): Herr Kollege Louven, geste- Davon sprach, glaube ich, die Kollegin Fuchs. Frau hen Sie mir zu, daß die Beispiele, die Sie eben vorge- Fuchs, Sie sollten sich einmal Gedanken darüber ma- tragen haben, wenn sich das beweisen läßt, vor je- chen, warum insbesondere die kleinen Bet riebe nicht dem Arbeitsgericht zur fristlosen Kündigung reichen mehr heuern. Sie heuern nicht, weil sie Angst haben, und daß Sie deswegen nicht die Lohnfortzahlung ins- daß sie sich, wenn die Auftragslage nicht mehr gut gesamt angreifen müssen? ist, nicht mehr von einem Arbeitnehmer trennen kön- nen. Sie sollten anerkennen, daß gerade bei den klei- Ich möchte Sie auch fragen: Halten Sie es für rich- nen Betrieben die Fluktuation am geringsten ist. Wir tig, daß unsere jungen Polizeikollegen, die beispiels- versprechen uns von dieser Maßnahme Arbeits- weise in Gorleben dafür sorgen, daß Recht und Ord- plätze. Heiner Geißler hat bereits auf die Stellung- nung durchgesetzt werden, und die dabei verletzt nahme des Zentralverbands des Deutschen Hand- werden, oder ein Feuerwehrmann, der im Einsatz für werks hingewiesen. die Gemeinschaft verletzt wird, hinterher mit 20 Prozent Lohnkürzung bestraft werden? Unsere Nachbarn - Schweden, Finnland und die Niederlande - handeln schon längst. In Finnland gibt (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist ein es eine Fünf-Parteien-Koalition mit Kommunisten Dienstunfall!) und Grünen, an deren Spitze ein sozialdemokrati- Halten Sie so etwas für gerecht? Sie treffen mit Ihrer scher Ministerpräsident steht. Sehen Sie einmal, wie Lohnkürzung doch nie die Blaumacher, die Sie ange- dramatisch do rt gespart wird und wie groß die Er- sprochen haben. Dafür gibt es heute schon genü- folge auf dem Arbeitsmarkt sind. Die Arbeitslosigkeit gend andere Möglichkeiten qua Betriebsvereinba ist schon um ein Drittel reduziert worden. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996 9397

Julius Louven Meine Damen und Herren, wenn Arbeitskosten Auffassung Handlungsbedarf. Wir können auf die nicht erwirtschaftet werden, dann bedeutet das für Beitragseinnahmen aus den Einmalzahlungen - dazu die Unternehmen, sie müssen rationalisieren, also Ar- gehört auch das Weihnachtsgeld - nicht verzichten. beitsplätze abbauen, ins Ausland verlagern oder auf Deshalb überlegen wir, im Rahmen des vorliegenden das Ende warten. Sie haben heute in der Diskussion Gesetzesvorhabens eine verfassungskonforme Lö- gesagt, daß sich verschiedene Betriebe „doll und sung vorzuschlagen. dusselig" verdienen. Dazu muß ich Ihnen sagen: Ich bin froh, daß es Bet riebe gibt, die verdienen, und daß Schönen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. es Betriebe gibt, die investieren. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Rudolf Scharping [SPD]: Na klar! Jeder ist darüber froh!) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat Ich bedaure, daß wir im letzten Jahr 30 000 Pleiten jetzt die Abgeordnete Dr. Heidi Knake-Werner. in der Bundesrepublik hatten. Diese hatten wir nicht, weil die Betriebe zuviel verdient haben, sondern (PDS): Frau Präsidentin! wahrscheinlich deshalb, weil sie am Kostendruck ge- Dr. Heidi Knake-Werner Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Kol- scheitert sind. lege Louven, ich wünschte Ihnen, daß Sie sich Ihre (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: So ist es!) Gläubigkeit erhalten können. Herr Schreiner sprach gerade davon, daß durch die Das Schlimmste, was mit dem sogenannten Spar- Einschnitte Kaufkraft verlorengeht. Herr Schreiner, paket gegenwärtig ange richtet wird, ist, daß Sie die lesen Sie heute einmal den Artikel „Die Mär vom Ka- Menschen belügen, daß Sie sie darüber im unklaren puttsparen" in der „Süddeutschen Zeitung" . Deutli- lassen, was wirklich an sozialen Grausamkeiten auf cher, als es do rt dargestellt wird, kann man es eigent- sie zukommt. Wer in den letzten Tagen genau hinge- lich nicht mehr sagen. hört hat, der weiß, daß dem heute zur Debatte ste- Es gibt in Deutschland noch eine Menge Arbeit. henden Gesetzespaket noch einige folgen werden, Wir sollten einmal darüber nachdenken, wo der die nicht weniger drastisch in die Existenzgrundla- Arbeitsmarkt boomt - das müßte uns zu denken ge- gen derjenigen eingreifen, die schon heute jeden ben -: Er boomt bei der Schwarzarbeit, er boomt bei Pfennig umdrehen müssen. der illegalen Beschäftigung, und er boomt bei der Sie betreiben gezielte Desinformationen. Das führt Scheinselbständigkeit. zu Unsicherheit und zu Zukunftsängsten bei immer Ich habe gestern in der Ausschußsitzung gehört, größeren Teilen der Bevölkerung, wofür Sie die Ver- daß unsere Maßnahmen im Bereich der Sozialhilfe antwortung tragen. Sie prangern die Besitzstände dazu führen, daß Sozialhilfeempfänger eine ent- ausgerechnet derjenigen an, die ohnehin nichts be- ehrende Arbeit wahrnehmen müssen, die ihnen nicht sitzen, und Sie schanzen jenen Milliarden zu, die zuzumuten ist. Ich habe früher gelernt: Arbeit schän- sich gegenwärtig vor allen Dingen auf ihrem Besitz det nicht. Dabei sollte es eigentlich auch bleiben. ausruhen. (Beifall bei der CDU/CSU) Sie sind stolz darauf, daß Sie mit den Sparpaketen der letzten Jahre die Sozialausgaben um zweistellige Wir sollten über jeden froh sein, dem wir einen Ar- Milliardensummen reduziert haben, und es fällt Ih- beitsplatz verschaffen können. Darum sind wir be- nen offenbar gar nicht mehr auf, daß diese Politik zu müht. nichts anderem geführt hat, als die Massenarbeitslo- Noch ein Satz zu den versicherungsfremden Lei- sigkeit zu verfestigen und die Armen immer ärmer zu stungen: Herr Scharping, Sie sollten den Mund nicht machen. Es ist Ihnen dummerweise auch noch gelun- so voll nehmen; denn auch Sie haben sich in dieser gen, ihnen selbst die Schuld für ihre Misere zuzu- Frage nicht mit Ruhm bekleckert. Noch vor wenigen schieben. Die Opfer werden zu Tätern gestempelt, Monaten haben Sie ebenso wie meine Kollegen - ich und ihnen wird nicht nur die Verantwortung, son- mache niemandem einen Vorwurf - eine versiche- dern es werden ihnen auch die Folgen der gegen- rungsfremde Leistung mit beschlossen. Aber Sie ha- wärtigen Krise aufgehalst. ben den Kollegen, die sich dagegen wehrten, diese Mit dem Eingriff in die Lohnfortzahlung, der Kür- Leistungen in die Rentenversicherung zu bringen, zung des Krankengeldes und der Beseitigung zentra- Rechtspopulismus vorgeworfen. Das taten Sie vor ler Bestandteile des Kündigungsschutzes greift diese wenigen Wochen im Deutschen Bundestag. Bundesregierung aber nicht mehr wie bisher nur in (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU die Taschen der Arbeitslosen und Sozialhilfeberech- und der F.D.P.) tigten; nein, auch die abhängig Beschäftigten sollen um Milliardenbeträge geprellt und um lang er- Ich muß noch eine Frage, die für das Gesetzge- kämpfte Rechte gebracht werden. bungsverfahren wichtig ist, ansprechen. Das Bundes- verfassungsgericht hat entschieden, daß die derzei- Ist es Ihnen eigentlich nicht peinlich, daß Sie sich tige Beitragserhebung durch Einmalzahlungen nur selbst von dem katholischen Sozialethiker Friedhelm noch bis zum Ende dieses Jahres zulässig ist, weil Hengsbach sagen lassen müssen, daß es hier um ei- derzeit aus diesen Beitragszahlungen bei den soge- nen Verteilungskampf geht, der von den Arbeitge- nannten kurzfristigen Lohnersatzleistungen keine bern und Kapitalinteressen diktiert wird, wozu diese Gegenleistung erfolgt. Hier besteht nach unserer sich der Staatsmacht bedienen? 9398 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996

Dr. Heidi Knake-Werner In Ihrer Diensteifrigkeit haben Sie jedes Gespür für Zum Glück arbeitet unser Kollege noch in einem soziale Gerechtigkeit und sozialen Ausgleich verlo- Betrieb, der nicht von Kündigungsschutzeinschnitten ren. Wie sonst läßt sich noch erklären, daß Sie den betroffen ist. Aber im Zuge von betriebsbedingten Familien die Kindergelderhöhung vorenthalten, den Kündigungsmaßnahmen verliert er schließlich doch Sozialhilfeberechtigten die bitter notwendige Erhö- seinen Arbeitsplatz. Sozialkriterien wie Lebensalter hung der, Regelsätze verweigern, den Frauen, ob- und Betriebszugehörigkeit gelten bei ihm nicht wohl bereits mehrfach auf dem Arbeitsmarkt diskri- mehr, weil der Betrieb höhere Interessen zur Weiter- miniert, durch die Anhebung der Altersgrenzen nun beschäftigung anderer anmeldet. Er bekommt eine auch noch längere Wartezeiten auf die Rente - ganz üppige Abfindung in Höhe von 20 000 DM; da- darum wird es in Wahrheit gehen - bzw. Rentenein- von werden ihm 10 000 DM auf das Arbeitslosengeld bußen verordnen. Die bei diesem Sozialraub ein- angerechnet usw. Es endet damit, daß dieser Kollege gesparten Milliarden geben Sie postwendend aus, im Alter mit seinem Einkommen beim Sozialhilfesatz um die Vermögenden bei Laune zu halten. angekommen ist - ein sozialer Absturz, wie er sich millionenfach wiederholen wird, wenn Sie mit Ihrer Nein, liebe Kolleginnen und Kollegen, nichts an Ih- Politik durchkommen. ren Vorschlägen greift die wahren Ursachen der ge- genwärtigen Krise auf, im Gegenteil. Es ist wohl (Beifall bei der PDS) schon ein einmaliger Vorgang in der Bundesrepu- Weil die PDS dies alles nicht will, haben wir heute blik, daß Gewerkschaften und Kirchen und die gro- dem Gruselkatalog der Regierung unser Konzept für ßen Wohlfahrtsverbände sich gemeinsam veranlaßt eine soziale Grundsicherung als Alternative entge- sahen, eine Sozialstaatscharta zu verabschieden, in gengestellt. Wir halten die soziale Grundsicherung der sie feststellen: für die angemessene Form, um auf die Krise der be- Die Krise des Sozialstaates ist Folge falscher poli- stehenden Sozialsysteme zu reagieren. Wir halten tischer Weichenstellungen, die die Arbeitslosig- die Grundsicherung auch für eine angemessene keit erhöhen, Armut vergrößern, Branchenkrisen Form der Reaktion auf die Unfähigkeit dieser Regie- und regionale Ungleichgewichte verschärfen rung, unsere Arbeitsgesellschaft umzubauen und al- und die Finanzprobleme des Sozialstaates zuge- len Menschen, die wollen und können, die Chance spitzt haben. zu geben, ihre Existenz durch ihre eigene Arbeit zu sichern. Das klagen zwar auch Sie immer ein; aber Genau das ist das Ergebnis Ihrer Politik. Ihre Vorschläge sind kontraproduktiv. Ich will das mal an einem Beispiel verdeutlichen, Nur eine ausreichende materielle Sicherung für an einem 50jährigen Arbeiter, der sich im Zangen- alle bietet nach unserer Auffassung die Grundlage griff der Minister Seehofer und Blüm befindet. Ihm für eine solidarisch organisierte Gesellschaft und den kann folgendes blühen: Seine infolge eines langen Erhalt der sozialen Demokratie. Mit der sozialen Arbeitslebens verschlechterte gesundheitliche Kon- Grundsicherung entscheiden wir uns gegen diese El- stitution kommt ihn teuer zu stehen. Eine achtwö- lenbogengesellschaft und für eine Entwicklung, in chige Krankheit zum Beispiel führt bei einem Netto- der der Sozialstaat zum elementaren Bestandteil un- gehalt von 3 000 DM in den ersten sechs Wochen serer Gesellschaft wird und nicht zur Restgröße der Wirtschaftspolitik verkommt. (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Was ist, wenn er Urlaub wählt?) (Beifall bei der PDS) Wir bedienen damit nicht eine gern zitierte Vollkas- zu Einkommenseinbußen von 900 DM und danach komentalität, sondern das ist unser Verständnis von durch die Reduzierung des Krankengeldes noch ein- sozialer Gerechtigkeit, von einer Gesellschaft, in der mal zu einem Verlust von 450 DM. Im Jahr braucht gesellschaftlicher Reichtum zur Bekämpfung der unser Arbeiter durchschnittlich 40 DM mehr für Me- Massenarbeitslosigkeit und zur Wiederherstellung dikamente und 20 DM mehr für ein Brillengestell. sozialer Sicherheit umverteilt wird. Die benötigte Kur wird ihm auf drei Wochen ver- kürzt; dafür wird sie für ihn um 189 DM teurer, und Danke schön. sechs Urlaubstage gehen dabei auch noch drauf. Das macht summa summarum etwa 6,5 Prozent Einkom- (Beifall bei der PDS) mensverlust im Jahr. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Bevor ich der Wie sagte doch gleich der für so etwas zuständige Kollegin Dr. Gisela Babel das Wo rt erteile, möchte ich Minister: „Wir leben in einer Süßigkeitendemokratie. ihr im Namen des Hauses zum heutigen Geburtstag Jeder will nur Bonbons; doch gerade die verursachen gratulieren. im Endeffekt Zuckerkrankheit" . Das Bild ist so (Beifall) falsch, wie der medizinische Zusammenhang fehlt, und ich finde es im übrigen ausgesprochen zynisch. Bitte schön, Sie haben das Wo rt. (Beifall bei der PDS - Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Aber schlechte Zähne kommen Dr. Gisela Babel (F.D.P.): Vielen Dank, Frau Präsi- davon!) dentin! Meine Damen und Herren! Das von der Ko- alition vorgelegte und heute debattierte Programm für - Karies hat diese Gesellschaft auch; das haben wir mehr Wachstum und Beschäftigung hat große politi- schon festgestellt. sche Sprengkraft. Die Gesetze greifen in Rechte ein, Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996 9399

Dr. Gisela Babel beschneiden Ansprüche, verändern die Lebenspla- gung ist der Test für diese Anpassungsbereitschaft. nung von Männern und Frauen. Deswegen fällt es Wir wollen die Nagelprobe bestehen, in einer Gesell- der Politik nicht leicht, diese Entscheidungen zu tref- schaft mit demokratischen und parlamentarischen fen, auch Sozialpolitikern nicht. Spielregeln diese Veränderungen durchzuführen. Mir kommt es darauf an, deutlich zu machen, Meine Damen und Herren, es ist doch an der Zeit, worum es im Kern geht. Bei rapide wachsenden Ar- einmal die Augen zu öffnen und sich über das Maß beitslosenzahlen, bei rapide sinkenden Steuerein- an Versorgung und Absicherung bei uns klarzuwer- nahmen, bei immer ernsteren wirtschaftlichen Daten den. Vielen Menschen ist ja gar nicht bewußt, wie muß die Politik den Mut haben, auch unpopuläre hoch die Standards in den letzten Jahren geschraubt Maßnahmen zu ergreifen. wurden. Wo gibt es denn das sonst noch, daß neben (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Jawohl!) einem durchschnittlichen Jahresurlaub von sechs Wochen alle drei Jahre eine Kur von vier Wochen an- Sie muß soziale Standards verändern; sie muß unter- getreten werden kann und daß innerhalb dieser Zeit nehmerischer Freiheit mehr Raum geben. Daher muß immer noch Ansprüche auf Urlaub entstehen kön- das Ziel im Auge behalten werden, daß es darum nen? Wo gibt es denn sonst noch eine Absicherung geht, Arbeitsplätze zu erhalten und die Vorausset- wie im öffentlichen Dienst, wo nicht nur sechs Wo- zungen für die Entstehung neuer Arbeitsplätze zu chen lang eine 100prozentige Lohnabsicherung im schaffen. Krankheitsfall gezahlt wird, sondern auch anschlie- (Beifall bei der F.D.P.) ßend 26 Wochen lang das Krankengeld auf 100 Prozent aufgestockt wird? Wo gibt es das noch? Wir als Gesetzgeber müssen bereit sein, den Pa rt Oder daß man bei Krankheit auf Grund von vorher zu übernehmen, mit dem wir selbst dazu beitragen geleisteten Überstunden mehr verdient, als arbeitete können, die gesetzlichen Lohnkosten zu senken. Nur man ohne Überstunden? Und auch, daß das Errei- dann haben wir das Recht, anzumahnen, daß die Ta- chen der Altersgrenze - das ganze System ist auf rifpartner ihren Part spielen: tarifliche Kosten niedrig 65 Jahre hin konstruiert - zu einer exotischen Aus- zu halten und auch innerhalb eines Bet riebes be- nahme geraten und die Regel geworden ist, daß man triebliche Kosten zu senken. All dies muß zusammen- die Rente sehr viel früher bekommt? kommen. Jeder muß für sich die Verantwortung übernehmen können. All dies sind Tatsachen, die das soziale Netz über- Meine Damen und Herren, die andere Seite, die beanspruchen. Wenn wir nicht handeln, reißt dieses Opposition - Sie unterscheiden sich eigentlich in den Netz. Wir müssen sehen, daß wir es eben durch die Tonarten kaum -, sieht dieses Programm als ein Maßnahmen, die wir hier durchführen, erhalten kön- „Ende des deutschen Sozialstaates" . Die Gewerk- nen. schaften haben nun wirklich mit großen Worten nicht (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne gespart. Sie reden von einem „Marsch in eine andere ten der CDU/CSU) Republik" , von der „Systemüberwindung", der So- zialstaat werde „im Schnellverfahren mit- der Abriß- Meine Damen und Herren, die Koalition wi ll nun birne beseitigt". die gerade zum Symbolthema hochgehobene Lohn- fortzahlung im Krankheitsfall verändern - ein Vor- Wer so etwas sagt, meine Damen und Herren, der schlag, für den mein Kollege Louven und ich noch verkennt die Zeichen der Zeit. Wahr ist doch, daß vor Monaten allgemein verdammt wurden. Wir se- Deutschland über seine Verhältnisse lebt. Unsere hen also schon eine gewisse wachsende Akzeptanz Ausgaben sind seit längerem höher als die Einnah- von Vorschlägen, die man vielleicht gestern und vor- men. Wahr ist auch, daß Deutschland mit den jetzt gestern noch nicht einmal zu äußern gewagt hätte. vorgesehenen Maßnahmen im europäischen Ver- gleich spät dran ist. Die Lohnfortzahlung ist eine Lohnersatzleistung, (Zuruf von der F.D.P.: Sehr wahr!) und der Abstand vom gezahlten Lohn für geleistete Arbeit ist sozial gerechtfertigt. Es ist ja ein durch- Die von uns vorgesehenen Maßnahmen beschneiden gängiges Prinzip im deutschen Sozialstaat;. nur hier soziale Leistungen weit weniger, als es unsere Nach- ist es nicht durchgehalten. Dabei dürfen wir nicht barn tun. Tatsache ist auch, daß der deutsche Sozial- vergessen, daß das Ganze doppelt genäht ist. Es gibt staat selbst nach Inkrafttreten aller unserer Gesetze die gesetzliche und die tarifliche Lohnfortzahlung. immer noch eines der bestausgebauten Sozial- Die gesetzliche Lohnfortzahlung wollen wir ändern. systeme der Welt hat. Aber was wir nicht ändern, ist die Freiheit der Tarif- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) partner, darüber noch einmal in eigenen Entschei- dungen zu befinden. Vor diesem Hintergrund mutet es geradezu abenteu- erlich an, wenn die Opposition sagt, es breche in Meine Damen und Herren, hier dann auch schon Deutschland eine „soziale Endzeit" an. von einem Anschlag auf den Sozialstaat zu reden, ist meiner Ansicht nach abartig. Sie müßten damit Die Bundesregierung und die Koalition haben Mut Schweden verdammen, das dies als sozialpolitisch bewiesen und den richtigen Weg eingeschlagen. Als sehr engagiertes Land ja auch ertragen hat. führende Industrienation muß Deutschland sich ge- genüber internationaler Konkurrenz behaupten kön- (Rudolf Scharping [SPD]: Die haben eine nen. Anpassungsbereitschaft ist Voraussetzung, und ganz andere Entscheidung getroffen und das Programm für mehr Wachstum und Beschäfti die Vermögensteuer erhöht!) 9400 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996

Dr. Gisela Babel Sind denn nun die Skandinavier so viel härtere Män- hen Abfindungen tun kann, dann stellt der Arbeitge- ner und Frauen, daß sie das ertragen, als wir Deut- ber eben keinen ein. schen, die das als absolut unverzichtbar ansehen, wie es die Gewerkschaften darstellen? Meine Damen (Rudolf Scharping [SPD]: Als wenn das die und Herren, ich glaube, es ist unakzeptabel, wie wir Realität wäre! So ein Unfug! - Rudolf Dreß über dieses Thema reden. ler [SPD]: Ein richtiger Stuß!)

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU - Er bezahlt eher 25 Prozent Zuschlag für Überstun- Rudolf Dreßler [SPD]: Wenn Sie darüber den, was auf den ersten und zweiten Blick ökono- reden, ist es unakzeptabel! Das stimmt!) misch widersinnig ist. Hier sind den Unternehmen Fesseln auferlegt, die wir vorsichtig und nur einge- Noch ein Wort zur Frage des Eingriffs in be- schränkt beseitigen wollen, immer mit dem Motiv, stehende Tarifverträge. Heute stellt sich ja diese daß gerade in den kleinen Bet rieben die Beschäfti- Frage nach den Grenzen der Tarifautonomie nicht. gung steigen soll. Aber ich möchte doch schon einmal fragen: Wie Die Schwellenwerte bei Teilzeitbeschäftigten wol- lange können wir als Gesetzgeber eigentlich ertra- len wir so verändern, daß eine gen, daß Tarifpartner unvernünftig handeln, daß Ar- Teilzeitbeschäftigung beitgeber - - einen Anreiz gibt und nicht in die Schwellenwerte hineingerechnet wird. Ich kündige im Bereich des Arbeitsrechts weitere Regelungen an, nämlich zur (Rudolf Scharping [SPD]: Wie bitte? - Höhe von Abfindungen im Kündigungsfall, neu ge- Dr. Uwe Küster [SPD]: Entlarvend!) setzte Fristen bei der Ausübung von Mitbestim- mungsrechten, die Erstellung von Sozialplänen so- - Ich wußte, daß Sie jetzt aufwachen würden. - Ich wie eine Veränderung des § 613a BGB bei Insolvenz frage mich: Was ist denn, wenn die Arbeitgeber auf fällen. tarifvertragliche Durchsetzung einer abgesenkten Lohnfortzahlung im Krankheitsfall verzichten, (Rudolf Dreßler [SPD]: Guten Morgen, Herr Sozialminister!) (Dr. Uwe Küster [SPD]: Weiter so!) Nun zur Rentenversicherung. Herr Kollege Dreß- gleichzeitig hohe Lohnzusatzkosten beklagen und ler, ich habe Sie schon früher in vielen erbitterten Arbeitsplätze ins Ausland verlagern oder die Ge- Auseinandersetzungen erlebt. Ich habe Sie immer als werkschaften weiter auf Forderungen beharren, die jemand erlebt, der seiner Rolle, der sozialpolitische den Abbau von Arbeitsplätzen nach sich ziehen? Soll Einpeitscher seiner Fraktion zu sein, sehr gut gerecht der Gesetzgeber für immer gezwungen sein, dies al- geworden ist. Aber ich habe auch erlebt, daß bei all les unter Hinweis auf die in A rt . 9 Abs. 3 des Grund- Ihrer Energie und Ihren Bemühungen nachher die gesetzes garantierte Tarifautonomie hinzunehmen? Ergebnisse - in Ihren Augen leider - doch so waren, Gewährleistet Art. 9 Abs. 3 des Grundgesetzes einen daß Sie nicht mehr so ganz ungerupft dastanden. Das gesetzesfreien Raum, in dem Tarifpartner- sich ohne hat Sie damals ziemlich betrübt. Ich erinnere an das Rücksicht auf volkswirtschaftliche Zusammenhänge Thema Pflegeversicherung, bei dem wir auch nicht bewegen können und - das sage ich als Liberale - so happy waren. die Freiheitsrechte von 4 Millionen Arbeitslosen überhaupt nicht berücksichtigen? Aber was Sie heute gesagt haben, Herr Kollege Dreßler, halte ich doch für ein bißchen leichtfertig. (Beifall bei der F.D.P. - Zurufe von der SPD: Sie haben gesagt, Sie wollten sich an dem großen Unerhört!) Thema, wie wir die Rente für die nächsten 30, 40 Jahre zukunftsfähig machen wollen und wie die Ich habe die Hoffnung - es wird wieder versöhnli- schon jetzt erkennbaren großen Probleme in der Ren- cher -, daß bei allem Säbelrasseln auf beiden Seiten tenversicherung anzugehen sind, nicht beteiligen. der Grundkonsens über die Notwendigkeit des Um- Die demographische Entwicklung, die wir für das baus des Sozialstaats gelingt. Ich hoffe, daß die not- Jahr 2030 schon fest im Blick haben, wurde durch die wendigen Maßnahmen ohne große Konfrontation Arbeitsmarktzahlen überholt. Sie sagen, die SPD auch durchgeführt werden können. Ich will aber sa- wird da nicht mitmachen. Ich finde, Sie sollten das gen: Als Gesetzgeber können wir die Verantwortung vorsichtiger formulieren. Ich würde noch verstehen, nicht völlig und ohne Rücksicht auf Tarifpartner wenn Sie es konditionierten. Aber daß Sie es ganz übertragen, wenn sie keine Rücksicht auf die Ar- ablehnen und sich aus einem solchen Sozialwerk beitslosenzahlen nehmen, die wir heute zu bewälti- ausklinken, macht mir fast Sorge um die Zukunft ei- gen haben. ner großen Volkspartei. (Beifall bei der F.D.P.) (Walter Hirche [F.D.P.]: Eine Absage an die nächste Generation!) Meine Damen und Herren, zum Thema Kündi- gungsschutz will ich dem, was schon gesagt wurde, Selbst die Grünen, die nun wirklich nicht in den Ver- nur eines hinzufügen. Es wird immer zuwenig beach- dacht geraten, mit uns besonders übereinzustimmen, tet, daß sich Schutzrechte leicht gegen die Geschütz- haben begriffen, daß sie in einer solchen Kommission ten wenden. Wenn man keinem kündigen kann oder natürlich mitarbeiten müssen. Wollen Sie sie als dies nur unter großen Schwierigkeiten und mit ho- Advokaten für linke Politik darin haben, und Sie sit- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996 9401

Dr. Gisela Babel zen draußen und machen Ihre Presseerklärungen? und ich bin froh, daß meine Fraktion ganz eindeutig Ich kann mir das nicht vorstellen. gesagt hat: So kann man nicht zusammenarbeiten. (Beifall bei der F.D.P. - Rudolf Dreßler Ein Drittes möchte ich Ihnen heute auch noch sa- [SPD]: Machen Sie mal mit Frau Fischer ein gen. Ich habe mich schon sehr gewundert, daß Sie schönes Programm!) als Sprecherin einer Partei, die zumindest früher ein- mal für sich in Anspruch genommen hat, die Verfas- Ich komme noch auf einen Punkt zu sprechen. sungspartei zu sein, die Tarifautonomie so schlank- Frauen und Männer werden natürlich durch die Ren- weg hier einfach zur Disposition stellen. tenmaßnahmen in konkreten Lebensplanungen ge- troffen. Es ist auch nicht einfach für jemanden einzu- (Beifall bei der SPD) sehen, daß vor ihm so viele mit 60 mit einer Rente Frau Dr. Babel, ich war zehn Jahre Betriebsratsvor- ausgerüstet werden, als wären sie 63, und er selbst sitzende, ich war Mitglied einer Tarifkommission, jetzt in diese Maßnahme hineinkommt. Deswegen und ich würde Ihnen ganz kollegial raten: Begeben bin ich schon der Meinung, daß wir bei diesen Maß- Sie sich doch nicht auf ein Eis, von dem Sie - ich nahmen in der Tat auch in Lebensplanung eingrei- werfe Ihnen das gar nicht vor - nicht so furchtbar viel fen. verstehen. Was Sie hier heute zur Lohnfortzahlung Ich möchte nur zu den Frauen noch einen Satz im Krankheitsfall, zur Streichung von Urlaub als Er- sagen: So richtig die Gleichbehandlung von Mann satz für die Kürzung bei der Lohnfortzahlung gesagt und Frau im Arbeits- und im Rentenrecht ist, so haben, das zeigt, daß Sie nie kapiert haben, daß Ur- denke ich doch, daß wir den Auftrag des Verfas- laub immer entgangener Lohn war. Wenn über Ur- sungsgerichts, Kindererziehungsleistungen, die ja in laubsverlängerung verhandelt worden ist, ist das im- der Regel von Frauen erbracht werden, mehr und mer voll in die Lohnforderung eingerechnet worden. besser zu berücksichtigen, nicht beiseite schieben (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE sollten. GRÜNEN und der PDS) (Beifall bei der F.D.P.) Wenn Sie heute verlangen, daß ein Urlaubstag her- Wir werden also bei den Beratungen dies sicher noch gegeben wird, dann verlangen Sie einen Verzicht auf einmal überlegen müssen. Dinge, auf die sich die Tarifpartner in den Tarifver- Meine Damen und Herren! Bei aller globalen und handlungen geeinigt haben. Sie können nicht erwar- ins einzelne gehenden Kritik der Opposition und der ten, daß wir dem zustimmen. Öffentlichkeit: Offenen Applaus für dieses Programm (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE können wir sicher nicht erwarten, aber eine gewisse GRÜNEN und der PDS) knirschende Anerkennung schon, dafür nämlich, daß wir den Mut zu diesen tiefgreifenden Veränderun- gen gefunden haben. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hinsken? Ich bedanke mich.

(Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Ulrike Mascher (SPD): Herr Hinsken, bitte.

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat Ernst Hinsken (CDU/CSU): Verehrte Frau Kollegin jetzt die Kollegin Ul rike Mascher. Mascher, was Lohnfortzahlung anbelangt, hätte ich natürlich gern Ihre Alternativvorschläge gehört. Es Ulrike Mascher (SPD): Frau Dr. Babel, als erstes muß doch zu denken geben, wenn Spitzenmanager möchte ich Ihnen ganz herzlich zu Ihrem Geburtstag der Weltwirtschaft, die zum Teil auch Bet riebe in der gratulieren. Bundesrepublik Deutschland haben und in den letz- (Beifall) ten Jahren Arbeitsplätze von hier in andere Länder verlagern mußten, darauf verweisen, daß dies gerade Es ist bedauerlich, daß, falls Sie Rentenbezieherin ein Wettbewerbsnachteil ist, insbesondere weil die wären, Sie jetzt länger arbeiten müßten, denn Sie ge- Krankheitsquote in England nur halb so groß und in hören zu den betroffenen Jahrgängen. Aber viel- Italien nur ein Drittel so groß ist wie die in der Bun- leicht haben Sie das noch nicht realisiert. desrepublik Deutschland bei gleicher Arbeitplatzge- (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Doch, doch! - staltung und gleicher Produktion. Da ist doch irgend Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.]: Nein, sie ist etwas faul. Sehen Sie hier Korrekturbedarf und, viel jünger!) wenn ja, wie? Ein Zweites: Glauben Sie wirklich, Frau Dr. Babel, (SPD): Herr Hinsken, ich würde Ih- daß es eine Einladung zur Mitarbeit in einer Kommis- Ulrike Mascher nen empfehlen, sich einmal die Statistiken in sion ist, wenn der zuständige Arbeitsminister und de- Deutschland anzusehen. Dann erkennen Sie näm- signierte Kommissionsvorsitzende sagt, daß alles das, lich, daß über 44 Prozent der Krankheitstage auf nur was heute auf den Tisch gelegt wird, nicht verhan- 3 Prozent der Fälle entfallen; das sind nämlich alle delbar ist? Ich halte das nicht für einen guten Ein- die, die länger als sechs Wochen krank sind. Und Sie stieg, sehen, daß auf den Zeitraum von ein bis drei Krank- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE heitstagen nur ein verschwindender Teil, nämlich GRÜNEN und der PDS) nur 3 Prozent, der Kosten für die Lohnfortzahlung im 9402 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996

Ulrike Mascher Krankheitsfall entfällt. Ich würde Ihnen raten - das Sie scheuen wieder einmal nicht davor zurück, ein ist die Vorgehensweise der SPD -, da anzusetzen, wo ganz eindeutiges Urteil des Bundesverfassungsge- die meisten Kosten entstehen, nämlich bei den lang- richtes zu mißachten. Das Bundesverfassungsgericht fristigen, bei den chronischen Erkrankungen, bei hat nämlich 1992 entschieden, daß der Gesetzgeber - den Erkrankungen, die die vielen Krankheitstage also Sie, meine Herren - verpflichtet ist, bei jedem verursachen. Da müssen wir ansetzen und nicht bei weiteren Reformschritt in der Rentenversicherung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Ich rate Ihnen Zeiten der Kindererziehung besser als bisher zu be- sehr, sich das einmal intensiv anzusehen. rücksichtigen. Die Benachteiligung von Frauen, die Kinder erzogen haben, muß sich bei jedem weiteren (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne Reformschritt - sagt das Verfassungsgericht - auch ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) nachvollziehen lassen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne Gestatten Sie Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: ten der PDS) eine weitere Zwischenfrage? Da geht es um Gerechtigkeit, Herr Geißler. Sie kön- nen natürlich jetzt sagen: Das Gesetz, das Sie vorle- Ulrike Mascher (SPD): Herr Hinsken, wir sollten meines Erachtens darüber im Ausschuß diskutieren. gen, ist überhaupt kein Reformgesetz - da würde ich Wir reden offensichtlich von verschiedenen Statisti- Ihnen zustimmen -, und deswegen ist eine Verbesse- ken. rung der Situation der Frauen nicht notwendig. Ich hoffe, daß Sie so zynisch nicht sein werden.

Ernst Hinsken (CDU/CSU): So ist es. Frau Kollegin Nichts davon, was das Bundesverfassungsgericht Mascher, Sie haben meine Frage nicht beantwortet. gefordert hat, ist im jetzigen Gesetzentwurf enthal- Ich schätze Sie persönlich sehr und hätte gedacht, ten. Wurde das einfach vergessen, oder ist das zu Sie würden mir eine Antwort auf meine Frage geben. teuer? Oder sollen auch hier „Ausweichreaktionen" vermieden werden? Deshalb möchte ich es noch einmal kurz auf einen Nenner bringen, wenn es, Frau Präsidentin, gestattet Ich frage die Familienministerin, die dankenswer- ist. terweise jetzt hier ist, ich frage die Vorsitzende der Frauen-Union: Frau Professor Süssmuth: Wo sind die konkreten Vorschläge, für die Frauen, um den Auf- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Nein, die Zwi- trag des Bundesverfassungsgerichts zu erfüllen? schenfrage kann nicht ich gestatten, sondern die Oder sind Sie, verehrte Kolleginnen von der Union Rednerin. Jetzt frage ich Sie, Frau Mascher: Gestat- oder der F.D.P. - soweit Sie hier sind -, auch der Mei- ten Sie eine weitere Zwischenfrage? nung, daß hier notwendigerweise, wenn auch mit lei- sem Bedauern, Vorteile von Frauen abgebaut wer- Ulrike Mascher (SPD): Herr Hinsken, ich glaube, den müssen, weil in Zeiten knapper Kassen ein sozia- ich habe Ihnen beantwortet, wo die SPD den Ansatz- ler Ausgleich wie die Berücksichtigung der Doppel- punkt sieht. - belastungen von Frauen oder die frauentypischen Benachteiligungen im Beruf, wie zum Beispiel die (Beifall bei Abgeordneten der SPD) schlechtere Bezahlung und geringere Aufstiegschan- cen, nicht mehr zu finanzieren sind? Die hohen Kosten, die durch Krankheiten entstehen, müssen durch die Bekämpfung der großen Volks- Haben Sie vergessen, daß das Bundesverfassungs- krankheiten gesenkt werden - das ist der große gericht 1987 in einem Urteil noch einmal bekräftigt Block der Kosten - und nicht durch die Kürzung der hat, daß die Rentenaltersgrenze von 60 Jahren für Entgeltfortzahlungen im Krankheitsfall. Das ist un- Frauen durch die nach wie vor existierende tatsächli- sere Antwort. che Benachteiligung der Frauen im Beruf notwendig und gerechtfertigt ist? Oder wollen Sie etwa behaup- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) ten, daß sich die Situation der Frauen seit 1986 ver- Wenn man sich den Gesetzentwurf, der heute zur bessert hat? Debatte steht, ansieht, findet man eine Formulie- Die überdurchschnittliche Arbeitslosigkeit von rung, die einen in ihren bürokratischen Anmutungen Frauen spricht dagegen. Der große Unterschied bei erschrecken läßt. In der Begründung des Gesetzent- der Rente von Frauen und Männern zeigt deutlich: wurfes, in dessen Titel die Bundesregierung dreist Die durchschnittliche Rente der Frauen beträgt in behauptet, es sei ein Gesetz zur Förderung von Be- der alten Bundesrepublik 773 DM, die der Männer schäftigung und Wachstum, heißt es, um „Aus- immerhin 1 847 DM. Daran sieht man die Benachtei- weichreaktionen" zu vermeiden, sei es erforderlich, ligung von Frauen im Berufsleben. die Altersgrenze für Frauen anzuheben. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Ist Ihnen, Herr Arbeitsminister, und Ihnen allen, meinen Herren Abgeordneten von CDU/CSU und Weil Frauen für eine Altersrente mit 60 Jahren F.D.P., eigentlich bewußt, mit welch kalter Brutalität mindestens 15 Pflichtjahre gearbeitet haben müssen Sie die Lebensplanung von Tausenden von Frauen - es ist kein Geschenk, das ihnen gemacht wird -, zerstören? Um „Ausweichreaktionen" zu vermeiden, werden durch die drastische Heraufsetzung dieser zerstören Sie das Vertrauen in die Zuverlässigkeit Altersgrenze 60 Jahre ausgerechnet die Frauen ge- des Rentenrechtes. troffen, die lange Jahre Beiträge in die Rentenkasse Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996 9403

Ulrike Mascher gezahlt haben. Zu Recht fühlen sich diese Frauen den Arbeitsmarkt nicht vor der Beschlußfassung über von dem Kahlschlag der Bundesregierung besonders Ihren Gesetzentwurf vor? ausgeplündert. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS) und der PDS) Fürchten Sie etwa, daß dann Ihre Behauptung, durch die Anhebung der Altersgrenze würden Arbeits- Deshalb versucht der Arbeitsminister ja auch, die plätze geschaffen, wie eine Seifenblase zerplatzt? SPD mitverantwortlich für seinen Raubzug bei den Frauenrenten zu machen. Eigentlich sei es doch nur (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Lächerlich!) eine Verschiebung um vier Jahre, meint er treuher- Oder geht es in Wahrheit nur um eine ganz schnöde zig. Herr Blüm, warum verschweigen Sie denn dabei, Rentenkürzung bei den Frauen? daß 1989 eine lange Übergangsregelung geplant war? Erst im Jahre 2001, also zwölf Jahre nach dem (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Beschluß, sollte mit der Anhebung begonnen wer- GRÜNEN und der PDS) den; nach weiteren elf Jahren erst sollte die Regelal- tersgrenze 65 erreicht werden. Also sollte es insge- Wollen Sie einfach erreichen, daß die Frauen, weil samt 23 Jahre dauern, bis die 1989 beschlossene An- sie ihre Lebensplanung nicht mehr ändern können, hebung voll wirksam geworden wäre. Jetzt heißt es: die sie im Vertrauen auf die mit großer Mehrheit be- Beschluß 1996, Beginn 1997, Ende 2001; also ruck, schlossene Rentengesetzgebung gemacht haben, zuck; in fünf Jahren ist die ganze Operation vorbei. weiterhin mit 60 ihre Rente beantragen und dann die Lebensplanung, Vertrauensschutz? - Die Zeiten sind entsprechenden Kürzungen hinnehmen müssen: für hart; es geht um den Standort Deutschland. Da blei- jedes Jahr 3,6 Prozent, nach drei Jahren 10,8 Prozent, ben die Frauen auf der Strecke. nach fünf Jahren 18 Prozent? 18 Prozent Kürzung bei einer durchschnittlichen Frauenrente von 773 DM: Ich höre sicherlich von Ihnen: Es gibt doch einen Alle diese Frauen landen beim Sozialamt. Aber das ist dann wohl ihr persönliches Risiko; Pech gehabt, Vertrauensschutz für arbeitslose Frauen, genauso wie für arbeitslose Männer. Bemerkenswerterweise wenn sie, wegen ihrer Doppelbelastung nach einem hält Herr Professor Ruland vom VDR diese Ein- langen Arbeitsleben erschöpft, gehofft haben, noch schränkung des 1989 beschlossenen Vertrauens- einigermaßen gesund in Rente zu gehen. Falsch ge- schutzes bei der Altersrente für Frauen nur auf ar- hofft! Die Rentenfalle der Bundesregierung schnappt beitslose Frauen, die älter als 55 Jahre sind, für ver- zu, und alle Frauen, die 1937, 1938, 1939, 1940 usw. fassungsrechtlich bedenklich; ja, er hat sogar erheb- geboren sind, sitzen in dieser Falle. liche verfassungsrechtliche Bedenken. Ich meine, Dabei waren wir im Bundestag schon einmal wei- Herr Arbeitsminister, Ihnen sind diese erheblichen ter. Im Juni 1991 haben alle Fraktionen und Grup- verfassungsrechtlichen Bedenken bekannt. Offenbar pen, CDU/CSU, F.D.P., SPD, Bündnis 90/Die Grünen sind sie für Sie unbeachtlich. Aber möglicherweise- und die PDS, einstimmig beschlossen, daß wir bis werden Sie sich damit vor dem Bundesverfassungs- 1996, also bis zu diesem Jahr, eine Reform der Alters- gericht auseinandersetzen müssen. sicherung der Frauen anpacken wollen, die drei Punkte berücksichtigen sollte: eine Verbesserung Es geht - so lautet die Überschrift des Gesetzes - der Anerkennung der Zeiten der Kindererziehung, um Wachstum und Beschäftigung. Können Sie, Herr vor allem für die Frauen, die gleichzeitig erwerbstä- Arbeitsminister, mir und allen Frauen in der Bundes- tig waren - Frau Dr. Babel, Sie wollten das schon in republik erklären, welche Chancen junge Frauen ha- der letzten Legislaturpe riode realisieren -, ben, einen Erwerbsarbeitsplatz zu bekommen, wenn die 380 000 Frauen, die in den letzten beiden Jahren (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Ich weiß es!) mit 60 Jahren in Rente gegangen sind, zwei, drei einen Ausbau eigenständiger Rentenansprüche von oder fünf Jahre weiterarbeiten müßten? Frauen und einen Beitrag zur Lösung des Problems der Altersarmut von Frauen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN Aber was legen die Bundesregierung und die Frak- und der PDS) tionen der CDU/CSU und der F.D.P. heute vor: die Verlängerung der Lebensarbeitszeit von Frauen, die Können Sie erklären, welchen Sinn eine Verlänge- drohende Kürzung der ohnehin niedrigen Renten, rung der Lebensarbeitszeit hat, wenn 1,8 Millionen wenn Frauen ihre Rente vor der Regelaltersgrenze Frauen als arbeitslos gemeldet sind? Welche positi- beantragen, die Kürzung der Anrechnung von Aus- ven Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt können bildungszeiten, . die gerade für die Generation von denn die Frauen in Ostdeutschland von einer Verlän- Frauen, die in einem großen Aufholprozeß endlich gerung der Lebensarbeitszeit erwarten, wenn da die qualifizierte und längere Ausbildungen für sich Arbeitslosigkeit bei Frauen heute schon bei durchgesetzt haben, besonders schmerzlich ist - für 56 Prozent liegt? sie kann dies ein Minus von 300 DM bedeuten -, eine niedrigere Bewe rtung der Ausbildungsjahre - eine Warum legt die Bundesregierung den im Rentenre- weitere Schmälerung der ohnehin niedrigen Frauen- formgesetz 1992 geforderten Bericht über die Aus- renten -, eine Verschlechterung des Kündigungs- wirkungen der Heraufsetzung der Altersgrenzen auf schutzes in kleinen Bet rieben - hier sind vor allen 9404 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996

Ulrike Mascher Dingen Frauen beschäftigt - und die Kürzung der fraktion - Frau Kollegin Schmidt ist noch da; Frau Lohnfortzahlung im Krankheitsfall oder den Verzicht Kollegin Fuchs war da - und der Vertreter der Bünd- auf einen Urlaubstag - für alleinerziehende Mütter, nisgrünen haben gestern im Vermittlungsausschuß Frau Dr. Babel, ein ganz besonderes Geschenk! beschlossen, daß die Regelsätze der Sozialhilfe von 1996 bis 1998 entsprechend der Rentenentwicklung (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Petra erhöht werden. Sie haben weiterhin mit beschlossen, Bläss [PDS]) daß die Regelsätze zum 1. Juli 1998 höchstens um Diese Liste der besonderen Belastungen für Frauen 2 Prozent angehoben werden. ließe sich weiter fortführen. Herr Kollege Schreiner, genau das waren die Die Bundestagspräsidentin, die Ministerinnen und Punkte, gegen die Sie polemisiert haben. Sie haben die Staatssekretärinnen sind, soweit sie hier noch an- damit gegen Ihre Fraktion polemisiert. Sie haben völ- wesend sind, nicht nur aufgerufen, mit den Frauen in lig übersehen, daß die SPD gestern im Vermittlungs- der Union zu diskutieren und nachzudenken, wie es ausschuß beschlossen hat, daß die Regelsätze ab Frau Süssmuth heute morgen im Fernsehen ange- 1999 nicht mehr nach dem Warenkorb bemessen kündigt hat, sondern auch, dafür Sorge zu tragen, werden, sondern das Verbraucherverhalten, die Net- daß die großen Hoffnungen und Erwartungen, die toeinkommensentwicklung und die Lebenshaltungs- viele Frauen in Deutschland gerade nach den An- kosten zu berücksichtigen sind. Bevor Sie hier Fässer kündigungen von Frau Professor Süssmuth hegen, aufmachen, sollten Sie sich erst einmal sachkundig nicht zerstört werden. machen. Es geht nicht nur um die Sympathiewerte für die (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge Bundestagspräsidentin. Es geht um das Vertrauen in ordneten der F.D.P. - Rudolf Scharping unseren Sozialstaat und um die Hoffnung, daß [SPD]: Stimmen Sie dem jetzt zu?) Frauen in der Politik fähig sind, beherzt und coura- Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe sehr giert, mit Blick auf die reale Lebenssituation der sorgfältig zugehört, was die Herren Abgeordneten Frauen, für die wir alle einmal in den Bundestag ge- Dreßler und Scharping heute gesagt haben. gangen sind, auch in einer schwierigen Situation - ich bin mir durchaus bewußt, was ich von den (Julius Louven [CDU/CSU]: Eigentlich Frauen der Union verlange - nein zu sagen zur Kahl- nichts!) schlagoperation der Bundesregierung gegen die Frauen. Ich habe festgestellt, daß die Arbeitslosen als eine praktische Herausforderung bei Ihnen nicht vorge- Ich hoffe, die Frauen werden in ihren Erwartungen kommen sind. Sie instrumentalisieren die Arbeitslo- und Hoffnungen nicht enttäuscht. sen zum Zwecke der Polemik gegen unser Programm für mehr Wachstum und Beschäftigung. Nichts ande- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE res machen Sie. GRÜNEN und der PDS) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) - Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat Ich weiß um die Bedeutung der Lohnfortzahlung. jetzt der Abgeordnete Wolfgang Vogt. Wir haben das Problem - Norbe rt Blüm hat darauf hingewiesen -, daß die Arbeiter mit den Angestellten Wolfgang Vogt (Düren) (CDU/CSU): Frau Präsi- gleichgestellt werden sollten. Ich weiß um den Wert dent! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Herr Ab- des Kündigungsschutzes. Da brauchen Sie mich geordnete Rudolf Dreßler hat sich heute morgen nicht zu belehren. Aber die Arbeitslosen haben we- selbst erniedrigt und mir die Ehre gegeben, zitiert zu der etwas von der Lohnfortzahlung noch vom Kündi- werden. Lieber Herr Kollege Dreßler, daß Ihnen die gungsschutz. Sie brauchen Arbeitsplätze. Dieser CDA weh tut, weiß ich. Mit diesem Schmerz werden Aufgabe stellen wir uns, und Sie stehen mit leeren Sie weiter leben müssen. Händen da. Sie führen diese chaotische Sozialstaats- debatte weiter, die nur den Zweck hat zu verunsi- (Beifall bei der CDU/CSU) chern. Der Herr Abgeordnete Rudolf Scharping hat sich Man wird darüber streiten, aber unser Maßnah- um die CDU/CSU als Volkspartei Sorgen gemacht. menbündel steht unter dem Leitgedanken: im Zwei- Herr Ex-Parteichef der Sozialdemokraten, in Baden- fel für die Arbeitslosen. Das ist durchaus im Geiste Württemberg sind Sie gerade noch auf 25,1 Prozent von Oswald von Nell-Breuning. „Im Zweifel für die der Stimmen gekommen. Achten Sie darauf, daß Sie Arbeitslosen" verlangt auch, daß wir ein Risiko ein- nicht von den Grünen überholt werden! gehen. Wer hier handeln will, ohne ein Risiko einzu- gehen, der wird nichts bewegen. Er wird weiter auf (Beifall bei der CDU/CSU) der Stelle treten, auf der wir heute schon stehen. Meine Damen und Herren, der Kollege Schreiner (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge (Ottmar Schreiner [SPD]: Hier!) ordneten der F.D.P.) hat in bezug auf die Sozialhilfe ein Faß aufgemacht, Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben uns dabei aber vergessen, sich sachkundig zu machen, die Entscheidung über das Maßnahmenbündel zu was gestern im Vermittlungsausschuß beschlossen mehr Wachstum und Beschäftigung nicht leichtge- worden ist. Die SPD-Länder, die SPD-Bundestags macht. Angesichts der existentiellen Fragen, um die Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996 9405

Wolfgang Vogt (Düren) es hier geht, könnte sicher auch niemand mehr in Zweitens. Nur starke Gewerkschaften und starke den Spiegel schauen, wenn er es sich leichtgemacht Arbeitgeberverbände sind Garanten für beschäfti- hätte. gungsfördernde, den sozialen Frieden sichernde Ta- rifabschlüsse. Die Konflikte sind nicht ausgestanden; Frau Kolle- gin Babel hat das deutlich gemacht. Ich weiche auch Aber zugleich beobachte ich mit Sorge die Kon- hier kritischen Fragen nicht aus. Ich kann aus Zeit- flikte zwischen den Spitzenverbänden der Wi rtschaft gründen nur eine ansprechen: Die geplanten Ände- und innerhalb der BDA. Ich appelliere an sie, sich rungen beim Kündigungsschutz sind aus meiner nicht vom Konflikt bei Gesamtmetall anstecken zu Sicht ein kritischer Punkt. Sie gründen auf dem Prin- lassen. Ich appelliere an die Spitzenvertreter der zip Hoffnung, der Hoffnung, daß den Arbeitslosen Wirtschaft, die chaotische Sozialstaatsdebatte einzu- der Weg in ein Arbeitsverhältnis eröffnet wird. stellen. Ich versage mir heute, harte Worte an die Adresse einzelner Spitzenfunktionäre der Wi rtschaft Ich habe meine Bedenken, meine Vorbehalte ge- zu richten, allerdings - aus aktuellem Anlaß - mit ei- gen diese Änderungen nicht verheimlicht. Aber ge- ner Ausnahme. In der Sendung „Bonn direkt" am rade weil ich die Vorbehalte gegen die Heraufset- vergangenen Sonntag verstieg sich der Präsident des zung des Schwellenwertes, ab dem das Kündigungs- BDI, Hans-Olaf Henkel, zu einer Bemerkung über schutzgesetz greift, habe, darf ich die Erfahrungen Norbert Blüm - ich zitiere -: mit dem Instrument der befristeten Arbeitsverhält- nisse, das 1985 mit dem Beschäftigungsförderungs- Im Augenblick lernt er ja, daß wir in der Tat nicht gesetz eingeführt wurde, nicht in den. Wind schla- beides können, bei den Sozialsystemen immer gen. Auch damals wurde befürchtet - Herr Kollege draufpacken und dann gleichzeitig viele Arbeits- Dreßler, Sie haben damals die gleiche Rede gehalten plätze zu schaffen, die wir ja brauchen. Er ist nun wie heute -, mal jahrelang Minister für Soziales und für Arbeit gewesen, und ich glaube, er war wohl mehr beim (Rudolf Dreßler [SPD]: Kann nicht sein!) Sozialen beschäftigt und viel zuwenig damit, die daß das zum Heuern und Feuern führen würde. Grundlagen für neue Arbeitsplätze zu schaffen. Soviel Falsches - ich könnte auch ein anderes Wort Um Mißbräuche, die nicht auszuschließen waren, benutzen - in drei Sätzen habe ich selten gehört. zu vermeiden, haben wir uns damals dem Zwang ei- ner Erfolgskontrolle unterworfen: Die Maßnahme (Dr. Heiner Geißler [CDU/CSU]: Arrogan wurde zeitlich bef ristet; zugleich wurde die Bundes- tes!) regierung verpflichtet, von einem unabhängigen In- stitut untersuchen zu lassen, wie die Arbeitgeber mit Deshalb habe ich jetzt eine Bitte an Graf Lambs- dem befristeten Arbeitsvertrag umgehen. dorff - vielleicht kann sie von Herrn Westerwelle weitergeleitet werden -, Wi rtschaftsminister im Kabi- Die Ergebnisse der Untersuchungen liegen vor. Sie nett Helmut Schmidt und Wirtschaftsminister im Ka- besagen: Der befristete Arbeitsvertrag war für viele binett . Ich habe die Bitte, daß er Hans- hunderttausend Arbeitnehmer die Brücke- in ein fe- Olaf Henkel darüber aufklärt, daß die Soziallei- stes Beschäftigungsverhältnis. stungsquote von 33 Prozent zur Zeit der Wende, also 1982, auf 29,5 Prozent im Jahre 1990 gesunken ist. (Rudolf Dreßler [SPD]: Die gab es doch Diese Entwicklung, die zur Leistungsbilanz dieses schon vorher!) Arbeitsministers gehört, hat dazu beigetragen, daß in In aller Regel sind die Arbeitgeber mit diesem Instru- der zweiten Hälfte der 80er Jahre knapp 3 Millionen ment verantwortungsbewußt umgegangen. zusätzliche Arbeitsplätze entstanden sind. Ich meine, wir sollten bei der Änderung des Kündi- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) gungsschutzgesetzes so verfahren wie 1985 mit dem Hans-Olaf Henkel sollte das endlich zur Kenntnis Instrument des befristeten Arbeitsvertrages. Erfolgs- nehmen. kontrolle tut not. Sie liegt im Interesse der Arbeitslo- sen wie der Arbeitsplatzbesitzer. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, ich empfehle Ihnen, auch das nachzulesen, was Klaus Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und von Dohnanyi jüngst in der „Welt am Sonntag" ge- Kollegen, wir wollen mehr Beschäftigung. Der Staat schrieben hat. Ich habe ein anderes Zitat; Klaus von schafft das nicht allein. Die Tarifpartner tragen eine Dohnanyi werden heute die Ohren klingen. Do rt hat eigenständige Verantwortung. Sie bestimmen weit- Klaus von Dohnanyi geschildert, wie vor kurzem der gehend die Arbeitsbedingungen. Bei all dem Getöse Gaullist Juppé den Sozialisten Rocard in den Regie- dieser Tage und auch hier im Hause will ich heute rungssitz eingeladen hatte, um mit ihm seinen Vor- ein Wort der Anerkennung an die Adresse der Tarif- schlag einer steuerbegünstigten Arbeitszeitverkür- partner für die Tarifabschlüsse des Jahres 1996 sa- zung zu besprechen. Als Rocard den Regierungssitz gen. Sie sind verantwortungsbewußt und beschäfti- verließ, wurde er von einem Repo rter gefragt, ob er gungsfördernd. sich nicht darüber im klaren sei, auf diese Weise dem politischen Gegner zu nützen. Da hat der Sozialist Diese Tarifabschlüsse beweisen aus meiner Sicht Rocard gesagt: Ich helfe hier meinem Vaterland und zweierlei: Erstens. Der bietet Flächentarifvertrag nicht dem politischen Gegner. - Diesen Geist von Ro- vielfältige Chancen zur Flexibilisierung. Mit Phanta- card vermisse ich bei Ihnen. sie und Willen läßt sich viel bewirken. Nur Ideologen werden nichts bewegen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) 9406 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Ich schließe da- können. Das ist konkrete Politik für Kinder und Ju- mit die Aussprache. Interfraktionell wird Überwei- gendliche. Für uns muß die Zukunft der Kinder und sung der Vorlagen auf den Drucksachen 13/4610 bis Jugendlichen Maßstab unserer Politik sein. Wir ha- 13/4614, 13/3628, 13/4671, 13/4672 und 13/4674 an ben nicht das Recht, auf Kosten nachwachsender Ge- die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse nerationen zu leben. Gerade auch deshalb ist unser vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Programm für mehr Wachstum und Beschäftigung so Dann sind die Überweisungen so beschlossen. wichtig. Im Osten wie im Westen sehen Jugendliche den Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf: Lehrstellenmangel und die Lage auf dem Arbeits- 4. Beratung der Beschlußempfehlung und des markt als die derzeit drängendsten Probleme an. Es Berichts des Ausschusses für Familie, Se- stimmt zwar, daß wir mit die niedrigste Jugendar- nioren, Frauen und Jugend (13. Ausschuß) beitslosigkeit in Europa haben und daß wir heute etwa 85 000 arbeitslose Jugendliche weniger haben - zu der Unterrichtung durch die Bundes- als noch vor einem Jahr. Trotzdem dürfen und kön- regierung nen wir uns mit den derzeit noch knapp 300 000 Ar- Bericht über die Situation der Kinder und beitslosen unter 25 Jahren nicht abfinden. Jugendlichen und die Entwicklung der Die wichtigste Voraussetzung für die erfolgreiche Jugendhilfe in den neuen Bundesländern Integration junger Menschen auf dem Arbeitsmarkt - Neunter Jugendbericht - mit der Stel- ist und bleibt eine solide Berufsausbildung, die das lungnahme der Bundesregierung zum duale System bestens gewährleistet. Unser Ausbil- Neunten Jugendbericht dungsstandard ist zudem ohne Zweifel ein großes - zu dem Entschließungsantrag des Abgeord- Plus für den Standort Deutschland. Man kann es neten Matthias Berninger und der Fraktion nicht oft genug in Erinnerung rufen: Ein ausreichen- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu der Unter- des Angebot an Ausbildungsplätzen ist im Interesse richtung durch die Bundesregierung der deutschen Wirtschaft. Es ist außerdem wichtig für die jungen Menschen, die erfahren sollen, daß sie ge- Bericht über die Situation der Kinder und braucht werden. Jugendlichen und die Entwicklung der Jugendhilfe in den neuen Bundesländern Deshalb stehen wir dazu: Auch in diesem Jahr - Neunter Jugendbericht - wird jeder ausbildungswillige Jugendliche einen Ausbildungsplatz erhalten. Dem dient das vor einem zu dem Entschließungsantrag der Fraktion - Monat beschlossene Zukunftsbündnis Lehrstellen, der SPD zu der Unterrichtung durch die das die Ausbildungsbereitschaft der Bet riebe fördern Bundesregierung soll, indem es die Modernisierung und Flexibilisie- Bericht über die Situation der Kinder und rung der beruflichen Bildung vorsieht. Jugendlichen und die Entwicklung der Jugendhilfe in den neuen Bundesländern Von großer Bedeutung ist für mich dabei das Akti- - Neunter Jugendbericht - mit der Stel- onspaket für die neuen Bundesländer; denn gerade lungnahme der Bundesregierung zum dort sind besondere Anstrengungen nötig, um das Neunten Jugendbericht derzeit noch zu geringe Angebot an Ausbildungs- plätzen auszugleichen. Ich bin davon überzeugt, daß - Drucksachen 13/70, 13/709, 13/726, 13/3314 - dieses Maßnahmenpaket - von betriebsnaher Ausbil- dungsförderung und in begrenztem Umfang schuli- Berichterstattung: scher Vollausbildung - für 1996 und 1997 den Bedarf Abgeordnete Kersten Wetzel an Ausbildungsplätzen decken kann. Daß das ge- Klaus Hagemann lingt, ist im gemeinsamen Interesse von Bund und Matthias Berninger Ländern. Rosel Neuhäuser Die Wirtschaft hat ihrerseits zugesagt, das Ausbil- Zum Neunten Jugendbericht liegt ein weiterer, ge- dungsplatzangebot um 10 Prozent zu erhöhen. Ich meinsamer Entschließungsantrag von SPD und erwarte, daß dieses Versprechen eingehalten wird Bündnis 90/Die Grünen vor. und damit Verantwortungsbereitschaft und unter- Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die nehmerische Weitsicht dokumentiert werden. Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich sehe kei- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Investitionen in die Jugend sind immer auch Inve- Ich eröffne die Aussprache. Das Wo rt hat zunächst stitionen in die Zukunft. Das gilt nicht zuletzt für die die Frau Bundesministerin Claudia Nolte. Kinder- und Jugendhilfe. Der Neunte Jugendbe- richt, den wir als Bundesregierung entsprechend un- Claudia Nolte, Bundesministerin für Familie, Senio- serem gesetzlichen Auftrag in dieser Legislaturperi- ren, Frauen und Jugend: Frau Präsidentin! Liebe Kol- ode dem Deutschen Bundestag und dem Bundesrat leginnen und Kollegen! In der Debatte des heutigen vorgelegt haben, war insbesondere ein „Bericht über Vormittags haben wir uns intensiv damit auseinan- die Situation der Kinder und Jugendlichen und die dergesetzt, wie wir Beschäftigung schaffen, die Entwicklung der Jugendhilfe in den neuen Bundes- öffentlichen Haushalte weiter konsolidieren und das ländern" . Diese Themenstellung liegt auf der Hand. soziale Sicherungssystem auch in Zukunft sichern Uns fehlten wissenschaftlich fundie rte Erkenntnisse, Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996 9407

Bundesministerin Claudia Nolte wie Kinder, Jugendliche und deren Familien den Pro- der- und Jugendarbeit auf Kontinuität angewiesen zeß der radikalen Umgestaltung ihrer Lebensverhält- ist. nisse bewältigten und ob die im Westen bewährten Strukturen angenommen werden. Der Neunte Ju- Ich möchte die Gelegenheit nutzen, den Kommu- gendbericht bestätigt, daß die grundlegenden Wei- nen, die dieser Verpflichtung in vorbildlicher Weise chenstellungen und Aufbauleistungen gelungen gerecht werden, auch von dieser Stelle aus ganz sind. herzlich zu danken. Dort, wo es möglich ist, sollte man künftig noch stärker auf freie Träger zurück- Ich teile die insgesamt zuversichtliche Gesamtein- greifen. Ich unterstütze ausdrücklich die Forderung schätzung. Im Bericht heißt es: der Jugendberichtskommission nach einer präventi- ven, plural organisierten und an den Interessen der Verglichen mit anderen Bereichen gestalten sich Betroffenen orientierten Jugendhilfe. die Veränderungen in den Freizeitbedingungen und Handlungsmustern von Kindern und Ju- (Beifall der Abg. Dr. Gisela Babel [F.D.P.]) gendlichen aus dem Osten Deutschlands offen- sichtlich problemloser als bisher angenommen. Gerade die Entwicklung in den neuen Bundeslän- Betrachtet man den heutigen Stand des Aufbaus dern beobachte ich sehr aufmerksam. Es ist mir wich- der Jugendhilfe in den neuen Bundesländern, so tig, daß mein Ministe rium auch weiterhin besondere kann festgestellt werden, daß strukturell wich- Anstrengungen - im Rahmen seiner Zuständigkeit - tige Rahmenbedingungen für eine KJHG-kon- unternimmt. Wir unterstützen Einzelprojekte zum forme Jugendhilfe geschaffen wurden. weiteren Strukturaufbau der Kinder- und Jugend- hilfe und greifen hierzu auch Anregungen aus dem Der finanzielle Leistungsumfang der Kinder- und Neunten Jugendbericht auf. Jugendhilfe in den neuen Bundesländern ist, wenn auch bei unterschiedlichen Schwerpunkten, mit dem Wir werden den sozialpädagogischen Ertrag der der westdeutschen Länder voll vergleichbar. von uns geförderten Projekte gegen Gewalt und Fremdenfeindlichkeit aufbereiten und breit zugäng- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) lich machen. Daß die Bundesregierung einen maßgeblichen Anteil daran hat, sollte hier einmal gesagt werden dürfen. Wir waren und sind bestrebt, das jugendkulturelle Angebot in den neuen Bundesländern zu erhalten (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) und es den freiheitlichen Bedingungen entsprechend fortzuentwickeln. Wir haben als Bundesregierung für eine Über- gangszeit in den neuen Bundesländern, obwohl die Wir wollen auch in finanziell schwierigen Zeiten Wahrnehmung der Aufgaben der Kinder- und Ju- den Ausbau des freiwilligen sozialen Jahres und des gendhilfe nach der Kompetenzordnung des Grund- freiwilligen ökologischen Jahres weiter vorantreiben. gesetzes und dem Kinder- und Jugendhilfegesetz bei den Ländern und Kommunen liegt, Jugendhilfemaß- Wir unternehmen erhebliche Anstrengungen im nahmen mitfinanziert. Ich erinnere insbesondere an Bereich der Jugendsozialarbeit, um benachteiligte die Sonderprogramme des Bundes zum Aufbau freier Jugendliche beim Weg in Beruf und Arbeit zu unter- Träger, das Aktionsprogramm gegen Aggression und stützen. Gewalt und Maßnahmen im Bereich der Fortbildung. Wir arbeiten an der fachlichen Fortentwicklung Die arbeitsmarktpolitischen Instrumente des Ar- der Kindergartenpädagogik in den neuen Bundes- beitsförderungsgesetzes hatten und haben dabei ländern und geben Anstöße zu deren Umsetzung. eine ganz besondere Bedeutung, sowohl für den Auf- bau freier Träger als auch für die Maßnahmen der Ju- Wir werden uns weiterhin mit den Problemen der gendhilfe. Neben den AB-Maßnahmen ist hier insbe- sogenannten Straßenkinder beschäftigen und fachli- sondere der § 249h des Arbeitsförderungsgesetzes che Konzepte zur Betreuung obdachloser Jugendli- zu nennen. Allein darüber waren im vergangenen cher erproben. Jahr 7 700 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Im Bereich der Bauförderung werden Vorhaben in Jugendhilfemaßnahmen beschäftigt, was deutlich den neuen Bundesländern weiterhin überproportio- macht, daß wir auf diese Maßnahmen auf absehbare nal bezuschußt. Zeit nicht verzichten können. Daneben erfolgt selbstverständlich die Fortsetzung (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU der Regelangebote von Bundeszentralen Trägern, und der F.D.P.) Verbänden und Vereinen. Deshalb ist es mein Ziel, daß wir im Rahmen der Liebe Kolleginnen und Kollegen, neben der Schaf- Reform des Arbeitsförderungsgesetzes eine Lösung fung tragfähiger Jugendhilfestrukturen in den neuen finden, die die Förderung von Strukturanpassungs- Ländern halte ich es für ganz entscheidend, wie die maßnahmen auch über das Jahr 1997 hinaus möglich Jugendlichen ihre Lebenswirklichkeit selbst ein- macht. schätzen und wie sie mit der neugewonnenen Frei- Zweifelsfrei gehören die Angebote der Kinder- und heit zurechtkommen. Die IPOS-Studie 1995, die auf Jugendhilfe zu den Pflichtaufgaben der Kommunen. dem Fragenkatalog des Neunten Jugendberichts Die über arbeitsmarktpolitische Instrumente nur zeit- aufbaut, bestätigt, daß die ganz überwiegende Mehr- lich befristet eingestellten Mitarbeiter können selbst- heit, 73 Prozent, der jungen Leute in den neuen Län- verständlich Festangestellte nicht ersetzen, da Kin dern optimistisch in die Zukunft blickt. 9408 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996

Bundesministerin Claudia Nolte Die gute Stimmungslage stabilisiert sich mit positi- Beiden Gruppen, den jüngeren und den älteren ver Tendenz. 85 Prozent, das sind zwei Prozent mehr Frauen, nehmen Sie das weg, was ihnen jetzt und als 1993, sind mit ihrem Leben zufrieden. 75 Prozent, hier zusteht. vier Prozent mehr als 1993, finden, daß die Einfüh- rung einer politischen Ordnung nach westlichem Und Sie tun noch etwas: Sie zerstören das Ver- Muster richtig war. Wir stehen in der Pflicht, diese trauen der Jüngeren und der Älteren auf die Verläß- Hoffnung und diesen Optimismus der Jugendlichen lichkeit von politischen Entscheidungen. Was gilt in von heute nicht zu enttäuschen. diesem Hause eigentlich noch eine Entscheidung, die vor ein paar Monaten oder vor ein paar Jahren (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. gefällt worden ist, auf die sich alte und junge Men- Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]) schen müssen berufen können und das auch tun wol- len? Sie zerstören das Vertrauen der Jüngeren und Deshalb gibt es zu einer Politik, die nicht auf Pump der Älteren auf die Verläßlichkeit von politischen lebt, aber in die junge Generation investiert, keine Entscheidungen. Alternative. (Beifall bei der SPD und der PDS sowie bei Vielen Dank. Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) GRÜNEN) Jugendliche wollen etwas in dieser Gesellschaft Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat und von dieser Gesellschaft. Das ist nicht nur ihr gu- jetzt die Kollegin Christel Hanewinckel. tes Recht, sondern auch etwas, was dieser Staat, was diese Demokratie braucht. Sie sind bereit, sich zu Christel Hanewinckel (SPD): Frau Präsidentin! engagieren, ihre Möglichkeiten und ihre Fähigkeiten Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Vor über einem einzubringen. Ich denke, das Interesse am freiwilli- Jahr haben wir in diesem Hause über den Neunten gen sozialen Jahr und am freiwilligen ökologischen Jugendbericht der Bundesregierung debattiert. Den Jahr zeigt das beispielhaft. Bericht zeichnete eine Besonderheit aus: Er doku- Gerade jetzt ist eine Politik für die Jugend nötig. In mentierte nämlich ausführlich die Situation der ju- die Strukturen und in die Arbeit der präventiven Ju- gendlichen Frauen und Männer in den ostdeutschen gendhilfe sowie in den Ausbildungs - und Arbeits- Bundesländern. markt für Jugendliche muß nicht nur Geld, sondern Nach den Beratungen in den Ausschüssen geht es müssen Innovationen und Ideen gepackt werden. Sie heute um die politischen Konsequenzen, die aus die- können darauf setzen, daß Sie dann viele Verbün- sem Bericht zu ziehen sind. Die Bundesregierung dete haben werden: die Jugendlichen, die Verbände muß nach ihrer Stellungnahme und auch nach der der freien Träger der Jugendarbeit, die Jugendhilfe Rede, die Frau Ministerin Nolte soeben gehalten hat, in freier und kommunaler Trägerschaft, die Gewerk- offenbar keinerlei Konsequenzen ziehen - außer den schaften, die demokratischen Parteien und die Kir- Forderungen und Hinweisen an andere. An diesem chen. Sie nehmen das Angebot nicht auf und spalten Punkt hat sich das Verhalten dieses Ministeriums- auch dieses Bündnis immer wieder. und auch der anderen Ministerien nicht geändert. In einer Woche ist in Leipzig der 10. Jugend- Sie ziehen nicht nur keine Folgerungen aus dem hilfetag. Wenn Sie sich das Programm ansehen, liebe Bericht, Sie tun alles, damit sich die Situation für die Kolleginnen und Kollegen, dann können Sie sehen, Jugendlichen im Osten durch Ihre aktuelle Politik, was sinnvoll und vernünftig ist und was im Interesse durch das, was Sie im Kürzungspaket als sogenannte der Jugend und ihrer Lebenschancen, ihrer sozialen Stabilisierung vorschlagen, noch verschärft. Das und beruflichen Perspektiven und ihrer gesellschaft- Signal, das Sie aussenden, ist verheerend. Statt zu lichen und politischen Orientierung möglich sein investieren und zu stabilisieren, bauen Sie ab. Sie be- sollte. lasten nicht nur die jungen wie die älteren Menschen Sie sollten auch erkennen, wie wichtig solche in den Familien; Sie treiben durch Ihre Politik einen jugendpolitischen Initiativen zum Erhalt unserer Keil zwischen die Generationen, statt die Solidarität demokratischen Ordnung sind. Wie sollen sich die zwischen Alten und Jungen zu fördern. Jugendlichen mit der Demokratie, ihren Werten und (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne ihren Spielregeln identifizieren? Sie höhlen durch ten der PDS) Ihre Nichtpolitik für Jugendliche das Vertrauen in die Demokratie aus. Ich möchte das gerade heute Gefragt ist eine Arbeitsmarktoffensive für junge betonen, an dem Tag, an dem vor genau 47 Jahren Leute. Die Frau Ministerin hat hier festgestellt, daß unsere freiheitlich- demokratische Grundordnung das duale System gut und förderungswürdig ist. festgeschrieben wurde, zu der sich auch die Jugend- Auch ich sage: Es ist gut - aber mit Sicherheit nur für lichen im Osten Deutschlands bekennen und weiter- die Jugendlichen, die in diesem dualen System einen hin bekennen wollen. Platz bekommen. Was tun Sie denn? Sie nehmen älteren Frauen die Chance, mit 60 Jahren in die Wie wertvoll für dieses Land fühlen sich Jugendli- Rente zu gehen. Damit nehmen Sie den jungen Leu- che aber, wenn sie ohne Lehrstelle dastehen oder ten die Chance auf einen Arbeitsplatz. nach der Ausbildung in die Arbeitslosigkeit entlas- sen werden und noch etwas später als Sozialhilfe- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne empfänger am Rande dieser Gesellschaft stehen? Ge- ten der PDS) rade im Osten Deutschlands entwickelt sich die Aus- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996 9409

Christel Hanewinckel bildungsplatz- und Arbeitsmarktsituation für junge Neunte Jugendbericht stellt diese Forderung mit in Frauen und Männer geradezu erschreckend. Trotz al- das Zentrum der politischen Veränderung. ler bisherigen Versprechen und Appelle klafft in den Fehlanzeige aber auch bei der Bekämpfung der neuen Bundesländern in diesem Jahr bei den Ausbil- sozialen Ursachen der Jugendkriminalität, und Fehl- dungsplätzen eine riesige Angebotslücke. anzeige bei der Bekämpfung von Kinderarmut und Ich teile Ihr Vertrauen nicht, Frau Ministerin Nolte, Kinderobdachlosigkeit. Fehlanzeige auch bei der daß diese Lücke gefüllt wird. Ich finde es fast infam, Verringerung der Zahl der Kinder in der Sozialhilfe. wenn Sie sagen, jeder ausbildungswillige Jugendli- Diese Zahl wird sich bei dem, was Sie vorhaben, ver- che bekomme einen Ausbildungsplatz. Im letzten mutlich noch erhöhen. Jahr ist das auch gesagt worden, aber wir können Liebe Kolleginnen und Kollegen, die SPD und nicht feststellen, daß jeder ausbildungswillige Bündnis 90/Die Grünen haben einen Antrag einge- Jugendliche einen Platz bekommen hat. bracht, der die Forderungen des Neunten Jugendbe- Ich komme zu den aktuellen Zahlen für dieses richts und die Forderungen dieser Zeit aufnimmt. Jahr. Im Jahr 1996 fehlen laut Minister Rüttgers Stimmen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von 12 000 Lehrstellen. Der Präsident der Bundesanstalt der Koalition, diesem Antrag zu, damit jugendpoli- für Arbeit, Herr Jagoda, spricht von einem Mangel tisch in Deutschland endlich ein Licht am Horizont an Lehrstellen in einer Größenordnung von rund erscheint! 20 000. Ich möchte hier nur einige Punkte aus diesem An- trag nennen. Es ist dringend notwendig - Punkt 5 -, Allein in Sachsen-Anhalt gab es im letzten Monat Konzepte zur Verbesserung am Ausbildungs- und fast 30 000 Bewerber für Ausbildungsplätze. Das sind Arbeitsmarkt zu entwickeln, insbesondere im Hin- rund 9 Prozent mehr als im Vorjahr. Es gibt aber nicht blick auf Mädchen und junge Frauen, sowie- Punkt 6 einmal 10 000 Lehrstellen. Im Vergleich zum Vorjahr zu entwickeln,-Förderprogramme für junge Frauen sind in diesem Jahr 6 Prozent weniger Lehrstellen im durch die Ausbildungsplätze in „Berufen mit Zu- Angebot. Dieses Beispiel gilt auch für die anderen kunft" bereitgestellt werden. Sie wissen genausogut ostdeutschen Bundesländer. Die Zahlen habe ich mir wie ich, daß junge Frauen - und das nicht nur im nicht ausgedacht; Sie können sie bei der Bundesan- Osten Deutschlands, sondern auch in den westlichen stalt für Arbeit und bei den jeweiligen Landesarbeits- Bundesländern - nicht nur daran interessie rt sind, ämtern entsprechend abfragen. sondern es auch wirklich wollen, nämlich Beruf, Aus- Die Arbeitslosenquote liegt bei den Unter-25-Jähri- bildung, Familie und das, was ihnen für ihre eigene gen derzeit bei knapp 16 Prozent. Das müssen Sie Lebensgestaltung vorschwebt, unter einen Hut zu sich einmal verdeutlichen und mit dem vergleichen, bekommen. Dafür tun Sie nichts. Im Gegenteil, Ihr was Sie für junge Leute zu tun gedenken. Es reicht Programm dient dazu, junge Frauen in die Arbeitslo- hinten und vorn nicht aus. sigkeit bzw. zurück an Heim und Herd zu schicken. Ich weise noch einmal darauf hin, daß sich der Ein letzter Punkt - dazu liegt von Ihnen nichts vor -: - Mangel an Lehrstellen durch die beschleunigte Her- Im Kinder- und Jugendplan ist ein Schwerpunkt aufsetzung des Renteneintrittsalters für Frauen zu- „Politische Partizipation von Jugendlichen" enthal- sätzlich verschärfen wird. Darauf weist auch der ten. Das gilt es nicht nur als Schwerpunkt zu betrei- Deutsche Industrie- und Handelstag hin: Durch die ben, sondern dafür muß in diesem Hause auch etwas Rentenbeschlüsse der Bundesregierung werde der getan werden. Ich rufe Sie von dieser Stelle aus auf, notwendige Generationenwechsel in den Firmen ver- mit uns zusammen entsprechende gesetzliche Rege- zögert. lungen einzubringen, damit die Partizipation, die Teilhabe von Kindern und Jugendlichen an der poli- Ich fasse die „Glanzleistungen" der Bundesregie- tischen Gestaltung dieses Landes anders als bisher rung in puncto Jugendpolitik kurz zusammen: Fehl- möglich wird. anzeige bei der Schaffung von mehr Ausbildungs- Vielen Dank. plätzen; Fehlanzeige bei der Schaffung von mehr Ar- beitsplätzen für junge Leute; Fehlanzeige bei der Re- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne form der Ausbildungsfinanzierung; Fehlanzeige bei ten der PDS) der besonderen Förderung von Mädchen und jungen Frauen; Fehlanzeige aber auch bei der Stärkung der Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat Jugendarbeit und der Förderung der Jugendhilfe. jetzt der Kollege Matthias Berninger. Ihr Hinweis auf die entsprechenden Maßnahmen nach § 249h AFG oder die ABM-Stellen ist die eine Matthias Berninger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Seite. Auf der anderen Seite wird etwas darüber aus- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn gesagt, daß Kontinuität in der Jugendarbeit in den Sie das nächste Mal in Rostock vorbeikommen, dann neuen Ländern nicht gegeben ist. Sie wissen genau schauen Sie sich mal in Dierkow die Situation eines so gut wie ich, Frau Nolte, daß es schön wäre, wenn Stadtteils an, der die zweifelhafte Ehre hat, der jüng- das KJHG tatsächlich Pflichtaufgaben umfassen ste Stadtteil dieser Republik zu sein. Sie finden do rt würde. An dieser Stelle wäre eine Weiterentwick- Plattenbauten, bei denen am Ende der DDR-Zeit die lung des KJHG dringend erforderlich. Dann könnte Fugen vergessen worden sind. Sie finden einen sich der Bund in Zukunft nicht immer damit heraus- Stadtteil, der für wesentlich weniger Autos geplant reden, daß es vorwiegend Ländersache ist. Der worden ist. Die Folge davon ist, daß alle Freiflächen 9410 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996

Matthias Berninger in diesem Stadtteil mit Automobilen zugestellt sind. Sie haben den Bereich Arbeitmarktpolitik ange- Sie finden praktisch keine Freizeiteinrichtungen. Sie sprochen. Es ist richtig und ein großer Erfolg, daß finden statt dessen einen Jugendklub, der so aus- man einen sehr großen Teil des Personals im Jugend- sieht, wie er überall in der ehemaligen DDR aussah. bereich in den neuen Bundesländern über aktive Ar- Dort gibt es zwei Leute, die sich um Jugendarbeit beitsmarktpolitik finanzieren konnte. Am Anfang kümmern. Und Sie finden eine Schule mit sehr enga- war das eine sehr pragmatische Lösung. In den letz- gierten Lehrern und sehr engagierten Eltern, eine ten Jahren zeigte sich aber, daß mangelnde Kontinui- Schule, in der nicht einmal kaputte Fenster repariert tät und das Problem, daß nicht die Qualifzierung des werden können. Personals bei der Stellenbesetzung im Vordergrund stand, sondern vielmehr die für die aktive Arbeits- Ich glaube, daß es ein großer Fehler wäre, die marktpolitik vorgesehene Personengruppe, dazu ge- Situation der Jugend in der ehemaligen DDR überall führt haben, daß im Jugendbereich leider an vielen nur mit solchen Beispielen zu beschreiben. Ich per- Stellen nicht das qualifizierte Personal vorhanden sönlich freue mich darüber, daß es an vielen Stellen war. gelungen ist, Fortschritte zu erzielen, und daß an vie- len Stellen für junge Leute Perspektiven geschaffen Wenn das, was im Programm für mehr Wachstum worden sind. Ich freue mich vor allem darüber, daß und Beschäftigung steht, Realität wird, dann können junge Leute nach wie vor optimistisch in die Zukunft wir uns von arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen in blicken, weil ich glaube, daß dieser Optimismus die- Zukunft verabschieden, und zwar ersatzlos. Wenn sem Land noch einiges bringen kann, wenn man ihn die Bundesregierung weiterhin sagt, die Kommunen nicht vollends zuschüttet. und die Länder seien in erster Linie dafür verantwort- lich, das Personal bereitzustellen, dann sage ich Ih- Ich warne aber davor, solange es Beispiele wie nen: Dann wird das, was ich in meiner ersten Rede Dierkow gibt, sich hinzustellen und Schönfärberei zu zum Neunten Jugendbericht prophezeit habe, wirk- betreiben. Solche Schönfärberei besteht zum Beispiel lich eintreten. Dann werden wir im Jugendbereich darin, Statistiken vorzulesen, wieviel Prozent von Ju- sozialpolitische Ruinen hinterlassen. gendlichen optimistisch in die Zukunft blicken. Diese Ein weiteres Beispiel macht noch sehr viel deutli- Statistiken taugen in Dierkow so gut wie überhaupt cher, wie die konkrete Politik beim Programm für nichts. Die Leute, denen sie do rt vorgelegt werden, sagen zu Recht, das sei die Art von Politik, die sie mehr Wachstum und Beschäftigung aussieht. In die- überhaupt nicht interessiere. sem Programm finden Sie - auch das wird morgen diskutiert - eine neue Maßnahme im Gesundheitsbe- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN reich, die eine bestimmte Leistung, nämlich den und bei der SPD sowie bei Abgeordneten Zahnersatz für Personen, die nach 1979 geboren der PDS) wurden, nicht mehr in der Form gewährleistet wie für die, die hier sitzen, die nämlich bereits vor 1979 Wir haben den Jugendbericht ein Jahr lang disku- geboren wurden. Die Leistungen für den Zahnersatz tiert. Frau Hanewinckel hat darauf hingewiesen, daß werden für Menschen, die nach 1979 geboren wur- wir einen Entschließungsantrag vorgelegt haben, der den, in Zukunft gestrichen. Wenn sich diese Form auf das, was die Opposition üblicherweise macht, von Konsolidierungspolitik - das müssen Sie sich ein- nämlich die Regierung in deutlicher Form anzugrei- mal vor Augen führen - durchsetzen wird, dann heißt fen, vollends verzichtet hat. Wir haben auch auf Vor- das: Wir alle wahren unsere Besitzstände, wir alle schläge verzichtet, die Millionen D-Mark kosten. Wir sehen zu, daß wir das, woran wir uns gewöhnt ha- haben ein paar kleine, pragmatische Vorschläge ge- ben, in irgendeiner Form erhalten, sagen aber gleich- macht, mit denen wir zumindest ein wenig hätten er- zeitig der jungen Generation: Für euch ist das leider reichen können. Alle diese Vorschläge haben Sie, nicht mehr möglich. liebe Kolleginnen und Kollegen der CDU-Fraktion, Wenn Sie sich mit jungen Leuten unterhalten, der CSU-Fraktion und der F.D.P.-Fraktion, ausge- dann stellen Sie fest: Sie wissen oder spüren, daß der schlagen. Wohlstandzenit in diesem Land überschritten ist. Es Nach einjähriger Beratung und mit Blick darauf, ist ihnen klar, daß sich die Sozial- und Wohlfahrts- wie die Situation in den neuen Ländern nach wie vor politik in dem Maße, in dem man sie in den späten ist, und in dem Wissen, daß do rt noch vieles getan 70ern, den frühen 80ern und auch noch bis zur deut- werden muß, ist das ein sehr trauriges Ergebnis. schen Einigung in den alten Ländern machen Noch trauriger wird es, wenn man sich vor Augen konnte, in Zukunft im Zuge der Globalisierung nicht führt, daß - auch das ist ein Problem - zwar eine mehr verwirklichen läßt. ganze Menge an Programmen vorhanden war, daß Wenn wir aber bezüglich unserer eigenen Privile- diese Programme aber alle abgelaufen sind. gien träge sind und statt dessen systematisch die Per- spektiven der Kinder und Jugendlichen zum Opfer Frau Ministerin Nolte, Sie haben gesagt: Das Pro- unserer Sparpolitik machen und uns zynischerweise gramm für mehr Wachstum und Beschäftigung ist ein aufschwingen und sagen, das ist Haushaltskonsoli- Beispiel für konkrete Politik. Es zeigt, wie die Bun- dierung, wir hinterlassen denjenigen, denen wir gar desregierung mit der jungen Generation umgehen nichts hinterlassen, schließlich auch keine Schulden, möchte. - Ich gebe Ihnen zwar völlig recht, glaube dann sind wir auf dem Holzweg. jedoch, daß Ihre optimistische Einschätzung des Pro- gramms für mehr Wachstum und Beschäftigung Ich möchte Sie um eines bitten: Wenn wir schon ziemlich daneben ist. Konsolidierungspolitik in diesem Land betreiben Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996 9411 Matthias Berninger müssen, dann sollten wir sie nicht - ich weiß, daß nur bleme, die unsere Jugend hat, leider nur selten, da- wenige junge Leute wählen gehen und daß junge gegen über die Probleme, die sie macht, um so häufi- Leute keine einflußreiche Personengruppe in diesem ger geredet wird. Gerade auch verstärkt durch Me- Land sind - auf dem Rücken junger Menschen aus- dien werden Kinder und Jugendliche häufig als zum tragen. Wir sollten sie statt dessen auf dem Rücken Teil ordnungs- und ruhestörende Problemgruppe derer betreiben, die das auch leisten können. thematisiert. Manche Streitigkeiten, nicht nur im Osten, sondern auch in westdeutschen Gemeinden, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN machen das deutlich, wenn es um Kindergä rten oder sowie bei Abgeordneten der SPD und der um andere Einrichtungen für Jugendliche geht, wo- PDS) bei dann Nachbarn sagen, das ist eine störende Pro- Die Situation im Ausbildungsbereich, die bereits blemgruppe. Man bezeichnet sie aber auch als Drük- mehrfach angesprochen worden ist, sollte uns alle keberger, als an gesellschaftlichen und politischen dazu bringen, in diesem Jahr konkrete Maßnahmen Vorgängen nicht Interessie rte, und man belegt sie zu ihrer Verbesserung folgen zu lassen. Es ist richtig, zunehmend mit den Adjektiven „kriminell", „ge- daß sich die Bundesregierung über Jahre hinweg waltbereit" und „gewalttätig". darum bemüht hat, daß es genügend Ausbildungs- Meine Damen und Herren, ich bin der Meinung, plätze gibt. Das will ich überhaupt nicht bestreiten. daß wir in einer jugendpolitischen Debatte auch ein- Wenn aber die Indust rie Jahr für Jahr nur Verspre- mal eine Lanze für die Jugend und für die Kinder chungen macht, die sie nicht einhält, und dies nur brechen müssen und daß wir einmal deutlich ma- durch schönfärberische Rechnungen zu kaschieren chen müssen, daß viele dieser Behauptungen und versucht, wenn sich eine solche Indust rie auch in die- Vorurteile überhaupt nicht zutreffen. sem Jahr nicht an ihre Versprechungen hält und Aus- bildungsplätze nicht bereitstellt, dann ist Handeln (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) von dieser Stelle aus geboten. Wenn sich ein großer Teil der Jugendlichen nicht für Dazu möchte ich Sie auffordern, denn wenn wir den Militärdienst, sondern für den sozialen Dienst junge Leute noch nicht einmal dazu befähigen, die entscheidet, dann doch nicht unbedingt nur deshalb, Qualifikation zu erlangen, um Probleme zu lösen und weil sie einen bequemeren Weg gehen wollen, son für uns irgendwann einmal die Rente zu zahlen - da dern weil sie dort ihre Verantwortung in der Gesell- schließe ich mich übrigens ein, weil ich glaube, daß schaft wahrnehmen wollen. Und wenn sie nicht so meine Generation noch nicht die volle Härte der vor- politikinteressiert sind, wie wir uns das wünschen zunehmenden Einschnitte im Sozialbereich zu spü- würden - was aber genau übereinstimmt mit dem ren bekommt -, wenn wir das nicht hinkriegen, Grad des Interesses der Erwachsenen -, dann liegt meine Damen und Herren, dann gute Nacht! das nicht unbedingt nur an den Kindern und Jugend- lichen, sondern vielleicht auch an der Politik und an (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Politikern. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das- Wort hat jetzt die Kollegin Sabine Leutheusser-Schnarrenber- Ich bin also der Meinung, wir sollten in einer sol- ger. chen Debatte versuchen, mit diesen Vorurteilen et- was aufzuräumen. Das gilt auch für das Vorurteil, Ju- Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (F.D.P.): gendliche seien zunehmend kriminell und gewalttä- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sowohl tig. Denn wenn man sich die Statistiken, immer auf in den bisherigen Beratungen des Deutschen Bun- bestimmte Personen- und Altersgruppen bezogen, destages und seiner Ausschüsse wie auch in der ansieht, dann muß man zur Kenntnis nehmen, daß Anhörung ist anerkannt worden, daß der Neunte die Entwicklung im wesentlichen konstant und Jugendbericht in verdienstvoller Ausführlichkeit die gleich geblieben ist, und das gilt auch für Kinder bis noch heute aktuellen und ernsten Probleme darstellt zum 14. Lebensjahr, die noch nicht strafmündig sind. und analysiert, vor denen Jugendliche und Kinder in Von denen sind nämlich 98 Prozent nicht kriminell den ostdeutschen Ländern stehen. Bei aller Kritik, auffällig. Auch das sollte man hier einmal sagen, weil Herr Berninger, bedanke ich mich doch dafür, daß häufig viele Berichte und Behauptungen einen ganz Sie in Ihren Ausführungen auch zum Ausdruck ge- anderen Eindruck hervorrufen. bracht haben, daß sich seit der deutschen Einheit vie- (Beifall bei der F.D.P.) les wirklich verbessert hat, gerade was Kinder und Jugendliche in den ostdeutschen Ländern angeht. Eine Besonderheit möchte ich erwähnen, nämlich die unterschiedliche Entwicklung bei delinquentem (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Verhalten von Kindern und Jugendlichen in den ost- Das heißt nicht, daß man die Probleme, die nach wie deutschen und in den westdeutschen Bundeslän- vor bestehen, nicht wahrnehmen möchte, aber man dern. In den ostdeutschen Bundesländern ist leider muß einfach auch einmal auf positive Entwicklungen die Kriminalitätsbelastungsrate höher als in den hinweisen. Das haben Sie - anders als Ihre Vorred- westdeutschen Bundesländern. Ich glaube, man darf nerin - getan. es sich hier nicht zu leicht machen, wenn man nach den Ursachen sucht. Aber zumindest ist wohl ein Ich denke, daß die fundierte Lageanalyse des Zusammenhang herzustellen mit dem Umstand, wie Neunten Jugendberichts gerade deshalb hervorzu- weit die Integration, auch die soziale Integration, von heben ist, weil in der Öffentlichkeit über die Pro Jugendlichen in den ostdeutschen Bundesländern 9412 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger vorangeschritten ist. Daran fehlt es in gewissen Be- doch nicht, weil man vielleicht im Hinterkopf hat, das reichen. Die Situation hat sich hier verschlechtert. Wahlalter auf 16 Jahre herabzusetzen. Das wissen wir alle. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Frau ten der CDU/CSU) Nolte hat eben noch das Gegenteil zu Das geht an den Problemen, die wir haben, vorbei. erzählen versucht!) Außerdem halte ich es in der Sache für nicht richtig. Wir reden hier über Jugendarbeitslosigkeit, über Im Zusammenhang mit der Integration von Ju- Armut unter Jugendlichen und darüber, daß gerade gendlichen möchte ich noch ein Wo rt zu der schwie- in den ostdeutschen Bundesländern noch Ausbil- rigen Situation von ausländischen Jugendlichen sa- dungsplätze für Jugendliche geschaffen werden gen. Natürlich muß man gerade in den ostdeutschen müssen. Heute morgen haben wir vier Stunden über Bundesländern helfen, sie in Deutschland zu inte- ein Programm für mehr Wachstum und Beschäfti- grieren. Aber - und damit schließe ich in dieser De- gung debattiert, an dem man sehr wohl einzelne batte; Sie sehen, man kann einen weiten Bogen Punkte kritisieren kann, aber das in die richtige Rich- spannen - zu diesen Hilfen zur Eingliederung, zur In- tung weist. tegration gehört natürlich auch - das adressiere ich eher an die Mitte dieses Hauses - eine Änderung des (Beifall des Abg. Dr. Wolfgang Weng [Ger Staatsangehörigkeitsrechts. lingen] [F.D.P.]) (Dr. Edith Niehuis [SPD]: Sehr wahr! Da hat Denn wenn wir nicht ansetzen, den ersten Arbeits- sie wieder recht!) markt mit allen Möglichkeiten zu stärken, brauchen Es ist eben wichtig, daß sie von Geburt an Deutsche wir uns nicht mehr viele Gedanken zu machen über sind. Maßnahmen, die nur den zweiten Arbeitsmarkt be- treffen oder nur kompensatorische Wirkungen haben Vielen Dank. können. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU - ten der CDU/CSU) Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das ist doch Gesundbeten, was Sie da machen!) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt die Abgeordnete Rosel Neuhäuser. - Das ist kein Gesundbeten. Ich mache einfach reali- stisch deutlich, wo heute die Schwerpunkte der Poli- tik, auch der Bundespolitik, liegen müssen. Rosel Neuhäuser (PDS): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Heute beschäftigt sich das Parla- (Dr. Edith Niehuis [SPD]: Wir sprechen uns ment das letzte Mal mit dem Neunten Jugendbericht, wieder!) der sich mit der Lage der Kinder und Jugendlichen, insbesondere in den neuen Bundesländern, befaßt Vieles von dem, was Sie in Ihrem Antrag- vorschla- hat. Es scheint, daß man zu diesem Thema nicht gen, richtet sich eigentlich nicht an den Bund, son- mehr Zeit als eine Stunde benötigt, um über die wirk- dern an Länder und Kommunen, und vieles ist im lich brennenden Probleme im Kinder- und Jugendbe- Kern bestimmt hilfreich und sinnvoll. Aber in Zeiten, reich zu diskutieren. Demgegenüber haben wir in ei- in denen alle öffentlichen Haushalte - die der Kom- ner der nächsten Debattenrunden Zeit, 90 Minuten munen, der Länder und des Bundes - nicht nur ange- über das sicher ebenfalls durchaus bedeutsame spannt sind, sondern leere Kassen aufweisen, müs- Thema BSE zu debattieren. sen wir uns doch fragen, was möglich ist. Vieles, was uns liebgeworden ist, können wir, auch wenn wir es Sowohl während der Debatten um die Nachtrags- für notwendig halten, eben nicht fortsetzen. Wir kön- haushalte 1996 in den Ländern und Kommunen als nen auch manche wünschenswerten Sonderpro- auch gegenwärtig erreicht uns sehr viel Post. Ich gramme nicht weiterführen und können uns manche habe mich in den vergangenen Wochen sehr oft in Projekte, die in Zeiten des Wohlstandes möglich wa- verschiedenen Orten umgesehen. Vereine und Ver- ren, nicht mehr leisten. Das gehört zur Ehrlichkeit ei- bände schildern uns ihre konkrete Situation vor O rt, ner Debatte dazu, von Sonneberg bis Rostock, von Nürnberg bis Lü- beck, und fordern uns Politikerinnen und Politiker (Beifall bei der F.D.P.) auf, zu verhindern, daß unter der Bezeichnung Spa- ren ein Kahlschlag in der Kinder- und Jugendarbeit wenn man sich mit der Situation von Kindern und Ju- stattfindet. gendlichen und damit, was für sie getan werden kann, beschäftigt. Einige Fakten dazu möchte ich kurz anreißen. So schätzt zum Beispiel der Deutsche Kinderschutz- Daß Sie, Frau Hanewinckel, im Bereich der politi- bund, daß 1 Million Kinder von Sozialhilfe leben. Al- schen Partizipation nach Gesetzen rufen, paßt, so lein im Freistaat Sachsen betrifft das mehr als 40 000 muß ich sagen, überhaupt nicht in die Debatte. Dar- Kinder unter 15 Jahren; davon sind 24 000 Kinder auf hinzuwirken, daß man Jugendliche vor Ort für jünger als 7 Jahre. Immer mehr Familien können die Politik interessie rt , ist richtig. Auch daß die Abgeord- notwendige Sozialisierung ihrer Kinder aus eigener neten zu Hause viel mehr tun können - zum Beispiel Kraft nicht mehr leisten. Viele Jugendliche verlieren Diskussionen an Schulen führen -, ist richtig, aber vor dem Hintergrund dieser gravierenden gesell- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996 9413 Rosel Neuhäuser schaftlichen Problemlagen den Bezug zu ihrer Um- halb kürzester Zeit an eine Vielzahl von Trägern feste welt, vordergründig zur Schule und zur Ausbildung. Zusagen zur Komplementärfinanzierung gemacht Man muß damit rechnen, daß viele lebenslang zum werden können, wird in absehbarer Zeit die erste Sozialhilfeempfänger werden. Ein Ausbruch aus die- Kündigungswelle Jugendclubs, Verbände und Ver- sem Teufelskreis ist fast unmöglich. Auch deshalb eine erreichen. sind solche Kinder und Jugendlichen stärker in Ge- fahr, in gewalttätige Cliquen zu geraten oder in die Ich darf darauf hinweisen, daß wir vor genau die- Kriminalität abzugleiten. Die Tendenz der Kinder- ser Entwicklung vor einem Jahr schon gewarnt ha- und Jugendkriminalität ist ja, wie der Bundesmi- ben und daß sich auch die Sachverständigen in der nister in der letzten Statistik veröffentlichte, stei- Anhörung zum Jugendbericht quer durch alle Par- gend. teien kritisch demgegenüber geäußert haben. Wenn Sie, Frau Nolte, wirk lich zu Ihrem Wo rt stehen, dann Die Berichte zur Jugendarbeitslosigkeit - darüber setzen Sie sich endlich dafür ein, daß der Kinder- und ist jetzt schon mehrfach diskutiert worden - schätzen Jugendbereich für Einsparungen und Kürzungen ein, daß die Zahl der Mädchen und Jungen zwischen eine Tabuzone ist, damit hier nicht auf Pump gelebt 15 und 20 Jahren, die keine Arbeit und auch keinen werden muß, wie Sie es vorhin in Ihren Schlußbemer- Ausbildungsplatz haben, der Einwohnerzahl von kungen gesagt haben. Hoyerswerda oder Nordhausen bzw. von Hildesheim oder Kaiserslautern entspricht. Das heißt, daß zirka Die Forderung, das finanzielle Volumen des Kin- 105 000 junge Leute am Anfang ihres Arbeitslebens der- und Jugendplanes des Bundes entsprechend ohne Job dastehen. Statt vom selbsterarbeiteten Geld den Anforderungen zu steigern, wie es im Entschlie- leben sie von „Stütze" oder Sozialhilfe. ßungsantrag von SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN steht, findet unsere volle Unterstützung. Ich frage mich an dieser Stelle wirklich, meine sehr verehrten Damen und Herren: Was um alles in der Welt unternimmt die Bundesregierung gegen diese Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Frau Kollegin, katastrophale Situation? Das Sparpaket, über das seit Ihre Redezeit ist zu Ende. Anfang Mai in diesem Hause debattiert wird - heute vormittag haben wir es erneut erleben können -, ist Rosel Neuhäuser (PDS): Ich möchte nur noch kurz mit Sicherheit keine Antwort auf diese Probleme, unsere Forderungen wiederholen. Wir fordern die sondern wird die extreme soziale Schieflage in dieser Aufhebung der Jährlichkeit der Finanzierung im Kin- Gesellschaft noch weiter zuspitzen. der- und Jugendbereich, die Einführung eigener, un- befristeter Haushaltstitel als Verbundfinanzierung, Auch ständig aufgelegte Modellprojekte und Son- den Übergang von Formen der Arbeitsförderung zu derprogramme, die sicherlich einmal wichtig waren, einer Regelfinanzierung und kontinuierlichen Fach- bieten für diese Probleme keine Lösung auf Dauer. kraftförderung, damit eine stetige Jugendarbeit auf Wortreiche Debatten, Sonntagsreden oder auch der Basis einer lückenlosen Finanzierung gestaltet Hochglanzbroschüren scheinen mir kaum geeignet werden kann. zu sein, daran etwas zu ändern. Aktives politisches Handeln der Familienministerin, die noch im Okto- (Beifall bei der PDS) ber letzten Jahres die Zukunft der Kinder als Maß- stab einer verantwortlichen Politik bezeichnet hatte, Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat läßt bis heute auf sich warten. jetzt der Kollege Johannes Singhammer. Auch in der Jugendhilfe wird deutlich, mit welcher „Ernsthaftigkeit" die Bundesregierung sich einer ge- Johannes Singhammer (CDU/CSU): Frau Präsi- setzlich verankerten Verpflichtung stellt. Bund und dentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Der Länder ziehen sich zunehmend aus ihrer Verantwor- Neunte Jugendbericht hat auf mehr als 700 Seiten tung zurück und übertragen immer mehr Aufgaben die Befindlichkeit der Jugendlichen in den neuen auf die kommunale Ebene, obwohl sich doch nun Bundesländern sozusagen von Kopf bis Fuß mit gro- wirklich niemand über die finanziellen Möglichkei- ßer Gründlichkeit und Präzision vermessen. Die ten der meisten Kommunen irgendwelchen Illusio- überwiegende Zahl der Daten wurde 1991/92 erho- nen hinzugeben braucht. Ich nenne ein solches poli- ben. Drei Jahre nach der deutschen Einheit wurde tisches Handeln zynisch und auch verantwortungs- der Bericht fertiggestellt. Über sechs Jahre sind ver- los. strichen, seit in der Nacht des 9. November 1989 erst- mals die Jugendlichen von Ost nach West frei zuein- Sie müssen sich einmal vor Augen führen, wie sich ander kommen konnten. dies konkret auswirkt. Ich ziehe Beispiele aus Thü- ringen heran: Der Jugendhilfeausschuß des Unstrut- Wie war die Ausgangsposition 1990? Der real exi- Hainich-Kreises hat festgestellt, daß ab 1996 ein Drit- stierende Sozialismus war am Ende. Weder für Er- tel der über 100 Stellen im Jugendhilfebereich in die- wachsene noch Jugendliche zeichnete sich eine Per- sem Kreis nicht mehr finanziert werden kann. Der spektive ab. Riesige Vergiftungen der Umwelt konn- Saale-Holzland-Kreis hat darüber beraten, den An- ten nicht länger verborgen gehalten werden. Neben teil der Jugendhilfe am Kreishaushalt auf kaum zu den Schäden an Gewässern und Wäldern wurden fassende 0,2 Prozent zu senken. Der Landesjugend- auch die Verwundungen in den Seelen offenkundig. ring Thüringen geht davon aus, daß von den zur Zeit Das Vertrauen einer großen Zahl junger Menschen etwa 2 400 AFG-Maßnahmen in Thüringen ein Drit- war zerstört. Es galt, die Nachfolgelasten in beträcht- tel im Jugendbereich gefährdet ist. Wenn nicht inner lichem Ausmaß eines von Grund auf verfehlten Sy- 9414 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996

Johannes Singhammer stems zu beseitigen. Der Nobelpreisträger Alexander sparen" höre: Was ist denn das Gegenteil von kaputt- Solschenizyn hat sich im Jahre 1990 zu diesem epo- sparen? Das wäre dann wohl gesundschulden. Das chalen Systemwechsel zu Wo rt gemeldet. Aus sei- kann wohl nicht der richtige Weg sein. nem damaligen Exil im amerikanischen Vermont warnte er, die Bewältigung der Nachfolgelasten des (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - real existierenden Sozialismus geringzuschätzen, in- Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Spre dem er schrieb: Wie können wir uns davor retten, chen Sie erst einmal mit Waigel!) von seinen Trümmern erschlagen zu werden? Die Bundesregierung hat das Notwendige und (Dr. Edith Niehuis [SPD]: Verfehlen Sie bloß Richtige getan. Auch der Bundesrat, dessen Mehr- nicht das Thema!) heit Sie genau kennen, hat dies vor wenigen Mona- - Ich komme schon dazu. ten in seiner Sitzung am 3. November honoriert. Die Beschlußempfehlung des Jugendausschusses lautet: Den Jugendlichen in den neuen Bundesländern wurde seither eine Menge zugemutet: der abrupte Der Bundesrat teilt die Auffassung des Berichts Übergang von Gängelung und Kommandowirtschaft der Bundesregierung, daß das Grundgefühl der in eine neue, freiheitliche Gesellschafts- und Wirt meisten Menschen in den neuen Ländern von po- -schaftsstruktur; die Konfrontation mit einer sozialen sitiven persönlichen Zukunftserwartungen ge- Marktwirtschaft, die sich selbst im Umbau und Um- prägt ist. bruch befindet; die Herausforderung der Globalisie- rung der Weltwirtschaft mit allen Auswirkungen und Der Bundesrat stimmt der Einschätzung des Be- Gefährdungen, die der jungen Generation in Ost und richts und der Bundesregierung zu, daß es bis West in gleichem Maß zu schaffen machen; die Not- zum Ausbildungsjahr 1994/95 durch gemein- wendigkeit der Umstellung auf neue Produktionsfor- same Anstrengung gelungen ist, den jungen men und High-Tech-Produkte und die Abwanderung Menschen Ausbildungsplätze in quantitativ aus- von Arbeitsplätzen. reichender Zahl zur Verfügung zu stellen. Niemand hat damit rechnen können, daß dieser (Christel Hanewinckel [SPD]: Das war Epochenwechsel ohne Verwerfungen und ohne Ver- 1994!) unsicherung möglich wäre. Ausdruck dieser Verunsi- cherung sind nicht zuletzt die dramatisch zurückge- - Sie, Frau Hanewinckel, haben gefragt, was die henden Geburtenzahlen, die in vergangenen Debat- Konsequenzen aus diesem Bericht sind. Ich nenne ten immer erwähnt worden sind. Ihnen zwei. Zum einen brauchen wir mehr Arbeits- plätze. Jugendarbeitslosigkeit in Deutschland: 7,2 Pro- Gleichwohl gilt - dies machen der Bericht und zent. Das sind 7,2 Prozent zuviel; aber ich möchte auch weitere Umfragen deutlich -: Die allermeisten auch Vergleichszahlen aus dem europäischen Aus- Jugendlichen der neuen Bundesländer haben die rie- land nennen. Ohne die Schwierigkeiten der deut- sigen ökonomischen und psychologischen Umstel- schen Einheit lag die Jugendarbeitslosigkeit in Bel- lungen gut gemeistert. Diese Leistung der Umstel- - gien nicht bei 7,2 Prozent, sondern bei 20 Prozent, in ist niemandem leichtgefallen. lung und Neufindung Italien nicht bei 20, sondern bei 33 Prozent, in Spa- Um so mehr muß man dieser jungen Generation Re- nien nicht bei 33, sondern bei 42 Prozent. Auch das spekt zollen. Bei allen Schwierigkeiten haben Mies- gehört zu einer gerechten Beurteilung. macherei und Jammerei den Ton nicht angegeben. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - Die entscheidende Konsequenz haben wir mit dem Dr. Edith Niehuis [SPD]: Hätten Sie davon Programm für mehr Wachstum und Beschäftigung einmal gelernt!) gezogen, nicht um des Sparens wi llen, sondern um Arbeitsplätze zu schaffen, wie es heute schon gesagt Ich danke allen, die dazu beigetragen haben: seien worden ist. Dazu gibt es keine Alternative. es Organisationen, Institutionen, seien es engagierte Einzelpersönlichkeiten. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge Die Bundesregierung hat sich von Anfang an vor- ordneten der F.D.P.) behaltlos für die Einheit eingesetzt und ihren Worten Zum anderen ist mit dem Zerfall des kommunisti- auch Taten folgen lassen. Es ist vieles getan worden - schen Systems natürlich auch die Zerbrechlichkeit Sie wissen es, der Bericht führt es aus -, so beispiels- eines künstlich geschaffenen Wertesystems offen- weise bei der Versorgung mit Angeboten der offenen kundig geworden. Viele Jugendliche suchen nach Jugendarbeit usw. Orientierung, und sie spüren, daß eine rein materia- Nun kann man natürlich sagen: Das reicht nicht; es listische Ausrichtung nicht genügt. Ausschließlich muß mehr getan werden. Man kann sagen: Noch hohes Einkommen oder Alleinverwirklichung ohne mehr Maßnahmen zur Eindämmung der Gewaltbe- Rücksicht auf den anderen vermögen eben nicht reitschaft, noch mehr Mittel für Jugendhilfe sind er- sinnstiftend zu wirken. Hilfsbereitschaft, Schutz der forderlich. - Allerdings, fordern allein genügt nicht, Schwächeren, Ehrlichkeit, Fleiß und Toleranz sind und Finanzierungsvorschläge müssen gedeckt sein. vielmehr Grundlagen einer humanen Gesellschaft. Denn die schlimmste Hypothek, die man den Kin Auch das Wort „Leistung" ist in dem Zusammen- dern und Jugendlichen aufbürden kann, ist ein Sack hang am Platz, das viele hier - so hat man manchmal unbezahlter Rechnungen. Wenn ich in diesem Zu- den Eindruck - eine Gänsehaut bekommen läßt. sammenhang immer wieder das Wo rt vom „Kaputt Denn nur wenn die Stärkeren Leistung erbringen, Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996 9415

Johannes Singhammer können die Schwächeren auch unterstützt werden. sität Hamburg haben sogar ergeben, daß allein die Auch das gehört zur vollständigen Wahrheit. Kinder zwischen 6 und 15 Jahren eine effektive Kauf- kraft von 40 Milliarden DM haben, weil sie auch die (Vorsitz : Vizepräsident Dr. Burkhard Kaufentscheidungen ihrer Eltern beeinflussen. Hirsch) An diesem Reichtum aber, liebe Kolleginnen und Meine sehr geehrten Damen und Herren, weil die- Kollegen, haben längst nicht alle den gleichen An- ses Orientierungsbedürfnis vorhanden ist, ist es mei- teil. Hauptschüler, Zugewanderte, Sozialhilfeemp- nes Erachtens der falsche Weg, beispielsweise das fängerinnen und -empfänger bilden das Schlußlicht. Unterrichtsfach LER in Brandenburg einzuführen. Welches Verhältnis sollen Jugendliche zu einem Ge- Diese Feststellung gehört auch hierher. meinwesen entwickeln, das die verehrt, die keine (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das Ausbildungsplätze anbieten, die Arbeitsplätze ab- hat uns gerade noch gefehlt in dieser bauen, und das denen, die ohnehin schon nichts Debatte!) mehr haben, noch erzählt, daß sie dem Staat auf der Tasche liegen und zuviel bekämen. Wenn sich die Kirchen bemühen, ein Orientierungs- angebot zu machen, dann ist es falsch, die Kirchen Wie erleben denn zum Beispiel die Kinder der auszugrenzen. 4 Millionen Arbeitslosen diese Gesellschaft? Sie stel- len fest, daß Jugendzentren geschlossen und die An- (Zuruf von der SPD: Sollen wir das Kruzifix gebote einer Jugendkultur gekürzt werden, daß ihre dort aufhängen?) Eltern ihre Arbeitsplätze verlieren, die Wohnungen Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir wol- immer teurer und unbezahlbar werden. Andere ha- len, daß die junge Generation diese neuen Chancen ben, was sie nie haben werden, fahren, wohin sie nutzt, die sie in einer freien Gesellschaft hat, wir wol- niemals fahren können, und sind, wie sie niemals len sie ermutigen und unterstützen. Die Perspektiven sein werden. Diese schon im Elternhaus benachtei- sind nicht schlecht, sondern gut. ligten Kinder und Jugendlichen erleben heute die Politik als eine Protektionsmaschine, die diejenigen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) hofiert, die durch schlagkräftige Organisationen oder materiell begründeten Einfluß gesellschaftliche Vizepräsident Dr. : Ich erteile der Macht haben. Abgeordneten Ursula Mogg das Wo rt. Frau Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger, Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, daß die Mehr- Ursula Mogg (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolle- zahl unserer Jugendlichen kriminell nicht auffällig ginnen und Kollegen! Es ist sicher eher ein Zufall, ist. Gott sei Dank - dürfen wir sicher feststellen. daß wir unmittelbar nach der Spardebatte des heuti- Trotzdem müssen wir zur Kenntnis nehmen, daß gen Vormittags über Jugendpolitik diskutieren. Sehr Schlagzeilen zu den Kriminalstatistiken feststellen wohl hat das inhaltlich etwas miteinander zu tun. Die müssen, daß immer mehr Kinder „lange Finger" ma- ganze Spardebatte hat eine Menge mit Jugendpolitik- chen. zu tun. Das haben wir nicht nur heute, sondern schon Auch das Deutsche Kinderhilfswerk argumentiert in den vergangenen Jahren gemerkt. Jugendpoliti- in diese Richtung. In über 40 Prozent der Fälle han- sche Haushaltstitel waren nämlich immer die ersten, delt es sich dabei um Diebstahlsdelikte. Das Deut- die dem Rotstift zum Opfer fielen: Kürzungen beim sche Kinderhilfswerk sieht die gestiegene Kinderkri- Kindergeld, beim BAföG, Streit um den Ausbau von daher unter anderem als eine Folge der in Angeboten der Kinderbetreuung. Das sind Stich- minalität unserer Gesellschaft gewachsenen Armut sowie der worte, die in Ihre Richtung weisen. zunehmenden Vernachlässigung der Kinder durch Daran macht sich offensichtlich Ungerechtigkeit Staat und Gesellschaft. fest. Dafür sind Jugendliche sehr sensibel. Glauben (Sabine Leutheusser-Schnarrenberger [F.D.P.]: Sie nicht, daß sie diese nur im Elternhaus und in der 2 Prozent der Unmündigen sind straffällig!) Schule bemerkten. Gesellschaftliche Ungerechtig- keiten werden von Jugendlichen sehr aufmerksam - Richtig. Deshalb habe ich ja auch gesagt, Sie haben registriert. recht, wenn Sie feststellen, daß die Mehrzahl der Kinder und Jugendlichen nicht auffällig wird. Wenn zum Beispiel immer öfter von einer neuen Qualität der Jugendgewalt die Rede ist, dann wird Trotzdem gibt es eine Entwicklung, auf die wir mir niemand ausreden, daß das eine mit dem ande- achten müssen. Über 2,2 Millionen Kinder und Ju- ren etwas zu tun hat. gendliche leben in Haushalten, die von Arbeitslosig- keit betroffen sind, über 1,1 Millionen von regelmäßi- (Beifall bei der SPD und der PDS) ger Hilfe zum Lebensunterhalt. Die Auswirkungen Ihre „schöne neue Welt" forde rt ihren Preis. Vor eini- werden jedoch von der Bundesregierung weitgehend gen Monaten veröffentlichte die „Wirtschaftswoche" ignoriert. Die Lebenserfahrungen der Empfänger von eine Titelstory über „Die Macht der Kids". Die Sozialhilfe und erst recht der betroffenen Kinder sind „Wirtschaftswoche" zitiert Untersuchungen des Insti- der Bundesregierung völlig fremd. Der Mangel an tuts für Jugendforschung. Danach verfügen Kinder Arbeits- und Ausbildungsplätzen wird im Einklang und Jugendliche zwischen 7 und 20 Jahren über mit dem scheinbar unaufhaltsamen Anstieg der all- eine jährliche Kaufkraft von 30 Milliarden DM. Erzie- gemeinen Arbeitslosigkeit auch für Jugendliche im- hungswissenschaftliche Untersuchungen der Univer mer eklatanter. Was nutzt die Feststellung, es wür- 9416 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996

Ursula Mogg den mehr Ausbildungsplätze zur Verfügung .gestellt mehr gerecht, die heute an sie gestellt werden. Sie und das duale System arbeite ganz hervorragend, sind geprägt von anhaltenden Problemen beim Auf- wenn Jugendliche keinen Zugang zu diesem dualen bau und Erhalt funktionsfähiger jugendpolitischer System finden können? Strukturen vor allem in den neuen Bundesländern, von den finanziellen Problemen, denen sich heute Im Februar 1996 waren 530 000 junge Menschen Familien mit mehreren Kindern gegenübersehen - unter 25 Jahren ohne Arbeit. Immer mehr Bet riebe von den Alleinerziehenden wollen wir gar nicht spre- verstehen unter Lean management auch den Ver- chen; sie sind noch stärker betroffen -, und von dem zicht auf Ausbildung. Sie vertrauen offenbar darauf, bereits erwähnten Mangel an Arbeits- und Ausbil- daß ein allgefälliger Staat ihnen diese Kosten durch dungsplätzen. außerbetriebliche Ausbildungsstätten abnimmt. Bereits in den letzten Jahren ist nun wirklich jede In letzter Zeit liest man immer öfter von einer Ver- jugendpolitische Initiative an angeblicher Nichtzu- schiebung der Armut von den Alten zu den Jungen. ständigkeit des Bundes, finanzieller Überforderung Wenn ich manche Berichte lese, wie etwa den der der Länder und allseitig mangelnder Phantasie ge- „Süddeutschen Zeitung" am letzten Wochenende zu scheitert. den Berliner Straßenkindern, dann stelle ich fest, daß es hier nicht nur um materielle, sondern meines Er- Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wir sind achtens auch um seelische Verarmung geht. ein reiches Land. Bei uns haben viele Jugendliche Möglichkeiten, von denen die Generationen vor ih- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne nen nicht einmal geträumt haben. Selbst heute gibt ten der PDS) es nur wenige Länder, in denen sie vergleichbare Möglichkeiten haben. Es geht also nicht darum, die Gleichzeitig erleben wir aber nicht etwa ein Ge- Situation unserer Jugend grau in grau darzustellen. gensteuern des Staates. Vielmehr stellen wir bei Ju- Es geht darum, für die Jugend in unserem Lande gendhilfe und Jugendarbeit ein Stagnieren fest, Chancengleichheit einzufordern. wenn nicht sogar ein langsames Austrocknen. Die politischen Mittel und Maßnahmen, die für Jugendli- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne che in Krisensituationen ein Mindestmaß an sozialer ten der PDS) Stabilität und Integration gewährleisten, verlieren in Zeiten, in denen sie besonders notwendig werden, Wenn es nicht gelingt, den Aspekt der Gerechtig- ihre Effizienz. keit wieder stärker zu betonen und das Gefühl zu vermitteln, daß es bei uns gerecht zugeht, dann wird Ich kenne Ihren Einwand: Die Verantwortung für uns bald der ganze Wohlstand nichts mehr nützen. Jugendpolitik liegt vor allem bei Ländern und Ge- Kinder- und Jugendpolitik ist eine Querschnitts- meinden. Das ist zweifellos richtig. Richtig ist aber auch, daß die zunehmende Verlagerung von Aufga- aufgabe. Wer etwas für Kinder und Jugendliche tun will, muß Arbeitsplätze und Ausbildungsplätze ben vom Bund hin zu den Ländern diese zunehmend schaffen, muß die Umwelt intakt halten, muß bezahl- in eine haushaltspolitische Handlungsunfähigkeit bare Wohnungen anbieten und vieles andere mehr. treibt, die freiwillige Leistungen, die einst- die Gestal- tungskompetenz des föderalistischen Staates und be- Initiativen der Bundesregierung, diese Probleme an- sonders der Gemeinden begründeten, zu einem Lu- zugehen, sind eher spärlich; da wird gespart. Statt dessen wird von Ihnen ständig über die Kosten der xus werden läßt. durch Ihre eigene Unfähigkeit erzeugten Mißstände Richtig ist auch, daß soziale Kürzungsmaßnahmen lamentiert - so auch heute morgen vielfach zu hören. zu einem Ansteigen der Zahl der Fälle von Sozialhil- Tun Sie doch endlich etwas gegen die Ursachen! feberechtigung geführt haben, die vielen Kommunen Das wäre die beste Jugendpolitik. Arbeiten Sie an ei- jede Möglichkeit zu eigenständigen Initiativen ge- ner Politik, die Perspektiven, nicht das Abstellgleis nommen haben. verspricht. Dann werden Sie unsere Unterstützung Die gesamte Jugendpolitik befindet sich in einem haben. Dilemma. Ihre originäre Aufgabe besteht nicht da rin, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne materielle gesellschaftliche Ungleichheiten zu be- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN kämpfen. Wie nur wenige andere Politikbereiche lei- und der PDS) det sie aber an diesen Ungleichheiten. Es ist erst recht nicht Aufgabe der Jugendpolitik, das System der finanziellen Zuweisungen und fachlichen Kom- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Das Wort hat petenzen im föderalen System zu diskutieren. nun der Abgeordnete Kersten Wetzel. Gleichzeitig wird gerade sie in besonderer Weise ge- knebelt und eingeschränkt. Besonders die Jugend- hilfe und die Jugendarbeit freier Träger sehen sich Kersten Wetzel (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr mit Aufgaben konfrontiert, die sie beim besten Wil- Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jugend- len nicht lösen können. politik ist naturgemäß sehr schnellebig. Dies gilt erst recht für die Jugendpolitik in den neuen Bundeslän- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) dern. Hier hat sich in den letzten Jahren eine rasante Entwicklung vollzogen. Bei allen Problemen, die wir Der strukturelle Zuschnitt von Kompetenzen der haben - ich möchte ja nichts schönreden -: Lamentie- Jugendpolitik wird aber den Anforderungen nicht ren hilft uns letztendlich auch nicht weiter. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996 9417

Kersten Wetzel Ich selbst komme aus den neuen Ländern und festgestellt, daß die Kommunen stärker in die Pflicht habe mir nicht nur viele Jugendprojekte angeschaut, genommen werden müssen. Ich zitiere: sondern versuche seit 1990 auch, vieles selbst mit zu initiieren und zu begleiten. Ich kann deshalb aus ei- Von besonderer Bedeutung ist die personelle Ab- gener Anschauung einschätzen, daß wirklich sehr sicherung der Jugendarbeit in den Regionen vieles erreicht ist, was wir an dieser Stelle würdigen durch die örtliche öffentliche Jugendhilfe. Ju- können. gendarbeit muß als präventives Angebot und als Pflichtaufgabe im kommunalpolitischen Handeln (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) erkannt werden. Unser Jugendbericht kann lediglich die Probleme Die Thüringer Landesregierung wird durch das im beim Aufbau der Jugendhilfe, insbesondere in den Haushalt 1996 entwickelte Stabilisierungsprogramm Jahren 1991 bis 1993, untersuchen. So mußten aktu- für Jugendarbeit die Landkreise und kreisfreien elle Entwicklungen leider unberücksichtigt bleiben. Städte entsprechend unterstützen können. Bereits auf der öffentlichen Anhörung vom 21. Juni Sicher entbindet dies alles uns im Bund nicht von letzten Jahres machte das das Expertengremium sehr der Verantwortung. Wir müssen weiterhin spezifisch deutlich. An Hand konkreter Zahlen und eigener Er- die Länder und Kommunen in den neuen Bundeslän- fahrungen konnten gerade die Praktiker aus dem Ju- dern unterstützen: mit weiterentwickelten Modell- gendbereich nachweisen, daß die Entwicklung in projekten, die der sich schnell verändernden Situa- den neuen Bundesländern schon viele Erfolge gezei- tion der Jugendarbeit gerecht werden, mit Projekten, tigt hat. die mit Kommunen und Ländern Hand in Hand ent- So konnte der Vertreter der Thüringer Landesre- wickelt und umgesetzt werden. gierung nachweisen, daß bereits Ende 1994 in Thü- (Zuruf von der SPD: Und die finanzierbar ringen prozentual mehr Mitarbeiter in der Jugend- sind!) hilfe beschäftigt waren als in den alten Bundeslän- dern. Auch gab es do rt zum selben Zeitpunkt einen Neue und vor allem kurze Wege sind heute in der höheren Anteil an Jugendeinrichtungen als in den al- Jugendhilfe gefragter denn je. Geld allein bringt ten Ländern. noch keine neuen Initiativen. Manchmal habe ich den Eindruck, daß die Verwaltung der Jugendarbeit Im Neunten Jugendbericht wurde noch von 1 853 immer besser organisiert und verbürokratisiert wird. Mitarbeitern für die gesamten neuen Bundesländer Die inhaltliche Gestaltung wird nach bestehenden ausgegangen; diese Zahlen stammten aus dem Jahre Förderrichtlinien ausgerichtet oder, wie mir viele Ju- 1991. 1995 aber waren allein im Teilbereich der An- gendhilfe-Mitarbeiter sagen, passend gemacht. Res- stellung über § 249 h des Arbeitsförderungsgesetzes sort- und Richtliniendenken erschweren deshalb oft in Thüringen 2 500 Mitarbeiter beschäftigt. Sie müs- Initiativen von unten oder machen diese gar unmög- sen davon ausgehen, daß wir in Thüringen im Jahr lich. Auch das ist auf unserer öffentlichen Anhörung 1995 wahrscheinlich 3 000 Mitarbeiter in der Jugend- vor allem von den Experten aus der Praxis immer arbeit beschäftigt haben. Die Anzahl der hauptamtli- wieder betont worden. chen Mitarbeiter ist höher als in westlichen Bundes- ländern mit vergleichbarer Bevölkerungsstruktur. Hier, liebe Kolleginnen und Kollegen auch von der Opposition, müssen wir gemeinsam ansetzen; denn (Beifall bei der CDU/CSU) junge engagierte Leute, die mit eigenen Projekten und Ideen totverwaltet werden, unterscheiden in der Bei den Einrichtungen der Jugendarbeit verhält es Regel nicht zwischen SPD- oder CDU-geführter Re- sich ähnlich: Im Jugendbericht wurde für die gesam- gierung in Bund, Ländern und Kommunen. Für sie ten neuen Länder von 490 Einrichtungen der Ju- sind einfach die Politiker schuld oder unfähig. gendarbeit ausgegangen. 1993 gab es aber allein in Thüringen schon 768 solcher Einrichtungen. Ich bin gerne bereit, mir selbst Asche aufs Haupt zu streuen, wenn es darum geht, wie wir gemeinsam Dies, liebe Kolleginnen und Kollegen, muß auch in die alten Zöpfe abschneiden können. Zukunft finanziert werden. Ich bin unserer Ministe- rin sehr dankbar, daß sie die Initiative unterstützt, für Der Dialog mit den jungen Leuten und nicht die unsere Jugendlichen im Bereich des § 249h eine Verhandlung über sie muß Ausgangspunkt für un- sinnvolle Weiterführung zu erreichen. Die Mittel des sere politischen Überlegungen und unsere Unterstüt- Arbeitsförderungsgesetzes, die Personalkosten, müs- zung sein: Dabei geht es uns von der CDU/CSU- sen aber künftig zunehmend von den Ländern und Fraktion, wie gesagt, nicht um Projekte und Finan- Kommunen übernommen werden. Hier müssen vor zierungen um jeden Preis. Wenn in jetzigen Zeiten Ort mehr Prioritäten für Jugendarbeit gesetzt und die Kirchen, Jugendverbände und Jugendgruppen eigentlich Verantwortlichen stärker in die Pflicht ge- junge Leute verlieren und es immer schwieriger nommen werden. wird, mit langjährig bewährten Methoden bei Ju- gendlichen Interesse zu wecken, dann ist es drin- Mit Hilfe der in den letzten Jahren sicher sehr ver- gend notwendig, die Förderung der Jugendarbeit dienstvollen Finanzspritzen und Bundesmodellpro- neu auszurichten und neu zu orientieren, und zwar jekte wie AFT und AgAG kann diese Aufgabe nicht nach dem Bedarf vor O rt, der meines Erachtens nicht kompensiert werden. So wird auch im jüngst vorge- immer an Schreibtischen oder in 1,4 Kilogramm legten Bericht der Thüringer Landesregierung - schweren Analysen - soviel wiegt nämlich unser dort regiert zur Zeit bekanntlich die Große Koalition - Neunter Jugendbericht - festgestellt werden kann. 9418 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996

Kersten Wetzel Von dem dicken Stapel an zur Zeit gültigen Förder- bänden kann man nicht die Sorge entnehmen, daß richtlinien - diesen hatte ich letztes Mal dabei - wi ll sie totverwaltet würden. ich jetzt gar nicht sprechen; denn meine Argumente sollten schließlich nicht alles erschlagen. (Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Bei den Verbänden nicht, aber bei den Jugendlichen!) Projektarbeit innerhalb der Jugendhilfe muß also einfach mehr sein als das Nachschlagen und das Die Sorgen sind ganz andere, nämlich daß die Ju- Nachforschen in Marathon-Förderrichtlinien, die gendarbeit insgesamt ganz wegbrechen könnte. ohnehin oft nur von den Spezialisten in den großen Verehrter Herr Kollege Singhammer, man hört freien Trägern oder von den zuständigen Beamten auch nicht die Sorge um LER, wenn man Gespräche verstanden und gekannt werden. mit den Verbänden führt, sondern es besteht die Daß es natürlich nicht ohne Richtlinien geht, liegt Sorge, daß die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und auf der Hand. Aber die derzeitige Flut von Bestim- die Maßnahmen nach § 249h AFG insgesamt weg- mungen und Richtlinien macht eine ständige ver- brechen könnten. Wenn man Ihre Darlegungen im nünftige Neuorientierung unserer Jugendarbeit zu- Kürzungspaket - so möchte ich es nennen - betrach- mindest sehr schwer. tet, dann besteht die Gefahr, daß im Bereich der Ar- beitsbeschaffungsmaßnahmen erhebliche Ein- Bei dem jetzt notwendigen Sparzwang, vom Bund schnitte vorgenommen werden. Ich hatte kürzlich ein bis hin zu den Kommunen, darf der derzeitige Büro- Gespräch mit dem Landjugendverband. Hier wird kratie- und Verwaltungsaufwand eicht dazu führen, befürchtet, daß solche Maßnahmen ein Ende haben Projektplanung und -durchführung zu verzögern könnten. oder vielleicht ganz und gar unmöglich zu machen. Neue Finanzspritzen aus Bonn, die ohnehin nur Wir wissen um die Gefahren - sie sind schon dar- ein Verschieben der Gesamtlasten zur Folge haben, gelegt worden -, wenn Jugendarbeit wegbricht, lösen die Ursachen vieler Probleme nicht. Gerade wenn junge Menschen keine Arbeitsplätze, keine aber der Sparzwang, der alle öffentlichen Haushalte Ausbildungsplätze bekommen und wenn sie auch und alle eigenständig wohlgehüteten Resso rts be- keine Beschäftigung in der Jugendarbeit erhalten. trifft, bietet uns die Chance zum grundlegenden Welche Perspektive haben sie denn? Deswegen müs- Überdenken der Strukturen. sen wir dieses Problem verstärkt angehen, hier anset- zen und uns engagieren, und deswegen dürfen Ar- Warum kann es denn zum Beispiel künftig nicht beitsbeschaffungsmaßnahmen nicht entfallen. möglich sein, gemeinsame Projekte von Bund, Län- dern, Landkreisen und Kommunen für Jugendliche Meine Damen und Herren, es ist nicht gut - auch zu entwickeln, die ressortübergreifend schwer ver darauf möchte ich deutlich hinweisen -, wenn wir ittelbare Jugendliche über ABM, junge Aussiedler uns mit dieser subtilen Form der Beseitigung von Ar- über Eingliederungsförderung und junge Sozialhilfe- beitsbeschaffungsmaßnahmen abfinden. Den Kreis- empfänger gemeinsam in einem Projekt für die Er- lauf kennen wir ja: Die Kommunen werden aufgefor- haltung unserer Umwelt integrieren? Dann hätten dert, höhere Beiträge zu leisten, höhere Beteiligun- wir viele Projekte in einem möglich gemacht.-m- gen. Dann fehlen die Komplementärmittel bei den Kommunen, weil die Finanzsituation der Kommunen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) schlecht ist. Auch die Verbände können also keine Hier möchte ich an unsere Ministe rien in Bonn ap- AB-Maßnahmen mehr einleiten; die Kommunen kön- pellieren. Sie sollten mit gutem Beispiel vorangehen nen es wegen fehlender Mittel auch nicht. Die Folge und Modellprojekte mit den Trägern und den örtlich ist, daß die Mittel nicht mehr abgerufen werden kön- Verantwortlichen entwickeln. Mit etwas gutem Wil- nen. Wenn die Mittel nicht mehr abgerufen werden, len kann man bekanntlich Berge versetzen. Warum heißt es: Es besteht überhaupt keine Notwendigkeit, also nicht auch eingefahrene Gleise verlassen? hier Mittel bereitzustellen. Ich meine, hier müssen deutliche Zeichen gesetzt Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege, werden, daß wir für die jungen Menschen da sind, Sie müssen zum Schluß kommen. daß wir ihnen eine Perspektive geben und daß wir für sie kämpfen und ihnen eine Möglichkeit geben, sich weiterhin einzusetzen. Denn die Jugend ist das Kersten Wetzel (CDU/CSU): Ich bedanke mich sehr. Kapital, das wir für die Zukunft haben. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge Ich bitte Sie darum, daß wir uns alle dafür einset- ordneten der F.D.P.) zen, daß entsprechende Mittel auch weiterhin in den zuständigen Haushalt eingestellt werden.

Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Zu einer Kurz- Vielen Dank. intervention gebe ich dem Abgeordneten Klaus Ha- gemann das Wort. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Rolf Kutzmutz [PDS])

Klaus Hagemann (SPD): Herr Präsident! Meine Da- men und Herren! Verehrter Kollege Wetzel, Sie ha- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege ben eben zitiert, die Jugendarbeit sollte nicht totver- Wetzel, möchten Sie darauf erwidern? - Das ist nicht waltet werden. Aus Gesprächen mit den Jugendver der Fall. Ich schließe die Aussprache. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996 9419

Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch Wir kommen zu den Abstimmungen. Wir stimmen ZP5 Beratung der Beschlußempfehlung des Aus- zunächst über die Beschlußempfehlung des Aus- schusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes schusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Vermittlungsausschuß) zu dem Ersten Gesetz zum Neunten Jugendbericht der Bundesregierung zur Änderung des Elften Buches Sozialge- auf Drucksachen 13/70 und 13/3314 Buchstabe a ab. setzbuch und anderer Gesetze (Erstes SGB Der Ausschuß empfiehlt Kenntnisnahme. Wer stimmt XI - Änderungsgesetz - 1. SGB XI-ÄndG) für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - - Drucksachen 13/3696, 13/4091, 13/4521, Stimmenthaltungen? - Ich stelle fest, daß die Be- 13/4688 - schlußempfehlung bei Gegenstimmen aus der Frak- tion Bündnis 90/Die Grünen angenommen worden Berichterstattung: ist. Abgeordneter Dr. Peter Struck (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? - DIE GRÜNEN]: Wir nehmen es nicht zur Das ist nicht der Fall. Dann frage ich, ob das Wo rt zu Kenntnis! Man muß auch einmal den Mut Erklärungen gewünscht wird. - Ich gebe das Wo rt haben, nein zu sagen!) zunächst dem Kollegen Dr. Blens. - Da möchte man mit den Hamburgern sagen: Nicht einmal ignorieren, wollten Sie sagen, Herr Kollege Dr. Heribert Blens (CDU/CSU): Herr Präsident! Fischer. Meine Damen und Herren! Der Vermittlungsaus- schuß schlägt Ihnen eine Reihe von Änderungen Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluß- zum Pflegeversicherungsänderungsgesetz vor. Zwei empfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren, dieser Änderungen - das sind die wichtigsten - be- Frauen und Jugend zu dem Entschließungsantrag treffen die Behinderten. Durch diese Änderungen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zum Neunten wird klargestellt: Die Behinderten werden bei der Jugendbericht auf Drucksache 13/3314 Buchstabe b. Pflegeversicherung nicht ausgegrenzt, und zwar Der Ausschuß empfiehlt, den Entschließungsantrag auch diejenigen nicht, die ständig in speziellen auf Drucksache 13/709 abzulehnen. Wer stimmt für Behinderteneinrichtungen leben. Ich meine, das ist diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Stimm- das Entscheidende bei unseren Vorschlägen, die wir enthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß die Be- Ihnen heute machen. schlußempfehlung mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition angenommen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) worden ist. Die Einbeziehung von Behinderten in speziellen Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluß- Behinderteneinrichtungen in die Leistungen der empfehlung des Ausschusses für Familie, Senioren, Pflegeversicherung geschieht dadurch, daß sich die Frauen und Jugend zu dem Entschließungsantrag Pflegeversicherung an einem Teil der Leistungen, die der Fraktion der SPD zum Neunten Jugendbericht dort erbracht werden, und zwar an einem unterge- auf Drucksache 13/3314 Buchstabe c. Der Ausschuß - ordneten Teil, der mit den üblichen Leistungen der empfiehlt, den Entschließungsantrag auf Drucksache Pflegeversicherung identisch ist, mit einem Pauschal- 13/726 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschluß- betrag bis zu 500 DM beteiligt. empfehlung? - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? Ich stelle fest, daß die Beschlußempfehlung mit dem 'Bei der zweiten Änderung, die die Behinderten be- gleichen Stimmenverhältnis wie eben angenommen trifft, geht es um die sogenannten Arbeitgeber- oder worden ist. Assistenzmodelle. Das sind die Fälle, in denen Be- hinderte ihre Pflege selbst organisieren und dafür Dann kommen wir zur Abstimmung über den Ent- Leute einstellen. Davon gibt es in der Bundesrepu- schließungsantrag der Fraktionen der SPD und blik mehrere hundert Modelle. Wegen der begrenz- Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 13/4679. ten Mittel der Pflegeversicherung war es nicht mög- Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Ge- lich, alle diese Modelle, auch wenn sie in Zukunft or- genprobe! - Stimmenthaltungen? - Ich stelle fest, ganisiert werden, in die erhöhten Sachleistungen der daß dieser Entschließungsantrag mit der gleichen Pflegeversicherung einzubeziehen. Aber wir schla- Stimmenmehrheit abgelehnt worden ist. gen Ihnen vor, die bestehenden Modelle dieser A rt, um ihren Bestand zu schützen, in die Pflegeversiche- rung mit erhöhten Leistungen einzubeziehen. Ich Ich rufe die Zusatzpunkte 4 und 5 auf: sage jedoch gleich dazu: Wenn wir nur die bestehen- ZP4 Beratung der Beschlußempfehlung des Aus- den Einrichtungen dieser Art einbeziehen, dann schusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes heißt das nicht, daß nicht in Zukunft auch neue Ar- (Vermittlungsausschuß) zu dem Gesetz über beitgebermodelle ins Leben gerufen werden könn- den Verkauf von Mauer- und Grenzgrund- ten. Sie können nur nicht zu Lasten der Pflegeversi- stücken an die früheren Eigentümer und zur cherung gehen. Änderung anderer Vorschriften (Dr. Norbe rt Blüm [CDU/CSU]: Sehr rich - Drucksachen 13/120, 13/3734, 13/3950, tig!) 13/4589 - Sie existieren bisher auf Grund der Finanzierung Berichterstattung: durch die Sozialhilfe. Diese Finanzierung bleibt auch Abgeordneter in Zukunft möglich. Es ist also Sache der Sozialhilfe, 9420 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996

Dr. Heribert Blens ob auch in Zukunft solche Modelle neu aufgelegt eine Lösung zu finden, die das Unrecht, das in werden können oder nicht. 40 Jahren DDR in den verschiedenen gesellschaftli- chen Bereichen ange richtet worden ist, völlig wieder- Lassen Sie mich hier einmal grundsätzlich etwas gutmachen und ausräumen könnte. Es kann nur zum Verhältnis von Pflegeversicherung und Sozial- darum gehen, den Versuch zu unternehmen, die hilfe sagen. Man hört immer: Das, das und das ist größten Ungerechtigkeiten auch in Fragen der Ent- nach der Pflegeversicherung nicht mehr d rin, also eignung rückgängig zu machen oder zu mildern. fällt es weg. - Das stimmt nicht. Die Pflege als solche ist auch in Zukunft Aufgabe der Sozialhilfe, wenn die (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Sozialhilfe subsidiär einspringen muß, um ein men- schenwürdiges Leben der zu Pflegenden zu gewähr- Dieses Ziel - und nur dieses Ziel - hat das Gesetz leisten. Die Kämmerer können sich unter Berufung über die Mauergrundstücke. Es wird niemand damit auf die Pflegeversicherung nicht einfach aus der ganz zufrieden sein. Aber jeder muß wissen: Es ist Pflege verabschieden. einfach unmöglich, 40 Jahre DDR nach den Grund- sätzen des Art. 14 des Grundgesetzes wieder aufzu- Das gilt für die Vergangenheit, und das gilt auch rollen und rückgängig zu machen. Die Geschichte ist für die Zukunft. vorangeschritten. Sie hat Tatsachen geschaffen. (Beifall bei der CDU/CSU) Diese alle rückgängig zu machen würde neue Unge- rechtigkeiten schaffen. Das darf nicht sein. Wir kön- Für die Kommunen bedeutet die Einbeziehung der nen es nur versuchen. Dieses Gesetz ist ein Schritt in zu pflegenden Behinderten in speziellen Einrichtun- diese Richtung. Ich empfehle Ihnen deshalb die Zu- gen eine Entlastung von 450 Millionen DM, also von stimmung. fast einer halben Milliarde. Ich sage dazu: Wir hätten in der gestrigen Sitzung des Vermittlungsausschus- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) ses die Kommunen mit der Reform des Sozialhilfege- setzes und des Asylbewerberleistungsgesetzes gerne noch weiter entlastet. Es wären do rt, wenn auf Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich möchte unsere Verhandlungsangebote eingegangen worden daran erinnern, daß es sich nicht um eine Debatte wäre, mindestens weitere 3 Milliarden DM an Entla- handelt, sondern nur um die Abgabe von Erklärun- stung der Kommunen möglich gewesen. Ich be- gen. Mit dieser Maßgabe gebe ich das Wo rt der Ab- daure, daß es dazu nicht gekommen ist. Denn es be- geordneten Andrea Fischer. stand keine Bereitschaft der Mehrheit des Vermitt- lungsausschusses, auch die Entlastung des Bundes, (Dr. Norbert Blüm [CDU/CSU]: Nur Erklä die im Asylbewerberleistungsgesetz steht, zu akzep- rungen, Frau Fischer!) tieren. Es kann nicht so sein, daß wir dazu beitragen, daß Andrea Fischer (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- die Kommunalhaushalte und die Länderhaushalte NEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! durch Absenkung von Leistungen saniert werden, Ich erkläre hiermit, daß weder ich noch die anderen daß die Länder dabei auch mitmachen und- daß dann, Mitglieder meiner Fraktion den beiden Kompromis- wenn es um die Sanierung des Bundeshaushaltes sen zustimmen können. geht, die Länder mauern. Jedenfalls spielen wir da- bei nicht mit. (Dr. Norbert Blüm [CDU/CSU]: Das ist keine Erklärung, das ist böser Wille!) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Beim Änderungsgesetz zum Pflege-Versiche- Daran ist gestern eine Einigung zu diesen beiden Ge- rungsgesetz sind in unseren Augen wesentliche setzen bedauerlicherweise gescheitert. Punkte nicht erreicht worden. Anders, als der Kol- Lassen Sie mich noch etwas zur Berichtigung der lege Blens es gerade dargestellt hat, halte ich eine Beschlußempfehlung des Vermittlungsausschusses Besitzstandsregelung für bestehende Arbeitgeber- sagen. Sie finden in der Beschlußempfehlung den modelle für unzureichend. Hier hätte es eine Wei- Vorschlag, einen § 202 a in das Gesetz einzufügen. chenstellung geben müssen, die auch in Zukunft Be- Das hieße, daß man im Sozialgerichtsverfahren ein hinderten eine selbstorganisierte Pflege ermöglicht. Mahnverfahren installieren würde. Dies ist gestern Immer wieder haben wir dazu Vorschläge gemacht, in Unkenntnis der wohl erheblichen Kosten, die sich die auch den Befürchtungen, es könne dabei zu gro- daraus ergeben würden, vorgeschlagen worden. Wir ßem Mißbrauch kommen, entgegenkamen. Keines empfehlen Ihnen - das ist mit den anderen Fraktio- dieser Angebote ist angenommen worden. Statt des- nen besprochen -, diese Regelung heute nicht zu be- sen soll es Behinderten künftig erschwert werden, schließen, also die Beschlußempfehlung zu berichti- ein selbstbestimmtes Leben zu führen. gen, indem wir dies herausnehmen. Ich schlage- Ih- Mit der Verabredung, die Zuordnung der Behand- nen also vor, die Beschlußempfehlung auf Drucksa- lungspflege in drei Jahren noch einmal überprüfen che 13/4688 zu berichtigen und mit folgender Maß- zu wollen, wird zugestanden, daß wir es mit einer gabe zu beschließen: Zu Artikel 6 - Änderung des sachlich problematischen Zuordnung zu tun haben. Sozialgerichtsgesetzes: Artikel 6 wird gestrichen. Die Entscheidung für die Pflegeversicherung bleibt Ich darf noch ein Wo rt zu den Mauergrundstücken falsch. Aber sie wird nach drei Jahren Praxis vermut- sagen, um die es jetzt auch geht. Meine Damen und lich allein auf Grund von Sachzwängen nur noch Herren, es gibt niemanden, der in der Lage wäre, schwer zu korrigieren sein. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996 9421

Andrea Fischer (Berlin) So erleichtert ich auch bin, daß Abstand von der über die Mauer, die Sie früher so oft geäußert haben. geplanten Verengung des Pflegebegriffs im Sozialhil- Sie machen sich statt dessen mit diesem Gesetzent- fegesetz genommen wurde, wiegt es jedoch den wurf zu Erbschleichern Walter Ulbrichts. schlechten Kompromiß bei der anteiligen Zahlung von Leistungen der Pflegeversicherung an Behin- Deswegen gibt es in dieser Frage keine Kompro- derte nicht auf. Ich muß es noch einmal deutlich ma- misse. chen: Der Vorschlag der Verbände, 20 Prozent der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Kosten der Eingliederungshilfe zu übernehmen, hatte nicht den Charakter einer Forderung nach Ein- stieg in Tarifverhandlungen, bei denen man von Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Nun gebe ich vornherein damit rechnet, daß man sich im Mittel das Wort dem Abgeordneten Dr. Struck. zwischen ganz und gar nicht irgendwo einigt. Die 20 Prozent waren sozialpolitisch im Hinblick auf die Dr. Peter Struck (SPD): Herr Präsident! Meine Da- für Behinderte höheren Pflegesätze wohlerwogen. men und Herren! Wir reden über zwei Empfehlun- gen des Vermittlungsausschusses. Ich will mich zu- Der vorliegende Kompromiß schafft eine große Dif- nächst dem Thema Mauergrundstücke zuwenden. ferenz zwischen dem regulären Pflegesatz und der Kostenübernahme für die Pflege von Behinderten, Jedem der Beteiligten war klar, sowohl dem Deut- die auf 500 DM begrenzt werden soll. Das wird einen schen Bundestag in der ersten, zweiten und dritten Anreiz für die Träger der Sozialhilfe darstellen, die Lesung als auch dem Bundesrat, daß es eine für die Träger der Einrichtungen zur Schaffung von separa- Betroffenen befriedigende Lösung, die sie akzeptie- ten Pflegeeinrichtungen zu drängen, die die engen ren werden, nicht geben wird. Das war jedem klar. Vorgaben des Pflegeversicherungsgesetzes erfüllen Ich muß für meine Fraktion erklären, daß wir die- und somit auf wesentlich niedrigerem Niveau Pflege sem Ergebnis des Vermittlungsausschusses nicht zu- für Behinderte leisten. Das heißt, so wird die Ab- stimmen können, sondern uns der Stimme enthalten wärtsspirale bei der Pflegequalität gerade nicht ge- werden, weil wir nach wie vor eine große Unsicher- stoppt. Deshalb werden wir dem Pflegeversiche- heit darüber empfinden, ob wir eine gerechte Lösung rungsänderungsgesetz nicht zustimmen. gefunden haben. Es ist übrigens auch damit zu rech- Nun liegt es in der Natur von Kompromissen, un- nen, meine Damen und Herren, daß die Betroffenen, befriedigend zu sein. Aber es gibt Felder, auf denen egal, wie im Vermittlungsausschuß entschieden ist erst gar kein Kompromiß möglich. Das ist für mich würde, den Weg nach Karlsruhe gehen werden. Das der Fall bei den Mauergrundstücken. Nach der Eini- ist ihr gutes Recht. Wir erwarten dann die Entschei- gung des Vermittlungsausschusses werden die Ei- dung des höchsten deutschen Gerichtes zu dieser gentümer gegenüber dem Ursprungsentwurf der Frage. Bundesregierung beim Erwerb ihres ehemals enteig- Was das zweite Gesetz, das wir heute als Empfeh- neten Grundstücks bzw. bei der Entschädigung im lung des Vermittlungsausschusses zu beschließen Falle der Nichtrückgabe steuerlich besser gestellt. - haben, die Änderung des Pflege-Versicherungsge- Aber hier ging es nie um die Frage, ob der Erwerb setzes, angeht, so wird meine Fraktion dem zustim- des Grundstücks eine unzumutbare finanzielle Härte men. Wir haben - das werden die Beteiligten im Ver- für die enteigneten Eigentümer darstellte. mittlungsausschuß auch sagen - sehr wesernlich zu diesem Vermittlungsergebnis beigetragen, Herr Kol- Bei den Mauergrundstücken geht es um das Skan- lege Blüm. Ich bin Ihnen auch dafür dankbar, daß Sie dalon, daß die Bundesregierung die Enteignung im dies entsprechend gewürdigt haben. nachhinein für rechtmäßig erklären muß, damit sie einen Zugriff auf die Grundstücke in bester Berliner Wer, wie die Fraktion der Grünen, diesem Ergeb- Lage erhält. Für einen finanziellen Vorteil des Bun- nis widerspricht und ihm nicht zustimmen kann, geht des wird damit der Mauerbau 35 Jahre später für nor- von einer anderen Grundposition an das Thema Pfle- mal erklärt. Keine Rede ist mehr vom Bruch des Völ- geversicherung heran. Wir Sozialdemokraten sind kerrechts, vom Leid, das erst die Enteignung über nicht der Auffassung, daß eine Pflegeversicherung die betroffenen Besitzer und dann 28 Jahre lang über 'aus Steuergeldern finanziert werden soll, Frau Kolle- alle Menschen in der DDR und der Bundesrepublik gin Fischer. Wir sind auch nicht der Auffassung, daß gebracht hat. Statt dessen wird nachträglich das eine Pflegeversicherung nur über den privaten Be- DDR-Grenzgesetz als rechtsgültige Grundlage für reich hätte finanziert werden können, wie es einige die Enteigungen anerkannt und damit die Mauer zu aus der Fraktion der F.D.P. seinerzeit gefordert ha- einer ganz normalen Grenze verniedlicht. Ich hätte ben. mir nie träumen lassen, daß ich so etwas einmal einer konservativen Bundesregierung vorwerfen muß. Es war damals ein schwerer Weg, auch im Vermitt- lungsausschuß, mit ganz schwierigen Verhandlun- Der Mauerbau war empörendes Unrecht. Um ihn gen, die Pflegeversicherung überhaupt zu installie- zu betreiben, wurden Menschen von ihrem Grund ren. und Boden vertrieben, ihre Häuser abgerissen und (Zuruf von der F.D.P.: Der Weg wird noch unter den Bütteln des DDR-Regimes verteilt. Sagen schwerer!) Sie nicht, sie würden jetzt den Betroffenen ein attrak- tiveres Angebot machen. Hier ist kein Angebot zu Es ist ein schwerer Weg, die zweite Stufe der Pflege machen. Hier muß den Opfern Gerechtigkeit wider- versicherung gesetzlich umzusetzen. Es ist genauso fahren. Sie kümmern sich aber nicht um Ihre Klagen schwer, diejenigen, die bisher nicht in der Pflegever- 9422 Deutscher Bundestag - 13, Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996

Dr. Peter Struck sicherung waren, in angemessenem Rahmen in die einzuführen. Das ist im Vermittlungsverfahren nach- Pflegeversicherung hineinzuführen. Wir haben jetzt geholt worden. mit der Hereinnahme der Behinderten in die Pflege- versicherung einen großen, einen wesentlichen Ich bitte insbesondere die aus dem neuen Gesetz Schritt gewagt. Der Bundestag wird dem heute zu- Berechtigten, die ehemaligen Eigentümer der Mau- stimmen. Ich habe auch keine Zweifel daran, daß der ergrundstücke, herzlich darum, dies nicht als eine Bundesrat dem nach den Entscheidungen, die ge- restlose Wiedergutmachung anzusehen, aber doch stern im Vermittlungsausschuß sehr einvernehmlich das Bemühen zu erkennen, daß wir nach Möglich- erfolgt sind, zustimmen wird. keit für mehr Gerechtigkeit sorgen wollen. Ich möchte zuletzt sagen, daß wir Sozialdemokra- Hinsichtlich der Pflegeversicherung ist es in der ten die Entscheidung, daß der Rechtsweg für Streitig- Tat wichtig, darauf hinzuweisen, daß die Einbezie- keiten aus der Pflegeversicherung einvernehmlich hung der Behinderten in die Leistungen der Pflege- auf die Sozialgerichtsbarkeit festgelegt wurde, im- versicherung ein gänzlich neues Element darstellt, mer gefordert haben, auch im Bundesrat. Es hat ei- das auch mit Risiken behaftet ist. Ich betone: Diejeni- nige Irritationen über Einzelheiten dieses Verfahrens gen, die in diesem Punkt Bedenken haben, tragen gegeben, die inzwischen bereinigt sind. diese nicht, weil sie kein Herz für Behinderte hätten. Die persönliche Situation der Behinderten im Hin- Deshalb, meine Damen und Herren, stimmen wir blick auf ihre Leistungen wird sich nicht ändern. In dem Pflegeversicherungsvorschlag zu, enthalten uns Zukunft wird nur aus einem anderen Topf gezahlt. aber bei den Mauergrundstücken. Die Themen, die Hätten wir dies nicht einvernehmlich so festgelegt, wir noch gestern im Vermittlungsausschuß kontro- hätte sich die Situation der Behinderten auch nicht vers behandelt haben, werden uns in der nächsten verschlechtert. Das muß man wissen. Hier dürfen Stunde in nicht so freundlicher Atmosphäre beschäf- keine Emotionen mit ins Spiel gebracht werden. tigen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne (Otto Schily [SPD]: Es werden nur Erklärun ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) gen abgegeben!) - Ich erkläre die Position der Liberalen. Das Risiko, Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Das Wort hat das bei der Einbeziehung der Behinderten hinsicht- nun der Abgeordnete Ulrich Irmer. lich ihrer Pflege besteht, halten wir für akzeptabel. Die finanzielle Belastung beläuft sich auf 450 Millionen DM. Es besteht ein gewisses Risiko, Ulrich Irmer (F.D.P.): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Freien Demokraten werden beiden daß diese Grenze unter verfassungsrechtlichen Beschlußempfehlungen des Vermittlungsausschus- Aspekten durchbrochen werden könnte. Ich weise ses zustimmen, wenn auch nicht mit ausgeprägten ausdrücklich auf dieses Risiko hin. Wir wollen uns Glücksgefühlen. später nämlich nicht sagen lassen, wir hätten nicht gewarnt. (Dr. Norbert Blüm [CDU/CSU]:- Das ist egal!) Wir akzeptieren den Kompromiß aber, weil wir der Meinung sind: Es ist besser, das verfassungsrechtli- Beide Kompromisse sind das, was das Wo rt sagt: che Risiko, das anderenfalls bestanden hätte, einzu- Kompromisse. grenzen. Die Experten sagen, daß das Risiko bei der Bei den Mauergrundstücken war dies von Anfang gefundenen Lösung geringer ist als bei der Alte rna- an der Fall. Es ist natürlich gerade für einen Libera- tive, die Behinderten überhaupt nicht einzubeziehen. len schwer erträglich, wenn man sagt, ein Eigentum, Ganz wichtig ist: Die Pflegeversicherung muß auf das geraubt worden ist, wird nicht in vollem Umfang Dauer finanzierbar bleiben. Deshalb müssen alle Ein- zurückerstattet. Aber Herr Blens hat eben zu Recht beziehungen, alle Ausweitungen immer unter dem ausgeführt: Man kann nicht den Versuch machen, Vorbehalt stehen, eine solide Finanzierung zu ge- nach Ablauf von 50 Jahren das Unrecht in jedem Ein- währleisten; denn alle, die sich von der Pflegeversi- zelfalle wiedergutzumachen und praktisch das Rad cherung eine Erleichterung ihres in der Regel schwe- der Geschichte zurückzudrehen. Deshalb hoffe ich ren Loses versprechen, wären mit Recht bitter ent- doch sehr, daß die Regelung, die jetzt gefunden täuscht, wenn die Versprechungen, die durch die wurde, zum Rechtsfrieden und zur Bef riedung ins- Einführung der ersten und zweiten Stufe der Pflege- gesamt beitragen kann. versicherung gemacht worden sind, nicht gehalten Es sind noch einige Elemente eingeführt worden, werden könnten, weil der Finanzrahmen gesprengt die die Betroffenen etwas günstiger stellen. Sie wer- werden würde. Das gilt auch für die zukünftige Be- den von der Grunderwerbsteuer ausgenommen. Das handlung der Pflegeversicherung. halte ich für richtig. Sie brauchen, wenn sie inner- halb von zwei Jahren verkaufen, die Spekulationsge- Wir empfehlen die Annahme beider Beschlußemp- winne, die entstehen sollten, nicht zu versteuern. Für fehlungen. die Zahlung des Betrages ist eine Härtefallklausel vorgesehen. Ich danke Ihnen. Vorhin war schon vom Rechtsweg die Rede: In der (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne Tat war übersehen worden, eine Rechtswegregelung ten der CDU/CSU) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996 9423

Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich gebe nun Bürger, die in meinem Heimatort schon seit 40 Jahren dem Abgeordneten Maus-Jürgen Warnick das Wo rt. auf ihren Grundstücken an der Grenze leben und dort ausharren und denen man nach dem 13. August 1961 zwei Drittel der Flächen zum Mauerbau entzo- Klaus-Jürgen Warnick (PDS): Herr Präsident! gen hat, haben diese Flächen bis heute noch nicht Meine Damen und Herren! Ich stehe wie meine Vor- offiziell zurückbekommen. Jetzt sollen sie auch noch redner vor der mißlichen Aufgabe, zwei Themen in dafür zahlen, wenn sie sie zurückbekommen. Das ist einer Erklärung zu verbinden, die nichts miteinander ein Skandal! Ich erinnere mich noch sehr gut an die zu tun haben. Vorweg möchte ich sagen: Ich werde Krokodilstränen über diese schlimme Grenze, die der in beiden Punkten gegen die Empfehlung des Ver- RIAS damals vergossen hat. mittlungsausschusses stimmen. Die Historiker, denke ich, werden diese Unmoral Zur Pflegeversicherung natürlich wollen auch wir, noch in 50 und auch noch in 100 Jahren neben vie- daß Pflegebedürftige und alte Menschen in Heimen lem anderem, was wir heute hier entscheiden, ankla- eine Entlastung ihrer finanziellen Situation erfahren. gen. Doch die zweite Stufe der Pflegeversicherung wird nur einiges mildem, nicht aber die Befreiung von Ganz empört bin ich vor allem über das Verhalten Sozialhilfeabhängigkeit bringen. Wir können einer der SPD. Deren Kollege Hacker aus dem Rechtsaus- generellen Verabschiedung vom Bedarfsdeckungs- schuß hat in der Diskussion zu den Mauergrundstük- prinzip nicht zustimmen. ken davon gesprochen, daß es in dieser Frage eine Ein weiterer Punkt, der unsere Ablehnung begrün- große Koalition zwischen CDU und PDS geben det, ist, daß das Verhältnis von Eingliederungshilfe werde und daß sich brandenburgische Abgeordnete, und Pflegeversicherung nach wie vor nicht hinrei- die im Wahlkreis immer behaupten, sie seien für die chend geklärt ist. 10 Prozent des Heimentgelts, also Rückgabe der Mauergrundstücke, hier anders ver- maximal 500 DM, aus der Pflegeversicherung beizu- hielten. steuern schließt Behinderte in Heimen von der Pfle- Ich stehe nach wie vor zu meinem Wo rt und werde geversicherung zwar nicht mehr ganz aus; dieser Be- für die Rückgabe der Mauergrundstücke und gegen trag wird die Tendenz der Umstruktierung und Um- diese Empfehlung stimmen, die SPD anscheinend benennung der Einrichtungen der Behindertenhilfe nicht. Das halte ich für einen Skandal. aber nicht aufhalten können. Ich danke Ihnen. Nun zur Frage der Mauergrundstücke. Ich weiß nicht, ob die PDS geschlossen gegen den Kompromiß (Beifall bei der PDS) ist. Ich bin jedenfalls strikt dagegen, dies vor allem auch aus persönlichen Gründen. Mein Leben hat sich immer in mehreren hundert Metern Entfernung Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich sehe keine von Grenze und Mauer abgespielt. Ich habe live er- weiteren Wortmeldungen zu Erklärungen. lebt, wie 1961 die Mauer gebaut wurde und wie sie wieder eingerissen wurde. Die DDR hat die Mauer Wir kommen damit zur Abstimmung, und zwar zu- aus Beton gebaut. Ich habe die Mauer nie als antif a- nächst zur Beschlußempfehlung des Vermittlungs- schistischen Schutzwall angesehen. Für mich war die ausschusses zum Gesetz über den Verkauf von Mauer immer ein Symbol für eine Politik, die mit Mauer- und Grenzgrundstücken. Der Vermittlungs- Sozialismus nichts, aber auch wirklich gar nichts zu ausschuß hat nach § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Ge- tun hatte. Sie war für mich ein Zeichen der Hilflosig- schäftsordnung beschlossen, daß im Deutschen Bun- keit der damals in der DDR Herrschenden. destag über die Änderungen gemeinsam abzustim- men ist. Ich war immer für den Fall der Mauer, und ich bin deshalb um so enttäuschter, daß nach der Beseiti- Wir stimmen also über die Beschlußempfehlung des gung der Mauer diese jetzt vielfach höher ist als je Vermittlungsausschusses auf Drucksache 13/4589 zuvor. Dafür trägt die jetzige Bundesregierung die ab. Wer der Beschlußempfehlung des Vermittlungs- volle Verantwortung. ausschusses zustimmt, den bitte ich um das Handzei- chen. - Gegenprobe! - Stimmenthaltungen? - Ich Selten wurden die Verlogenheit und die Heuchelei stelle fest, daß die Beschlußempfehlung mit den der Bundesregierung so deutlich wie bei den Mauer- Stimmen der Fraktionen der CDU/CSU und der grundstücken. Tausende meiner Mitbürger sind we- F.D.P. gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/ gen des verhängnisvollen Grundsatzes „Rückgabe Die Grünen und der Gruppe der PDS bei Stimment- vor Entschädigung" aus meinem Heimatort vertrie- haltung der Fraktion der SPD und in der F.D.P. ange- ben worden. Da stellen Sie sich hin und sagen: Man nommen worden ist. darf nicht neues Unrecht schaffen, man kann das Rad der Geschichte nicht zurückdrehen. - Dies pas- Wir kommen dann zur Abstimmung über die siert in Ostdeutschland schon seit mehreren Jahren. Beschlußempfehlung des Vermittlungsausschusses Dort wird das Rad der Geschichte zurückgedreht. In zum Ersten Gesetz zur Änderung des Elften Buches Millionen von Fällen werden Grundstücke zurückge- Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze. Der Vermitt- geben, ohne danach zu fragen, was mit den Men- lungsausschuß hat gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner schen geschieht, die dort leben; und die Mauer- Geschäftsordnung beschlossen, daß im Deutschen grundstücke, bei denen man das schon vor Jahren Bundestag über die Änderungen gemeinsam abzu- hätte tun können, werden nicht zurückgegeben. Die stimmen ist. 9424 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996

Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch Wir stimmen zunächst ab über die Beschluß- Ein Vermittlungserfolg hätte den öffentlichen Kas- empfehlung des Vermittlungsausschusses mit der sen auf allen Ebenen rund 9,5 Milliarden DM in drei vom Berichterstatter, Herrn Dr. Blens, vorgetragenen Jahren erspart. Dieses Bemühen ist auf Grund der Berichtigung auf Drucksache 13/4688. Wer der Be- Haltung der SPD und der Grünen gescheitert. schlußempfehlung des Vermittlungsausschusses zu- stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegen- (Dr. Peter Struck [SPD]: Blödsinn!) probe! - Stimmenthaltungen? - Ich stelle fest, daß die Deshalb müssen wir, die Koalition, diesen Vermitt- Beschlußempfehlung mit den Stimmen der Frak- lungsvorschlag ablehnen. tionen der CDU/CSU, der F.D.P. und der SPD gegen die Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Die von der Mehrheit der SPD und der Grünen vor- und der Gruppe der PDS angenommen worden ist. gelegten Vorschläge des Vermittlungsausschusses zu den Bereichen Arbeitslosenhilfe, Asylbewerberlei- Ich rufe die Zusatzpunkte 6 bis 8 auf: stungen und insbesondere zur Sozialhilfe sind ge- rade im Lichte der Bemühungen um den Abbau der ZP6 Beratung der Beschlußempfehlung des Aus- Arbeitslosigkeit, um Schaffung von Spielräumen für schusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes mehr Wachstum und Beschäftigung der Öffentlich- (Vermittlungsausschuß) zu dem Gesetz zur keit schlichtweg nicht mehr zu vermitteln. Reform des Rechts der Arbeitslosenhilfe (Arbeitslosenhilfe-Reformgesetz - AlhiRG) Es ist verhängnisvoll, wenn man sieht, welche Aus- - Drucksachen 13/2898, 13/3109, 13/3479, wirkungen das für die Kommunen hat. Ich frage 13/3725, 13/3951, 13/4591 - mich, wo die Bodenhaftung der SPD in ihren Wahl- kreisen im Hinblick auf ihre Verantwortlichkeit den Berichterstattung: Abgeordneter Rudolf Dreßler Kommunen gegenüber bleibt. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU ZP7 Beratung der Beschlußempfehlung des Aus- und der F.D.P.) schusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuß) zu dem Ersten Gesetz Es ist vielleicht ganz gut, wenn wir das Hohe Haus zur Änderung des Asylbewerberleistungs- einmal mit der Situation an der Basis, in den Ge- gesetzes und anderer Gesetze meinden, konfrontieren. Der Gemeindefinanzbericht - Drucksachen 13/2746, 13/3475, 13/3720, 1996 des Deutschen Städtetages hat den Titel 13/3728, 13/3949, 13/3937, 13/4686 - „Städtische Finanzen 1996 in der Sackgasse" . Die Berichterstattung: Einnahmen der deutschen Gemeinden sind im letz- Abgeordneter Dr. Peter Struck ten Jahr gesunken, in diesem Jahr wird es auf eine Stagnation hinauslaufen. Die absoluten Ausgaben ZP8 Beratung der Beschlußempfehlung des Aus- sind zwar insgesamt stabil geblieben, aber - das ist schusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes die uns alle bedrückende Situation - das Wachstum (Vermittlungsausschuß) zu dem Gesetz zur der Sozialhilfeausgaben beträgt durchschnittlich Reform des Sozialhilferechts 6 Prozent pro Jahr. - Drucksachen 13/2440, 13/2764, 13/3904, Im Gemeindefinanzbericht heißt dies, daß die kom- 13/4211, 13/4239, 13/4687 - munalen Investitionen weiter auf Talfahrt sind: al- Berichterstattung: lenthalben Konsum vor Investitionen. Wer sich heute Abgeordneter Dr. Peter Struck mit der Lage der Bauwirtschaft vor Ort auseinander- setzt, der weiß, daß wir do rt eine dramatische Ent- Das Wort zur Berichterstattung wird nicht ge- wicklung zu beklagen haben; Arbeitsplatzverluste wünscht. Das Wo rt zu Erklärungen wird gewünscht. sind zu befürchten, auch und nicht zuletzt auf Grund Ich gebe daher zunächst dem Abgeordneten Hans- dieser schwierigen finanziellen Situation im Bereich Peter Repnik das Wort. der Gemeinden. Wiewohl, Herr Präsident, ich um die Rechtslage Hans - Peter Repnik (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die De- weiß, die einen Bericht aus dem Vermittlungsaus- batte, die wir jetzt führen, fügt sich in die Gesamtdis- schuß nicht zuläßt, muß ich doch einige Anmerkun- kussion zur Sicherung des Standortes Deutschland gen zum Verfahren machen. Die Sorge, die mich um- ein. Die Koalition hat drei Ziele bei den in Rede ste- treibt, besteht da rin, daß der Vermittlungsausschuß henden Gesetzen verfolgt. zunehmend zu einem oppositionellen Blockadein- strument degenerie rt. Diese Sorge wurde gestern (Horst Seehofer [CDU/CSU]: Gleichzeitig!) eindsrucksvoll bestätigt. Herr Kollege Dreßler, wir haben drei Ziele verfolgt. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU Leider muß ich jetzt feststellen, daß wir nicht zum Er- und der F.D.P.) folg gekommen sind. Ich werde das begründen. Wir wollten die Kommunen, die Länder und den Bundes- Angesichts der Debatte, die wir heute geführt ha- haushalt ganz konkret entlasten. Wir haben im Ver- ben, lautet mein Appell an die Opposition sowie an mittlungsverfahren versucht, ein Gesamtpaket zu die SPD-geführten Bundesländer: Behandeln Sie schnüren, die Kosten für die öffentlichen Kassen zu bitte den Bundesrat und den Vermittlungsausschuß senken, ohne die Prinzipien des Sozialstaates in mit dem ihnen von der Verfassung zugewiesenen Re- Frage zu stellen. spekt als Organe des Bundes, die gesamtstaatliche Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996 9425

Hans-Peter Repnik Verantwortung tragen. Auch sie stehen in der ge- Sozialhilfe, die sich als eindeutig arbeitsunwillig er- samtstaatlichen Verantwortung. weisen, mit einem Abschlag zu belegen. Das abgelaufene Verfahren wird wie das vorge- (Rudolf Dreßler [SPD]: Dieser Schreiber hat legte Ergebnis gerade dieser gesamtstaatlichen Ver- keine Ahnung!) antwortung nicht gerecht. Es ist weder verantwor- tungsbewußt, noch ist es redlich, nach langem Rin- Es bleibt das Geheimnis der SPD-Länder, denen gen Entlastungen für Länder und Kommunen ins schließlich auch eine maßgebliche Fürsorgepflicht Auge zu fassen, genau diese aber dem Bund zu ver- gegenüber den Kommunen als Träger der Sozialhilfe weigern. Diese Rechnung, meine Damen und Herren zukommt, wie sie die Konsequenzen dieser nicht an von der Opposition, geht nicht auf. Sparen im kom- der Sache orientierten Entscheidung zu rechtfertigen munalen Bereich ist sozial verträglich, Sparen beim gedenken. - Ich glaube, Herr Kollege Dreßler, die- Bund ist sozialer Abbau - dies ist mit uns nicht zu sem Kommentar ist nichts hinzuzufügen. machen. Und wenn Sie gleichzeitig in der Debatte Lassen Sie mich noch einmal auf einige wenige des heutigen Tages die zu hohen Lohnzusatzkosten Zahlen eingehen. Länder und Kommunen wären beklagen und in dem gestern zu Ende gegangenen nach unseren Vorschlägen um 9,4 Milliarden DM für Vermittlungsverfahren deren Abbau verhindern, die nächsten drei Jahre entlastet worden. Davon ent- dann trägt auch dies nicht zu einer höheren Glaub- fallen 2,8 Milliarden DM auf die Änderung der Re- würdigkeit bei. gelsatzanpassung, rund 4,6 Milliarden DM auf die Eindämmung der Kostenexplosion und 2,7 Milliarden (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) DM auf das Asylbewerberleistungsgesetz. Ich kann und ich will Ihnen den Vorwurf nicht er- Sie verweigern sich einer Lösung. Sie schlagen sparen, daß Sie den Vermittlungsauftrag, nämlich diese Gesamtentlastung aus, weil Sie die Belastung Suche nach tragfähigen Lösungen, nicht ernstge- von 500 Millionen DM im Jahr durch die Streichung nommen haben. der originären Arbeitslosenhilfe nicht tragen wollen. (Dr. Peter Struck [SPD]: Das geht nun aber Ich frage Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen von zu weit!) der Opposition, wo Sie nur das Rechnen gelernt ha- ben, wenn Sie den enormen Gewinn für Länder und Mit etwas gutem Willen, Kollege Struck, wäre dies für Gemeinden nicht sehen. Hier haben Sie eine möglich gewesen. eklatante Fehlentscheidung getroffen, und Ihre Ver- hinderungspolitik wird dazu führen, daß die Kosten Ich füge hinzu: Dieses Vermittlungsverfahren, Kol- weiter steigen werden. lege Dreßler, ist kein gutes Omen für die Behandlung all dessen, was wir im Programm für mehr Wachstum (Dr. Peter Struck [SPD]: Wenn Sie einmal im und Beschäftigung hier auch dem Hohen Hause prä- Vermittlungsausschuß verlieren, dann müs sentiert haben und noch präsentieren werden. Des- sen Sie das auch ertragen können! Das ist unglaublich: Verloren und fertig!) halb möchte ich an Sie appellieren und für- ein kon- struktives Mitwirken werben. - Sehr verehrter Herr Kollege Struck, ich habe ge- Und wenn schon unsere Argumente Sie offensicht- sagt, ich kenne die Spielregeln, lich nicht überzeugen können, dann empfehle ich Ih- (Dr. Peter Struck [SPD]: Aha!) nen heute die Lektüre einer ganzen Reihe von Kom- mentierungen in den Tageszeitungen zu Ihrem Ver- und es ist mir versagt, aus dem Vermittlungsaus- halten und zu diesem Verfahren. Ich möchte mir er- schuß zu berichten. Aber es ist schon wichtig, daß lauben, Herr Präsident, einen Kommentar aus der wir die Öffentlichkeit darauf hinweisen, „Rheinischen Post" zumindest in Ansätzen hier vor- zutragen. (Dr. Peter Struck [SPD]: Worauf denn?) wozu Ihre Blockadepolitik geführt hat. (Zuruf des Abg. Rudolf Dreßler [SPD]) (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist wahr! - Klaus Heinemann schreibt, und ich darf ihn zitieren: Das darf nicht geheim bleiben!) Die Bemühungen der Bonner Regierungskoalition, die Ausgabendynamik in den Sozialsystemen zu bre- Wir haben bei drei wichtigen Gesetzen gemeinsam chen, sind in einem wesentlichen Bereich am Wider- ein Paket geschnürt, das für die nächsten drei Jahre stand des sozialdemokratisch dominierten Bundes- den Kommunen, den Ländern und dem Bund rates gescheitert. Damit setzt die Mehrheit der SPD- 9,4 Milliarden DM erspart hätte. Sie haben sich ver- regierten Länder in die Tat um, was angesichts der weigert, diesem Paket zuzustimmen. Deshalb tragen deutlich verhärteten innenpolitischen Fronten zu be- Sie in dieser Frage auch und nicht zuletzt für die fürchten war, nämlich - Kollege Dreßler - ihre Blok- Arbeitsmarktsituation eine ganz herausragende Ver- kadestrategie. Speziell, so heißt es hier weiter, am antwortung. Ergebnis dieser Kraftprobe läßt sich ablesen, daß Argumente offensichtlich nicht mehr verfangen. Wir haben gehandelt; doch Sie von der Opposition blockieren. Gestern waren es drei Gesetze, in den Und ein letzter Satz aus diesem Kommentar: Dabei letzten Monaten weitere; ich erinnere zum Beispiel gibt es außerordentlich gute, vernünftige und über- an die Unternehmensteuerreform und an das Mei- zeugende Gründe, zum Beispiel jene Bezieher von ster-BAföG. Sie versündigen sich mit diesem Verhal- 9426 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996

Hans-Peter Repnik ten im Vermittlungsausschuß an unserem Gemein- regierten Länder auf eine Nullrunde für Sozialhilfe- wesen und nicht zuletzt an den Arbeitslosen. empfänger bestanden haben. (Dr. Peter Struck [SPD]: Jetzt werden Sie (Wolf-Michael Catenhusen [SPD]: Jetzt aber nicht polemisch, Herr Kollege! Das kommt es heraus!) geht zu weit!) Außerdem haben Sie ein sachlich nicht zu rechtferti- - Herr Kollege Struck, nur durch Kompromißbereit- gendes Junktim zwischen der Streichung der origi- schaft und Einigungswillen können wir das Ver- nären Arbeitslosenhilfe im Asylbewerberleistungs- trauen der Wirtschaft erhalten. Sie allein kann gesetz und der Zustimmung zu einem Kompromiß Arbeitsplätze schaffen, aber muß im Rahmen des bei der Sozialhilfe hergestellt. Notwendigen auch Steuern bezahlen. Herr Repnik, insoweit hat die Mehrheit des Ver- Ich wünsche und erwarte Vernunft auch von der mittlungsausschusses in christlicher Verantwortung Opposition, konkrete Mitwirkung statt Obstruktion. gehandelt. Sonst entsteht Schaden für alle. Ich hoffe, daß die (Lachen bei der CDU/CSU) Lehren aus dem jetzt abgeschlossenen Vermittlungs- - Es ist schön, daß Sie mittlerweile schon die Stel- verfahren, die wir zu ziehen haben, uns in die Lage lungnahmen der evangelischen und der katholischen versetzen, daß wir uns als Mitglieder des Vermitt- Kirche belächeln. Ich will das einmal festhalten. lungsausschusses bei den vor uns liegenden, schwie- rigen Aufgaben zum Wohle der Bürger anders ver- (Beifall bei der SPD - Horst Seehofer [CDU/ halten. Dazu fordere ich Sie mit Nachdruck auf. CSU]: Sie waren schon stärker!) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - Sollten Sie bei Ihrer angekündigten Ablehnung Dr. Peter Struck [SPD]: Ich bin beein bleiben, werden die Länder in eigener Verantwor- druckt!) tung sicherstellen, daß es zu einer maßvollen Anhe- bung der Regelsätze für die Sozialhilfe kommt. An- fangs schienen die Voraussetzungen für einen fairen Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Das Wort hat Kompromiß gegeben zu sein. Eine vom Vermitt- der Abgeordnete Rudolf Dreßler. lungsausschuß eingesetzte Arbeitsgruppe hatte in weiten Teilen einvernehmlich Empfehlungen für den (Dr. Peter Struck [SPD]: Jetzt kommt die Ausschuß erarbeitet, die bei objektiver Betrachtung Wahrheit auf den Tisch!) tragfähig und auch sozialpolitisch vertretbar erschie- nen. Rudolf Dreßler (SPD): Herr Präsident! Meine Da- Strittig blieben nur die Festsetzung der Regelsätze men und Herren! Ich finde, der heutige Nachmittag und die sogenannten Hilfen zur Arbeit. Auch hier ist geeignet, folgendes festzuhalten: Eine verfas- wurden Kompromißangebote erarbeitet, denen wir sungsmäßige Mehrheit von Abgeordneten und Lan- uns hätten anschließen können. Die Verhandlungen desministern in einem Verfassungsorgan,- dem Ver- haben aber dann gezeigt, daß die Festsetzung der mittlungsausschuß, beschließt gemäß ihrer Überzeu- Höhe der Regelsätze und ihrer Fortschreibung nicht gung und ihrer verfassungsmäßigen Pflicht, und die im Mittelpunkt des Interesses standen. Es mußte eine CDU/CSU nennt das Blockade. Nullrunde dabei herauskommen. (Beifall bei der SPD - Dr. Peter Struck (Otto Schily [SPD]: Es geht um die Gesichts [SPD]: Unglaublich ist das!) wahrung von Herrn Seehofer!) Das ist der Fakt. An dieser Stelle ist es wert festzuhalten, daß der Bundesminister für Gesundheit Herr Repnik, was Sie hier vorgeführt haben, unter- streicht, daß Sie nicht einsehen wollen, daß die Haus- (Wolfgang Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/ ordnung Ihrer Partei die bundesrepublikanische Ver- CSU]: Guter Mann!) fassung nicht ersetzen wird. Daran müssen Sie sich in dieser Minute als Abgeordneter der CSU dazwi- nun einmal gewöhnen. schengerufen hat, als ich sagte, es sei ein Kompro- mißangebot von uns gemacht worden, dieses sei Politik hat nicht nur zu regeln. Sie hat auch die nicht stichhaltig. Er hat das mit seinen Worten hier Aufgabe, Ängste abzubauen und ein würdiges Le- erklärt. Ich darf das Hohe Haus darauf aufmerksam ben zu ermöglichen. Der Vermittlungsausschuß hat machen, daß die Mehrheit im Vermittlungsausschuß, in diesem Sinne Mehrheitsbeschlüsse gefaßt. Er hat Herr Seehofer, als Kompromißangebot Ihren eige- das Ganze gesehen und unterschiedliche Wirkungen nen Kabinettsbeschluß eingebracht hat, den Sie jetzt, in Gesetzen des Bundestages gegeneinander abge- ein paar Stunden später, hier ablehnen wollen, nur wogen. Mit Mehrheit hat der Vermittlungsausschuß damit Sie Ihr Gesicht wahren. So schön sind Sie aber Änderungen zum Sozialhilfereformgesetz vorge- nicht, Herr Seehofer. So läuft das nicht, so nicht! schlagen. Mit diesen Änderungen könnten die Korn- raunen um zirka eine halbe Milliarde D-Mark entla- (Beifall bei der SPD) stet werden. Meine Damen und Herren, es läßt sich nur schwer Eine einvernehmliche Lösung ist daran geschei- vermitteln, daß die Sozialhilfeempfänger nach einer tert, daß die Koalitionsparteien und die CDU/CSU- dreijährigen Deckelungsphase mit willkürlich getrof- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996 9427

Rudolf Dreßler fenen Fortschreibungsbeträgen eine Reform des erschwert. Gerade hier hätten aber die wesentlichen Bundessozialhilfegesetzes mit einer Nullrunde be- Einsparungen im Bereich der Sozialhilfe durch die ginnen sollen, während alle anderen Gruppen in un- genannte Deckelung erzielt werden können. serer Gesellschaft, ob Rentner oder Arbeitnehmer, wenn auch nur geringe Erhöhungen, gleichwohl Er- Das Asylbewerberleistungsgesetz des Bundesta- höhungen erhalten. ges ist im Vermittlungsausschuß gescheitert. Es wird zur Ablehnung empfohlen. Der Vermittlungsaus- Diese Nullrunde sollte ja die Sozialhilfeempfänger schuß vermochte weder der Logik dieses Gesetzes nur zufällig treffen. Der eigentliche Grund für die noch seinen Konsequenzen zu folgen. Eine Seite im strikte Ablehnung unseres Kompromißvorschlages ist Vermittlungsausschuß hatte darauf bestanden, daß die berechtigte Angst, daß mit einer Erhöhung der alle drei überaus unsystematisch zusammengefügten Regelsätze der Sozialhilfe die steuerliche Freistel- Teile des Asylbewerberleistungsgesetzes zusammen- lung des Existenzminimums, das auf der Höhe der bleiben, also die Streichung der originären Arbeitslo- Sozialhilfesätze basiert, nicht mehr verfassungskon- senhilfe für rund 50 000 Menschen, die Änderung form ist. Damit würden Familien durch die Verweige- des Schwerbehindertengesetzes mit der daraus fol- rung der ursprünglich vorgesehenen Erhöhung des genden Kostenverlagerung für die Beförderung Kindergeldes im nächsten Jahr verfassungswidrig Schwerbehinderter auf die Länder und die Umstel- belastet. Weil also das Kartenhaus von Herrn Waigel lung der Versorgung von Asylbewerbern auf Sach- auch an dieser Stelle zusammenzubrechen droht, statt Geldleistungen und ihre zeitliche Streckung. wollte man Sozialhilfeempfängern die Anpassung Die Mehrheit des Vermittlungsausschusses hat er- der Regelsätze an die gestiegenen Lebenshaltungs- klärt, daß es ihr nicht einleuchte, daß dies das rich- kosten ohne Mieten verweigern. tige Verfahren und der richtige Weg sein kann. Unser Kompromißangebot, die Regelsätze für die Zudem hat, wenn ich uns daran erinnern darf, die Jahre 1996 bis 1998 an die Nettolohnentwicklung der Konferenz der Ministerpräsidenten einvernehmlich Renten anzuknüpfen, ist im übrigen exakt - ich wie- erst vor wenigen Tagen im nordrhein-westfälischen derhole es - der Mehrheitsbeschluß des Bundestages Krickenbeck vor einer weiteren Verlagerung von zur Verabschiedung der Reform des Sozialhilfe- Kosten aus der Bundesebene auf die Länder und auf rechts. die Kommunen gewarnt. Mit der Streichung der ori- ginären Arbeitslosenhilfe würde aber exakt dies ge- Ein weiterer Punkt, der ebenfalls nur indirekt mit schehen. Es wäre ein schlimmes Signal gewesen, der Sozialhilfe oder dem Containergesetz zum Asyl- wenn der Vermittlungsausschuß dies mißachtet bewerberleistungsgesetz zu tun hat, ist der immer hätte. Wir müssen - ich wiederhole es - auch in sol- wieder deutlich werdende Versuch, die Arbeits- chen Fragen das Ganze sehen. marktpolitik, aber auch die Verwaltung von Arbeits- losigkeit zu kommunalisieren. Die verschiedenen Der Vermittlungsausschuß konnte überdies nicht Änderungsgesetze zur Arbeitslosenhilfe bis hin zur zulassen, daß der grundsätzlich falsche Weg, immer Abschaffung der originären Arbeitslosenhilfe bele- mehr Menschen aus vorrangigen sozialen Siche- gen diesen Trend ebenso eindeutig wie das erwei- rungssystemen wie der Arbeitslosenhilfe in die So- terte Instrumentarium der sogenannten Hilfen zur zialhilfe zu schieben, weiter beschritten wird. So wer- Arbeit im Bundessozialhilfegesetz. Zu letzterem ha- den nach unserer Auffassung keine Probleme gelöst. ben im übrigen die Träger der Sozialhilfe immer be- Der Vermittlungsausschuß hatte bereits in der ver- tont, daß das vorhandene Instrumentarium ausrei- gangenen Woche den Bundestag aufgefordert, das che, um individuell helfen zu können, sie aber einer sogenannte stärkeren Einbeziehung der arbeitslosen Sozialhilfe- Arbeitslosenhilfe-Reformgesetz abzu- lehnen. Die Gründe kennen Sie: Kürzungen um empfänger in die aktive Arbeitsmarktpolitik der Ar- 3 Prozent durch jährliche Herabstufungen des indivi- beitsämter den Vorzug geben würden. duellen Wiederverwertungswertes sind für uns kein Dafür hatten wir auch einen Finanzierungsvor- seriöses Angebot. Auch ein rascheres Abschieben schlag unterbreitet, nämlich eine Beitragspflicht die- aus der Arbeitslosenhilfe in die Rente wegen Er- ses Personenkreises zur Arbeitslosenversicherung werbsunfähigkeit dürfen wir nicht zulassen und ei- bei Zahlung des Beitrages durch die Sozialhilfeträ- nen Zwang zur beinahe bedingungslosen Annahme ger. Auch dieser sinnvolle Vorschlag wurde abge- unterwertiger Beschäftigung ebenfalls nicht. Dieses lehnt. Gesetz hätte zusammen mit den Auswirkungen einer Streichung der originären Arbeitslosenhilfe zu Mehr- Die Behauptungen, die Haltung der sozialdemo- belastungen von wenigstens 750 Millionen DM jähr- kratisch geführten Länder würde die Belastungen lich bei den Kommunen geführt. von Ländern und Kommunen in die Höhe treiben, sind nachweislich falsch. Als Kompensation für die (Walter Hirche [F.D.P.]: Und die Erhöhung Rücknahme Ihrer Nullrundenforderung hatten wir der Sozialhilfe?) eine Einbeziehung der Einrichtungen der Kinder- Auch das war nicht akzeptabel. und Jugendhilfe in die zwischen uns einvernehmlich vereinbarte Deckelung der Pflegesätze für die Jahre Ich appelliere deshalb an die Mitglieder des Bun- 1996 bis 1998 angeboten. Dieses Angebot ist von destages, den Voten des Vermittlungsausschusses Ihnen nicht einmal geprüft worden. Durch Ihre Ver- zuzustimmen. Ich appelliere vor allen Dingen an die weigerungshaltung werden die bundesweiten Be- CDU/CSU-Fraktion, der Linie des Vermittlungsaus- mühungen der Sozialhilfeträger zur Begrenzung des schusses zu folgen. Im Bundestag sollte die Einsicht Anstiegs der Pflegesätze in Einrichtungen deutlich gelten, daß das Ganze unseres Gemeinwesens wich- 9428 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996

Rudolf Dreßler tiger ist als die verletzte Eitelkeit eines Bundesmi- teren Möglichkeiten mehr, do rt zu kürzen. Ich glau- nisters. Wir haben, glaube ich, in diesem Fall Verant- be, wir kommen so auch nicht weiter. Das merken wortung, die Herr Seehofer nicht gezeigt hat, hier im wir insbesondere bei den Themen, die heute mit den Bundestag zu zeigen. drei Gesetzentwürfen zur Debatte stehen. Es hilft nicht, die Transfers, um die es geht, immer weiter zu (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE einem Spielball zwischen den verschiedenen Ebenen GRÜNEN und der PDS) der föderalen Finanzverantwortung zu machen. Zu- nächst einmal müßten wir einen Konsens herstellen, Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Das Wort hat daß der Unterhalt derjenigen, die erwerbslos sind, die Abgeordnete Andrea Fischer. uns etwas wert ist und daß wir ihnen ein Leben in Würde zugestehen wollen. Unbestritten ist doch - Andrea Fischer (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- das bestreitet niemand in diesem Haus -, daß die NEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es Kommunen ein wirklich gravierendes finanzielles ist gut, daß mit den Vorschlägen des Vermittlungs- Problem damit haben, daß sie seit Jahren zum Aus- ausschusses diese Gesetzesvorhaben der Bundesre- fallbürgen einer Sozialpolitik und von sozialen Siche- gierung in der vorliegenden Form erst einmal vom rungssystemen werden, die nicht darauf eingerichtet Tisch kommen. Ich will aber auf die Debatte einge- sind, daß wir Massenerwerbslosigkeit in solchem hen, die wir im wesentlichen um das Geld führen. Umfang und in solcher Dauer haben. Die Bundesregierung und die Länder werfen sich ge- Das heißt - auch darüber haben wir gerade im Zu- genseitig vor, sich jeweils am Sparen zu hindern. Da- sammenhang mit der Sozialhilfereform schon viel ge- mit dieser Vorwurf wirklich stark wirkt, müssen die redet -, es brauchte eigentlich eine umfassende So- Zahlen natürlich immer ein bißchen aufgeplustert zialreform, die sich auf diesen Umstand einstellt und werden. Herr Seehofer macht dann Angaben über nicht ständig davon ausgeht, daß wir einfach nur La- die potentiellen Ersparnisse bei der Regelsatzanpas- sten verteilen. sung in der Sozialhilfe, die Erhöhungen einbeziehen, die seit Jahren nicht mehr stattfinden, weil es do rt Ich glaube, es wäre dringend an der Zeit, diese La- eine Deckelung gegeben hat. Beim Asylbewerberlei- stenverteilung zwischen den verschiedenen Finan- stungsgesetz - darüber haben wir inzwischen oft ge- zierungsebenen neu zu bestimmen und nicht einfach nug gestritten - werden Einsparungen durch das immer nur zu versuchen, daß es von der einen Ebene Sachleistungsprinzip behauptet, die tatsächlich we- zu Lasten der anderen wegkommt. Es handelt sich gen der hohen Verwaltungskosten gar nicht eintre- hier um eine Aufgabe der gesamten Gesellschaft. ten. Aber je höher die behaupteten Effekte, um so wirkungsvoller scheint der Vorwurf, sich dem Sparen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zu verweigern. Dann möchte ich trotzdem noch einmal die Frage Was in diesen Debatten völlig untergeht, ist die stellen, warum wir uns eigentlich immer mit so viel Frage, ob wir bei den Richtigen sparen und ob es an- Elan dem Unterhalt derjenigen zuwenden, die keine gemessen ist. Ich war heute morgen außerordentlich Chance haben, diesen Unterhalt durch Erwerbsar- - beeindruckt von der Rede, die Kollege Geißler gehal- beit zu verdienen. Die Ausgaben für die laufende ten hat. Er hat davon gesprochen, Solidarität und Ge- Hilfe zum Lebensunterhalt, die ja bei der BSHG-Re- rechtigkeit müssen sich an den Arbeitslosen erwei- form im Zentrum stehen, entsprachen im Jahre 1993 sen. Er hat gesagt, in Zeiten knapper Kassen muß den Ausgaben für die Kriegsopferfürsorge oder auch sich die Solidarität besonders erweisen und beson- den Kinderzuschlägen im Beamtenbereich, grob ge- ders genau sein. Auch Kollege Vogt hat es auf den sprochen. Ich will gar nicht das eine gegen das an- Punkt gebracht und gesagt, im Zweifel für die Ar- dere ausspielen. Ich will nur sagen, mit welchen Grö- beitslosen. ßenordnungen wir es eigentlich zu tun haben, und fragen, ob es berechtigt ist, daß wir ausgerechnet an Nun ist unser Thema nicht, welche Wirtschaftspoli- diesem Punkt ständig diese Frage aufwerfen. tik man machen muß, um die Arbeitslosigkeit zu be- seitigen. Aber bei diesen Gesetzen ist unser Thema, Manchmal überlege ich mir, woher es kommt, daß wie wir diejenigen behandeln, die denn schon ar- wir so viel politische Energie und Phantasie darauf beitslos sind. Obwohl wir seit Jahren eine steigende verwenden, über die Höhe dessen zu reden, was wir Arbeitslosigkeit haben, haben wir heute - darauf ver- denjenigen zugestehen, die ausgegrenzt sind. Ich weist die Bundesregierung, wenn es paßt, immer stelle mir dann die Frage, ob es etwas damit zu tun sehr gern - die gleiche Sozialleistungsquote wie zu hat, daß die meisten von uns Angst haben, es könnte Beginn der 80er Jahre. Das heißt nichts anderes, als sie selber einmal treffen. Diese Angst verdrängen daß wir eine gleichbleibende Menge an Umvertei- wir, indem wir sie in ein Ressentiment gegen die jetzt lungsvolumen an immer mehr Menschen verteilt ha- schon Betroffenen wenden. Individuell ist das sehr ben, die Unterstützung brauchten, weil sie arbeitslos verständlich, aber politisch dürfen wir uns davon wurden. nicht leiten lassen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) In der Sozialhilfe ist das Bedarfsprinzip längst in Die Leistungen an Arbeitslose und Sozialhilfebe- Frage gestellt worden. In der Arbeitslosenhilfe ist das zieher wurden in den letzten Jahren bereits systema- Niveau so abgesenkt worden, daß für viele der er- tisch gekürzt. Wir haben in den vorherigen Konsoli- gänzende Sozialhilfebezug notwendig wird. Auf dierungsprogrammen bereits die Deckelung der So- diese Art und Weise kommen wir meines Erachtens zialhilfesätze gehabt. Ich sehe überhaupt keine wei jetzt nicht mehr weiter. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996 9429

Andrea Fischer (Berlin) Deswegen ist es gut, daß diese Gesetzentwürfe, und Beschäftigung noch blühen wird. Das Ausmaß die von diesem Geist geprägt sind, mit den Vorschlä- an Unvernunft ist wirklich schwer erträglich. gen des Vermittlungsausschusses erst einmal vom Tisch kommen sollen. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU)

Wir haben im Vermittlungsausschuß dem Vor- SPD und Bundesratsmehrheit haben das Vermitt- schlag der A-Länder zur BSHG-Novelle zugestimmt, lungsverfahren scheitern lassen, auch und nicht zu- weil wir den Seehofer-Entwurf nicht wollen. Wir wer- letzt, weil sie offensichtlich nicht rechnen können. den uns jetzt aber bei der Abstimmung an diesem SPD und SPD-regierte Länder verzichten für einen Punkt enthalten; denn diese Begrenzung der Regel- Zeitraum von drei Jahren auf finanzielle Entlastun- satzentwicklung in der Sozialhilfe wird aus den von gen in der Größenordnung von 9,4 Milliarden DM, mir eben dargelegten Gründen von uns sehr kritisch weil sie im Gegenzug für den gleichen Zeitraum eine gesehen. Von Fachleuten wird geschätzt, daß durch Belastung von 1,6 Milliarden DM durch die Strei- die Deckelung der letzten Jahre die Regelsätze be- chung der originären Arbeitslosenhilfe nicht mittra- reits jetzt um 5 bis 7 Prozent unter dem Bedarf liegen. gen wollen. Im Ergebnis bedeutet dies also, daß die Wir aber wollen zurück zum Bedarfsprinzip. Länder - die Bundesratsmehrheit - eine Entlastung von fast 8 Milliarden DM innerhalb von drei Jahren Wir stimmen den Vorschlägen des Vermittlungs- ausgeschlagen haben. ausschusses, die Gesetzentwürfe zur Arbeitslosen- hilfe und zum Asylbewerberleistungsgesetz abzuleh- (Rudolf Dreßler [SPD]: Den Stuß glauben nen, zu. Wir können nicht erkennen, daß eine perma- Sie doch selber nicht!) nente Absenkung der Bemessungsgrundlage für die Arbeitslosenhilfe den Arbeitslosen hilft. Das Asylbe- Sollten die Länder künftig auf ihre Finanznöte hin- werberleistungsgesetz aber lehnen wir nicht nur we- weisen, muß man ihnen immer wieder deutlich ma- gen der darin enthaltenen Streichung der originären chen, daß sie eine große Chance zur Konsolidierung Arbeitslosenhilfe und der Fahrkostenzuschüsse für ihrer Haushalte und der Haushalte der Kommunen Schwerbehinderte ab, sondern wir haben einen nutzlos haben verstreichen lassen. grundlegenden Dissens, der sich schon auf das ur- SPD und Bundesratsmehrheit betreiben also eine sprüngliche Asylbewerberleistungsgesetz bezieht. Politik zu Lasten Dritter, nämlich der Kommunen. Für Die Absenkung des Leistungsniveaus unter das ei- uns ist es ganz wichtig, das deutlich zu machen. gentliche Sozialniveau und das Sachleistungsprinzip sind in unseren Augen - ich habe es an dieser Stelle (Zuruf von der F.D.P.: Hört! Hört!) schon mehrfach gesagt - eine grundlegende Verlet- zung der Menschenwürde. Deswegen wollen wir Sie verweigern ihre Zustimmung nicht nur bei auch nicht, daß das auf weitere Personenkreise aus- dringend benötigten Entlastungen, sondern sie se- geweitet wird. hen auch steigenden Belastungen zu. Sie werden den Kommunen, den Sozialhilfeträgem der Bundes- Wir stimmen also diesen beiden Teilen- des Ver- republik, erklären müssen, wie Sie es jetzt schaffen mittlungsausschußvorschlages zu, die die beiden Ge- wollen, den Anwendungsrhythmus in der Sozialhilfe setzentwürfe der Bundesregierung zurückweisen. in den Griff zu bekommen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, (Zuruf des Abg. Rudolf Dreßler [SPD]) bei der SPD und der PDS) - Herr Dreßler, Sie haben im Bundesrat wirk lich sehr interessante Märchen erzählt, wie Sie das machen Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Das Wort hat wollen. Denn Sie müssen ja auf das Verfahren zu- nun die Abgeordnete Dr. Gisela Babel. rückkommen, wie es vom Fürsorgeverband vorge- schlagen wird. Wenn Sie wieder nach diesen Berech- nungen verfahren müßten, dann müßten Sie, weil die Dr. Gisela Babel (F.D.P.): Herr .Präsident! Meine Deckelung der Regelsätze ja nicht mehr möglich ist - sehr verehrten Damen und Herren! Das Paket Ar- die haben Sie zwar bekämpft, davon haben Sie aber beitslosenhilfe , Asylbewerberleistungsgesetz und auch profitiert -, ein Anpassungsvolumen in der Grö- BSHG-Reform war sozusagen ein Verbund, in dem ßenordnung von 4,5 oder 6 Prozent nachholen. Sie Reformbemühungen, Entlastung des Bundes und behaupten, Sie bekämen das in den Griff. Ausgleich der Belastung der Sozialhilfeträger eng (Rudolf Dreßler [SPD]: Was halten Sie miteinander verknüpft waren. Nicht jedes für sich davon, wenn Sie sich vorher einmal infor genommen war vielleicht ganz akzeptabel, aber in mierten?) dem Verbund war es meiner Ansicht nach ein Ange- bot, das auch den Ländern hätte schmecken müssen. Nur damals haben Sie der Deckelung zugestimmt, weil Sie es nicht in den Griff bekommen haben. Die Ergebnisse des Vermittlungsverfahrens zum Arbeitslosenhilfe-Reformgesetz, zum Asylbewerber- Die Länder müßten unter den damit verbundenen leistungsgesetz und zur Sozialhilfereform geben uns Steuermindereinnahmen in der Größenordnung von nun einen Vorgeschmack auf das, was uns in den 750 Millionen DM im Jahre 1997 und 3 Milliarden nächsten Wochen und Monaten an Auseinanderset- DM im Jahre 1998 leiden. Denn das wirkt sich ja zung mit den SPD-dominierten Ländern, der Bundes- auch auf die Höhe des Existenzminimums aus. Das ratsmehrheit, bei dem Programm für mehr Wachstum ist ein Kriterium, das Ihnen überhaupt nicht bewußt 9430 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996

Dr. Gisela Babel geworden ist. Ich möchte einmal wissen, wie Sie das sozusagen abgelehnt haben und die diesen Personen begründen. dann nicht zugute kommen können. Statt dessen wird behauptet, Sie könnten den An- Die Sozialhilfeämter sollten flexible, moderne Instru- stieg des Regelsatzes mit administrativen Mitteln be- mente bekommen, damit sie diesem kleineren Teil herrschen. Wie wollen die Länder dies bewerkstelli- der arbeitslosen Sozialhilfeempfänger eine Integra- gen? Man müßte sie ja fast dazu zwingen, dieses Ex- tion ermöglichen können. Auch diese Chancen sind periment einmal durchzuführen. Wir sehen den Ma- zunichte gemacht worden. gen dann gelassen entgegen. Die Senkung der Arbeitslosenhilfe entsprechend (Rudolf Dreßler [SPD]: Sie befinden sich der Vermittlungschance, die der einzelne hat - eine nicht auf der Höhe der Zeit!) Vorschrift, die ja in genereller Form schon im heuti- Der Anstieg der Pflegesätze in den Einrichtungen gen Recht verankert ist; wir haben sie nur noch ein- hat sich von zweistelligen Zuwachsraten Anfang der mal deutlich mit Zahlen ausgestaltet -, lehnen Sie ab, 90er Jahre auf immerhin noch 8 Prozent im Jahre obwohl das nun in jener berühmten Kanzlerrunde 1994 verlangsamt. Zur Begrenzung der auf diesem zum „Bündnis für Arbeit" sogar mit den Gewerk- Niveau fortschreitenden Kostenentwicklung bieten schaften vereinbart war. Es handelt sich also um ei- die Länder den Sozialhilfeträgern lediglich das Mittel nen Vorschlag, der dort schon Zustimmung gefunden der Pflegesatzvereinbarung an - ein stumpfes hat. Ich kann nicht verstehen, wieso Sie das ableh- Schwert, wie die Vergangenheit gezeigt hat. Daß die nen. Länder an diesen Vorschlag nicht glauben, haben sie (Rudolf Dreßler [SPD]: Frau Babel, Sie kön ja selber offenbart. Denn sonst hätten sie ja wohl nen vieles nicht verstehen! Das ist ja das nicht den Vorschlag gemacht - wie sie es im Vermitt- Problem!) lungsausschuß gemacht haben -, daß sie die Pflege- sätze nicht um 3 Prozent jährlich anheben wollen - Die Richtigkeit der These, daß die SPD den Ge- wie es der Vorschlag der Koalition war -, sondern nur werkschaften hinterherhinke, haben Sie damit wie- um 1 Prozent. der unter Beweis gestellt. (Beifall des Abg. Ulrich Irmer [F.D.P.] - (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne Horst Seehofer [CDU/CSU]: So ist es!) ten der CDU/CSU) Wie können Sie denn einen so unbarmherzig bruta- Ich denke, daß Sie mit der heutigen Aktion weder len Vorschlag machen, wenn Sie glauben, das schon den Sozialhilfeempfängern noch den Sozialhilfeträ- bei Pflegesatzvereinbarungen hinzubekommen? gern einen guten Dienst erwiesen haben und be- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne stimmt nicht den Finanzen der Länder. Irgendwann ten der CDU/CSU) wird auch Ihnen das dämmern. Hier ist eine wie auch immer gea rtete Konsequenz in Ich bedanke mich. der Argumentation wirklich nicht erkennbar, von ei- - nem sozialpolitischen Konzept gar nicht zu reden. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne ten der CDU/CSU) Meine Damen und Herren, bei solchen rechneri- schen Fehlleistungen der Opposition und der Bun- desratsmehrheit, die sich bei der Beherrschung der Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Das Wort hat Grundrechenarten vermeiden ließen, habe ich für nun die Abgeordnete Dr. Heidi Knake-Werner. das Sparpaket schlimmste Befürchtungen. Do rt geht es um noch sehr viel komplexere Zusammenhänge, um aufeinander abgestimmte Maßnahmen der So- Dr. Heidi Knake-Werner (PDS): Herr Präsident! zial-, Arbeitsmarkt- und Finanzpolitik. Wer wie die Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Abgeordneten SPD und die Bundesratsmehrheit schon beim der PDS begrüßen ausdrücklich die Beschlußemp- schlichten Addieren und Subtrahieren von Belastun- fehlung des Vermittlungsausschusses zum sogenann- gen und Entlastungen den Durchblick verliert, ist ten Arbeitslosenhilfe-Reformgesetz und zur Ände- schwerlich der geeignete Pa rtner, um das Problem, rung des Asylbewerberleistungsgesetzes. Wir wer- für mehr Wachstum und Beschäftigung zu sorgen, zu den diesen beiden Beschlußempfehlungen des Ver- lösen. mittlungsausschusses zustimmen. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Koaliti- ten der CDU/CSU) onsfraktionen, wenn Sie die Anhörung mit Sachver- ständigen zu beiden Gesetzen verfolgt hätten und Nicht nur beim Rechnen, sondern auch den Men- wenn Sie sich daran erinnern würden, welche Argu- schen gegenüber hat die SPD und die Bundesrats- mente dort angeführt worden sind, dann hätten Sie mehrheit versagt. Sie haben Politik zu Lasten arbeits- daraus lernen können, daß alle die Argumente, die loser Sozialhilfeempfänger gemacht. Sie heute ins Feld geführt haben, überhaupt nicht Ich weise noch einmal auf Kernpunkte der Sozial- haltbar sind und daß sich alle Rechnungen, die Sie hilfereform hin. Hier war ja daran gedacht, daß wir zur Entlastung der öffentlichen Haushalte aufge- den Sozialhilfeempfängern mit neuen Instrumenten macht haben, als Milchmädchenrechnungen erwei- zu einem Einstieg in betriebliche Arbeit verhelfen sen. wollten - mit neuen Inst rumenten, die Sie schon jetzt (Beifall bei der PDS) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996 9431

Dr. Heidi Knake-Werner In bezug auf das Asylbewerberleistungsgesetz se- stenzminimum und die Kürzung des Regelsatzes um hen wir unsere Auffassung, daß die Menschenwürde 25 Prozent, wenn zumutbare Arbeit verweigert wird. unteilbar ist und sich daher eine Sonderbehandlung Es ist gerade einmal drei Monate her, da gehörte es von bestimmten Ausländerinnen und Ausländern bei der Opposition in diesem Hause zur allgemeinen verbietet, natürlich nicht erfüllt. Das schlechte Ge- Auffassung, daß wir im Bereich der Sozialhilfe nicht setz besteht weiter, aber es wird wenigstens nicht ein Zuviel an Arbeitsverweigerern haben, sondern noch mehr verschlechtert. Wir sehen natürlich auch, daß ein Zuwenig an Arbeitsplätzen mit existenz- daß die SPD-Länder nicht aus prinzipiellen Erwägun- sicherndem Einkommen das entscheidende Problem gen gegen dieses Gesetz gestimmt haben, sondern ist. Eine vernünftige, an sozialen Prinzipien orien- weil sie sich mit der Regierung bei dem unwürdigen tierte Politik muß daher alle Hebel in Bewegung set- Schacher zwischen Sozialhilfe, originärer Arbeitslo- zen, den Umfang vernünftiger Arbeitsplätze zu ver- senhilfe und Leistungskürzungen bei den Flüchtlin- größern. Schlimmer noch als Untätigkeit aber ist es, gen nicht haben einigen können. in der gegenwärtigen Situation Mißbrauch und Ar- beitsverweigerung zum politischen Thema und die Der Beschlußempfehlung zur Reform des Sozial- Arbeitslosen zu den Schuldigen dieser Misere zu ma- hilferechts werden wir nicht zustimmen, wohl wis- chen. send, daß wir damit in einer ziemlich dämlichen Si- tuation sind, weil wir natürlich auch den Seehofer (Beifall bei der PDS) Entwurf nicht wollen. Aber der von der Mehrheit des Aus diesem Grunde werden wir der Beschlußvor- Vermittlungsausschusses vorgelegte Vorschlag läßt lage für das Bundessozialhilfegesetz nicht zustim- sich weitgehend auf die Regierungsabsichten ein. men. (Horst Seehofer [CDU/CSU]: So ist es!) (Beifall bei der PDS) Ich weiß zwar, daß das besonders umstrittene fünf- zehnprozentige Lohnabstandsgebot nicht mehr im Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Das Wort hat Entwurf steht. Aber offensichtlich konnte sich die der Abgeordnete Horst Seehofer. Mehrheit des Vermittlungsausschusses von der fünf- köpfigen Familie als Bezugsgröße zu den unteren (Wolf-Michael Catenhusen [SPD]: Ist der Einkommen nicht trennen. Diese Bezugsgröße ist Minister zurückgetreten?) nach wie vor völlig unrealistisch.

Das jetzige Ergebnis widersp richt unseren Vorstel- Horst Seehofer (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine lungen von einem menschenwürdigen Existenzmini- sehr verehrten Damen und Herren! Die SPD-Mehr- mum. Seit 1993 sind die Regelsätze gedeckelt und heit der Bundesländer hätte zwar gerne die Entla- nicht mehr entsprechend den systemimmanenten stungen des Asylbewerberleistungsgesetzes und des Grundsätzen des Bundessozialhilfegesetzes erhöht Bundessozialhilfegesetzes für die Länder und Kom- worden. Nicht einmal 10 DM mehr im Monat erhielt munen in einer Größenordnung von gut 3 Milliarden ein Sozialhilfebezieher im Bundesdurchschnitt. - DM jährlich mitgetragen. Das Vermittlungsverfahren zum Bundessozialhilfegesetz und zum Asylbewer- Nach der jetzt geltenden Gesetzeslage steht zum berleistungsgesetz ist aber im Kern daran geschei- 1. Juli 1996 eine bedarfsorientierte Erhöhung von tert, daß sie ihre Mitwirkung bei einer relativ be- 8,6 Prozent an. Das würde etwa 40 DM ausmachen. scheidenen Entlastung des Bundeshaushaltes von Das ist schon ein ganz entscheidender Betrag in so etwa 500 Millionen DM durch die Abschaffung der einem kleinen Haushaltsbudget. originären Arbeitslosenhilfe verweigert haben. Der Vorschlag des Vermittlungsausschusses lautet aber: Fortsetzung der Deckelung durch Anbindung Ich denke, angesichts der schwierigen Situation an die nach anderen, nicht bedarfsorientierten der Sozialsysteme und aller öffentlichen Haushalte Grundsätzen funktionierende Rentenentwicklung ist es ein faires Angebot der Koalition, zwei Gesetze und ab 1. Juli 1998 maximal 2 Prozent. Damit rücken mit einem Entlastungsvolumen von über 3 Milliarden Sie - das auch an die Kolleginnen und Kollegen von DM jährlich zugunsten der Länder und Kommunen der SPD - von Ihrem ursprünglichen Versprechen, einzubringen und zu verlangen, daß die SPD-Mehr- daß es bei der strikten Bedarfsorientierung bleiben heit der Länder im Gegenzug eine Entlastung des muß, ab. Sie machen damit im Grundsatz gemein- Bundeshaushaltes von 500 Millionen DM mitträgt. same Sache mit der Bundesregierung, die die Höhe (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) eines menschenwürdigen Existenzminimums aus- schließlich von der jeweiligen Kassenlage abhängig Herr Kollege Dreßler, natürlich ist es das verfas- macht. sungsmäßige Recht einer Mehrheit in einem Verfas- Ein weiterer Punkt: die Abschaffung des Mehrbe- sungsorgan, etwas zu beschließen, was sie für richtig darfs für Ältere. Hier hat der Vermittlungsausschuß hält. In diesem Punkt aber gab es während der gan- ebenfalls im Prinzip zugestimmt und lediglich zen Verhandlungen kein einziges ernstzunehmendes Schwerbehinderte mit dem Merkzeichen G im Aus- Argument, eine Entlastung von 3 Milliarden DM für weis ausgenommen. Länder und Kommunen wegen einer Entlastung des Bundeshaushalts von 500 Millionen DM abzulehnen. Schließlich noch ein prinzipieller Punkt: Der Ver- Das einzige Argument, das letztendlich übriggeblie- mittlungsausschuß akzeptiert in § 25 die Streichung ben ist, ist Ihre offensichtlich beabsichtigte rück- des Rechtsanspruchs auf ein menschenwürdiges Exi sichtslose Blockadehaltung. Damit verstoßen Sie ge- 9432 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996

Horst Seehofer gen Ihre bundesstaatliche Verpflichtung im Vermitt- stritten auch nach Meinung der Opposition ein nen- lungsausschuß und im Bundesrat. nenswertes Einsparvolumen erzielen, damit der Zah- lenstreit über das tatsächliche Einsparvolumen in (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - den Hintergrund tritt. Rudolf Dreßler [SPD]: Große Heiterkeit an dieser Stelle!) Wir waren im Einvernehmen mit der F.D.P. bereit, unter bestimmten Voraussetzungen die Bürger- Das Scheitern dieser beiden Gesetze wird es er- kriegsflüchtlinge in die Leistungsabsenkung nach möglichen, daß die Regelsätze nach dem Sozialhilfe- dem Asylbewerberleistungsgesetz einzubeziehen. gesetz in den nächsten Jahren weiterhin stärker stei- Wir waren bereit, die Pflegesätze für Kinder- und Ju- gen als die Nettolöhne der Arbeitnehmer. gendhilfeeinrichtungen zu budgetieren. Nachdem (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Das ist unmög die Pflegesätze in diesen Einrichtungen in den letz- lich!) ten Jahren durchschnittlich um 13 Prozent gestiegen sind, hätte dies bedeutet, daß eine einprozentige Das Scheitern wird dazu führen, daß die Pflegesätze Senkung der Pflegesätze in Kinder- und Jugendhilfe in den Einrichtungen in den nächsten Jahren weiter- einrichtungen eine Ersparnis von 300 Millionen DM hin stärker steigen als die Löhne in der Bundesrepu- gebracht hätte. Hätten wir die 13 Prozent halbiert, blik Deutschland und damit ein Milliarden-Defizit hätte allein dies ein weiteres Einsparvolumen von entsteht. 1,8 Milliarden DM zugunsten der Länder und Kom- (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Auch das ist munen bedeutet. unmöglich!) Meine Damen und Herren, wir haben im Vermitt- Die Verweigerung der SPD wird dazu führen, daß die lungsausschuß und heute im Bundestag auch be- Situation der Behinderten in den Behindertenwerk- schlossen, daß die Sozialhilfe dadurch, daß die Be- stätten nicht verbessert wird, wie es die Koalition be- hinderteneinrichtungen in die Pflegeversicherung absichtigt hat. Die Verweigerung der SPD wird dazu einbezogen werden, jährlich um weitere 450 Mil- führen, daß wir die Hilfe zur Arbeit zugunsten lang- lionen DM entlastet wird. zeitarbeitsloser Sozialhilfeempfänger nicht ausbauen Obwohl wir von unseren Zahlen und unserem Ein- können. sparvolumen sehr überzeugt sind, waren wir bereit, (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: So ist es!) noch weitere Einsparmaßnahmen zugunsten der Länder und Gemeinden politisch mitzutragen, damit Die Verweigerung der SPD wird dazu führen, daß der Zahlenstreit über die Höhe des Einsparvolumens wir die Kommunen mit den Kosten für die Zuwande- nur noch ein sekundärer und kein primärer ist. Trotz- rer in die Bundesrepublik Deutschland weiterhin al- dem waren Sie aus dieser Blockadehaltung heraus lein lassen. Dies ist ein verantwortungsloses Han- nicht in der Lage, das mitzutragen. deln. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Nicht die Sozialhilfe, sondern die von uns ge- wünschte bescheidene Entlastung des Bundeshaus- Die SPD übernimmt ab sofort die alleinige- Verant- haltes bei der originären Arbeitslosenhilfe in Höhe wortung für die Entwicklung der Sozialhilfekosten in von 500 Millionen DM hat zu dem Scheitern geführt. der Bundesrepublik Deutschland. Deshalb muß man auf folgendes hinweisen: Wir sind als Koalition von der SPD, von den Kirchen, von den (Beifall bei der CDU/CSU - Lachen bei der Wohlfahrtsverbänden, von den Gewerkschaften bis SPD) in die letzten Tage hinein wegen der beiden Kernele- Machen Sie in den nächsten Monaten, wenn es ne- mente unserer vorgeschlagenen Sozialhilfereform, gative Entwicklungen bei den Regelsätzen, den Pfle- nämlich Anbindung der Regelsätze an die Netto- gesätzen und ähnlichen Instrumenten in der Sozial- löhne und Budgetierung der Pflegesätze in Einrich- hilfe gibt, nicht die Koalition oder die Regierung da- tungen für Pflegebedürftige und Behinderte, ge- für verantwortlich! Sie haben eine wirksame Struk- scholten worden: turreform der Sozialhilfe verhindert. Sie haben Ko- (Georg Pfannenstein [SPD]: Zu Recht!) stendämpfungen bei den Regel- und Pflegesätzen verhindert. Deshalb übernehmen Sie jetzt die Ver- „Sozialraub", „Sozialkahlschlag". antwortung für die Entwicklung der Sozialhilfeaus- gaben der Kommunen. Am 28. September 1995 hat die SPD hier erklärt: Ziehen Sie das Gesetz mit diesen beiden Kernele- Der dritte Punkt. Ich habe gesagt, wir hätten uns menten zurück! Und gestern hat die SPD mit ihrer bei dem Teil sehr leicht verständigen können, der die Mehrheit im Vermittlungsausschuß eine Budgetie- Länder und Kommunen finanziell entlastet. Wir wer- rung der Pflegesätze in Behinderteneinrichtungen den gleich anschließend zu hören bekommen, daß und Pflegeeinrichtungen beschlossen, die noch diese Rechnung nicht gestimmt habe und die Entla- schärfer ist als die Budgetierung, die die Koalition im stung gar nicht in dieser Höhe stattgefunden hätte. Deutschen Bundestag beschlossen hat. Wir haben in allen Gesprächen innerhalb und außer- (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Scheinheilig!) halb des Vermittlungsausschusses in den letzten Ta- gen das Angebot gemacht: Wenn wir einen Streit Wir hatten im Bundestag beschlossen, daß die Pfle- über die Höhe des Entlastungsvolumens bei Ländern gesätze in Behinderteneinrichtungen und Pflegeein- und Kommunen haben, sind wir als Koalition bereit, richtungen in den nächsten drei Jahren nicht stärker zusätzliche Sparmaßnahmen mitzutragen, die unbe- steigen sollen als die Bruttolöhne in der Bundesrepu- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996 9433

Horst Seehofer blik Deutschland, damit das Personal in den Einrich- - Nein, seien Sie ganz ruhig, Frau Lange. Die Sätze, tungen auch weiterhin bezahlt werden kann. Ge- die ich jetzt gerade vorgetragen habe, stammen von stern nun hat die SPD-Mehrheit des Vermittlungs- Ihnen. ausschusses beschlossen, daß die Pflegesätze in Be- hinderteneinrichtungen und in Pflegeeinrichtungen (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das haben in den nächsten Jahren im Westen Deutschlands ma- sie noch gar nicht mitgekriegt!) ximal um 1 Prozent und im Osten Deutschlands um Sie haben hier gesagt: Ziehen Sie Ihr Gesetz zurück! 2 Prozent steigen dürfen. Und ich werde heute bei der Abstimmung genau Ob- acht geben, ob Sie die Dinge, die Sie vor einem hal- Wir sind ein Jahr lang beschimpft worden. Im Bun- ben Jahr hier als Gruselkatalog eingestuft haben, destag hat die SPD im September 1995 hier erklärt: mittragen. Darauf werde ich sehr genau achten. Ihre Budgetierung und ihre Auswirkungen auf die Einrichtungen für Behinderte sind verheerend. Wenn (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) das, was wir vorgeschlagen haben, für die Behinder- ten verheerend ist, dann ist das, was die SPD gestern Meine Damen und Herren, wir sind nicht beleidigt. beschlossen hat und heute dem Parlament vor- Es gehört zur Politik auch dazu, daß ein Gesetz nicht schlägt, eine Katastrophe für die Behinderten. die Mehrheit findet. Aber eines möchte ich hier noch einmal vor der Öffentlichkeit sagen: Von der Reform (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) des Sozialhilferechts hätte der Bund keine einzige Mark profitiert. Das ist nur eine Entlastung der Län- Unser Vorschlag der Nettolohnanbindung der Re- der und Kommunen. gelsätze wurde im September 1995 von diesem Pult aus von der SPD wie folgt kommentiert: Die Netto- (Brigitte Lange [SPD]: Das stimmt doch gar lohnanbindung liefere uns einem System aus, das in nicht!) die Ungerechtigkeit laufe. Es sei ein blanker Grusel- katalog. Das war die Einschätzung der SPD im Sep- Von der Reform des Asylbewerberleistungsgesetzes tember 1995. Gestern hat die SPD diesen Teil, der sie hätten überwiegend die Länder und Kommunen pro- selbst entlastet hätte, genauso beschlossen, wie wir fitiert, nur zu einem ganz bescheidenen Teil der es im Deutschen Bundestag vorgeschlagen haben Bund. Deshalb berührt uns das relativ wenig, und und weshalb wir seit Monaten der sozialen Kälte und deshalb betrachten wir uns auch nicht als Verlierer. des sozialen Kahlschlages bezichtigt wurden. Die wahren Verlierer sind die deutschen Kommu- nen, die die SPD mit den ausufernden Sozialhilfeaus- Meine Damen und Herren, so geht Politik nicht: In gaben völlig allein läßt. dem Moment, in dem die Länder und Kommunen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - durch Sparmaßnahmen entlastet werden, ist es eine Otto Schily [SPD]: Das ist eine Unver notwendige, sozialverträgliche Konsolidierung, und chämtheit, Herr Seehofer!) in dem Moment, in dem der Bundeshaushalt entla- stet wird, ist es Sozialraub und sozialer Kahlschlag. Noch mehr bedrückt mich, daß die ganz großen Verlierer jene sind, die - aus welchen Gründen auch (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)-s immer - Sozialhilfe beziehen, insbesondere die Pfle- Die gestern von der SPD gefaßten Beschlüsse wer- gebedürftigen und die Bewohner von Behinderten- den wir heute ablehnen. Wir werden sie nicht ableh- heimen; denn eines ist auch klar: Wenn die Sozialhil- nen, weil wir Ihnen den Sparwillen vorwerfen, son feausgaben weiter so explodieren wie in den letzten weil Sie Ihrerseits die Einsparung-dern von Jahren - vor allem auch deshalb, weil die Pflegesätze 500 Millionen DM im Bundeshaushalt verweigern. in den Einrichtungen und die Regelsätze stärker stei- Ich warte jetzt nach den Hunderten von schlimmen gen als die Löhne in der Bundesrepublik Deutsch- Stellungnahmen, die ich in den letzten Monaten er- land -, dann werden wir in absehbarer Zeit die Situa- halten habe, was zu diesem Mehrheitsbeschluß der tion erleben, daß die Sozialhilfe nicht mehr die Hilfen SPD im Vermittlungsausschuß - bei den Behinder- gewähren kann, die für ein menschenwürdiges Le- teneinrichtungen und Pflegeeinrichtungen mehr zu ben von Sozialhilfeempfängern notwendig sind. Das sparen als die Koalition und die Regelsätze genauso ist die eigentlich schlimme Auswirkung Ihrer Blocka- anzubinden, wie wir es für die nächsten drei Jahre dehaltung. vorgeschlagen haben - geäußert werden wird. Ich Sie legen die Axt an die Wurzeln der Funktionsfä- warte mit größter Spannung, was die Kirchen, die higkeit eines Sozialhilfesystems und schaden durch Gewerkschaften und die Wohlfahrtsverbände jetzt Ihr Verhalten gerade jenen, die mit bescheidenem bei ihren Kundgebungen gegen unsere Sparpakete Einkommen aus Sozialhilfe ihren Lebensunterhalt in den nächsten Tagen in der Öffentlichkeit sagen bestreiten müssen. Dies sind in den nächsten Jahren werden. die wahren Verlierer Ihres Verhaltens. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Nun wird wahrscheinlich Herr Struck, so wie ich ihn kenne, oder ein anderer SPD-Vertreter hier sa- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Das Wort hat gen, der Minister hat jetzt gebellt, der kann nicht ver- der Abgeordnete Rudolf Dreßler. lieren, jetzt hat er ein Gesetz nicht durchgesetzt, und deshalb schimpft er. Rudolf Dreßler (SPD): Herr Präsident! Meine Da- (Zurufe von der SPD: Wir kennen Sie!) men und Herren! Hier sprach gerade ein Abgeordne- 9434 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996

Rudolf Dreßler ter auch in seiner Eigenschaft als Bundesminister, und F.D.P. Sie dabei unterstützen, dann ist das Ihr der in seiner Amtszeit noch nicht ein einziges Gesetz Privatvergnügen. Das hat aber nichts mit einer seriö- aus eigener Kraft durch die gesetzgebenden Körper- sen Politik zu tun, die wir im Vermittlungsausschuß schaften durchbringen konnte. Nicht ein einziges! mit Mehrheit durchgesetzt haben, nämlich dem Ab- Das, was er durchgebracht hat, hat er mit sozialde- lehnen einer Nullrunde. Gewöhnen Sie sich also mokratischer Hilfe nach schwierigen Verhandlungen daran, daß die veränderten Mehrheitsverhältnisse im durchgebracht. Vermittlungsausschuß logischerweise andere gesell- schaftspolitische Positionen provozieren! (Zurufe von der CDU/CSU: Oje! - Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: So eine billige Polemik!) (Walter Hirche [F.D.P.]: Zu Lasten Dritter!) Die in Rede stehenden Tatbestände hätten ihn, Punkt vier. Herr Seehofer sagte heute morgen in weil sie nun einmal zustimmungsbedürftig sind, zu der Debatte: Sie müssen sich entscheiden. Sind Sie einer Kompromißfähigkeit zwischen Ländern und zu Einsparungen fähig oder nicht? - Was ist nun pas- SPD-Bundestagsfraktion gezwungen. Dazu war die- siert? Die SPD-Fraktion und auch die Länder haben ser Minister nicht fähig. Nun findet er keine Mehr- in der Vergangenheit, bezogen auf Regelsätze, auf heit und spielt hier mit Drohungen und was weiß ich Abstandsgebot sowie auf Leistungen und Entgeltver- nicht allem die beleidigte Leberwurst. einbarungen zwischen Einrichtungen und Sozialhil- feträgern, eine klare Position gehabt, die sich von je- (Zustimmung bei der SPD) ner, die gestern im Vermittlungsausschuß einge- Ich will Ihnen fünf Punkte nennen. bracht wurde, erheblich unterschied. Das ist wohl wahr. Punkt eins: originäre Arbeitslosenhilfe. Die SPD hat dies von Anfang an abgelehnt, weil sie es für un- Was hat denn die SPD-Seite gestern gemacht? Sie verantwortlich hält, zirka 50 000 Menschen, die bis- hat dem Namen dieses Ausschusses entsprochen her Anspruch auf Arbeitslosenhilfe haben, direkt, und hat Ihnen ein Vermittlungsangebot weit unter nur weil die Christdemokraten es wollen, in die So- der sozialdemokratischen Position im Parlament ge- zialhilfe zu schicken. Das können Sie uns noch ein macht. Obwohl wir das, von dem Sie heute morgen paarmal vorwerfen. Wir sind stolz darauf, daß Sie uns im Hinblick auf uns kritisiert haben, daß wir es nicht das vorwerfen, da wir einen Minimalanstand auf- tun würden, gestern getan haben, stellen Sie sich rechterhalten haben, den Sie hier vermissen lassen. hier hin und beschimpfen uns, weil wir kompromiß- fähig sind. Sie müssen sich nun einmal selbst ent- (Beifall bei der SPD) scheiden, welche Position Sie eigentlich einnehmen. Punkt zwei. Der Minister sagt: kein ernstzuneh- (Beifall bei der SPD) mendes Argument. Er verschweigt, daß das Ab- standsgebot, hinter dem Herr Seehofer herläuft, in Fünfter und letzter Punkt: Asylbewerberleistungs- unserem Sozialhilferecht mit 7,5 Prozent real gege- gesetz. Kollege Seehofer hat völlig recht: Es geht ben ist. Die Bundesregierung möchte dieses Ab- beim Asylbewerberleistungsgesetz unter anderem standsgebot auf 15 Prozent pauschal erweitern. Dies um einen Punkt, der überhaupt nichts damit zu tun lehnt die SPD ab. Noch so große Drohungen von Ih- hat, nämlich um die Streichung der originären Ar- nen, Herr Seehofer, werden uns nicht dazu bringen beitslosenhilfe. Das Volumen, welches der Bund auf dies als besonders glücklich anzusehen. Wir wollen, die Kommunen zu schieben gedenkt, ist umstritten. daß der Status quo, das Abstandsgebot von Die Bundesregierung spricht von 500 Millionen DM, 7,5 Prozent, bleibt und sich nicht, wie Sie wollen, ver- die Länder sprechen auf Grund von Zahlen, die um doppelt. Auch auf diese Haltung ist die SPD stolz. 12 000 höher sind, als sie die Bundesregierung zu- Das hat mit dem Verschieben von Kosten von der ei- grunde legt, von 700 Millionen DM. nen auf die andere Seite zunächst einmal nichts zu Nun wehren sich die Länder, die in den letzten tun. Jahren Milliardenbeträge durch diese Bundesregie- (Walter Hirche [F.D.P.]: Das ist trotzdem rung zusätzlich aufgebürdet bekamen, eine Politik gegen Arbeitsplätze!) (Widerspruch bei der CDU/CSU) Punkt drei. Der Bundesminister für Gesundheit hat vor wenigen Wochen am Kabinettstisch eine Regel- dagegen, auch noch die Kosten für die originäre Ar- satzanpassung in der Sozialhilfe für 1997 von 1 Pro- beitslosenhilfe, die dann Sozialhilfe hieße, in Höhe zent mitbeschlossen. Dies hat er wenige Wochen spä- von 700 Milliarden DM zu tragen. Um diesen Streit- ter in einem neuen Gesetzentwurf korrigiert, der punkt geht es. heute morgen zum erstenmal das Parlament beschäf- tigt hat. Nun wollte er eine Nullrunde fahren. Als er Es geht außerdem um den Streitpunkt, daß sich die Berechnungen von Herrn Seehofer, was die merkte, daß die Mehrheit für eine Nullrunde im Ver- Kosten- betrifft, von denen der Länder um eine mittlungsausschuß nicht zu gewinnen war, war das frage sein Kristallisationspunkt. Diese Regierung war nicht schlappe halbe Milliarde unterscheiden. Wenn nun ein Minister hergeht und von diesem Pult erklärt, es willens, einen Gesetzentwurf zurückzuziehen, in gehe um eine halbe Milliarde, obwohl jeder, der sich dem sie eine Nullrunde predigt, obwohl genau dieses um die Zahlen kümmert, weiß, es geht um Zurückziehen den Kompromiß in der Sozialhilfere- form generell ermöglicht hätte. 700 Millionen DM, er sich also eben um 200 Millionen DM verrechnet oder sie nicht in seinem Tableau be- Herr Seehofer, wenn Sie unbedingt ihr Gesicht rücksichtigt, dann komme ich zu dem Ergebnis, daß wahren wollen und die Fraktionen von CDU/CSU ich dem Zahlenmaterial der Länder im Hinblick auf Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996 9435

Rudolf Dreßler die Berechnungsgrundlagen eher traue als den Zah und den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/ len, die aus dem Hause des Herrn Seehofer kommen. CSU und F.D.P., Drucksache 13/2898, sowie den in- haltsgleichen Gesetzentwurf der Bundesregierung, Die Länder sagen, daß sie das Asylbewerberlei- Drucksachen 13/3109 und 13/3479, abzulehnen. Wer stungsgesetz in toto um über 400 Millionen DM zu- der Beschlußempfehlung des Vermittlungsausschus- sätzlich belaste. Herr Seehofer behauptet, daß die ses auf Drucksache 13/4591 zustimmt, den bitte ich Länder einen Gewinn von über 100 Millionen DM um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltun- hätten. Solange ein Bundesminister dieses Zahlenta- gen? - Dann stelle ich fest, daß die Beschlußempfeh- bleau mit einer Differenz in Höhe von einer halben lung des Vermittlungsausschusses mit den Stimmen Milliarde einem Vermittlungsausschußmitglied nicht der Koalition gegen die Stimmen der Fraktionen der glaubwürdig darlegen kann, hat er für mich jeden- SPD und des Bündnisses 90/Die Grünen sowie der falls die Legitimation, Zahlen zu nennen, endgültig Gruppe der PDS abgelehnt worden ist. eingebüßt. Die SPD-Fraktion wird dem Vermittlungsaus- Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluß- schußergebnis zustimmen. empfehlung des Vermittlungsausschusses zum Er- sten Gesetz zur Änderung des Asylbewerberlei- (Beifall bei der SPD - Bundesminister Horst stungsgesetzes und anderer Gesetze, Drucksache Seehofer meldet sich zu Wo rt) 13/4686. Der Vermittlungsausschuß empfiehlt, den Gesetzesbeschluß vom 8. Februar 1996 aufzuheben Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege und den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/ Seehofer, als Mitglied der Regierung haben Sie je- CSU und F.D.P., Drucksache 13/2746, abzulehnen. derzeit die Möglichkeit, das Wo rt zu ergreifen. Wer der Beschlußempfehlung des Vermittlungsaus- schusses auf Drucksache 13/4686 zustimmen will, (Wolf-Michael Catenhusen [SPD]: Das geht den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - aber nicht!) Enthaltungen? - Dann stelle ich fest, daß die Be- schlußempfehlung des Vermittlungsausschusses mit Horst Seehofer, Bundesminister für Gesundheit: demselben Stimmenverhältnis wie eben abgelehnt Meine Damen und Herren, ich möchte nur auf eines worden ist. hinweisen: Die von mir genannte Entlastung des Bundeshaushaltes, die in Höhe von 533 Millionen Dann kommen wir zur Abstimmung über die Bc DM die Kommunen durch Abschaffung der originä- schlußempfehlung des Vermittlungsausschusses zum ren Arbeitslosenhilfe belastet, ist eine Größenord- Gesetz zur Reform des Sozialhilferechts auf Drucksa- nung, die mit den Staatssekretären der Bundeslän- che 13/4687. Der Vermittlungsausschuß hat nach § 10 der A und B abgestimmt worden ist. Abs. 3 Satz 1 seiner Geschäftsordnung beschlossen, daß im Bundestag über die Änderungen gemeinsam (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - abzustimmen ist. Rudolf Dreßler [SPD]: Das ist un richtig! - Otto Schily [SPD]: Er hat die Zahlen nicht! Wer der Beschlußempfehlung des Vermittlungs- Wir können doch noch lesen! Herr- Blens ausschusses auf Drucksache 13/4687 zustimmt, bitte weiß es besser!) ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Stimment- haltungen? - Dann stelle ich fest, daß die Beschluß- empfehlung mit den Stimmen der Koalition und der Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Meine Kolle- ginnen und Kollegen, ich muß Sie auf die Geschäfts- Gruppe der PDS gegen die Stimmen der Fraktion der ordnung aufmerksam machen. Was sie eben erlebt SPD bei Stimmenthaltung der Fraktion Bündnis 90/ haben, ist nach der Geschäftsordnung keine Debatte. Die Grünen abgelehnt worden ist. (Georg Pfannenstein [SPD]: Herr Klein legt (Otto Schily [SPD]: Eine ganz interessante das anders aus!) Koalition! - Dr. Peter Struck [SPD]: Ja, CDU und PDS! Das ist ja ganz bezeichnend! Das - Ich bin nicht bereit, Herr Kollege, über die Ausle- ist ganz schlimm!) gung der Geschäftsordnung zu debattieren.

(Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Ich rufe die Tagesordnungspunkte 14 a bis 14 i auf: Nach § 10 Abs. 2 der Geschäftsordnung des Ver- mittlungsausschusses handelt es sich um die Abgabe Überweisungen im vereinfachten Verfahren von Erklärungen. Wenn wir von dieser Geschäftsord- a) Erste Beratung des vom Bundesrat einge- nung hätten abweichen wollen, dann hätte das mit brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Er- einer Zweidrittelmehrheit nach § 126 unserer Ge- weiterung des Zeugnisverweigerungsrech- schäftsordnung beschlossen werden müssen. Das tes für Mitarbeiter/-innen von Presse und war nicht der Fall. Rundfunk und des entsprechenden Be- Damit ist die Abgabe von Erklärungen beendet. schlagnahmeverbotes auf selbst erarbeite- tes Material Wir kommen zur Abstimmung, und zwar zunächst zur Beschlußempfehlung des Vermittlungsausschus- - Drucksache- 13/195 ses zum Arbeitslosenhilfe-Reformgesetz, Drucksache Überweisungsvorschlag: 13/4591. Der Vermittlungsausschuß empfiehlt, den Rechtsausschuß (federführend) Gesetzesbeschluß vom 9. Februar 1996 aufzuheben Innenausschuß 9436 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996

Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch b) Erste Beratung des vom Bundesrat einge- h) Beratung des Antrags der Abgeordneten brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än- Dr. Winfried Pinger, Jochen Feilcke und der derung des Strafvollzugsgesetzes Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeord- neten Dr. Irmgard Schwaetzer, Roland Kohn - Drucksache 13/3129 - und der Fraktion der F.D.P. Überweisungsvorschlag: Verschuldung der Entwicklungsländer Rechtsausschuß (federführend) - Drucksache 13/4670 - Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Überweisungsvorschlag: Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit c) Erste Beratung des von der Bundesregie- und Entwicklung (federführend) rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Finanzausschuß zes über die Veräußerung von Teilzeitnut- Haushaltsausschuß zungsrechten an Wohngebäuden (Teilzeit- Wohnrechtegesetz - TzWrG) i) Beratung der Unterrichtung durch die Bun- desregierung - Drucksache 13/4185 - Bericht über die Entwicklung der Konver- Überweisungsvorschlag: genz in der Europäischen Union im Jahre Rechtsausschuß (federführend) 1995 Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau - Drucksache 13/4101 - Ausschuß für Fremdenverkehr und Tourismus Überweisungsvorschlag: Finanzausschuß (federführend) d) Erste Beratung des vom Bundesrat einge- Auswärtiger Ausschuß brachten Entwurfs eines Gesetzes über die Innenausschuß Anrechnung von Dienstzeiten im Ange- Rechtsausschuß Ausschuß für Wirtschaft stelltenverhältnis auf die beamtenrecht- Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung liche Probezeit nach dem Einigungsvertrag Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union - Drucksache 13/4385 - Haushaltsausschuß Überweisungsvorschlag: Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen Innenausschuß (federführend) an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann sind die e) Erste Beratung des vom Bundesrat einge- Überweisungen so beschlossen. brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än- derung eisenbahnrechtlicher Vorschriften (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer)

- Drucksache- 13/4386 Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Ich rufe die Ta- Überweisungsvorschlag: - gesordnungspunkte 15 a bis 15 q sowie die Zusatz- Ausschuß für Verkehr punkte 9 a bis 9d auf. Es handelt sich um die Be- schlußfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aus- f) Beratung des Antrags der Abgeordneten sprache vorgesehen ist. Susanne Kastner, Klaus Lennartz, Michael Müller (Düsseldorf), weiterer Abgeordneter Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 15 a: und der Fraktion der SPD Zweite Beratung und Schlußabstimmung des Änderung der EG-Mineralwasserrichtlinie von der Bundesregierung eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zu der Vereinbarung - Drucksache 13/3335 - vom 21. Juni 1994 über die Satzung der Euro- Überweisungsvorschlag: päischen Schulen - Drucksache 13/3106 - Ausschuß für Gesundheit (federführend) Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten (Erste Beratung 77. Sitzung) Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Beschlußempfehlung und Bericht des Auswär tigen Ausschusses (3. Ausschuß) g) Beratung des Antrags der Abgeordneten - Drucksache 13/4468 - Otto Reschke, Hans Büttner (Ingolstadt), Berichterstattung: Norbert Formanski, weiterer Abgeordneter Abgeordnete Claus-Peter Grotz und der Fraktion der SPD Dr. Helmut Lippelt Änderung der Übergangsregelung beim Dr.-Ing. Karl-Hans Laermann Eigenheimzulagengesetz Der Auswärtige Ausschuß empfiehlt auf Drucksa- - Drucksache 13/4408 - che 13/4468, den Gesetzentwurf unverändert anzu- Überweisungsvorschlag: nehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf Finanzausschuß (federführend) zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt da- Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau gegen? - Stimmenthaltungen? - Der Gesetzentwurf Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996 9437

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer ist mit den Stimmen des gesamten Hauses angenom- Beschlußempfehlung und Bericht des Aus- men worden. schusses für Verkehr (15. Ausschuß) - Drucksache 13/4500 - Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 15 b Berichterstattung: bis 15e: Abgeordnete Elke Ferner b) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des Der Ausschuß für Verkehr empfiehlt auf den von der Bundesregierung eingebrachten Ent- Drucksachen 13/4473 bis 13/4475 und 13/4500, die wurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom Gesetzentwürfe unverändert anzunehmen. Wenn Sie 10. November 1993 zwischen der Bundes- damit einverstanden sind, lasse ich über die vier Ge- republik Deutschland und der Republik setzentwürfe gemeinsam abstimmen. - Ich sehe und Malediven über den Luftverkehr höre keinen Widerspruch. Dann verfahren wir so. - Drucksache 13/3846 - Ich bitte diejenigen, die den vier Gesetzentwürfen (Erste Beratung 92. Sitzung) zustimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt da- gegen? - Enthaltungen? - Die vier Gesetzentwürfe Beschlußempfehlung und Bericht des Aus- sind mit den Stimmen des ganzen Hauses angenom- schusses für Verkehr (15. Ausschuß) men worden. - Drucksache 13/4473 - Berichterstattung: Tagesordnungspunkt 15 f: Abgeordnete Elke Ferner Zweite Beratung und Schlußabstimmung des c) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Ent- von der Bundesregierung eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zu den Protokollen Nr. 1 wurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom und Nr. 2 vom 4. November 1993 zu dem 9. Mai 1995 zwischen der Regierung der Bun- Europäischen Übereinkommen zur Verhü- desrepublik Deutschland und der Regierung tung von Folter und unmenschlicher oder der Volksrepublik China über den Seever- erniedrigender Behandlung oder Strafe kehr - Drucksache 13/2482 - - Drucksache 13/3847 - (Erste Beratung 64. Sitzung) (Erste Beratung 92. Sitzung) Beschlußempfehlung und Bericht des Rechts- Beschlußempfehlung und Bericht des Aus- ausschusses (6. Ausschuß) schusses für Verkehr (15. Ausschuß) - Drucksache 13/4501 - - Drucksache 13/4474 - Berichterstattung: Berichterstattung: Abgeordnete Abgeordneter Konrad Kunick Dr. Herta Däubler-Gmelin

d) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des Der Rechtsausschuß empfiehlt auf Drucksache von der Bundesregierung eingebrachten Ent- 13/4501, den Gesetzentwurf unverändert anzuneh- wurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom men. 9. September 1994 zwischen der Bundesrepu- Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zu- blik Deutschland und Malta über den Luftver- stimmen wollen, sich zu erheben. - Wer stimmt dage- kehr gen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist eben- - Drucksache 13/3848 - falls mit den Stimmen des ganzen Hauses angenom- men worden. (Erste Beratung 92. Sitzung)

Beschlußempfehlung und Bericht des Aus- Tagesordnungspunkt 15 g: schusses für Verkehr (15. Ausschuß) - Drucksache 13/4475 - Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Berichterstattung: Gesetzes zur Änderung von Verbrauchsteuer- Abgeordnete Elke Ferner gesetzen und des EG-Amtshilfe-Gesetzes

e) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des - Drucksache 13/3845 - von der Bundesregierung eingebrachten Ent- (Erste Beratung 92. Sitzung) wurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 10. Mai 1995 zwischen der Regierung der aa) Beschlußempfehlung und Bericht des Fi- Bundesrepublik Deutschland und der Regie- nanzausschusses (7. Ausschuß) rung der Republik Bosnien und Herzegowina - Drucksache 13/4664 - über den Luftverkehr Berichterstattung: - Drucksache 13/3850 - Abgeordnete Norbe rt Schindler (Erste Beratung 92. Sitzung) Detlev von Larcher 9438 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer bb) Bericht des Haushaltsausschusses (8. Aus- j) Beratung der Beschlußempfehlung und des schuß) gemäß § 96 der Geschäftsordnung Berichts des Haushaltsausschusses (8. Aus- - Drucksache 13/4665 - schuß) zu dem Antrag des Bundesministe- riums der Finanzen Berichterstattung: Abgeordnete Einwilligung gemäß § 64 Abs. 2 der Bundes- Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) haushaltsordnung in die Veräußerung der bundeseigenen, bisher von den französischen Oswald Metzger Streitkräften (FFA) genutzten Wohnungen in Freiburg Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Hand- - Drucksachen 13/4170, 13/4602 - zeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Berichterstattung: Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Abgeordnete Karl Di ller Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD bei Susanne Jaffke Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen und PDS an- genommen worden. Oswald Metzger Jürgen Koppelin Dritte Beratung k) Beratung der Beschlußempfehlung und des und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die Berichts des Haushaltsausschusses (8. Aus- dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erhe- schuß) zu dem Antrag des Bundesministe- ben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der riums der Finanzen Gesetzentwurf ist mit demselben Stimmverhältnis angenommen worden. Einwilligung gemäß § 64 Abs. 2 der Bundes- haushaltsordnung in die Veräußerung eines Tagesordnungspunkt 15 h: Grundstücks in Berlin-Steglitz Beratung der Beschlußempfehlung und des - Drucksachen 13/4218, 13/4603 - Berichts des Ausschusses für die Angelegen- heiten der Europäischen Union (22. Ausschuß) Berichterstattung: zu der Unterrichtung durch die Bundesregie- Abgeordnete Karl Diller rung Susanne Jaffke Oswald Metzger Mitteilung der Kommission an das Euro- Jürgen Koppelin päische Parlament und den Rat zur möglichen Anwendung von Artikel K 9 des Vertrages 1) Beratung der Beschlußempfehlung und des über die Europäische Union Berichts des Haushaltsausschusses (8. Aus- - Drucksachen 13/3668 Nr. 2.74, 13/4534 - schuß) zu dem Antrag des Bundesministe- Berichterstattung: riums der Finanzen Abgeordnete Franz Peter Basten Einwilligung gemäß § 64 Abs. 2 der Bundes- Dr. Jürgen Meyer (Ulm) haushaltsordnung in die Veräußerung eines Christian Sterzing Wohngrundstückes in Laage/Mecklenburg- Sabine Leutheusser-Schnarrenberger Vorpommern Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Ge- - Drucksachen 13/4255, 13/4604 - genprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfeh- lung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und Berichterstattung: der SPD gegen die Stimmen der PDS bei Enthaltung Abgeordnete Karl Diller von Bündnis 90/Die Grünen angenommen worden. Susanne Jaffke Oswald Metzger Tagesordnungspunkte 15i bis 15n: Jürgen Koppelin

i) Beratung der Beschlußempfehlung und des m) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses (8. Aus- Berichts des Haushaltsausschusses (8. Aus- schuß) zu dem Antrag des Bundesministe- schuß) zu dem Antrag des Bundesministe- riums der Finanzen riums der Finanzen Einwilligung gemäß § 64 Abs. 2 der Bundes- Einwilligung gemäß § 64 Abs. 2 der Bundes- haushaltsordnung in die Veräußerung der haushaltsordnung in die Veräußerung eines bundeseigenen Wohnsiedlung Dr. -Martin- Grundstücks in Berlin-Charlottenburg Luther-King-Village in Mainz - Drucksachen 13/4149, 13/4601 - - Drucksachen 13/4256, 13/4605 - Berichterstattung: Berichterstattung: Abgeordnete Karl Diller Abgeordnete Karl Diller Susanne Jaffke Susanne Jaffke Oswald Metzger Oswald Metzger Jürgen Koppelin Jürgen Koppelin Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996 9439

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer n) Beratung der Beschlußempfehlung und des Beschlußempfehlung und Bericht des Rechts- Berichts des Haushaltsausschusses (8. Aus- ausschusses (6. Ausschuß) schuß) zu dem Antrag des Bundesministe- - Drucksache 13/4699 - riums der Finanzen Berichterstattung: Einwilligung gemäß § 64 Abs. 2 der Bundes- Abgeordnete Joachim Gres haushaltsordnung in die Veräußerung der Dr. Eckhart Pick ehemaligen US-Liegenschaft Dolan-Barracks in Schwäbisch Hall-Hessental Wir kommen zur Abstimmung. - Drucksachen 13/4285, 13/4606 - Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Hand- Berichterstattung: zeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Abgeordnete Karl Diller Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit Susanne Jaffke den Stimmen des ganzen Hauses bei Enthaltung der Oswald Metzger PDS angenommen worden. Jürgen Koppelin Dritte Beratung Wer stimmt für diese Beschlußempfehlungen? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußemp- und Schlußabstimmung: Ich bitte diejenigen, die fehlungen sind mit den Stimmen des ganzen Hauses dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erhe- angenommen worden. ben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist mit demselben Stimmenverhältnis angenommen worden. Tagesordnungspunkte 15o bis 15q: Zusatzpunkt 9 b: o) Beratung der Beschlußempfehlung des Peti- tionsausschusses (2. Ausschuß) Zweite und dritte Beratung des von der Bun- Sammelübersicht 120 zu Petitionen desregierung eingebrachten Entwurfs eines Markenrechtsänderungsgeseztes 1996 - Drucksache 13/4573 - - Drucksache 13/3841 - p) Beratung der Beschlußempfehlung des Peti- (Erste Beratung 92. Sitzung) tionsausschusses (2. Ausschuß) Beschlußempfehlung und Bericht des Rechts- Sammelübersicht 121 zu Petitionen ausschusses (6. Ausschuß) - Drucksache 13/4574 - - Drucksache 13/4700 - q) Beratung der Beschlußempfehlung des Peti- Berichterstattung: tionsausschusses (2. Ausschuß) Abgeordnete Norbert Röttgen Sammelübersicht 122 zu Petitionen - Drucksache 13/4575 - Wir kommen zur Abstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Wir kommen zur Abstimmung über die Sammel- Ausschußfassung zustimmen wollen, um das Hand- übersicht 120 auf Drucksache 13/4573. Wer stimmt zeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Ge- dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die setzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koali- Stimmen des ganzen Hauses angenommen worden. tionsfraktionen und der SPD bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen und PDS angenommen wor- Dritte Beratung den. und Schlußabstimmung: Ich bitte diejenigen, die Wir kommen zur Abstimmung über die Sammel- dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erhe- übersicht 121 auf Drucksache 13/4574. Wer stimmt ben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der dafür? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Gesetzentwurf ist damit angenommen worden. Beschlußempfehlung ist - wiederum bei Enthaltung Zusatzpunkt 9 c: von Bündnis 90/Die Grünen und PDS - angenommen worden. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Fami lie, Se- Wir kommen zur Abstimmung über die Sammel- nioren, Frauen und Jugend (13. Ausschuß) zu übersicht 122 auf Drucksache 13/4575. Wer stimmt der Unterrichtung durch die Bundesregierung dafür? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit demselben Stimmver- Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zu der hältnis angenommen worden. von UNICE, CEEP und EGB geschlossenen Rahmenvereinbarung über Elternurlaub Zusatzpunkt 9 a: - Drucksachen 13/4514 Nr. 2.26, 13/4682 - Zweite und dritte Beratung des von der Bun- Berichterstattung: desregierung eingebrachten Entwurfs eines Abgeordnete Maria Eichhorn Hildegard Wester Gesetzes zur Änderung des ABG-Gesetzes Rita Grießhaber - Drucksache 13/2713 - Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (Erste Beratung 67. Sitzung) Rosel Neunhäuser 9440 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für die gleichwohl - das ist für uns wichtig - vertrauens- diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthal- bildend beim Bürger wirken werden. tungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stim- men des ganzen Hauses angenommen worden. Wir wollen den Bußgeldverfahren den Stellenwert zuweisen, den sie als Verfahren gegen „Verwal- tungsunrecht" verdienen. Das gilt insbesondere für Zusatzpunkt 9 d: die Verkehrsordnungswidrigkeiten, die sich, einer Beratung der Beschlußempfehlung und des ständig anschwellenden Flut gleich, zu Massenver- Berichts des Ausschusses für Arbeit und So- fahren entwickelt haben, die die Arbeitskraft der zialordnung (11. Ausschuß) zu der Unterrich- Justiz lähmen. tung durch die Bundesregierung Wir wollen, daß in der Justiz Kräfte für die Erledi- Mitteilung der Kommission zur Information gung der Verfahren, die unserem Rechtsstaat scha- und Konsultation der Arbeitnehmer den, freigesetzt werden. Es sind nicht die Kleinen, - Drucksachen 13/3668 Nr. 2.72, 13/4701 - von denen Gefahren für den Rechtsstaat ausgehen, es sind die Kriminellen in den Ledersesseln. Ihnen Berichterstattung: gilt unser Augenmerk. Abgeordneter Rudolf Meyer (Winsen) Zum Schutz des Rechtsstaates gehen wir Schritt für Wir kommen zur Abstimmung. Schritt Reformen an, die der Justiz echte Entlastung Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Ge- bringen werden. Hierfür müssen wir alle Chancen genprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfeh- nutzen. Wir wissen aber auch, daß oft die erste und lung ist mit den Stimmen des ganzen Hauses bei Ent- auch einzige Begegnung der Mehrzahl der Bürger haltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ange- mit einem Gericht die Erfahrung mit einem Bußgeld- nommen worden. verfahren ist. Deshalb muß das Instrumentarium, das Prozeßrecht, den Gerichten auch die Möglichkeit ge- ben, dem Bürger angemessen und maßvoll begegnen Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf: zu können. Erste Beratung des von den Abgeordneten Unser Gesetzentwurf erreicht sein Ziel. Er schafft Alfred Hartenbach, Dr. Herta Däubler-Gmelin, Vertrauen beim Bürger und entlastet die Justiz. Un- Hermann Bachmaier, weiteren Abgeordneten sere Reformvorschläge will ich - damit es spannen- und der Fraktion der SPD eingebrachten Ent- der wird - an zwei Begebenheiten verdeutlichen. Es wurfs eines Gesetzes zur Änderung des Ge- sind Begebenheiten, die sich vieltausendmal so er- setzes über Ordnungswidrigkeiten, des Stra- eignet haben, im Einzelfall sogar authentisch sind, ßenverkehrsgesetzes und der Bundesgebüh- wenn auch eine selbst nur entfernte Ähnlichkeit der renordnung für Rechtsanwälte handelnden Personen und Institutionen mit real exi- - Drucksache 13/3691 - stierenden mehr zufällig denn gewollt ist. Überweisungsvorschlag: Die erste Begebenheit handelt vom gutverdienen- Rechtsausschuß (federführend) den selbstgefälligen Redakteur eines Motorsportjour- Ausschuß für Verkehr nals. Er fährt mit seinem Pkw in einer geschlossenen Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Ortschaft 70 bis 80 km/h und wird geblitzt. Einige Aussprache eine Stunde vorgesehen. - Ich sehe kei- Wochen später erhält er ein Anschreiben und den be- nen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. kannten Anhörbogen. Ich rufe zunächst den Abgeordneten Alfred Har- Er verweigert, was rechtens ist, die Angaben zur tenbach auf. Sache. Er beauftragt einen Anwalt mit der Wahrneh- mung seiner Angelegenheit. Dieser beantragt und erhält Akteneinsicht und stellt fest, daß der Mandant Alfred Hartenbach (SPD): Sehr geehrte Frau Präsi- auf dem sogenannten Radarfoto sehr gut zu erken- dentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! nen ist. Er sendet die Akte an die Polizei zurück, kün- Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir Sozialdemokra- digt eine Stellungnahme an, die abzugeben er aber, ten stellen unsere Reformvorschläge im Rechtswe- was auch rechtens ist, nie vorhatte. sen unter eine Überschrift, die für uns als Leitlinie gilt: Wir wollen eine moderne und leistungsfähige Langsam kommt der Tag der Verjährung näher - Justiz. Wir machen das nicht wie die Regierungspar- ich erzähle aus dem Leben -, die Bußgeldbehörde er- teien mit dem Rasenmäher; wir beschneiden die läßt den Bußgeldbescheid und setzt wegen Über- Rechte der Bürger nicht, und wir verstümmeln auch schreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit nicht Rechtswege. Wir gestalten Verfahrensab- eine Geldbuße in Höhe von 100 DM, aber keinen schnitte neu und greifen nur do rt regelnd in das Ver- Punkt in Flensburg fest. Kurz vor Ablauf der Frist fahren ein, wo echte Auswüchse erkennbar sind, legt der Mann Einspruch ein. Rechtsgarantien auf ein vernünftiges Maß be- schränkt werden können und dem Durchschnittsbür- Über die Staatsanwaltschaft kommt der Vorgang ger keine Schmerzen bereitet werden. zum Amtsgericht in H. Der Richter in H. setzt einen Verhandlungstermin fest und ordnet das persönliche Wir sind sicher: Die überwältigende Mehrheit der Erscheinen des Mannes an, der - das muß man wis- Bürger wird unsere Reformvorschläge begrüßen. Wir sen - in F., einer deutschen Großstadt, die etwa zeigen neue Wege auf, die die Justiz entlasten und 200 Kilometer von H. entfernt ist, wohnt. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996 9441

Alfred Hartenbach Der Anwalt erbittet erneut Akteneinsicht, erhält Mann legt Beschwerde ein. Beim Oberlandesgericht die Akten, sieht sich noch einmal lange das Bild sei- zerbrechen sich zunächst zwei Oberstaatsanwälte nes Mandaten an - ich hoffe, ich langweile keinen und danach drei gut bezahlte Richter am Oberlan- mit dieser Geschichte - desgericht, dazu ein Senatspräsident, die Köpfe, ob das zehnseitige, alles Denk- und Undenkbare abwä- (Zuruf von der SPD: Nein!) gende Urteil des Amtsrichterleins auch hohen rechts- und beantragt die Aufhebung des Termins und die staatlichen Maßstäben entspreche. Man befindet: ja. Vernehmung des Mannes vor dem Amtsgericht in F. Ein Jahr und sieben Monate nach der Tat ist das Natürlich geschieht das. Urteil rechtskräftig. Hundert D-Mark, nu ll Punkte, Zum ersten Termin in F. erscheint nur der Anwalt kein Fahrverbot, 2 200 DM Kosten und Auslagen und und legt ein Attest des Mannes vor, der krank sei. rund 2 000 DM Honorar für die anwaltliche Vertre- Beim zweiten Termin erscheint der Mann, erklärt, er tung. Fünf Richter haben sich mit der Sache befaßt, wolle nun, weil er es sich anders überlegt habe, doch und der Mann meint noch, ihm sei Unrecht gesche- lieber nach H. fahren und sich do rt direkt äußern. hen, denn 100 DM seien für ihn viel Geld. Die Akten gehen zurück nach H. Dies ist leider keine Ausnahme. So oder ähnlich Anwalt und Mandant erscheinen, nachdem der werden die Gerichte tausendfach in Anspruch ge- Richter in H. einen erneuten Termin festgesetzt hat, nommen. Sie werden von der Flut der Verfahren ebenso wie die beiden Polizeibeamten von der Ra- überschwemmt. Der personelle und zeitliche Auf- darkontrolle. Nun allerdings schweigt der Mann, was wand steht vielfach nicht mehr im Verhältnis zu der auch sein gutes Recht ist. Der Anwalt aber beantragt Bedeutung der Angelegenheit und der durch sie ver- die Einholung eines Gutachtens darüber, ob das Ge- ursachten Folgen. schwindigkeitsmeßgerät ordnungsgemäß geeicht, (Beifall bei der SPD) eingestellt und bedient worden sei und überhaupt richtig funktioniert habe. Hier wollen wir gleich an mehreren Stellen mit Verbesserungen ansetzen und sind überzeugt, daß (Detlef Kleine rt [Hannover] [F.D.P.]: Das ist wir mit unseren Vorschlägen zur Straffung der Ver- doch wohl das mindeste!) fahren den richtigen Weg gehen. - Da gebe ich Ihnen ja recht, Herr Kleine rt. Die Vernehmung durch den ersuchten Richter, die Das Gutachten wird eingeholt. Nach zirka drei Mo- sogenannte kommissarische Vernehmung, wird ab- naten ist es fertig und kostet rund 1 000 DM. Ergeb- geschafft. Wer gegen einen Bußgeldbescheid eine nis: Alles in Ordnung, Geschwindigkeit korrekt ge- richterliche Entscheidung will, soll dies künftig vor messen. dem zuständigen Richter erklären. Wenn ihm die Sa- che so wichtig ist, soll er sein Anliegen auch diesem Es folgt ein neuer Termin, und der Mann ist wieder Richter vortragen. krank. Nächster Termin: Der Mann ist da, mit An- walt. Zum drittenmal erscheinen auch die Polizisten. Nun sehe ich schon, wie mein obiger Freund, der Der Mann redet nun plötzlich. Nicht er sei der Fahrer Geblitzte, dem 100 DM zuviel Geld sind, seine Feder gewesen, nein, ein naher Verwandter, dessen Namen spitzen und über richterliche Willkür schreiben wird. er nicht nennen wolle. Aber er biete Beweis, daß er Ich sage ihm: Gemach, mein Freund! Abgesehen da- nicht der Fahrer sei. von, daß dies ein böser Vorwurf ist, den ich für die Richterschaft dieses Landes zurückweisen muß: Es (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: wird niemand ohne Not vor einen Richter zitiert wer- Klingt sehr lebensnah! - Zuruf von der SPD: den, wenn er nicht will. Ein Betroffener kann sich im So ist das Leben!) gerichtlichen Verfahren anwaltlich vertreten lassen. - Ist es auch, ist es auch! Seine Ehefrau könne dies Er kann seine früheren Aussagen verlesen lassen bezeugen und auch erklären, daß es einen ihm sehr oder erklären, er werde sich nicht äußern. Nur dann, ähnlichen Verwandten gebe. wenn sein persönlicher Tatbeitrag - ich betone die- sen Begriff - der Klärung bedarf, muß er vor dem (Zuruf von der SPD: Den Zwillingsbruder!) Richter erscheinen. Meinem ganz speziellen Freund wäre natürlich in seinem Falle dieser Gang zum Rich- Langweile ich jemanden? ter nicht erspart geblieben. Andererseits halte ich es (Zurufe von der SPD: Nein! - Überhaupt aber für ein Gebot der Fairneß, daß der Richter, der nicht! - Wir warten nur, wie die Geschichte die Sache entscheidet, auch Feststellungen über den ausgeht!) Täter trifft und diese alles entscheidende Frage nicht einem Kollegen überläßt, den der Ausgang des Ver- Neuer Termin: Der Mann erscheint, die Ehefrau er- fahrens überhaupt nicht interessie rt. scheint, die Polizisten erscheinen und der Anwalt. Die Ehefrau verweigert die Aussage, was sie darf. (Beifall bei der SPD) Der Anwalt bietet nun die Einstellung des Verfah- Die überwiegende schweigende Mehrheit von einem rens an, weil es denn schon zu lange her sei und we- Bußgeld Betroffener fährt mit dieser Regelung im gen Geringfügigkeit. Und er bietet großzügig an, wahrsten Sinne des Wortes besser. man übernehme auch die Anwaltskosten. Das war von Anfang an das operative Ziel. Allerdings findet Wir wollen auch das Beweisverfahren straffen. Ein er bei Gericht keine Gegenliebe. Der Richter spricht einfach gelagertes Bußgeldverfahren, vor allem in sein Urteil und bestätigt den Bußgeldbescheid. Der Verkehrssachen, muß in einem Gerichtstermin erle- 9442 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996

Alfred Hartenbach digt werden können und darf nicht zur Spielwiese ju- beiters bis zum Empfänger vier bis sechs und manch- ristischer Spitzfindigkeiten werden. mal auch noch mehr Wochen braucht.

(Zuruf von der SPD: Sehr richtig!) (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Uwe-Jens Heuer [PDS]) Deshalb sollen in bestimmten Fällen die Gerichte Be- weisanträge dann zurückweisen dürfen, wenn diese Das Herzstück unserer Reformvorschläge aber ist ohne vernünftigen Grund - ich betone auch dies - so ein Punkt, der Kraftfahrer immer wieder beschäftigt: spät gestellt werden, daß ein völlig neuer Termin nö- das Fahrverbot und vor allem dessen Vollstreckung. tig wird. Wir sind allerdings überzeugt, daß kein Richter und keine Richterin einen begründeten An- Nun erzähle ich Ihnen eine zweite Begebenheit; trag auf weitere Beweiserhebung leichtfertig zurück- sie wird kürzer sein als die erste, aber genauso reali- weisen wird. stisch: Zwei Auslieferungsfahrer der gleichen Firma werden in zwei verschiedenen Orten in derselben Wir wollen auch die Rechtsmittelgerichte entla- Woche wegen Geschwindigkeitsüberschreitung er- sten. Die maßvolle Erhöhung der Rechtsmittelsum- faßt. Beide erhalten ihren Bußgeldbescheid - gleiche men gehört ebenso dazu wie das überwiegende Ein- Geldbuße - und jeder einen Monat Fahrverbot. Beide zelrichterprinzip der Bußgeldsenate. Wir sind näm- wissen, daß sie zu schnell waren. Beide würden auch lich überzeugt, daß drei Richter an den Oberlandes- den Bußgeldbescheid und das Fahrverbot akzeptie- gerichten nur noch in besonderen Fällen ein gemein- ren, wenn da nicht ein schlimmer Haken wäre: Je- sames Votum abgeben müssen und daß für die dem von ihnen droht die fristlose Kündigung, wenn Masse der Verfahren Wissen und Können eines Rich- sie nicht weiter für die Firma fahren können. Die Ret- ters zur Überprüfung der Urteile eines Amtsgerichts tung: Urlaub nehmen. Aber das ist zur Zeit nicht völlig ausreichen. möglich. Was tut man also?

Wir lassen aber die Rechtsmittel ohne Einschrän- (Detlef Kleine rt [Hannover] [F.D.P.]: Ein kung zu, wenn es um ein Fahrverbot geht. Denn wir spruch!) wissen, welche Bedeutung dieses Stückchen Papier für die Menschen hat. - Ich sehe, wir verstehen uns in der Sache. - Man legt Einspruch ein. Die Verfahren kommen zum Schon im Ermittlungsverfahren geben wir Gas und Amtsgericht. erwarten dadurch eine deutlich schnellere Bearbei- tung. Der Rahmen der Geldbußen wird auf 3 000 DM Die Sache von Fahrer A. wird vor dem Amtsgericht erhöht. Ich hoffe, Herr Wissmann wird mit Freuden in K., die von Fahrer B. vor dem Amtsgericht in H. hören, daß wir das ebenso wie er vorhaben. Das gibt verhandelt. Beide erklären den Gerichten ihre Pro- Behörden und Gerichten im Einzelfall die Gelegen- bleme. Die Richterin - ich betone ausdrücklich: Rich- heit, auf hartnäckige Fälle auch mit empfindlicheren terin! - in K. zeigt Verständnis. Sie vertagt das Ver- Bußen zu reagieren. Das hat nichts mit Abkassieren fahren drei Monate. In dieser Zeit nimmt A. Urlaub, zu tun, wie man vereinzelt von Lobbyisten- hören reicht seinen Führerschein zur Akte und nimmt den konnte. Wir wollen damit nur ein Instrument für Be- Einspruch zurück. In der Firma merkt niemand etwas hörden und Justiz verbessern, damit die Millionen or- davon. Mehrkosten entstehen ihm auch nicht. dentlichen Verkehrsteilnehmer umfassender vor Ra- Der Richter in H. ist nicht so konziliant. Er verwirft sern, Dränglern und Brutalos geschützt werden kön- B.s Einspruch. B. legt Rechtsbeschwerde ein. Das nen. Verfahren kommt zum Oberlandesgericht; ein Ober- (Beifall bei der SPD) staatsanwalt und drei Richter befassen sich damit. Vier Monate nach dem Urteil des Amtsgerichts in H. Wer etwas anderes behauptet, stellt sich Seite an wird die Rechtsbeschwerde verworfen. Das Urteil ist Seite mit Verkehrsrowdies. rechtskräftig, das Fahrverbot wird sofort wirksam. B. ist verzweifelt, er hat seinen Jahresurlaub schon ge- (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: nommen. Was nun? Er muß die Tatsache seiner Firma Starker Tobak! - Lachen des Abg. Detlef mitteilen, erhält prompt die Kündigung, und einen Kleinert [Hannover] [F.D.P.]) Haufen Kosten trägt er auch noch.

- Ich muß ja einmal etwas bringen, was auch Ihnen Hier will und wird unser Entwurf für Gerechtigkeit Spaß macht, Herr Kleine rt . und Sicherheit sorgen. Betroffene Kraftfahrer sollen künftig bis zu vier Monate nach Rechtskraft entschei- Wir wollen der Polizei die Möglichkeit einräumen, im breiteren Rahmen als bisher mit Verwarngeldern den, wann das Fahrverbot vollstreckt wird. Das wird zu arbeiten, also einfache Sachverhalte schnell und klappen und wird auch nicht zur Lachnummer, wie unbürokratisch zu erledigen und auf den üblichen einzelne Kritiker unken. Im Gegenteil, die Menschen Papierkrieg zu verzichten, sofern die Betroffenen ein- werden uns für dieses Stück persönlicher Verantwor- verstanden sind. tung dankbar sein. Behörden und Gerichte werden dann von vorsorglich eingelegten Rechtsmitteln, wie Durch Änderungen der Verjährungsbestimmun- ich sie eben geschildert habe, verschont werden, was gen wollen wir die Verwaltungsbehörden zu schnel- eine erhebliche Entlastung auf allen Ebenen bedeu- lem Handeln anhalten. Es kann nicht angehen, daß tet. ein Bußgeldbescheid vom Schreibtisch des Sachbear (Beifall bei der SPD) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996 9443

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Gestatten Sie Aber ich bin sicher, daß wir zu einer guten gemein- eine Zwischenfrage des Abgeordneten Eylmann? samen Lösung kommen werden. Wir haben nämlich unseren Entwurf mit vielen Praktikern erörtert, bevor wir uns hierhergewagt haben, und sie haben uns (SPD): Herrn Eylmann gestatte Alfred Hartenbach noch zusätzliche gute Hinweise gegeben. Ich freue ich immer eine Zwischenfrage. mich darauf, daß wir demnächst in den Gremien Rechtsausschuß und Verkehrsausschuß diese Gedan- Horst Eylmann (CDU/CSU): Lieber Herr Kollege ken, diese Reformen und auch die Hinweise der Hartenbach, ist Ihnen aufgefallen, daß der Unter- Praktiker gemeinsam erörtern können. Ich bin sehr schied in den von Ihnen geschilderten Fällen eigent- sicher, daß wir hier alle den gemeinsamen Willen ha- lich darin lag, daß der eine Fahrer seinen Jahresur- ben, eine Reform zu schaffen, die beidem dient: die laub noch hatte, der andere nicht, und daß auch in den Menschen dient, auf die das Recht hier anzu- Zukunft, wenn Sie diese neue Regelung mit den vier wenden ist, und die auch der Justiz dient, damit sie Monaten haben, der Tatbestand, daß der eine seinen entlastet wird. Jahresurlaub schon genommen hat und der andere nicht, nicht aus der Welt geschafft werden kann? Ich danke Ihnen für Ihr geduldiges Zuhören. (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Alfred Hartenbach (SPD): Herr Eylmann, ich habe GRÜNEN und der PDS sowie bei Abgeord diesen Unterschied sogar sehr bewußt vorgebracht, neten der CDU/CSU) weil es eben diese Unterschiede gibt. Ich habe zwei authentische Fälle vorgetragen. Der eine mußte sei- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat nen Urlaub nehmen. Ich wollte nicht sagen, daß er jetzt der Abgeordnete Freiherr von Stetten. schlecht beraten gewesen sei, daß er in dieser Zeit nicht seinen Führerschein zur Akte gegeben hat. Sie haben mich dazu herausgefordert. Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Man Wir werden es aber künftig, denke ich, durch eine könnte ja, wenn man Herrn Hartenbach zugehört vernünftige Belehrung der Betroffenen hinbekom- hat, von Onkel Hartenbachs Märchenstunde reden, men - ich hoffe, Sie machen da bei den Beratungen wenn nicht die Realität so traurig wäre. Es ist lange mit -, daß die Menschen nicht mehr in diese Be- genug über die Vereinfachung des Ordnungswidrig- drängnis kommen. Das ist das eigentliche Ziel unse- keitenverfahrens geredet und diese gefordert wor- res Entwurfes, und ich freue mich schon auf die Bera- den. Nun werden wir, wenn ich das richtig sehe, end- tung mit Ihnen. lich handeln und schnell mit großer Mehrheit des Hauses dann auch entscheiden, weil der vorliegende Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Gestatten Sie Gesetzentwurf der SPD mit dem vom Kabinett verab- eine Zwischenfrage des Kollegen Weng? schiedeten Entwurf in vielen wesentlichen Punkten - übereinstimmt. Nur, lieber Herr Hartenbach, unser Gesetzentwurf, den wir immerhin als Schnellbrief be- Alfred Hartenbach (SPD): Natürlich. Das gibt mir kommen haben - das ist nicht das, was Sie in der Ta- Gelegenheit, noch etwas mehr aus meinem Reper- sche haben -, ist natürlich der bessere; das ist gar toire zu schöpfen. keine Frage. (Alfred Hartenbach [SPD]: Mehr hatte ich (Gerlingen) (F.D.P.): Herr Kol- Dr. Wolfgang Weng leider noch nicht!) lege, wenn ich Sie richtig verstanden habe, dann hat bei diesen gleichgelagerten Fällen die vernünftigere - Das, was Sie da haben, ist ja nur eine Presseerklä- Lösung eine Richterin, die andere ein Richter auf den rung. Der Entwurf ist etwas dicker als eine Seite. Weg gebracht. Wollten Sie damit eine grundsätzliche Aussage verbinden? (Dr. Eckhart Pick [SPD]: Hoffentlich ist er auch inhaltlich kein Schnellbrief!) Alfred Hartenbach (SPD): Nein, Herr Kollege. Ich - Er ist viel besser. habe eben schon Herrn Eylmann gesagt, daß ich zwei authentische Fälle geschildert habe, und ich Wir können - um das auch zu sagen -, nun darüber wollte Sie nicht belügen. streiten, wer von wem abgeschrieben hat. Aber es ist müßig, weil beide Entwürfe miteinander vereinbar Jetzt komme ich zu unserem Kernstück; hier wollte sind und in den Beratungen sicher vernünftige und ich auch Sie, Herr Funke, ansprechen. Wir wissen, rechtsstaatlich ausgewogene Lösungen gefunden daß es weitere Entwürfe zur Änderung des Ord- werden können. Wir dürfen nicht vergessen, das Ge- nungswidrigkeitenrechtes gibt. Einen trage ich auf setz über die Ordnungswidrigkeiten ist 1968 verab- dem Herzen; das ist der, den Ihr Haus erarbeitet hat. schiedet worden, um die kleineren Verstöße gegen Aber sie sind alle nicht so gut und an den Bedürfnis- die Rechtsordnung aus der Strafjustiz herauszuneh- sen der Praxis orientiert wie unser Entwurf. Einer- men, die Verfahren zu beschleunigen und die Ge- seits sehen diese Entwürfe Entlastungen nur in der richte zu entlasten. Das war am Anfang auch so ge- Beschneidung der elementaren Rechte der Betroffe- lungen. Aber mehr und mehr wurden Tatbestände nen, andererseits werden echte Neuerungen ver- aufgeführt, die Ordnungswidrigkeiten waren. So ent- mißt. wickelten sich die Ordnungswidrigkeitenverfahren 9444 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996

Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten mit krakenhaftem Antrieb, was Häufigkeit und Um- ten sollte man dazu kommen. Wir sind uns einig, fang betrifft, und die Gerichte wurden belastet. daß der Einzelrichter bis 10 000 DM Bußgeldhöhe zu entscheiden hat. Ob dies auch bei Nebenstrafen gel- Dazu kamen naturgemäß noch die hausgemachten ten soll, zum Beispiel beim Fahrverbot, ist eine Komplizierungen durch die Gerichte selbst, wenn grundsätzliche Frage. Ich würde mich dafür ausspre- entscheidungsunfreudige oder entscheidungsunfä- chen. hige Richter bei Verkehrsverstößen einem Zeugenla- dungsrausch anheimfielen und damit täglich Tau- Die mit dem SPD-Entwurf geforderte Änderung sende von Polizeibeamten und Bürgern von ihrer ei- der Anordnung der Erzwingungshaft ist zumindest gentlichen Arbeit abhielten, nur um sie dann in der bedenkenswert. Auch hier ist sicher nicht entschei- mündlichen Verhandlung zu fragen, ob die bereits dend, ob 95 DM oder 75 DM die Grenze sind. Auf der schriftlich fixierte Polizeiaussage auch richtig sei anderen Seite bestehen vom erzieherischen und oder nicht. Das sind Luxusdinge, die wir uns nicht rechtsstaatlichen Grundsatz her Bedenken. Es mehr leisten sollten. Dieser Zeugenmißbrauch, der könnte natürlich ausgenutzt werden. teilweise auch in anderen Strafverfahren, auch in Zi- vilverfahren auftritt, könnte durch gründliche Vorar- Vernünftig erscheint mir in beiden Entwürfen die beit leicht vermieden werden. Er ist nicht nur kosten- Neuregelung zum persönlichen Erscheinen in der aufwendig und zeitaufwendig, sondern frustiert ins- Hauptverhandlung. Das Gericht muß von dieser Ver- besondere Zeugen und führt zu den eben auf geführ- pflichtung nach beiden Entwürfen befreien, wenn ten personellen Überlastungen bzw. monatelangen bestimmte Voraussetzungen vorliegen und nicht - oder jahrelangen Verfahren. wie in dem von Herrn Hartenbach geschilderten Fall - die persönliche Anwesenheit zur Aufklärung Der Rechtsmittelmißbrauch der Betroffenen, den notwendig ist. Damit wird manchem Amtsrichter - Herr Hartenbach deutlich angesprochen hat, durch ich will das nicht verallgemeinern - das Druckmittel Rechtsschutzversicherungen abgedeckt und gewinn- genommen, das er oft direkt oder indirekt zur Rück- strebende Anwälte geschürt, tat dann ein übriges. nahme des Einspruchs angewandt hat, nämlich die Auch die Beschwerdegerichte, die mit drei ausge- Maßgabe: Sie können ja Ihren Einspruch zurückneh- wachsenen, hochbezahlten Richtern am Oberlan- men, dann müssen Sie nicht erscheinen. desgericht besetzt sind, haben oft durch klein- karierte, pingelige Aufhebungen der Entscheidun- Mancher Einspruch ist auch aus finanziellen gen der Vorgerichte zur Beschwerdefreudigkeit bei- Gründen zurückgenommen worden, weil es keinen getragen. Sinn machte, von Frankfu rt in den Bayerischen Wald oder von Hamburg nach Stuttga rt zur Haupt- In beiden Gesetzentwürfen werden diese wesentli- verhandlung zu kommen, um einen Bußgeldbe- chen Mängel als änderungsbedürftig anerkannt und scheid aufzuheben oder einen Einspruch im letzten Vorschläge zu ihrer Abhilfe gemacht. Dabei wurde Moment zurückzunehmen. Hier, so glaube ich, ist es auch den überholten Grenzen der Ordnungswidrig- richtig, daß der Richter von der Verpflichtung zum keitengelder, der Erweiterung der Einstellungsmög- Erscheinen nicht wie früher nur befreien kann, son- lichkeiten etc. Rechnung getragen. - dern daß er es muß, wenn bestimmte Vorausset- Daß es bei den Gesetzentwürfen hierbei noch un- zungen vorliegen. terschiedliche Grenzen gibt, ist zu vernachlässigen. Wir sind in den anstehenden Beratungen sicher zu Die Erweiterung der Möglichkeit, im schriftlichen gemeinsamen Beschlüssen fähig. Ob das Wo rt „tau- Verfahren zu entscheiden, ist ebenfalls ein richtiger send" durch „zweitausend" oder „dreitausend" oder Schritt, genauso wie die Beschränkung von Rechts- das Wort „fünfhundert" durch „zwölfhundert" oder mitteln auf einzelne Teile des Beschlusses oder Ur- „fünfzehnhundert" oder das Wo rt „fünfundsiebzig" teils. Häufig wird ja vom Grunde her die Angelegen- durch „einhundertfünfzig" ersetzt wird, bleibt sich heit nicht bestritten, nur die Höhe des Bußgeldes letztlich gleich. Ich glaube, lieber Kollege Harten- oder die Nebenmaßnahme wird beanstandet, zum bach - ich mache gerade Vorschläge, wie wir uns Beispiel das Fahrverbot. Hier kann man erheblich einigen -, die sehr wenig differenzierenden Höhen Zeit und Geld sparen, und man kann auch schon im spielen keine Rolle. Einspruchsverfahren vereinfacht und auch schneller entscheiden, meist dann auch im schriftlichen Ver- Grundsätzlicherer Art ist aber die Frage der Buß- fahren. geldsenate der Oberlandesgerichte. Hier macht es schon einen Unterschied, ob man sagt, die Bußgeld- Damit das schriftliche Beschleunigungsverfahren senate der Oberlandesgerichte sind mit einem Rich- nicht so leicht an niedrigen Beweggründen scheitert, ter besetzt - wie die SPD sagt -, oder ob man - wie die es ja bei Rechtsanwälten nicht geben soll, näm- wir - sagt, die Bußgeldsenate der Oberlandesge- lich an Gebühren, wird man die Änderung der richte sind mit drei Richtern besetzt, und dann je- BRAGO vornehmen, damit das schriftliche Verfahren weils die Ausnahmen aufführt. Aber auch darüber genau die gleiche Gebühr kostet wie das mündliche werden wir Einigung erzielen. Verfahren. Die Frage des beschleunigten Verfahrens, die Der Herr Justizminister ist nicht hier, aber, lieber Frage der Beweiswürdigung ist sicher eine sehr Herr Funke, wir werden hoffentlich sehr schnell mit- schwierige Sache, weil sie immer eine Frage des einander zum Ergebnis kommen; denn ich glaube, Rechtsstaates ist. Aber auch bei Verfahren über mit wir im Rechtsausschuß sind über die Parteigrenzen kleineren Geldbußen beweh rte Ordnungswidrigkei hinweg der Meinung, daß etwas geschehen muß, Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996 9445 Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten und dann werden wir auch kurzfristig diesen Weg könnte. Hier geht es immerhin nicht um die Verhän- finden. gung einer Kriminalstrafe. Danke schön. Ich warne allerdings: Ordnungswidrigkeitsverfah- ren lassen sich nicht als Peanuts abtun, bei denen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. man es mit der Wahrheitsfindung nicht so genau sowie bei Abgeordneten der SPD) nehmen muß. So soll etwa die Beschwerdesumme von 200 auf 500 DM erhöht werden. Ich gebe zu be- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat denken: Nicht jeder Bürger kann diese Summe so jetzt der Kollege Volker Beck. einfach aus der Portokasse bezahlen. Auch eine weitere Einschränkung des Beweisan- Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): tragsrechts ist bedenklich. Ich will mich hier einer Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Diskussion nicht verschließen, aber bin bei manchen heutige Sitzungstag steht ganz unter dem Leitthema Punkten skeptisch. Schließlich hat gerade in Ord- „Sparen"; allerdings nähert sich die SPD-Fraktion nungswidrigkeitsverfahren nicht jeder Beschuldigte mit dem vorliegenden Entwurf dem Thema in mode- auch einen Verteidiger. Das müßten wir in dieser raterer und zielgenauerer Form, als dies die Bundes- Rechtsmaterie natürlich bedenken. regierung heute morgen mit ihrem sogenannten Einen guten Ansatz für eine Zurückdrängung von Sparpaket vermocht hat. Einspruchsverfahren sehe ich jedoch in dem Vor- Daß große Teile der Justiz an den Grenzen ihrer schlag der SPD-Fraktion, den Zeitpunkt, an dem ein Belastbarkeit arbeiten, ist unbestreitbar. Daß auf ab- Fahrverbot wirksam wird, vom Zeitpunkt der Rechts- sehbare Zeit keine relevante Aufstockung des Perso- kraft des Bußgeldbescheides zu entkoppeln. Warum nals zu erwarten ist, ist gleichfalls allen hier bekannt. das in dem Entwurf des Bundesjustizministeriums nicht vorkommt, ist meines Erachtens erklärungsbe- Um so wichtiger ist es deshalb, innerhalb der Ju- dürftig. Ich hoffe, Sie sind in dem Punkt einer Diskus- stiz nach Entlastungsmöglichkeiten zu suchen. Hier sion gegenüber aufgeschlossen. müssen überkommene Strukturen aufgebrochen und Arbeitsabläufe rationalisiert werden. Unabdingbar Das Fahrverbot ist eine angemessene und zugleich ist die Zurücknahme von Strafansprüchen und Kon- äußerst wirkungsvolle Reaktion auf Verkehrsord- zentration auf das Wesentliche im strafrechtlichen nungswidrigkeiten. Hieran soll und darf sich auch Bereich. Hier ist noch lange nicht das Ende der Fah- nichts ändern. Es ist jedoch nicht zu übersehen, daß nenstange erreicht; im Gegenteil: Die offene und die Verhängung eines Fahrverbotes für viele einen ideologiefreie Diskussion hat noch gar nicht begon- tiefen Einschnitt nicht nur in die private, sondern nen. Hier werden wir weiter darauf drängen, daß in auch in die berufliche Lebensgestaltung mit sich dieser Richtung endlich einmal etwas geschieht. bringt. Ich denke hier etwa an die Berufskraftfahrer oder an Pendler, die ihr Auto für den Weg zur Arbeit Nicht jede Vereinfachung bestehender Verfah- benötigen. Herr Hartenbach hat das schon angespro- rensordnungen ist gleichzusetzen mit Aushöhlung chen. des Rechtsschutzes. Nicht jede vorhandene Rege- Um den Zeitpunkt, an dem das Fahrverbot wirk- lung hat sich auch bewährt. Und bei mancher Vor- sam wird, hinauszuzögern und die Zeit während des schrift ist es schlicht eine Frage der Abwägung, ob Fahrverbotes vernünftig zu organisieren, legen viele deren Aufrechterhaltung den verursachten Aufwand der Betroffenen daher erst einmal prophylaktisch angesichts der Notwendigkeit einer sinnvollen Ver- Einspruch gegen den Bescheid ein, in dem das Fahr- teilung der anfallenden Arbeit noch rechtfertigt. verbot verhängt wird. Hiermit haben sich dann die Gerade die Bearbeitung von Ordnungswidrigkeits- Gerichte herumzuschlagen - eine völlig unnötige verfahren bindet einen bedeutenden Anteil der Ar- Belastung der Justiz. beitskraft an Amts-, aber auch an Oberlandesgerich- Ich teile die Hoffnung der Verfasser des Gesetzent- ten. Gleichzeitig sehe ich hier durchaus Potential für wurfs, daß sich die Zahl der Einsprüche reduziert, eine Reform, die eine Entlastung der Justiz herbei- wenn wir den Betroffenen gestatten, innerhalb eines führt und eine Umverteilung der do rt anfallenden Ar- bestimmten Zeitraumes selbst zu bestimmen, wann beit ermöglicht. das Fahrverbot in Kraft tritt. Daß es im Einzelfall So stellt sich etwa die Frage, ob das hergebrachte dazu kommen mag, daß das Fahrverbot in die Zeit Zwischenverfahren bei den Staatsanwaltschaften für des Jahresurlaubes gelegt und die Sanktionswirkung eine effektive Verfahrensdurchführung tatsächlich damit abgemildert wird, erscheint mir angesichts der notwendig ist. fehlenden Alternativen durchaus hinnehmbar. Für sinnvoll halte ich auch die Einführung der Positiv hervorheben möchte ich noch den Vor- Möglichkeit, einen Einspruch gegen einen Bußgeld- schlag, die Anordnung von Erzwingungshaft in Ba- bescheid auf einzelne Beschwerdepunkte zu be- gatellverfahren gesetzlich zu verbieten. Als Bagatell- schränken. verfahren nur solche mit einer Geldbuße bis zu 95 DM zu bezeichnen erscheint mir indes ein wenig Auch die Einführung eines grundsätzlichen Einzel- zaghaft. Es ist doch absurd, daß die Verfolgung einer richterprinzips bei den Bußgeldsenaten der Oberlan- Tat als Ordnungswidrigkeit schneller zu einer Inhaf- desgerichte scheint mir ein durchaus vertretbarer tierung führen kann, als dies der Fall wäre, wenn die Ansatz zu sein, der eine Entlastung bewirken gleiche Tat als Straftat verfolgt worden wäre, wo es 9446 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996

Volker Beck (Köln) etwa bei einem Ersttäter in der Regel zu einer Ein- rücksichtigung irgendwelcher Tatsachen verurteilt stellung gekommen wäre. wird, geht mir entschieden zu weit. Meine Damen und Herren, der Umstand, daß nun ( [CDU/CSU]: Das stimmt!) endlich auch das Bundeskabinett einen Entwurf zur Reform des Ordnungswidrigkeitenrechts verabschie- Ich habe das Gefühl: Nicht alle Amtsrichter sind det hat, in dem sich in weiten Teilen Parallelen zum gleich. Das ist gut so. SPD-Entwurf finden, gibt Anlaß zur Hoffnung, daß (Annette Faße [SPD]: Das wäre ja auch wir in dieser Legislaturpe riode einen vernünftigen langweilig!) Kompromiß finden werden. Alle Menschen sind unterschiedlich. Deshalb gibt es Gerade ein vereinfachtes Ordnungswidrigkeitsver- auch unterschiedliche Amtsrichter. Ich glaube, ei- fahren schafft auch neue Spielräume für die Rück- nige Amtsrichter aus meiner praktischen Advokaten nahme des staatlichen Strafanspruchs - Schlagwort: tätigkeit zu kennen, die es für weitaus unwesentli- Entkriminalisierung. Wir brauchen das Ordnungs- cher halten, daß Angeklagte und Zeugen eine widrigkeitenrecht als Weg zu bürokratieärmeren Stunde auf dem zugigen Gerichtsgang sitzen müs- Sanktionen bei geringfügigen Rechtsverletzungen, sen, als daß sie selbst eine Minute auf den nächsten wie zum Beispiel dem Schwarzfahren. Deshalb wer- Termin warten müssen. den wir Reformbemühungen zur rechtsstaatskonfor- men Vereinfachung des Ordnungswidrigkeitenrech- (Uwe Hiksch [SPD]: Namen wollen wir tes aktiv unterstützen. hören!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Das würde ein bißchen zu weit gehen, an dieser sowie bei Abgeordneten der SPD und der Stelle. Nein, nein. PDS) (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Dienststelle!) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt der Kollege Detlef Kleine rt. - Das fällt unter den Datenschutz und unter all das, was Sie immer wollen. Detlef Kleinert (Hannover) (F.D.P.): Frau Präsiden- Jedenfalls könnte man Termine auch publikums- tin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! freundlicher gestalten. Das sage ich an die Adresse Herr Kollege Westerwelle hat mir vorhin gesagt, Herr der wenigen hier nicht anwesenden Amtsrichter. Hartenbach habe ähnlich formuliert, wie er es von Man könnte sich durchaus vorstellen, daß das Be- seinem Repetitor gewohnt gewesen sei. Die richtig wußtsein, eine Dienstleistung zu erbringen, auch in praktischen Juristen verdanken ihren Repetitoren ja diese Kreise vordringt. sehr viel. Ich will keinem richtigen Professor etwa da- mit Abbruch tun. Wir dürfen uns aber auch einmal Es wird in diesem Zusammenhang allerdings ge- - dankbar unserer Repetitoren erinnern. Heute hatte sagt: Egal, warum die Person jetzt nicht da ist, er dies hier eine solch plastische Atmosphäre des Repe- wird verurteilt, ohne daß überhaupt auf die Sache titoriums. Die fehlt nun manchmal im Hörsal. Das eingegangen wird. richtet sich keineswegs gegen alle und schon gar nicht gegen anwesende Professoren. Das muß klar (Dr. Eckhart Pick [SPD]: Unentschuldigt!) sein. - Wieso soll er sich entschuldigen, wenn er die feste Im übrigen ist es ja so, daß wir hier Vertreter des Absicht hatte, pünktlich da zu sein? ganzen deutschen Volkes sind. Herr Hartenbach, in (Dr. Eckhart Pick [SPD]: Dann ist er doch gewissen Grenzen bin ich gerne bereit, Ihre Vor- entschuldigt! - Heiterkeit) schläge hinzunehmen. Sie haben aber an einigen Punkten durchblicken lassen, daß Sie von Beruf, Er- - Irgendwas muß ja passiert sein. - Das ist wirklich fahrung und Werdegang eher Amtsrichter sind. eine der bedenklichsten Stellen Ihres im übrigen ver- dienstvollen Diskussionsbeitrages. Angesichts einiger Kernpunkte Ihres Gesetzent- wurfes möchte ich zu dem Hauptpunkt meiner Kritik Im übrigen finde ich es sehr lobenswert, daß Sie kommen. Es wäre ja langweilig, Sie andauernd zu sich vorher mit den Praktikern über diese Dinge un- belobigen. Ich finde Ihren Gesetzentwurf im ganzen terhalten haben. Auch ich mache das. Die Fachleute, gesehen ganz p rima. Wer von wem abgeschrieben die hier in dieser kleinen Runde im wesentlichen an- hat, lassen wir einmal gleich außen vor. Darum müs- wesend sind, wissen, daß man über so etwas erst ein- sen sich die Beteiligten kümmern. Ich habe da keine mal in der „Meineidsklause" sprechen muß, bevor Organisationsverantwortung und werde mich dazu man sich in das Plenum des Deutschen Bundestages auch nicht weiter äußern. vorwagt. Alles das muß an den dafür bestimmten Orten vorgeklärt werden. Was meine Kritik anbelangt, nenne ich § 74 Abs. 3. Die von Ihnen vorgeschlagene Fassung ist mir nun (Heiterkeit) doch ein bißchen dick aufgetragen. Daß jemand, der aus irgendeinem Grund - der hier nicht näher be- Ebenfalls ist mir aufgefallen, Herr Hartenbach, daß schrieben ist - nicht vor Gericht erscheint, ohne Be- von einem „Senat" nicht mehr gesprochen werden Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996 9447

Detlef Kleinert kann, wenn dort nur noch ein Richter sitzt: Tres fa- sie hier mit sehr bewegenden Worten und einem ein- ciunt collegium. drucksvollen, langandauernden Beispiel dargelegt. (Zuruf von der SPD: Dann heißt der „Sena Die Autoren dieses Entwurfs sehen diesen Weg in tor" ! ) der Hauptsache darin - das würde ich hier sagen wollen -, Rechte der Betroffenen zu reduzieren. Ich - Der Senat ist eben auf einmal ein Einzelrichter, habe meine Zweifel, ob dieser Ansatz so richtig ist. wenn dort nur noch ein Richter sitzt. Dieser Punkt in Nach meiner Ansicht jedenfalls ist er einseitig. Er ist dem Entwurf hat mich sprachlich und logisch ein we- vielleicht zu stark aus der Sicht des Amtsgerichts- nig überrascht, weil ich von Ihren diesbezüglichen direktors gesehen. Fähigkeiten im übrigen eine hohe Meinung habe. Ein Problem spielt hier eigentlich kaum eine Rolle: Mit all diesen Bemerkungen will ich ja nur eines Das ist die veränderte Arbeitsweise im Vorfeld. Im andeuten: Im Grunde sind wir alle dabei, gemeinsam Grunde wird nur über die Frage gesprochen, was nach vernünftigen Wegen zu suchen, diese Verfah- man auf dem Gebiet der Rechtspflege macht. Ich ren zu beschleunigen. Wir wollen dabei aber keine meine aber, im Vorfeld sei doch einiges zu tun. Rechte verletzen. Das sehe ich in bezug auf den Rechtliche Regelungen können dafür sicher bessere Punkt, den ich am Anfang angesprochen habe, wo Rahmenbedingungen schaffen; die Veränderung der Rechte verletzt werden, die nun wirklich wichtig Arbeitsweise scheint mir jedoch ein eigenständiges sind. Problem zu sein. Die praktische Handhabung des Fahrverbots in In der Begründung des Entwurfs wird darauf hin- der vorgeschlagenen Form drängt sich dera rt auf, gewiesen, daß in der Mehrzahl der Fälle offenbar daß wir uns allesamt fragen müssen, warum wir nicht erst nach 6 bis 12 Monaten nach der Tat - Tat ist ein früher darauf gekommen sind, die Sache anders an- sehr heftiges Wo rt - der Bußgeldbescheid ergeht. zufassen. Ich habe keine andere Meinung gehört. Dieses Vorgehen erscheint mir doch sehr zweifelhaft. (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der Weiter heißt es do rt , daß die Betroffenen in aller SPD) Regel ursprünglich gar nicht vorhatten, ein Rechts- Daß sich jemand das gerne so einrichtet, wie es mittel einzulegen, daß sie dies erst auf Grund des ihm am besten paßt, ist erstens verständlich und Prozederes gemacht haben. Da stellt sich doch die zweitens berechtigt. Daß man auf Grund eines künst- Frage, ob wir nicht ernsthaft darüber reden sollten, lichen Einspruchsverfahrens Akten wieder in Umlauf was im Vorfeld bei Polizei und Ordnungsbehörden setzt, ist natürlich falsch. Die diesbezügliche Anre- geändert werden könnte. gung ist eine von mehreren besonders vernünftigen. Ich weiß auch nicht, ob die vorgeschlagenen Ge- Weil sich das alles so verhält, werden wir uns rich- setzesänderungen tatsächlich merkliche Entlastun- tig schön praktisch und nicht ohne Rückkoppelung gen bringen werden; das sollten wir auf jeden Fall in der „Meineidsklause" mit der Sache befassen, da- überprüfen. Mir scheint, daß in einer Reihe von Fäl- mit etwas Vernünftiges dabei herauskommt.- len noch keine überzeugenden Aussagen gemacht worden sind. Auch hier sehe ich die Gefahr, daß wir Herzlichen Dank. etwas korrigieren, aber nach wie vor vor derselben Situation stehen. Das hatten wir schon bei mehreren (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne Regelungen zur Entlastung der Rechtspflege zu ver- ten der CDU/CSU und der SPD - Joseph zeichnen. Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ NEN]: Diese Rede war drei Flaschen golde Insofern halte ich es für problematisch, die Entla- ner Richtergeist wert!) stungen nur durch eine Reduzierung der Rechte der Betroffenen erreichen zu wollen. Dies ist meines Er- achtens aus rechtsstaatlicher Sicht kontraproduktiv. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Jetzt hat das Wort der Abgeordnete Uwe-Jens Heuer. Es trägt dazu bei, eine Gewöhnung an die scheib- chenweise erfolgende Reduzierung von Bürgerrech- ten herbeizuführen, an die falsche Gleichung, weni- Dr. Uwe-Jens Heuer (PDS): Frau Präsidentin! ger Rechte würden mehr Effektivität und Sicherheit Meine Damen und Herren! Es ist ja schön, daß in un- bringen. serem Hause auch einmal Fröhlichkeit aufkommt. Eine konstruktive und gute Idee ist aus meiner (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ Sicht die vorgeschlagene Regelung einer Neufas- DIE GRÜNEN]: Die müssen Sie aber jetzt sung von Art . 33 Abs. 1 Nr. 9 des Gesetzes über Ord- gleich unterdrücken, Herr Heuer! - Heiter nungswidrigkeiten über die Unterbrechung der Ver- keit) folgungsverjährung. Die Unterbrechung soll nicht - Es ist alles möglich, Herr Fischer; Sie sind zu vielem mehr durch den Bußgeldbescheid schlechthin, son- fähig. dern durch den Erlaß des Bußgeldbescheides, sofern dies binnen zwei Wochen geschieht, ansonsten Verkehrsordnungswidrigkeiten haben sich, wie durch die Zustellung erfolgen. Hierdurch würde dies zu Recht in der Begründung des Gesetzentwur- zweifellos ein direkter Zwang auf die Behörde ausge- fes festgestellt wird, zu Massenverfahren mit hohem übt, sich an die reale Verjährungsfrist von drei Mona- zeitlichen Aufwand entwickelt. Herr Hartenbach hat ten zu halten. Eine Ursache für unberechtigte Ein- von einer ständig wachsenden Flut gesprochen und sprüche würde wegfallen. 9448 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996

Dr. Uwe-Jens Heuer Viel wichtiger als die Sanktion aber ist in meinen gestaltung der Arbeitsweise nicht nur der Rechts- Augen das schnelle Reagieren auf eine Verfehlung. pflegeorgane, sondern auch der Polizei und der Ord- Mehr Bürgernähe könnte beispielsweise dadurch er- nungsbehörden im Interesse der Sicherung von Ef- reicht werden, daß Einsprüche bereits auf der Ver- fektivität und Bürgernähe erforderlich. Mir scheint waltungsebene positiv entschieden werden oder ein eine Diskussion über diese Fragen im Ausschuß er- Bürgergespräch zur Klärung führt, so daß der Gang forderlich. zum Amtsgericht überflüssig wird. Ich meine, man sollte auch die Arbeitsweise der Ordnungsbehörden Danke schön. zur Diskussion stellen. (Beifall bei der PDS sowie des Abg. Joseph Herr Beck hat den Vorschlag gemacht, man solle Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ mit dem Täter Gespräche über das Fahrverbot und NEN]) den Zeitraum seiner Geltung führen. Wann aber soll dieses Gespräch stattfinden? Wenn der Sachbear- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat beiter in der Ordnungsbehörde nur ein Formular jetzt der Abgeordnete Franz Peter Basten. schickt und derjenige, der dieses Formular erhält, nicht oder verspätet antwortet und dann einen Buß- Franz Peter Basten (CDU/CSU): Frau Präsidentin! geldbescheid zugesandt bekommt, ist eine Klärung Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Entla- auf diesem Wege vielleicht nicht möglich. Man sollte stung der Rechtspflege von Massenverfahren ist ein also überlegen, ob in den Ordnungsbehörden ein rechtspolitischer Dauerbrenner. Der Gesetzentwurf anderer Arbeitsstil eingeführt werden kann. der SPD enthält Elemente, die uns bei der Problemlö- Warum kann keine Verständigung zwischen Bür- sung ein Stück voranbringen können. Es ist bei die- ger und Ordnungsbehörde erzielt werden, wenn es ser Gelegenheit auch einmal gut, darauf hinzuwei- dem Bürger zum Beispiel nur um die Höhe des Buß- sen, daß in diesem Hause nicht bei allem Dissens geldes und um die Punkte in Flensburg geht? Da- herrscht. Dies sollten wir dazu nutzen, in den Berei- durch würden wir die Gerichte entlasten. chen, in denen es wirklich nicht nötig ist, künstliche Fronten aufzubauen, im Interesse der Sache im Kon- Ein Problem ist nach Aussage von Rechtsanwälten, sens voranzukommen. Dafür ist das, was auf dem die in derartigen Verfahren tätig sind, auch der Tisch liegt, sicherlich eine gute Grundlage. Druck, dem Polizisten unterliegen, in zureichendem Maße Anzeigen und Bußgelder zu erbringen. Das Die Ordnungswidrigkeitenverfahren sind, gemes- kann zu falschen Aussagen der Art führen, daß zum sen an ihrer Bedeutung, zu aufwendig und zu teuer. Beispiel behauptet wird, der Bürger habe eine rote In der Absicht, eine umfassende Individualrechtssi- Ampel überfahren. Der Polizist vertritt sich in eigener cherung zu gewährleisten, bewirken die strafprozes- Sache, und der Bürger hat das Nachsehen. Wir soll- sualen Prozeduren eher das Gegenteil. Vorbehaltlich ten also überprüfen, ob es Praktiken einer A rt von einer vertieften Diskussion und abschließenden Be- Bußgeldsoll gibt, die sich zweifellos nicht gut auf das urteilung greife ich aus der Praxis einige wenige Verhältnis zwischen Bürger und Polizei auswirken. Aspekte heraus, die mir im vorliegenden Zusammen- - hang als besonders bedeutsam erscheinen. Sicherlich ist die vorgeschlagene Änderung in § 73 des Ordnungswidrigkeitengesetzes in Form einer Ich erwähne zunächst das Beispiel des Fahrver- Verpflichtung des Betroffenen zum Erscheinen in der bots; es ist hier bereits wiederholt bemüht worden. Hauptverhandlung rechtsstaatlich korrekter als die Ich will dazu folgendes ausdrücklich sagen: Es sind bisherige Regelung, wenn sie auch unter Umständen nicht nur die berühmten Sonntagsfahrer, denen zum mehr Verwaltungsaufwand zur Folge hat. Beispiel wegen Geschwindigkeitsüberschreitung ein Fahrverbot auferlegt wird. Es sind häufig die berufs- bedingten Vielfahrer, die unter Zeitdruck eine Ge- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Kollege, schwindigkeitsbegrenzung überschreiten. Sie müssen zum Schluß kommen. (Norbert Geis [CDU/CSU]: Abgeordnete! - Alfred Hartenbach [SPD]: Rechtsanwälte Dr. Uwe-Jens Heuer (PDS): Zumindest bei schwer- wiegenden Sanktionen wie Fahrverbot oder Führer- sind genauso gefährdet, Herr Geis!) scheinentzug erscheint mir zudem die vorgeschla- Dies betrifft viele aus ländlichen Räumen, denen der gene Regelung des § 74 Abs. 3 des Ordnungswidrig- Umstieg auf das öffentliche Verkehrsmittel als Alter- keitengesetzes, native nicht zur Verfügung steht. Auch bei einem (Alfred Hartenbach [SPD]: Fahrverbot ist einmonatigen Fahrverbot können Probleme am Ar- etwas anderes als Führerscheinentzug!) beitsplatz entstehen, die in ihren Auswirkungen in keinem Verhältnis mehr zum Unrechtsgehalt des nach der ein Ausbleiben des Betroffenen bei der Verstoßes stehen. Hauptverhandlung nicht mehr dazu führt, daß der Einspruch verworfen werden kann, sondern auto- Was will ein Außendienstmitarbeiter oder ein Be- matisch die Verwerfung des Einspruchs zur Folge rufskraftfahrer tun, wenn er vier Wochen oder sogar hat, nicht akzeptierbar. länger ein Kraftfahrzeug nicht mehr steuern darf? In solchen Fällen droht häufig der Verlust des Arbeits- Es gibt eine Reihe praxisrelevanter Probleme, die platzes. Verständige Richter haben bisher häufig mit der Gesetzentwurf aufwirft. Nach meiner Meinung Hilfsbrücken auf diese Lage reagiert, indem sie auf ist eine komplexere Sicht auf das Problem einer Neu Anregung der Anwälte so terminieren, daß das Fahr- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996 9449 Franz Peter Basten verbot in der Ferienzeit einigermaßen erträglich ab- Zunächst einmal: Sie haben den Schritt, die Staats- gebüßt werden kann. Häufig mißlingen solche ver- anwaltschaft aus dem Verfahren herauszunehmen, nünftigen Versuche, oder sie unterbleiben, aus wel- nicht gewagt, obwohl dies diskutiert wird. Ich frage chen Gründen auch immer. mich aus meiner Praxis immer wieder: Was hat die eigentlich da zu suchen, und welche Funktion erfüllt Im übrigen darf uns als Gesetzgeber eine Geset- sie in Wirklichkeit? Es läuft doch so ab, daß nach zeslage nicht befriedigen, welche die Verfahrensbe- einem Einspruch gegen den Bußgeldbescheid die teiligten zu allerlei Kunstgriffen nötigt, um für die Be- Sache an die Staatsanwaltschaft abgegeben wird. troffenen im Einzelfall eine gerechte Entscheidung Dort wird der Geschäftsstellenbeamte damit befaßt, herbeizuführen. Manche Gerichte haben sich lange dem Vorgang ein Aktenzeichen zu geben. Dann wird Zeit damit beholfen, indem sie das von der Verwal- der Vorgang dem Staatsanwalt auf den Aktenbock tung verhängte Fahrverbot aufgehoben und statt getragen, füllt den Aktenbock und den Tisch und dessen das Bußgeld verdoppelt oder verdreifacht ha- wird dann weitergeleitet an das Amtsgericht. Das ist ben. Die obergerichtliche Rechtsprechung hat diese die Regel: Arbeitsanfall, sinnlose Belastung mit Ak- Praxis der Amtsgerichte in den letzten Jahren we- tenumlauf, sonst gar nichts. sentlich erschwert. (Norbert Geis [CDU/CSU]: Ein Fachmann Der Vorschlag zur zeitlichen Flexibilität beim Wirk- spricht! - Gegenruf des Abg. Alfred Harten samwerden des Fahrverbots wird zu einer sachge- bach [SPD]: Ich erkläre Ihnen das alles!) rechten Behandlung schwieriger Fälle beitragen. Ich füge die Frage hinzu, ob die Staatsanwaltschaft Nun ein Wort zur Änderung der Bundesgebühren- dem System nach überhaupt etwas mit diesem Ver- ordnung für Rechtsanwälte. So ist das Leben: Man fahren zu tun hat. Auch das ist eine Überlegung muß die Gebührenordnung nur richtig gestalten, wert. Die Staatsanwaltschaft ist ein Strafverfolgungs- dann tritt eine Entlastung im Justizwesen ein. organ. Wir haben es hier aber mit der Ahndung von nicht kriminellen Gesetzes- und Rechtsverstößen zu (Zuruf des Abg. Alfred Hartenbach [SPD]) tun. Weshalb eigentlich die Einschaltung der Staats- anwaltschaft? Was sozusagen zur Herbeiführung der - Sie als früherer Amtsgerichtsdirektor wollten natür- Waffengleichheit erforderlich ist - auf der einen Seite lich den Kollegen nicht ins Geschäft hineinreden, so ein Anwalt, auf der anderen Seite der Staat -, kann vermute ich. Deswegen schildere ich jetzt einmal die auch durch die Fachbehörde wahrgenommen wer- Situation: Nach bisherigem Recht bekommt der An- den. Im Steuerrechtsverfahren ist das schon so: Die walt im Bußgeldverfahren, wenn es mit einer Haupt- Vertreter der Finanzbehörden übernehmen sozusa- verhandlung endet, eine kleine und eine große Ge- gen die staatsanwaltschaftlichen Aktivitäten. bühr: zunächst für das Verwaltungsverfahren die so- genannte halbe Gebühr und dann für das Verfahren (Alfred Hartenbach [SPD]: Gilt das auch für in der Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht die Bußgeld- und Strafverfahren?) ganze Gebühr. Endet das Verfahren nach § 72 Ord- nungswidrigkeitengesetz im Beschlußverfahren vor - Das gilt auch für das Bußgeldverfahren. Wenn es - der Hauptverhandlung, dann bekommt er nur die schon für das Strafverfahren möglich ist, eine Fach- kleine Gebühr. behörde sozusagen die Rolle der Staatsanwaltschaft übernehmen zu lassen, muß es um so mehr für - ich Wie das Leben so ist: Es wird den Anwalt nicht formuliere es einmal so - ein läppisches Bußgeldver- drängen, seinem Mandanten zu empfehlen, auf je- fahren gelten. den Fall auf das Beschlußverfahren zu setzen, weil er Ich meine, das sei zumindest einer Erörterung dann die große Gebühr verliert. Da die allermeisten wert. Das ist keine Auffassung, die ich für meine Autofahrer heute eine Rechtsschutzversicherung ha- Fraktion hier vortrage, sondern meine persönliche ben, führt auch das Interesse des Mandanten nicht Anregung. Damit wir uns nicht nur zujubeln, wie gut zur Bevorzugung dieses Verfahrens, so daß der Vor- und problemlos das alles ist, möchte ich in diesem gang in der Regel in einer Hauptverhandlung landet, Punkte eine Problematisierung in die Debatte einfüh- obwohl er dort nicht landen müßte. ren. Man sollte darüber nachdenken. Deswegen ist die Gleichstellung der Erledigung Eine letzte Frage ergibt sich aus dem, was Sie im der Sache durch Beschluß nach § 72 Ordnungswid- Zusammenhang mit den Änderungen zu §§ 28 und rigkeitengesetz mit der Erledigung durch die Haupt- 28a des Straßenverkehrsgesetzes vorsehen: die Erhö- verhandlung in gebührenrechtlicher Hinsicht richtig. hung der Bußgeldsumme von 80 auf 100 DM. Sie er- Dadurch wird es einen erheblichen Entlastungseffekt klären das in der Begründung zum Entwurf mit den geben: Die Richter brauchen keine Hauptverhand- Änderungen beim Verwarnungsgeld im Rahmen des lung mehr durchzuführen; die Anwälte werden ent- § 56 des Ordnungswidrigkeitengesetzes. lastet, weil sie den Hauptverhandlungstermin nicht wahrnehmen müssen; die prozessualen Individual In der Begründung finde ich keinen Hinweis dar- schutzrechte des Betroffenen sind gewahrt; die An- auf, welche Folgen diese Erhöhung im Rahmen des wälte sind zufrieden. Ich denke, daß das ein richtiger Straßenverkehrsgesetzes auslöst, beispielsweise für und guter Beitrag in dieser Sache ist. die Bußgeldkatalogverordnung. Wir haben es in der Bußgeldkatalogverordnung mit Verstößen zu tun, die Lassen Sie mich noch zwei Dinge anmerken. Herr mit 80 DM geahndet werden. Sie werden nach gel- Kollege Hartenbach, ich bitte, darüber auch in Ihrer tendem Recht in Flensburg beispielsweise mit einem Fraktion einmal nachzudenken. Punkt eingetragen. Heißt das, daß ein Verstoß, der 9450 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996

Franz Peter Basten mit 80 DM geahndet wird, zukünftig, weil er nach schon der Meinung, daß sich drei hochbezahlte Rich- dem Straßenverkehrsgesetz nicht mehr eingetragen ter an einem Oberlandesgericht nicht unbedingt mit wird, in Flensburg nicht mehr auftaucht, sondern nur jeder Lappalie beschäftigen müssen. Dies darf aber noch Verstöße, die mit wenigstens 100 DM geahndet nicht dazu führen, daß berechtigte Rechtsschutzin- werden? Sollen bisher eintragungsfähige Verstöße in teressen der Betroffenen zu kurz kommen. Auch darf Zukunft nicht mehr eingetragen werden? Darüber nicht übersehen werden, daß der Rechtsprechung hätte ich gerne Aufschluß gehabt. der Oberlandesgerichte im Rechtsmittelverfahren ja auch eine gewisse Richtlinienfunktion zukommt, Ich weiß nicht, ob Sie das bewußt ausgelassen ha- und diese geht häufig weit über die Bedeutung des ben oder ob Sie daran nicht gedacht haben; aber das Einzelfalls hinaus. ist eine notwendige Folge des Ganzen. Es wäre gut, wenn das in den Beratungen noch deutlicher erörtert Meine Damen und Herren, sicherlich gibt es auch würde. einige Punkte, die zu dem Gesetzentwurf der SPD kritisch anzumerken sind. Zum Beispiel könnte man Abschließend möchte ich feststellen, daß wir ins- zum Fahrverbot etwas sagen. Nun hat Herr Kollege gesamt gute Möglichkeiten für Lösungen im Konsens Kleinert, der jetzt leider nicht mehr anwesend sein sehen. Das wird dem rechtspolitischen Klima in unse- kann, Ihren Entwurf belobigt. Ich bin da etwas ande- rem Land und auch in diesem Parlament sehr guttun. rer Meinung. Vielen herzlichen Dank. (Alfred Hartenbach [SPD]: Ich überzeuge (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Sie nachher!) - Das würde mich freuen. Es spricht für Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Wir sind doch alle der Meinung, daß der alte deut- die Bundesregierung der Parlamentarische Staatsse- sche Grundsatz „Wer schnell gibt, gibt doppelt" auch kretär Funke. für die Rechtsprechung gilt, und das sollte natürlich auch für den Vollzug von Fahrverboten gelten. Wenn Rainer Funke, Parl. Staatssekretär beim Bundesmi- man sich sozusagen aussuchen darf, wann man die- nister der Justiz: Frau Präsidentin! Meine Damen ses Fahrverbot realisiert, wenn man einen Monat und Herren! Zunächst möchte ich eine persönliche pausieren kann, wann es einem gerade so paßt, mag Anmerkung machen. Ich fand diese Debatte unge- die „Strafe" doch etwas abgemildert sein. Daß Sie wöhnlich lebhaft und interessant. Das liegt vielleicht das hinnehmen wollen, wage ich zu bezweifeln; besonders daran, daß sich hier jeder mit seinen eige- denn Sie haben in dem anderen Bereich ausdrück- nen Erfahrungen im Leben wiederfindet, wo auch lich auf die Verkehrsrowdies, die zu schnell fahren immer man die Erfahrungen gesammelt hat: als An- und dadurch die Verkehrssicherheit gefährden, hin- walt, als Richter oder vielleicht auch als kleiner Sün- gewiesen. Man muß schon beide Seiten gleicherma- der; auch letzteres soll ja gelegentlich vorkommen. ßen betrachten. Hier geht es in erster Linie darum, die Gerichtsver- (Alfred Hartenbach [SPD]: Wenn wir auch fahren zu straffen und zu beschleunigen und da- nur einem Gerechten helfen, Herr Funke, durch auch eine Entlastung der Gerichte herbeizu- ist es schon etwas Gutes!) führen. Das ist, glaube ich, unser gemeinsames An- liegen, gemeinsam im übrigen mit dem Bundesrat. - Das ist ja fast eine christliche Aussage, Herr Kol- Die Bundesregierung begrüßt daher jede Maß- lege. Ich freue mich natürlich ganz besonders dar- nahme, die hier Verbesserungen bringt. Dabei ist je- über, daß diese Äußerung aus der Sozialdemokrati- doch stets darauf zu achten, daß dadurch die berech- schen Partei kommt. tigten rechtsstaatlichen Interessen des Bürgers ge- (Beifall des Abg. Norbert Geis [CDU/CSU] - wahrt bleiben und die Wahrheitsfindung nicht be- Walter Hirche [F.D.P.]: Und das aus dem einträchtigt wird. Mund eines Liberalen!) Spielraum zur Verfahrensstraffung und Gerichts- - Ich gehöre der evangelisch-ch ristlichen Kirche entlastung bietet - darin sind wir völlig einig - sicher- noch an. lich das Ordnungswidrigkeitenrecht. Die SPD-Frak- tion ist etwas schneller gewesen als die Bundesregie- Die Möglichkeiten des Gesetzgebers, Ordnungs- rung, die gestern im Kabinett eine Änderung des widrigkeitenverfahren zu beschleunigen, sind durch Ordnungswidrigkeitengesetzes beschlossen hat. die berechtigten Rechtsschutzinteressen der Bürger Aber ich glaube, wir liegen auf der gleichen Welle. notwendigerweise und aus gutem Grund begrenzt, Wir sind nicht übermäßig weit auseinander. Ich bin aber Verfahrensvereinfachung und Verfahrensbe- sicher, daß wir im Zuge der Beratungen ein ver- schleunigung lassen sich in erheblichem Maße auch nünftiges, gemeinsam getragenes Ergebnis erzielen durch organisatorische Maßnahmen der Gerichte werden. und der Landesjustizverwaltungen erreichen. Diese müßten freundlicherweise endlich einmal die Be- Verglichen mit einem Strafverfahren handelt es schleunigungsverfahren praktizieren, die wir hier im sich bei Ordnungswidrigkeiten in vielen Fällen um Bundestag gemeinsam beschlossen haben. Lappalien. Deshalb haben Beschwerdewerte ihre Be- rechtigung, bis zu deren Höhe die Überprüfung der Der Vorschlag des Kollegen Basten, den Staatsan- Entscheidung des Bußgeldrichters durch ein höheres walt in dem Verfahren wenigstens partiell auszu- Gericht eben nicht mehr stattfindet. Insoweit bin ich schalten, um auf diese Weise zumindest eine gewisse Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996 9451

Parl. Staatssekretär Rainer Funke Verfahrensbeschleunigung und -vereinfachung so- wir uns heute mit der BSE-Problematik und ihrer en- wie eine Kostenminimierung zu erreichen, scheint demischen Ausbreitung in England, aber inzwischen mir überlegenswert. Dazu dienen die Beratungen im auch in Europa befassen, wobei die Mitglieder der Rechtsausschuß; auf diese freue ich mich. CDU/CSU-Fraktion noch vor ganz kurzer Zeit hier in der Aktuellen Stunde diesbezüglich fragten, ob wir Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. nicht gelegentlich Punkte hochpuschten, die nicht (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) hochgepuscht werden sollten.

Inzwischen scheint auch in der CDU/CSU-Fraktion Ich schließe da- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: die Erkenntnis gewachsen zu sein, daß die BSE-Pro- mit die Aussprache. Der Ältestenrat schlägt Überwei- blematik eine dramatische Entwicklung genommen sung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 13/3691 hat und Vorwürfe wie „Panikmache" verstummt an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse sind. Spätestens seit dem 20. März 1996 und dem vor. Gibt es dazu andere Vorschläge? - Das ist nicht „Eingeständnis" der britischen Wissenschaftler und der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Behörden, daß BSE im Verdacht stehe, bei mehreren Personen unter 42 Jahren die Creutzfeldt-Jakob Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a und 6 b so- rankheit ausgelöst zu haben, sind alle Kritiken an wie Zusatzpunkt 10 auf. dem vom Bundesrat und den Oppositionsparteien 6. a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeord- dieses Hauses längst geforderten totalen Exportver- neten Klaus Kirschner, Antje-Ma rie Steen, bot britischer Rinder und der daraus gewonnenen Ingrid Becker-Inglau, weiterer Abgeord- Produkte verstummt. neter und der Fraktion der SPD Seit dem 23. März dieses Jahres besteht dieses Ex- Gesundheitliche Gefahren durch Rinder- portverbot. Wir begrüßen ausdrücklich, daß auch die wahnsinn (BSE) aktive Beteiligung der Bundesregierung zu vermer- - Drucksachen 13/1972, 13/4436 - ken war, wenn sie auch - nach unserer Einschät- zung - zu spät einsetzte. Denn noch immer werden b) Beratung des Antrags der Abgeordneten wöchentlich bis zu 250 BSE-Verdachtsfälle regi- Ulrike Höfken, Steffi Lemke, Halo Saibold striert. Davon bestätigen sich über 84 Prozent der und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Fälle als Erkrankung. Nach wie vor sind Erreger- NEN struktur und Übertragungswege ungeklärt, Testver- Umfassende Verbraucherschutzmaßnah- fahren an lebenden Tieren nicht möglich und ein men gegen die Rinderseuche BSE - Sofort- Schutz vor der Erkrankung am Creutzfeldt-Jakob programm für regionale Fleischerzeugung Syndrom nicht herzustellen. - Drucksache 13/4388 — Wissenschaftler beobachten mit großer Sorge die Überweisungsvorschlag: Überwindung der Speziesbarriere durch den Erre- Ausschuß für Gesundheit (federführend) ger. Übliche Sterilisations- und Dekontaminations- Ausschuß für Wirtschaft -K- Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten verfahren zeigen nur unzureichende Ergebnisse. Haushaltsausschuß Eine Entwarnung für mögliche Infektionsquellen wie Milch oder Blut und die daraus gewonnenen Pro- ZP10 Beratung des Antrags der Fraktionen der dukte ist noch lange nicht angezeigt. Es ist nicht aus- CDU/CSU und F.D.P. geschlossen, daß sehr viel mehr Tiere infiziert, aber Maßnahmen zum umfassenden Schutz von noch nicht manifest erkrankt sind. Der gleiche Zu- Verbraucherinnen und Verbrauchern vor der stand kann auch beim Menschen bestehen. Eine In- Rinderseuche BSE und zur Stabilisierung des fektion bedeutet also nicht den sofortigen Ausbruch Rindfleischmarktes der Krankheit. Allerdings wissen wir auch nichts über die Ursachen, die die Krankheit ausbrechen las- - Drucksache 13/4676 - sen. Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Gesundheit (federführend) Unter diesem Blickwinkel der Erkenntnisse ist un- Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten verzichtbar, daß eine Lockerung des Verbots von Ex- Haushaltsausschuß porten aus England und der Schweiz nicht in Frage kommt. Unter gar keinen Umständen darf es eine Zur Großen Anfrage liegt ein Entschließungsan- Ausnahme bei Gelatine, Talg und Sperma geben. trag der Fraktion der SPD vor. Wir sehen Sie, Herr Minister Seehofer, in der Pflicht, Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind daß Sie zu Ihrem Wort stehen. Sie haben wiederholt für die gemeinsame Aussprache eineinhalb Stunden erklärt: Wenn die europäischen Pa rtner ein totales vorgesehen. - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist Verbringungsverbot beschließen würden, werde die so beschlossen. Bundesregierung sich diesem anschließen. Sie haben das am 23. März 1996 getan. Nun gilt es, dem Druck Ich eröffne die Aussprache. Das Wo rt hat die Abge- der britischen Regierung zu widerstehen und keine ordnete Antje-Marie Steen. Schlupflöcher zu öffnen. Sie haben uns dabei an Ih- rer Seite. Ich glaube, daß die Drohgebärden aus Eng- Antje-Marie Steen (SPD): Frau Präsidentin! Sehr land nicht so ernst zu nehmen sind, als daß sie eine geehrte Kolleginnen und Kollegen! Erneut müssen Aufweichung des Exportverbotes rechtfertigen. 9452 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996

Antje-Marie Steen Aus mehreren Punkten der Antwort der Bundesre- jener Arzneimittel noch immer ein Problem ist, bei gierung auf unsere Große Anfrage ergeben sich be- denen im Endprodukt zwar kein Tierkörperbestand- rechtigte Zweifel, ob der nötige Verbraucherschutz teil mehr enthalten sein soll, bei deren Herstellung allein durch das Verschließen der Exportwege zu ge- jedoch Rindermaterialien als sogenannte Produkti- währleisten ist. So wird bei der Frage nach der Kon- onshilfen, zum Beispiel Enzyme und Nährlösungen, trolle, die auf Grund der Dringlichkeitsverordnung verwendet werden. Es besteht also noch immer die für Transporte aus BSE-freien Beständen zu erfolgen Gefahr, daß auf diese Weise infektiöse Erreger in hat, festgestellt: Arzneimittel geraten. Auch diese Gefahrenlücke muß dringend durch klare Produktvorgaben und Fleischsendungen ... dürfen ... nur stichproben- -kontrollen geschlossen werden. weise und in nichtdiskriminierender A rt und Weise ... überprüft werden. Die EU-Diskussion über eine Lockerung des Ex- portverbots von Gelatine und Talg betrifft genau Ich frage mich, wo da eine effektive Kontrolle ist. diese Hilfsstoffe, die aus Körperbestandteilen von An einer anderen Stelle - bei den Maßnahmen ge- Rindern hergestellt werden. Der wichtigste Hilfsstoff gen den sogenannten Fleisch- und Viehtourismus -, ist Gelatine, die in sämtlichen Kapseln eingesetzt wird angeführt, daß es schwierig sei, etwaige Um- wird. Insgesamt enthalten zirka 24 000 Arzneimittel wegeinfuhren zu kontrollieren, und daß die Einhal- Hilfsstoffe von Rindern, davon allein 16 000 Gelatine tung des Exportverbotes nicht durch andere Mit- oder Lactulose. gliedstaaten überwacht werden könne. Die Kommis- Die Herstellungsverfahren sind nicht absolut si- sion sei anläßlich der letzten Sitzung im Ständigen cher. Erreger überleben hohe Temperaturen und den Veterinärausschuß wiederholt aufgefordert worden, Einsatz von radikalen Desinfektionsmitteln. Auch ein gemeinschaftsweit einheitliches Vorgehen zu ge- den Hinweis, Material nur aus BSE-freien Beständen währleisten. Unser Entschließungsantrag, der Ihnen zu verwenden, hinterfrage ich in dem Wissen, daß es heute zur Entscheidung vorliegt, forde rt genau diese fast kein Mitgliedsland gibt, in dem nicht BSE-Fälle und die Produktkennzeichnung Herkunftsnach- bekannt sind. weise im europäischen Kontext. Eine Lockerung des Exportverbots könnte also Wir müssen erkennen, daß der Vertrauensverlust eine Katastrophe bedeuten. Deshalb müssen wir den bei den Verbrauchern und den Verbraucherinnen in Gesundheitsminister auffordern, sich nicht durch die Qualität und Genießbarkeit von Rindfleisch und englische sogenannte Erpressungsversuche ein- der aus Rindfleisch gewonnenen Produkte auch ein schüchtern zu lassen. Wenn in der nächsten Verzöge- Vorwurf an die Politik der Regierung ist, nicht recht- rungsetappe, am 3. und 4. Juni, erneut über eine Lok- zeitig und umfassend für den vorsorgenden Ver- kerung der Exportbestimmungen beraten wird, darf braucherschutz gesorgt zu haben. Um so mehr - das es nicht zu einer Aufweichung kommen. Leider meh- wiederhole ich - dürfen jetzt keine Zugeständnisse ren sich die Signale, daß sich die Kommission für der Aushöhlung bei dem bestehenden Exportverbot eine Lockerung entschließen könnte, wenn es nur gemacht werden. Der Beweis, daß Rinderprodukte um Gelatine und Talg geht. Sperma soll ausgenom- und Produkte, die Zutaten von Rindern enthalten, men sein. unbedenklich sind, ist zur Zeit nicht zu erbringen. Schon lange haben wir auch auf die ungelöste Pro- Im besonderen trifft das für den Bereich der Arz- blematik bei der Verwendung von Frischzellen hin- neimittel, der Kosmetika und der Lebensmittel zu. gewiesen. Wir hoffen, daß die Bundesregierung end- Ausgangsstoffe von Rindern werden als Wirkstoffe, lich die notwendigen gesetzlichen Regelungen trifft, Hilfsstoffe oder Produktionshilfen bei einer außeror- um auch in diesem Bereich die Gefahrenquelle zu dentlich großen Zahl von Arzneimitteln verwendet. schließen. Wir müssen deshalb sehr wachsam sein und durch möglichst restriktive Maßnahmen eine Gesundheits- Auskünfte darüber, ob Kosmetika in irgendeiner gefährdung ausschließen. Form Rinderbestandteile enthalten, gibt es nicht. Durch verschiedene Maßnahmen hat das Bundes- Hier wirkt das geheime Spiel immer neuer, ständig ministerium für Gesundheit dies inzwischen sicher- wechselnder Rezepturen um immer größere Wirk- gestellt. Doch mittlerweile ist unumst ritten: BSE ist samkeit gegen Fältchen oder sonstige sogenannte nicht auf Großbritannien beschränkt. Rinderrohstoffe Schönheitsfehler. Die für 1998 geplante Änderung der Kosmetikverordnung auf EU-Ebene muß drin- aus der Schweiz - dem Land mit den größten Phar- maunternehmen - können keinesfalls als bedenken- gend vorgezogen werden, um die Erfüllung des not- los eingestuft werden. Ich beziehe mich dabei auf wendigen Regelungsbedarfs sicherzustellen. eine Äußerung von Herrn Professor Hildebrandt in Immer wieder haben wir in der Vergangenheit der Anhörung des Gesundheitsausschusses am auch auf die Intensivierung der Erforschung der 17. April 1996. menschlichen und tierischen spongiformen Enzepha- Ebenso sind aus Holland und Frankreich BSE- lopathie, der Infektionswege und der Nachweisme- Fälle in nicht geringem Ausmaß bekannt. thode gedrängt und die Bereitstellung der erforderli- chen finanziellen Mittel gefordert. Wir erwarten von Wir fordern in unserem Antrag dringend verläßli- der Bundesregierung, daß sie sich bei der EU-Kom- che europäische Gesetzesvorgaben zur Sicherstel- mission nachdrücklich für eine Abstimmung der Pro- lung der Arzneimittelqualität. Ein Schreiben des gramme zwischen den Ländern der EU und den For- BGA vom 16. April 1996 belegt, daß die Ermittlung schungsprogrammen der EU einsetzt, damit gemein- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996 9453

Antje-Marie Steen same Strategien entwickelt werden, ein effektives Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat Handlungskonzept entstehen kann und ausreichend jetzt Herr Bundesminister Seehofer. Mittel dafür zur Verfügung gestellt werden.

Ich erlaube mir den Hinweis auf Mitteilungen aus Horst Seehofer, Bundesminister für Gesundheit: Ihrem Haus, Herr Minister Seehofer, in denen auf Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und die erheblichen Wissenslücken und den erheblichen Herren! Die Frage von BSE ist ohne Zweifel eine der Forschungsbedarf bei der Creutzfeldt-Jakob-Er- größten Herausforderungen für den gesundheitli- krankung und BSE hingewiesen wird, was ebenfalls chen Verbraucherschutz in den letzten zehn Jahren. in unserer Anhörung am 16. April beschrieben Gerade weil wir es mit einem sehr sensiblen und ern- wurde. sten Thema und mit vielen wissenschaftlich noch of- fenen Fragen zu tun haben, kommt es darauf an, daß Ich greife ein Detail unseres Antrags dazu auf: die wir die Bevölkerung richtig aufklären und unser Tun ungeklärte Situation in bezug auf die Milch von an wissenschaftlich fundiert ausrichten. BSE erkrankten Kühen. Die wissenschaftlichen Aus- Gerade weil in diesen Tagen sehr häufig der Ver- sagen zum Problem Milch in der eben genannten dacht geäußert wird, die Bundesrepublik Deutsch- Anhörung kann ich Ihnen nicht vorenthalten. Herr land könnte sich unabhängig von internationalen Er- Professor Heeschen sagte: kenntnissen aus vordergründigen Überlegungen und Dadurch bin ich zu der für einen Wissenschaftler Erwägungen auf eigene Bewertungen und eigene einigermaßen zumutbaren Feststellung gekom- Zielstellungen zurückziehen, möchte ich heute aus- men, daß ein Risiko für den Verbraucher ... mit schließlich Bewertungen, Zitate und Zielformulierun- an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gen verwenden, die uns von der Kommission der auszuschließen ist. Europäischen Gemeinschaften in der Sitzung des Gesundheitsrates am 14. Mai in Brüssel ausgehän- Gleichzeitig sagt er, dieses sei „als Wahrscheinlich- digt worden sind. keit zu interpretieren, daß ein gesundheitlich uner- In dieser Dokumentation wird ausgeführt, daß die wünschter Effekt besteht. " Das ist ein Widerspruch. gegenwärtige Besorgnis über BSE und einen mögli- Eine klare Aussage fehlt auch in diesem Punkt. chen Zusammenhang mit CJD, also der menschli- Es kann nicht beruhigen, wenn - ich beziehe mich chen Form der Enzephalopathie, auf eine Erklärung wieder auf die Aussage von Wissenschaftlern in der der britischen Behörden vom 20. März 1996 zurück- zuführen ist, die sich auf den Bericht einer nationalen erwähnten Anhörung - bei 300 britischen Kälbern, britischen Sachverständigenkommission stützt. Die- die mit BSE-Milch gefüttert wurden, bisher keine Er- krankungszeichen erkennbar sind. Klar ist doch auf ser Bericht bet rifft eine Variante von CJD, die im Ver- jeden Fall eines: Die Lebenszeit der Kälber ist ein- einigten Königreich bei zehn Personen mit einem fach zu gering und die Inkubationszeit möglicher- Durchschnittsalter von 26,3 Jahren beobachtet weise zu lang. In dieser Hinsicht erwarten wir eine wurde, und zwar dank eines Überwachungssystems, Erforschung des Gefahrenpotentials. das von einem fünf Mitgliedstaaten umfassenden Netz mit finanzieller Unterstützung der Kommission Wir sind noch lange nicht auf der sicheren Seite betrieben wird. In diesem Bericht, der von der Euro- des vorsorgenden Verbraucherschutzes - trotz des päischen Kommission dokumentiert wurde, wird fol- bestehenden Exportverbots. Ich möchte noch einmal gende Schlußfolgerung gezogen: daran erinnern, in welchem Umfang Rinder, Kälber, Es gibt zwar keinen direkten Beweis für einen Fleisch und daraus hergestellte Produkte nach Zusammenhang, doch angesichts der bislang Deutschland, aber auch in die EU und Drittländer vorliegenden Daten und mangels einer plausi- verbracht wurden. Nach Angaben des Statistischen blen Alternative ist die zur Zeit wahrscheinlichste Bundesamtes gelangten 1994 allein aus England Erklärung, daß diese Fälle mit der Exposition ge- 101 870 Tonnen Rindfleisch nach Frankreich. Gleich- genüber BSE vor der Einführung des SBO-Ver- zeitig exportierte Frankreich aber auch 54 850 Ton- bots, (d. h. des Verbots der Verwendung be- nen Fleisch nach Deutschland. Es ist sicher nicht zu stimmter Sonderabfälle vom Rind) im Jahr 1989 in vermuten, daß das alles gerade Fleisch aus Großbri- Zusammenhang stehen. tannien war, das zu uns kam. Aber ganz auszuschlie- ßen ist es auch nicht. Es handelt sich um Erkrankungen von sehr jungen Menschen mit wesentlich kürzerer Inkubationszeit, Da sich meine Redezeit dem Ende nähert, komme als bisher bekannt. Das ist also keine deutsche Risi- ich zum Schluß. Der europaweit vorsorgende Ge- kobewertung, sondern eine Risikobewertung briti- sundheits- und Verbraucherschutz darf nicht hinter scher Wissenschaftler, die dem dortigen Parlament den ökonomischen Interessen der Fleischerzeuger mitgeteilt wurde, die von der Europäischen Kommis- zurückstehen. Schon gar nicht darf er zum Spiel- sion geteilt wird und die uns auch im Gesundheitsmi- ball internationaler politischer Machtinteressen wer- nisterrat dokumentiert übergeben wurde. den. Meine Damen und Herren, das ist für die Frage, ob Ich danke Ihnen. der BSE-Erreger auf den Menschen übertragbar ist, eine fundamental andere Risikobewertung, als sie (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ bis Anfang März übereinstimmend von Wissen- DIE GRÜNEN) schaftlern vertreten wurde. 9454 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996

Bundesminister Horst Seehofer Die Risikoeinschätzung früher lautete: Es ist eher dem Gesundheitsministerrat vorgelegt wurde, vortra- unwahrscheinlich, aber nicht völlig auszuschließen. gen. Es heißt hier: Bei Lebensmitteln und Arzneimitteln, für die in (Dr. Wolfgang Wodarg [SPD]: Ein Wunsch erster Linie Gelatine und Talg in Frage kommen, denken!) muß man die Eventualität eines Risikos der BSE- Übertragung durch Lebensmittel oder Arzneimit- - Herr Wodarg, das Thema ist so ernst, daß wir uns tel, zu deren Ausgangsstoffen Gewebe oder Kör- als Parlamentarier heute mit solchen Zwischenrufen perflüssigkeiten vom Rind zählen, zugrunde le- zurückhalten sollten. gen; denn das Wichtigste ist, durch geeignete Maßnahmen sicherzustellen, daß diese Erzeug- (Beifall bei der CDU/CSU) nisse nicht infektiös sind. In der wissenschaftlichen Fachsprache ist es ein Dann zitiert die Kommission zwei wissenschaftli- Restrisiko. Diese neue wissenschaftliche Bewe rtung che Gremien, die nicht in der Bundesrepublik macht aus dem Restrisiko eine Wahrscheinlichkeits- Deutschland angesiedelt sind: einmal die Weltge- hypothese. Auch wenn es nicht bewiesen ist, so ist sundheitsorganisation und zum zweiten den wissen- die Übertragung doch wahrscheinlich. schaftlichen Ausschuß, der für Kosmetik zuständig ist. Es liegt ein entsprechendes Gutachten eines wis- Wir haben in der gleichen Sitzung des Gesund- senschaftlichen Ausschusses für Arzneimittel auf heitsministerrats eine interdisziplinäre wissenschaft- europäischer Ebene vor. liche Kommission mit dem Vorschlag eingesetzt, ei- nen Wissenschaftler aus der Schweiz, Charles Weiss- Weil das Thema in diesen Tagen so wichtig ist, mann, zum Vorsitzenden dieser Kommission zu ma- muß ich Ihnen zumuten, daß ich Ihnen aus den Emp- chen. Er hat heute nach einer Agenturmeldung er- fehlungen der WHO vorlese, was sonst nicht meine klärt, daß er davon überzeugt sei, „daß ein Zusam- Art ist. Ich zitiere: menhang besteht zwischen der Rinderseuche BSE Gelatine in Lebensmitteln wird als sicher betrach- und der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit beim Men- tet, wenn sie nach einem Herstellungsverfahren schen. " und unter Produktionsbedingungen hergestellt wird, die nachgewiesenermaßen jegliche Infek- Der „Basler Zeitung" vom letzten Mittwoch sagte tiosität, die in den ursprünglichen Geweben vor- Weissmann, er sei sicher, daß in den bekanntgewor- handen gewesen sein könnte, inaktivieren. Talg denen Creutzfeldt-JakobF-ällen die tödliche Gehirn- wird ebenfalls als sicher betrachtet, wenn wirk- erkrankung durch infizierte Rinder übertragen same Verfahren der Tierkörperverwertung ange- wurde. Dies sei aber wissenschaftlich schwer zu be- wandt werden. weisen. Weissmann hielt es zudem für möglich, daß Rinder auch an BSE erkranken können, ohne mit Das betrifft Lebensmittel. Tiermehl aus Schafskadavern gefüttert worden zu Es wird nachdrücklich darauf hingewiesen, daß sein. - Material von Rindern, das für die pharmazeuti- sche Industrie bestimmt ist, nur aus Ländern be- Meine Damen und Herren, das ist die ganz objek- zogen werden sollte, die ein Überwachungsy- tive, von unserer eigenen Einschätzung unabhän- stem haben und entweder keine oder nur spora- gige Meinung der britischen Wissenschaft, der EU- dische- Fälle von BSE melden. Eliminierungs Kommission und des von der Europäischen Union als und Inaktivierungsverfahren tragen zwar dazu unabhängiger Gutachter eingesetzten Schweizer bei, das Infektionsrisiko zu senken, doch es muß Biologen Charles Weissmann. Ich sage das vor dem berücksichtigt werden, daß der BSE-Erreger au- Hintergrund mancher Äußerungen dieser Tage, wir ßerordentlich widerstandsfähig ist gegenüber hätten unsere eigene Risikoeinschätzung in der Bun- physikalisch-chemischen Verfahren, die die In- desrepublik Deutschland konstruiert. Daran können fektiosität gewöhnlicher Mikroorganismen aus- wir - unabhängig von der Verunsicherung der Ver- schalten. braucher, die ernsthaft doch niemand bewußt betrei- ben will - kein Interesse haben. Ich muß immer wie- Das heißt, wir haben hier ein wissenschaftliches Vo- der darauf hinweisen, daß gerade der deutsche Rind- tum der Weltgesundheitsorganisation, uns am 14. Mai fleischmarkt - der Kollege Jochen Borchert wird das vorgelegt: bei Lebensmitteln, wenn ausreichend in- noch ausführlich darlegen - von dieser ganzen Dis- aktiviert wird - keine Bedenken; bei Arzneimitteln - kussion besonders nachhaltig, und zwar negativ, be- Bedenken. troffen ist. Schon von daher können wir kein Inter- Bei Kosmetika stellt der auf europäischer Ebene esse daran haben, das Thema Rinderwahnsinn in der eingesetzte Wissenschaftsausschuß fest: Bundesrepublik Deutschland unangemessen zu be- handeln. Angesichts des heutigen Kenntnisstandes ist der SCC der Ansicht, daß alle Gewebe und Körper- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge flüssigkeiten, die von Rindern aus BSE-Endemie- ordneten der F.D.P.) gebieten stammen, den BSE-Erreger übertragen können. Daher sind solche Gewebe und Körper- Die zweite Frage ist, ob man für Gelatine, Talg und flüssigkeiten wie auch aus ihnen hergestellte In- Rindersamen das Exportverbot lockern sollte. Auch haltsstoffe nicht in kosmetischen Mitteln zu ver- dazu möchte ich aus dem Dokument, das am 14. Mai wenden. Wenn kein vollständiger Herkunfts- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996 9455

Bundesminister Horst Seehofer nachweis erbracht werden kann, aus dem hervor- wollen, wo immer es geht, mithelfen bei der Lösung geht, daß das Material frei von dem BSE-Erreger der Probleme. Aber, meine Damen und Herren, wir ist, ist die Inaktivierung mittels anerkannter Me- müssen den gesundheitlichen Verbraucherschutz thoden angemessen nachzuweisen. der Menschen an die oberste Stelle setzen. Es gibt auch eine Entscheidung der Europäischen (Beifall der Abg. Lilo Blunck [SPD] und der Arzneimittelagentur, die in London sitzt und euro- Abg. Dr. Ruth Fuchs [PDS]) päisch organisiert ist, die bei Gelatine bezüglich Arz- Deshalb kommt es zuallererst darauf an, daß die in- neimitteln zu dem Ergebnis kommt, daß das Aus- ternationale Wissenschaft bei der Bewe rtung dieses gangsmaterial nicht von Rindern stammen soll, die in Problems auf einen Nenner kommt. Wenn dieser Großbritannien geschlachtet sind. Ich weise der Kor- Nenner nicht eindeutig ist, bitte ich um Unterstüt- rektheit halber darauf hin - das steht in dieser Doku- zung - und, wenn andere Meinungen vorherrschen mentation nicht -, daß es auch einen Wissenschaftli- sollten, auch um Verständnis - dafür, daß wir, so wie chen Veterinärausschuß gibt, der diese Bedenken bisher übrigens auch, den Verbraucherschutz an die nicht teilt. oberste Stelle setzen. Meine Damen und Herren, bei dieser von mir ein- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. gangs genannten Risikobewertung, bei der es um die sowie bei Abgeordneten der SPD - Lilo Wahrscheinlichkeitshypothese geht - Übertragung Blunck [SPD]: Die Politik muß Vorsorge tref des BSE-Erregers auf den Menschen wahrscheinlich -, fen!) können wir bei unterschiedlichen wissenschaftlichen Voten nicht das Risiko eingehen, zu warten, bis der letzte Beweis angetreten ist, sondern unsere Bitte - Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat Kollege Jochen Borche rt hat das im Agrarrat immer jetzt die Kollegin Monika Knoche. wieder vorgetragen, und ich habe das gleiche im Ge- sundheitsrat getan - an die EU-Kommission ist, daß Monika Knoche (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): diese unterschiedlichen wissenschaftlichen Voten, Frau Präsidentin! Meine Herren und Damen! Die die nicht aus Deutschland stammen, sondern auf Aufweichung des Embargos ist keine Antwort. Das europäischer Ebene bzw. weltweit entwickelt wur- steht fest. Sie wird kein Vertrauen einflößen. Solange den und die uns - ich sage es noch einmal - am nicht geklärt ist, ob der hirnzerstörende Erreger in 14. Mai von der Kommission dokumentiert überge- die Spezies Mensch eingedrungen ist, gilt Primärprä- ben wurden, von der Kommission zunächst einmal vention, und zwar ohne Einschränkung. koordiniert und aufeinander abgestimmt werden. Deshalb haben wir am 14. Mai die Einsetzung eines Auch wenn die Regierung jetzt am Exportverbot multidisziplinären wissenschaftlichen Ausschusses festhält und das hier bestätigt, ist das Jahr 1994 für auf europäischer Ebene in Brüssel beschlossen. Das mich immer noch entscheidend. Wir haben jetzt zwar wäre eine der ersten Aufgaben, die dieser Ausschuß das Exportverbot, aber können die gesundheitspoliti- unter dem Vorsitz von Charles Weissmann, den ich schen Fragen nicht beantworten: Was ist, wenn sich zitiert habe, erledigen könnte. - die Expertenmeinung auf ein „Ja, übertragbar! " ver- dichtet? Was ist, wenn es als wahrscheinlich gilt, daß Meine Damen und Herren, es ist also unsere For- die zehn Neuerkrankungen in England eine A rt derung, daß man angesichts des gewaltigen Risikos, neuer Creutzfeldt-Jakob-Erkrankung sind? Was ist, das hier für Menschen möglicherweise besteht, diese wenn die Neuropathologie in Deutschland ebenfalls unterschiedlichen wissenschaftlichen Meinungen BSE-typische Plaque-Ablagerungen bei Verstorbe- aufeinander abstimmt und koordiniert. Ich kann mir nen findet? Dann ist das BSE-Problem kein engli- eine Lockerung des Ausfuhrverbotes für Gelatine, sches, dann ist es ein kontinentales, ein gesamteuro- Talg und Rindersamen nicht vorstellen, wenn sie päisches Problem, für das es keine medizinische Lö- nicht auf einer eindeutigen wissenschaftlichen Basis sung gibt. beruht, die jedes Risiko für die menschliche Gesund- heit ausschließt. Die epidemiologische Datenlage ist dürftig. Sie sagt nichts Eindeutiges über eine Creutzfeldt-Jakob (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. und Erkrankung in Deutschland aus. Sie zeigt nur, daß der SPD) wir, wenn die Erregerforschung keine Ergebnisse bringt, erst um die Jahrhundertwende mehr darüber Wir können bei einem Risiko, das von der Wahr- wissen, ob sich eine neue BSE-/Creutzfeldt-Jakob- scheinlichkeit der Übertragbarkeit von BSE auf den Erkrankung ausgebreitet hat, und zwar über die To- Menschen ausgeht, nicht das kleinste Risiko einge- desursachenstatistik. hen. Ich erinnere an den Southwood-Bericht Ende der 80er Jahre, der - damals noch - zu dem Ergebnis Der Forschungsbedarf ist beträchtlich. CFJ wird kam: Wir gehen zwar nicht davon aus, daß BSE auf vom Menschen auf den Menschen übertragen, über den Menschen übertragbar ist. Aber wenn wir in die- Transplantate, über Hormone gegen Unf ruchtbarkeit ser Hypothese Unrecht haben sollten, dann wäre dies der Frau, über EEG-Elektroden im Gehirn, über eine Katastrophe für die Menschen. Hirn- und Augenhornhäute von Toten. Die Inaktivie- rungsverfahren versagen bei der Creutzfeldt-Jakob Deshalb, meine Damen und Herren, möchte ich in Erkrankung. aller Ruhe und aller Gelassenheit sagen: Wir akzep- tieren und respektieren die ungewöhnlich schwie- Welche Analogien zu BSE sind statthaft? Herr rige Lage innerhalb des Vereinigten Königreichs. Wir Minister Seehofer, Sie haben dankenswerterweise 9456 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996

Monika Knoche den Stand der internationalen unabhängigen For- ten sind, in dem bis heute mehr als 160 000 Rinder an schung genannt. Wir werden sehen, ob sich die BSE erkrankt sind und beseitigt werden mußten, das Ängste der Bevölkerung als Vorahnung erweisen. ganz Europa in helle Aufregung versetzt und bis heute noch keinen entscheidenden Schritt unternom- Ich habe von den Fachleuten der deutschen Bun- men hat, um BSE wirksam zu bekämpfen. Anstatt ge- desinstitute gehört, daß es sich durchaus um einen gen die Seuche vorzugehen, wird das Exportverbot, interessengeleiteten Streit handelt, der hinter dem also die Folge der BSE-Seuche, vehement bekämpft. Konflikt zwischen der Virus - und der Prionenhypo- these steckt. Warum arbeiten weltweit nur vier Viro- Meine Damen und Herren, solange nicht wissen- logen an der Virustheorie, und warum werden schaftliche Nachweise vorliegen, die die Unbedenk- 90 Prozent der Forschungsgelder für die Prionenfor- lichkeit des Verzehrs von britischem Rindfleisch be- schung ausgegeben? Warum gibt das Bundesmini- stätigen, und solange die britische Regierung nicht in sterium für Gesundheit nur 1,5 Millionen DM von der Lage ist, die Bekämpfung der Seuche in der not- insgesamt lediglich 6 Millionen DM diesbezüglicher wendigen Form tatsächlich durchzuführen, darf die- Forschungsmittel aus? ses Exportverbot nicht gelockert werden. Ich weiß nicht, ob der Hypothesenstreit die For- (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU und schung über ein Nachweisverfahren behindert. Aber der SPD) reichen 6 Millionen DM angesichts der Seuchendi- mension? Immerhin sind schon 160 000 Tiere veren- Wie kam es eigentlich zu dem Exportverbot für bri- det. Wir brauchen Klarheit über BSE. Wir brauchen tisches Rindfleisch und daraus hergestellten Produk- Antikörpertests, und das nicht nur bei toten Tieren. ten? Der britische Gesundheitsminister selber hat diese Lawine losgetreten, als er Ende März vor dem Wenn es eine neue Creutzfeldt-Jakob-Erkrankung Unterhaus das erste Mal öffentlich zugab, daß es ein gibt: Wie sicher sind dann Blutübertragungen? Sie wissenschaftliches Gutachten gebe, das besagt, daß selbst haben die Analogie zu HIV hergestellt. Wer ein Zusammenhang zwischen BSE und der Creutz- wird haften, wenn eine oder einer infiziert wurde? feldt-Jakob-Krankheit bei Menschen bestehen Welche Rechtsposition hat die Regierung heute könnte. schon für die möglichen Betroffenen vorgesehen? Heute beschimpft der britische Premierminister Wir werden uns im Gesundheitsausschuß weiter Major Verbraucher und Politiker, weil sie die Konse- mit diesen umfassenden Fragen zu beschäftigen ha- quenzen aus dieser Aussage gezogen haben. Ich er- ben, weil wir in der Politik nicht darauf hoffen dür- laube mir, hier die Queen zu zitieren: „We are not fen, daß es so schlimm nicht kommen wird. Egal, was amused." Und ich sage für ganz Deutschland: We are wir bei den Ergebnissen erfahren werden: Die Parole not amused about that. „falscher Alarm" ist - egal, von wem sie wann kommt - so und so falsch, auch wenn BSE nicht auf Wir wissen doch alle ganz genau, daß dieses Pro- den Menschen übertragen worden sein sollte, weil blem nicht durch gegenseitige Schuldzuweisungen richtig und bewiesen ist: BSE ist ein ungewolltes Ne- gelöst werden kann, sondern nur durch gemein- benprodukt industrieller Fleischproduktion. Das schaftliches Handeln. Sich-Vergreifen des Menschen an der natürlichen Er- nährung seines Nahrungsmittels Tier ist das Grund- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) übel. Alle Entwarnungen laufen heute schon darauf Wir reichen unseren britischen Freunden die Hand hinaus, den wahren Wahnsinn der Rindfleischwachs- zu einer gemeinsamen, solidarischen Lösung, tumsproduktion wieder zur Normalität zu erheben. (Hans-Ulrich Köhler [Hainspitz] [CDU/ (Beifall des Abg. Walter Hirche [F.D.P.]) CSU]: Das Grundübel ist Schlamperei bei und wir übernehmen bei den Keulungsaktionen, die der Herstellung!) notwendig sind, um die Seuche wirksam zu bekämp- Ich bin sehr froh, daß sich hier in diesem Haus - fen, 70 Prozent der Kosten für die Entschädigung der wenn auch sehr spät, aber jetzt auf Grund der wis- betroffenen Landwirte. senschaftlichen Aussagen, auf die wir schon 1994 Ich möchte hier ausdrücklich mein Mitgefühl für vertraut haben - unser Bundesgesundheitsminister die Probleme der britischen Landwirte aussprechen. für die präventive Gesundheitsvorsorge entschieden Das sind nämlich diejenigen, die die Zeche zu bezah- hat. len haben. Sie sollten einmal Druck auf ihre Regie- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN rung ausüben. sowie bei Abgeordneten der SPD und der Allerdings sage ich ebenso deutlich: Vorbeugen- PDS) der Gesundheitsschutz zur Abwehr gesundheitlicher Gefährdungen der Verbraucher hat absolute Priorität Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat und kommt vor wirtschaftlichen Interessen. jetzt der Kollege Ulrich Heinrich. (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ulrich Heinrich (F.D.P.): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Man muß sich Erst recht kann und darf die Sicherheit von Men- schon fragen, was in einem Land vor sich geht, in schenleben keine politische Verhandlungsmasse dem 1985 bereits die ersten Fälle von BSE aufgetre- sein. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996 9457

Ulrich Heinrich Zum vorbeugenden Verbraucherschutz gehört ne- Günther Bredehorn (F.D.P.): Herr Kollege, haben ben der Keulung der über 30 Monate alten Tiere und Sie eine Erklärung dafür, daß das Vereinigte König- deren Vernichtung eine noch viel größere Aufmerk- reich hinsichtlich der Anlagen auf die Gefährlichkeit samkeit hinsichtlich Herstellung, Kontrolle und Ein- der Übertragung über Tiermehl, die seit fünf Jahren satz von Tiermehl. Es geht also um die grundsätzli- bekannt ist, in diesen fünf Jahren überhaupt nicht che Bewertung des Fütterungskreislaufes. Wenn es reagiert hat? tatsächlich zutrifft, daß die Übertragung von BSE in erster Linie über Tiermehle erfolgt - aber nicht ein- (Klaus Kirschner [SPD]: Aus wirtschaftli mal das ist mehr wissenschaftlicher Stand; hier sind chen Gründen, das ist ganz einfach! Das die Gefahren wohl noch breiter anzusehen -, die aus wissen Sie doch!) Schlachtabfällen von Schafen hergestellt wurden, dann ist die Entscheidung des EU-Agrarministerrates Ulrich Heinrich (F.D.P.): Ich habe nicht nur für die, hinsichtlich der Umrüstung der Tiermehlanlagen in wie ich das einmal nennen darf, nicht nachvollzieh- Großbritannien bis Ende dieses Jahres für mein Da- bare Schlamperei in Großbritannien kein Verständ- fürhalten schlichtweg unverantwo rtlich. nis, sondern ich habe auch kein Verständnis dafür, daß es fünf Jahre dauern mußte, bis die britische Re- (Beifall bei der F.D.P. und der SPD) gierung dieses Problem endlich einmal öffentlich im Entweder haben sie ordentliche Anlagen, dann ist es Unterhaus diskutiert hat. Das ist doch der Punkt. in Ordnung, oder sie haben sie nicht. Wenn sie sie Hier hat doch die Sensibilität nicht nur in der Bevöl- nicht haben, kann es nicht sein, daß man in ihnen kerung, sondern auch in der Regierung gefehlt. Hier noch länger Tiermehle produziert und damit in den ist doch nichts erfolgt. Fütterungskreislauf hineinbringt. Zusätzlich muß die Möglichkeit einer verbesserten (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU und Kontrolle von Importfuttermitteln und Tiermehlen der SPD) geschaffen werden. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, Stichproben bei Importen von Futtermit- teln und Tiermehlen reichen nicht mehr aus. Ich for- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Kollege, dere deshalb wegen einer zur Zeit nicht auszuschlie- gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Höf- ßenden Gesundheitsgefährdung - das ist meine Be- ken? gründung dafür -, daß eine generelle Untersuchung von Futtermitteln und Tiermehlen zu erfolgen hat. Ich sage Ihnen: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Ulrich Heinrich (F.D.P.): Ja, bitte. (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der SPD) Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Warum steht denn diese Aussage zum Tiermehl und Wir haben Systeme und Testverfahren, mit denen wir zu den Verfahrensumstellungen nicht in Ihrem An- in der Lage sind, nachzuweisen, ob in den Kraftfut- trag? - termischungen für Rauhfutterfresser Tierprotein ent- halten ist oder nicht. Genau das brauchen wir. Das müssen wir untersuchen. Auf Grund der derzeitigen Ulrich Heinrich (F.D.P.): Meine sehr verehrte Frau Situation ist es für mich unverantwortlich, hier die Kollegin Höfken Grenzen länger ohne entsprechende Kontrollen of- fenzulassen. (Heinrich-Wilhelm Ronsöhr [CDU/CSU]: Das steht in der Antwort der Bundesregie rung! Die hätten Sie einmal lesen müssen!) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schä- - genau -, fer? (Heiterkeit bei der F.D.P. und der CDU/ CSU) Ulrich Heinrich (F.D.P.): Ja, bitte. wir sind der Meinung, daß die Tiermehlproduktion in der von mir beschriebenen A rt und Weise zu erfol- Dr. Hansjörg Schäfer (SPD): Ich habe eine gen hat. Hier geht es in erster Linie um die Tiermehl schlichte Verständnisfrage, Herr Kollege: Auf was nlagen, die in Großbritannien stehen. Wir-a wissen, wollen Sie denn untersuchen? Kennen Sie eine Un- daß wir in Deutschland schon viele Jahre nach wis- tersuchungsmethode? senschaftlich anerkannten Regeln produzieren und Großbritannien hier noch erheblichen Nachholbedarf Ulrich Heinrich (F.D.P.): Ja. Es wird nicht auf BSE- hat. Ich fordere deshalb eine sofortige Umstellung Erreger untersucht - denn die finden Sie nicht -, son- dieser Anlagen. dern es wird untersucht, ob in Futtermitteln, die für den Rauhfutterfresser, sprich Rind und Schaf, be- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Gestatten Sie stimmt sind, tierisches Eiweiß enthalten ist, und eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Bredehorn? wenn tierisches Eiweiß enthalten ist, ist das das Ge- genteil dessen, was wir unter einer verantwortungs- vollen Fütterung von Rindern und Schafen verste- Ulrich Heinrich (F.D.P.): Ja, bitte. hen. Tiermehl, tierisches Eiweiß hat in diesen Futter- 9458 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996

Ulrich Heinrich mischungen nichts zu suchen. Außerdem ist es ver- Entscheidungsmöglichkeit in den Händen des Ver- boten. brauchers liegt, welche Nahrungsmittel er kaufen (Beifall bei der CDU/CSU) will. Nur der verunsicherte Verbraucher reagie rt mit Kaufverzicht, der unsere Bauern und die fleischverar- beitenden Betriebe, die Metzgereien, ohne deren Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Wodarg? Verschulden in riesengroße wirtschaftliche Schwie- rigkeiten gebracht hat.

Ulrich Heinrich (F.D.P.): Bitte. (Zuruf von der CDU/CSU: Da geht es um die Existenz!) Dr. Wolfgang Wodarg (SPD): Sie haben eben ge- Wir brauchen deshalb vertrauensbildende Maß- sagt, daß Kontrolle besser ist als Vertrauen. Heißt nahmen. Sie müssen jetzt parallel laufen: Das eine das, daß Sie in der F.D.P. jetzt umdenken und daß Sie ist, Vorsorge zu treffen, aber wir müssen auch Ver- dazu übergehen, die staatliche Kontrolle im Lebens- trauen schaffen für das Produkt Rindfleisch in der mittelbereich stärker zu bewe rten, und nicht mehr so Bundesrepublik Deutschland. sehr auf die freiwillige Selbstkontrolle der Firmen vertrauen? Haben Sie hier schlechte Erfahrungen ge- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) macht? Lernen Sie hieraus? Hier möchte ich ausdrücklich die CMA loben, die mit ihren Werbespots und mit ihrer Information einen Ulrich Heinrich (F.D.P.): Wenn Sie meine Rede von wichtigen Beitrag dazu leistet, daß man den Verbrau- vor fünf oder sechs Jahren, als ich das erste Mal in cher informiert und daß das Vertrauen in das deut- diesem Hause zu BSE gesprochen habe, nachlesen, sche Rindfleisch wiederhergestellt wird. die gleiche Sensibilität finden, dann werden Sie do rt Daneben kommt regionalen Herkunfts- und Quali- die ich heute an den Tag lege. Wir haben hier nichts tätsprogrammen, wie sie bereits in einigen Ländern hinzuzulernen. Wir waren schon immer ausgespro- existieren, eine immer wichtigere Rolle zu. Auch das chen auf der sicheren Seite, und für uns war schon gehört zum Verbraucherschutz, auch das gehört zu immer der Verbraucherschutz das Thema Nummer vertrauensbildenden Maßnahmen. Sie garantieren eins. den Verbrauchern die regionale Herkunft und eine (Beifall bei der F.D.P.) höhere Qualität. kann es aller- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Kollege, Höhere und garantierte Qualität Sie haben zwar schon viele Zwischenfragen beant- dings nicht zum Nulltarif geben. wortet, aber auch der Herr Kollege Ronsöhr möchte (Vorsitz : Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch) noch eine stellen. Da bitte ich Sie, daß Sie das Ihren Verbraucherinnen und Verbrauchern auch sagen: Nicht der Billigein- (F.D.P.): Ihm kann ich natürlich Ulrich Heinrich kauf, nicht das Fleischdumping sind hier gefragt, keine Frage abschlagen. sondern die Qualität - und das kostet auch etwas.

Heinrich-Wilhelm Ronsöhr (CDU/CSU): Vielen (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU, der Dank, Herr Kollege. - Können Sie bestätigen, daß für SPD und der PDS) die Lebensmittelkontrolle die Länder zuständig sind, Ich möchte zum Abschluß aber noch grundsätzlich und würden Sie das bitte auch einmal den Kollegen meine Sorgen über die Entwicklung in der Ethik der der anderen Fraktionen so übermitteln? Wenn ein Lebensmittelproduktion zum Ausdruck bringen. Versagen der Lebensmittelkontrolle vorliegt, dann Wer Pflanzenfressern Tiermehle als Futter anbietet, sind die Länder verantwortlich, und wie die Länder entfernt sich meilenweit von dem, was ich für eine handeln, das wissen wir ja ziemlich genau. ethisch vertretbare Landwirtschaft halte. (Zuruf von der F.D.P.: Und die rot-grünen (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU, der am schlimmsten!) SPD und der PDS) Meine Damen und Herren, Rinder fressen nun ein- Herr Kollege Ronsöhr, für Ulrich Heinrich (F.D.P.): mal keine Schafe, und die Natur schlägt jetzt zurück. Lebensmittelkontrolle, für den Wirtschaftskontroll- Das müssen wir zur Kenntnis nehmen. dienst usw. sind selbstverständlich die Länder zu- ständig. Das kann uns aber von der Notwendigkeit (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) der Diskussion über erforderliche zusätzliche Kon- trollen nicht freisprechen. Es ist nicht bewiesen, ob der BSE-Erreger auch auf den Menschen übertragbar ist. Das haben wir vom (Zuruf von der SPD: Richtig!) Gesundheitsminister gehört, und das wissen wir von den Wissenschaftlichen Beiräten. Das Gegenteil ist Ich glaube, wir sollten uns dem Thema widmen, und allerdings auch noch nicht bewiesen. Um aber zu ei- wir sollten es deshalb heute auch ansprechen. ner besseren Analyse zu kommen, brauchen wir ge- Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, Verbrau- nauere Statistiken und medizinisch einheitliche Kri- cherschutz heißt auch, daß der Konsument wissen terien, um bei der Creutzfeldt-Jakob-Feststellung zu- muß, was er kauft. Es muß endlich europaweit eine verlässige Daten zu bekommen. Deshalb muß minde- Kennzeichnungspflicht eingeführt werden, damit die stens europaweit eine Meldepflicht für die Creutz- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996 9459 Ulrich Heinrich feldt-Jakob-Krankheit eingeführt werden. Ich ver- diesem Zeitpunkt war es schon so, daß die Wissen- stehe nicht, warum man hier noch zögert und warum schaft zwar keinen letzten Beweis für die Übertra- der europäische Ministerrat diese Dinge nicht schon gung von BSE auf den Menschen hatte, andererseits längst beschlossen hat. Eine Meldepflicht für die aber auch das entsprechende Risiko nicht ausschlie- Creutzfeldt-Jakob-Krankheit halte ich angesichts der ßen konnte. Ernsthaftigkeit dieser Diskussion und der Gefähr- dung von Menschenleben für zwingend notwendig. In einer gemeinsamen Erklärung des Robe rt-Koch- Institutes und des Bundesinstitutes für gesundheitli- Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich bin chen Verbraucherschutz und Veterinärmedizin vom überzeugt, daß wir nur zusammen mit den Briten 29. März 1996 heißt es dazu, daß die Stellungnahme eine dringend notwendige Seuchenbekämpfung des britischen Gesundheitsministeriums die Auffas- durchführen können. Deshalb halte ich es für kontra- sung der Berliner Institute bestätigt hat. Bereits 1993 produktiv, wenn aus Großbritannien harsche Töne hatten sich beide Institute gegenüber dem Bundes- kommen. Ich unterstreiche noch einmal: Wir reichen gesundheitsministerium dahin gehend geäußert, daß den Briten zur Beseitigung der Seuche die Hand. Wir - ich zitiere - die Übertragung der Krankheit unter sind aber nicht bereit, uns für eine Maßnahme, die geeigneten Bedingungen auch auf den Menschen aus gesundheitspolitischer Sicht notwendig und rich- möglich sein kann. tig ist, beschimpfen zu lassen. (Zuruf von der SPD: Hört! Hört!) Danke schön. Diese Einschätzung stützte sich vor allem auf die be- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU sorgniserregende Tatsache, daß der BSE-Erreger be- sowie bei Abgeordneten der SPD) reits auf entwicklungsgeschichtlich sehr weit von den Rindern entfernte Säuger wie Katzen und kat- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile der zenähnliche Tiere expe rimentell mit der Nahrung Abgeordneten Dr. Ruth Fuchs das Wo rt . übertragen worden war. Damit war das gleiche für den Menschen denkbar geworden, auch wenn wis- senschaftliche Beweise nach wie vor ausstanden. Dr. Ruth Fuchs (PDS): Herr Präsident! Meine Da- men und Herren! Es ist irgendwie erfreulich, wenn Der begründete Verdacht der Übertragbarkeit be- man die Diskussionsbeiträge heute hört. Ich erinnere steht also nicht erst seit März dieses Jahres. Die briti- mich noch an die letzte Debatte. Da gab es, glaube schen Informationen zu den zehn Creutzfeldt-Jakob ich, wesentliche Unterschiede. Fällen haben ihn letztlich nur weiter erhärtet. In ei- ner solchen Situation und vor allem auch angesichts (Heinrich-Wilhelm Ronsöhr [CDU/CSU]: Die der außerordentlichen Gefährlichkeit der Krankheit gibt es heute auch noch!) und der verheerenden Folgen ihres Übergreifens auf - Ja, ich glaube aber, in bestimmten Fragen sind wir den Menschen kann verantwortliches politisches uns doch wohl einig geworden, daß das ganze Pro- Handeln aber immer nur darin bestehen, von der je- blem nicht einfach von der Hand zu weisen- ist. weils ungünstigsten Entwicklungsmöglichkeit aus- zugehen, sie dem politischen Handeln zugrunde zu Im März dieses Jahres ist es zu dem gekommen, legen und dem Schutz der Gesundheit der Bevölke- was die Opposition in diesem Haus seit Jahren gefor- rung absolute Priorität einzuräumen. dert hat, was auch Minister Seehofer im April 1994 - leider aber nur für sehr kurze Zeit - schon einmal als Heute muß konstatiert werden: Dieser Verantwor- eigene Einsicht formuliert hatte: Verhängung eines tung ist die Bundesregierung, sind beide zuständi- vollständigen Importverbotes für britisches Rind- gen Minister in den zurückliegenden Jahren nicht fleisch und aus ihm hergestellte Produkte in Form ei- gerecht geworden. Mehr noch: Es steht der Verdacht ner Dringlichkeitsverordnung. Was hat die Regie- im Raum, daß sich die Bundesregierung über die un- rung nun bewogen, nicht länger vor den Interessen mißverständlichen Warnungen ihrer eigenen wissen- einer britischen Fleischlobby zurückzuweichen und schaftlichen Beratungsgremien hinwegsetzte und mit die damit verbundene Verweigerungshaltung in die- der Gesundheit der Menschen dieses Landes va ban- ser Frage aufzugeben? que gespielt hat. Dabei mußte zumindest Minister Seehofer aus eigener Erfahrung mit einer fast analo- Am Nachmittag des 20. März 1996 erklärte der bri- gen Problematik sehr genau wissen, was auf dem tische Gesundheitsminister vor dem Unterhaus, daß Spiel steht. Im Falle der HIV-Infektion der Bluter ha- der BSE-Beratungsausschuß seiner Regierung zu ben bei ganz ähnlichen Risikobewertungen ebenfalls dem Schluß gelangt sei, daß die gegenwärtig wahr- gravierende Unterlassungen des Bundesministeri- scheinlichste Erklärung für zehn ungewöhnliche und ums und der Aufsichtsbehörden zwischen 1983 und deshalb auf das sorgfältigste untersuchte Creutz- 1985 zum späteren Tod von Hunderten von Men- feldt-Jakob-Erkrankungsfälle darin besteht, daß sie schen geführt. Minister Seehofer verdiente Respekt, aus einem Kontakt der erkrankten Menschen mit von als er sich dafür Anfang 1995 im Namen der Bundes- BSE-befallenen Tieren herrühren. Dies war zweifel- regierung bei den Opfern und ihren Angehörigen los ein sensationeller und zugleich höchst alarmie- entschuldigte. render Befund. Heute hat er selbst ein schwerwiegendes Nicht- Dennoch hatte sich damit die bisherige Risikobe- handeln zu verantworten. Wer kann es den Men- wertung durch deutsche und internationale Wissen- schen im Land verdenken, daß sie angesichts dieser schaftler kaum gravierend verändert. Auch bis zu Entwicklung zutiefst verunsichert sind und nicht 9460 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996

Dr. Ruth Fuchs mehr wissen, wem sie noch glauben und vertrauen Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich gebe nun können? Auch die jetzigen Markteinbrüche gehen das Wort dem Abgeordneten Matthias Weisheit. damit klar auf das Konto der Politik der Bundesre- gierung. Ein Kollege hat vorhin zwar gesagt, daß er (SPD): Herr Präsident! Meine für die im Fernsehen gezeigten Spots für deutsches Matthias Weisheit lieben Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon er- Rindfleisch dankbar ist. Ich meine allerdings: Das staunlich, wie einig wir uns heute sind. Ich möchte hat zu lange gedauert. Man hätte vorher Aufklä- aber noch einmal daran erinnern: Ähnlich wie heute rungsarbeit leisten müssen, eben auch von seiten haben Sie, Herr Minister Seehofer, 1994 gesprochen. der Bundesregierung, und damit den Menschen Si- cherheit geben können, daß sie unter bestimmten (Klaus Kirschner [SPD]: 21. Ap ril!) Bedingungen Rindfleisch weiterhin gefahrlos essen könnten. Danach haben Sie der Verharmlosungsstrategie der Briten und der EU-Kommission Rechnung getra- Erst wurde von der Bundesregierung angekündigt, gen und hier im Brustton der Überzeugung erklärt, daß sie fest entschlossen sei, auch im nationalen Al- die halbherzigen Maßnahmen, die ergriffen wurden, leingang zu handeln, wenn die anderen EU-Länder reichten aus. Heute sind Sie wieder voller E rnst; nicht zu entsprechenden Regelungen bereit seien. wahrlich eine große schauspielerische Leistung! Die wörtliche Aussage von Minister Seehofer im April 1994 lautete: „Kein verantwortungsvoller Politi- (Zurufe von der CDU/CSU: Wie billig! - ker kann auf diesem Gebiet auch nur das geringste Originell! ) Risiko eingehen." Dann aber kam es zu durchweg Ich hoffe, daß es nicht so weitergeht, sondern daß Sie halbherzigen Kompromissen innerhalb der EU, und jetzt bei dem einmal eingenommenen Standpunkt der Import von britischem Rindfleisch auch nach bleiben. Deutschland wurde, versehen mit einigen völlig in- (Beifall bei der SPD) konsequenten Auflagen, fortgesetzt. Im Frühjahr 1996, allerdings erst nach den neuesten besorgniser- Die Verharmlosungsstrategie hat zu einer Auswei- regenden Erkenntnissen, wurde nun endlich doch tung des BSE-Risikos innerhalb der gesamten EU ein vollständiges Exportverbot für britisches Rind- beigetragen, ist Ursache für den Vertrauensschwund fleisch und zugehörige Produkte verhängt, und dies- der Verbraucher und hat den Bauern in der Bundes- mal sogar auf EU-Ebene. republik, die von der Rindermast leben, in den letz- ten Monaten immense Verluste gebracht, die sie zum Aber schon heute kann es jeder täglich aus den Teil in den Ruin treiben, obwohl sie mit bestem Ge- Medien erfahren, wie sehr die britische Regierung, wissen sagen können, daß ihre Tiere gesund sind. so, als sei nichts gewesen, bereits wieder auf Locke- rung des gerade erst ausgesprochenen Exportverbots Eine konsequente Haltung der Bundesrepublik in drängt. Bisher haben die zuständigen Gremien dem dieser Frage von Anfang an hätte mit Sicherheit dazu noch widerstanden. Nach allen bisherigen Erfahrun- beigetragen, daß die Verunsicherung der Verbrau- gen muß allerdings befürchtet werden, daß die Ge- cher, die in den letzten Monaten zu massivem Ver- schlossenheit dieser Front auch sehr schnell wieder zicht auf Rindfleisch geführt hat, keine dera rtigen bröckeln könnte. Schon werden Schritt für Schritt Ausmaße angenommen hätte. vorwiegend die wirtschaftlichen Aspekte des Ge- schehens in den Vordergrund gerückt, und bereits (Beifall bei der SPD und beim BÜNDNIS 90/ für Anfang Juni, also in wenigen Tagen, ist eine DIE GRÜNEN) nächste Beratung der EU-Agrarminister angekün- Dieses Mißtrauen der Verbraucher ist ja auch mehr digt. als berechtigt. Da wurde ihnen noch vor wenigen Monaten erklärt, eine Gefahr, daß BSE von Rindern Wir meinen aber, daß hier die Regierung unverän- auf den Menschen übertragen werden könne, sei dert im Interesse des Schutzes der Gesundheit der kaum vorhanden. Inzwischen zeichnet ein Dutzend Bevölkerung in einer großen Verantwortung steht. Todesfälle jüngerer Menschen infolge der Creutz- Wir fordern sie deshalb auf, den gerade gefundenen feldt-Jakob-Krankheit ein völlig anderes Bild. Konsens so lange nicht aufzugeben, bis das Problem sicher gelöst ist. Ich bin heute sehr beruhigt; denn Da wurde versichert, Tiermehl werde in ganz Eu- Herr Minister Seehofer hat sich hier diesbezüglich ropa nach den Standards produziert, die bei uns gel- auch geäußert. Ich wünsche ihm von ganzem Herzen ten und als sicher zu betrachten sind. Standfestigkeit für die Zukunft. (Dr. Wolfgang Wodarg [SPD]: Gelogen!) Obwohl über die eine oder andere Einzelheit der vorliegenden Anträge der Fraktionen der SPD und Die staunende Öffentlichkeit hat inzwischen erfah- des Bündnisses 90/Die Grünen durchaus noch zu dis- ren, daß dies gar nicht stimmt. kutieren wäre, meinen wir, daß sie in jedem Fall alle Da wurde behauptet, Großbritannien habe die jene Maßnahmen enthalten, deren Verwirklichung BSE-Problematik im G riff, alle Herden seien unter jetzt von der Bundesregierung erwartet werden muß. Kontrolle. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. (Dr. Wolfgang Wodarg [SPD]: Auch gelo -g en!) (Beifall bei der PDS sowie der Abg. Monika Knoche [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Inzwischen wissen wir, daß dies nicht der Fall ist. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996 9461 Matthias Weisheit Ich kann nur feststellen: In diesem Zusammenhang BSE und seine negativen Auswirkungen auf un- tendiert mein Vertrauen in die europäische Admini- sere Landwirtschaft muß auch Konsequenzen für die stration und in die britische Regierung gegen Null. Landwirtschaftspolitik haben. Tierartgerechte Hal- Ich kann mir kaum vorstellen, daß bei den Kollegen, tung - dazu gehört auch die Fütterung, wie Kollege die im März 1995 an der Informationsreise nach Heinrich vorhin schon betont hat - muß in der ge- Großbritannien teilgenommen haben, inzwischen ein samten EU mehr als ein Lippenbekenntnis sein. Da- anderer Eindruck herrscht als der, daß wir damals bei denke ich auch an die Mäster und ihre Helfers- ganz schön hinters Licht geführt geworden sind. helfer - sie erscheinen immer wieder in der Presse -, die durch verbotene Pharmaka- und Hormoneinsätze Deshalb begrüße ich nachdrücklich, daß die Bun- eine schnelle Mark verdienen und den ganzen desregierung bei den Versuchen, das Exportverbot bäuerlichen Berufsstand in Verruf bringen. wieder aufzuweichen, ha rt geblieben ist. Ich fordere Sie auf, den Erpressungsversuchen der britischen Re- Die Forderung nach tierartgerechter Haltung und gierung nicht nachzugeben. Sie haben mit dem Fütterung heißt für uns nicht, die Landwirtschaft um- Wahlkampf und den inneren Problemen der Regie- fassend auf Richtlinien biologischer Erzeugerver- rung Major zu tun, nichts jedoch mit der Sache, näm- bände umzustellen, wie dies von einigen Populisten lich der Wiederherstellung der Verbrauchersicher- im Zusammenhang mit BSE gefordert wird. Aber die heit bei Rindfleisch und Rinderprodukten. bisherige Praxis, landwirtschaftliche Nutztiere aus- schließlich unter dem Gesichtspunkt ständig höherer (Heinrich-Wilhelm Ronsöhr [CDU/CSU]: Leistungen zu züchten, zu halten und zu füttern, darf Wenn sich Herr Schröder gegen Europa nicht ungeprüft fortgesetzt werden. äußert, ist das genauso!) (Beifall bei der SPD) Die britische Regierung hat zu verantworten, daß sich BSE überhaupt entwickeln konnte. Eine Um- In einer Anzahl von Regionen haben Bauern, Ver- frage, die heute in der Presse veröffentlicht wurde, braucher und der Lebensmittelhandel bereits Konse- zeigt, daß zwei Drittel der britischen Wähler die Ein- quenzen gezogen, zum Beispiel in meiner Heimat, schätzung teilen, daß es ein britisches Problem ist wo mit Hilfe des Landes das Herkunfts- und Quali- und nicht eines, das ihnen von den bösen Europäern tätskennzeichen eingeführt wurde und immer mehr aufgedrückt wird. Bauern nach diesen Regeln produzieren. Auch die Vermarktung macht Fortschritte, wenngleich die Der Rückzug des Staates aus der vorsorgenden Ge- Werbung noch besser unterstützt werden müßte. sundheitspolitik unter dem ach so schicken Oberbe- griff „Deregulierung" hat es ermöglicht, daß aus rein Wer Fleisch oder Wurst mit diesem Qualitätskenn- betriebswirtschaftlichen Gründen das Verfahren der zeichen kauft, kann sicher sein, daß es sich um ein Tiermehlproduktion so „optimiert" wurde, daß der hochwertiges, gesundes Produkt handelt, das von ei- BSE-Erreger überleben konnte. Dieselbe Geisteshal- nem Bauernhof stammt, auf dem tierartgerecht ge- tung, die ungeregelt alles zuläßt, was sich rechnet, halten und gefüttert wird. In Berlin - so konnte ich hat die Perversität ermöglicht, daß Wiederkäuer- mit dieser Tage lesen - wirbt eine große Handelskette Tiermehl gefüttert wurden und an BSE erkrankten. damit, daß ausschließlich Rindfleisch von namentlich bekannten Bet rieben aus Brandenburg über die La- Nach dem ersten Schock über eine große Zahl ver- dentheke geht. endeter Kühe wurde seitens der britischen Regie- rung alles getan, um die Risiken herunterzuspielen (Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Sehr gut!) und die Geschäfte mit Fleisch am Laufen zu halten. Wenn die Verbraucher wissen, woher ihr Fleisch Gegenüber diesem massiven Einsatz zugunsten der kommt und wo die Fleischprodukte herkommen, und britischen Fleischwirtschaft kann man die Maßnah- sie sich - ob sie es nun tun oder nicht - selbst über- men zur Bekämpfung der Seuche und zur Wieder- zeugen können, wo und wie die Tiere aufgezogen herstellung der Sicherheit bei Futtermitteln, Rind- werden, deren Fleisch sie später essen, dann schöp- fleisch und Nebenprodukten des Rindes nur als Ali- fen sie wieder Vertrauen, und unsere bäuerlichen Fa- biveranstaltung bezeichnen. milien haben als Fleischproduzenten eine Zukunft. (Beifall der Abg. Ulrike Höfken [BÜND Ich gebe dem Kollegen Heinrich völlig recht: Das NIS 90/DIE GRÜNEN]) geht nicht mit immer niedrigeren Preisen und Billig- angeboten. Das geht nur mit vernünftigen und ange- Solange die britische Regierung nicht den Beweis messenen Preisen für gute Qualität. erbracht hat, daß es ihr mit der restlosen Ausrottung von BSE und der Beseitigung der Ursachen dieser (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Albe rt Krankheit wirklich Ernst ist, so lange gibt es keiner- Deß [CDU/CSU] und Günther Bredehorn lei Grund, irgendwelchen Drohgebärden nachzuge- [F.D.P.]) ben. Vertrauen beim Verbraucher ist nur zu gewinnen, (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Ul rike wenn Klarheit über Herkunft und Haltung der Tiere Höfken [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) besteht. Deshalb haben alle Maßnahmen, die diese Klarheit verbessern, absoluten Vorrang. Die wichtig- Jedes noch so geringfügige Nachgeben würde nach ste Voraussetzung, wieder wachsendes Vertrauen allen Erfahrungen der letzten Jahre nur dazu führen, nicht zu gefährden, ist eine konsequente Haltung der daß man in London glaubt, so weitermachen zu kön- Bundesrepublik gegenüber Großbritannien und der nen wie bisher. EU-Kommission. Solange BSE und ihre Ursachen 9462 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996

Matthias Weisheit nicht nachweisbar konsequent bekämpft werden, in Großbritannien kein Tiermehl produziert und ver- darf es keine Lockerung des Exportverbots geben. füttert werden. Verbrauchergesundheit und Produktsicherheit müs- sen innerhalb der EU Vorrang gewinnen vor der Ma- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Minister, xime des freien Warenaustausches. gestatten Sie eine Zwischenfrage? Herzlichen Dank. (Beifall bei der SPD und der PDS) Jochen Borchert, Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten: Aber gern. Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich gebe dem Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Bitte, Herr Kol- Forsten, Jochen Borchert, das Wort . lege.

Jochen Borchert, Bundesminister für Ernährung, Dr. Hansjörg Schäfer (SPD): Herr Minister, Sie Landwirtschaft und Forsten: Herr Präsident! Meine sprechen von sicheren Verfahren. Wie können Sie sehr verehrten Damen und Herren! Uns alle be- von sicheren Verfahren sprechen, wenn überhaupt drückt die Entwicklung der letzten Wochen. Die Rin- kein Mensch weiß, was der Erreger ist, wenn be- derseuche BSE in Großbritannien hat in den letzten kannt ist, daß es Bakterien gibt, die weit höhere Tem- Tagen und Wochen im Hinblick auf den Schutz der peraturen und weit höhere Drücke als in diesem Ver- Verbraucher und die konsequente Verwirklichung fahren vorgeschlagen überleben? des europäischen Binnenmarktes zu einer großen Be- unruhigung geführt. Jochen Borchert, Bundesminister für Ernährung, Ich möchte daher ausdrücklich hervorheben, daß Landwirtschaft und Forsten: Wir verlassen uns hier für uns - dies sage ich gerade auch für meinen Kolle- wie bei allen Maßnahmen auf die Aussagen der Wis- gen Horst Seehofer - der Gesundheits- und Verbrau- senschaft. Die Aussage der Wissenschaft ist, daß das cherschutz - nur um den geht es - mit allen beschlos- Verfahren, das wir in Deutschland anwenden, zwei- senen Vorsorgemaßnahmen in Deutschland und im felsfrei alle Erreger abtötet und damit ein sicheres europäischen Binnenmarkt höchste Priorität hat. Das Verfahren ist. Das ist ein Verfahren, das wir schon in heißt das in Deutschland verfügbare Rindfleisch ist der Vergangenheit für ganz Europa gefordert haben, sicher und gesundheitlich unbedenk lich. Der Ver- das aber leider in der Vergangenheit nicht für ganz braucher kann sich auf die Qualität und Sicherheit Europa durchsetzbar war. des Rindfleischangebots in Deutschland verlassen. Meine Damen und Herren, es ist die Frage ange- Die für einen freien Binnenmarkt unüblichen Han- sprochen worden, ob die Kontrollen des Exportver- delsbeschränkungen können aber erst dann wieder botes sicher sind. Wir in Deutschland kontrollieren schrittweise gelockert werden, wenn die konse- über die Bestimmungen der Europäischen Union hin- quente Bekämpfung von BSE in Großbritannien dies aus die Importe dadurch, daß Lieferungen von ohne gesundheitliche Risiken erlaubt. Fleisch und Tieren von amtlichen Bescheinigungen begleitet sein müssen, in denen bestätigt wird, daß Nach neuen wissenschaftlichen Ergebnissen in dieses Fleisch oder diese Tiere weder aus Großbritan- Großbritannien hatte der Sonderrat der Agrarmini- nien noch aus BSE-gefährdeten Beständen in ande- ster nach dem von der Kommission verfügten Expo rt ren Ländern stammen. Damit geht Deutschland bei Maßnahmen beschlossen, um den Schutz der-stopp den Kontrollen weiter, als dies in Großbritannien vor- Verbraucher zu sichern und ein gemeinsames Vorge- geschrieben ist. hen bei der Bekämpfung von BSE zu gewährleisten. Dazu gehören unter anderem ein generelles Expo rt -verbot für britisches Rindfleisch und daneben zur Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Minister, Seuchenbekämpfung in Großbritannien die Aufstel- gestatten Sie noch eine Zwischenfrage, diesmal des lung eines Programms zur Tilgung von BSE durch Abgeordneten Wodarg? die britische Regierung, das Verbot, die über 30 Monate alten Rinder in Großbritannien als Nah- Jochen Borchert, Bundesminister für Ernährung, rungsmittel oder .zur Verarbeitung zu verwerten, so- Landwirtschaft und Forsten: Aber sicher. wie die Auflage, die Herstellung von Tiermehl in der Europäischen Union bis Ende dieses Jahres auf si- (SPD): Herr Minister, wie be- umzustellen, bei denen mögliche Dr. Wolfgang Wodarg chere Verfahren urteilen Sie die Angaben des Verbandes Fleisch- Krankheitserreger zweifelsfrei abgetötet werden, ein mehlindustrie, der als bakteriologische Kontamina- Verfahren, das in Deutschland bereits Standard ist tionen des Fleischknochenmehls, wie es dort ge- und das wir in der Vergangenheit auch immer für die nannt wird, folgende Bakterien nennt, mit denen ge- Europäische Union gefordert haben. rechnet werden muß: Bacillus, Clost ridium, Staphylo- Herr Kollege Heinrich, dieser Beschluß ist nicht un- coccus, Enterococcus, Micrococcus? Es werden auch verantwortlich, denn in Großbritannien darf seit gramnegative Bakterien genannt; auch Salmonellen März dieses Jahres kein Tiermehl mehr an Tiere ver- dürfen bis zu einem bestimmten Grenzwert, der an- füttert werden. Das heißt, solange die Anlagen in gegeben wird, enthalten sein. Schimmelpilze dürfen Großbritannien nicht umgestellt sind - dazu ist Groß- enthalten sein. Es ist also eine ganze Reihe von Mi- britannien bis Ende dieses Jahres verpflichtet -, darf krolebewesen, die noch enthalten sein können. An- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996 9463

Dr. Wolfgang Wodarg geblich soll das Fleischmehl ste rilisiert sein; ich päischen Länder verlassen. Aber die nunmehr im kenne es so, daß es nur desinfiziert ist. Wenn etwas Sonderagrarrat am 3. und 4. Juni erneut zu bera- sterilisiert ist, dann ist es keimfrei. Hier dürfen also tende Lockerung des Verbringungsverbots von Gela- noch Keime enthalten sein. tine, Talg und Rindersamen kann aus meiner Sicht erst dann ins Auge gefaßt werden, wenn die be- Jochen Borchert, Bundesminister für Ernährung, schlossenen Maßnahmen konsequent umgesetzt Landwirtschaft und Forsten: Alle wissenschaftlichen sind, deren Einhaltung von der Europäischen Kom- Aussagen bestätigen, daß das Verfahren, nach dem mission bestätigt und die Teilaufhebung wissen- in Deutschland Tierkörpermehl hergestellt wird, schaftlich gerechtfertigt wird und damit jedes ge- zweifelsfrei sicher ist. Das heißt, daß alle Erreger ab- sundheitliche Risiko auszuschließen ist. Maßstab getötet werden. muß auch hier der Verbraucherschutz und nur der Verbraucherschutz sein. Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Minister, Meine Damen und Herren, die Situation auf dem gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten deutschen Rindfleischmarkt war schon bisher sehr Höfken? schwierig. Sie hat sich durch die jüngste Entwick- lung um BSE extrem zugespitzt. Wegen tiefgreifen- der Verunsicherung der Verbraucher hat der Rind- Jochen Borche Bundesminister für Ernährung, rt, fleischmarkt tiefe Einbrüche erfahren. Zur kurzfristi- Landwirtschaft und Forsten: Aber sicher. Bitte. gen Stützung des Rindfleischmarktes wurden daher die Exporterstattungen deutlich erhöht, die Interven- Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich tion für Rindfleisch eröffnet und Maßnahmen zur pri- möchte mich noch einmal vergewissern, daß die Im- vaten Lagerhaltung beschlossen. Die beschlossenen portbescheinigungen nicht nur Fleisch aus allen Interventionsmaßnahmen tragen zur Stabilisierung Drittländern und allen EU-Mitgliedstaaten, sondern des Rindfleischmarktes bei. auch verarbeitetes Fleisch und Rinderprodukte be- treffen. Ist das so? Gleichwohl haben die Preise für Rindfleisch in den letzten Wochen erheblich nachgegeben. Eine direkte finanzielle Hilfe für die vom Markteinbruch betroffe- Jochen Borchert, Bundesminister für Ernährung, nen rindfleischerzeugenden Landwirte ist dringend Landwirtschaft und Forsten: Ja. Wir gehen mit diesen geboten. Darüber wird ebenfalls auf dem Sonderrat Kontrollen sehr viel weiter, als dies von der Europäi- am 3. und 4. Juni beraten. Die Kommission hat sich schen Union vorgeschrieben ist. Alle Bundesländer verpflichtet, hierzu einen Vorschlag vorzulegen. Ich bestätigen, daß bei den Kontrollen gerade diese amt- werde mich dafür einsetzen, daß auf dieser Basis lichen Bescheinigungen eine erhebliche zusätzliche eine schnelle und unbürokratische Auszahlung mög- Sicherheit bieten. Ich glaube, wir tun damit a lles, um lich wird. sicherzustellen, daß der Verbraucher sich auf diese Kontrollen verlassen kann. Meine Damen und Herren, die Bundesregierung mißt neben der konsequenten Bekämpfung von BSE Ich appelliere hier noch einmal an -die Länder, in Großbritannien den vertrauensbildenden Maß- diese Kontrollen noch intensiver durchzuführen. Für nahmen für deutsches Rindfleisch eine große Bedeu- die Einhaltung der Bestimmungen und die konse- tung zu. Ich möchte an dieser Stelle wiederholen - quente Durchführung der Kontrollen sind die Bun- ich glaube, man kann das nicht oft genug tun -: Das desländer verantwortlich. Fleisch, das in Deutschland produziert und angebo- Meine Damen und Herren, der Herauskauf der ten wird, ist absolut in Ordnung. Es gibt keinen nicht mehr für den Verzehr bestimmten Rinder wird - Grund, an der Qualität und Unbedenklichkeit unse- wie bei der Schweinepest in Deutschland - zu res Rindfleisches zu zweifeln. 70 Prozent aus dem europäischen Haushalt finan- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. ziert. sowie bei Abgeordneten der SPD) Mit diesen Maßnahmen, die der Sonderrat be- schlossen hat, sind zur Zeit europaweit alle Voraus- Unsere langjährigen Bemühungen, auf der euro- setzungen für einen wirksamen Verbraucherschutz päischen Ebene eine Herkunftskennzeichnung bei geschaffen. Es versteht sich von selbst und es ent- Rindfleisch durchzusetzen, sind nun endlich auf spricht auch der Beschlußlage, daß die Europäische fruchtbaren Boden gefallen. Die Kommission hat sich Union das Exportverbot ständig überprüft und verpflichtet, ein EU-weites Herkunftskennzeich- schließlich lockern kann, sobald die eingeleiteten nungssystem für Rindfleisch vorzuschlagen. Die Maßnahmen dem Gesundheits- und Verbraucher- deutsche Vieh- und Fleischwirtschaft hat hier mit ih- schutz Rechnung tragen. Eine einheitliche Position ren freiwilligen Maßnahmen der Herkunfts- und zur Lockerung des britischen Exportverbotes für Ge- Qualitätssicherung bereits erhebliche Vorleistungen latine, Rindertalg und Rindersperma konnte aller- erbracht, um den Weg der Rinder von der Geburt bis dings Anfang dieser Woche im Ständigen Veterinär zur Ladentheke transparent zu gestalten. Die Bun- ausschuß nicht gefunden werden. desregierung hat bereits im Oktober 1995 eine ein- heitliche und durchgehende Kennzeichnung vom Ich kenne die schwierige Situation in Großbritan- Kalb bis zum Schlachtkörper vorgeschrieben, den nien. Wir wollen Großbritannien bei der Tilgung von Rinderpaß. Es wäre jetzt durchaus reizvoll, manch BSE helfen. Großbritannien kann sich bei den erfor- kritische Anmerkung zu diesem Vorschlag gerade derlichen Maßnahmen auf die Solidarität der euro aus den Reihen des Parlamentes zu zitieren. 9464 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996

Bundesminister Jochen Borchert Ich bin zuversichtlich, daß wir mit der lückenlosen Vorschlag 14 Tage danach als Kommissionsverord- Kontrolle und Kennzeichnung ein gutes Stück Ver- nung einfach in Kraft setzen. trauen unserer Verbraucher zurückgewinnen kön- nen, Vertrauen in die gesundheitliche Unbedenklich- (Zuruf von der F.D.P.: Das wissen wir doch!) keit und darüber hinaus in die hohe und nachprüf- - Das hat uns gestern hier im Europaausschuß der bare Qualität unseres deutschen Rindfleisches. Dies Vertreter der Bundesregierung geschildert. kann aber nur gelingen, wenn die wenigen schwar- zen Schafe, die beispielsweise verbotene Masthilfs Das heißt auf gut deutsch, wenn es so ist, wie Sie mittel in der Kälbermast einsetzen, durch schärfere es hier erzählen, dann berichten Sie über einen Teil Kontrollen und eine harte Bestrafung an ihrem illega- der Wirklichkeit nicht. Ich fordere Sie jetzt auf: Neh- len Vorgehen gehindert werden. men Sie hierzu Stellung. (Beifall bei der CDU/CSU) (Zuruf von der CDU/CSU: Bitten können Sie ihn!) Hier sind die Länder gefordert, mit allem Nachdruck durchzugreifen. Sagen Sie auch, daß die Bundesregierung unter der Bedingung, daß das Exportverbot gelockert wird, be- Ein solch skrupelloses Vorgehen gefährdet die reit ist, wieder eine nationale Regelung eines ent- Verbraucher, schafft bei ihnen neues Mißtrauen und sprechenden Verbotes einzuführen. Denn sonst sa- bringt damit den gesamten Berufsstand in Mißkredit. gen Sie hier nur die halbe Wahrheit. Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und (Beifall bei der SPD) Kollegen, ich bitte Sie, ich bitte alle Parteien und Verbände, alle Landwirte, die gesamte Vieh- und Fleischwirtschaft, ihren Beitrag zu leisten. Ich bitte Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Minister, um Unterstützung für die Maßnahmen der Bundesre- Sie können darauf entgegnen. gierung, bei denen der Schutz der Verbraucher abso- luten Vorrang hat, und um Unterstützung, um das Bundesminister für Ernährung, Vertrauen der Verbraucher zurückzugewinnen, da- Jochen Borchert, Landwirtschaft und Forsten: Frau Kollegin, ich habe mit unsere Landwirtschaft auch in diesem Bereich hier sehr deutlich gesagt, unter welchen Bedingun- wieder eine Perspektive gewinnt. gen eine Teillockerung für uns überhaupt nur mög- Vielen Dank. lich ist. Ich will das gern wiederholen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Eine Teillockerung des Exportverbotes kann nur in Frage kommen, wenn die beschlossenen Maßnah- men konsequent umgesetzt worden sind, Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Zu einer Kurz- intervention gebe ich der Abgeordneten Wieczorek (Heinrich-Wilhelm Ronsöhr [CDU/CSU], zur eul das Wort . Abg. Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD] --Z gewandt: Keine Ahnung!)

Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD): Herr Minister, deren Einhaltung von der Kommission bestätigt und Sie haben hier die kommende Sitzung des Agrarmi- die Möglichkeit der Aufhebung wissenschaftlich ge- nisterrates angesprochen und auch die Sitzung des rechtfertigt wird. Darüber werden wir im Sonder- Veterinärausschusses, die in dieser Woche stattge- agrarrat am 3. und 4. Juni 1996 beraten. funden hat. Sie haben aber an einem interessanten Grundlage der Beratungen sind auch die Ergeb- Punkt in Ihrer Darstellung aufgehört. nisse - - Der Veterinärausschuß in der Tat hat in dieser (Abg. Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD] Woche den Kommissionsvorschlag zur Lockerung meldet sich erneut zu Wo rt) des Exportverbotes nicht angenommen. Sie haben nicht darauf hingewiesen, daß es nur keine qualifi- - Hören Sie doch einmal einen Augenblick zu! Viel- zierte Mehrheit für den Vorschlag gegeben hat; es leicht will ich ja gerade das beantworten, was Sie war aber eine Mehrheit der Stimmen für diesen Kom- jetzt fragen wollen. missionsvorschlag und für die Lockerung. Grundlage der Beratungen sind auch die Ergeb- Ich möchte jetzt von Ihnen wissen, mit welcher nisse einer Inspektionsreise einer Expertenkommis- Linie die Bundesrepublik Deutschland in die Sitzung sion, die am 27. Mai stattfindet und die zu der Situa- des Agrarministerrates am 3. und 4. Juni 1996 geht. tion, den beschlossenen Maßnahmen und der Umset- Sie müssen dann auch die volle Wahrheit sagen, zung Stellung nimmt. Auf der Grundlage dieses Be- denn es ist so: Zur Ablehnung dieses Vorschlages der richtes werden wir beraten. Weder Sie noch ich wis- Kommission werden acht Mitgliedsstaaten der Euro- sen, wie die anderen europäischen Mitgliedsstaaten päischen Union benötigt, und das letzte Mal haben auf der Basis dieses Berichtes am 3. und 4. Juni ent- nur sieben überhaupt gestimmt. scheiden werden. Das heißt aber auch, Sie müssen den Leuten sa- Wir werden für eine Aufrechterhaltung des Expo rt gen: In dem Fall, daß Sie diese acht Stimmen nicht -verbotes kämpfen, wenn die Bedingungen, die ich zusammenbekommen, kann die Kommission ihren genannt habe, nicht erfüllt werden. Ich gehe davon Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996 9465

Bundesminister Jochen Borchert aus, daß wir dabei von einer ausreichenden Anzahl Wir wollen Großbritannien ja auch unterstützen. Es von Mitgliedsstaaten unterstützt werden. ist ein europäisches Problem. Diese Hilfe bieten wir an. In diesem Zusammenhang, denke ich, hat die (Zuruf der Abg. Heidemarie Wieczorek Frage der Kollegin Wieczorek-Zeul durchaus eine Zeul [SPD]) Berechtigung. - Entschuldigen Sie einmal, Sie wissen nicht, wie die (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Abstimmung verlaufen wird, und ich weiß es nicht, DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der weil wir beide den Bericht der Inspektionsreise noch PDS) nicht kennen, es sei denn, Sie wären in der Lage, schon heute vorauszusagen, wie dieser Bericht aus- Außerdem wollte ich noch dem Kollegen Köhler, sehen wird. Wir könnten natürlich die Kosten sparen, der inzwischen entschwunden ist, ausrichten lassen, wenn Sie dazu in der Lage wären. doch einmal auf seinen Kollegen Heinrich zu hören, was nämlich die Behauptung angeht, nicht das Tier- Vielen Dank. mehl sei problematisch; das Ganze sei vielmehr nur (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) eine Schlamperei im Verfahren. Das ist eine Bemer- kung, die wirklich etwas vorsintflutlich war.

Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile nun Einig sind wir uns ja inzwischen in der Bewertung der Abgeordneten Ul rike Höfken das Wo rt. des Rinderwahnsinns, zumindest wenn man die Ant- wort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der SPD zugrunde legt, in der Bewertung des Risiko- Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich potentials und auch da rin, daß Anonymität in der glaube, Frau Kollegin Wieczorek-Zeul wollte fragen, Fleischproduktion Verbrauchergefährdung beinhal- was passiert, wenn diese Mehrheitsentscheidungen ten kann und daß eine verbindliche Herkunftskenn- nicht so zustande kommen, wie Sie wollen, wie wir zeichnung für den Verbraucherschutz, für die Ver- wissen. Gibt es dann einen nationalen Alleingang? antwortung in der Produktion, für die Einkommenssi- cherung der Betriebe sowie für die Kontrolle und den Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Frau Kollegin, Vollzug ein äußerst hilfreiches Mittel ist. Das zweite gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten ist aber, daß in diesem Bereich bereits Differenzen Seehofer? bestehen, merkwürdigerweise auch mit der Fraktion der SPD; denn die bezieht sich in Ihrem Antrag er- staunlicherweise nur auf Rind- und Frischfleisch, im Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ja. Gegensatz zu der CDU, die ihre Forderung noch auf das gesamte Fleisch bezieht. (CDU/CSU): Frau Kollegin, halten Horst Seehofer (Heinrich-Wilhelm Ronsöhr [CDU/CSU]: Sie es bei diesem sehr sensiblen Thema und der sehr Wir waren schon immer besser!) aufgewühlten Gefühlslage in Europa nicht auch für sehr bedenklich, wenn wir heute vom- Deutschen Das ist ein Unterschied, den ich bemerkenswe rt Bundestag aus Drohungen oder Ankündigungen in finde. Ich vermute, daß das ein Fehler in der Bearbei- der Öffentlichkeit aussprechen, die das, was wir hof- tung und nicht so gemeint ist. fentlich gemeinsam wollen, nämlich die Sicherstel- lung des Verbraucherschutzes am 3. und 4. Juni, nur Einig sind wir uns auch bezüglich der Forderung, gefährden können? Wir sollten mit den Mitgliedslän- die Insel dichtzumachen. Aber man macht es sich dern reden und ihnen heute nicht über die Öffent- viel zu einfach, wenn man die Schuld lediglich auf lichkeit mitteilen, was wir bei dem Fall X machen die Regierung Großbritanniens schiebt. Dies wäre oder androhen. außerdem nicht hilfreich. Sie sagen, Herr Minister Borche rt: Das in Deutsch- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) land verfügbare Rindfleisch ist sicher. Na ja. Die Maßnahmen kommen natürlich in der ganzen Reali- Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es ist sierung und Auswirkung äußerst spät. Es gibt erste im Grunde überhaupt nicht unser Ansinnen - ich Maßnahmen und Defizite, die im Vollzug zu bekla- denke, das trifft für alle Abgeordneten zu -, diese gen sind. Zwar ist verboten worden, Tiermehl an aufgewühlten Reaktionen Großbritanniens noch wei- Wiederkäuer zu verfüttern, aber dieses Verbot ist ter negativ zu beeinflussen. Auf der anderen Seite ist zum großen Teil in den Betrieben gar nicht angekom- es ganz klar unsere Aussage, daß wir den Verbrau- men. cher- und Gesundheitsschutz nicht dem Wahlkampf in Großbritannien opfern wollen. Wenn Sie sich einmal die Kontrollen anschauen, die zugegebenermaßen in den Landkreisen erfolgt Natürlich stellen sich die betroffenen EU-Mitglie- sind, dann werden Sie feststellen, daß noch nicht ein- der diese Frage auch von ganz alleine. Es wäre hilf- mal das Personal vorhanden war, dieses Verbot über- reich für die Entscheidung in dieser Kommission, zu haupt realistisch zu kontrollieren. wissen, wie die Deutschen reagieren würden, näm- lich im Sinne eines Verbraucher- und Gesundheits- Ein anderer Punkt ist, daß das Tiermehlrisiko ge- schutzes. rade beim Import ungenügend erfaßt ist. Das Export- verbot müßte generell auf Fleisch aus originären BSE- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS gefährdeten Ländern ausgedehnt werden - das ist SES 90/DIE GRÜNEN) zum Beispiel im Antrag enthalten -, wenn mit Tier- 9466 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn. Donnerstag. den 23. Mai 1996

Ulrike Höfken mehl gefüttert wurde. Das betrifft aber auch ein Programm „Regionale Fleischerzeugung" ge- Schweine und Schafe - ich sage das ganz ausdrück- hen. Damit soll, solange es noch möglich ist, garan- lich: wenn mit Tiermehl gefüttert wurde. tiert werden können, daß es BSE-freie Bestände gibt, daß Tiere artgerecht gehalten werden und daß bei- Solange das Verfahren nach den deutschen Vor- spielsweise auch keine anderen die Verbraucher be- stellungen bzw. deutschen Standards noch nicht ver- einträchtigenden Mittel, zum Beispiel Antibiotika bessert war, wurde Tiermehl an die do rt lebenden und Leistungsförderer, verwendet werden. Mit die- Tiere verfüttert. Beim Impo rt ist es nicht möglich, sen Geldern wollen wir diese regionalen Programme nachzuvollziehen, ob in das entsprechende Tiermehl fördern, um in der Landwirtschaft endlich wieder infektiöses Material gelangt ist. Es besteht natürlich eine Situation zu erreichen, in der für die Verbrau- die erhebliche Gefahr der Reinfektion britischen cher eine Unbedenklichkeitserklärung ausgespro- Tiermehls. chen und in der ein neuer Absatzmarkt für Fleisch Ich finde, es ist ein deutliches Defizit, wenn man geschaffen werden kann. einfach sagt: Deutsches Fleisch ist sicher. Ich meine, Danke schön. das stimmt für die Erzeugergemeinschaft in der Eifel; die kenne ich. Ich möchte das aber nicht generell (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, sagen. bei der SPD und der PDS) Zur Sicherheit des Verfahrens. Auch dazu wurde von Kollegen schon angemerkt, daß es Aussagen Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Auch zu dieser gibt: 200 Grad kann dieser Erreger überleben. Ich Rede hat die Kollegin Wieczorek-Zeul um eine Kurz- finde es außerordentlich schwierig, sich auf diese intervention gebeten. Bitte sehr, Frau Kollegin. widersprüchlichen wissenschaftlichen Aussagen zu stützen. (Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Frau Wieczorek Zeul, Sie machen heute Dienst bis zum Zu den Drittlandreimporten von Tieren möchte Schluß!) ich sagen: Die Tiere, die aus Großbritannien stam- men und nach Polen gelangt sind, oder infiziertes Tiermehl, das nach Polen gelangt ist, werden bei- Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD): Liebe Kollegin- spielsweise über Italien wieder in die EU eingeführt. nen und Kollegen! Ich nehme den Diskussionsbei- Das sind immerhin 480 000 Tiere pro Jahr. Auch das trag der Kollegin Höfken zum Anlaß, zu sagen: Sie ist sicherlich ein Manko. hat zu Anfang ihrer Rede ausgedrückt, die Erwar- tung des Deutschen Bundestages sei es, daß die Bun- Hundefutter aus Großbritannien gelangt nach wie desregierung bei den Verhandlungen des Agrarmi- vor nach Deutschland - auch ohne die Klärung, ob nisterrates am 3./4. Juni keiner Lockerung des Ex- infiziertes Material enthalten ist oder nicht. Wir ha- portverbotes zustimmen wird. ben die Problematik der Haustiere in dieser Hinsicht sicher noch nicht vollständig erfaßt. Wir können sie (Beifall bei Abgeordneten der SPD) auch nicht ausreichend bewe rten. Auch das ist ein Ich denke, ich drücke das für alle diejenigen aus, die Defizit. - sich in der heutigen Debatte geäußert haben und die Ähnlich verhält es sich mit Tierarzneimitteln wie sich hier entsprechend festlegen. Prostaglandinen, die - wie ähnliche Arzneimittel - (Dr. Dieter Thomae [F.D.P.]: Das ist doch zurückgezogen wurden - zumindest hoffe ich das -, gesagt worden!) bei denen aber ein Kontrolldefizit besteht. Aber was ist mit den Anwendungen, die bereits erfolgt sind? Ich möchte aus der Replik, die sich ergeben hat, Auch in diesem Punkt gibt es mit Sicherheit Schwie- auf eines verweisen - das sind auch Ihre Rechte -: rigkeiten in der Beurteilung. Der Deutsche Bundestag hat nach der Verfassung und dem Rechtstellungsgesetz, das wir und Sie ge- Ein letzter Punkt ist, daß die in Großbritannien ge- meinsam beschlossen haben, das Recht und die troffenen Maßnahmen sicherlich unzureichend sind, Pflicht, an der Willensbildung der Bundesrepublik von uns allen so eingestuft werden. Es ist notwendig, Deutschland in Fragen der Europäischen Union teil- einerseits eine Unterstützung zu geben, andererseits zunehmen. von der EU-Seite aus auch darauf hinzuwirken, daß diese Maßnahmen ausgedehnt werden. Wir haben Es geht um eine EU-Gesetzgebung, die hier ange- erhebliche Schwierigkeiten, zu beurteilen, was mit sprochen worden ist, und der Deutsche Bundestag den Tieren ist, die zwar infiziert sind, bei denen die gibt mit seiner Position der Bundesregierung die Krankheit aber nicht erkannt werden kann, weil es Orientierung, die sie bei den Verhandlungen zu- keine Nachweisverfahren gibt. Hier sehe ich gerade grunde zu legen hat. Da kann man doch nicht so tun, in Großbritannien eine große Gefahr. als wären das irgendwelche diplomatischen Ver- handlungen, bei denen es peinlich wäre, wenn der Aktuell kosten die Maßnahmen insgesamt etwa Deutsche Bundestag etwas sagen würde! 13 Milliarden DM, die zur Bekämpfung dieser Seu- che BSE eingesetzt werden. Das sind alles Maßnah- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ men, die die Krise im Grunde nur begleiten, aber DIE GRÜNEN) keine Lösung der Probleme bringen. Es gehört zu unserem Recht und zu unseren Pflich Wir wollen, daß die Gelder, die für Aufkaufaktio- ten. Nur unter Bezug auf diese Regelung hat das nen und Exporterstattungen verwendet werden, in Bundesverfassungsgericht den Maastricht-Vertrag Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996 9467

Heidemarie Wieczorek-Zeul überhaupt passieren lassen. Wenn einzelne Regie- Ich finde überhaupt, man muß doch ein bißchen rungsmitglieder das immer noch nicht kapiert haben, darauf achten, was hier gesagt worden ist. Man sollte ist das schlimm genug. vielleicht auch lesen, was die einzelnen Anträge und Entschließungsanträge enthalten. In dem Antrag der Deshalb mit Blick auf die anstehende Entschei- CDU/CSU- und F.D.P.-Fraktion können Sie lesen, dung: Wir erwarten, und zwar der gesamte Deutsche daß wir die Regierung auffordern, einer Lockerung Bundestag, daß die Bundesregierung unter keinem des Exportverbots nur dann zuzustimmen, wenn ge- Vorwand einer Lockerung des Exportverbots zu- sundheitliche Risiken wissenschaftlich hinreichend stimmt. bewertet und die erforderlichen Maßnahmen be- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ schlossen und durchgeführt sind, um die BSE-Frei- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der heit der Rinder und die Unterbrechung der Infek- PDS - Zurufe von der CDU/CSU und der tionskette sicherzustellen. Das ist eine ganz klare F.D.P.: Oberlehrerin! - Heinrich-Wilhelm und eindeutige Aussage, und ich habe nicht gehört, Ronsöhr [CDU/CSU]: Sie hören Ihren Red daß die Regierung diese Aussage nicht aufgreifen nerinnen und Rednern offenbar nicht zu! - und unterstützen würde. Zuruf von der F.D.P.: Immer Schauveranstal Wir sollten auch sehen, daß die Forderung nach tungen! - Weiterer Zuruf: Hessen-Süd hat mehr Forschungsmitteln, auf die die Kollegin Knoche wieder zugeschlagen! - Anhaltende weitere hingewiesen hat, schon erhoben worden ist und daß Zurufe von der CDU/CSU und der F.D.P. man sich auf der anderen Seite ehrlicherweise Re- und Gegenrufe von der SPD) chenschaft darüber geben muß, daß Forschung auf deutschem Boden - Frau Knoche hat das bei der An- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich gebe das hörung im Gesundheitsausschuß mitbekommen - Wort der Abgeordneten Editha Limbach. deshalb so schwierig ist, weil wir kein Mate rial ha- ben, weil BSE in Deutschland erfreulicherweise nicht vorkommt. Das bedeutet, wir können unsere For- Editha Limbach (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe scher nicht zu etwas verdonnern, was sie nicht lei- Kolleginnen und Kollegen! Ich finde es eigentlich sten können, weil sie das Mate rial, das sie erforschen schade, daß durch die Äußerungen der Kollegin sollen, gar nicht haben. Wieczorek-Zeul die an sich sehr ruhige und sach- dienliche Diskussion jetzt doch etwas auf die schiefe (Beifall bei der CDU/CSU) Bahn geraten ist. Mich hat an der Diskussion hier Ich will auch etwas zu dem sagen, was in dem Ent- und heute gefreut, daß bei dieser schwierigen Frage, schließungsantrag der SPD steht und hier aufgegrif- mit der möglicherweise ein großes gesundheitliches fen wurde, nämlich dazu, daß dem Importverbot vom Problem verbunden Ist, nicht der Hyste rie und der April 1994 später die Einigung auf eine europäische Panik, Regelung folgte, die nicht ganz so streng war wie (Beifall bei der CDU/CSU) das, was wir vorher allein durchgesetzt hatten und sondern einer richtigen Wertung der Gefährdung- das tun wollten. Wort geredet wurde, und für den vorsorgenden Ge- Mehrere Rednerinnen und Redner haben darauf sundheits- und Verbraucherschutz gesprochen hingewiesen, wie wenig freundlich die Töne sind, die wurde. man gelegentlich in diesem Zusammenhang aus Frau Wieczorek-Zeul, Sie nehmen es immer so ge- England hört, und daß das europafeindlich sei. Ich nau, daß alles vollständig gesagt wird. Dann hätten kann nicht verstehen, daß man gleichzeitig verlangt, Sie korrekterweise natürlich auch berichten müssen, die Bundesregierung und die Mehrheit in diesem daß im Europaausschuß der Vertreter der Regierung, Hause hätten sich europafeindlich verhalten sollen; nachdem er erläutert hatte, wie das Verfahren ist, denn in dem Moment, in dem eine Gemeinschaftsre- meine Frage nach dem Standpunkt der Regierung gelung da war, wäre es falsch gewesen, dieser nicht damit beantwortet hat, daß man in dieser Frage zu folgen, zumal sie die Sicherheit vergrößert hat. selbstverständlich dem vorsorgenden gesundheitli- Dieser Meinung bin ich nach wie vor: Notfalls sind chen Verbraucherschutz den Vorrang gibt und alles nationale Alleingänge nötig, aber gemeinschaftliche tun wird, damit auf der Grundlage dessen, was man europäische Regelungen sind beim Binnenmarkt erst noch an Erkenntnissen gewinnen muß - darauf sehr viel besser. hat Herr Minister Borche rt hingewiesen -, die rich- tige Entscheidung in dem Sinne, wie wir es haben (Beifall des Abg. Walter Hirche [F.D.P.]) wollen, nämlich Vorrang für den gesundheitlichen Verbraucherschutz, getroffen wird. Wir haben über die Kontrolle der Maßnahmen ge- sprochen. Auch in unserem Antrag werden Sie wie- Gerade wenn Sie Herrn Borche rt vorwerfen, daß er derfinden, daß wir großen Wert darauf legen. Ich diese komplizierten Verfahren nicht erläutert hat, finde es deshalb sehr erfreulich, daß der Agrarrat ei- und wenn Sie den Europaausschuß zitieren, hätten gens eine eigene Kommission nach Großbritannien Sie mit dem, was Sie hier vorgetragen haben, die un- schicken kann, um sich dort selbst ein Bild zu ma- mittelbar im Zusammenhang damit stehende Frage chen. und deren Beantwortung durch die Regierung mit er- wähnen müssen. Ich muß in einem Punkt dem Kollegen Weisheit recht geben: Bei dem Besuch in Großbritannien, an (Beifall bei der CDU/CSU) dem auch ich teilgenommen habe, sind uns wahr- 9468 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996 Editha Limbach scheinlich alle positiven Dinge gezeigt worden, die Jochen Borchert, Bundesminister für Ernährung, uns durchaus beeindruckt haben, und all die Dinge, Landwirtschaft und Forsten: Vielen Dank, Herr Präsi- bei denen es doch nicht klappt, sind natürlich nicht dent! Frau Kollegin Wieczorek-Zeul, in dem Antrag gezeigt worden. Ich muß allerdings sagen: Wenn ich der CDU/CSU und F.D.P. wird gefordert, das Expo rt das recht bedenke, so zeigen wir unseren Besuchern -verbot so lange aufrechtzuerhalten, und dann wer- in der Regel auch lieber das, was klappt, als das, was den die Bedingungen formuliert, die ich hier vorge- nicht klappt. tragen habe. Diese Bedingungen zeigen, daß der Verbraucherschutz oberste Priorität hat. Grundlage Wir haben deutlich die Forderung nach dem Her- der Beratungen im Sonderagrarrat am 3. und 4. Juni kunftsnachweis gestellt. Diesen halte ich für sehr sind der Bericht der Kommission und die wissen- richtig, ebenso wie ich den Forderungen, die aus der schaftliche Bewertung und ein Bericht der Experten- Landwirtschaft kommen, nämlich nach der Regiona- kommission über eine Inspektionsreise nach Großbri- lisierung und der deutlichen Kennzeichnung, sehr tannien. Auf der Grundlage dieser beiden Berichte gerne folge; denn das ist etwas, das geeignet ist, das werden wir dann die Situation bewe rten, und vor Vertrauen von Verbraucherinnen und Verbrauchern dem Hintergrund dieser Bewe rtung müssen wir dann in das Rindfleisch und die Rindfleischprodukte wie- entscheiden. der herzustellen. Frau Kollegin, Ihre Forderung, am 3. und 4. Juni (Beifall bei der CDU/CSU) auf jeden Fall jede Lockerung abzulehnen, unabhän- Es ist nicht so, daß die Leute plötzlich kein Rind- gig davon, welche Erfolge bei der Bekämpfung er- reicht worden sind fleisch mehr mögen, sie möchten nur sicher sein, daß das, was sie kaufen, aus gesunden Beständen (Wolf-Michael Catenhusen [SPD]: In den kommt. Sie wollen wissen, was sie kaufen und mit nächsten zehn Tagen!) welchen Produkten sie es zu tun haben. und wie die wissenschaftliche Bewe rtung und der Es stellt sich in der Tat die Frage: Was ist mit den Bericht der Expertenkommission aussehen, halte ich, kräftigen Äußerungen, die in England gefallen sind? um es vorsichtig zu sagen, für nicht vertretbar. Un- Ich möchte hier ausdrücklich das betonen, was ich in sere Position kann doch nur sein: Der Verbraucher- verschiedenen Interviews, die ich englischen Medien schutz hat oberste Priorität, und das Exportverbot geben durfte, gesagt habe: Wir haben keinen Streit wird so lange aufrechterhalten, wie dies aus Grün- mit England, wir haben Streit mit BSE - wenn man den des Verbraucherschutzes notwendig ist. Das Ex- das so sagen kann. portverbot kann in dem Umfang gelockert werden, Wir wollen mit den Engländern gemeinsam diese wie der Verbraucherschutz dies zuläßt. Dies müssen Tierseuche, die möglicherweise auch Menschen ge- wir auf der Grundlage der Berichte am 3. und 4. Juni fährden kann, bekämpfen und möglichst ausrotten. bewerten, aber, wie gesagt, völlig unabhängig da- Ich meine, in diesem Zusammenhang ist es wichtig, von, wie die Berichte aussehen. Wer heute bereits daß wir nicht die Mittel, die auch den Briten helfen, sagt, wir werden keinen Veränderungen zustimmen, mit diesem Problem fertig zu werden, plötzlich wie- der handelt politisch nicht verantwortlich. der einkassieren, um sie für andere, möglicherweise (Beifall bei der CDU/CSU) auch schöne Dinge zu benutzen, sondern wir müssen auch hier zur Solidarität stehen und sagen: Jawohl, diese Zuschüsse, die im übrigen noch mit dem Rabatt Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile nun verrechnet werden - das reduziert sie in gewisser das Wort dem Abgeordneten Dr. Wolfgang Wodarg. Weise -, müssen gezahlt werden.

Letzte Frage: Was passiert, wenn es nicht zu dem Dr. Wolfgang Wodarg (SPD): Herr Präsident! Liebe erhofften gemeinsamen Ergebnis auf europäischer Kolleginnen und Kollegen! Angesichts der von Groß- Gemeinschaftsebene kommt? Ich denke, daß wir britannien angestrebten Lockerung des Exportver- dann die Regierung bitten werden - ich bin davon bots für Rinderprodukte hat gestern in der „Frank- überzeugt, daß sie dazu bereit ist -, unter Einbezie- furter Rundschau" der EU-Kommissar Fischler ge- hung dessen, was die Kommission beschlossen hatte, meint, daß BSE-Erreger beim Herstellungsverfahren und unter Einbeziehung der Dringlichkeitsverord- von Gelatine oder Talg abgetötet würden. Das ist nungen, die wir hatten, zu einer Dauerverordnung zu nicht mehr als ein gewagtes Wunschdenken. Ich kommen, die unseren Verbraucherinnen und Ver- möchte, daß wir uns ein wenig mit dem Tiermehl be- brauchern so viel Sicherheit wie möglich gibt. Am schäftigen. liebsten wäre mir eine europäische Lösung. Wenn es sie aber nicht geben kann, müssen wir national han- (Zuruf der Abg. Ulrike Höfken [BÜNDNIS 90/ deln. DIE GRÜNEN]) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - Eine Frage? - Gern! und der F.D.P.)

Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Normalerweise Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich gebe das erteile ich das Wort, Herr Kollege Wodarg, wenn Sie Wort noch einmal dem Minister für Ernährung, Land- einverstanden sind. Ich nehme aber an, daß Sie die wirtschaft und Forsten, Jochen Borche rt. Zwischenfrage zulassen. - Bitte schön, Frau Kollegin. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996 9469

Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir Für die Tierernährung werden Tiermehl, Fleisch-, haben von Minister Seehofer gehört, daß für den Arz- Knochen- oder Blutmehle aber immer dann un- neimittelbereich Gelatine offensichtlich anders ein- brauchbar, wenn Eiweiße bzw. Fette darin zu sehr geschätzt wird als für den Bereich der Lebensmittel. durch Hitze oder Chemikalien verändert werden. Sie Mir ist nicht nachvollziehbar, wie er diese Aussage sind dann schlicht unverdaulich. Ähnliches gilt für begründet hat. Meine Frage an Sie: Führen Sie das die Herstellung von Gelatine. Zwar werden hier nur vielleicht auf die unterschiedlichen Haftungsrege- Schlachtabfälle verwendet und keine Kadaver, aber lungen zurück, die für diese beiden Bereiche gelten? es bleibt auch hier dabei: Man kann die kollagenen Eiweißmoleküle in der Gelatine nicht beliebig erhit- Dr. Wolfgang Wodarg (SPD): Ich glaube zu verste- zen. Irgendwann verändern sich deren Strukturen so hen, was Sie mit der Frage meinen. Es sind natürlich sehr, daß die Quellfähigkeit weg ist, und dann ist es Haftungsfragen, die eine Rolle spielen beim Verhal- keine Gelatine mehr. ten von Firmen, die diese Stoffe herstellen. Ich Abgesehen von den Energie- oder den Verfahrens- glaube schon, daß es gut wäre, das Haftungsrecht kosten ist man deshalb seitens der Anlagenbetreiber auch auf den Lebensmittelbereich und auf den Medi- und der Tiermehlindustrie daran interessie rt, die Er- kamentenbereich in gleicher Weise anzuwenden. hitzung möglichst niedrig zu halten. Das heißt, was Das ist hier nicht der Fall, da haben Sie recht. die seuchenhygienische Qualität angeht, gibt es ein Wir sollten uns daran erinnern, daß als Ursache für wirtschaftliches Interesse, sie nicht allzusehr zu über- die Verbreitung von BSE die Verfütterung von ver- treiben. seuchtem Tiermehl an Rinder genannt werden muß. Was ist eigentlich Tiermehl? In der Bundesrepublik Ich möchte Sie - ich sehe schon Ermüdungser- fallen jährlich über 2,3 Millionen Tonnen an Mate rial scheinungen - nicht mit weiteren Einzelheiten über an, welches in den 42 deutschen Tierkörperbeseiti- die Verarbeitung von Rinderprodukten und Schlacht- gungsanlagen behandelt werden muß. Das sind in abfällen überfordern. Ich möchte Sie aber darauf auf- Deutschland im Jahr 100 000 Lastwagen voll, jeder merksam machen, daß die von EU-Kommissar Fisch- Lastwagen gefüllt mit 23 Tonnen Tierabfällen. Das ler behauptete Sicherheit mit Sicherheit nicht gege- sind durchschnittlich zehn Lkw pro Tag für jede An- ben ist - schon allein deshalb nicht, weil die euro- lage - nur damit man einmal eine Vorstellung hat, päischen Tierkörperbeseitigungsanlagen noch nicht um welche Mengen es sich dabei handelt. auf unseren deutschen Standard umgerüstet worden sind. Nur in Deutschland und Holland sollen die An- Das deutsche Tierkörperbeseitigungsgesetz kennt lagen diesem Standard entsprechen. Von neugewon- drei Arten von zu entsorgendem Mate rial: nener Sicherheit für die Briten und für ihre euro- päischen Partner kann deshalb nicht die Rede sein. Erstens die Schlachtabfälle. Sie machen etwa Wer das tut, der liefert nichts als ein erneutes Schön- 1,9 Millionen Tonnen im Jahr aus. reden der Verhältnisse des gesundheitlichen Ver- Zweitens die Tierkörper. Das sind verendete oder braucherschutzes im Staate Europa. getötete Tiere, also Kadaver. Wir wollen, daß die Verantwortlichen der Bundes- Drittens sonstige Erzeugnisse wie zum Beispiel regierung jetzt endlich kontinuierlich und eindeutig verdorbene tierische Lebensmittel. dafür sorgen, daß das, was sie den Menschen erzäh- len - Sie haben es uns auch wieder erzählt –, in Brüs- Die beiden letzten entsprechen allerdings nur etwa sel auch endlich gemacht und konsequent durchge- 15 Prozent aller anfallenden Materialien in den Tier- halten wird. Das ist das einzige, was wir Ihnen als körperbeseitigungsanlagen. Die weit überwiegende Opposition nun wirklich nicht abnehmen können. Menge, etwa 85 Prozent, sind also Schlachtabfälle, das heißt, es sind Reste von Tieren, deren Fleisch vor- her für den menschlichen Verzehr als geeignet be- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege funden wurde. Wodarg, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kolle- Der Erlös aus den insgesamt hergestellten zirka gin Limbach? 350 000 Tonnen Tiermehlen - was immer das im ein- zelnen dann sein mag; es gibt da unterschiedliche (SPD): Ja, gerne. Fraktionen - beläuft sich allein in der Bundesrepu- Dr. Wolfgang Wodarg blik auf etwa 143 Millionen DM jährlich. Sie sehen also, liebe Kolleginnen und Kollegen, es geht hier, Editha Limbach (CDU/CSU): Herr Kollege Wo- neben der Seuchenbekämpfung, neben einer kosten- darg, können Sie mir sagen, auf Grund welcher Be- günstigen Abfallbeseitigung, neben Recycling und stimmungen des Vertrages von Maast richt die Bun- Verbraucherschutz, wieder einmal auch ums Geld. desregierung das alleinige Sagen in Brüssel hat? In Deutschland wenden 38 der 42 Tierkörperbe- seitigungsanlagen das sogenannte Druck - Hitze - Ver- (SPD): Das hat sie nicht, na- fahren an, bei dem das zerkleinerte Material minde- Dr. Wolfgang Wodarg türlich nicht. stens 20 Minuten auf 133 Grad unter 3 bar Dampf- druck erhitzt wird. Dieses Verfahren gilt als das hy- ( [CDU/CSU]: Aha!) gienisch sicherste Verfahren der Beseitigung von Tierkörpern, wenn man am Ende Mehl erhalten Aber wir verlangen von der Bundesregierung - das möchte, welches noch als Tierfutter geeignet ist. wurde hier deutlich -, daß sie zu dem, was sie in der 9470 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996

Dr. Wolfgang Wodarg Sache vertreten hat, steht und im Notfall auch einen entsprechend § 5 des deutschen Tierkörperbeseiti- Alleingang wagt. gungsgesetzes. Wir möchten übrigens auch wissen, wie lange dies dauert und wie in der Zwischenzeit (Beifall bei der SPD) verfahren werden so ll. Ein integrierter Wirtschaftsraum Europa braucht Wir schlagen außerdem vor, in der Zwischenzeit auch ein integrie rtes europäisches System des Ge- das Tiermehl, das nicht entsprechend diesen Stan- sundheitsschutzes, der Seuchenvermeidung und der dards hergestellt wurde, mit erstens einem Verfütte- umweltgerechten Lebensmittelerzeugung. Hätten rungsverbot für alle landwirtschaftlichen Nutztiere Sie, Herr Seehofer, und Sie, Herr Borchert, für die (Lebensmitteltiere), zweitens einem Verbringungs- europäische Integration des Gesundheits- und Ver- verbot innerhalb der EU und drittens einem Expo rt braucherschutzes soviel getan wie die Wirtschaftsmi- -verbot, soweit dieses Mehl von britischen Rindern nister für den freien Warenverkehr, so käme es nicht stammt, zu belegen. zu diesen krisenhaften Belastungen zwischen den europäischen Pa rtnern. Darüber hinaus halten wir es für einen vertretba- ren Kompromiß - ich bitte jetzt besonders die Land- (Beifall bei der SPD) wirte hier im Haus um ihre Aufmerksamkeit -, wenn Doch jetzt haben wir den Salat! Ob neben dem entsprechend § 5 des deutschen Tierkörperbeseiti- wirtschaftlichen Schaden auch bei uns gesundheitli- gungsgesetzes hergestelltes Tiermehl zum Beispiel che Schäden durch halbherzige Verbraucherschutz- an Geflügel und Schweine verfüttert werden darf, so- maßnahmen der Bundesregierung entstanden sind, fern es von gesunden Tieren stammt. Das heißt aber, wissen wir noch nicht. Wenn es hier so kommt wie in es darf auch weiterhin keinesfalls an wiederkäuende -Großbritannien, wo jetzt die ersten atypischen CJK Tiere und andere Pflanzenfresser verfüttert werden. Fälle zunehmend wahrscheinlich machen, daß BSE- Das Risiko von BSE und anderen bisher vielleicht Erreger auch beim Menschen eine Epidemie auslö- noch nicht in ihrer Gefährlichkeit für den Menschen sen, dann ist es für die Betroffenen allerdings zu spät. bekannten Zoonosen erfordert doppelte Sicherheits- Die Bundesregierung hat auf unsere Große Anfrage maßnahmen. Deshalb müssen wir zusätzlich zu der lakonisch geantwortet: für bekannte Erreger ausreichenden Sicherheit Es gibt keine therapeutischen Möglichkeiten, die durch Druck-Hitze-Verfahren auch auf der Inputseite spongiformen Enzephalopathien bei Menschen das Risiko minimieren und deshalb das Material vor- oder Tieren zu lindern oder zu heilen. Sie verlau- sortieren, bevor es in die Tierkörperbeseitigungsan- fen chronisch progredient und immer tödlich. lage kommt. Das heißt, Kadaver, krankheitsverdäch- tige und andere riskante Tierprodukte haben nichts Wenn es aber keine Therapie gibt, so müssen wir in Anlagen für die Herstellung von Tierfutter zu su- doch um so intensiver alles tun, damit die Infektion chen. Das ist heute tägliche Praxis. nicht noch mehr Menschen trifft. (Zustimmung bei der SPD) (Widerspruch bei der CDU/CSU) Wenn wir schon Tiermehl verfüttern müssen, dann Hier, im Bereich der Vorbeugung, läuft aber alles dürfen Schweine, Hühner, Puten, Hunde, Katzen so halbherzig weiter wie bisher. Der Gesundheitsmi- und andere Nichtwiederkäuer nur von den Tieren nister hat offenbar immer noch nicht entdeckt, daß die technisch aufbereiteten Reste erhalten, deren Vorbeugen tatsächlich besser ist als Heilen; er redet Fleisch auch für uns Menschen als unbedenk lich ein- nur darüber. Das zeigen übrigens auch seine An- gestuft wurde. strengungen, die vorbeugenden Maßnahmen der GKV auf das zusammenzustutzen, was in der Arzt- Auf weitere Forderungen sind meine Kolleginnen praxis stattfindet. Doch darüber werden wir morgen und Kollegen bereits eingegangen, so daß mir im Zu- noch ein wenig hören. sammenhang mit dem Tiermehlproblem nur noch eine letzte Frage an den Landwirtschaftsminister ge- (Beifall bei der SPD) stattet sei: Wie beurteilen Sie, Herr Minister Borche rt, Der von uns vorgelegte Entschließungsantrag ent- daß wir einerseits sagen, Tiermehl dürfe nicht an hält ein Paket von Forderungen, von denen ich ei- Wiederkäuer verfüttert werden, nige nennen möchte, die besonders den Ursachen ei- (Zuruf von der SPD: Der hört überhaupt ner solchen Epidemie entgegenwirken sollen. nicht zu, der Minister Borche rt! - Gegenruf Ausgelöst, wie gesagt, wurde BSE durch den fahr- von der CDU/CSU: Das ist es auch nicht lässigen Einsatz von infektiösem Tiermehl bei der wert!) Herstellung und Verfütterung von Rinderkraftfutter. und andererseits regelmäßig Deshalb liegt uns ein vernünftiger und verantwor- - tungsvoller Umgang mit tierischen Abfällen beson- ders am Herzen. Hier besteht weiterhin ein erhebli- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Minister cher Regelungsbedarf. Borchert, Sie werden gerade angesprochen. - Bitte schön. Wir fordern deshalb die europaweite Rücknahme der in der EU-Tierkörperbeseitigungs-Richtlinie von 1990 tolerierten Ausnahmegenehmigungen und eine Dr. Wolfgang Wodarg (SPD): - Tiermehlbestand- unverzügliche Umstellung aller europäischen - nicht teile an Kälber verfüttern, wenn sie mit künstlichen nur der britischen - Tierkörperbeseitigungsanlagen Milchaustauschpräparaten getränkt werden? Diese Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996 9471

Dr. Wolfgang Wodarg Milchaustauschpräparate enthalten etwa zwei Ge- stattfindet, um diese scharfen Bekämpfungsmaßnah- wichtsprozent an aus Tierkörperbeseitigungsanlagen men in Großbritannien auch durchzusetzen. stammenden Tierfetten. Was habe ich da vorhin ge- hört, daß an Rinder nicht andere Tiere verfüttert wer- (Dr. Wolfgang Wodarg [SPD]: Darf er das den dürfen? Halten Sie es für richtig, Herr Minister, sagen?) daß wir unsere Kälber nur deshalb nicht als Wieder- Ich glaube, daß durch den Druck der deutschen käuer bezeichnen, weil sie noch keine feste Nahrung Bundesregierung, aber auch durch den Druck ande- zu sich nehmen? Meine Redezeit ist abgelaufen. Ich rer europäischer Länder, durch das rigorose Expo rt meine, daß diese Diskussion anfangs gut gelaufen -verbot und auch durch die konsequente, nunmehr ist, da zu Beginn viele gemeinsame Erklärungen ab- eingeleitete notwendige Bekämpfung der BSE in gegeben wurden. Aber wenn es nun um das Detail Großbritannien die Bekämpfung der BSE umfassend geht, wenn es darum geht, was jetzt konkret ge- und hinreichend begonnen worden ist. Auch finde macht wird, dann paßt die Regierung. Auch der An- ich richtig - das ist bereits zum Ausdruck gekom- trag der Bundesregierung ist so lasch und besagt, die men -, daß wir diese Bekämpfungsmaßnahmen über werden es schon machen, enthält aber keine konkre- die Europäische Union mitfinanzieren. Es gibt teil- ten Maßnahmen, die durchgesetzt werden können. weise Kritik an dieser Mitfinanzierung. Ich möchte allerdings allen Kritikern einmal empfehlen, sich ge- Ich danke Ihnen. nau anzusehen, inwieweit wir die Maßnahmen der (Beifall bei der SPD) sieBriten eigentlich mitfinanzieren und inwieweit von den Briten auch selbst finanziert werden. Oftmals - das ist durch meinen Vorredner wieder Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich gebe das zum Ausdruck gekommen - wird im Zusammenhang dem Abgeordneten Heinrich-Wilhelm Ronsöhr. Wort mit BSE die Verfütterung von Tiermehl generell kri- tisiert. Nun muß man als erstes feststellen: An Wie- derkäuer wird in Deutschland kein Tiermehl verfüt- Heinrich-Wilhelm Ronsöhr (CDU/CSU): Herr Prä- sident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In tert. Das hat man in Großbritannien immer anders der eigentlichen Substanz dieser Debatte ist für mich gesehen. Auch nach meiner Meinung ist es ein Skan- und, glaube ich, auch für andere deutlich geworden, dal, daß man das in Großbritannien anders gesehen daß es ein großes Maß der Übereinstimmung in der hat. Aber Tiermehl aus ernährungsphysiologischen Bewertung der derzeitigen Maßnahmen zur Be- Gründen bei Schweinen und bei Hühnern zu verfüt- kämpfung der BSE gibt. Viele Aussagen sind hier tern, halte ich nach wie vor für richtig. Wir müssen von einer großen verbraucherpolitischen Verantwor- allerdings darauf achten - auch das ist durch meh- tung getragen gewesen. Der agrarpolitischen Ver- rere Redner zum Ausdruck gekommen -, daß bei der antwortung haben sich einige jedoch nicht gestellt. Produktion von Tiermehl alle Krankheitserreger un- Ich möchte mich damit einmal auseinandersetzen. schädlich gemacht werden. In Deutschland gibt es ein Verfahren, das alle Krankheitserreger unschäd- Jochen Borchert hat bereits in seiner Rede von un- lich macht. qualifizierten Äußerungen eines SPD-Abgeordneten (Dr. Wolfgang Wodarg [SPD]: Das wissen gesprochen. wir nicht!) (Klaus Kirschner [SPD]: Wer war das denn? Dieses Verfahren muß - Sie sind dafür eingetreten - Bei welcher Rede waren Sie denn?) überall in der EU zur Anwendung kommen. Deshalb bitte ich doch auch, über den Einsatz von Tiermehl Auch der Präsident des Europäischen Parlaments, differenzierter zu sprechen, als das im Bundestag Herr Hänsch, hat sich ähnlich unqualifizie rt geäu- oder in der Öffentlichkeit teilweise immer wieder ge- ßert . schieht. (Klaus Kirschner [SPD]: Das haben Sie doch Die Maßnahmen, die durch die EU beschlossen gar nicht gehört!) worden sind, sind übrigens auch besser, sie sind er- folgreicher und konsequenter - darauf hat ja unser - Ich habe die Pressemitteilung gelesen. Vielleicht Bundesminister Horst Seehofer immer wieder auf- beschaffen Sie sich diese Pressemitteilung auch. merksam gemacht - als alle nationalen Alleingänge, Frau Höfken, wenn Sie erklären, daß Sie zwar für weil nur die Maßnahmen der EU das Ganze auch Ihre Gemeinschaft von Rindfleischerzeugern Ihre kontrollfest machen. Auch darauf ist ja Bundesmini- Hand ins Feuer legen, aber nicht für andere deutsche ster Seehofer mehrmals eingegangen. Rindfleischerzeuger, dann verunsichern Sie die Ver- Wir sollten keinen Zweifel lassen, daß die EU bei braucher, und Sie verunsichern sie in einer unge- einer konsequenten Bekämpfung - ich meine: Be- rechtfertigten Weise. Denn BSE ist nicht das Ergeb- kämpfung der BSE in Großbritannien - bleiben muß. nis deutscher Agrarpolitik. BSE ist das Ergebnis briti- Nur wenn diese Bekämpfungsmaßnahmen auch wei- scher Agrarpolitik. BSE ist auch nicht das Ergebnis terhin in Großbritannien durchgesetzt werden, ist deutscher Rindfleischproduktion, sondern das Ergeb- das Vertrauen der Verbraucher in Rindfleisch wie- nis britischer Nachlässigkeiten. Auch deshalb muß derherzustellen. BSE in Großbritannien umfassend und hinreichend bekämpft werden. Es muß immer wieder darauf ge- Zu diesem notwendigen Vertrauensbildungspro- drungen werden, daß eine restriktive Handelspolitik zeß gehört jedoch auch - ich bin bereits zu Beginn 9472 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996

Heinrich-Wilhelm Ronsöhr meiner Rede darauf eingegangen - eine vernünftige, Deshalb hoffe ich, daß in Zukunft wir alle unserer sachorientierte Auseinandersetzung über die BSE, Verantwortung gerecht werden: die Briten, indem sie und dazu gehört nach meiner Auffassung auch eine die Beschlüsse der EU konsequent umsetzen, die EU, zwar nicht unkritische, aber verantwortungsbewußte indem sie die Briten so kontrolliert, daß sie diese Be- Berichterstattung der deutschen Medien. schlüsse der EU auch umsetzen, die Europäische Union, daß sie, wenn sich die Notwendigkeit auch Ich habe bereits zu Beginn meiner Rede angespro- weiterhin ergibt, an der jetzigen Politik der konse- chen - und, Frau Höfken, das ist ja durch Ihre Aussa- quenten BSE-Bekämpfung festhält, die Medien, in- gen hier auch wieder zum Ausdruck gekommen -, dem sie mit ihrer Aufklärungspflicht verantwortungs- daß einige ganz bewußt unterstellen, BSE sei ein Er- bewußt gegenüber dem deutschen Verbraucher und gebnis der konventionellen Rinderhaltung und der den deutschen Rindfleischproduzenten umgehen, Rindfleischproduktion. Wer so etwas behauptet, wer und die Landwirte, die Schlachtbetriebe und die Ver- so etwas unterstellt, der will sein politisches Süpp- markter, indem sie für den Verbraucher nachvollzieh- chen kochen, und zwar auf Kosten der deutschen bare Wege von der Produktion bis zur Ladentheke Bauern, aber nichts, aber auch gar nichts zur Ver- aufzeigen. braucheraufklärung beitragen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Auch wir als Vertreter der deutschen Politik müs- sen dieser Verantwortung gerecht werden, indem wir Meine Damen und Herren! Es wäre genauso - das ist meiner Meinung nach durchgängig in allen falsch, wenn man der alternativ produzierenden Reden zum Ausdruck gekommen - innerhalb der EU Landwirtschaft in Deutschland BSE anlastet. Es trifft unsere erfolgreiche Politik des Verbraucherschutzes zwar zu, daß in alternativ produzierenden Betrieben weiter fortsetzen, damit die EU bei der konsequenten BSE aufgetreten ist, aber das hat nichts mit dem Pro- Haltung im Hinblick auf die Bekämpfung der BSE duktionsverfahren in diesen Bet rieben zu tun; viel- bleibt. mehr wurden für diese Betriebe Zuchttiere aus Groß- britannien importiert. Wir wollen eine Politik, die den Verbraucherschutz auf hohem Niveau beibehält bzw. herstellt und die Deshalb ist es richtig, aufzuklären und nicht immer ein gerechtfertigtes Vertrauen für die deutschen mit Unterstellungen zu operieren. Rindfleischproduzenten schafft. Denn die Rind- fleischproduktion - darauf möchte ich zum Schluß Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege, einmal ganz bewußt im Namen meiner Berufskolle- gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten gen aufmerksam machen, die zur Zeit ganz schwere Höfken? Zeiten erleben - ist in Deutschland für die Bewirt- schaftung des Grünlandes unbedingt erforderlich. Heinrich-Wilhelm Ronsöhr (CDU/CSU): Gerne! Wer auf den Almen und in den Flußtälern, wer in den Mittelgebirgen und an der Küste Grünland erhalten will, der muß das gerechtfertigte Vertrauen in die Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr deutschen Rindfleischproduzenten wieder stärken. Ronsöhr, ist Ihnen denn bekannt, daß ökologisch Alle Maßnahmen zur Stützung des Rindfleischmark- wirtschaftende Bet riebe kein Tiermehl verfüttern tes können meines Erachtens nicht das bewirken, dürfen und insofern auch eine Auslösung der Krank- was wir gemeinsam - die Politik, die Medien, die heit BSE in diesen Betrieben nicht erfolgen kann? Bauern, die Schlachtereien, die Vermarkter - errei- chen können, indem wir das Vertrauen in deutsche Heinrich-Wilhelm Ronsöhr (CDU/CSU): Sie wis- Bauern und in ihre Rindfleischproduktion herstellen. sen, daß alle deutschen Rindfleisch produzierenden Betriebe kein Tiermehl verfüttert haben. Insofern ist Vielen Dank, daß Sie mir zugehört haben. das, was Sie jetzt gesagt haben, genau wieder eine (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Aussage gegen bestimmte landwirtschaftliche Be- triebe in Deutschland, und das lassen wir Ihnen nicht durchgehen! Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich schließe die (Beifall bei der CDU/CSU - Zurufe von der Aussprache. SPD: Oh!) Interfraktionell wird die Überweisung der Vorla- Ich begrüße ausdrücklich jede Aufklärungskampa- gen auf den Drucksachen 13/4388 und 13/4676 an gne für den Verbraucher. Ich mache allerdings auch die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse darauf aufmerksam, daß jede Aufklärungskampagne vorgeschlagen. konterkariert wird, wenn die Medien über BSE nicht richtig berichten oder die Politiker falsche Aussagen Der Entschließungsantrag der Fraktion der SPD über BSE treffen. Die Medien - das stelle ich noch auf Drucksache 13/4697 soll zur federführenden Be- einmal fest - sollen Kritik üben; aber sie müssen auch ratung dem Ausschuß für Gesundheit und zur Mitbe- ihrer Verantwortung gerecht werden. Die Medien ratung dem Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft haben zwar sehr umfangreich über das Thema BSE und Forsten und dem Ausschuß für Angelegenheiten berichtet; aber die Bevölkerung fühlt sich trotz dieser der Europäischen Union überwiesen werden. Sind umfangreichen Berichterstattung nicht richtig infor- Sie damit einverstanden? - Ich sehe und höre keinen miert. Das ist nach meiner Meinung dann auch eine Widerspruch. Dann sind die Überweisungen so be- Kritik an dieser Berichterstattung. schlossen. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996 9473

Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a und b sowie 1982 kam diese Koalition der Posträuber an die Re- den Zusatzpunkt 11 auf: gierung. 7. a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeord- (Widerspruch bei der CDU/CSU und der neten Hans Martin Bury, Gerd Andres, F.D.P.) Klaus Barthel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD - Ich räume ein, daß der Vergleich mit Posträubern vielleicht unfair ist: Die nehmen nur das Geld, Sie Postfilialen rauben den Bürgern gleich die ganze Postfiliale. - Drucksachen 13/2504, 13/4234 - (Heiterkeit bei der SPD - Dr. Max Stadler b) Beratung des Antrags der Abgeordneten [F.D.P.]: Aber unblutig, bitte!) Hans Martin Bury, Arne Börnsen (Ritterhu- de), Klaus Barthel, weiterer Abgeordneter In Ihrer Regierungszeit hat sich die Zahl der Postfi- und der Fraktion der SPD lialen um 13 000 verringert, also halbiert. Remailing unterbinden - Arbeitsplätze in Der Bundespostminister, offenbar erschreckt über Deutschland sichern die Folgen seiner eigenen Politik, verkündete im De- - Drucksache 13/4448 — zember letzten Jahres vollmundig ein Moratorium. Überweisungsvorschlag: Mit dem Postchef wollen Sie, Herr Bötsch, vereinbart haben, daß zunächst keine Postfiliale mehr geschlos- Ausschuß für Post und Telekommunikation (federführend) sen oder umgewandelt werden soll, bis über den Ver- Ausschuß für Wirtschaft triebsverbund von Post und Postbank entschieden Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ist. ZP11 Beratung der Beschlußempfehlung und des Doch die Schließungen und Umwandlungen ge- Berichts des Ausschusses für Post und Tele- hen ungehindert weiter. Ich kann Ihnen aus verschie- kommunikation (17. Ausschuß) zu dem Ent- -denen Niederlassungsbereichen die Schließungs schließungsantrag des Abgeordneten Dr. Ma- und Umwandlungszahlen der letzten sowie die kon- nuel Kiper und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE kreten Umwandlungspläne für die nächsten Monate GRÜNEN vorlegen. Die Niederlassungsleiter kümmern sich zu der Großen Anfrage der Abgeordneten überhaupt nicht um die Erklärung der Bundesregie- Hans Martin Bury, Gerd Andres, Klaus Bar- rung, sondern folgen der Vorstandsorder, „das Filial- thel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion netz zu optimieren", wie die Ausdünnung do rt vor- der SPD nehm umschrieben wird. Postfilialen Wie will der Bundespostminister sein Versprechen - Drucksachen 13/2504, 13/4001, 13/4662 - einlösen, eine fünfstellige Zahl posteigener Filialen zu sichern? Während andere Minister gerne Grund- Berichterstattung: - Abgeordnete Elmar Müller (Kirchheim) steine legen, kann Bundespostminister Bötsch bald Hans Martin Bury den Grabstein für die zehntausendste Postfiliale legen - und damit für seine politische Glaubwürdig- Zur Großen Anfrage liegt ein Entschließungsan- keit. trag der Fraktion der SPD vor. (Walter Hirche [F.D.P.]: Für ein effektiveres Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für Telekommunikationssystem in Deutsch die gemeinsame Aussprache eine Stunde vorgese- land!) hen. - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann verfahren wir so. - Darüber reden wir nächste Sitzungswoche, Herr Kollege. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Ab- geordnete Hans Martin Bury. (Arne Börnsen [Ritterbude] [SPD]: Da sind Sie doch der größte Bremsklotz, Herr Hir che! - Dr. Max Stadler [F.D.P.]: Das ist (SPD): Herr Präsident! Liebe Kol- Hans Martin Bury selektives Wahrnehmen!) leginnen und Kollegen! Im Jahre 1981, zu Zeiten der SPD-geführten Bundesregierung, Aber auch bei den Streitereien innerhalb der Re- (Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Schreckliche gierungskoaltion um das Telekommunikationsgesetz Zeit!) wird immer offensichtlicher, daß es sich beim BMPT um ein Auslaufmodell handelt. Nicht nur der Post- gab es hier im Hause breite Übereinstimmung bei chef tanzt Ihnen auf der Nase herum; der Bundes- der Diskussion über das „Konzept zur Postversor- kanzler schickt den Bundespostminister schon vor gung auf dem Lande", das einstimmig verabschiedet der Auflösung seines Ministeriums in den Vorruhe- wurde, wenngleich Kollege Eduard Lintner - heute stand, indem er den klammen Waigel und den Prin- Parlamentarischer Staatssekretär - damals für die zen Solms beauftragt, die Beute Postbank zu ver- CDU/CSU-Fraktion erklärte, sie werde - Zitat - scherbeln. Die haben zwar kein Konzept, aber schon „dem Konzept nur unter der Voraussetzung zustim- den Verkaufspreis in den Haushalt eingestellt. Dabei men, daß der derzeitige Bestand an Poststellen im könnten Sie wissen, daß man für heiße Ware nicht wesentlichen erhalten bleibt" - schön gesagt. Doch den optimalen Preis bekommt. 9474 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996

Hans Martin Bury Schlimmer noch: Infrastrukturaspekte bleiben bei Die 500 Millionen Verlust, die die Post AG durch dieser Vorgehensweise außen vor. Im Vordergrund das Remailing erleidet, sind auch mehr als die Hälfte stehen für die Koalition nicht Kunden und Arbeitneh- der geplanten Portoerhöhungen. Herr Postminister, mer, sondern steht das Stopfen von Haushalts- stoppen Sie endlich das Remailing! Dann ersparen löchern. Sie Wirtschaft und Verbrauchern zumindest einen Teil der geplanten Portoerhöhungen. Unser Ziel ist die flächendeckende Versorgung mit hochwertigen Postdienstleistungen zu erschwingli- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ chen Preisen. Dazu gehört ein flächendeckendes DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Postfilialnetz. Voraussetzung für dessen Erhalt ist der PDS) Vertriebsverbund mit der Postbank. Dazu muß end- Wenn Sie weiterhin nichts tun, tragen Sie die volle lich der Kooperationsvertrag abgeschlossen und der Verantwortung für die Portoerhöhungen. Dann müs- Vertriebsverbund durch eine Beteiligung der Post an sen wieder Privatkunden und Mittelstand die Zeche der Postbank mit mindestens 25 Prozent plus einer dafür bezahlen, daß Großunternehmen die Post um- Aktie dauerhaft institutionell abgesichert werden. Es gehen und die Bundesregierung nichts unternimmt. müssen weitere Vertriebspartner hinzukommen, die mit eigenen Produkten die Schalterauslastung sinn- Das neue Postgesetz muß unter anderem Regelun- voll ergänzen und verbessern. Dieses Konzept ge- gen vorsehen, mit denen das Filialnetz gesichert und währleistet eine hochwertige Versorgung der Bevöl- das Remailing unterbunden wird. Wir können aber kerung und sichert Arbeitsplätze. nicht warten, bis das neue Gesetz, dessen Wettbe- werbsmodell sehr umstritten ist, verabschiedet ist, Um die Sicherung von Arbeitsplätzen und die zumal die heutigen Äußerungen von Oberpostmi- Schaffung fairer Wettbewerbsbedingungen geht es nister Rexrodt für die Beratungen das Schlimmste be- auch in unserem Antrag gegen Remailing, also den fürchten lassen und sich das Ganze weiter verzögern Versand von Inlandspost über das Ausland. Dadurch wird, wenn sich die Bundesregierung nicht einigt, erleidet die Post AG schon heute Verluste in Höhe wer eigentlich die Federführung für den Post- und von 500 Millionen DM. Dieses Geld fehlt bei der Er- Telekommunikationsbereich hat, und wenn das haltung der flächendeckenden Infrastruktur. BMPT an seinem nicht EU-konformen Konzept in Wenn der Bundeswirtschaftsminister heute wört- Sachen Postregulierung festhält. lich erklärt: „Was heute noch als Remailing bezeich- Liebe Kolleginnen und Kollegen, unser Entschlie- lichkeit ein ganz normaler Vor- net wird, ist in Wirk ßungsantrag zur Sicherung der Postfilialen ist be- gang der internationalen Arbeitsteilung", dann wußt zustimmungsfähig gehalten. Wir wollen, daß offenbart er ein merkwürdiges Verständnis von der Deutsche Bundestag heute, wie vor 15 Jahren, Arbeitsteilung. breite Übereinstimmung demonst riert . Die Entschlie- (Beifall bei der SPD - Walter Hirche [F.D.P.]: ßung ist Zielbeschreibung und Grundlage zum Han- Die Folge des Versäumnisses der Moderni deln. Unser Remailing-Antrag ist dann ein erster sierung in Deutschland!) Schritt zur Umsetzung. - Die Post macht die Arbeit, ausländische Unterneh- Sie alle sind heute gefordert, Ihren Ankündigun- men den Profit. Die deutschen Verbraucher tragen gen Verbindlichkeit zu verleihen und entsprechend das Defizit, die Nachbarländer gewinnen die Arbeits- aktiv zu werden. Deshalb fordere ich Sie auf, dem plätze. Entschließungsantrag die breite Zustimmung des Hauses zu geben. Damit können wir deutlich ma- (Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Das ist ja aus chen, daß der Deutsche Bundestag auch weiterhin an landsfeindlich!) dem Ziel einer flächendeckenden Versorgung der Bevölkerung mit hochwertigen postalischen Dienst- Das ist Arbeitsteilung à la Rexrodt. leistungen zu erschwinglichen Preisen festhält und Das veraltete, nicht kostendeckende Abrech- das flächendeckende Postfilialnetz sichert. nungssystem zwischen den Postunternehmen im in- Vielen Dank. ternationalen Postverkehr, das sich nicht an den tat- sächlichen Zustellkosten orientiert, ist der entschei- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ dende Anreiz für das Remailing und zugleich Ursa- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der che der Defizite in Deutschland. Angesichts der nicht PDS) kostendeckenden Vergütungen sind Rexrodts Förde- rung und Bötschs Nichtstun ein eindeutiger Verstoß Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich gebe der gegen deutsche Interessen. Abgeordneten Renate Blank das Wo rt. Großversender wie etwa Bertelsmann haben ange- kündigt, Herstellung und Versand von Mailings und Renate Blank (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine damit verbundene Arbeitsplätze ins Ausland zu ver- Damen und Herren! Zu später Stunde wird es doch legen, wenn die Bundesregierung nicht schnell für noch ein bißchen lebendig im Plenum. faire Wettbewerbsbedingungen sorgt. Also handeln Sie endlich! Es geht nicht an, öffentlich und im Regu- Kollege Bury, da der Präsident das Wo rt „Posträu- lierungsrat gegen Remailing zu sprechen, aber Re- ber" nicht gerügt hat, möchte ich es an Sie zurückge- mailern wie der Citibank zu signalisieren, daß man ben. Sie nämlich betätigen sich als Posträuber, wenn beide Augen zudrückt. Sie der Post immer mehr Aufgaben und Lasten zu- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996 9475 Renate Blank schieben und ihr damit auch immer mehr Kosten auf- Natürlich muß die Post vor dem Hintergrund er- bürden. heblicher Nachfragerückgänge nach Schalterdienst- leistungen und der damit verbundenen Auswirkun- Das Thema Postfilialen hat uns zuletzt am 8. März gen auf die anfallenden Netzkosten das Filialnetz 1996 beschäftigt. Heute liegen Entschließungsan- fortlaufend und bundesweit nach Gesichtspunkten träge von SPD und Bündnis 90 vor; die Themen Infra- der Wirtschaftlichkeit einerseits und der Infrastruk- strukturauftrag und Postfilialen werden uns noch län- turdienstleistungsverpflichtung andererseits untersu- ger beschäftigen. Sinnvoller allerdings wäre es aus chen und sorgfältig abwägen, wie das Filialnetz an meiner Sicht gewesen, wenn wir diesen Komplex im veränderte Gegebenheiten angepaßt und gegebe- Zusammenhang mit den von Bundesminister Bötsch nenfalls auch auf wi rtschaftlichere Vertriebswege vorgelegten Eckpunkten eines künftigen Regulie- umgestellt werden muß. rungsrahmens im Postbereich diskutiert hätten, die wir nach einem hoffentlich guten und einvernehmli- Die Verantwortlichen der Deutschen Post AG soll- chen Abschluß der Beratungen zum Telekommuni- ten sich aber nicht als Bremser für Postagenturen kationsgesetz in Angriff nehmen werden. darstellen, wie mir schon des öfteren zu Ohren ge- Ich habe bereits im März ausgeführt, daß der auf kommen ist. Wenn eine Filiale aus für die Post wirt- Grund von Art. 87 f GG vom Bund zu gewährlei- schaftlichen Gründen geschlossen werden muß, stende Infrastrukturauftrag nicht leicht zu handha- sollte sich die Post nicht weigern, Postagenturen zu- ben ist und unterschiedlich interpretie rt wird. Der zulassen. Hier sollte etwas großzügiger und weit Gewährleistungsauftrag im Bereich des Postwesens schauender gedacht werden; denn Postagenturen für flächendeckend angemessene und ausreichende sind im Vergleich zu eigenbetriebenen kleinen Post- Dienstleistungen basiert jedoch auf Gesetzen, die bis filialen im Durchschnitt um 60 Prozent billiger. Es zum 31. Dezember 1996 bef ristet sind. Wir sind also läßt sich dadurch leicht ausrechnen, welche Möglich- auf jeden Fall gehalten, uns in nächster Zeit mit der keiten bestehen, um Se rvice und Dienstleistungen Konkretisierung des Gewährleistungsauftrages zu wirtschaftlich auszubauen. Ich plädiere deshalb für beschäftigen. weitere Postagenturen. Die Deutsche Post AG wird auf Veranlassung des Ich erlaube mir aber den dezenten Hinweis auf Bundespostministers voraussichtlich bis Jahresmitte eine kundenorientierte Mitarbeiterschulung bei der ein neues Filialkonzept vorlegen. Dieses Konzept Post. Der Kunde sollte auf jeden Fall König sein. muß sowohl den Infrastrukturauftrag als auch die Wirtschaftlichkeit des Unternehmens Deutsche Post (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - AG berücksichtigen. Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Das gilt auch beim Ladenschluß!) Es ist aber dringend erforderlich - da stimme ich Ihnen zu -, daß der Kooperationsvertrag zwischen In der zum 1. Januar 1996 in Kraft getretenen Post Deutscher Post und Deutscher Postbank endlich zu Kundenschutzverordnung sind die Gestaltungsre- einem Abschluß kommt. Die Zusammenarbeit- beider geln für das Postfilialnetz präzisiert. Man geht dabei Unternehmen muß langfristig angelegt, effektiv und von einer 2 000-Meter-Entfernungsregelung für Post- für beide betriebswirtschaftlich sinnvoll sein. Dann filialen aus. Ich bin der Meinung, daß wir einmal dar- kann die Wettbewerbsfähigkeit von Post und Post- über nachdenken sollten, ob diese Entfernungsrege- bank gefördert werden und eine gemeinsame Zu- lung für viele Gebiete noch richtig ist. Wir sollten kunft entstehen. Dies muß aber tatsächlich nach dem vielmehr, ohne in die Organisation der Post einzu- Motto „Wettbewerb " stattfinden, nicht nach der al- greifen, die Vorgabe machen, daß Postdienstleistun- ten Denkart „Monopol sichern". gen in jeder selbständigen Gemeinde angeboten werden müssen, egal ob in einer eigenen Fi liale oder Nun zu den heißumstrittenen Postfilialen. Derzeit in einer Postagentur. Damit wären wir unserem Inter- unterhält die Deutsche Post rund 17 000 Filialen, dar- esse und dem Ziel, die Infrastruktur zu erhalten, we- unter 3 000 Postagenturen, die sich bewährt haben. sentlich näher als mit der starren Entfernungsrege- An dieser Stelle möchte ich einmal unserem Post- lung oder der bisher geltenden Auslastungsgrenze minister ganz herzlich danken, von 5,5 Wochenstunden, die ohnehin nicht überprüft werden kann. (Beifall des Abg. Jochen Feilcke [CDU/ CSU] - Hans Martin Bury [SPD]: Einsamer Beim Erbringen von Postdienstleistungen in jeder Applaus!) selbständigen Gemeinde könnte die Post auf Wün- sche und Bedürfnisse der Bevölkerung eingehen. Al- daß er vor drei Jahren zugelassen hat, daß eigenbe- lerdings sollte sie ohne Gewerkschaftsvorgaben da- triebene Postfilialen in Postagenturen umgewandelt bei völlig frei entscheiden dürfen. werden dürfen. (Zurufe von der SPD: Na! Na!) (Beifall der Abg. Jochen Feilcke [CDU/ CSU] und Dr. Gisela Babel [F.D.P.]) Ich komme wieder auf meine Vision vom Nachbar- Diese Postagenturen werden mittlerweile von der Be- schaftsladen zurück - nicht nur in der Fläche, son- völkerung positiv aufgenommen, vor allen Dingen dern auch in Städten -, der neben seinem Einzelhan durch die längeren Öffnungszeiten. delssortiment Postdienstleistungen betreibt, einfache Bankgeschäfte abwickelt, Bausparverträge ab- (Dr. Gisela Babel [F.D.P.]: Ladenschluß!) schließt und Lebensversicherungen verkauft sowie 9476 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996

Renate Blank nebenbei noch als Kommunikationszentrum zweck- Meine Damen und Herren, in den letzten Jahren dienlich ist. wurde das Postfilialnetz um 10 000 Filialen verklei- nert. Der Bundespostminister hat das eigentlich erst (Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Und das dann richtig bemerkt, als auch bei ihm im Wahlkreis, Ganze bis 20 Uhr!) in Würzburg, die Postfilialen dichtgemacht wurden Denn den persönlichen Kontakt halte ich gerade im und die Würzburger Basis rumo rte. Art . 87 f Abs. 1 Zeitalter der Kommunikationstechniken und fast un- des Grundgesetzes verpflichtet den Bund, „flächen- begrenzten Kommunikationsmöglichkeiten nach wie deckend angemessene und ausreichende Dienstlei- vor für außerordentlich wichtig. Aber, meine Kolle- stungen" zu garantieren. ginnen und Kollegen von der SPD, vielleicht liegt Qualität und Quantität müssen stimmen - das war hier Ihr Problem: im mangelnden Einfluß der Ge- noch der Tenor der Beratungen zur Postreform II; wir werkschaften auf einen selbständigen Betreiber ei- waren ja nicht dabei. § 10 der Kundenschutzverord- nes Nachbarschaftsladens. nung, der flächendeckend Postfilialen garantieren Die beiden Anträge von SPD und Bündnis 90/Die soll, konnte inzwischen von der Post AG ausgehebelt Grünen sind aus unserer Sicht reine Schaufensteran- werden. Sogar an Brennpunkten der Nachfrage kön- träge. nen heute entgegen dem, was 1994 beschlossen wor- den ist, Postfilialen dichtgemacht werden. Und was (Arne Börnsen [Ritterhude] [SPD]: Na, Frau macht der Bundespostminister? Er hat - ich zitiere Kollegin!) aus seiner Antwort auf die Große Anfrage - Die Nennung einer Zahl von Postfilialen oder Post- die Deutsche Post AG ... gebeten, vorerst keine agenturen bringt der Bevölkerung keine einzige wesentlichen Veränderungen im Postfilialnetz postalische Dienstleistung mehr. mehr vorzunehmen. (Hans Martin Bury [SPD]: Das geht jetzt Jawohl, er hat die Post AG gebeten. Donnerwetter! aber gegen den Minister!) Herr Minister, die Post hat das sogar zugesagt, aber Wir wollen die Post beim Wo rt nehmen, daß sie ihr die ,,Schließungsmaßnahmen" - so die Antwort - Angebot einlöst und eine vernünftige Infrastrukturlö- könnten noch einen „gewissen Nachlauf" haben. sung darstellt. Vielleicht sollten Sie der Post AG einmal ein paar von Ihren beliebten Folterinstrumenten zeigen, um diese (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - Situation zu ändern. Uwe Hiksch [SPD]: Was Sie gerade gesagt haben, stellt sicher keine solche Lösung Herr Bötsch, Schneckenpost ist wohl die angemes- dar!) sene Assoziation, wenn man Ihre Pläne aus der Ant- wort auf die Große Anfrage der SPD zu Postfilialen summiert: Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich gebe dem Abgeordneten Dr. Manuel Kiper das Wo rt . Die Bundesregierung wird das von der Deut- schen Post AG noch vorzulegende Filialkonzept daraufhin überprüfen, ob durch die unterschied- Dr. Manuel Kiper (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): lichen Vertriebsformen insgesamt der Gewährlei- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zur Si- stungsauftrag nach Artikel 87 ff. GG eingehalten cherung des flächendeckenden Postfilialnetzes hel- wird. fen nicht die Beschönigungen von Ihnen, Frau Blank, und es hilft nicht das sonnige Gemüt, mit dem uns Das Filialkonzept muß also erst noch vorgelegt wer- immer der Herr Bundespostminister begegnet, und den. Es ist die Frage, ob das noch vor der Jahrtau- auch nicht die Anekdoten aus Franken, sondern hier sendwende geschehen wird. Danach wird dann die wären Tatkraft und gezielte Maßnahmen gefordert. Prüfungsphase einsetzen. Wenn dereinst die Prü- Ich begrüße deshalb die Einbringung des SPD-An- fungsphase beendet sein wird und der Herr Minister trags zum Remailing. Ich begrüße auch den Ent- aufgewacht sein wird, dann sind die Postfilialen in schließungsantrag der SPD-Fraktion zu den Postfilia- der Fläche abgewickelt. Herr Bundespostminister, len. Ich hoffe mit der SPD-Fraktion, daß der Bundes- Sie sind hier gefordert, strukturell die Weichen rich- postminister hier noch ein bißchen auf Trab gebracht tig zu stellen. werden kann. Was die strukturell zu stellenden Weichen anbe- Unsere Fraktion hatte bereits im März 1996 zu bei- langt, ist vieles in dem Entschließungsantrag der den Themen einen Entschließungsantrag einge- SPD richtig formuliert. Es geht erstens um die Sicher- bracht, der - ganz offensichtlich aus Profilierungs- stellung des Schalterverbundes und zweitens um gründen - von der großen postpolitischen Koalition eine angemessene Kapitalverflechtung zwischen in diesem Hause im zuständigen Fachausschuß ne- Post AG und Postbank. Ich kann Sie, Herr Minister, gativ beschieden worden ist. Ich bedaure das. Es hier nur auffordern, nicht den Begehrlichkeiten des wird uns allerdings nicht daran hindern, den SPD- Finanzministers zu erliegen und nicht finanzpoliti- Anträgen unsere Zustimmung zu geben, sche, sondern strukturpolitische Überlegungen in den Vordergrund zu stellen. Die Vorgaben des (Zurufe von der CDU/CSU und der F.D.P.: . 87f müssen ausschlaggebend sein. Zeigen Sie Oh!) Art Ihren Kollegen Rexrodt und Waigel einmal Ihre El- weil die Forderungen im wesentlichen gleich sind. lenbogen, Herr Minister! Drittens kommt es darauf Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996 9477 Dr. Manuel Kiper an, ein Vorwärtskonzept zu entwickeln, neue Tätig- men werden. Das böte der Post AG Chancen und keitsfelder zu erschließen. würde die Schließung der Postfilialen beenden. Meine Damen und Herren, ich möchte auch noch Ich danke Ihnen. etwas zum Remailing sagen. Remailing ist ein sozia- ler Skandal. Remailing ist eine skandalöse Rosinen- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN pickerei. Remailing bedeutet eine Gefährdung des und bei der SPD sowie bei Abgeordneten postalischen Universaldienstleistungsauftrags. der PDS)

(Beifall bei der SPD - Walter Hirche [F.D.P.]: Aber wo liegt denn die Ursache?) Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich gebe dem Abgeordneten Dr. Max Stadler das Wo rt . Remailing heißt Portoersparnis für die Großkunden und Portoerhöhung für die Kleinkunden. Wir haben diesbezüglich im Postregulierungsrat eine fraktions- Dr. Max Stadler (F.D.P.): Herr Präsident! Meine sehr übergreifende Resolution verabschiedet. geehrten Damen und Herren! Über das Filialnetz ha- ben wir erst im März 1996 ausführlich debattiert, Ich möchte aber auch darauf hinweisen, daß Re mailing ein ökologischer Skandal ist. Wenn hiesige (Arne Börnsen [Ritterhude] [SPD]: Aber pas Banken für ihre deutschen Kunden die Kontoaus- siert ist nichts!) züge in den USA drucken lassen, die Briefe nach so daß ich mich zunächst einmal dem Problem des Holland fliegen und sie von dort nach Deutschland Remailing zuwenden möchte. In der Tat ist das für versendet werden, dann ist das eine Postzustellung die Deutsche Post AG eine ärgerliche Angelegen- mit hohen Kosten für die Umwelt und großen Mit- heit. Dem zu widersprechen wäre natürlich verfehlt. nahmeeffekten für die Banken. Unter Umweltge- Aber es ist doch bemerkenswe rt, daß von keinem der sichtspunkten ist Remailing pervers. Wir brauchen verehrten Vorredner die schlichte Tatsache ange- deshalb eine angemessene inte rnationale Kostenver- sprochen wurde, daß Remailing ein deutliches Indiz gütung einerseits und Ökosteuern auf den Verkehr dafür ist, daß die Kosten in der Bundesrepublik andererseits, Deutschland im internationalen Vergleich schlicht (Walter Hirche [F.D.P.]: Unsinn!) und einfach zu hoch sind. um diesen um sich greifenden Transportwahnsinn zu (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne stoppen. ten der CDU/CSU) Wer Liberalisierung der Post- und Telekommuni- Es wäre die Frage zu stellen gewesen, Herr Kol- kationsmärkte will, wird nicht nach dem Verbot von lege Kiper, ob die strukturelle Weichenstellung, von Remailing rufen können. Remailing kann aber un- der Sie gesprochen haben, im Postbereich möglicher- attraktiv gemacht werden. Dazu müssen gerechte weise zu spät in Angriff genommen worden ist, so Preise ausgehandelt und deshalb muß die -bislang ko- daß wir jetzt in der Situation stehen, daß die Verbrau- stenlose Inanspruchnahme von Umweltgütern dem cher, insbesondere die Wirtschaft, die Portokosten in Verkehr angelastet werden. Deutschland als zu hoch empfinden und daher ins Remailing ausweichen. Remailing ist aber auch ein politischer Skandal. Herr Bötsch, Ihr Kollege Wissmann lacht sich ins Dieser Zustand wird sich im Laufe der Zeit erst än- Fäustchen. Die Deutsche Bahn AG fährt die Ge- dern, wenn voller Wettbewerb herrscht. Natürlich winne ein, indem die Bahncards von Holland aus ver- können wir mit der Lösung des Problems nicht bis schickt werden. dahin zuwarten. Deswegen stimme ich denjenigen zu, die gesagt haben, daß die internationale Abrech- Meine Damen und Herren, ich komme zum nungsstruktur verändert werden muß. Dies ist ein be- Schluß. Die Deutsche Post AG ist das Unternehmen rechtigtes Anliegen der Deutschen Post AG, ist in er- mit dem bundesweit dichtesten Filialnetz. Der Infra- ster Linie allerdings Sache der betroffenen Postunter- strukturauftrag könnte für die Post AG auch eine nehmen. Die Staaten können hier eher nur moderie- große Chance und nicht nur eine Pflicht sein. Der rend eingreifen. Aufbau eines Netzes von Bürgerservicebüros könnte dazu dienen, die Kostendeckungsbeiträge zu liefern. Bis es wiederum soweit ist, ist die Frage, wie sich die Rechtsprechung zu dem Problem des Remailing stellt. Hier ist zu konstatieren, daß das echte, soge- Herr Kollege, Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: nannte A-B-A-Remailing von der Rechtsprechung in wenn Sie sagen, Sie kommen zum Schluß, dann müs- der Tat als unzulässig angesehen wird. Der Deut- sen Sie das auch tun. Ihre Redezeit ist beendet. schen Post AG ist es keineswegs verwehrt, diesen Rechtsstandpunkt geltend zu machen, und sie tut Dr. Manuel Kiper (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): dies auch laufend. Ich komme zum Schluß. Dagegen erscheint uns - hier unterscheiden wir (Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Leere Verspre uns von der SPD - die bekannte Entscheidung des chungen!) Landgerichts Frankfurt zum sogenannten Non-physi- cal-Remailing durchaus überzeugend. Perspektivisch könnte und müßte die Post in der Fläche ein umfassendes Dienstleistungsunterneh- (Beifall bei der F.D.P.) 9478 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996

Dr. Max Stadler Bei einem vorgelagerten grenzüberschreitenden Da- Kapitalbeteiligung von 25 Prozent plus eins vorzuse- tenverkehr oder bei einem Vorgang der unternehme- hen, wie die SPD dies beantragt. Ich nehme an, die rischen Arbeitsteilung in Europa ist das Remailing Entscheidung wird etwas anders aussehen. unserer Auffassung nach durch A rt. 59 EGV gedeckt. (A e Börnsen [Ritterhude] [SPD]: Wenn wir Aus diesem Grund würde eine Umsetzung des Arti- rn eine kriegen!) kels 25 des Weltpostvertrages, wie sie im SPD-An- trag gefordert ist, ohnehin nur im Rahmen des EG- Wichtig ist, daß es dann zum Kooperationsvertrag Rechts zulässig sein und daher jedenfalls zum Teil zwischen der Post AG und der Postbank kommt. fehlgehen. Wenn dieser erneuert ist, dann kann man vernünfti- gerweise ein neues Filialnetzkonzept verlangen. Wir Es bleibt an dieser Stelle nur zu hoffen, daß bis zu erwarten, daß dies noch vor der Sommerpause vorge- dem Zeitpunkt, zu dem sich die deutschen Gebüh- renstrukturen endlich zugunsten der Verbraucher legt wird. ändern werden, Vielen Dank. (Walter Hirche [F.D.P.]: Das hoffen wir aller (Beifall bei der F.D.P. sowie des Abg. dings!) Jochen Feilcke [CDU/CSU]) eine Vorhersage, die in der „Welt am Sonntag" kürz- lich getroffen worden ist, eintrifft, nämlich daß der Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Nun gebe ich Kostengesichtspunkt doch für manche Unternehmen dem Abgeordneten Gerhard Jüttemann das Wo rt. nicht allein entscheidend ist, weil - wie in dieser Um- frage unter verschiedenen Unternehmen festgestellt (PDS): Herr Präsident! Meine schaft natürlich auch nach dem Gerhard Jüttemann worden ist - die Wirt Damen und Herren! Auf die aktuelle Frage, welche Verhältnis von Aufwand und dem Ertrag fragt, jeden- Anzahl von unternehmenseigenen Postfilialen die falls bei A-B-A-Remailing. Bundesregierung für notwendig hält, gab diese im Meine Damen und Herren, zu den Postfilialen hat Frühjahr 1996 offiziell die bemerkenswe rte Antwort, Frau Kollegin Blank schon alles Wesentliche gesagt. daß der Minister für Post- und Telekommunikation Ich habe an ihren Ausführungen, wenn ich das sagen 1993 - man höre: 1993! - eine mindestens fünfstellige darf, besonders bemerkenswe rt gefunden, daß sie Zahl von posteigenen Filialen für erforderlich be- festgestellt hat, lange Öffnungszeiten wirkten sich zeichnet habe. Alle Achtung für diese A rt von Infor- besonders kundenfreundlich aus. mationspolitik! Sie kommt mir irgendwie bekannt vor. (Beifall bei der F.D.P. sowie des Abg. (Arne Börnsen [Ritterhude] [SPD]: Aha!) Jochen Feilcke [CDU/CSU] - [SPD]: Bei normalen Öffnungszeiten!) Wo war Herr Bötsch denn sechs Monate lang - so lange hat es mit der Antwort immerhin gedauert -, so Diese langen Öffnungszeiten sind nun einmal in den daß man ihn nicht fragen konnte, welche Zahl er Postagenturen leichter zu gewährleisten als in den heute für erforderlich hält? Postfilialen. Ich möchte jetzt nicht alles -wiederholen, was ich im März dazu gesagt habe. Aus dem Grund (Walter Hirche [F.D.P.]: Er hat die Filialen geht auch hier die SPD mit ihrem Antrag in die Irre, gezählt! - Uwe Hiksch [SPD]: War er im wenn sie eine bestimmte Zahl von unternehmensei- Päckchen unterwegs?) genen Postfilialen der Post AG verlangt. Das einzige, was man von drei Jahre altem Regie- Ich bin der Meinung, daß man eine solche Vorgabe rungspolitikergeschwätz ganz sicher weiß, ist doch, nicht machen sollte. Richtig ist, daß der Infrastruktur- daß es heute nicht mehr gilt. Was also gilt heute? auftrag erfüllt werden muß; richtig ist, daß die Post Vielleicht die Presseberichte, die für das Jahr 2 000 AG dazu verpflichtet ist. Aber es ist ebenso unbe- nur noch 3 000 posteigene Filialen gegenüber heute streitbar, daß wir es der Post AG überlassen müssen, knapp 14 000 vermuten? wie sie diesen Auftrag am besten erfüllt. In den vergangenen 13 Jahren wurden Jahr für Man muß kein Prophet sein, um zu prognostieren, Jahr durchschnittlich 1 000 Filialen geschlossen. daß die Entwicklung in der Fläche eindeutig in Rich- Aber wer sagt denn, daß sich das Tempo nicht erhö- tung Postagenturen laufen wird. Dies ist ja auch hen ließe? Postminister und Postvorstand schweigen durchaus zu begrüßen, denn alle Umfragen ergeben, sich zu diesem Thema jedenfalls weiter aus. daß die Kundenzufriedenheit hiermit weitaus höher Dafür spricht der Referentenentwurf für ein neues als mit Postfilialen mit geringer Öffnungszeit ist, Frau Postgesetz aus dem Hause Bötsch Bände. Zwar be- Kollegin Blank. scheinigt der Vorsitzende der Deutschen Postge- (Beifall bei der F.D.P.) werkschaft, Kurt van Haaren, den Autoren des Ent- wurfs wenig postpolitischen Sachverstand, aber man Daß das von uns allen erwartete neue Filialkonzept darf wohl unterstellen, daß diese dennoch sehr ge- noch nicht vorliegt, hat selbstverständlich damit zu nau wußten, was sie formulierten. tun, daß die Entscheidung über das künftige Verhält- nis zwischen der Post AG und der Postbank noch Es ging und geht diesen Damen und Herren näm- nicht feststeht. Sie wissen alle, daß eine Entschei- lich um etwas ganz anderes. Sinn der Postreform ist dung hierzu in den nächsten Wochen getroffen wer- es einzig und allein, durch Privatisierung, Liberalisie- den wird. Wir halten es allerdings für verfehlt, eine rung und Deregulie rung die Verwertungsbedingun- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996 9479

Gerhard Jüttemann gen des Kapitals zu verbessern. Das ist allerdings nur fen, den arbeitsmarktpolitischen Kahlschlag im Post- möglich, wenn die sozialen Interessen, die Interes- bereich zu stoppen. sen der Postkunden und -beschäftigten außen vor Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. bleiben. (Beifall bei der PDS) Bisher hat sich die deutsche Politik dabei üblicher- weise der Europäischen Union bedient. Sie hat zu- Das Wort hat nächst in Brüssel durchgesetzt, was sie in der BRD Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: jetzt Herr Bundesminister Dr. Wolfgang Bötsch. auf den Weg bringen wollte. Diesmal läuft es zur Ab- wechslung einmal anders. (Zuruf von der SPD: Jetzt sind wir gespannt, wo er war!) Was Herr Bötsch beispielsweise in seinem Gesetz- entwurf als Basisversorgung bzw. Universaldienst Dr. Wolfgang Bötsch, Bundesminister für Post und anbietet, bleibt weit hinter den europäischen Vorga- Telekommunikation: Frau Präsidentin! Meine sehr ben zurück. Geht dieser Gesetzentwurf durch, wird verehrten Damen und Herren! Kollege Kiper meint, es entgegen den Vorstellungen der Europäischen man müsse den Postminister auf Trab bringen. Der Kommission ab dem Jahre 2003 für die Post AG kei- Postminister pflegt bei seiner Arbeit aber normaler- nerlei reservie rten Bereich mehr geben. Das bedeu- weise den Galopp. tet nichts anderes als das geplante Ende postalischer Basisversorgung ab diesem Zeitpunkt. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Man braucht ihn also gar nicht auf Trab zu bringen. Zu reden ist darüber hinaus auch über den massi- ven Arbeitsplatzabbau bei der Post, der durch den Sie werden mich auch nicht davon abb ringen, das neuen Gesetzentwurf weiter verschärft werden wird. Leben vielleicht etwas optimistischer zu betrachten. Bis zum Jahr 2000 werden do rt insgesamt 90 000 Mir ist heute früh in einer Diskussion beim WDR vor- Stellen planmäßig gestrichen worden sein, 55 000 geworfen worden, Politik dürfe keinen Unterhal- sind bereits weg - und das nicht wegen des Remai- tungswert haben, sonst würde der Inhalt darunter lei- lings, das sicher ein Problem darstellt, das dringend den. Ich bin der Meinung, man muß beides haben, gelöst werden muß. und ich lasse mich von dieser positiven Betrach- tungsweise und der Freude am Leben auch nicht von (Vorsitz: Vizepräsidentin Dr. Antje Voll manchen Problemen, die ich im Augenblick diesseits mer) und jenseits des Ganges habe - darauf komme ich noch -, beeinflussen, Aber Arbeitsplätze werden einzig und allein aus Profitgründen gekippt. Darum ist auch von dem mit (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) der Postreform angekündigten Entstehen neuer Ar- selbst wenn ich weiß, daß das Bundespostministe- beitsplätze nichts zu sehen; es sei denn, bei den un- rium - ich greife einmal Ihren Begriff auf, Kollege tertariflich entlohnten, nicht sozialversicherten- Tu rn Bury - ein Auslaufmodell ist und vielleicht auch man- -schuhbrigaden, deren sich jetzt die Deutsche Post cher mich selbst als solches bezeichnet. Aber ich AG bedient, um weitere Gewinnexplosionen möglich habe mich jedenfalls schon eingelaufen. zu machen. Sie müssen sich erst einmal richtig einlaufen, Kollege Dieser Skandal ist ein Ergebnis der unverantwortli- Bury. chen Postpolitik der Bundesregierung, und das ist (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) erst der Anfang. In welche Richtung der Zug fährt, Dazu sind Sie bisher noch nicht gekommen. Voraus- kann bei den gegenwärtigen Post-Tarifverhandlun- setzung für das Auslaufen ist doch, daß man sich zu- gen besichtigt werden. Eine Nullrunde beim Ein- mindest anständig eingelaufen hat. kommen, Einschnitte in die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, Kürzungen beim Weihnachtsgeld so- (Hans Martin Bury [SPD]: Ich starte aus wie längere Arbeitszeiten stehen im Fahrplan der Ar- dem Stand!) beitgeber. Wir haben uns am 8. März 1996, also vor zweiein- halb Monaten, mit der Thematik der Postfilialen be- Der Zug muß umkehren, bevor er ganz und gar schäftigt. Ich habe dazu gesprochen. Vor knapp zwei von den modernen Posträubern ausgeplündert wird. Monaten hat die Bundesregierung dem Deutschen Die PDS fordert deshalb einen von der Deutschen Bundestag die Antwort auf die Große Anfrage des Post AG abzusichernden Universaldienst für die Be- Kollegen Bury und der Fraktion der SPD vorgelegt. völkerung. Dieser muß eine breite Palette postali- Eigentlich hätten wir gar nicht antworten müssen, da scher Leistungen in hoher Qualität zu erschwingli- Sie damals auf ein Aufsetzungsrecht gepocht haben. chen und in strukturschwachen Gebieten gleichen Ich habe aber gemeint: Der Umgang mit dem Hause Preisen wie in Ballungsräumen enthalten. gebietet es, diese Anfrage zu beantworten, auch wenn es geschäftsordnungsmäßig nicht geboten war. Voraussetzung für die Finanzierung dieses Univer- saldienstes wäre, daß die Deutsche Post AG auf Seitdem gibt es nichts wesentlich Neues. Ich kann Dauer einen möglichst breiten reservie rten Bereich inhaltlich voll auf das damals Gesagte verweisen und erhält, in dem sie alleinige Anbieterin bleibt. Einzig wiederholen: Die Bundesregierung bekennt sich zum dieser Weg könnte die Voraussetzungen dafür schaf- Gewährleistungsauftrag des Art. 87f des Grundge- 9480 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996

Bundesminister Dr. Wolfgang Bötsch setzes - nicht „folgende", Kollege Bury, Sie haben dank von mir nicht zu beeinflussender Tatsachen: Ich sich da etwas verlesen - und damit zu flächendek- war halt nicht krank. Ich habe also die ganze Zeit ge- kend angemessenen und ausreichenden Dienstlei- arbeitet. stungen. An der Stelle muß ich noch etwas zum Kollegen (Hans Martin Bury [SPD]: Sie meinen den Jüttemann sagen: Europäische Vorgaben gibt es bis Kollegen Kiper!) dato nicht. Es ist beabsichtigt, daß sich der Postmi- nisterrat am 27. Juni mit dieser Frage beschäftigt. Es - Ich habe den Kollegen Kiper gemeint, richtig. Sie gibt Vorstellungen der Kommission; das ist richtig. beide möchte ich nicht verwechseln, wirklich nicht. Da gibt es aber eine kleine Verzögerung - da ist die Entschuldigung! Situation also genau umgekehrt wie beim Telekom- munikationsgesetz -, so daß wir auch etwas tun müs- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Bundesmi- sen. Ich bekenne mich dazu. Wir können uns als das nister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen größte Volk in der Europäischen Union mit der Wirt Kiper? -schaftskraft, die wir nun mal haben, doch nicht zu- rücklehnen und sagen: Wir warten auf Brüssel; da wird schon was kommen. Nein, wir beeinflussen na- Dr. Wolfgang Bötsch, Bundesminister für Post und türlich, was in Brüssel passiert. Telekommunikation: Nein, jetzt nicht, vielleicht zu einem späteren Zeitpunkt. Die Sitzung dauert sonst (Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Im Zweifel kommt zu lange: Die Mitternacht rückt näher schon, in sti ller nichts von Brüssel!) Ruh' lag Babylon. Ich gebe zu, da gibt es innerhalb der Bundesregie- Die Bundesregierung hat nach Beteiligung des Re- rung - ich komme an anderer Stelle noch darauf - gulierungsrates die Gestaltungsregeln für das Postfi- bisher noch nicht eine ganz einheitliche Auffassung. lialnetz in der seit dem 1. Januar 1996 geltenden Der Kollege Bury hat dies in gekonnter Weise - das Post-Kundenschutzverordnung niedergelegt. In ihr sage ich ohne Häme, sondern mit Respekt - aufge- sind die Vorgaben - der Kollege Bury hat das Ge- spießt. Das hätte ich bei den Agenturmeldungen, die schehen aus dem Jahre 1981 richtig dargestellt - des heute nachmittag gelaufen sind, genauso gemacht. damaligen Beschlusses aufgenommen bzw. über- Die Deutsche Post AG - das habe ich bereits im nommen worden. März ausgeführt - geht nach ihrem derzeitigen Um- Ich überwache die Einhaltung dieser Regelungen. strukturierungsplan immer stärker dazu über, Post- Mit der von mir veranlaßten Veränderungssperre im agenturen anstelle von kleinen eigenbetriebenen Fi- November 1995 ist auch eine - ich gehe darauf noch lialen einzurichten. Diese Postagenturen - darauf im Detail ein - gewisse Beruhigung bei der Bevölke- muß nochmals hingewiesen werden - haben grund- rung eingetreten. Der zugestandene Nachlauf - der sätzlich das gleiche Angebotsspektrum wie die Kollege Kiper hat es zitiert - ist praktisch abgearbei- kleinen eigenbetriebenen Postfilialen. Geringe Ein- tet. Die Entscheidungen zur Kapitalverflechtung und schränkungen gibt es allerdings beim Auslandspa- die Aufhebung der Sperre stehen hingegen noch ketdienst und bei den öffentlichen Telefonstellen. aus. Hierzu hat sich seit meiner Rede vom 8. März Ich möchte heute schon versichern, daß wir das nichts geändert. von der Deutschen Post AG noch vorzulegende Filial- konzept sehr genau daraufhin überprüfen werden, Die Zahl der liegt der- ortsfesten Vertriebsstellen ob mit den unterschiedlichen Vertriebsformen ins- zeit - das ist der Stand vom 31. März - bei 16 745; gesamt der Versorgungsauftrag nach A rt. 87 f des darunter sind 3 239 fremdbetriebene Postagenturen. Grundgesetzes eingehalten wird. Kollege Kiper, Sie Ich bedanke mich bei der Kollegin Blank für das haben das etwas persiflierend dargestellt und haben Lob der Postagenturen. Ich glaube, wenn wir alle In- gesagt, das könne man nicht mit Anekdoten und mit teressen betrachten - die der Post, der Kunden und Beispielen aus der fränkischen Heimat des Postmini- der Beschäftigten; die Kunden haben für mich Priori- sters belegen. Jetzt muß ich aber doch zu einem sol- tät - und gegeneinander abwägen, stellen wir fest, chen Beispiel kommen. Sie haben gesagt, das gehe daß die Postagenturen angenommen werden. Das alles etwas langsam. Dazu kann ich nur sagen: Es zeigen von Instituten durchgeführte Umfragen. geht so, wie man fränkische Bratwürste ißt: eine nach der anderen. Es geht nicht auf einmal. Die Bundesregierung hat keine bestimmte Zahl von Stellen festgelegt. Die Gesamtzahl ist das Ergeb- nis vorgabekonformer Einzelfallentscheidungen. Ich Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Minister, bleiben Sie dabei, keine Zwischenfragen zuzulas- habe - das ist richtig - im Jahr 1993 im Rahmen der Postfilialnetzanpassung allerdings eine mindestens sen? fünfstellige Zahl von posteigenen Filialen für erfor- derlich gehalten. Dr. Wolfgang Bötsch, Bundesminister für Post und Telekommunikation: Jetzt gestatte ich einmal eine. Jemand rief vorhin: Wir sind gespannt, wo er war. Auf geht's! War er während der Zeit im Postpaket? Nein, meine sehr verehrten Damen und Herren, ich habe seit mei- nem Amtsantritt keinen Fehltag zu verzeichnen - Peter Dreßen (SPD): Herr Minister, halten Sie es mit dem Art. 87 f auch für vereinbar, daß die Post jetzt (Zuruf von der F.D.P.: Das spa rt 90 DM!) weitergeht und nicht nur Filialen zu Postagenturen Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996 9481

Peter Dreßen umwandelt, sondern auch die Briefzustellung im sendung vom Absender selbst beziehungsweise von ländlichen Raum anders organisiert, in der Form einem eingeschalteten Transportunternehmen ins nämlich, daß zum Beispiel in einer Gemeinde mit Ausland befördert wird. Das ist physisches Remai- 3 000 Einwohnern 25 Schließfächer geschlossen wer- ling. Im Gegensatz dazu steht das - das wurde hier den und die Leute und die Finnen, die in dem Dorf durcheinandergebracht - nicht physische Remailing. ansässig sind, darauf angewiesen sind, jeden Mor- Hier werden die Sendungen selbst im Ausland ge- gen in den sieben Kilometer entfernten Ort zu fah- druckt und versandfertig gemacht. Der Inhalt der ren, um ihre Post zu holen, falls sie weiterhin an Sendungen wird in diesem Fall per Datenträger oder Schließfächern interessie rt sind? Für die Firmen ist auf einem Telekommunikationsweg elektronisch ins das eine ganz schlimme Geschichte, weil sie entwe- Ausland übermittelt. der sehr verspätet zu ihrer Post kommen oder eben jeden Tag sieben Kilometer fahren müssen. Was das Die Hauptursache für Remailing-Aktivitäten ist umweltpolitisch bedeutet, brauche ich Ihnen nicht zu darin zu sehen, daß die internationalen Endvergü- erzählen. Da finden zusätzlich 20 Fahrten statt, und tungssätze - Sie, Herr Kollege Stadler, haben das das halte ich nicht für richtig. dankenswerterweise angesprochen -, wie sie inner- halb des Weltpostvereins vereinbart sind, für Post- betreiber in Hochpreisländern unbef riedigend, das Dr. Wolfgang Bötsch, Bundesminister für Post und heißt zu niedrig sind. Telekommunikation: Das waren jetzt so viele Relativ- 1994 wurden beim Weltpostkongreß in Seoul Erhö- sätze, Wenn-Sätze und eingeschobene Halbsätze, hungen der Endvergütungen beschlossen. Für Mas- daß ich den Einzelfall wirklich nicht aus dem Stegreif sensendungen wurde ein völlig neues Abrechnungs- beantworten kann. Mir ist der Fall nicht bekannt. verfahren eingeführt, das erstmals einen Bezug zu Wenn Sie ihn mir zuleiten, bekommen Sie von mir den tatsächlichen Bearbeitungskosten im Bestim- eine detaillie rte Antwort, weil mich das natürlich mungsland herstellt. auch interessiert. Aber so kann ich es wirklich nicht beantworten. Ich bitte dafür um Verständnis. Die Postunternehmen der Europäischen Union ha- ben mit Ausnahme von Spanien darüber hinaus ein Die Briefzustellung gehört natürlich zu der Frage Abkommen abgeschlossen, nach dem untereinander einer vernünftigen Postversorgung auch auf dem höhere Endvergütungen als im Weltpostvertrag ver- Lande. Da ist in der Vergangenheit manches passiert rechnet werden sollen. Dieses Abkommen von Reims - jetzt komme ich noch einmal auf die Postfilialen zu koppelt die Endvergütungen an den Inlandstarif des sprechen -, was zu Kritik Anlaß gibt. Die Beneh- Bestimmungslandes. mensregelung ist von der Post meines Erachtens viel zu eng ausgelegt worden. Wir haben uns darüber im Nun ist dieses Reims-Abkommen teilweise als Kar- Regulierungsrat unterhalten. Wir haben auch Krite- tell interpretiert worden, und deshalb prüft die Euro- rien festgelegt. Aber da geht es manchmal nach der päische Kommission gegenwärtig, ob dieses Kartell, Methode: Weiß das die Katz? Ich bin der Meinung, wenn es denn eines sein sollte, zugelassen werden das muß durchgezogen werden, und zwar auch mit kann. denen, die es vor Ort vollziehen. Da ist manches nicht so gelaufen, wie ich es mir vorstelle, weil ich Für die Bundesregierung ist es im Zusammenhang die angemessene Versorgung mit postalischen Ein- mit Remailing-Aktivitäten vorrangiges Ziel, in über- richtungen für notwendig halte. staatlichen Vereinbarungen auf ein. kostengerechtes Endvergütungssystem hinzuarbeiten. Hierzu sind Ich will jetzt noch ein paar Sätze zu dem zweiten auch die betroffenen Postunternehmen selbst aufge- Teil sagen, nämlich zu der Frage des Remailings. rufen. Worum geht es hier? Mit Respekt, ich wollte den Kol- Ich möchte im übrigen darauf hinweisen, daß die legen Rexrodt auf Grund seiner Ausführungen, die Remailing-Problematik bereits heute gesetzlich gere- ich auch in einer Agenturmeldung gelesen habe, an- gelt ist, und zwar im Gesetz zu den Verträgen des rufen. Das war wegen einer Dienstreise nicht mög- Weltpostvereins. Durch das Ratifizierungsgesetz ist lich. Ganz so einfach, wie er es jedenfalls nach der Art. 25 des Weltpostvertrags, der das Remailing re- Agenturmeldung dargestellt hat, ist die Problematik gelt, deutsches Recht. Aber die Frage ist, ob physi- nicht. Darüber müssen wir uns noch etwas unterhal- sches Remailing darunter fällt. Die Gerichte haben ten, auch über die anderen Fragen, die er angespro- das inzwischen anders entschieden. chen hat. Ich pflege solche Dinge dann aber in etwas anderer Form abzuhandeln. Selbst wenn wir eine gesetzliche Regelung anstre- ben würden, könnten wir sicherlich nicht über den Meine Damen und Herren, so einfach, wie es do rt Weltpostvertrag hinausgehen. Es ist auch das Recht zitiert worden ist, „internationale Arbeitsteilung" , ist der Europäischen Union tangiert, und die EU-Kom- das nicht. Man muß schon genau hinschauen, ob bei mission sieht es als Verletzung des EG-Vertrages an, internationaler Arbeitsteilung die Kostensituation tat- wenn die postalische Beförderung im Zusammen- sächlich die gleiche ist. Wenn es nämlich mit der in- hang mit nichtphysischem Remailing beeinträchtigt ternationalen Arbeitsteilung so einfach wäre, bräuch- würde. ten wir keinen Weltpostvertrag und auch alles das nicht, was inzwischen verhandelt wurde. Das kann Lassen Sie mich noch einige Sätze zu den Zahlen- Sendungen betreffen, die für Deutschland bestimmt angaben und Prognosen, die die Deutsche Post AG sind, ebenso wie Sendungen für Drittländer. Wir zum Thema Remailing gemacht hat, sagen. Die Be- müssen unterscheiden, ob die absendefertige Post- hauptung, wonach die Deutsche Post AG durch Re- 9482 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996

Bundesminister Dr. Wolfgang Bötsch mailing jährlich Betriebsverluste in Höhe von Art. 87f Abs. 1 des Grundgesetzes sprach. Als ich Sie 500 Millionen DM macht, ist nicht nachvollziehbar. aber zitierte, Herr Minister, da habe ich zitiert, was in Gleiches gilt für das genannte gefährdete Potential der Antwort auf die Frage 3 der Großen Anfrage der von 3 Milliarden DM. SPD zu Postfilialen von Ihnen niedergelegt ist. Da ist von einem Gewährleistungsauftrag nach A rt. 87 ff. Eine solch dramatische ökonomische Verschärfung Grundgesetz die Rede. Und „ff." heißt auf deutsch des Remailing-Problems müßte sich an einer spürba- nicht „f", sondern heißt „folgende". Darauf möchte ren Zunahme des eingehenden Auslandsverkehrs ich Sie aufmerksam machen. Und wenn Sie, Herr bzw. an einer merklichen Abnahme des abgehenden Bundespostminister, wieder einmal meinen, mich be- Auslandsverkehrs ablesen lassen. Solch signifikante lehren zu müssen, dann suchen Sie sich doch Dinge Änderungen sind aber von der Deutschen Post AG aus, bei denen es vielleicht nötiger ist als beim bis dato nicht belegt worden. Grundgesetz. Ferner muß bei einer ökonomischen Bewe rtung (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, auch der abgehende internationale Briefverkehr be- bei der SPD und der PDS) rücksichtigt werden. Es war eine Grundidee des Weltpostvertrags, daß der abgehende Briefverkehr in das Ausland die Kosten erwirtschaftet, die durch die Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat Zustellung des eingehenden Verkehrs entstehen. jetzt der Abgeordnete Klaus Barthel. Es liegen bisher keine Anhaltspunkte vor, daß der gesamte internationale Briefverkehr der Post defizi- Klaus Barthel (SPD): Frau Präsidentin! Meine Da- tär wäre. Im Gegenteil: Der Auslandsverkehr er- men und Herren! Vor knapp elf Wochen hatten wir scheint nach wie vor sehr lukrativ. Ich sehe deshalb die letzte Aussprache über die Situation im Postsek- auch in Remailing-Aktivitäten, solange sie sich im tor - auf unsere Große Anfrage hin. Auch die heutige gegenwärtigen Umfang bewegen, keinen Rechtferti- Debatte mußten wir mit unseren Initiativen erzwin- gungsgrund für notwendige Tarifanpassungen bei gen. Sonst würde nämlich dieses Thema hier in Privatkunden, wie das von Ihnen befürchtet wurde. Bonn, wo Nicht-Entscheidungen derzeit tagtäglich Unabhängig davon halte ich es gleichwohl für fallen, überhaupt keine Rolle spielen. Sonst würde wichtig, daß wir den eingeschlagenen Weg, im inter- die Postpolitik dem Gerangel der Kaufinteressenten nationalen Bereich zu kostendeckenden Endvergü- der Postbank, das größtenteils hinter den Kulissen tungen zu kommen, konsequent weite rverfolgen. Ich stattfindet, überlassen sein. Sonst würde die Postpoli- bin der festen Überzeugung, daß es gelingen wird, tik den monatelangen Spekulationen über den mini- für die Fragen im Zusammenhang mit dem Remai- steriellen Entwurf zum Postneuordnungsgesetz - ling zumindest im europäischen Bereich - das inter- wann kommt er denn nun endlich? - überlassen sein. essiert uns in vorderster Linie - in absehbarerer Zeit Sonst würde die Postpolitik den gelegentlichen Auf- akzeptable Lösungen zu finden. tritten des Ministers bei der Herausgabe von Post- wertzeichen und bei der Eröffnung von B rief- und Vielen Dank. Frachtzentren überlassen sein, - (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge (Beifall bei der SPD) ordneten der F.D.P.) bei denen es dann bisweilen am Rande zu den be- kannten Äußerungen über Bestandsgarantien von Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Zu einer Kurzin- Postfilialen, Arbeitsplätzen und dergleichen kommt. tervention erhält nun der Abgeordnete Manuel Kiper das Wort . Im richtigen Leben sieht es allerdings anders aus: Zigtausend Beschäftigte von Post AG und Postbank machen sich ernste Sorgen um ihre Zukunft und die Dr. Manuel Kiper (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der des Unternehmens. Viele dieser Sorgen sind existen- tiell. Herr Bundespostminister hat mir eine klarstellende Zwischenfrage nicht erlaubt. Darum muß ich jetzt Kundinnen und Kunden der Unternehmen klagen noch einmal das Wort ergreifen. über den Abbau und Qualitätsverlust von Postdienst- Herr Bundespostminister, Sie haben mir unterstellt, leistungen. Das Austrocknen der Postversorgung in daß ich Sie hier nicht richtig zitiert habe. Aber ich bin Wohnortnähe geht weiter. Bei der Debatte über un- offensichtlich der einzige, der Ihre Antworten auf sere Anfrage und in der Antwort auf die Anfrage hat Große Anfragen richtig liest; vielleicht nicht der ein- die Bundesregierung darauf hingewiesen - das zige im Lande, aber offensichtlich scheinen Sie sel- wurde zitiert -, eine Zusage der Post AG zu haben. ber oder Ihr Haus das nicht mehr im einzelnen zu Diese Zusage besteht seit November 1995. Was aber tun. derzeit geschieht, ist a lles andere als unvermeidli- cher Nachlauf. Was derzeit geschieht, ist der nahezu Mir ist natürlich klar - darüber brauche ich keine ungebremste Prozeß der Schließung weiterer Post- Belehrung -, daß der Gewährleistungsauftrag in filialen, deutlich über 200 pro Monat, jeden Werktag Art. 87 f Abs. 1 niedergelegt ist. Und wenn Sie mei- zehn. Und weiterhin, Frau Blank, die Hälfte ohne ner Rede aufmerksam zugehört haben, was Sie offen- jeden entsprechenden Ersatz zum Beispiel in Form sichtlich teilweise getan haben, dann werden Sie einer Postagentur. Sind das keine „wesentlichen auch bemerkt haben, daß ich im weiteren vom Veränderungen"? Haben Sie jetzt auch schon die Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996 9483

Klaus Barthel Peanuts-Mentalität gewisser Bankdirektoren über- kationsfragen. Er schreibt an den Hauptvorstand der nommen? Deutschen Postgewerkschaft: (Beifall bei der SPD) Im Gegensatz zu den Äußerungen des Bundesmi- nisters für Post und Telekommunikation halten Sind es Peanuts, wenn entgegen Ihrer Aussage in wir der Antwort die Post AG ihre Pläne zur Einrichtung von Franchise-Läden einfach weite rverfolgt? Das - wer ist „wir"? - Franchise-Konzept betrifft bekanntlich größere Post- filialen in zentralen Lagen, also den Kernbestand der eine untere Grenze für eigenbetriebene Filialen Postfilialen. weder für politisch erforderlich noch für die Erfül- lung des Infrastrukturauftrages für notwendig. Ist es völlig nebensächlich, daß offensichtlich das Da haben wir zum Beispiel Frau Blank und die Bankgeschäft in den Postagenturen erheblich zu- Postkundenschutzverordnung: Am 8. März haben rückgeht? Sie sich hier noch ausdrücklich zu ihr bekannt; heute Ist es völlig uninteressant, daß die Post AG dem Fi- haben Sie sie in Frage gestellt. lialsterben selber noch Vorschub leistet, indem viele Dann haben wir den Staatsminister beim Bundes- noch existierende Filialen immer kürzere Öffnungs- kanzler, Herrn Pfeifer. Er bestätigt die Aussagen des zeiten haben, die Schalter oft so schwach besetzt Postministers von 1993 in einem Schreiben von An- sind, daß lange Wartezeiten entstehen, daß bei fang April dieses Jahres. Krankheit Personal zur Vertretung nicht mehr zur Verfügung gestellt wird? So wird systematisch der Wie gesagt, in der Antwort auf unsere Anfrage Boden bereitet für die Selbstdemontage der beiden vom gleichen Zeitpunkt fehlt die Aussage des BMPT Unternehmen. zu dieser Sache. Deswegen haben wir unseren heuti- gen Antrag gestellt. Da steht eigentlich nur das d rin, Wir wollen dem nicht mehr tatenlos zusehen. Wir worüber bisher, so haben wir geglaubt, in diesem wollen zunächst einmal wissen, was eigentlich die Haus eigentlich Einigkeit bestand. Position der Bundesregierung der sie tragenden Par- teien ist. Frau Blank, Sie schmeicheln der Deutschen (Hans Martin Bury [SPD]: So ist es!) Postgewerkschaft, indem Sie ihr großen Einfluß un- Deswegen brauchen wir endlich einen Beschluß terstellen. Aber das ist ein bißchen zuviel des Guten. des Parlaments. Wir wollen dem Minister den Rük- Entscheidend ist immer noch die Bundesregierung ken stärken für seine überfälligen Hausaufgaben: für und die Mehrheit in diesem Haus. das mehrfach angekündigte Filialkonzept der Post Es fällt auf, daß in der Antwort auf unsere Anfrage AG und dessen Überprüfung und Optimierung im angeführt wird: Sinne des Grundgesetzes, für die Klärung der Schal- terkooperation und der Kapitalverflechtung von Der Bundesminister für Post und Telekommuni- Postbank und Post AG. kation hat 1993 im Rahmen der Postfilialnetzan-- Dazu muß man noch folgendes anmerken: Wir hät- passung eine mindestens fünfstellige Zahl von ten gerne Geduld in dieser Frage gezeigt, Frau posteigenen Filialen als erforderlich bezeichnet. Blank, aber mit jeder geschlossenen Fi liale werden Es fällt auf, daß das Jahr 1993 erwähnt wird, aber neue negative Fakten geschaffen. Mit jedem Tag der nicht die viel weniger weit zurückliegenden Äuße- Verzögerung werden die eigenen Strategien und rungen des Ministers mit identischem Inhalt, zum Handlungen der getrennten Unternehmen auf ge- Beispiel am 8. März 1996. Es fällt auf, daß die schrift- trennten, ja gegensätzlichen Wegen durchgesetzt. liche Antwort sich um eine Aussage drückt, ob das Mit jedem Tag der Verzögerung und des Dahinwur- Ministerwort heute noch gilt - und wenn ja, wie stelns entwerten sich die beiden Unternehmen lange noch. Der Minister hat dazu auch heute nichts selbst, vor allem in den Augen ihrer möglichen mehr gesagt. Kooperationspartner. Man muß auch darauf hinweisen, daß die Frage (Peter Dreßen [SPD]: Doch, daß er ein Aus der Kapitalverflechtung freigehalten werden muß laufmodell ist!) von sachfremden Erwägungen. Wer die Postbank Wir wollen wissen, was darüber hinaus in der Bun- meistbietend verscheuern wi ll, gerät zwangsläufig in desregierung insgesamt gilt. Daß der F.D.P., Herr Widerspruch zu postpolitischen Zielen. Deswegen chkeiten des Finanzministeriums Stadler, der Bestand der flächendeckenden Postver- muß den Begehrli beim Stopfen der Haushaltslöcher Einhalt geboten sorgung vollkommen egal ist, hat sich inzwischen herumgesprochen. werden (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE (Lisa Peters [F.D.P.]: Es ist uns nicht egal, GRÜNEN und der PDS) junger Mann! - Dr. Max Stadler [F.D.P.]: Absoluter Unsinn!) und ein Weg gesucht werden, den Infrastrukturauf- trag zu stützen statt zu stören. Aber wie ist das in der großen Regierungsfraktion? Wir wollen dem Minister den Rücken stärken bei Da haben wir zum Beispiel Herrn Müller, immerhin der Frage der Existenzsicherung der früheren Post- Sprecher der CDU/CSU in Post- und Telekommuni- unternehmen gegen die Zeitbombe der Pensions- 9484 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996

Klaus Barthel lasten. Verheimlichen Sie dieses Problem doch nicht renz am 8. Mai gesagt hat. Er hat festgestellt - ich länger! Klären Sie es, damit diese bisher unterschätz- zitiere ihn wörtlich -: ten Lasten nicht die Arbeitsplätze, die Investitionen und die Infrastruktur gefährden! Durch das neue Postgesetz sollen ein unserer Wirtschaftsordnung entsprechender Regulie- Wir wollen dem Minister den Rücken stärken ge- rungsrahmen für den Postsektor geschaffen und genüber den Vorständen von Post AG und Postbank das teilweise über 100jährige Monopol möglichst AG. rasch abgebaut werden. Denn die mit dem Mono- pol einhergehende Einschränkung der Berufs- (Renate Blank [CDU/CSU]: Das tun wir und Gewerbefreiheit ist aus verfassungsrechtli- auch!) chen und ordnungspolitischen Gründen nicht ak- zeptabel. Wenn Sie nicht endlich klare Vorgaben machen und vor allem diese durchsetzen, werden die weiterma- Er hat diese Vorstellung sinngemäß wiederholt. chen wie bisher. Sie müssen endlich deutlich ma- chen, daß die Unternehmen öffentliches Eigentum Wir sind von diesem Verständnis unserer Verfas- sind und daß es um das vergangene, das jetzige und sung und unserer Wirtschaftsordnung sehr beein- das zukünftige Geld der Steuerzahlerinnen und druckt und stellen fest, welches Zeugnis er der Post- Steuerzahler geht und nicht um die Portokasse von politik seiner Vorgänger, also auch der früheren Mi- Herrn Zumwinkel und Herrn Schneider. nister Dollinger und Stücklen nebst der Kanzler Adenauer und Erhard ausstellt. Wenn wir jetzt sag- (Beifall bei der SPD und der PDS) ten, daß sie eine andere Republik wollten, dann wol- len wir nicht wissen, was Sie uns dann entgegneten. Mit welchem Recht wollen Sie sich eigentlich über Vandalismus gegen Telefonzellen aufregen, wenn Alles zusammen ist diese Aussage angesichts Ihrer Sie es zulassen, daß die Unternehmen von oben her, bisherigen Aktivitäten relativ kühn. - Ich muß jetzt von ihren leitenden Angestellten, demontie rt werden leider einiges aus meinem Manuskript auslassen, und die Bundesregierung Schmiere steht? weil meine Redezeit vorbei ist. (Heiterkeit und Beifall bei der SPD) (Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Das ist ja ein Jammer!) Wir wollen der Bundesregierung insgesamt den Rücken stärken für die Diskussion auf europäischer Ebene; das haben Sie angesprochen. Wir haben näm- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Sie müssen jetzt lich den Eindruck, daß Sie offensichtlich immer wirklich aufhören. dann, wenn es um die Interessen unserer Postunter- nehmen geht, auf europäischer Ebene schlechte Kar- (SPD): Ja. - Wir können nur hoffen, ten haben. Wir stellen fest, daß es do rt Liberalisie- Klaus Barthel daß Sie es sich noch einmal überlegen und unserem rungsfans gibt, für die das Remailing den Höhepunkt Entschließungsantrag doch noch zustimmen, damit des fairen Wettbewerbs darstellt, und daß sie keinen - wir auf dieser Grundlage im Ausschuß gemeinsam ernsten Widerstand der Bundesregierung in dieser beraten können, wie wir den Entschließungsantrag, Frage zu verspüren haben. Im Gegensatz dazu stel- den wir hier vorgelegt haben, praktisch umsetzen len wir fest, daß das Engagement und der Erfolg der können und eine Finanzierung der Postfilialen in Zu- Bundesregierung immer dann gewaltig sind, wenn kunft sicherstellen können. es um das Herunterschrauben des Universaldienstes, des reservierten Bereiches und um die Durchsetzung (Beifall bei der SPD und der PDS sowie bei der asymmetrischen Regulierung geht. Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und der PDS)

Da wir aber nicht so naiv sind, an die höhere Ge- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Jetzt hat der walt vom blauen Sternenhimmel der EU zu glauben, Kollege Elmar Müller das Wort. sind wir sicher, daß die Bundesregierung ihren Ein- fluß bisher entweder zu wenig oder in falscher Rich- tung nutzt oder sogar beides. Eines wissen wir auch Elmar Müller (Kirchheim) (CDU/CSU): Frau Präsi- sicher: Die EU geht im Postbereich eindeutig von dentin! Meine Damen und Herren! Wer das Netz- der Finanzierungsnotwendigkeit eines Universal- werksystem der SPD und der Gewerkschaften bisher dienstes, also auch der Filialen, aus, also gerade nicht kannte, findet es durch den Kollegen Ba rthel nicht davon, daß der Markt alles regelt. Während bestätigt. Man schreibe einen B rief an den hochver- sich die Bundesregierung in anderen Fä llen, zum ehrten Herrn Vorsitzenden der Postgewerkschaft, Beispiel bei der Telekommunikation, in vorauseilen- Herrn van Haaren, man weiß, daß der Obersozi van dem Gehorsam übt, schwimmt sie im Postbereich Haaren diesen Brief postwendend der Fraktion der gegen den europäischen Strom. Das läßt uns doch SPD zukommen läßt, und man weiß, daß er dann ge- aufhorchen. lesen wird. Damit spart man natürlich Kopien, und ich werde das weiterhin so nutzen. Deshalb wollen wir ein Überdenken des Entwurfs eines Postgesetzes herbeiführen. Es hat uns nämlich (Hans Martin Bury [SPD]: Das ist Remai alarmiert, was der Minister bei seiner Pressekonfe- ling!) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996 9485 Elmar Müller (Kirchheim) Meine sehr verehrten Damen und Herren, das, was die Initiative der Postminister der Europäischen wir in der Debatte im März dieses Jahres erlebt ha- Union durch ein kostengerechtes Verfahren gelöst ben, setzt sich hier in einer A rt Dauerlutscher fo rt : wird, und zwar so lange, bis Art. 25 des Weltpostver- Die SPD nennt ein Thema und versucht, sich an die- trages greift. Das ist, soweit ich weiß, bis über das sem Thema hochzuhangeln. Wir sind mitten in der Jahr 2000 hinaus. Wir brauchen eine Übergangsrege- Vorbereitung eines Gesetzes, nämlich des Postgeset- lung. Die EVP-Fraktion im Europäischen Parlament zes, das unter anderem auch diese beiden Themen hat dies geschafft. berühren wird. Ich möchte das, was wir zu diesen beiden Anträ- Ich möchte vorweg zwei Sätze zu Ihren beiden gen der SPD zu sagen hatten, damit beenden. Beide Anträgen und dazu sagen, weshalb wir diesen An- Anträge sind, Herr Kollege Bury, überflüssig. Der trägen nicht zustimmen können. Zum Antrag zu Entschließungsantrag zu den Postfilialen ist überflüs- den Postfilialen. Herr Kollege Bury, der letzte Ab- sig, weil wir im März ausführlich darüber geredet ha- satz Ihres Antrags lautet sinngemäß, daß der Post- ben, der andere Antrag ist überflüssig, weil wir uns minister sofort einschreiten soll, um jede weitere in den nächsten Monaten darüber unterhalten wer- Schließung von Postfilialen zu verhindern. Wir ha- den. In einem Fall gebe ich Ihnen gerne recht. Es ben gemeinsam, auch mit Ihnen, vor zwei Jahren handelt sich um die ungelöste Frage der Finanzbe- die drei Unternehmen der Post privatisiert. Das ein- ziehungen zwischen beiden Unternehmen. Es ist zige, bei dem der Postminister Möglichkeiten hat, Aufgabe der Regierung, hier möglichst schnell eine einzugreifen, ist die Kundenverordnung, die wir ge- Lösung zu finden. meinsam im Regulierungsrat verabschiedet haben. Solange gegen diese Kundenverordnung nicht ver- (Hans Martin Bury [SPD]: Das erzählen Sie stoßen wird - das ist in diesen Fragen nicht der seit Jahren!) Fall -, hat der Postminister auch keinerlei Einwir- kungsmöglichkeit. Wir denken, das sollte auch so Meine Damen und Herren, in diesem Sinne darf bleiben. Wir haben die Unternehmen der Post nicht ich die Kollegen auch von der Regierungsseite sehr umsonst privatisiert. Sie sollen auch dafür sorgen, herzlich bitten, den Antrag zu den Postfilialen als daß das Unternehmen insgesamt wettbewerbs- und überflüssig abzulehnen. Den anderen Antrag über- ertragsfähig wird. weisen wir lediglich als Arbeitsmaterial dorthin, wo er hingehört. Zweitens: Ihr Antrag zum Remailing. Der Postmi- nister hat es Gott sei Dank ausführlich geschildert: Ich bedanke mich herzlich. Mit keinem Wort - das zeigt die Oberflächlichkeit (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - Ihres Antrags - gehen Sie in Ihrem Antrag auf den Hans Martin Bury [SPD]: Flucht aus der Unterschied zwischen Physical Remailing und Non- Verantwortung!) physical Remailing ein. Dies aber ist die Vorausset- zung, die begriffen werden muß, um gegen Remai- ling insgesamt vorgehen zu können. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Ich schließe die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt. (Beifall bei der CDU/CSU) Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie- Denn das, was wir unter dem Beg riff Remailing, also ßungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache Physical Remailing, verstehen, ist unbest ritten, wenn 13/4696. Wer stimmt für diesen Entschließungsan- es angewandt wird, ein Verstoß gegen den Art . 25 trag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Ent- des Weltpostvertrages. Im Falle des - darüber strei- schließungsantrag ist mit den Stimmen der Koaliti- ten wir uns - Non-physical Remailing sind Gerichte, onsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition ab- aber - das sei zugegeben - auch die Europäische gelehnt worden. Union, unterschiedlicher Auffassung. Der Ältestenrat schlägt Überweisung des Antrags Ich will eines an dieser Stelle ausdrücklich begrü- der Fraktion der SPD zur Unterbindung des Remai- ßen. Während wir seit Monaten den Versuch unter- ling auf Drucksache 13/4448 an die in der Tagesord- nehmen, mit den Kollegen, die im Europaparlament nung aufgeführten Ausschüsse vor. Sind Sie damit in diesen Fragen mitverantwortlich sind, zu reden einverstanden? - Dann ist die Überweisung so be- und gemeinsam vorzugehen, haben Sie nichts getan. schlossen. Endlich haben wir heute nachmittag zusammenge- sessen, um einen gemeinsamen Termin in Brüssel zu Wir stimmen jetzt über die Beschlußempfehlung vereinbaren. Ich denke, dies ist im Grunde genom- des Ausschusses für Post und Telekommunikation zu men zu spät. Ich bin deshalb außerordentlich dank- dem Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/ bar, daß die EVP-Fraktion, also die Fraktion der Die Grünen zur Großen Anfrage der SPD, Drucksa- Christdemokraten, am 2. Mai dieses Jahres in einem che 13/4662, ab. Der Ausschuß empfiehlt, den Ent- Änderungsantrag zur entsprechenden Richtlinie der schließungsantrag auf Drucksache 13/4001 abzuleh- Europäischen Kommission erreicht hat, daß die nen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Europäische Kommission ihre Richtlinie genau in der Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußemp- Richtung verändert, in der Sie ihren Antrag jetzt im fehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen Grunde genommen überflüssig stellen, und dort hin- und der SPD gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die einzuschreiben, daß die Frage des Remailings durch Grünen und PDS angenommen worden. 9486 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer Ich rufe den Zusatzpunkt 12 auf: und oft auch Entlassungen gezwungen ist, in der die Einkommen eines Großteils der Bevölkerung real Erste Beratung des von dem Abgeordneten nicht mehr steigen, sondern sinken, in der von seiten Gerald Häfner und der Fraktion BÜNDNIS 90/ des Bundes und der Länder sogar lauthals eine Null- DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines runde im öffentlichen Dienst gefordert wird, und in Gesetzes zur Aussetzung der Diätenerhöhung der die Bundesregierung ein Paket dramatischer für Abgeordnete des Deutschen Bundestages Sparaktionen vorlegt, durch die zum Beispiel die und des Europäischen Parlaments Rentensumme für die Bezieher durch eine Herauf set- - Drucksache 13/4667 - zung des Rentenalters real deutlich gemindert oder Überweisungsvorschlag: auch die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall gemin- Ältestenrat (federführend) dert werden soll, daß es in einer solchen Zeit äußerst Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität unsensibel, unklug und unverantwo rtlich wäre, und Geschäftsordnung wenn ausgerechnet unsere eigenen Bezüge, die Ab- Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO geordnetendiäten, von diesem allseitigen Sparen Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für ausgenommen werden sollten. die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wo- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bei die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fünf Minu- und bei der PDS) ten erhalten soll. - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Meine Damen und Herren, Sie wissen, daß wir un- sere Diäten zum Ende des vergangenen Jahres - ge- Ich eröffne die Aussprache. Das Wo rt hat zunächst nauer gesagt: im Oktober des vergangenen Jahres - der Abgeordnete Gerald Häfner. bereits um fast 1 000 DM pro Monat heraufgesetzt haben. Jetzt sollen sie zum 1. Juli noch einmal um Gerald Häfner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ver- monatlich 525 DM steigen. ehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kolle- Das paßt nun wirklich nicht in die aktuelle politi- gen! Vor sehr kurzer Zeit hat der Herr Bundeskanzler sche Landschaft und ist nicht vermittelbar. Wenn wir in diesem Hause dazu aufgefordert, sich gemeinsam als Mitglieder dieses Parlaments dies nicht rechtzei- vor Augen zu halten, in welchen Notwendigkeiten tig erkennen und nicht eine gemeinsame Lösung dieses Land gegenwärtig steht, und daraus die erfor- finden - das ist jedenfalls unser Wunsch und An- derlichen Konsequenzen zu ziehen. Niemand, so spruch -, wäre dies zum Schaden für das gesamte hieß es, dürfe vom Sparen ausgenommen werden; alle hätten ihren Beitrag zu leisten. Die Bürger seien Parlament. bereit, hat dann der Bundesfinanzminister erklärt, (Abg. Gerald Häfner [BÜNDNIS 90/DIE ihren Beitrag zu erbringen, weil sie sich „der Verant- GRÜNEN] hält Rücksprache bei der Präsi wortung ... für das Gemeinwohl und für die nächste dentin) Generation durchaus bewußt" seien. - Ich war ursprünglich dahin gehend informiert, daß (Zuruf von der CDU/CSU: Mehr als Sie!) - die Fraktion der Grünen wegen der Einbringung un- Die Bürger mögen vielleicht bereit sein, meine Da- seres eigenen Gesetzentwurfes zehn Minuten Rede- men und Herren; allerdings glaube ich, daß sie sehr zeit habe. Deswegen meine Rücksprache. viel eher bereit wären, wenn sie das Gefühl hätten, (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Die daß auch gerecht gespart wird, auf allen Seiten glei- Präsidentin hat gerade fünf Minuten chermaßen. gesagt!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) - Dann bin ich falsch informiert, bitte um Entschuldi- Noch mal: Die Bürger mögen vielleicht bereit sein. gung und muß meine Rede dramatisch abkürzen. Die Frage ist: Sind wir es auch? Das ist eine Frage, (Beifall bei der SPD - Zuruf von der CDU/ die wir als Politiker nicht nur aushalten, sondern die CSU: Sparen fängt bei sich selbst an! - Wei wir uns selbst auch immer wieder stellen müssen: tere Zurufe von der CDU/CSU) Sind wir bereit, das, was wir anderen abverlangen, auch von uns selbst zu verlangen? Damit steht und - Verehrte Kolleginnen und Kollegen, nun hören Sie fällt die Glaubwürdigkeit der Politik. doch diesen einen Moment noch zu! Ich glaube deshalb, daß wir in diesem Jahr Anlaß Wir haben unseren Gesetzentwurf schon sehr früh haben, über die Frage der Diätenanpassung erneut vorgelegt, ihn aber lange Zeit nicht eingebracht, weil nachzudenken, obwohl im letzten Jahr mit großer wir mit allen Fraktionen des Hauses das Gespräch Mehrheit hierzu eine Entscheidung ergangen ist. gesucht und vorgeschlagen haben, dies zu einer ge- meinsamen fraktionsübergreifenden Initiative zu ma- Meine Fraktion hat hierzu einen Gesetzentwurf chen. Wie Sie wissen, sah es auch lange Zeit so aus, eingebracht, und zwar, wie Sie alle wissen, liebe Kol- als ob dies zustande käme. Es hat Wochen und Wo- leginnen und Kollegen, schon vor vielen Wochen. chen gedauert und ist dann immer wieder verscho- Wir sind der Meinung, daß es in einer Zeit, in der in ben worden. den öffentlichen Haushalten dramatische Ebbe herrscht, in der immer mehr öffentliche Einrichtun- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Das gen geschlossen und Arbeitskräfte abgebaut wer- stimmt nicht! Behaupten Sie das nicht den, in der die Wirtschaft überall zu Einsparungen schon wieder!) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996 9487

Gerald Häfner Inzwischen ist es so spät, daß wir - wie Sie, Herr falls ihrer Führung - zu einem lächerlichen, opportu- Schmidt, wissen - die für die Gesetzgebung zwin- nistischen und populistischen Ablenkungsmanöver. gend zu beachtenden Fristen kaum noch einhalten (Beifall bei Abgeordneten der SPD) können. Wir werden sie sogar nur noch dann einhal- ten können, wenn allseitig auf Fristeinrede verzichtet Ich habe großes Verständnis dafür, daß in der Öf- wird, um überhaupt noch etwas Verbindliches vor fentlichkeit gesagt wird: Auch die Abgeordneten ha- dem automatischen Inkrafttreten am 1. Juli beschlie- ben angesichts dessen, was da geschieht, ihren Teil ßen zu können. beizutragen. Auch die höheren Einkommen sollen mit einbezogen werden. Ich freue mich - das will ich deutlich sagen -, daß nun plötzlich rege Bet riebsamkeit ausgebrochen ist, Verehrter Herr Kollege, dann bringen Sie aber daß heute zum Beispiel bereits zum erstenmal die doch einen Vorschlag ein, der Fleisch und Knochen Rechtstellungskommission getagt hat, daß es also hat, das heißt einen Vorschlag, wie man zum Beispiel doch gelungen ist, endlich das Nachdenken in allen durch eine Erhöhung des Solidaritätszuschlages für Fraktionen zu intensivieren. Und ich hoffe noch im- eine befristete Zeit auf die Einkommen der Abgeord- mer, daß wir uns in dieser Frage zu einem gemeinsa- neten und der Besserverdienenden zugreift. Das men Vorgehen durchringen können. Das würde dem bringt dann möglicherweise ein paar Milliarden DM Hause insgesamt gut anstehen. ein und nicht die lächerlichen 6 Millionen DM, für die Sie hier eine populistische Show abziehen, die Wir haben in unserem Gesetzentwurf deshalb be- dem Ernst der Sache und der Würde dieses Hauses wußt auf all das verzichtet, was eigentlich eigene nicht entspricht. grüne Positionen gewesen waren, zum Beispiel auf (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der unseren Vorschlag der Orientierung der Diätenan- CDU/CSU) passung an der allgemeinen Einkommensentwick- lung statt der Orientierung an den Richtergehältern. Wenn Sie dazu bereit wären, dann würde ich Ihren Wir haben auf diese Dinge verzichtet, weil wir be- Worten eher glauben. Aber nach dem, was Sie hier wußt einen Entwurf vorlegen wollten, der in allen vorgetragen haben, war das nur Show. Fraktionen des Hauses konsensfähig ist. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Frau CDU/CSU - Walter Hirche [F.D.P.]: Gro- Präsidentin, was ist denn mit der Zeit?) teske Argumentation, Herr Conradi! Vor allem der lockere Umgang mit Milliarden!) Dieser Entwurf liegt Ihnen nun vor. Wir bitten um Be- ratung, bitten um Ihre Zustimmung und hoffen nach Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Möchten Sie wie vor sehr, daß es in dieser Frage zu einer gemein- antworten? - Bitte. samen Geste des Hauses kommt.

Ich danke Ihnen. Gerald Häfner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr - Abgeordneter Conradi, ich möchte Ihnen gern eine (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Antwort hierauf geben. und bei der PDS) Zunächst einmal zu Ihrer eingangs gemachten Un- terstellung: Es ist nicht unsere Aufgabe und auch al- les andere als unsere Absicht, das in unseren Augen Zu einer Kurzin- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: sozial in völliger Schieflage befindliche sogenannte tervention erhält der Kollege Conradi das Wo rt. Sparprogramme der Bundesregierung durch einen Antrag zu den Diäten in irgendeiner Weise zu ka- schieren oder gar zu stützen. Peter Conradi (SPD): Herr Abgeordneter Häfner, ich habe Verständnis dafür, daß die Führung der Ko- (Zuruf von der SPD: Das ist aber die Wir alitionsfraktionen sich darum bemüht, die soziale kung!) Schieflage ihres Sparpakets - das, was man sonst als Grausamkeiten bezeichnet - mit einem Ausweichma- Wir sind nämlich, lieber Herr Kollege Conradi, an- növer, mit einem Palliativ für die Öffentlichkeit abzu- ders als die Koalition und die Bundesregierung, der decken, indem sie sagt: Die Abgeordneten werden ja Meinung, daß das Sparen gerade nicht unten, son- auch einbezogen; bei denen wird auch ein bißchen dern oben zu beginnen hat. Und „oben" heißt auch: gespart. Wenn ich zur Führung der Koalitionsfraktio- bei uns, lieber Herr Conradi. nen gehörte, würde ich das bei einem so schlimmen (Elke Ferner [SPD]: Ja, auch! - Otto Schily Paket auch so machen. Ich muß ausdrücklich sagen: [SPD]: Auch die Exekutive!) Es ehrt die CDU/CSU-Fraktion, daß es in ihr einige Abgeordnete gibt, die diesem oppo rtunistischen und „Oben" heißt selbstverständlich zum Beispiel auch: durchsichtigen Vorgehen widersprechen. beim Bundeskanzler und bei den Ministern. Das ist meine feste Überzeugung. Was ich nicht ganz verstehe, ist die Haltung Ihrer (Rudolf Bindig [SPD]: Bei den Rechtsanwäl Fraktion. Heute morgen haben Sie nachdrücklich die ten, Architekten!) soziale Schieflage dieses Sparpakets beklagt und an- gekündigt dagegenzustimmen. Heute abend treten - „Oben" heißt vor allem auch: bei allen weiteren Be Sie hier auf und helfen der Koalitionsfraktion - jeden- ziehern hoher Einkommen, über die hier im Parla- 9488 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996

Gerald Häfner ment zu verhandeln uns nicht ansteht. Ich bin eben- Diese klaffende Lücke zwischen Anspruch und Wirk- falls der Meinung, daß viele Einkommen, die zum lichkeit müssen Sie, Herr Häfner, sich zurechnen las- Beispiel für Posten in Vorstandsetagen der deutschen sen. Dies will ich hier sehr deutlich zum Ausdruck Industrie gezahlt werden, deutlich überhöht sind, bringen. und fände es erfreulich, wenn es ähnlich wie in Ja- pan und in anderen Ländern auch hier zu deutlichen Herr Häfner, ich werfe Ihnen und Ihrer Fraktion Kürzungen käme. Das liegt nicht in unserer Hand. ganz konkret vor: Es geht Ihnen nicht um die Sache; es geht Ihnen um reinen Populismus, um reine Medi- (Zuruf von der SPD: Aber ja! Aber ja! Wir enhascherei. Denn wenn es Ihnen um die Sache ge- sind der Gesetzgeber! - Peter Conradi gangen wäre, dann wären Sie bereit gewesen, heute [SPD]: Wir sind der Steuergesetzgeber!) zunächst die Debatte nur in der Rechtsstellungskom- mission zu führen. Nein, darum geht es Ihnen nicht; - Über die Einkommen in der Wi rtschaft zu befinden Ihnen geht es um ein Medienereignis, um Populis- liegt nicht in unserer Hand. mus und um nichts anderes. Was wirklich in unser Hand liegt, sind die eigenen (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Einkommen. Insofern, verehrter Herr Conradi, kann Um was geht es Ihnen denn?) ich Ihre Einlassung nicht ganz verstehen. Denn ge- rade wer die soziale Schieflage des Sparpakets be- Übrigens entspricht das, Herr Kollege Häfner, dem klagt, sollte mit den diesbezüglichen Erkenntnissen Verhalten Ihrer Fraktion. Sie wissen, daß es ein ver- bei sich selbst beginnen. trauliches Sondierungsgespräch der Fraktionsvorsit- zenden gegeben hat. Ihre Fraktion war es, die ver- Lassen Sie mich noch ein Letztes sagen. Hätten wir traulich gesprochene Worte in der Presse lanciert hat, eine populistische Kampagne vorgehabt, dann hät- ten wir uns anders verhalten; dann hätten wir mit Ih- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU nen nicht wochenlang verhandelt und versucht, eine und der SPD) gemeinsame Lösung zu finden. um aus populistischen Gründen einen kurzfristigen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Medienvorteil zu erheischen. Jetzt legen wir offiziell vor, was zuvor schon Gegen- Herr Kollege Häfner, ich sage Ihnen ganz deutlich: stand dieser gemeinsamen Verhandlungen war und Ihnen und Ihrer Fraktion ist eine schnelle Agentur- zunächst einmal von großen Teilen Ihrer Fraktionen meldung wichtiger als kollegiales Verhalten. mitgetragen worden ist. Wir haben ja all das heraus- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) genommen, was von Ihrer Seite angeblich oder wirk- lich nicht mitgetragen werden konnte. So haben wir Herr Kollege Häfner, ich muß Sie leider weiter an- euch nur noch das vorgelegt, von dem uns signali- greifen, weil in meinen Augen wirklich unglaublich siert wurde, es könne fraktionsübergreifend mitge- ist, was Sie heute gemacht haben. Sie sind heute ver- tragen werden. Uns jetzt vorzuwerfen, dieser Antrag spätet in die Sitzung der Rechtsstellungskommission der Grünen enthalte zuwenig, das finde- ich, wenn gekommen. Als Sie hereinkamen, hatte ich bereits man den Hintergrund der Debatte kennt, in der Tat meinen persönlichen Vorschlag, den ich gleich noch einigermaßen merkwürdig. einmal erläutern werde, kundgetan. Um 18.16 Uhr wurde von der Agentur Reuter eine Meldung heraus- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) gegeben, in der Sie zitiert werden und aus der nicht- öffentlichen Rechtsstellungskommission berichten. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat (Peter Conradi [SPD]: So ist er!) jetzt der Kollege Andreas Schmidt. Sie, Herr Häfner, haben der Agentur erzählt, wel- chen Vorschlag ich in der Rechtsstellungskommis- Andreas Schmidt (Mülheim) (CDU/CSU): Frau sion gemacht habe; diesen haben Sie zudem noch Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Her- falsch dargestellt. ren! Herr Kollege Häfner, Sie sind ein leuchtendes Beispiel dafür, wie weit Anspruch und Wirklichkeit, (Peter Conradi [SPD]: Sauber!) Handeln und Reden auseinanderklaffen können. Sie stellen sich hier hin und sagen: Es ist gut, daß die Dies ist in der Tat ein unglaubliches Verhalten. Ich Rechtsstellungskommission zusammengetreten ist. muß Ihnen sagen: Ich sehe keine Basis mehr, um mit Allerdings habe ich heute morgen in der „taz" von Ihnen in der Rechtsstellungskommission vertrauens- Ihnen gelesen, die Einschaltung der Rechtsstellungs- voll zusammenzuarbeiten. kommission diene nur dem Zweck, irgend etwas zu- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge sammenzuschustern, was den Eindruck einer Spar- ordneten der SPD) geste mache, aber niemandem weh tue. Herr Häfner, entweder begrüßen Sie, daß die Rechtsstellungskom- Sie sind in der gesamten Diskussion nicht glaub- mission zusammentritt, oder Sie diskreditieren die würdig - auch das müssen Sie und Ihre Fraktion sich Rechtsstellungskommission, deren Mitglied Sie sind, gefallen lassen -, wenn Sie zwar kritisieren, aber im Vorfeld, ohne zu wissen, was do rt heute behan- auch immer kassieren. delt worden ist. (Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) NEN) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996 9489 Andreas Schmidt (Mülheim) Sie sollten sich überlegen, wie Sie die Diskussion in Rechtsstellungskommission gemacht habe und der Zukunft führen wollen. von Herrn Häfner offensichtlich an eine Agentur wei- tergegeben worden ist - dieser Eindruck muß sich Jetzt aber zur Sache: Im Dezember 1995 haben wir zumindest aufdrängen -, wiederholen: Ich bin dafür, in diesem Haus, im Deutschen Bundestag, mit großer daß das Abgeordnetengesetz vom Dezember 1995 in Mehrheit gemeinsam ein Gesetz beschlossen der Substanz nicht angetastet wird. (Zurufe von der PDS: Nicht gemeinsam! - (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wir waren dagegen!) - ich weiß, die PDS war dagegen -, mit dem Ziel, ein Es darf nicht der Eindruck entstehen, daß sich das Verfassungsgebot zu erfüllen, nämlich für die Abge- Parlament von innen oder außen beliebig manipulie- ordneten des Deutschen Bundestages eine angemes- ren läßt. Gleichzeitig aber sage ich, daß wir uns auch sene Entschädigung sicherzustellen. hinsichtlich der schwierigen finanz- und wirtschafts- politischen Situation in der Bundesrepublik Deutsch- Dabei handelt es sich nicht um die Teilnahme an land der Verantwortung stellen müssen. der normalen Einkommensentwicklung, sondern um das Aufholen eines tatsächlichen Einkommensrück- Herr Conradi, es geht hier nicht um das Kaschieren stands. Ich will daran erinnern, daß die Kissel-Kom- einer falschen Politik, sondern darum, die richtige mission, eine unabhängige Kommission, bereits für Politik dieser Bundesregierung und der Regierungs- 1995 festgestellt hat, daß die angemessene Entschä- fraktionen zu bestätigen und unseren Beitrag dazu digung für Abgeordnete 14 000 DM betragen müßte. zu leisten. (Peter Conradi [SPD]: 1994!) (Peter Conradi [SPD]: Da sehe ich aber Begeisterung in Ihrer Fraktion!) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Kollege, Deswegen schlage ich vor, das Gesetz vom Kern gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Seif- her nicht anzutasten. Wir müssen unseren Beitrag lei- fert? sten, indem wir gesetzlich festlegen, daß wir auf die Auszahlung der schrittweise erhöhten Diäten für ein Jahr verzichten. Andreas Schmidt (Mülheim) (CDU/CSU): Bitte schön. (Zuruf von der SPD: Waigel einsparen! - Wolf-Michael Catenhusen [SPD]: Und was Heinz-Georg Seiffert (CDU/CSU): Herr Kollege passiert dann?) Schmidt, können Sie sich erklären, daß die Grünen - Dann, Herr Kollege Catenhusen, wären wir wieder in Baden-Württemberg in diesen Tagen einer Diäten- bei dem, was das Gesetz vorschreibt. Dann würden erhöhung von 10,3 Prozent zugestimmt haben? wir im Jahre 1998 Diäten in Höhe von 12 875 DM er- (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten reichen, was ich für angemessen halte. der CDU und der SPD - Zurufe von der Ich finde, wir sollten auch den Mut haben, von die- CDU/CSU: Das darf doch nicht wahr sein! - sem Gesetz in der Sache nicht abzuweichen, meine Pharisäer!) Damen und Herren.

Andreas Schmidt (Mülheim) (CDU/CSU): Das (Beifall des Abg. Dr. Wolfgang Freiherr von zeigt, wie widersprüchlich das Verhalten ist, wie groß Stetten [CDU/CSU]) die Lücke zwischen Anspruch und Wirk lichkeit ist. Ich finde, nachdem ich diesen Vorschlag hier noch (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) einmal unterbreitet habe, sollten wir die Frage sehr sachlich und mit dem nötigen Verantwortungsbe- Ich würde mich freuen, wenn die Grünen im Deut- wußtsein diskutieren. schen Bundestag auch dieses Thema, das sensibel für den Parlamentarismus ist, in großer Verantwor- (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ tung behutsam behandelten. DIE GRÜNEN]: Ihre eigene Fraktion ist nicht begeistert!) Meine Damen und Herren, ich will noch einmal darauf hinweisen: Seit 1977 gab es für die Bundes- Meine Damen und Herren, es besteht natürlich im- tagsabgeordneten neun Nullrunden. Wenn wir die mer die Gefahr, daß diese Diskussion und dieses gleichen Anpassungsschritte gehabt hätten, wie sie Thema bewußt von Leuten in diesem Haus, aber bei den Renten erfolgten, würden die Diäten heute auch von draußen als Keule gegen die Abgeordneten 13 657 DM betragen. Deswegen betone ich noch ein- des Deutschen Bundestages mißbraucht werden. Die mal - ich habe dies schon öfter von diesem Pult aus Gefahr ist immer sehr groß, daß sich diese Keule sehr gesagt -: Ich halte die Anpassungsschritte mit dem schnell auch zu einem Knüppel gegen den deut- Ziel, 1998 eine Diät in Höhe von 12 875 DM zu errei- schen Parlamentarismus entwickeln kann. chen, für dem Verfassungsgebot der angemessenen (Albe Entschädigung entsprechend. rt Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Oh! Der ist tot!) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Deswegen warne ich vor dem Populismus der Grü- Ich will, damit in der Öffentlichkeit nichts Falsches nen und werbe dafür, daß wir die Sache mit dem dargestellt wird, meinen Vorschlag, den ich in der notwendigen Verantwortungsbewußtsein in diesem 9490 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996

Andreas Schmidt (Mülheim) Haus, aber auch in der Rechtstellungskommission Sparbeitrag erbringen werden, den wir in den letzten diskutieren und dann schnell entscheiden. Jahren bereits erbracht haben. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge ordneten der SPD und der PDS) (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Hans-Ulrich Klose [SPD]) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Zu einer Kurzin- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Zu einer Kurzin- tervention erhält der Abgeordnete Oswald Metzger tervention erhält zunächst der Abgeordnete Eylmann das Wort . das Wort. Oswald Metzger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Horst Eylmann (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst eine Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ginge es Richtigstellung zur Aussage des Kollegen Seiffert in nur um einen Aufschub um zehn Monate und damit seiner Zwischenfrage, was die Bezüge in Baden um 5 000 DM, bräuchten wir nicht lange zu reden. Württemberg betrifft. Aber wer in diesem Hause und auch draußen in der Bevölkerung ist so naiv, anzunehmen, daß im näch- In Baden-Württemberg ist im letzten Jahr zwi- sten Frühjahr die Grünen nicht mit einem neuen An- schen allen Landtagsfraktionen mit Ausnahme der trag kämen? Republikaner eine stufenweise Erhöhung mit den Stimmen der Grünen verabredet worden, (Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Zurufe von der CDU/CSU: Aha!) Wenn Sie, Herr Häfner, das bestreiten, erklären Sie doch bitte hier und heute - vor drei Wochen haben die am 1. Juni dieses Jahres in Kraft tritt. Der neue Sie etwas ganz anderes gesagt -, daß Sie dann im Landtag konstituiert sich am 11. Juni. Die Erhöhung nächsten Frühjahr keinen neuen Antrag stellen wür- wurde in einem Zeitpunkt verabredet, als diese Ko- den. alition noch den Konjunkturaufschwung beschrieb. (Dr. Barbara Hend ricks [SPD]: Dann tut es Lebhafte Zurufe von der CDU/CSU, der die F.D.P.!) SPD und der F.D.P. - Dr. Guido Westerwelle Das werden Sie nämlich nicht tun, obwohl jeder in [F.D.P.]: Wenn Sie weiter so reden, ändere diesem Hause weiß, daß die Strukturschwächen, die ich noch meine Meinung!) uns zu Einschränkungen zwingen, nicht in diesem Dabei wird die Aufwandsentschädigung - - Jahr überwunden sind, sondern dazu ein Zeitraum von drei bis vier Jahren benötigt wird. (Anhaltende Zurufe) (Anhaltende Zurufe von der SPD) - Hören Sie doch zu, meine Damen und Herren! - Auch im Jahre 1998 wird ein Antrag kommen. Wenn (Glocke der Präsidentin - Fortgesetzte der Bundestag den ersten Schritt tut, wird er im Zurufe) nächsten und übernächsten Jahr die . weiteren Schritte tun. Das sollte jeder in diesem Hause wissen. - Herr Dr. Westerwelle, beruhigen Sie sich! Dabei wird die Aufwandsentschädigung in dem Ausmaß (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) gekürzt, wie die Erhöhung stattfindet. In Hessen - leider ist Joschka Fischer, das Sinnbild parlamentarischen Sparwillens, hier nicht zugegen, (Zurufe) sonst würde ich ihm gerne einmal einige Zahlen nen- - Das stimmt. nen betrugen die Amtsbezüge des Regierungschefs 1977 12 382 DM, am 1. Mai 1995 22 902 DM. Das Mein Ratschlag an die Kollegen in Baden-Wü rt entspricht einer Steigerung um 85 Prozent. -temberg wäre, das Thema Diätenerhöhung im Lichte der jetzigen Sparbeschlüsse neu zu diskutieren. Nehmen wir Rheinland-Pfalz, um die F.D.P. nicht auszusparen: Meine Damen und Herren, die Diskussion, die jetzt (Beifall und Heiterkeit bei der SPD und dem läuft, finde ich moralisch absolut absurd. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - Dr. Guido (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Westerwelle [F.D.P.]: Wurde auch Zeit!) Sie haben Glück, daß wenige Fernsehkameras ein- Am 1. Januar 1977 bezog der Chef der Regierung geschaltet sind. Daß es Opportunismus sein soll - 12 342 DM, jetzt 21 875 DM. Das entspricht einer dieser Eindruck wird hier von den Koalitionsfraktio- Steigerung um 77,2 Prozent. Unsere Steigerung liegt nen und der SPD erweckt -, eine Erhöhung um über bei 38 Prozent. 500 DM zum 1. Juli und die im nächsten Jahr zu ver- (Wolf-Michael Catenhusen [SPD]: Und schieben, während Sie gleichzeitig den Beschäftig- unsere Ministergehälter hier?) ten eine Nullrunde zumuten und die Lohnfortzah- lung abbauen, leuchtet mir in keinster Weise ein. Jetzt frage ich die Grünen und die F.D.P., wann die Herren Justizminister Caesar und von Plottnitz ihren (Zurufe von der SPD) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996 9491 Oswald Metzger Es gibt Glaubwürdigkeit in der Politik, die sich immer wieder hatten maßregeln lassen, diskutierend gerade an dem Punkt festmacht, wie man mit der ei- bewegen und vielleicht im Einzelfall auch niederma- genen Interessenlage umgeht. chen lassen müssen, da habe ich, ehrlich gesagt, am Ende der ganzen Debatte geglaubt: Es war schlimm, (Anhaltende Unruhe) es war schwierig, aber es war jetzt auch genug. Derzeit läuft im öffentlichen Dienst eine Tarifausein- (Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten [CDU/ andersetzung, die sich heute zuspitzt. Wir sitzen hier CSU]: Ja!) und genehmigen uns einen Schluck aus der Pulle, der so trotz der beschlossenen Gesetze nicht nach- Und was passiert? Wir stehen heute wieder hier. vollziehbar ist. Ich bin ein Stückweit entsetzt. Sonst akzeptiere ich durchaus, daß wir um unsere gerechte (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: So ist es!) Entlohnung kämpfen. Ich gehöre nicht zu den Phari- Wir lassen uns wieder von der Öffentlichkeit gewis- säern - - sermaßen vor uns hertreiben. Wir werden an dieser (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Doch! Stelle wieder dazu gebracht, uns mit den Grundsätz- Doch! - Weitere Zurufe von der CDU/CSU, lichkeiten der parlamentarischen Tätigkeit und ihrer der SPD und der F.D.P.) angemessenen Bezahlung auseinanderzusetzen, die nicht nur im Grundgesetz festgehalten sind, sondern - Ihre Zwischenrufe machen das Ganze nicht besser. auch an vielen Stellen unumst ritten waren. Im ver- Das zeigt im Prinzip eher Ihre Selbstbedienungsmen- gangenen Jahr haben wir mit der großen Mehrheit talität. dieses Hauses eine, wie wir fanden, ordentliche Re- Eine ehrliche Auseinandersetzung ist erforderlich. gelung zustande gebracht. Wir befinden uns derzeit in einem gesellschaftlichen (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie Klima, das sich ganz erheblich von dem im letzten bei der CDU/CSU) Sommer und Herbst unterscheidet, als das jetzige Gesetz diskutiert und verabschiedet wurde. Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich muß bekennen: Heute hier zu stehen Ich halte unsere Bezahlung für unterdurchschnitt- ist wirklich kein motivierender Faktor. lich. Um das ganz deutlich zu sagen: Ich gehöre nicht zu denen in unserer Fraktion, die den Eindruck er- (Heiterkeit des Abg. Ulrich Heinrich wecken, daß Abgeordnete nur auf Geldsäcken sitzen [F.D.P.]) und zu gut bezahlt sind. Für gute Arbeit gehört ein Aber ab und zu muß man vielleicht einen Teil unse- Parlamentarier bezahlt. rer Entschädigung als Schmerzensgeld ansehen - (Beifall des Abg. Wolf-Michael Catenhusen warum eigentlich nicht? [SPD]) Meine Damen und Herren, es kommt jetzt darauf Aber ich bin genauso wie Sie angesichts der jetzigen an: Wir müssen den Ausgangspunkt der jetzt erneut in Gang gekommenen Debatte, wie ich finde, deut- Spardiskussion für ein Zeichen, indem wir- endlich - da treffen wir uns wieder ein Stück weit - die Ausset- lich machen und vielleicht sogar entlarven - entlar- zung dieser Erhöhung wenigstens nach außen vertre- ven nämlich als einen zutiefst populistischen Ansatz, ten. dessen Herkunft von den Grünen mich doch ab und zu wundert. Das kam schon mit der Kurzintervention Ich bin froh, daß Sie jetzt wenigstens in der letzten des Kollegen Conradi zum Ausdruck. Ich wi ll es von Minute meiner Stellungnahme zuhören, damit Sie hier aus für mich bekräftigen. merken, daß es auch differenzierende Positionen gibt. Diese blanke Zuordnung von Opportunismus Sie unterstützen mit der A rt und Weise Ihres Vor- geht mir einfach gegen den Strich. gehens das Regierungsprogramm mit den ganzen Kürzungsschweinereien, die zur Zeit im Gespräch sind. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Ihre Redezeit ist (Beifall der Abg. Elke Ferner [SPD]) jetzt vorbei. Kurzinterventionen dauern drei Minu ten. Wir werden nicht dafür sorgen, daß davon abgelenkt wird. Dafür werden wir Ihnen nicht die Hand rei- Oswald Metzger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): chen, sondern wir werden dafür sorgen, daß mit der Das muß gesagt werden, und wenn es nachts um Diätendebatte bald Schluß ist, damit wir uns entspre- 22.05 Uhr ist. chend auf die Kürzungsprobleme konzentrieren kön- nen, die für viele Millionen Menschen in diesem (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Lande mit einem Umfang von vielen Milliarden D-Mark in diesen Tagen auf den Weg gebracht wor- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat den sind und die in einem unglaublichen Mißverhält- jetzt der Abgeordnete Wilhelm Schmidt. nis zu dem stehen, was wir heute in der Diätenfrage auf dem Tisch haben: 6 Millionen gegen ungefähr 50 Milliarden DM oder wahrscheinlich noch viel Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Frau Präsiden- mehr. tin! Meine Damen und Herren! Als wir uns im vorigen Jahr dreimal über dieses Thema in diesem Ich kann Ihnen nur sagen: Dies ist nicht nur Haus auseinandergesetzt hatten und in der Öffent- schlechter politischer Stil, sondern auch inhaltlich lichkeit mit einem unglaublichen Hin und Her uns völlig daneben, meine Damen und Herren von den 9492 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996

Wilhelm Schmidt (Salzgitter) Grünen. Da kann auch die Inte rvention von Herrn lich über die Einkommen der überbezahlten Wirt- Metzger überhaupt nichts beschönigen und beglei- schaftsmanager und anderer chen. Das, was Herr Häfner heute in der Rechtsstel- lungskommission gemacht hat, ist, wie ich finde, mit (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Und die Ausdrücken zu bezeichnen, die wir in dieser Runde Journalisten!) wenigstens als unkollegial betrachten müssen. und setzt das einmal ins Verhältnis zu dem, was uns hier bei jeder Diätenerhöhung vorgeworfen wird und (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der zu dem wir an dieser Stelle leider immer mit voraus- CDU/CSU) eilendem Gehorsam - das kommt ja auch noch hinzu - angemessen reagieren sollen? Ich habe Ihnen, Herr Häfner, heute nachmittag in der Rechtsstellungskommission dazu etwas gesagt. Ich sage Ihnen: Dies kann jedenfalls von der Struk- Ich habe den vom amtierenden Vorsitzenden gerüg- tur her nicht der richtige Weg sein. Darum kann das ten Begriff zurückgenommen. Nach dem, was ich nicht die richtige Methode sein, mit der das Haus auf jetzt vom Kollegen Andreas Schmidt von der CDU- diese Dinge reagie rt. Fraktion gehört habe, nämlich daß Sie, fünf Minuten nachdem die Sitzung der Rechtsstellungskommission Ich will allerdings - damit will ich mich in gewisser zu Ende gewesen ist, sich gleich wieder an die Presse Weise öffnen - sagen, daß uns die Debatte, die drau- gerichtet haben, um sich einen weißen Fuß zu ma- ßen läuft, nicht unbeeindruckt lassen kann. Ich weiß chen, nehme ich die Zurücknahme des Ausdruckes auch noch nicht, wohin wir, was die Ergebnisse von von heute nachmittag hier zurück. Ich lasse im Ne- künftigen Regelungen betrifft, am Ende kommen bel, was damit gemeint ist. werden, weil die SPD-Fraktion darüber bisher keine Entscheidung getroffen hat. (Beifall bei Abgeordneten der SPD - Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.]: Verraten Sie Es ist schon sehr fahrlässig, Herr Häfner, wenn Sie es uns!) behaupten, Sie hätten versucht, mit uns eine Ge- meinsamkeit herzustellen. Über dieses ominöse Vor- Ich sage Ihnen, meine Damen und Herren: Das, sitzendengespräch hinaus hat es nie einen Kontakt was hierauf den Weg gebracht wird, geschieht nicht zu mir oder zur SPD-Fraktion gegeben. Das wi ll ich mit dem Wollen und nicht mit dem Wissen der SPD. hier einmal mit sehr großem Nachdruck unterstrei- Wir müssen uns darauf konzentrieren, das eine vom chen. Sie tun jedesmal so, als wenn Sie diese Ge- anderen deutlich zu unterscheiden: auf der einen meinsamkeit herbeiführen wollten. Das haben Sie Seite das Kürzungsprogramm mit seinen unglaublich heute nachdrücklich genau ins Gegenteil verkehrt. vielen schmerzhaften Einschnitten für viele Millio- Das muß deutlich sein. nen Menschen und auf der anderen Seite diese sehr Der andere Aspekt ist, daß wir dann, wenn die vordergründige Diätendebatte. Ich wi ll hinzufügen, Kürzungsprogramme der Regierungsseite hier über daß das nach meiner Einschätzung genau der Ansatz die Bühne gebracht worden sind, die Verpflichtung gewesen ist, mit dem es dieses Haus neunmal nicht - haben, darüber nachzudenken, wie wir damit umge- geschafft hat, eine Anhebung der Bezüge für die Ab- hen. Das ist unsere Pflicht und Schuldigkeit. Davor geordneten zu beschließen. Wir sind jedesmal vor dürfen wir uns nicht drücken. Der vorauseilende Ge- der angeblichen öffentlichen Meinung zurückge- horsam hat den fatalen Beigeschmack, als wenn all schreckt und eingebrochen. Wir lassen uns von Ma- diejenigen, die so handeln, also die Grünen und die gazinen, von Zeitungen und vor allen Dingen von F.D.P. ganz besonders, davon ablenken wollten, was einigen Professoren, deren Chefs oder die selbst mit diesen Kürzungsprogrammen auf den Weg ge- ll es unglaublich viel mehr verdienen oder - ich wi bracht werden soll. einmal deutlicher sagen - an Geld bekommen als wir in diesem Hause, vorführen. Dies machen wir nicht (Beifall des Abg. Wolf-Michael Catenhusen mit. [SPD])

(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie Dies kann nicht hingenommen werden, und Sie wer- bei der CDU/CSU) den uns auch nicht auf Ihrer Seite finden, wenn es darum geht, zum Beispiel so zu tun, als wenn wir, Es ist vom Kollegen Eylmann zu Recht darauf hin- falls wir jetzt die Diätenkürzung vornehmen, an- gewiesen worden, daß es im öffentlichen Raum Man- schließend nicht mehr über die Kürzungsprogramme datsträger gibt, die mit einem ganz anderen Gehalt diskutieren müßten. Nicht mit uns, meine Damen leben. Ich frage unabhängig davon, ob die Regie- und Herren; das werden wir schon sehr nachdrück- rungsbank oder die Bundesratsbank leer ist: Wer dis- lich, wie heute morgen hier im Plenum geschehen, kutiert denn in diesen Tagen eigentlich über die Ge- entlarven wollen. hälter der Minister hier in Bonn oder in den Län- dern? Ich stelle fest, daß wir an dieser Stelle also noch Be- ratungsbedarf haben. Es ist beileibe nicht so, daß die (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Überweisung dieses Gesetzentwurfes an die Rechts- CDU/CSU) stellungskommisson so etwas wie ein Verschiebe- bahnhof sein soll, im Gegenteil: Dort ist das Fachgre- Wer diskutiert denn eigentlich über das Kanzlerein mium dieses Hauses, in dem diejenigen sitzen, die kommen? Wer diskutiert denn eigentlich über die sich darüber aussprechen müssen, welches der ver- überbezahlten Sportler? Wer diskutiert denn eigent schiedenen Modelle diskutiert, nachvollzogen und Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996 9493 Wilhelm Schmidt (Salzgitter) geprüft werden soll und ob wir dann überhaupt Emp- Ohne gesetzliche Absicherung funktioniert nichts, fehlungen aussprechen können und wollen. und dieser müssen wir uns stellen - in der Öffentlich- keit, aber auch uns selbst gegenüber. Das heißt, an dieser Stelle gibt es - das will ich für die Öffentlichkeit klarstellen - mehrere Möglichkei- Der vierte Punkt könnte sein - ich finde, er ist ten, mit diesem Problem zu verfahren. der schwächste unter allen, aber auch er ist im Ge- Eine erste mögliche Verfahrensweise, die ja auch spräch -, daß man gewissermaßen mit Druck durch bei mir tendenziell durchklingt und die ich auch gar einen Beschluß dieses Bundestages eine Zwangs- abgabe, eine nicht von mir weisen will, ist, nichts zu tun, Zwangsspende an eine Stiftung insti- tutionalisiert. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU) (Zuruf von der F.D.P.: So ein Quatsch!) Selbstbewußtsein zu zeigen und am Ende Klarheit Dies, denke ich, sollte man an dieser Stelle nicht darüber herbeizuführen, wann dieses Haus und unbedingt tun. seine Mitglieder Rückgrat zeigen müssen, auch in Wir müssen das alles prüfen; die Dinge sind auf öffentlichen Debatten. den Weg gebracht. Machen wir uns doch nichts vor: Informieren Sie Ich will an dieser Stelle unsere Bereitschaft zur Dis- sich einmal über die Einkommen von Aufsichtsräten kussion in den nächsten Wochen kundtun und aus- und Vorstandsmitgliedern in der Privatwirtschaft. drücklich bekräftigen, aber ich kann Ihnen hier (Zuruf von der CDU/CSU: Oder bei den heute nicht gewissermaßen den vorauseilenden Ge- Bürgermeistern!) horsam der Grünen und der F.D.P. bestätigen, jetzt schon Kürzungsvorschläge zu beschließen. Da wird jetzt die Anbindung an die Aktienkurse her- beigeführt, gerade in diesen Tagen bei Daimler Benz Vielen Dank. in der Hauptversammlung wieder diskutiert. Dar- über redet in der Öffentlichkeit niemand. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Ich will an dieser Stelle hinzufügen: Ich finde es zutiefst richtig, wenn wir uns der Debatte stellen. Wir Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Zur Kurzinter- haben eine besondere Verpflichtung gegenüber der vention die Kollegin Antje Hermenau. Öffentlichkeit, (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS Antje Hermenau (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): SES 90/DIE GRÜNEN) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Schmidt, da Sie sich auf den Kollegen Häf- aber als Bundestagsabgeordnete Sonderopfer zu ner eingeschossen haben, biete ich Ihnen noch eine bringen, ohne auf alle anderen Beteiligten in der andere Zielscheibe an: Versuchen Sie einmal, mit mir Öffentlichkeit hinzuweisen und einzugehen,- ist die- zu diskutieren; ich bin im Haushaltsausschuß, und sem Hause nicht angemessen. dort reden wir über das Sparen an sich. (Beifall der Abg. Elke Ferner [SPD] sowie Reden wir einmal darüber, daß Sie gerade unter- bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ stellt haben, daß in diesem Land nicht gespart wer- DIE GRÜNEN) den müßte. Unterhalten Sie sich einmal mit Ihren Ich will zweitens hinzufügen, meine Damen und Kollegen aus dem Haushaltsausschuß, mit Ihrem Herren, daß wir die verschiedenen Möglichkeiten Häuptling Wieczorek, und erkunden Sie, wie die von Kürzungen oder auch das, was sonst noch im Ge- Haushälter Ihrer Fraktion die Lage insgesamt ein- spräch ist, prüfen müssen. Dazu gehört das, was die schätzen. Ich glaube nicht, daß es wirk lich Ihr Grünen vorgeschlagen haben. Das läuft ja auf eine Wunsch war, hier zu suggerieren, daß die Deutschen Verschiebung und Kürzung hinaus. im Moment nicht sparen müßten. Herr Häfner wußte heute nachmittag bei all seinen (Zurufe von der SPD) wolkigen Worten in der Rechtsstellungskommission Wollen wir diese Spardebatte einmal führen. nicht einmal, welchen Antrag die Grünen hier einge- bracht haben. Der Standpunkt, daß allgemein im Moment über die Möglichkeiten hinaus gewirtschaftet wird, ist Es kommt drittens hinzu, daß Kollege Andreas nichts Neues, und ich hätte mir gewünscht, die Schmidt von der CDU/CSU das Aussetzen für zwölf Verve, die Sie hier gerade entwickelt haben, die Lei- Monate oder wie lange auch immer als eine Möglich- denschaft und das Temperament hätten auch heute keit hier ins Gespräch gebracht hat. morgen die Diskussion beherrscht, als es darum (Jochen Feilcke [CDU/CSU]: Nein, das hat ging, daß anderen Leuten in die Börse gegriffen er nicht gesagt!) wird. Aber diesmal geht es ums eigene Geld. Auch das ist zu prüfen. Auf jeden Fall geht es nur auf (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - eine Weise, meine Damen und Herren, nämlich mit Zurufe von der CDU/CSU und der SPD) gesetzlicher Absicherung. Ich war da. Hören Sie auf; ich habe diese blutarme (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Diskussion ja verfolgt. 9494 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996

Antje Hermenau Wenn Sie unterstellen wollen, daß es nicht nötig und der Koalition reagie rt hat, war mehr als ange- ist, in diesem Land alle Ausgaben zu überprüfen, messen. dann glaube ich, daß Sie politisch auf dem falschen (Beifall bei der SPD) Dampfer sind. So einfach ist das. Wenn die Koaliti- onsfraktionen und Bündnis 90/Die Grünen gemein- Liebe Kollegin- sam der Meinung sind, daß Deutschland abspecken Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: muß, ist das im Prinzip richtig. nen und Kollegen, jetzt einmal allgemein: Es ist sicher eine Diskussion, bei der die Nerven leicht Ihre Ausführungen, die ich heute morgen gehört blank liegen. habe, meine Damen und Herren, wiesen genau den (Lachen bei der F.D.P. - W ilhelm Schmidt falschen Weg. Wir mußten heute einfach handeln, [Salzgitter] [SPD]: Aber nur wegen der Heu um Ihnen zu zeigen, wie falsch der Weg ist, den Sie chelei einiger!) mit einem Sparpaket für die armen und nicht so be- tuchten Bevölkerungsteile beschreiten. Aber da, wo Ich will alle bitten, zu bedenken, daß gerade diese Sie die Möglichkeit haben einzugreifen, nämlich bei Diskussion in der Öffentlichkeit verfolgt wird, und Ihren eigenen Gehältern, da sind Sie nicht dabei. wir sollten sie deswegen ganz ruhig, ganz geduldig Das ist wirklich ein Problem in diesem Land. und ganz souverän führen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Zur Kurzintervention erhält jetzt der Abgeordnete Helmut Lippelt das Wort. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Auf diese Kurz- intervention will der Kollege Schmidt antworten. Dr. Helmut Lippelt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Auch der Kollege Conradi hat sich gemeldet. Sie Herr Kollege Schmidt, ich möchte mich noch einmal können aber zu einer Kurzintervention weder eine auf Sie beziehen, weil mich eine Sache sehr über- Zwischenfrage stellen noch auf eine Kurzinterven- rascht hat. tion antworten. Das gäbe eine Debattenrunde. Sie können lediglich eine Kurzintervention anmelden. Herr Kollege Diese muß sich allerdings auf den letzten Redebei- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Lippelt, auch Sie können jetzt nicht auf diese Kurz- trag beziehen. intervention antworten, sondern nur auf den Rede- Jetzt erst Kollege Schmidt. beitrag.

Wilhelm Schmidt (Salzgitter) (SPD): Das mache ich Dr. Helmut Lippelt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): nun ausdrücklich, Frau Präsidentin. Ich beziehe mich nicht auf die Antwort, ich beziehe mich auf die Rede. Dazu hatte ich mich gemeldet. Ich weiß nicht, ob Sie von den Grünen mich miß- Und ich beziehe mich auf den Satz des Kollegen verstehen wollen. Ich sage Ihnen jetzt sehr deutlich, Schmidt, und wenn Sie es nicht kapiert haben, sage- ich es Ih- nen noch einmal: Ich habe hier zum Ausdruck brin- (Otto Schily [SPD]: Das geht eben nicht!) gen wollen, daß Sie mit diesem Antrag und mit der mit dem er ziemlich zu Anfang zum Ausdruck Art und Weise, wie Sie das Ganze hier debattieren, brachte: Wir hatten es doch endlich hinter uns, nun den Boden für eine völlig falsche Sparorgie dieser müssen wir uns hier wieder stellen, dann tun wir das Regierung bereiten. eben. (Beifall bei Abgeordneten der SPD - Lachen Herr Kollege Schmidt, was ist denn passiert? Was beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) hat denn dieses Hohe Haus beschlossen? Es hat ei- Ich habe doch gesagt, wir müssen uns dann, wenn nen Vier-Stufen-Plan beschlossen. Ich will über- das Gesetz verabschiedet worden ist, darüber unter- haupt nicht darüber diskutieren, ob die Anhebung so halten. gerechtfertigt war oder nicht. Wir haben das so be- schlossen, und damit steht es. (Zuruf des Abg. Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Die erste Stufe ist gelaufen; die erste Stufe haben wir in der Tasche. Dann kommt eine Spardiskussion, - Joschka Fischer, es wird doch nicht besser, wenn und in dem Moment, da die Sparmaßnahmen die Du wieder dazwischenschreist. Das kennen wir doch Kleinen treffen, sagen wir: Laßt es uns bitte hinaus- alles schon. schieben. Ich finde, das ist für uns nicht unzumutbar. Ich will an der Stelle nur bekräftigen: Sie haben Der Kollege Eylmann fragte: Werden die Grünen genau die Taktik der Regierung eingeschlagen. Das nicht in neun Monaten erneut kommen und wieder ist es, was ich kritisieren wollte. eine solche Forderung erheben? - Herr Eylmann, ich sage Ihnen eines: Wenn die Nettogehälter der Bevöl- Wenn Sie bemängeln, daß diese Auseinanderset- kerung in neun Monaten nicht steigen, werden wir zung heute morgen nicht in dem Stile stattgefunden in neun Monaten wieder damit kommen; denn da be- hat, wie Sie es gerne gehabt hätten, dann frage ich: steht ein Zusammenhang. Warum haben Sie sie dann nicht geführt? Wir müs- sen uns das nicht vorwerfen lassen. Wie die SPD (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sie heute morgen auf die Sparorgie dieser Regierung waren in der Herbstdebatte doch dagegen!) Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996 9495

Dr. Helmut Lippelt Was mich außerdem sehr ärgert, sind die Ablen- kein Streit. Der Streit geht darum, wie, bei wem, zu kungsmanöver. Ich muß immer wieder hören: Ihr be- wessen Lasten und zu wessen Gunsten gespart wird. sorgt für die CDU das dreckige Geschäft. - Was ist das für ein Unsinn! Sie lenken ab, indem Sie auf Ein- Da allerdings stelle ich die Frage, warum Sie, schnitte in Milliardenhöhe hinweisen, die 6 Millionen wenn Sie der Auffassung sind, dieses Paket sei sozial DM aber nicht in Frage stellen wollen. Das ist Ablen- ungleichgewichtig, nicht einen Vorschlag machen, kung und geht an der Sache vorbei. der die Abgeordneten, die Beamten, die Minister und viele andere, die mehr verdienen, auch Professor (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS von Arnim, einbezieht. SES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD - Zuruf des Abg. Es ist auch Ablenkung, wenn auf die Gehälter in Joseph Fischer [Frankfu rt] [BÜNDNIS 90/ der Industrie hingewiesen wird. Ich sage ganz klar: DIE GRÜNEN]) Natürlich ist die Entwicklung, die in den Vorstands- etagen der Indust rie zur Zeit zu beobachten ist, sehr - Ich werde einen solchen Antrag einbringen, schlimm. Aber: Was sind unsere Vergleichsgrößen? Joschka Fischer; dann werde ich sehen, wer ihm zu- Ist unsere Vergleichsgröße das Gehalt des Chefs der stimmt. Hannoverschen Expo, der in einem Jahr 700 000 DM in die Tasche steckt? Oder ist unsere Vergleichsgröße Aber einen Vorschlag zu machen, der 6 Millionen das, was die Bevölkerung, die wir vertreten, im DM umfaßt, und zu sagen, damit würde die soziale Schnitt verdient? Letzteres ist die Vergleichsgröße. Symmetrie hergestellt, finde ich läppisch. Dann ma- chen wir hier etwas Richtiges und werden sehen, wie (Widerspruch bei der CDU/CSU) Sie sich verhalten. Wenn Sie sich mit Herrn Heede von der Expo-Gesell- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der schaft vergleichen wollen, dann bewerben Sie sich CDU/CSU - Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE um diesen Vorsitz. GRÜNEN)

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Kollege Lippelt, die Zeit für die Kurzintervention ist abgelau- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Ich bitte um fen. Ruhe für den nächsten Redner. Das ist der Fraktions- vorsitzende der F.D.P., Dr. Hermann Otto Sohns. Dr. Helmut Lippelt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wenn Sie einen Minister der Grünen erwähnen, Dr. Hermann Otto Solms (F.D.P.): Frau Präsidentin! dann erwähnen Sie auch die anderen Minister. Meine sehr verehrten Damen und Herren! Selbstver- ständlich haben die Abgeordneten wie alle anderen Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Kollege auch ein angemessenes- Einkommen verdient. Die Lippelt! geplanten und im Gesetzblatt stehenden Steigerun- - gen sind nicht unangemessen. Das ist nicht das Pro- blem. Dr. Helmut Lippelt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Aber auch das ist nicht unsere Sache. Das Problem besteht in dem, was wir hier heute morgen diskutiert haben. Wenn wir als Koalitions- fraktion oder Koalitionsabgeordnete oder F.D.P.-Ab- Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Kollege Lippelt! geordnete forde rn - weil wir es für unausweichlich und notwendig erachten -, daß im öffentlichen Dienst eine Nullrunde durchgeführt wird, die im Dr. Helmut Lippelt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): übrigen ganz automatisch auch die Minister trifft - Unsere Sache ist das, was wir im Bundestag beein- wir sind die Handelnden, die entscheiden, nicht ir- flussen können. Sprechen Sie von Ihren Ministern, gend jemand anderes -, wenn wir auch darüber hin- die da vom sitzen, und nicht über irgendwelche Län- aus Einsparungen fordern, dann, meine ich, ist es derminister, auf die wir keinen Einfluß haben. nicht nur angemessen, sondern eine Frage der per- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sönlichen Glaubwürdigkeit zu sagen: Wir müssen die Erhöhung der Diäten, die ursprünglich geplant war, aussetzen. Herr Kollege Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (Beifall bei der F.D.P.) Lippelt, zu Ihrer Information: Eine Kurzintervention darf drei Minuten dauern. Wenn ich Sie ermahne Im öffentlichen Dienst war es ja nicht anders. aufzuhören, müssen Sie auf die Präsidentin hören. Wenn Sie, Herr Conradi, sagen: Ich bin anderer Zur Kurzintervention jetzt der Kollege Conradi. Meinung; ich bin nicht dafür, daß es eine Nullrunde gibt - die Ministerpräsidenten der SPD sind alle der Peter Conradi (SPD): Es ist nicht streitig, daß ge- Meinung, es sollte eine geben -, dann ist es auch le- spart werden muß. Angesichts der Lage der öffent- gitim, zu sagen: Ich bin nicht dafür, daß die Diätener- lichen Kassen, der Arbeitslosigkeit, der zurück- höhung ausgesetzt wird. Das ist richtig. Aber wenn gehenden Steuereinnahmen und der wachsenden ich der Meinung bin, das muß für andere geschehen, Staatsverschuldung besteht darüber in diesem Hause und darüber entscheide, dann ist es auch notwendig, 9496 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996

Dr. Hermann Otto Solms einen eigenen Beitrag zu leisten. Das ist unser An- Ich persönlich könnte mich mit einer Verschiebung satz. der Diätenanhebung sehr gut einverstanden erklä- (Beifall bei der F.D.P.) ren, wenn dieses Parlament gleichzeitig eine Offen- legung der Nebeneinkünfte beschließen würde. Wir haben keinen Gesetzentwurf eingebracht, weil wir glauben, in dieser schwierigen Situation wäre es (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE für die Würde und das Ansehen des Hauses am be- GRÜNEN und der PDS) sten, wenn wir zu einem gemeinsamen Beschluß und einem gemeinsamen Ergebnis kämen. Ich glaube, daß an erster Stelle die F.D.P. damit Pro- bleme hat. Da es in diesem Parlament wahrscheinlich (Beifall bei der F.D.P. und dem BÜNDNIS 90/ auch bei der nächsten Entscheidung noch nicht zu DIE GRÜNEN) einer positiven Entscheidung über die Offenlegung Darauf warten wir, und ich denke, dafür ist auch der Nebeneinkünfte kommen wird, bitte ich Sie, noch Zeit. Herr Fraktionsvorsitzender Sohns, um eine kleine Dienstleistung durch Ihre Fraktionsgeschäftsfüh- Herr Fischer, weil Sie so lautstark klatschen, muß rung. Nach meiner groben Schätzung sind von den ich sagen, daß ich, als wir einmal gemeinsam unter 47 Mitgliedern der F.D.P.-Fraktion mindestens 20 den Fraktionsvorsitzenden darüber gesprochen hat- ehemalige oder aktive Minister oder Staatssekretäre. ten, nicht wenig verwundert war, schon eine Drei- Sie alle erhalten öffentlich bekannte Bezüge, die viertelstunde später eine Tickermeldung von Herrn man Gesetzen entnehmen kann. Man weiß, wie hoch Häfner auf dem Tisch zu haben, mit der er dies be- die Abgeordnetenbezüge sind; man weiß, wie hoch reits ankündigte, sozusagen in einem Wettlauf, wer die Minister- und Staatssekretärsbezüge sind, und in Sachen Popularität schneller ist. Das offenbart ein man weiß auch, wie hoch die Bezüge von ehemali- wenig die Absicht, die dahintersteht, und das kann gen Ministern und Staatssekretären sind - jedenfalls man heute auch nicht wiedergutmachen. kann man es nachsehen. Da Sie, Herr Kollege Solms, die Mitglieder Ihrer Fraktion besser kennen als wir, (Beifall bei der F.D.P.) darf ich Sie bitten, uns und der Öffentlichkeit durch Meine Damen und Herren, es geht darum: Wer von Ihre Fraktionsgeschäftsführung einmal eine solche anderen Opfer forde rt, muß selbst zu Opfern bereit Liste der Nebeneinkünfte in Form öffentlicher Be- sein. züge zur Verfügung zu stellen. (Beifall bei der F.D.P.) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne Deswegen unser Vorschlag, die Diätenerhöhung um ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN ein Jahr zu verschieben und der PDS) (Joseph Fischer [Frankfu rt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Sehr gut!) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Fraktions- vorsitzender, bevor Sie antworten, möchte ich erst und wegen der Absenkung bei der Lohnfortzahlung dem Kollegen Eylmann das Wo rt zu einer Kurzinter- den Abzug für krankheitsbedingte Fehltage- an Prä- vention geben, weil sich die auch auf diesen Rede- senztagen von 30 DM auf 90 DM anzuheben. Das beitrag bezieht. Dann können Sie auf beide zusam- trifft genau das, was wir von anderen ebenfa lls for men antworten. dern, nicht mehr und nicht weniger. Wir haben die Geduld, zu warten, bis die Entschei- dungen in den anderen Fraktionen getroffen sind. Horst Eylmann (CDU/CSU): Verehrter Herr Kol- lege Sohns, meine Frage zielt in eine andere Rich- Vielen Dank. tung. Nachdem die Grünen in der bisherigen De- batte haben durchblicken lassen, daß sie einen Ver- (Beifall bei der F.D.P.) längerungsantrag - so darf ich es nennen - im näch- sten Jahr nicht ausschließen, möchte ich Sie fragen, Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Zu einer Kurzin- wie Sie zu einer Verlängerung der Aussetzung ste- tervention erhält das Wo rt die Abgeordnete Hen- hen. dricks. Herr Kollege Solms, ich frage aus einem sehr ern- sten Grund. Ich glaube, daß es dieses Parlament auf Dr. Barbara Hendricks (SPD): Herr Kollege Sohns, Dauer nicht aushält, jedes Jahr erneut als Diätensau es wundert mich nicht, daß Sie zu den ersten gehört durchs Dorf getrieben zu werden. haben, die für die Verschiebung der Diätenanhe- bung plädiert haben. Daß Sie diesen opportunisti- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge schen Weg gehen, kann ich verstehen, weil natürlich ordneten der SPD) Teile der Koalitionsfraktionen ein besonderes Inter- esse daran haben müssen, diese besonderen Ein- Ich halte es, verehrter Herr Kollege Sohns, für bloße schränkungen für die allgemeine Bevölkerung zu Augenwischerei - die auch von der Öffentlichkeit verdecken. Daß die Grünen darauf reingefallen sind, durchschaut werden wird -, wenn wir die Diätener- finde ich bedauerlich. höhung nur für zehn oder zwölf Monate aufschieben. Wenn wir schon der Meinung sind, sie sei nicht zu (Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ verantworten, dann wäre es ehrlicher, zu sagen, wir NEN) verschieben sie gleich für einen längeren Zeitraum. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996 9497 Horst Eylmann Wenn dieses Parlament weiterhin ein Mindestmaß Wenn Sie dazu nicht in der Lage sind, Herr Kollege, an Respekt haben will, dann muß sich das Parlament dann bitten Sie Ihre Kollegen in der Fraktionsfüh- entscheiden, es entweder bei der gegenwärtigen Re- rung; die werden Ihnen das ausrechnen. Das ist über- gelung zu belassen oder aber der bitteren Wahrheit haupt kein Problem. Wir sind nicht dafür da, Ihnen ins Auge zu sehen, daß wir den Rückstand, der uns Nachhilfeunterricht in Mathematik zu geben. vor drei Jahren von einer unabhängigen Kommission dargelegt worden ist, in den nächsten vier bis fünf Vielen Dank. Jahren nicht aufholen werden. Das allein ist die ehrli- (Beifall bei der F.D.P. - Peter Conradi che Alternative. [SPD]: Irgendwie fällt mir da Frau Hamm-Brücher (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU ein! - Weiterer Zuruf von der SPD: Drücke und der SPD) berger!)

Dr. Hermann Otto Solms (F.D.P.): Sehr geehrter Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat Herr Kollege Eylmann, wir stehen gegenwärtig vor jetzt die Abgeordnete Dr. Dagmar Enkelmann. einer bisher noch nie dagewesenen Sparaktion. Wir stehen an einem Wendepunkt in der Sozial-, Gesell- schafts- und Wirtschaftspolitik. Dr. Dagmar Enkelmann (PDS): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kollege Conradi, ich mag (Zurufe von der SPD: Ach was?) Sie wirklich sehr. Wir gehen davon aus, daß unsere Vorschläge den (Lebhafte Zurufe: Hoi!) notwendigen Erfolg erzielen, Investitionsbereitschaft auslösen und dazu beitragen werden, daß es mehr Aber im Zusammenhang mit Abgeordneten von ei- Arbeitsplätze und mehr Beiträge zu den sozialen ner sozialen Schieflage zu sprechen ist etwas maka- Versicherungssystemen geben wird. Wir gehen da- ber. Die Diskussion, die hier stattfindet, ist längst von aus, daß eine zweite Sparaktion nicht notwendig überfällig. Sie steckt allerdings voller Heuchelei, sein wird. denn wir reden hier über die Verschiebung der zwei- (Lachen bei der SPD) ten Stufe einer drastischen Diätenerhöhung, die vor wenigen Monaten hier mit übergroßer Mehrheit be- Deswegen ist die Aussetzung oder - besser - die Ver- schlossen wurde. Über die erste Stufe spricht schon schiebung - damit Sie Zeit haben, unseren Vorschlag gar niemand mehr. richtig zu verstehen - der drei Stufen um jeweils ein Jahr zum gegenwärtigen Zeitpunkt das angemes- Aber bereits zu diesem Zeitpunkt hat die PDS vor sene Mittel. Im nächsten Jahr wird das nicht notwen- den Vorboten des Regierungsprogramms sozialer dig sein. Da wird es diesen Vorschlag nicht geben. Grausamkeiten gewarnt. Es ging um die Kürzung der Arbeitslosenhilfe. Es ging um die Streichung im Die Frau Kollegin Hendricks möchte ich fragen: Was heißt hier „verdecken"? Wir haben heute mor- Asylbewerberleistungsgesetz. Deswegen haben wir - gen ganz offen und offensiv unsere Vorschläge ver- damals deutlich gesagt: Bevor man Sozialhilfeemp- treten. Sie und ich, wir wissen beide, daß das keine fängerinnen und -empfängern, bevor man Rentnerin- populäre, sondern eine schwierige Diskussion ist. nen und Rentnern, Arbeitslosen oder Familien in die Wir wissen alle, daß das bei den Betroffenen natür- Tasche greift, sollten wir zunächst auf die Erhöhung lich keine Freude auslöst. der eigenen Bezüge verzichten. (Karl Hermann Haack [Extertal] [SPD]: Krie Aber der äußere Druck war damals offenkundig gen wir die Liste oder nicht?) nicht stark genug. Dafür war der Druck einer offen- bar minderbemittelten Mehrheit in diesem Parlament Trotzdem sind diese Diskussion und die Einsparun- um so größer. Und so gab es dann quasi als Weih- gen notwendig. nachtsgeschenk 1995 einen kräftigen Nachschlag aus der Diätensuppe. (Karl Hermann Haack [Extertal] [SPD]: Krie gen wir die Liste oder nicht?) Nun haben Sie das Programm sozialer Graumsam- - Wenn Sie reden wollen, dann melden Sie sich doch keiten hier vorgestellt und damit den Bogen offen- bitte! Ich kann Sie so akustisch nicht verstehen. - kundig überspannt. Das Faß ist übergelaufen. Immer mehr Bürgerinnen und Bürger fragen nach, warum (Wolf-Michael Catenhusen [SPD]: Ob Sie sie für die konzeptionslose Sparpolitik dieser Bun- die rausrücken!) desregierung bluten müssen, während an den Abge- ordneten der Kelch vorbeigehen soll. Das ist das eine. Nein, ich denke, die Entscheidung über die (Karl Hermann Haack [Extertal] [SPD]: Zur Ver- schiebung der Diätenerhöhung Sache: ja oder nein?) ist ein Gebot der po- litischen Moral. Sie ist nicht nur nach außen hin not- Das zweite ist: Die Höhe der Versorgung derjeni- wendig, Kollege Metzger, sondern sie ist vor allem gen, die aus öffentlichen Kassen Ansprüche haben, für unsere eigene Glaubwürdigkeit wichtig. ist bekannt. Jeder kann sie sich ausrechnen. (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Nennen (Karl Hermann Haack [Extertal] [SPD]: Krie Sie einmal ein paar Kontonummern der gen wir die Liste? Ja oder nein?) PDS!) 9498 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996

Dr. Dagmar Enkelmann - Ich kann Ihnen gern die Kontonummer unseres gierte Gruppe die Diäten, die ich als durchaus ange- Spendenfonds zur Verfügung stellen. Wir haben so messen betrachte, jeden Monat überweisen läßt, viele Anträge, daß wir sie gar nicht bedienen kön- ( [PDS]: Meinen Sie uns? nen. Sie müssen es uns sagen, wenn Sie uns Unserer Auffassung nach stellt der Gesetzentwurf meinen!) von Bündnis 90/Die Grünen aber nur eine Minimal- halte ich nicht für besonders glaubwürdig. forderung dar. Wir meinen, daß das gesamte Paket der Leistungen für Abgeordnete erneut aufgeschnürt werden muß. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Die Antwort bitte. Es geht erstens darum, daß es endlich Regelungen nicht nur für die Offenlegung der Nebeneinkünfte gibt, sondern vor allem auch für die Anrechnung von Dr. Dagmar Enkelmann (PDS): Gerade weil diese Nebeneinkünften. Daß Sie davon aus guten Grün- Schieflage besteht und im Osten nach wie vor - und den die Finger lassen, Kolleginnen und Kollegen von wahrscheinlich auf lange Sicht - keine 100 Prozent der F.D.P., ist mir irgendwie verständlich. Denn im- gezahlt werden, können wir hier erst recht nicht kräf- merhin sind die Diäten für mehr als die Hälfte der tig zulangen, auch als Ost-Abgeordnete nicht. Wir Abgeordneten dieses Parlaments nur ein angeneh- haben eine andere Va riante ersonnen, weil es gesetz- mes Zubrot, sozusagen Peanuts. Daß es oftmals ein- lich nicht möglich ist, auf Diäten zu verzichten. Wir träglicher ist, in Aufsichtsräten zu sitzen oder Bera- haben einen Spendenfonds eingerichtet, und wir un- tungsfunktionen auszuüben, ist, so denke ich, vielen terstützen mit diesem Spendenfonds soziale Projekte, klar. kulturelle Projekte und Jugendprojekte vor allem in den neuen Bundesländern. Ich kann Sie nur dazu Zweitens geht es darum, daß die Pensionsrege- aufrufen, sich dem anzuschließen. lung erneut auf den Prüfstand muß. Das ist notwen- (Beifall bei der PDS) dig angesichts der zunehmenden Unsicherheiten bei Rentenbezieherinnen und -beziehern, angesichts Ih- res Vorhabens, die Renten stärker zu besteue rn, auch Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Ich schließe nun angesichts der zunehmenden Belastung von Rent- die Aussprache und erteile zunächst nach § 30 unse- nerinnen und Rentnern bei Arzneimitteln, Kuren, rer Geschäftsordnung dem Abgeordneten Gerald Brillen usw. Es ist einfach nicht länger hinnehmbar, Häfner das Wort zu Äußerungen, die sich in der Aus- daß Abgeordnete in die Rentenkasse nicht einzahlen, sprache auf die eigene Person bezogen haben. aber bereits nach kurzer Zeit in diesem Parlament einen nicht unbedeutenden Anspruch erwerben. Gerald Häfner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ver- Ich denke, als Gesetzgeber haben wir die morali- ehrte Kolleginnen und Kollegen, ich hoffe, Sie ertra- sche Pflicht, Schaden vom deutschen Volk abzuwen- gen es, daß ich für einen Moment die Tonlage etwas den. - ändere. Ich möchte eine persönliche Erklärung abge- ben zu den Vorwürfen, die in dieser Debatte nicht in (Zuruf von der F.D.P.: Gerade Sie!) der Sache, sondern ad personam, und zwar zu mei- ner Person, gefallen sind. Wir haben aber auch die moralische Pflicht, uns nicht über das Volk zu erheben, also nicht do rt zu nehmen Es war die Entscheidung insbesondere von Ihnen, und uns selbst zu geben. Herr Schmidt, sich im wesentlichen nicht mit der Sa- che zu beschäftigen, sondern mit der Person, so wie (Beifall bei der PDS) Sie das sehen. (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Herr Häf Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Zu einer Kurzin- ner, hat Herr Schmidt die Unwahrheit tervention hat das Wo rt der Abgeordnete Teiser. gesagt? Stehen Sie doch dazu!) Ich möchte deutlich sagen: „Heuchler" war nicht das einzige, was ich ertragen mußte. Sie können in dem Michael Teiser (CDU/CSU): Liebe Kollegin, halten Stil weitermachen. Ich habe mir hier zum Beispiel no- Sie es eigentlich für besonders glaubwürdig, sich tiert: „Häfner, dein Name sei Doppelzunge". Jeder, hier als Mitglied einer privilegierten Gruppe hinzu- der solches sagt, möge dies selbst verantworten. stellen, die - im Gegensatz zu vielen Ihrer Lands- leute in den neuen deutschen Bundesländern - mit (Unruhe) 100 Prozent ihrer Bezüge hier sitzt, wobei ich niemals den Vorschlag gehört habe, sich dem Niveau von et- - Ich möchte für einen Moment um Ihre Aufmerk- was über 80 Prozent anzunähern, für die viele Ihrer samkeit bitten, und zwar deshalb Mitbürger in den neuen deutschen Bundesländern (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Ich habe arbeiten müssen? Vor diesem Hintergrund hier mit bloß gefragt, ob Herr Schmidt die Unwahr pathetischen Worten davon zu sprechen, man müsse heit gesagt hat!) „Schaden vom deutschen Volk" abwenden und eine Überprüfung der Gesamtleistungen für Abgeordnete - gestatten Sie das bitte für einen Moment -, weil vornehmen, während man sich selber als privile- hier noch mehr und anderes auf dem Spiel steht als Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996 9499

Gerald Häfner nur irgendeine Abstimmung. Hier steht der Umgang steht, was sich im Lande abspielt und was die Men miteinander auf dem Spiel. schen nachvollziehen und verstehen können. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) und der SPD) Hier steht auch mein persönlicher guter Ruf auf dem Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Interfraktionell Spiel, und der ist mir wichtig. wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksa- che 13/4667 an die in der Tagesordnung aufgeführ- Ich habe in diesem Deutschen Bundestag sehr ten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu andere wohl darauf geachtet - ich habe in solchen Dingen Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die mit vielen Kollegen, die hier sitzen, zu tun gehabt -, Überweisung so beschlossen. daß ich mich, was Absprachen betrifft, immer korrekt verhalte und zuverlässig bin. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a und 8 b auf: (Zuruf von der SPD) a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeord- - Sie müssen mir nicht glauben. neten Annette Faße, Elke Ferner, B rigitte Adler, weiterer Abgeordneter und der Frak- Ich kann die Vorwürfe, die hier gegen mich erho- tion der SPD ben worden sind, nur in aller Deutlichkeit zurückwei- sen. Ihnen, Herr Schmidt, sage ich: Die Meldung, die Perspektiven der deutschen Binnenschiff- Sie hier zitiert haben, enthält richtige Zitate. Ich habe fahrt nach der Diskussion in der Rechtsstellungskommis- - Drucksachen 13/1796, 13/3378 - sion, angesprochen von einem Journalisten der Agentur Reuters auf die Frage, ob nicht bereits a lles b) Beratung der Beschlußempfehlung und des entschieden sei, gesagt, es sei überhaupt nichts ent- Berichts des Ausschusses für Verkehr schieden, sondern es solle - wie es hier steht - erst (15. Ausschuß) zu der Unterrichtung durch Mitte Juni entschieden werden: die Bundesregierung Mitteilung über eine gemeinsame Politik Der grüne Abgeordnete Häfner erklärte, in der bei der Gestaltung des Marktes der Bin- Rechtsstellungskommission des Bundestages sei nenschiffahrt und von Begleitmaßnahmen am Donnerstag vereinbart worden, daß zunächst die Parlamentsverwaltung die verschiedenen Vorschlag für eine Richtlinie des Rates Vorschläge zusammenstellen sollte. Am 11. Juni über die Einzelheiten der Befrachtung und solle die Kommission dann ihre Haltung zu der der Frachtratenbildung im innerstaatlichen am 1. Juli geplanten Anhebung der Abgeordne- und grenzüberschreitenden Binnenschiffs- tenbezüge festlegen. güterverkehr in der Gemeinschaft Vorschlag für eine Verordnung (EG) des Das habe ich erklärt. Das entspricht den Tatsachen, Rates zur Änderung der Verordnung und das enthält nichts, was zu erklären nicht richtig, (EWG) Nr. 1101/89 über die Strukturberei- nicht dienlich oder aus sonstigen Gründen- nicht nigung in der Binnenschiffahrt schicklich wäre. Vorschlag für eine Verordnung (EG) des Ich habe dann auf die Frage, ob nicht schon alles Rates zur Änderung der Verordnung entschieden sei - denn nun sei ja der Vorschlag der (EWG) Nr. 1107/70 über Beihilfen im Eisen- CDU/CSU auf dem Tisch, die Erhöhung in diesem bahn-, Straßen- und Binnenschiffsverkehr Jahr auszusetzen -, gesagt, dies sei meines Wissens - Drucksachen 13/3286 Nr. 2.9, 13/4243 - kein Vorschlag der CDU/CSU, sondern Ihr persönli- cher Vorschlag Herr Kollege Schmidt. So jedenfalls Berichterstattung: haben Sie das in meiner Gegenwart auch erklärt. An- Abgeordnete Annette Faße sonsten habe ich hinsichtlich anderer Vorschläge - Zur Großen Anfrage liegt je ein Entschließungsan- diesen habe ich nicht dargestellt; der wurde mir un- trag der Fraktion der SPD und von Bündnis 90/Die terbreitet - keine Erklärungen abgegeben, außer, Grünen vor. wie ich das gesagt habe, bezüglich des Zeitplans. Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Ich finde das - gestatten Sie mir das zum Ab- gemeinsame Aussprache eine halbe Stunde vorgese- schluß -, was sich in dieser Debatte abgespielt hat, hen. - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist so be- unangemessen und im persönlichen Umgang und im schlossen. parlamentarischen Stil nicht gut. Heute nachmittag war Herr van Essen - der aus Gründen, die er selber Wenn es hier etwas ruhiger geworden ist - ich bitte kennen muß, seine Rede nicht gehalten, sondern zu darum, den Gang freizumachen -, eröffne ich die Protokoll gegeben hat - Opfer dieses „bashing", Aussprache. Zunächst hat die Abgeordnete Renate heute abend bin ich es geworden. Ich fände es ange- Blank das Wort . messen, wenn wir die Debatte in der Sache führen (Unruhe) würden - durchaus mit harten Argumenten, aber - Wir warten noch einen Moment, bis Ruhe ist. nicht in diesem Stil. (Anhaltende Unruhe) Ich habe - das möchte ich zum Abschluß sagen - den Eindruck, daß die Debatte, die wir heute abend - Liebe Kolleginnen und Kollegen, würden Sie bitte, geführt haben, im umgekehrten Verhältnis zu dem falls Sie nicht im Raum bleiben wollen, Platz machen, 9500 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer damit hier Ruhe einkehrt. Ich bitte insbesondere, den ben sich die Frachten bislang nur auf sehr niedrigem Pulk da oben aufzulösen. - Ich glaube, jetzt ist es Niveau stabilisiert. halbwegs ruhig. Zur Verbesserung der Situation im Binnenschif- Bitte schön, Frau Kollegin. fahrtsbereich hatte der Deutsche Bundestag bereits am 9. Dezember 1993 einen umfangreichen Maßnah- menkatalog beschlossen. Betonen möchte ich: Die in Renate Blank (CDU/CSU): Frau Präsidentin! dieser Entschließung enthaltenen nationalen Maß- Meine Damen und Herren! Die Binnenschiffahrt nahmen sind inzwischen umgesetzt worden. hätte eigentlich eine bessere Zeit und eine bessere Gelegenheit verdient, wenn über sie diskutiert wird. (Elke Ferner [SPD]: Mit welchem Erfolg?) Aber zu dieser späten Stunde möchte ich doch noch einmal darauf hinweisen, daß die Binnenschiffahrt Die deutschen Vorleistungen zur Liberalisierung in umweltverträglich ist, einen hohen Sicherheitsgrad Europa sind erbracht. Nun gilt es, um in Europa zu besitzt, sparsam im Energieverbrauch ist und zur einer Harmonisierung und einem chancengleichen Entlastung des Straßenverkehrs beiträgt. Wettbewerb zu gelangen, mit Nachdruck auf die Ab- schaffung der Tour-de-Rôle-Systeme in unseren Der Anteil der Binnenschiffahrt an der Gesamtver- Nachbarländern deutlich vor dem Jahre 2000 zu kehrsleistung liegt bei zirka 20 Prozent. Das ent- drängen. Außerdem ist darauf hinzuwirken, daß ein spricht in etwa dem Anteil der Bahn im Güterbe- Marktbeobachtungssystem eingerichtet wird. Im In- reich. Viele sprechen von der Bahn, aber nur wenige teresse einer deutschen Binnenschiffahrt ist auf eine von der Binnenschiffahrt, obwohl sie eine beachtli- dringend gebotene Harmonisierung der Soziallasten, che Transportleistung erbringt. Im Jahre 1995 wur- zum Beispiel bei den Beiträgen zur Berufsgenossen- den auf den bundesdeutschen Wasserstraßen zirka schaft, die echte Wettbewerbsnachteile darstellen, 240 Millionen Tonnen Güter befördert, allerdings nur hinzuwirken. Ich weiß sehr wohl - und es bedrückt zu einem Anteil von zirka 45 Prozent mit deutscher mich -, daß hier kurzfristige Erfolge nicht zu erwar- Flotte. ten sind. Damit der vergessene Verkehrsträger die Bedeu- Am 11. März hat der EU-Ministerrat einer Abwrack- tung erhält, die ihm zusteht, aktion einschließlich der Mitfinanzierung aus Ge- meinschaftsmitteln mit 20 Millionen Ecu für 1996 (Unruhe - Glocke der Präsidentin) nach langwierigen Verhandlungen zugestimmt. Zu später Stunde danke ich an dieser Stelle ausdrück- müssen die Vorteile der Binnenschiffahrt bekannter lich dem Bundeskanzler für seinen Einsatz in dieser werden. Deshalb hat sich hier eine Parlamentarier- Angelegenheit. gruppe gebildet, die aus den Sprecherinnen der Fraktionen zu diesem Sachbereich besteht. Wir wol- (Beifall bei der CDU/CSU) len zu einer Anhebung der Bedeutung der Binnen- schiffahrt beitragen. Neben diesem positiven Signal für die Binnenschiff- fahrt ist der Ausbau von Güterverkehrszentren mit Damit die Binnenschiffahrt zu einer bei Verladern der Förderung des kombinierten Verkehrs wichtiger und Spediteuren nicht mehr wegzudenkenden Bestandteil für eine funktionierende Transportkette. Größe im Transportgeschäft werden kann, ist es Hier sind neben privaten Investoren auch Länder zwingend notwendig, daß die Binnenschiffahrt Logi- und Kommunen gefragt und gefordert. Das nationale stikkonzepte entwickelt und anbietet; denn das An- 100-Millionen-DM-Hilfsprogramm ist ein Ansatz für gebot einer durchgehenden Transportkette vom Ver- die Förderung der deutschen Binnenschiffahrt. Lei- sender zum Empfänger ist gefragt. Dies geht aber der fließen die Mittel nur zögerlich ab. Wir drängen nur, wenn mehrere Verkehrsträger konzeptionell auf Übertragung der Restmittel aus dem Jahr 1996 und kooperativ zusammenarbeiten. Intensive Zusam- auf das Jahr 1997. menarbeit ist also angesagt. Im Miteinander, bei dem jeder Verkehrsträger seine arteigenen Vorteile ein- Eine moderne und leistungsfähige Binnenschif- bringen kann, liegt die Zukunft, nicht aber in einem fahrt benötigt aber auch gut ausgebaute Wasserstra- gnadenlosen Konkurrenzkampf und Verdrängungs- ßen. Deutschland verfügt über ein Bundeswasser- wettbewerb zwischen Schiene und Straße. straßennetz von rund 7 500 Kilometern, das fast alle bedeutenden Industriestandorte und Regionen ver- Meine Damen und Herren, mit der Aufhebung der bindet. Wir sagen deshalb ja zum umweltschonen- Tarifbindung zum 1. Januar 1994 und mit der Frei- den Ausbau von Donau und Elbe, damit die Binnen- gabe der Kabotage zum 1. Januar 1995 fing eigent- schiffahrt möglichst ganzjährig im Einsatz sein kann. lich alles an, und die deutsche Binnenschiffahrt ge- Nur so kann sie ein verläßlicher Verkehrsträger sein. riet in Minuszahlen und in die Schlagzeilen. Ich erin- Ich erinnere hier nur an den Widerstand gegen den nere an die Aktion des Gewerbes mit der Sperrung Main-Donau-Kanal. Der positive Trend der Verkehrs- des Rheins für einige Stunden. entwicklung auf dem Main-Donau-Kanal hat auch 1995 angehalten. Auch die Personenschiffahrt und Nach wie vor befindet sich die deutsche Binnen- der Tourismus erleben do rt seit der Eröffnung einen schiffahrt in einer schwierigen wirtschaftlichen Situa- wahren Boom. tion. Neben der Tarif- und Kabotagefreigabe haben konjunkturelle und strukturelle Gründe zu völlig un- Aber nun zu einem Lieblingskind von Bündnis 90/ zureichenden Frachterträgen geführt. Trotz der in Die Grünen. Ihre ökologische und soziale Steuerre- letzter Zeit deutlich steigenden Transportmengen ha- form und die sogenannte verursachergerechte Anla- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996 9501 Renate Blank stung der Wegekosten - dies ist übrigens auch im schen Fehlentscheidungen hat dieser Träger keine SPD-Antrag enthalten - würden der Binnenschiffahrt Perspektiven innerhalb der deutschen Verkehrsträ- das Lebenslicht ausblasen. Kostendeckende Kanal- ger. Er hat keine Chancen, weil die politischen Vor- gebühren und eine Mineralölsteuer wären der Tod gaben eindeutig fehlen. Das sage nicht nur ich Ih- der Binnenschiffahrt. Wir wollen der deutschen Bin- nen, das wird auch öffentlich vom Gewerbe deutlich nenschiffahrt nicht das Lebenslicht ausblasen. Wir gesagt. wollen, daß die deutsche - ich betone das Wo rt „deutsche" - Binnenschiffahrt zu auskömmlichen Um überhaupt ein Stück in der Entwicklung voran- Preisen genügend Fracht erhält, damit viele Güter zukommen, hat die SPD eine Große Anfrage gestellt. auf diesem umweltfreundlichen Verkehrsträger Aber das Gewerbe, so muß ich Ihnen sagen, ist über transportiert werden können. die Antwort sehr enttäuscht. Danach heißt es näm- lich in der Tendenz: Seht zu, wie ihr allein mit der (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Krise fertig werdet; ihr - das Gewerbe - seid gefor- dert. Die Politik äußert sich eigentlich nur sehr Den Antrag von Bündnis 90/Die Grünen lehnen schwammig und sehr zurückhaltend. wir ab. Den Antrag der SPD in der ursprünglichen Fassung lehnen wir auch ab, da Formulierungen ent- Ich hätte es darum begrüßt, wenn wir heute klare halten sind, die wir so nicht mittragen können und Perspektiven hätten aufzeigen können; denn es ist ja die auch nicht unseren Vorstellungen entsprechen. weiterhin so, daß auf EU-Ebene Wettbewerbsnach- Leider ist ein gemeinsamer Antrag gescheitert, teile bestehen. Das Tour-de-Rôle-System wird nicht vor dem Jahr 2000 beerdigt werden. Wir haben keine (Siegfri ed Scheffler [SPD]: An wem liegt einheitliche Binnenschiffsordnung. Wir haben kei- denn das?) nen europäischen Krisenmechanismus. Da frage ich aber - ich betone dies - nicht an den Verkehrspoliti- mich: Wo ist das Engagement dieser Regierung auf kern. Doch wir befinden uns immer noch auf der EU-Ebene? Hier muß natürlich massiver als bisher Grundlage unseres gemeinsamen Antrages vom Einfluß genommen werden. 31. Januar 1996. Er wird für uns eine weitere Diskus- (Beifall bei der SPD) sionsgrundlage sein. Jetzt zu der vielgerühmten und mit großem Dank Wir werden in unseren Bemühungen um eine bedachten Abwrackaktion, die wir nur mit Krampf deutsche Binnenschiffahrt nicht nachlassen. durchbekommen haben. Das war ja nun wirklich (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) kein gutes Schauspiel, was zwischen Verkehrsmi- nisterium und Finanzministerium hin und her vorge- führt wurde: ein Ja, ein Nein, ein Nein und dann Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat die doch wieder ein Ja. Es ist gut, daß es nachher ein Ja Kollegin Annette Faße. wurde. Wir müssen aber deutlich sagen: Solch ein Hin und Her auf EU-Ebene schadet der deutschen Annette Faße (SPD): Frau Präsidentin! Meine Da- Binnenschiffahrt. men und Herren! Liebe Frau Blank, das- war nun wirklich kein Glanzstück, obwohl wir die Chance zu (Beifall bei der SPD) einem Glanzstück heute gehabt hätten, auch wenn Lassen Sie mich auch noch einmal auf das Notpro- es zu später Stunde ist, nämlich ein Zeichen zu set- gramm, auf das 100-Millionen-Programm, zu spre- zen, indem wir einen gemeinsamen Antrag auf den chen kommen. Bisher liegen Anträge mit einem Vo- Weg gebracht hätten. Leider, muß ich an dieser Stelle lumen von 20,556 Millionen vor. Bescheide sind erst sagen, war dies nicht möglich. Es war nicht deswe- über 13,228 Millionen erteilt worden, und ausgezahlt gen nicht möglich, weil wir beide uns nicht hätten ei- worden sind erst 7,796 Millionen. nigen können. Es war auch nicht deshalb nicht mög- lich, weil die Verkehrsfachleute dagegen gewesen (Elke Ferner [SPD]: Die schlafen im Ministe wären. Es war deshalb nicht möglich, weil die CDU/ rium!) CSU-Fraktion und auch die F.D.P.-Fraktion einen An- Dieses Programm war inhaltlich falsch ausgestal- tragsentwurf, der seit fünf Wochen den einzelnen Be- tet, und man hat eines nicht bedacht: daß die Kom- richterstattern vorliegt, innerhalb der Fraktionen plementärmittel von den Partikulieren überhaupt nicht haben beraten und auf den Weg bringen kön- nicht erbracht werden konnten. nen. (Beifall bei der SPD - Elke Ferner [SPD]: (Vorsitz: Vizepräsident Hans-Ulrich Klose) Das haben wir immer gesagt!) Ich sage ganz deutlich, der Antrag der von Ihrer Ich hoffe, daß das Geld jetzt überhaupt noch vorhan- Seite im Vorfeld entstanden war, ist dann glückli- den ist und nicht schon unter „gegenseitig dek- cherweise zurückgezogen worden, denn es war ein kungsfähig" für andere Haushaltsstellen im Binnen- Antrag, dessen man sich wirklich nur schämen schiffahrtshaushalt verbraten worden ist. Ich hoffe konnte. das nur; denn unser Antrag beinhaltet nachher ja (Beifall bei der SPD) auch eine Fortführung der Maßnahmen. Meine Damen und Herren, die Sonntagsreden hö- Es fehlen weiterhin flankierende Maßnahmen. Das ren wir immer wieder: Umweltfreundlich, kostengün- sind die Investitionen in den Häfen; die Umschlag- stig, sicher ist der Verkehrsträger Binnenschiff. Wir einrichtungen sind ungenügend, und wir haben wei- müssen jedoch ganz deutlich sagen: Nach den politi- terhin das Problem der Güterverkehrszentren. Wir 9502 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996

Annette Faße müssen bedenken, daß von 75 Großstädten 57 am tik und über die Modernisierung der Binnenhäfen Fluß, am Wasser liegen. Hier sind natürlich auch streiten - diese Binnenschiffahrt braucht unsere Soli- Länder und Kommunen gefordert, diesem eine an- darität. dere Gewichtung zu geben. Wir haben auf der einen Seite die Abwrackaktion, Das kommt aber gleich auf Sie zurück, Herr Staats- auf der anderen Seite ist es aber auch wichtig, daß sekretär. Ich frage mich, wo eigentlich das Wasser- wir Investitionen in neue Schiffe unterstützen. Wir straßenausbaugesetz bleibt. brauchen moderne Schiffe mit neuer Technik. Wenn bald nur noch alte Schiffe fahren, dann frage ich (Beifall bei der SPD - Elke Ferner [SPD]: mich, wie lange dies noch ein sicherer Verkehrsträ- Die pennen!) ger ist. Es wurde mir für den letzten Herbst angekündigt; es Darum sind - ähnlich wie in den Niederlanden - ist aber immer noch nicht da. Ich sehe hier einfach Modelle der Steuererleichterung und einer steuer- den Konflikt zwischen Verkehrs- und Umweltmi- freien Rücklage für Investitionen in mode rnes nisterium. Wenn das nicht so ist, können Sie das Schiffsmaterial und logistische Systeme zu prüfen. heute abend sicherlich aus der Welt räumen und uns sagen, wann wir eine Gleichbehandlung von Ganz große Sorgen bereitet dem Gewerbe die Öff- Schiene, Straße und Wasserstraße im Ausbaugesetz nung in Richtung östliche Länder. Hier haben wir bekommen werden. Allein schafft die Binnenschiff- das Verhandlungsmandat an die EU verloren. Ich fahrt es sicherlich nicht, die Probleme zu lösen. hoffe nur, daß wir die Übergangsfristen noch halten können. Ich hoffe für die Zeit danach, daß der Ein- Der SPD-Antrag, der ja eigentlich auch von Ihren fluß der Bundesregierung auf EU-Ebene wächst, Verkehrspolitikern bis auf kleine Details akzeptiert worden ist, bedeutet für uns: Wir brauchen eine (Elke Ferner [SPD]: Da müssen die sich schlüssige Verkehrspolitik zugunsten der Binnen- aber arg anstrengen!) schiffahrt. Wir brauchen eine Zukunftsperspektive, um deutlich zu machen, daß hier bisher eine falsche daß weiterhin überhaupt eine Möglichkeit besteht, Gewichtung erfolgt ist, daß wir einen Schwerpunkt daß die deutsche Binnenschiffahrt auch in Richtung auf den Träger Schiff setzen. Osten expandieren kann und do rt eine Chance be- kommt. Darum drängen wir in den Punkten unseres An- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) trags energisch auf die Abschaffung des Tour-de- Rôle-Systems noch deutlich vor dem Jahr 2000. Wir Meine Damen und Herren, wir haben die Parla- fordern Sie auch auf, gegebenenfalls den Weg einer mentariergruppe „Binnenschiffahrt" gegründet, um Klage vor dem Europäischen Gerichtshof einzuschla- diesem Verkehrsträger eine neue Wertigkeit und gen. Wir brauchen weiter auf EU-Ebene eine Harmo- eine Zukunftsperspektive zu geben. Ich hätte es sehr nisierung angesichts der Unstimmigkeiten bei den begrüßt, wenn wir - zumindest die großen Parteien - sozialen Lasten. heute eine gemeinsame Entschließung, einen ge- meinsamen Antrag hätten auf den Weg bringen kön- - Zur Abwrackaktion habe ich schon einiges gesagt. nen. Das Gewerbe hätte sich sehr gefreut und das als Für uns ist ganz wichtig, daß das 100-Millionen-Pro- weiteres positives Zeichen angesehen. gramm um ein Jahr verlängert wird, daß die Inhalte verändert werden, nämlich dahin gehend, daß nicht Ich bedanke mich ganz herzlich. nur Partikuliere förderfähig werden, sondern auch (Beifall bei der SPD und der PDS) mittelständische Reedereien mit bis zu fünf Schiffen. Damit würde man der Schiffahrt auch in den neuen Ländern gerecht werden. Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat die Kollegin Gila Altmann, Bündnis 90/Die Grünen. Wir wollen weiterhin eine Diskussion über die Aus- bildungsförderung. Denn wenn wir demnächst breite und tiefe Flüsse sowie große Schiffe haben, Gila Altmann (Aurich) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- aber keine Menschen mehr, die diese Schiffe fahren NEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! können, dann ist das, was wir hier machen, für die Wir alle wollen etwas für die Binnenschiffahrt tun - deutsche Binnenschiffahrt eine Farce. Wir müssen wie schön. Trotz der vorzeitigen Tariffreigabe und also auch in Ausbildung investieren. Für die See- des Verfalls der Frachtpreise hat die Binnenschiffahrt schiffahrt ist das möglich. Warum nicht auch für die noch genügend Wasser unter dem Kiel, um nicht Binnenschiffahrt? vollends leckzuschlagen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) ( [F.D.P.]: Was heißt hier vor zeitig? Nicht angekündigt!) Man kann mit uns sicherlich auch über eine Verän- derung des Prozentsatzes bei den Komplementärmit- Am rasanten Verkehrswachstum in den letzten Jah- teln reden. Man kann mit uns auch darüber spre- ren war sie nicht beteiligt, die Bahn übrigens auch chen, ob wir auf dem Weg über die Berufsgenossen- nicht. schaften helfen können. Man muß dann aber auch Nach neuesten Schätzungen gehen die Frachtan- versuchen, wirklich etwas zu bewegen. teile entgegen den bisherigen Prognosen weiter zu- Meine Damen und Herren, alleine schafft die Bin- rück. Statt dessen boomt ein anderer Verkehrsträger, nenschiffahrt es nicht. Wir können uns über Telema- der den höchsten Energieverbrauch, die meisten Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996 9503

Gila Altmann (Aurich) Schadstoffemissionen und die größte Lärmbelastung den ökologisch und ökonomisch verheerenden Fluß- verursacht: der Lkw. ausbau stecken. Zusammenhänge zwischen Hoch- wasserkatastrophen und Flußausbau werden nicht Alle bisherigen Ankündigungen der Bundesregie- nur ignoriert, sondern sogar ins Gegenteil verkehrt, rung, Bahn und Binnenschiff stärken zu wollen, ha- nach dem Motto: Natur ist gut; wir machen sie bes- ben sich als Seifenblasen entpuppt. Die Binnenschiff- ser. fahrt geht weiter den Bach runter. Statt weiter mit ei- ner Abwrackaktion hier und einem Hilfsprogramm Es ist aus unserer Sicht absurd, von einem umwelt- dort an den Symptomen herumzudoktern, ist es an freundlichen Verkehrsträger zu sprechen, wenn man der Zeit, die Wettbewerbsfähigkeit der Verkehrsträ- erst die Voraussetzungen durch gigantische Zerstö- ger durch die Anlastung der realen Kosten her- rung von Naturräumen schaffen will. Wir wollen statt zustellen. Frau Blank, auch Sie sollten zur Kenntnis dessen den Einsatz und die Weiterentwicklung fle- nehmen, daß das die einzige Möglichkeit ist. xibler, flußangepaßter und umweltfreundlicher Schiffstypen. Sie gibt es im übrigen schon, gerade (Siegfried Hornung [CDU/CSU]: Dafür wol auch im Osten, zum Beispiel in Dessau, mit den ent- len Sie die Energieverteuerung einführen, sprechenden Logistikkonzepten. jedes Jahr um 10 Prozent!) (Horst Friedrich [F.D.P.]: Wir haben doch am Um das gleich klarzustellen: Wir sind nicht pauschal Dienstag erst erfahren, daß das nicht funk gegen Anpassungshilfen für die Binnenschiffahrt. tioniert!) Diese müssen aber an klare Bedingungen geknüpft sein. Dann erst wird die Binnenschiffahrt ihrem Anspruch gerecht und auch inte rnational konkurrenzfähig. Erstens. Die Finanzhilfen müssen befristet sein. Es darf sich also nicht um dauerhafte Subventionen han- Statt also weiter Milliarden in den Flußsand zu set- deln, wie von Ihnen, Frau Blank, gefordert und wie zen, sollten wir endlich den Mut haben, den ministe- die SPD sie in ihrem Entschließungsantrag mit Mo- riellen Kanalbauern das Ruder aus der Hand zu neh- dellen zur Steuererleichterung und einer steuerfreien men. Wenn wir schon über Tiefgang reden, dann, Investitionsrücklage befürwortet. Wohin das führt, bitte schön, im Zusammenhang mit differenzie rten, hat Vulkan in eindrucksvoller Weise bewiesen. integrierten und vernetzten Verkehrskonzepten. (Horst Friedrich [F.D.P.]: Das lag an Herrn Danke. Hennemann und nicht an der Politik!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Die Binnenschiffer selbst wollen das auch nicht. Sie und bei der PDS) wollen eine reelle Chance bekommen. Zweitens. Anpassungshilfen haben nur zur Bewäl- Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat die tigung einer Umbruchsituation einen Sinn, nämlich Kollegin Lisa Peters, F.D.P. wenn eine konkrete Perspektive zur Genesung des Patienten in Sicht ist. - Lisa Peters (F.D.P.): Herr Präsident! Meine sehr ge- (Horst Friedrich [F.D.P.]: Aber nicht, wenn ehrten Herren! Meine Damen! Wir führen jetzt, Hennemann dabei ist!) 10 Minuten nach elf, eine Diskussion über die deut- sche Binnenschiffahrt. Dann muß ein Sofortprogamm auch seinem Namen gerecht werden. Es darf nicht im bürokratischen Ge- (Zuruf von der SPD: Es ist doch nicht fünf strüpp- hängenbleiben, wie es zur Zeit mit dem 100 vor zwölf!) Millionen-DM-Sofortprogramm geschieht. Wir haben nur eine halbe Stunde Zeit. Ich habe Drittens. Regelmäßige Überprüfung der Wirksam- 5 Minuten. Insofern kann ich nur einige wenige keit der Finanzhilfen und der flankierenden Maß- Punkte aufzeigen und einige Forderungen und auch nahmen ist erforderlich. Genau das ist heute eben Wünsche vortragen. Dies möchte ich aber mit Nach- nicht der Fall. druck tun. Die Bundesregierung kneift, wenn es konkret Es ist schon vieles festgestellt worden - ich stelle es wird, und schiebt alles auf Europa. Insofern sind die noch einmal fest -: Die Binnenschiffahrt ist ein wich- Antworten auf die Große Anfrage zwar lyrisch wert- tiger Verkehrsträger; sie ist umweltfreundlich. Man voll, aber politisch we rtlos. Solange durch fehlende kann etwa zwei Drittel unserer großen Städte in der Anlastung der Infrastrukturkosten und der externen Bundesrepublik über die Binnenwasserstraßen errei- Kosten die Binnenschiffahrt insbesondere gegenüber chen. Es gibt auch noch viele Kapazitätsreserven, die dem Lkw massiv benachteiligt wird, sind ein dauer- überhaupt noch nicht genutzt werden. Sie zu nutzen hafter Umschwung, steigende Marktanteile und ver- ist aber leichter gesagt als getan. nünftige Frachtpreise bei der Binnenschiffahrt nicht zu erwarten. Nur, ein Binnenwasserhafen alleine nützt nicht viel, wenn das auf dem Binnenschiff beförderte Gut Frau Blank, die Chancen sind da. Das DIW hat dies nur per Lkw abtransportiert werden kann. Häfen, die in seiner Studie zur Verminderung der Luft- und auch einen Eisenbahnanschluß haben, sind nicht die Lärmbelastung im Güterfernverkehr eindeutig be- Realität in unseren Städten. Deshalb lautet die For- legt. Sie sollten sich das vielleicht einfach einmal zu derung - ich bin sehr dankbar, daß wir uns in bezug Gemüte führen. Statt dessen wollen Sie Milliarden in darauf im Verkehrsausschuß einig sind -: In den Hä- 9504 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996

Lisa Peters fen müssen mehr Vorrichtungen dafür geschaffen Auch unsere Partikuliere und die gesamte deut- werden. Kombinierter Verkehr ist angesagt. Hierzu sche Binnenschiffahrt können meiner Ansicht nach sind Hilfen und auch Ideen gefragt. Gewinne erwirtschaften, wenn Chancen- und Wett- bewerbsgleichheit besteht. Diese ist wirklich in vie- Auch Kommunalpolitiker und Kommunalpolitike- len Punkten noch nicht gegeben. Wir drängen des- rinnen sind aufgefordert, in Städten mit Binnenhäfen halb auf Harmonisierung in den Bereichen der sozia- aktiv die Vernetzung zu fordern, in die kommunal- len Leistungen und auch bei den Lasten, die durch politische Infrastruktur zu investieren und die Bin- die Berufsgenossenschaften entstanden sind und nenhäfen dort mit einzubeziehen. Das - so stelle ich weiter entstehen. fest - ist leider auch nicht immer geschehen. Ich will es bei der Nennung dieser wenigen Fakten Gemeinsam - nur so kann es gehen - müssen Kom- bewenden lassen. munen, Länder und auch der Bund dafür sorgen, daß es Innovationen gibt und daß Investitionen in die- Wichtig ist weiter, daß auch die Abwrackaktion sem Bereich getätigt werden, so daß dadurch für die gemeinsam mit Europa vorangetrieben wird. Durch Binnenschiffahrt bessere Bedingungen entstehen. eine Verringerung der Überkapazitäten entsteht mehr Nachfrage und mehr Umsatz bei den verblei- Der Markt in der EU - das haben meine Vorredner- benden Binnenschiffern. innen schon gesagt - ist liberalisie rt und harmoni- Auch die Umstellung der Richtlinien auf eine siert. Für die deutsche Binnenschiffahrt sind einige er- weiterte Förderung der Partikuliere und der mittel- Maßnahmen zu früh gekommen. Sie hat sich noch ständischen Unternehmen in der Binnenschiffahrt nicht auf den Wettbewerb eingestellt und auch nicht, muß erfolgen. Von Frau Faße ist schon gesagt wor- wie ich denke, einstellen können. Doch der Stellen- den, daß bis zu fünf Schiffe bezuschußt werden müs- wert der Binnenschiffahrt ist gestiegen. In allen Pu- sen. blikationen und den Fachzeitschriften des Verkehrs- gewerbes wird zwischenzeitlich die Rechnung mit (Elke Ferner [SPD]: Stimmen Sie doch unse der Binnenschiffahrt als ernstzunehmendem Ver- rem Antrag zu, Frau Peters!) kehrsträger gemacht. Sie wird nicht mehr ausge- grenzt, wie es noch vor einigen Jahren der Fall war. - Dazu hat meine Kollegin Blank schon einiges aus- geführt; ich denke, daß wir uns im Verkehrsausschuß Meine Herren und meine Damen, unser Thema in absehbarer Zeit auf etwas einigen werden. - Wich- heißt „Perspektiven der deutschen Binnenschiff- tig ist auch, daß im Steuerbereich Erleichterungen fahrt". Eigentlich müßte man diesen Text mit einem angedacht werden. Außerdem muß auf die Wettbe- Fragezeichen versehen. Das haben fast alle Abgeord- werbssituation mit den MOE-Staaten geachtet wer- neten erkannt. Deswegen arbeiten wir gemeinsam den. an Lösungen. Es ist meine feste Überzeugung, daß die Binnen- Wir müssen dafür sorgen, daß das deutsche Was- schiffahrt auch in Zukunft Perspektiven hat. Wir be- serstraßennetz weiterhin dort ausgebaut wird, wo es nötigen diesen leistungsfähigen Verkehrsträger. - sinnvoll ist, wo es einen Nutzen für den vernetzten Wir sind bereit, den Rahmen zu verbessern. Dazu Verkehr bringt und wo der Ausbau ökologisch gehört auch, daß noch einmal über Ausbildungsmo- machbar ist. Hier werden keine Wasserwege durch dalitäten nachgedacht wird. Die Zukunft erfordert die Landschaft geklotzt. In der Bundesrepublik kön- meiner Ansicht nach laufende Anpassung an neue nen nur dann Wasserstraßen gebaut werden, wenn Anforderungen. Hier heißt es, gute und bewäh rte Sy- sie vernünftig geplant sind und eine Umweltverträg- steme beizubehalten, sich aber dem Neuen nicht zu lichkeitsprüfung stattgefunden hat. verschließen. Wir tragen heute Wünsche und Forderungen vor. Ich denke, die Binnenschiffer und ihre Mitarbeiter Ich denke, Herr Carstens - der Minister ist heute und Mitarbeiterinnen haben es verdient, daß wir uns nicht anwesend; das ist vielleicht auch nicht so wich- für sie einsetzen. Generell, so glaube ich, steht dies tig; über dieser ganzen Angelegenheit. (Elke Ferner [SPD]: Was? Natürlich ist das wichtig!) Herzlichen Dank. (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU und - ich stelle das in Frage -, daß diese bei Ihnen in gu- der PDS sowie bei Abgeordneten der SPD) ten Händen sind. Man kann Sie, Herr Carstens, beim Wort nehmen; das wird deutlich, wenn man Ihre Re- den in den Protokollen nachliest. Auch der Minister Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat die hat in letzter Zeit mehrfach Presseerklärungen abge- Kollegin Dr. Enkelmann, PDS. geben, in denen er die Binnenschiffahrt ganz klar vorangestellt hat. Dr. Dagmar Enkelmann (PDS): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich spreche hier sozusa- Ich will noch einige Forderungen deutlich machen: gen als letzte der Fünferbande, bevor der erste Herr Hier ist schon gesagt worden, daß das Tour-de-Rôle- reden darf. System vor dem Jahr 2000 beendet sein muß. Wir for- dern den Minister auf - das ist schon von Frau Faße Gerade in der letzten Zeit wird die Bundesregie- gesagt worden -, daß, wenn das in Europa so nicht rung nicht müde, immer wieder den hohen Stellen- durchzusetzen ist, eine Klage geführt werden muß. wert der Binnenschiffahrt im Güterverkehrssektor Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996 9505

Dr. Dagmar Enkelmann zu betonen. Verbal ist ihr die Schiffahrt das liebste kehrspolitischen Rahmenbedingungen. Abwrackak- Kind. Das aber fällt ihr ausgerechnet dann ein, nach- tionen können unseres Erachtens nicht das Allheil- dem sie mit der völligen Freigabe der Frachttarife zu mittel sein. Es geht vor allen Dingen um Investitio- Beginn des Jahres 1994 die deutsche Binnenschif- nen in moderne Schiffsysteme, in den Container- fahrt in eine schwere Krise gestürzt hat. transport, in den kombinierten Verkehr, in moderne Logistikkonzepte, in die auch kleinere Schiffe tat- Während in den Niederlanden, Frankreich und sächlich eingepaßt werden können und in denen sie Belgien das Tour-de-Rôle-System zumindest bis zum durchaus ihren Platz haben. Jahr 2000 bestehenbleibt, hat die Bundesregierung völlige Vertragsfreiheit und freie Preisbildung einge- Ein Wort noch zum Thema faire Wettbewerbsbe- führt. Das Tarifaufhebungsgesetz, das eine Liberali- dingungen für alle Verkehrsträger: Der umwelt- sierung ohne die notwendige europäische Harmoni- freundliche Gütertransport per Binnenschiff und sierung brachte, hat zu einem Verfall der Frachtraten Bahn wird nur dann gestärkt werden, wenn endlich bis zu 60 Prozent geführt. die Subventionierung des Straßengüterverkehrs be- endet wird. Deswegen hat die PDS im Verkehrsausschuß der Beschlußempfehlung zugestimmt. Der Bundestag hat Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. die Bundesregierung bereits im Dezember 1995 auf- gefordert - ich zitiere - „mit Nachdruck auf die sofor- (Beifall bei der PDS) tige Beseitigung des sogenannten Tour-de-Rôle-Sy- stems in den Niederlanden, Belgien und Frankreich Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Parla- hinzuwirken, erforderlichenfalls im Wege einer mentarische Staatssekretär Manfred Carstens. Klage". Passiert ist allerdings bisher nichts.

(Elke Ferner [SPD]: Die schlafen ja nur!) Manfred Carstens, Parl. Staatssekretär beim Bun- Weiterhin wurde die Bundesregierung aufgefor- desminister für Verkehr: Herr Präsident! Meine ver- dert, die Übergangsfrist für die Freigabe der Kabo- ehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich hoffe sehr tage in Deutschland bis zur Beseitigung des Tour-de- und möchte auch alles dafür tun, gemeinsam mit Rôle-Systems zu verlängern. Auch dieses Ziel hat die und Ihnen hier im Parlament, Bundesregierung nicht erreicht. daß die deutsche Binnenschiffahrt tatsächlich eine gute Zukunft, eine gute Perspektive hat. Das großartig angekündigte 100-Millionen-Pro- gramm vom Dezember 1994, das im übrigen von der (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge PDS mitgetragen worden ist, reicht nicht - das hat ordneten der F.D.P.) sich inzwischen gezeigt - an die Bedürfnisse der Par- Wir wissen, daß sich die deutschen Partikuliere tikuliere heran. Zum einen konnte es wegen man- zur Zeit in einer schwierigen Situation befinden. gelnder Eigenmittel nicht in Anspruch genommen Daran kann überhaupt kein Zweifel bestehen. Die werden. Darauf hat Annette Faße schon aufmerksam Preise sind gesunken, die Frachtraten auch in der - gemacht. Ich will nur eine Zahl nennen: Aus dem Menge zurückgegangen. Gott sei Dank erholen sie 100-Millionen-Programm sind bislang nicht einmal sich im Moment ein wenig. 8 Millionen DM abgerufen worden. Aber was tun die Partikuliere mit ihren Familien? Es kommt hinzu, daß der größte Teil der ostdeut- Sie halten durch, sie arbeiten länger als sonst, um schen Binnenschiffahrt zu diesem Förderprogramm über diesen vermehrten Arbeitseinsatz in der ganzen keinen Zugang hat, obwohl die Tonnage oftmals weit Familie trotzdem durchzukommen. Ich möchte ein- niedriger liegt als bei drei motorgetriebenen Schif- mal im Deutschen Bundestag den deutschen Partiku- fen. Wir meinen auch, daß die Zugangsmöglichkei- lieren und ihren Familien dafür danken, daß sie ten zu diesem Programm erweitert werden müßten, durchhalten und nicht aufgeben. etwa was den Zugang von Schubverbänden mit vier Schubleichtern anbetrifft - fünf Schiffe wären also (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. schon so ein Kompromiß. Es geht aber auch die sowie der Abg. Dr. Dagmar Enkelmann Frage, inwieweit für Ausbildungsbeihilfen, aber [PDS] - Otto Schily [SPD]: Nur Schmalz, auch zur Stärkung der Eigenanteile Mittel aus die- aber kein Gehalt!) sem Programm herausgenommen werden könnten. Hier sind durchaus einige Möglichkeiten vorhanden, Wenn man sich die konkrete Situation anschaut, Mittel aus diesem Programm abzurufen. stellt man fest, daß beste Voraussetzungen dafür ge- geben sind, daß wir in der Binnenschiffahrt zusätzli- Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß che Umsätze erwarten können. Wir haben erhebliche die vielbeschworene Liebe der Bundesregierung zur Mengenaufwüchse beim Güterfernverkehr, und die Binnenschiffahrt für diese wohl eher tödlich ist. Straßenbelastungen nehmen zu. Die Binnenschiff- fahrt ist umweltfreundlich, sicher, kraftstoffsparend. Ein im Frühjahr 1994 vorgelegtes, von der Bundes- Das alles spricht dafür, daß sie eine Chance hat. Na- regierung in Auftrag gegebenes Gutachten hat ein türlich spricht das auch dafür, daß wir uns dafür ein Verlagerungspotential für die Binnenschiffahrt von setzen, auf dem politischen Wege das zu tun, was wir den Verkehrsträgern Straße und Schiene in Höhe helfend tun können. von rund 55 Millionen Tonnen ermittelt. Ich denke, das ist eine gewaltige Chance. Aber um dieses Po- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge tential zu aktivieren, bedarf es der notwendigen ver- ordneten der F.D.P.) 9506 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996

Parl. Staatssekretär Manfred Carstens So haben wir nun dafür gesorgt, daß das 100-Mil- dern, die darin ihre Existenz haben. Insofern freue lionen-Programm bewilligt werden konnte. Das war ich mich, daß wir das fortsetzen können. keine leichte Arbeit. Es war vor allen Dingen sehr Nun möchte ich, weil in einer solchen Kurzdebatte schwierig, sich in Europa durchzusetzen. Ich kann nicht die Möglichkeit besteht, auf alle Fragen einzu- aber die Fragesteller heute abend insoweit beruhi- gehen, nur noch dies sagen: Mir sind natürlich die gen, als ich die Zusage geben kann, daß die Mittel, Papiere bestens bekannt, vor allen Dingen das Pa- die 1996 möglicherweise nicht ausgegeben werden, pier, auf dessen Grundlage wir in unserer Arbeit ste- auf das Jahr 1997 übertragen werden. hen: das Papier der Koalition vom 31. Januar 1996. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. - Wir werden natürlich das Bestmögliche tun, um in all Elke Ferner [SPD]: Da ist doch wohl der den Fragen Stück für Stück weiterzukommen, auch Waigel vor!) bezüglich der Wettbewerbsverzerrungen, die es tat- sächlich - das ist wahr - in Europa gibt. Es ist an der Das heißt, das Geld steht zur Verfügung. Die Binnen- Zeit, an den Abbau dieser Wettbewerbsverzerrungen schiffer können absolut sicher sein, daß das Geld heranzugehen. Aber das bedeutet auch das Bohren nicht verfällt. Wir sind jetzt mit den Verbänden der dicker Bretter. Wir dürfen den Partikulierfamilien Binnenschiffahrt dabei, in Übereinstimmung mit der nicht zuviel Hoffnung machen. Wir dürfen diesen Fa- EU zu kommen, damit wir möglichst schnell zu einer milien, die auf unsere Worte vertrauen, nur das zusa- besseren Flexibilität in der Anwendung dieses Pro- gen, was wir anschließend einhalten können, und grammes kommen. nicht irgend etwas, was in Papieren steht und gar Frau Faße, wenn ich an einen Punkt in Ihrem Pa- nicht eingehalten werden kann. lls wir pier denke, dann warne ich Neugierige. Fa (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) dem nachkämen, dann würden Sie erleben, daß ein wesentlicher Verband der deutschen Binnenschiff- Insofern abschließend von mir die Zusage: Die fahrt dem nicht zustimmte, nämlich der Ausweitung Bundesregierung wird sich wirklich mit aller Kraft der Förderung auf die Reedereien. dafür einsetzen, daß wir in Deutschland und in Eu- ropa die Voraussetzungen dafür bieten, daß die deut- (Annette Faße [SPD]: Allen kann man es sche Binnenschiffahrt und die deutschen Partikuliere nicht recht machen!) mit ihren Familien weiterhin eine echte Perspektive Wir vertreten die Meinung, daß die Verbände sich ei- haben. nigen müssen. Wenn die Verbände sich einigen soll- Danke schön. ten, dann wären wir auch bereit, diesem Gedanken näherzutreten. Aber es kann nicht angehen, inner- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) halb der Partikuliere, innerhalb der Binnenschiffahrt unnötig Streit zu säen, den ich für den Fall voraus- Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Ich schließe die sehe, daß wir dem nachkommen, was Sie in diesem Aussprache. einen Punkt gefordert haben. Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie- (Annette Faße [SPD]: Man muß sich- doch ßungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen entscheiden! - Elke Ferner [SPD]: Wer ent auf Drucksache 13/4681. Wer stimmt für diesen Ent- scheidet jetzt, die Verbände oder das Parla schließungsantrag? - Gegenprobe! - ment?) (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wir haben dann als nächstes durchgesetzt, daß die Abwrackaktion, die schon seit einigen Jahren läuft, Enthaltungen? - Der Entschließungsantrag ist mit fortgesetzt wird - eine wesentliche Sache. Wenn den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der SPD- dann gesagt wird, es sei nicht leicht gewesen, das Fraktion und der PDS gegen die Stimmen von Bünd- durchzusetzen, auch nicht gegenüber dem deut- nis 90/Die Grünen abgelehnt. schen Finanzminister, (Widerspruch bei der PDS) (Elke Ferner [SPD]: Dann ist das richtig!) - Es tut mir leid. so haben Sie recht. Aber es ist nicht das Entschei- (Dr. Dagmar Enkelmann [PDS]: Wir haben dende, ob es schwierig war oder nicht. Entscheidend dem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen ist, daß wir es durchgesetzt haben und daß weiter ab- zugestimmt!) gewrackt werden kann. - Wenn es denn so ist: gegen die Stimmen von (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und PDS abgelehnt. Ich bin gar kein so großer Freund des Abwrackens; (Beifall der Abg. Gila Altmann [Aurich] denn an sich wollen wir die Binnenschiffahrt auf- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] - Wolfgang rechterhalten. Aber wenn eine Partikulierfamilie die Zöller [CDU/CSU]: Nachträglich! Wir sind Garantie hat, im Notfall noch abwracken zu können, gnädig!) dann nimmt die materielle Sicherheit für diese Fami- lie ganz erheblich zu. Im Falle des Falles, wenn sie Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie- doch durchhalten will, hat sie einen ganz anderen ßungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache Hintergrund, viel mehr Möglichkeiten auch gegen- 13/4710. Wer stimmt für diesen Entschließungsan- über den Kreditinstituten. Somit ist das auch ein In- trag? - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Ent- strument, um das Durchhalten der Familien zu för- schließungsantrag ist mit den Stimmen der Koaliti- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996 9507 Vizepräsident Hans-Ulrich Klose onsfraktionen und der Fraktion des Bündnisses 90/ den Abgeordneten Kastner und Follak, für Bündnis 90/ Die Grünen gegen die Stimmen der SPD-Fraktion Die Grünen von der Abgeordneten Saibold, für die bei Stimmenthaltungen der PDS abgelehnt. F.D.P. von dem Abgeordneten Dr. Feldmann, für die PDS von der Abgeordneten Schenk und für die Bun- Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluß- desregierung vom Parlamentarischen Staatssekretär empfehlung des Ausschusses für Verkehr zu einer Kolb.*) Mitteilung der Europäischen Union über eine ge- meinsame Politik bei der Gestaltung des Marktes der Wir kommen damit zur Abstimmung über die Be- Binnenschiffahrt und von Begleitmaßnahmen, schlußempfehlung des Ausschusses für Fremdenver- Drucksache 13/4243. Wer stimmt für diese Beschluß- kehr und Tourismus zu der Unterrichtung durch die empfehlung? - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Bundesregierung auf Drucksache 13/4214. Wer Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Die Gegen- Koalitionsfraktionen und der SPD gegen die Stim- probe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung men von Bündnis 90/Die Grünen bei Stimmenthal- ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der tung der PDS angenommen. SPD-Fraktion bei Stimmenthaltung von Bündnis 90/ Die Grünen und der PDS angenommen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a bis 9c auf: Wir kommen zu der Abstimmung über die Be- a) Beratung der Beschlußempfehlung und des schlußempfehlung des Ausschusses für Fremdenver- Berichts des Ausschusses für Fremdenverkehr kehr und Tourismus zu dem Entschließungsantrag und Tourismus (21. Ausschuß) zu der Unter- der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf richtung durch die Bundesregierung Drucksache 13/4216. Der Ausschuß empfiehlt, den Die Rolle der Union im Bereich des Fremden- Entschließungsantrag auf Drucksache 13/1548 abzu- verkehrs - Grünbuch der Kommission lehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - - Drucksachen 13/2306 Nr. 2.106, 13/4214 - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußemp- fehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen Berichterstattung: und der SPD-Fraktion bei etwas unklarem Stimmver- Abgeordnete Dr. Rolf Olderog halten der PDS und bei Stimmenthaltung von Bünd- Brunhilde Irber nis 90/Die Grünen angenommen. Halo Saibold Dr. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluß- empfehlung des Ausschusses für Fremdenverkehr b) Beratung der Beschlußempfehlung und des und Tourismus zu dem Antrag der Fraktionen der Berichts des Ausschusses für Fremdenverkehr CDU/CSU und der F.D.P. auf Drucksachen 13/1531 und Tourismus (21. Ausschuß) zu dem Ent- und 13/4217. Wer stimmt für diese Beschlußempfeh- schließungsantrag der Abgeordneten Halo lung? - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Be- Saibold und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE schlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koali- GRÜNEN zu der Unterrichtung durch die tionsfraktionen und des Bündnisses 90/Die Grünen Bundesregierung gegen die Stimmen der SPD-Fraktion bei Stimment- Bericht der Bundesregierung über die Ent- haltung der PDS angenommen. wicklung des Tourismus - Drucksachen 12/7895, 12/8467 Nr. 1.36, Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf: 13/1513, 13/1548, 13/4216 - Erste Beratung des von der Bundesregie- Berichterstattung: rung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes Abgeordnete Klaus Brähmig zur erbrechtlichen Gleichstellung nichtehe- Susanne Kastner licher Kinder (Erbrechtsgleichstellungsgesetz Halo Saibold - ErbGleichG) Dr. Olaf Feldmann - Drucksache 13/4183 - c) Beratung der Beschlußempfehlung und des Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat war für Berichts des Ausschusses für Fremdenverkehr die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Aber und Tourismus (21. Ausschuß) zu dem Antrag auch die Reden zu diesem Punkt sind sämtlich zu der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. Protokoll gegeben worden. Umweltschutz und Tourismus (Beifall der Abg. Birgit Homburger [F.D.P.]) - Drucksachen 13/1531, 13/4217 - Berichterstattung: Es sind dies die Reden der Abgeordneten Dr. Götzer, Abgeordnete von Renesse, Grießhaber, Braun, Lüth und für die Simon Wittmann (Tännesberg) Bundesregierung Schmidt-Jortzig.**) Susanne Kastner Halo Saibold Dann kommen wir zur Abstimmung. Der Ältesten- Dr. Olaf Feldmann rat schlägt Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 13/4183 an die in der Tagesordnung auf- Es war für die gemeinsame Aussprache eine Stunde vereinbart. Es sind aber alle Reden zu Proto- *)Die Redetexte werden als Anlage 2 in einem Nachtrag zu diesem Stenographischen Bericht abgedruckt. koll gegeben worden, und zwar für die CDU/CSU **) Die Redetexte werden als Anlage 3 in einem Nachtrag zu von dem Abgeordneten Olderog, für die SPD von diesem Stenographischen Bericht abgedruckt. 9508 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996

Vizepräsident Hans-Ulrich Klose geführten Ausschüsse vor. Gibt es anderweitige Vor- Lesben und Schwule - so ist der Antwort zu ent- schläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Über- nehmen - sollen zum Beispiel keinen gemeinsamen weisung so beschlossen. Wohnberechtigungsschein bekommen, weil es gegenüber wohnungssuchenden Familien Ich rufe den Zusatzpunkt 13 auf: nicht zu rechtfertigen Beratung der Großen Anfrage der Abgeordne- sei. Begründet wird das mit Art. 6 GG. Dazu möchte ten Christina Schenk, Dr. Barbara Höll und der ich zwei Anmerkungen machen. Gruppe der PDS Erstens. Nirgendwo ist in A rt . 6 die Rede davon, Die Situation von Lesben und Schwulen in daß andere Lebensformen außer der Ehe zu benach- der Bundesrepublik Deutschland teiligen seien. Hier wird ganz kaltschnäuzig das Grundgesetz dazu mißbraucht, Vorurteile und Vor- - Drucksachen 13/1946, 13/4152 - behalte gegenüber anderen Lebensweisen, insbe- sondere gegenüber Lesben und Schwulen, zu recht- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für fertigen. Das ist ein Skandal. die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. - Es gibt keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Zweitens ein Wort zur Familie. Hierzulande wird darunter auch das kinderlose Ehepaar verstanden, Ich eröffne die Aussprache. Das Wo rt für die PDS nicht jedoch zum Beispiel das lesbische Paar mit hat Kollegin Christina Schenk. Kind. In der Antwort werden beispielsweise lesbi- sche und schwule Paare einfach mit Wirtschafts- und Wohngemeinschaften gleichgesetzt. Das ist absurd. Christina Schenk (PDS): Herr Präsident! Meine Da- men und Herren! Die Gruppe der PDS wollte von der Es kommt noch schlimmer bei der Frage der Adop- Bundesregierung wissen, wie sie die Situation von tion. Zwischen der sexuellen Orientierung und der Lesben und Schwulen hierzulande einschätzt und in- Fähigkeit, die Personensorge wahrzunehmen oder wieweit die diesbezüglichen Erkenntnisse sich in ih- per Adoption für Kinder zu sorgen, besteht absolut rer Politik widerspiegeln. Ich muß hier leider feststel- kein Zusammenhang. Die Bundesregierung meint je- len, daß die Antwort der Bundesregierung durch doch, es müsse geprüft werden, eine beispiellose Selbstzufriedenheit und eine bo- denlose Ignoranz gegenüber den Diskriminierungen ob die sexuelle Orientierung der Antragstellerin und Beeinträchtigungen, mit denen Lesben und bzw. des Antragstellers das Kindeswohl gefähr- Schwule Tag für Tag in diesem Land konfrontiert det. sind, geprägt ist. Das ist einfach unglaublich. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Tat- Es gibt Untersuchungen zur Situation von Lesben sache, daß sich die Bundesregierung in Ihrer Antwort und Schwulen in der Arbeitswelt, wonach 81 Prozent nicht ein einziges Mal dazu durchringen konnte, von der Befragten sich manchmal oder häufig am Ar- Lesben und von Schwulen zu reden. Die Bundesre- beitsplatz diskriminiert fühlen. Die Bundesregierung gierung spricht statt dessen von Menschen mit homo- findet zwar, daß dies auf ein sexuellen Neigungen, als ob es sich um eine luxu- riöse Marotte handeln würde, und meint, diese seien bedauernswertes Maß an Intoleranz in unserer doch frei in ihrer Entscheidung, wie sie ihr Leben ge- Gesellschaft hindeutet, stalten wollten. aber Handlungsbedarf sieht sie nicht. Die t rivial an- mutende Erkenntnis, daß Homo- und Heterosexuali- Freiheit der Wahl, meine Damen und Herren, gibt tät gleichwertige Varianten menschlicher Sexualität es nur unter den Bedingungen der Anerkennung der und Lebensweise sind, hat die Bundesregierung Gleichheit und Gleichwertigkeit. Nein, Lesben und noch nicht erreicht. Zu groß sind die ideologischen Schwule sind nicht frei und gleichberechtigt in der Scheuklappen. Wahl ihrer Lebensweise. Stil und Inhalt der Antwort der Bundesregierung Nur wer verheiratet ist, kann gemeinsam Kinder haben die Notwendigkeit, an einer Veränderung der adoptieren, hat einen Rechtsanspruch auf Fortset- Situation zu arbeiten erneut sehr deutlich vor Augen zung des Mietverhältnisses beim Tod des Pa rtners geführt. Wir, das heißt die PDS im Bundestag, wer- bzw. der Partnerin, hat einen gemeinsamen An- den ein Konzept zur Gleichstellung aller Lebenswei- spruch auf einen Wohnberechtigungsschein, hat ein sen entwickeln. Es darf keinen Unterschied machen, Zeugnisverweigerungsrecht, bekommt als ausländi- ob jemand verheiratet ist oder nicht, ob jemand al- scher Partner oder Partnerin eine Aufenthaltsgeneh- lein, zu zweit oder mit mehreren zusammenlebt, ob migung und hat einen Anspruch auf einen achtzig- jemand heterosexuell, lesbisch oder schwul ist. mal so hohen Steuerfreibetrag bei einer Erbschaft. Das sind die Fakten, die die Bundesregierung nicht Der Staat muß aufhören, sich in die Lebensgestal- zur Kenntnis nimmt. tung Erwachsener mit normativen Vorgaben einzu- mischen. Dafür muß er weit stärker als bisher das Zu- Grundlage der Diskriminierung von Lesben und sammenleben mit Kindern und Pflegebedürftigen Schwulen ist die Bevorzugung und Begünstigung ei- schützen und fördern, und zwar unabhängig von der ner einzigen Lebensform, der Ehe, und das soll nach Lebensweise. Die Debatte dazu insgesamt muß in dem Willen der Bundesregierung auch so bleiben. der Bundesrepublik Deutschland intensiviert wer- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996 9509

Christina Schenk den. Das ist, glaube ich, das einzige Ergebnis, was setzliche Schutz von Ehe und Familie, sondern aus der Antwort der Bundesregierung zu entnehmen schlichte Privilegierung. ist. (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Danke schön. GRÜNEN und der PDS) (Beifall bei der PDS) Und die Privilegierung der einen schafft immer die Diskriminierung der anderen. Warum hat sich denn die Regierungsmehrheit in der Verfassungskommis- Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat die sion so gesträubt, ein explizites Verbot der Diskrimi- Kollegin Hanna Wolf, SPD. nierung auf Grund der sexuellen Orientierung auf zu- nehmen? Etwa, weil das Abendland zusammenge- brochen wäre? Auch Sie müßten wissen, daß sich das Hanna Wolf (München) (SPD): Herr Präsident! Abendland auf eine andere Tradition berufen kann Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich hätte als auf Ihre äußerst eng gestrickte Familienideologie. diese Debatte gerne zu einem anderen Zeitpunkt ge- führt als gerade um Mitternacht. Ich finde bedauer- Um Mißverständnissen vorzubeugen: Die SPD wi ll lich, daß wir das nicht geschafft haben. weder die Ehe noch die Familie abschaffen. Sie sind höchstpersönliche Lebensentscheidungen. Unserer (Beifall bei der SPD und der PDS) Meinung nach hat sich aber der Familienbegriff in der Bevölkerung im Laufe der letzten Jahrzehnte Deswegen hätte man Sie heute endlich einmal auf sit- ausgeweitet. Wenn wir von Familie sprechen, mei- zen lassen sollen. nen wir das Zusammenleben Erwachsener mit Kin- dern. Hier bedarf es des besonderen Schutzes durch (Günther Bredehorn [F.D.P.]: Gerade daran den Staat. liegt es!) Um einem weiteren Mißverständnis vorzubeugen: Seit gut zwei Jahren gibt es eine Entschließung Unser Emanzipationsbegriff verträgt sich schlecht des Europäischen Parlaments - ich zitiere -: mit der Vorstellung, daß nun alle lesbischen und daß alle Bürgerinnen und Bürger ohne Ansehen schwulen Paare in den vermeintlich schützenden Ha- ihrer sexuellen Orientierung gleichbehandelt fen der Ehe einfahren sollten. Dazu haben wir in werden müssen. 25 Jahren Frauenbewegung gelernt, daß die von konservativer Seite so besonders geförderte Ehe- Und die Bundesregierung? Frei nach dem Motto, daß struktur die Alleinverdienerehe ist. Sie bringt eine nicht sein kann, was nicht sein darf, behauptet sie - geradezu zwangsläufige Abhängigkeit der Ehepart- ich zitiere wieder -: nerin vom Ehepartner. Diese potentielle Abhängig- keit wollen wir lesbischen und schwulen Paaren gar Das Bundesrecht erlaubt es nicht, Personen auf nicht erst wünschen. Grund ihrer sexuellen Orientierung sachwidrig ungleich zu behandeln. Die Entschließung des (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Europäischen Parlaments gibt deshalb zur Ände- GRÜNEN und der PDS) rung des Bundesrechts keinen Anlaß. Das Stichwort ist gefallen. Folgerichtig finden sich in der Antwort der Bun- desregierung zur Situation von Lesben und Schwu- Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Herr Kollege len in der Bundesrepublik gehäuft Formulierungen Beck möchte eine Zwischenfrage stellen. wie „sieht derzeit keine Veranlassung", „liegen der Bundesregierung keine Erkenntnisse vor", „liegen keine Informationen vor", „vermag die Bundesregie- Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): rung nicht zu erkennen", „sind der Bundesregierung Sie wollten es nicht anders, Frau Kollegin Wolf. nicht bekannt" und „ein Änderungsbedarf ist nicht zu erkennen" oder „es besteht kein Anlaß". Ich kenne Ihr SPD-Grundsatzprogramm von 1990. Darin steht ein sehr wichtiger Satz zu diesem Thema: Die vorliegende Antwort der Bundesregierung liest Keine Lebensgemeinschaft darf diskriminiert wer- sich daher streckenweise, als ob die berühmten drei den, auch die gleichgeschlechtliche nicht. Affen mitgeschrieben hätten, die weder etwas sehen noch hören oder sagen wollen. Teilen Sie mit mir nicht die Meinung, daß das Ehe- schließungsverbot für homosexuelle Paare und die Aber ganz so harmlos ist die Antwort der Bundes- Rechtsprobleme, die schwule und lesbische Paare regierung denn doch wieder nicht. Wo sie argwöhnt, haben, eine ungerechtfertigte Benachteiligung sind? der grundgesetzliche Schutz der Ehe und Familie sei Bei heterosexuellen Ehepaaren gibt es den direkten in Gefahr, wird sie deutlich: „der Familie den Vor- Ausfluß des grundgesetzlichen Schutzes der Ehe wie rang vor anderen Formen von Lebens- und Wohnge- das Aufenthaltsrecht für den ausländischen Ehepart- meinschaften geben", „undifferenzie rte Ausdeh- ner, Rechtsfolgen aus dem Erbrecht, die besonders nung", „nicht angemessen", „nicht beabsichtigt". privilegierte Stellung im Erbschaftsteuergesetz. Mei- nen Sie nicht, daß wir als fortschrittliche Kräfte die Was Sie hier betreiben, meine Damen und Herren Benachteiligung der homosexuellen Paare hier be- von der Regierungskoalition, ist nicht der grundge- kämpfen sollten? 9510 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996

Volker Beck (Köln) Teilen Sie mit mir nicht die Meinung, daß uns ideo- Es gibt solche Fälle, in denen ein schwuler Pa rtner logische Vorschriften für Minderheiten, wie sie rich- aus Deutschland in das ehemalige Jugoslawien aus- tig, sozialistisch, emanzipiert oder frei zu leben ha- gewiesen werden soll und sein Lebenspartner nichts ben, nicht anstehen, sondern wir es den Menschen dagegen machen kann. Das halte ich für eine mas- selber überlassen sollten, wie sie leben und das sive Diskriminierung. Dagegen sollte gesetzlich vor- rechtlich organisieren wollen? gegangen werden. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Hanna Wolf (München) (SPD): Ich komme noch auf F.D.P.) alle Punkte, die Sie gerade angesprochen haben. Ich habe schon früher gesagt: Die Privilegierung der Ehe Allerdings sieht die Bundesregierung das nicht so. bedeutet die Diskriminierung von anderen Lebens- Da sollten wir tätig werden. formen. Dagegen müssen wir etwas machen. Das sind nur einige gravierende Beispiele, für die (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der wir dringenden gesetzlichen Handlungsbedarf se- PDS) hen. Die Behinderungen müssen ausgeräumt wer- den; denn sie verstoßen nicht nur gegen unser Wir kämpfen gegen das sogenannte Ehegatten Grundgesetz und die schon erwähnte Entschließung splitting; da haben wir ein Stichwort. Ich sehe über- des Europäischen Parlaments - sie verstoßen gegen haupt keine Notwendigkeit, für zwei Menschen, die Menschenrechte. zusammenleben, eine steuerliche Privilegierung ein- zuführen. Wir sind einer Meinung, daß das Ehegat- Auf noch etwas möchte ich besonders eingehen: In tensplitting abzuschaffen ist. Aber Sie wollen es für ihrer Antwort spricht die Bundesregierung noch im- andere Lebensformen einführen. Da sind Wir anderer mer von „Menschen", „Personen", „Personenkreis", Meinung. Wir stimmen aber vollkommen darin über- „Partnern" oder „Homosexuellen". Auch in diesem ein, daß die Diskriminierung abgebaut werden muß. Punkt werden Frauen - die lesbischen Frauen - Dazu sage ich gleich noch etwas. sprachlich wieder neutralisiert und zum Verschwin- den gebracht. Versuchen Sie einmal, sich vorzustel- Wir sehen den von der Bundesregierung in Abrede len, wie es auf Sie wirkt, wenn niemand Sie wahr- gestellten gesetzlichen Handlungsbedarf völlig an- nimmt, wenn Sie glauben müssen, daß es eine solche ders. Dazu haben wir auch eine Initiative in Vorbe- wie Sie nicht gibt, daß Sie selbst womöglich gar nicht reitung. Ich gebe zu, Herr Kollege Beck, daß wir dar- existieren. über bei uns kontrovers diskutieren. Die feministische Lesbenbewegung kämpft seit Ich frage mich auch, was die Formulierung „nicht Jahrzehnten gegen dieses Verschwindenmachen an. sachwidrig ungleich behandeln" heißen soll. Hält die Deshalb haben wir von der SPD-Fraktion im Frauen Bundesregierung die derzeitige Ungleichbehand- ausschuß zu den Haushaltsberatungen auch immer lung auf Grund der sexuellen Orientierung für sach- wieder Anträge zur Förderung von Lesbenprojekten gerecht? gestellt. Die Regierungsfraktionen haben sie immer wieder abgelehnt. Das nenne ich eine feine Für- Ist es etwa sachgerecht, wenn eine lesbische- Frau oder ein schwuler Mann das bestehende Mietver- sorge: keine gesetzliche Unterstützung, keine mate- hältnis nicht fortsetzen kann, weil die Pa rtnerin oder rielle Unterstützung. der Partner gestorben ist? Auch auf der UN-Regierungskonferenz der Frauen (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE in Peking hat Ministerin Nolte nicht dafür gestritten, GRÜNEN]: Dazu haben wir Gesetzentwürfe daß die Gleichberechtigung der lesbischen Frauen vorgelegt!) im Abschlußdokument festgehalten wird. Da müssen sich die lesbischen Frauen wieder einmal selbst hel- Ist es sachgerecht, wenn Menschen, die in schwu- fen. ler oder lesbischer Partnerschaft zusammenleben möchten, ihre Wohnberechtigungsscheine nicht zu- Eben in diesen Tagen läuft in Deutschland eine sammenlegen dürfen? Kampagne „Come out - Lesben kommen raus". Wenn lesbische Frauen totgeschwiegen werden, Ist es sachgerecht, daß zwar Quasiverlobte oder müssen sie sich um so lauter melden. Wir unterstüt- selbst durch nicht mehr bestehende Ehen Verschwä- zen sie dabei. Ich freue mich, daß sich die Frauen ge- gerte, nicht aber gleichgeschlechtliche Pa rtner oder rade an diesem Wochenende in München Gehör ver- Partnerinnen ein Zeugnisverweigerungsrecht ha- schaffen werden, und ich wünsche dieser Tagung in ben? München vollen Erfolg. Ist es sachgerecht, daß lesbische Pa rtnerinnen und Vielen Dank. schwule Partner im Erbrecht wie wildfremde Leute behandelt werden und ihnen alle möglichen entfrem- (Beifall bei der SPD und der PDS) deten Verwandte vorgezogen werden können? Die Kollegin Ist es sachgerecht, wenn eine Nicht-EU-Bürgerin Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: oder ein Nicht-EU-Bürger in Deutschland nicht auf Dr. Enkelmann hat eine Kurzintervention von zwei Sätzen angekündigt. Dazu hat sie das Wo rt. Dauer mit ihrer lesbischen Pa rtnerin oder seinem schwulen Partner zusammenleben kann, weil sie oder er kein Aufenthaltsrecht bekommt? Und das Dr. Dagmar Enkelmann (PDS): Frau Wolf, ich selbst bei vorliegender Unterhaltspflichterklärung. möchte nur ein Wort der Aufklärung darüber sagen, Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996 9511

Dr. Dagmar Enkelmann weshalb dieser Punkt so spät auf der Tagesordnung Homosexuellen vor zwei Tagen vom Parlament recht- steht und die Debatte zu dieser Stunde stattfindet. Es lich anerkannt. In Polen hat die Verfassungskommis- ist grundsätzlich so, daß, von wenigen Ausnahmen sion mit Zweidrittelmehrheit empfohlen, dem Vor- abgesehen, die Anträge der PDS immer am Schluß schlag von Südafrika zu folgen und die Nichtdiskri- der Tagesordnung aufgeführt sind, also auch immer minierung auf Grund der sexuellen Orientierung in um diese Zeit behandelt werden. Ich kann Sie nur der neuen polnischen Verfassung festzuschreiben. auffordern, sich an Ihre parlamentarischen Ge- Vaclav Havel, der Präsident von Tschechien, hat sich schäftsführer zu wenden und das möglicherweise zu dafür ausgesprochen, die skandinavische Rechtslage verändern. Falls Sie dazu Unterlagen brauchen: Wir eingetragener homosexueller Pa rtnerschaften auch haben eine entsprechende Statistik vorliegen. dort einzuführen. (Beifall bei der PDS) In vielen westeuropäischen Nachbarstaaten ist die Bürgerrechtssituation von Schwulen und Lesben viel weiter als in der Bundesrepublik Deutschland. Regi- Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat der strierte Partnerschaften mit gleichen Rechten wie für Kollege Volker Beck, Bündnis 90/Die Grünen. Ehegatten - mit Ausnahme des Adoptionsrechts - gibt es in Dänemark, Schweden und Norwegen. Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Antidiskriminierungsgesetze gibt es in Skandina- Man hätte vielleicht doch parlamentarisch etwas klü- vien, in den Niederlanden und in Frankreich. In den ger verfahren und die verschiedenen Anträge, die es Niederlanden hat das Parlament im letzten Monat aus dem Hause zu diesem Thema gibt, in einer län- einen Gesetzentwurf der Regierung zurückgewie- geren Debatte gemeinsam diskutieren können. sen, die eingetragene Pa rtnerschaft nach skandinavi- schem Vorbild einzuführen. Meine Damen und Herren, heute ist ein histori- sches Datum, auch wenn dies sicher keine histori- Wahrscheinlich meinen Sie, das könnte uns hier sche Stunde des Parlaments ist. Heute ist der Tag der auch so passieren. Ja, aber wohl kaum mit der Be- Verfassung der Bundesrepublik Deutschland. Es gründung: Das geht nicht weit genug. Das niederlän- wurde darauf hingewiesen, daß die Homosexuellen dische Parlament hat mit seiner Mehrheit die Regie- die einzige Gruppe sind, die im Dritten Reich ver- rung aufgefordert, die Ehe für schwule und lesbische folgt, verschleppt und vernichtet wurde, die in der Paare zu öffnen. Bundesrepublik Deutschland strafrechtlich unter der Dazu muß ich sagen: Betrachtet man diese Vor- gleichen Rechtslage zum Teil von denselben Perso- gänge, dann ist unser Land schwulen- und lesben- nen, denselben Richtern drangsalie rt und kriminali- politisch ein Entwicklungsland. Was Sie, Herr Mi- siert wurde und die nicht ausdrücklich unter den Kri- nister, vorgelegt haben, ist ein Offenbarungseid für terienkatalog des Gleichbehandlungsartikels des liberale Rechtspolitik und für Ihre Politik in Sachen Grundgesetzes fällt. Die Behinderten haben es in der Bürgerrechte von Schwulen und Lesben. letzten Wahlperiode geschafft, aufgenommen zu werden. Dafür haben wir alle wacker gekämpft, und (Walter Hirche [F.D.P.]: Das ist eine solide darüber haben wir uns sehr gefreut. Den Homosexu- Basis dafür!) ellen wurde es verwehrt. Es ist ein Dokument der Ignoranz, wenn Sie sagen, Gestern wurde die Rede von Nelson Mandela vor die Bundesregierung setzt sich dafür ein, alle Formen diesem Hause mit großem Beifall aufgenommen. Wir der Diskriminierung zu vermeiden und ihnen entge- haben gehört, was er zu den Unterdrückten, ihrer genzutreten. Wann haben Sie das einmal in den letz- Kraft und ihrer Wut, die sie nicht ruhen läßt, bis sie ten 13 Jahren getan, in diesem Hause, mit einem Ge- gleiche Rechte erhalten haben, gesagt hat. Was Nel- setzentwurf, mit einem Vorschlag? Ich kann es nicht son Mandela gesagt hat, bezog sich nicht nur auf die benennen, Sie auch nicht; denn Sie bekennen in Ih- Diskriminierung von Schwarzen, von Farbigen in rer Antwort freimütig: Zu besonderen Maßnahmen Südafrika. Nein, mit dem Ende der Apartheid und sieht die Bundesregierung derzeit keinen Anlaß. Die- mit der Einführung der Demokratie in Südafrika ist ses Papier hat mich sehr enttäuscht, weil es einen dort auch für die Schwulen und Lesben ein neues völligen Immobilismus in der Diskussion dokumen- Zeitalter angebrochen. tiert. Südafrika hat als erster Staat Homosexuellen ver- Abschließend muß ich noch ein Wo rt an die PDS fassungsmäßig festgeschriebene Rechte garantiert. richten. Sie haben es denen auch verdammt leicht Der Bill of Rights zufolge ist indirekte oder direkte gemacht. Sie haben einen unserer Anträge aus der Diskriminierung durch den Staat auf Grund von Ge- 11. Wahlperiode abgepinnt und in Fragen umformu- schlecht, sexueller Ausrichtung, Abstammung, Fami- liert. Sie haben ihn dabei juristisch so vermurkst, daß lienstand, Schwangerschaft, Alter, Behinderung, Re- es auf Grund der unklaren Rechtsbegriffe, die Sie in ligionszugehörigkeit, Glaube, Überzeugung oder Ihren Fragen verwenden, für die Bundesregierung Sprache verboten. Ich meine, es stünde dem Deut- ein leichtes war, Ausflüchte zu finden. schen Bundestag gut zu Gesicht, von den demokrati- Die Probleme, die Sie angesprochen haben, sehe schen Fortschritten in Südafrika zu lernen. ich genauso. Aber wo ist Ihr Lösungskonzept? Ich Auch andernorts, wo Willkür und Tyrannei von ei- höre drei verschiedene Stimmen aus Ihrer Fraktion, ner mutigen Bevölkerung abgeschüttelt wurden, tut Ihre, Frau Schenk, die Sie die Ehe abschaffen wollen, sich etwas für die Rechte von Lesben und Schwulen. und die Stimmen von Herrn Heuer und Herrn Gysi, In Ungarn wurden die Lebensgemeinschaften der die die Ehe für Homosexuelle einführen wollen. 9512 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996

Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Herr Kollege Von genau dieser gesellschaftlichen Wirklichkeit Beck, Sie müssen zum Schluß kommen. sollten wir uns bei der Beurteilung leiten lassen. Natürlich gibt es formale Defizite. Ich nenne nur Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): das Besuchsrecht im Krankenhaus. Aber auch da Ich denke, Sie sollten die Bundesregierung bei einer hilft uns eine rein rechtliche Betrachtungsweise nicht solchen Anfrage mit einem gangbaren Konzept kon- weiter. In wieviel Fällen kommt es denn tatsächlich frontieren, mit dem wir in der Sache weiterkommen. zu einer Verweigerung von Auskünften an die Le- Ich hoffe, wir werden in den Ausschüssen noch Gele- benspartner oder den Lebenspartner? In allen mir be- genheit haben, diese Frage an Hand anderer An- kannten Fällen haben die Ärzte die besondere Situa- träge ausführlich zu diskutieren. tion respektiert, anerkannt und alle notwendigen (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS Auskünfte ohne Probleme erteilt. SES 90/DIE GRÜNEN) (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was machen Sie im Ausländer Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat der recht?) Kollege van Essen, F.D.P. Ich habe Verständnis dafür, Herr Beck, daß die eine oder andere Partei die Situation auch deshalb Jörg van Essen (F.D.P.): Herr Präsident! Meine Da- besonders schlecht darstellt, weil sie ihrer Klientel men und Herren! Ich möchte vorweg mein Bedauern Bürokratenstellen zuschanzen wi ll. darüber aussprechen, daß uns die PDS mit diesem gestern nachträglich angemeldeten Tagesordnungs- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - punkt in dieser Woche überrascht hat. Ich hätte es Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ sehr begrüßt, wenn der Ch ristopher-Street-Day in NEN]: Das ist unglaublich!) Zukunft jährlich genutzt werden könnte, über die Si- tuation von homosexuellen Menschen in Deutsch- Mit Bürokratisierung ist jedoch noch nie eine Pro- land zu debattieren. Wir hätten in diesem Jahr gut blemlage gelöst worden, in welchem Bereich auch damit anfangen können. Es wäre dann sicher auch immer. möglich, einen günstigeren Zeitpunkt als diese sehr Ich finde es immer wieder von neuem interessant, späte Stunde für die Debatte zu vereinbaren. daß Parteien, die sonst jegliche Wirkung des Straf- Wir haben heute erneut ein großes Klagelied ge- rechts verneinen und deshalb für Entkriminalisie- hört, und vieles ist sicher berechtigt. Trotzdem rung eintreten, in bestimmten Bereichen die bewußt- möchte ich ganz bewußt ein Gegenbild aufzeichnen. seinsbildende Kraft des Strafrechts loben und die Einführung neuer Straftatbestände fordern. Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Herr Kollege, ge- Wir hatten kürzlich eine Debatte über das Thema statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Beck? Beleidigung, bei der es sehr interessante Ausführun- - gen gegeben hat. Hier wird nun plötzlich im Gegen- Jörg van Essen (F.D.P.): Zu dieser späten Stunde satz zu den damaligen Überzeugungen eine Erweite- möchte ich auf Zwischenfragen verzichten. rung des Beleidigungsparagraphen 185 (Zuruf des Abg. Volker Beck [Köln] (Zuruf von der F.D.P.: Auf einmal!) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) mit dem Ziel gefordert, eine bestimmte Personen- gruppe zu schützen. Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Wenn keine Zwi- schenfrage zugelassen ist, wird auch keine gestellt. (Zuruf von der F.D.P.: Politik nach dem Prin zip der selektiven Wahrnehmung!) Jörg van Essen (F.D.P.): Wir haben auch Rücksicht Mit einer so widersprüchlichen Politik schadet man auf unsere Kollegen zu nehmen, die noch sehr lange nur. warten müssen. Für uns Liberale ist der Schwerpunkt in dieser Le- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) gislaturperiode die Beseitigung der tatsächlichen Wer gesellschaftliche Entwicklungen mit wachem Diskriminierung im Bereich des Mietrechts beim Sinn verfolgt, kommt an der Feststellung nicht vor- Tode der Mieterin oder des Mieters. Die Kollegin bei, daß sich die gesellschaftliche Lage von homo- Hanna Wolf hat das zu Recht angesprochen. Die bis- sexuellen Menschen in den letzten Jahrzehnten und herige Regelung ist vom Bundesgerichtshof im Wege gerade in den letzten Jahren entscheidend verbes- der Rechtsfortbildung auf nichteheliche Lebensge- sert hat. Dazu hat wesentlich das beigetragen, was meinschaften mit heterosexuellen Pa rtnern erweitert die F.D.P. in den jeweiligen Koalitionsregierungen worden. Es ist kein, aber auch wirklich keinerlei umgesetzt hat. Wir freuen uns sehr darüber. Grund ersichtlich, warum gleichgeschlechtliche Pa rt -nerschaften hier weiter diskriminiert werden. Gerade Es ist heute doch ganz selbstverständlich, daß man in einer Zeit, in der die zunehmende Singularisie- zusammen wohnt, lebt und arbeitet. Das Positivste rung der Gesellschaft zu Recht beklagt wird, muß die daran ist: In allen mir bekannten Fällen gibt es kei- Politik alles tun, um Einstehensgemeinschaften zu nerlei Probleme mit der Nachbarschaft, im Gegenteil. stärken und zu fördern. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996 9513

Jörg van Essen Ich mache diese Bemerkung auch deshalb mit gro- dem man einfach nur den Kreis der Privilegierten er- ßem Nachdruck, weil die Erfahrungen mit der Ein- weitert. führung von rechtlich abgesicherten homosexuellen Eine letzte Bemerkung zu Ihrer Bemerkung über Gemeinschaften inzwischen in vielen unserer Nach- barländer positiv sind. Die F.D.P. tritt seit langem für die Qualität unserer Großen Anfrage. Ich wäre sehr eine entsprechende Regelung auch bei uns ein. Ich froh gewesen, wenn Sie auf die Ausarbeitung Ihrer rate unserem Koalitionspartner deshalb sehr, sich Großen Anfrage, deren Beantwortung noch bevor- über diese Erfahrungen zu informieren und daraus steht, auch nur einen Bruchteil der Sorgfalt verwen- für unser Land die notwendigen Schlüsse zu ziehen. det hätten, die wir verwendet haben. Nicht umsonst hat das niederländische Parlament vor Herr Kollege Beck, mit diesem Umgangsstil hier wenigen Wochen eine Verbesserung der rechtlichen kommen wir nicht weiter. Ich hoffe auch, daß Sie sich Regelungen der gleichgeschlechtlichen Lebensge- einmal mit der Bewegung in Verbindung setzen, meinschaften gefordert. Gerade liberale Abgeord- endlich mal den Kontakt aufnehmen, mal mit Lesben nete waren an dieser Verbesserung an maßgeblicher und Schwulen sprechen, damit Sie erfahren, daß Sie Stelle beteiligt - gegen eigene Regierungsmitglieder, mit Ihrer alleinigen Forderung nach Öffnung des In- ich weiß. stituts der Ehe für Lesben und Schwule doch sehr auf verlorenem Posten stehen. Insgesamt bin ich der Auffassung, daß es gilt, auch in Zukunft mit Selbstbewußtsein und Nachdruck für (Beifall bei der PDS) den weiteren Abbau von Diskriminierungen zu kämpfen. Die F.D.P.-Bundestagsfraktion wird dabei wie in der Vergangenheit die notwendige Unterstüt- Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Die Gegenrede! zung leisten. Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Beifall bei der F.D.P. - Volker Beck [Köln] Verehrte Frau Kollegin, ich finde, Ihre Ausführungen [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt sind wir machen es nicht besser: Bestimmte Vorschläge von aber gespannt, ob wir das noch erleben!) Ihnen sind in der . Form, wie sie hier angesprochen worden sind, juristisch einfach nicht möglich. Des- Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort für halb bin ich auch so gespannt darauf, daß Sie uns ei- eine Kurzintervention hat die Kollegin Schenk. nes Tages mit Ihrem Entwurf zur Gleichstellung aller Lebensweisen beglücken.

Christina Schenk (PDS): Herr Kollege Beck, ich (Zuruf der Abg. Christina Schenk [PDS]) sehe mich gezwungen, auf verschiedene Ihrer Be- - Hören sie mir doch einfach einmal zu. - Ich weiß merkungen einzugehen, die ich hier nicht unwider- nicht, ob es der richtige Ansatz ist, allen Menschen sprochen stehenlassen kann. die gleichen rechtlichen Regelungen aufzuzwingen. Erstens. Die Forderung, die Ehe für Lesben und Vielleicht sollte man Ihnen statt dessen lieber die Schwule zu öffnen, ist selbstverständlich. Es ist eine Wahl lassen - wie wir das vorschlagen - zwischen Diskriminierung, wenn Menschen von der Möglich- der Ehe, die für alle offen sein soll, der „Ehe light", keit zu heiraten ausgeschlossen werden. Was Sie je- einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft, die we- doch noch immer nicht verstanden haben, ist, daß es nigstens den Angehörigenstatus und die unmittelba- überhaupt keinen Widerspruch gibt zwischen der ren Rechtsfolgen des Zusammenlebens regelt, und Forderung nach Öffnung des Instituts der Ehe für der Lebensform derjenigen, die einfach alleine leben Lesben und Schwule und der Forderung nach Ab- wollen und keine rechtlichen Regelungen benötigen. schaffung der damit verbundenen Privilegien bzw. Ein entsprechender Antrag von uns liegt bereits vor. der Benachteiligungen für Nichtverheiratete. Ich bin für größtmögliche Liberalität und nicht da- für, den Menschen etwas vorzuschreiben. Denn die Zweitens. Ich bedaure es sehr, daß Sie meiner Bedürfnisse der Menschen sind unterschiedlich. Der Rede offensichtlich nicht zugehört haben, denn sonst Unterschiedlichkeit der Wünsche rechtlich Rech- hätten Sie die Frage nach den Alternativen, die die nung zu tragen, sie bei Heterosexuellen wie bei Ho- PDS vorschlägt, nicht gestellt. Ich kann das aber hier mosexuellen anzuerkennen, ist Aufgabe des Gesetz- für Sie wiederholen. Wir wollen einen Gesetzentwurf gebers. Mit ihrer erziehungsdiktatorischen Gleich- einbringen, der die Gleichstellung aller Lebenswei- macherei erreichen Sie nichts. Das ist gegen die In- - ob jemand verheiratet ist oder nicht, sen realisiert teressen der Menschen. ob jemand zu zweit lebt oder mit mehreren zusam- men oder allein, ob jemand heterosexuell oder bi- Ich würde auch gerne einmal wissen, was eine sexuell oder lesbisch bzw. schwul ist, soll nach unse- sinnvolle Folge aus Rechtsinstituten ist und was nur ren Vorstellungen für den Staat ohne Belang sein. ungerechtfertigte Privilegien sind. Das sind Worthül- sen, Schlagworte, mit denen wir nicht weiterkom- Noch eine Bemerkung, Herr Beck, da wir diesen men. Streit über die Ehe schon länger miteinander haben. Es ist mein Anliegen, tatsächlich einen emanzipatori- Wir sollten eine an den Bedürfnissen der Men- schen Schritt zu gehen. Das heißt nicht, daß ich ande- schen orientierte Politik machen. Ich weiß, daß es ren Menschen vorschreiben möchte, wie sie leben diese unterschiedlichen Bedürfnisse gibt; denn ich sollen. Da haben Sie mich völlig mißverstanden. rede sehr viel mit Schwulen und Lesben, aber auch Aber man kämpft nicht gegen Privilegierungen, in- mit Heterosexuellen, die in nichtehelichen Lebensge- 9514 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996

Volker Beck (Köln) meinschaften leben, und nehme deren Gründe für Was aber brachten bisher die regierungsamtlichen die Wahl ihrer Lebensform sehr ernst. Untersuchungen, nachdem fast 90 Tage seit dem öf- fentlichen Eingeständnis des Desasters ins Land ge- (Christina Schenk [PDS]: Da ist überhaupt gangen sind? Staatssekretär Kolb konnte gestern im keine Diskrepanz!) Wirtschaftsausschuß nichts aus behördeninternen Untersuchungen, geschweige denn von Staatsanwäl- Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Der Kollege ten und BKA berichten. Dr. Mahlo gibt - mit Einverständnis des Hauses - seine Rede zu Protokoll.*) Dabei häufen sich die Ungereimtheiten in den amtlichen Darstellungen. Nur ein Beispiel: Heute er- Das gleiche gilt für Herrn Minister Schmidt-Jortzig. fuhr ich im Finanzministerium, ein Abschlußgutach- ten der KPMG wird es nicht geben - wegen unüber- Ich rufe jetzt die Zusatzpunkte 14 und 15 auf: brückbarer Widersprüchlichkeiten zwischen Aussa- gen dieses Institutes und den einstigen Vulkan-Wirt- ZP14 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rolf schaftsprüfern C&L-Treuarbeit. Susat und Pa rtner, Kutzmutz, Dr. Christa Luft, Dr. Gregor Gysi Hamburg, soll nun ein neutrales Gutachten vorlegen und der Gruppe der PDS - ein Vorgang von nicht zu überbietender Brisanz, Einsetzung eines Untersuchungsausschusses war es doch der sogenannte Zwischenbericht der - Drucksache 13/4065 - KPMG vom 23. Februar, der letztlich den Konkurs des Vulkan-Verbundes mit all seinen Folgen auslö- ZP15 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD ste. Nun entpuppt sich dieser möglicherweise als un- seriös. Brachen die Firmen möglicherweise wegen ei- Erweiterung des Untersuchungsauftrages des nes von interessierter Seite gestreuten Waschzettels 2. Untersuchungsausschusses zusammen? Nicht nur am Rande sei erwähnt, daß der - Drucksache 13/4698 — KPMG-Bericht unter anderem auf Informationen der Überweisungsvorschlag: Herren Dirk Groß-Blotekamp, Gerald Utikal und Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität Hans Christoph von Rohr von der BvS basierte. und Geschäftsordnung Eine schnelle Aufklärung der Vulkan-Affäre tut Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für also not; denn es geht dabei keineswegs nur um die die gemeinsame Aussprache eine halbe Stunde vor- für den Steuerzahler millionenteure Geschichte. Ver- gesehen. - Kein Widerspruch. Dann ist es so be- strickungen im politischen wie im finanziellen Be- schlossen. reich sind herauszufinden. Es geht vor allem um das Heute und Morgen vieler Arbeitsplätze, weil viele Ich eröffne die Aussprache. Das Wo rt hat der Kol- der Akteure von gestern nach wie vor an den Schalt- lege Rolf Kutzmutz, PDS. hebeln sitzen und über Gegenwart und Zukunft der betroffenen Bet riebe entscheiden. Rolf Kutzmutz (PDS): Herr Präsident! Meine Da- men und Herren! Daß wir uns heute zum vierten Mal Auch dabei häufen sich mittlerweile die Unge- innerhalb eines Vierteljahres mit den Vorgängen um reimtheiten. Ein Beispiel dafür ist die rechtliche Füh- den einst größten deutschen Werftenverbund be- rung und Finanzierung der Ostwerften. Am 4. Ap ril schäftigen, ist gut. Es zeigt zumindest, daß Einigkeit nötigte der Bund Mecklenburg-Vorpommern zu ei- über alle Fraktionsgrenzen hinweg darüber besteht, ner Vereinbarung, mit der das Opfer für einen Teil daß uns das Schicksal von 22 500 Vulkan-Beschäftig- des ihm zugefügten Schadens selbst aufkommen so ll. ten in West und Ost sowie weiteren Zehntausenden Am 23. April akzeptierte das Land schließlich zähne- Beschäftigten in Zulieferbetrieben nicht gleichgültig knirschend die Vergewaltigung. Einen Monat später ist. aber befinden sich die Werften noch immer in einem undefinierbaren Schwebezustand. Die Einigkeit endete aber bisher bei der Frage, wie die Umstände aufzuhellen sind, die zum Versickern eines mindestens dreistelligen Millionenbetrages öf- Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Herr Kollege fentlicher Mittel führten - Umstände, welche die Kutzmutz, gucken Sie bitte einmal auf die Uhr. Steuerzahler nun nochmals mit vierstelligen Millio- nensummen zur Kasse bitten. Rolf Kutzmutz (PDS): Danke. - Meine Damen und Die Gruppe der PDS hat seit Anfang März wieder Herren, ich bitte Sie, unserem Antrag zuzustimmen, und wieder eine parlamentarische Untersuchung weil ich glaube, daß es wichtig ist, ganz schnell zu verlangt. Seit 12. März liegt diesem Hause unser ent- Lösungen zu kommen. Das sind wir dem Steuerzah- sprechender Antrag vor. Alle Fraktionen hüllten sich ler schuldig. Wir sind es aber insbesondere den bis vorgestern entweder in Schweigen oder verwie- 10 000 Beschäftigten schuldig, die bisher auf den sen auf die Bemühungen der Bundesregierung um Werften Arbeit gefunden haben. „eine schonungslose Aufklärung der persönlichen Danke schön. Verantwortlichkeiten für die Fehlleitung öffentlicher Mittel", wie es die Mehrheit des Haushaltsausschus- (Beifall bei der PDS) ses am 17. April so hübsch formulierte.

*) Die Redetexte werden als Anlage 4 in einem Nachtrag zu Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat der diesem Stenographischen Bericht abgedruckt. Kollege Beucher, SPD. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996 9515

Friedhelm Julius Beucher (SPD): Guten Morgen, Erstens. Dieser Ausschuß würde sich nur mit den Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Vorgängen um die Bremer Vulkan Verbund AG be- Herren! Liebe Kollegen! Die PDS hat einen Antrag schäftigen. Beim Auftreten von untersuchungswürdi- auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses vor- gen Sachverhalten im Zusammenhang mit der Priva- gelegt, der die Vorgänge um die Bremer Vulkan Ver- tisierung von anderen Unternehmen durch die Treu- bund AG aufklären soll. Die SPD ist ebenfa lls der handanstalt und BvS würde sich in jedem Einzelfall Auffassung, daß die Folgen der Privatisierung der die Frage nach Einsetzung eines Untersuchungsaus- ostdeutschen Werften rückhaltlos und vollständig schusses stellen. Dies ist bei einer Erweiterung des aufgeklärt werden müssen. Aber auch andere Priva- Auftrags des 2. Untersuchungsausschusses nicht der tisierungen wie zum Beispiel der Verkauf ehemaliger Fall. DDR-Kreditinstitute an westdeutsche Großbanken im Zuge der Umstrukturierung des DDR-Bankensy- Zweitens. Bei einer Erweiterung des Untersu- stems haben möglicherweise zu erheblichen Vermö- chungsauftrags können die vorhandenen Kapazitä- gensnachteilen für die öffentlichen Kassen geführt ten des 2. Untersuchungsausschusses genutzt wer- und müssen daher untersucht werden. den. Im Vergleich zur Einsetzung eines eigenständi- gen Vulkan-Untersuchungsausschusses entstehen (Beifall bei der SPD) somit auch nur geringe zusätzliche Kosten. Die Vorgänge um die Bremer Vulkan Verbund AG sind somit nur ein Beispiel dafür, daß bei der Treu- Liebe Kolleginnen und Kollegen, wie Sie wissen, handanstalt und ihrer Nachfolgeeinrichtung, der hat die Bremer Bürgerschaft Anfang dieser Woche Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderauf- die Einsetzung eines Vulkan-Untersuchungsaus- gaben, Lücken und Mängel im Vertragsmanagement schusses beschlossen, der insbesondere die Verant- und Controlling bestehen, die eine zweckentfrem- wortlichkeiten des Bremer Senats bei dieser Affäre dete Verwendung von Fördermitteln möglich ge- untersuchen soll. Insofern ist es in diesem Zusam- macht haben bzw. immer noch möglich machen. menhang zweckmäßig, gleichzeitig die Zuständig- keiten des Bundes durch den Deutschen Bundestag Um diese offensichtlichen Lücken und Mängel bei zu beleuchten. der BvS und vor allem auch bei der Durchführung - jetzt hören Sie gut zu, Herr Röhl - der Rechts- und Die SPD-Bundestagsfraktion hält daher auch aus Fachaufsicht durch den Bundesminister der Finan- diesem Grund die Erweiterung des Auftrags des zen mit den nachteiligen Folgen für die öffentlichen 2. Untersuchungsausschusses für dringend geboten Haushalte aufzuklären, ist die SPD-Bundestagsfrak- und hofft auf die Unterstützung des Hauses. tion dafür, den Auftrag des bereits bestehenden 2. Untersuchungsausschusses zu erweitern. Denn Sie (Beifall bei der SPD) müssen wissen: Alleine durch die zweckentfremdete Fördermittelverwendung im Rahmen des Cash-Ma- nagements beim Bremer Vulkan sind für den Bund Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat und für das Land Mecklenburg-Vorpommern- insge- Kollegin Simone Probst, Bündnis 90/Die Grünen. samt zusätzliche Haushaltsbelastungen von fast 1 Milliarde DM entstanden. Dieser Untersuchungs- ausschuß bietet sich deshalb geradezu an, da dieser Simone Probst (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Ausschuß ohnehin noch offen gebliebene Fragen des Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Vor- Treuhand-Untersuchungsausschusses aus der letzten gänge um die Zweckentfremdung der öffentlichen Wahlperiode aufzuklären hat. Mittel, die eigentlich für die ostdeutschen Werften Allerdings hat die bisherige Ausschußarbeit auch des Vulkan-Verbundes gedacht waren, sind, denke gezeigt, daß der derzeitige Untersuchungsauftrag ich, nicht aufgeklärt. Zur Sache hat mein Vorredner nicht ausreicht, die jetzt offenkundig gewordenen schon einiges gesagt. Ich brauche mich zu dieser Sachverhalte über den Verkauf der DDR-Banken späten Stunde daher nicht mehr großartig dazu zu und der Vorgänge beim Bremer Vulkan zum Gegen- äußern. Die Verantwortung, die die BvS in diesem stand von Untersuchungen durch diesen Ausschuß Bereich trägt, ist sehr erheblich. Über die BvS steht zu machen - dies vor allem deshalb, weil die SPD vor daher auch die Bundesregierung in der Verantwor- der Einsetzung des Ausschusses dem Drängen der tung. Koalitionsfraktionen auf Einschränkung des Auftra- ges nachgegeben hat. Derzeit kann der 2. Untersu- Der Kollege der SPD hat eben schon den Bremer chungsausschuß trotz Vorliegens eines weitergehen- Untersuchungsausschuß angesprochen. Dieser Un den Aufklärungsbedarfs nicht tätig werden, wenn tersuchungsausschuß befaßt sich vornehmlich mit zum Beispiel in gleicher Angelegenheit ein Bericht den Vorgängen, die der Bremer Senat zu verant- des Bundesrechnungshofs vorliegt. Dies hat sich als worten hat, und nicht mit der Bundesregierung. Die nachteilig erwiesen, weil ein Untersuchungsaus- Bundesregierung kann sich aber nicht aus der Ver- schuß im Vergleich zum Bundesrechnungshof durch antwortung stehlen. Ihr Vorschlag einer Auswei- sein Beweiserhebungsrecht über ein größeres Instru- tung des Untersuchungsauftrages ist nicht ausrei- mentarium verfügt. chend. Der Vorgang ist so gravierend, daß er recht- fertigt, einen extra Untersuchungsausschuß einzu- Der Antrag der PDS auf Einsetzung eines Vulkan richten. Untersuchungsausschusses muß von der SPD auch aus folgenden Gründen abgelehnt werden: Deshalb unterstützen wir den Antrag der PDS. 9516 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996

Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat Jürgen Koppelin (F.D.P.): Herr Kollege, ich sehe Kollege Koppelin, F.D.P. den Zusammenhang in diesem Falle nicht. Der Un- tersuchungsausschuß, den Sie fordern, wird nach meiner Auffassung da nichts weiterbringen. Aber ich Jürgen Koppelin (F.D.P.): Herr Präsident! Liebe werde nachher in einem anderen Bereich auf Ihre Kolleginnen und Kollegen! Wir haben zwei Anträge Frage zurückkommen. Ich bitte dafür um Verständ- vorliegen, einmal einen Antrag der PDS, Einsetzung nis. eines Untersuchungsausschusses, und einen Antrag der Sozialdemokraten, Erweiterung des Untersu- Der Bremer Untersuchungsausschuß ist schon an- chungsauftrages des 2. Untersuchungsausschusses. gesprochen worden. Ich finde, daß die Fragen, die Beide Anträge sind nach Auffassung der Fraktion man in Bremen formuliert hat, sehr gut sind. Dabei der Freien Demokraten überflüssig. gibt es drei Fragen, die genau den Bereich betreffen, den die PDS angesprochen hat. Wir sind als F.D.P. Wenn PDS und SPD wirklich Interesse an der Auf- der Auffassung: Warten wir einmal die Ergebnisse klärung hätten, hätten sie die Gelegenheit nutzen des Bremer Ausschusses ab! Wenn uns die Ergeb- können, im Haushaltsausschuß ihre entsprechenden nisse dann nicht zufriedenstellen, müssen wir sicher Fragen zu stellen. Im Haushaltsausschuß haben wir über weitere Schritte reden. Dabei muß man fairer- mehrfach Gelegenheit gehabt, zum Beispiel mit der weise sagen, liebe Kolleginnen und Kollegen von BvS zu diskutieren. Sie hat do rt ganz klar Rede und den Sozialdemokraten: Zur Einsetzung dieses Unter- Antwort gestanden. Aber wir haben natürlich eine suchungsausschusses haben nicht Sie sich entschie- schiefe Lage insofern, weil Sie teilweise nach Vor- den, sondern zwei andere, kleinere Fraktionen. Sie gängen bei der BvS fragen und dabei vergessen, sind dazu gedrängt worden. überhaupt erst einmal nach den Schuldigen zum Bei- spiel beim Bremer Vulkan zu fragen. Wir erwarten allerdings, daß die BvS beim Unter- (Beifall bei der F.D.P.) suchungsausschuß in Bremen hierzu auch Rede und Antwort steht. Frau Professor Luft, Sie wissen ganz genau, wie wir sehr sachlich mit der BvS im Haushaltsausschuß Jetzt sage ich noch einen Satz zum Antrag der über diese Punkte diskutiert haben. Ich habe nicht PDS. Daß Sie als PDS in Ihrem Antrag zum Untersu- feststellen können, daß zum Beispiel von der PDS chungsausschuß zum Beispiel nicht nach der Rolle dort sehr viele Fragen gekommen sind. des Herrn Ringstorff in Mecklenburg-Vorpommern gefragt haben, dafür habe ich natürlich Verständnis, wo Sie doch gern heimlich mit ihm eine Koalition ein- Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Herr Kollege gehen würden. Das wollen Sie selbstverständlich Koppelin, gestatten Sie jetzt eine Zwischenfrage von nicht stören, aber das hätte auch do rt hineingehört. Herrn Kutzmutz? Ich komme darauf nachher noch zurück.

(Zurufe von der SPD und der PDS) Jürgen Koppelin (F.D.P.): Ja, gerne. Nun kommen wir zum Antrag der Sozialdemokra- Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Bitte sehr. ten. Warum stellen Sie denn diesen Antrag? Sie stel- len doch den Antrag, weil Sie jetzt feststellen müs- sen, daß Sie im 2. Untersuchungsausschuß den gro- Rolf Kutzmutz (PDS): Herr Kollege Koppelin, Sie ßen Fisch, den Sie dort gern fangen wollten, nicht ge- sprechen den Haushaltsausschuß an. Ich bin im Wirt- fangen haben. Das ist Ihr Problem, und nun versu- schaftsausschuß. Herr Staatssekretär Kolb wird Ih- chen Sie aus Enttäuschung darüber, mit den Themen nen bestätigen können, daß ich nicht nur eine Frage zu BvS und Treuhand das Ganze noch etwas aufzu- gestellt habe, sondern mehrere, und die Fragen, um päppeln. die Ausschußsitzung nicht zu verlängern, immer schriftlich übergeben habe. Ich muß noch einmal sa- Es ist doch interessant, wenn Sie in Ihrem Antrag gen: Durch die zögerliche Arbeit der BvS und durch erst in der Begründung etwas zum Vulkan sagen und die ganzen Fragen, die aufgetreten sind - - vorher nur von BvS und von der Treuhand reden. Warum haben Sie denn nicht in Ihrem Antrag auch eindeutig zum Vulkan Stellung genommen? Nein, Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Frage, Herr Kol- das tun Sie nur in der Begründung, weil Sie scham- lege! haft verschweigen, wer damit zu tun hatte: die Her- ren - wir kennen sie alle - Hennemann, Teichmüller, Ringstorff. Rolf Kutzmutz (PDS): Ich möchte Sie fragen, ob Sie mit mir nicht übereinstimmen, daß durch die Verzö- (Beifall bei der F.D.P.) gerung, die jetzt eintritt und die bei keinem Untersu- chungsausschuß auftritt, zum Beispiel auch die Ich sage Ihnen in diesem Zusammenhang noch et- Volkswerft Stralsund nachträglich gefährdet wird, was: Ich habe ganz großen Respekt vor dem Bremer weil keine Entscheidungen getroffen werden und Bürgermeister, wie er sich auch auf dem Parteitag deshalb schon ein Verzug bei der Bautätigkeit von der Sozialdemokraten eindeutig von dem distanziert über sechs Wochen eingetreten ist. hat, was der Herr Hennemann dort abgelassen hat. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996 9517

Jürgen Koppeln Es ist ein Skandal, liebe Kolleginnen und Kollegen legen auch. Insofern habe ich keine langwierigen von den Sozialdemokraten, daß Sie solch einen Ausführungen gemacht, wie Sie das hier dargestellt Herrn noch als Delegierten zum Landesparteitag haben; denn ich habe genau die Zeit, die andere wählen. Das ist doch auch ein Skandal, auch haben.

(Widerspruch bei der SPD) (Lachen bei der SPD) und ich denke, damit müssen Sie sich auch einmal Zweitens. Das habe ich eben erwähnt: Da haben beschäftigen. Ihre Kolleginnen und Kollegen ja nicht zuhören wol- len, als ich sagte, daß wir dieses Thema laufend im Und nun, da Sie das große Geschrei anheben, liebe Haushaltsausschuß diskutieren, auch mit der BvS. Kolleginnen und Kollegen, komme ich auf das zu- Und der Finanzminister und die Staatssekretärin, die rück, was ich Ihnen versprochen habe. Sie bekom- erfreulicherweise an diesem neuen Tag noch hier bei men doch alle die Bücher, woran der Bund beteiligt der Debatte anwesend ist und nachher etwas dazu ist, wo er seine Beteiligungen hat. Schauen Sie ein- sagen wird, sind auch immer dabei. Also, das Thema mal hinein! Ich nehme jetzt nur einmal den BvS-Ver- ist doch richtig erkannt, daß wir das im Haushalts- waltungsrat. Ich lese Ihnen Namen vor, bei denen ausschuß diskutieren müssen. Sie sich erkundigen können. Wissen Sie denn, wer im Verwaltungsrat der BvS sitzt? Da sitzt Herr Rein- hard Höppner, Ministerpräsident in Magdeburg; da Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Herr Kollege sitzt Herr Dr. Norbe rt Meisner, Senator in Berlin; da Koppelin, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage sitzt Herr Harald Ringstorff; da sitzt Herr Dieter der Kollegin Barbara Hendricks? Schulte, Vorsitzender des Deutschen Gewerkschafts- bundes Düsseldorf; da sitzt Herr Manfred Stolpe; da sitzt Herr Joachim Töppel, geschäftsführendes Mit- Jürgen Koppelin (F.D.P.): Mit großem Vergnügen, glied des Vorstandes der Industriegewerkschaft Me- wenn die Fragen solche Qualität haben wie eben. tall. Fragen Sie doch diese Leute, was sie in dem Ver- waltungsrat tun! Da können Sie die Auskünfte be- kommen. Dr. Barbara Hendricks (SPD): Herr Kollege Koppe- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) lin, Sie haben eben eine große Zahl von Namen von Mitgliedern des Aufsichtsrates der Treuhand und der BvS aufgezählt Herr Kollege Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: (Zuruf von der F.D.P.: Das war sehr wichtig!) Koppelin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kol- legen Schily? und an uns die Aufforderung gerichtet, bei diesen nachzufragen, was denn do rt losgewesen sei. Darf ich Sie fragen, ob Ihnen bewußt ist, daß das Aktien- (F.D.P.): Gleich, wenn ich zuvor Jürgen Koppelin recht verbietet, aus Aufsichtsratssitzungen Mitteilun- noch einen Satz sagen darf! gen zu machen? Wenn wir noch einmal in die Treuhand zurück- schauen, dann frage ich Sie: Wer hat denn do rt im Verwaltungsrat gesessen? Herr Roland Issen, Herr Jürgen Koppelin (F.D.P.): Aber, Frau Kollegin, das Hans-Werner Meyer, Hermann Rappe, Manfred sind ja alles Sozialdemokraten. Die sind von politi- Stolpe usw. Fragen Sie doch die Herren; die wissen schen Gremien dort hineingeschickt worden. Ich ja Bescheid. Oder sind die ihrer Aufsichtspflicht nicht denke, wenn die - und das ist jetzt mein Eindruck - nachgekommen? versagt haben, dann müßten sie eigentlich von den politischen Gremien, von denen sie dort hineinge- Jetzt haben Sie selbstverständlich das Wo rt zu ei- schickt worden sind, zurückgezogen werden. Und ner Frage. die Vorschläge sind, soweit ich weiß, überwiegend von Sozialdemokraten gemacht worden.

Otto Schily (SPD): Herr Kollege Koppelin, ist Ihnen (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU - eigentlich bei Ihren langwierigen Ausführungen Zuruf von der SPD: Was war mit Rexrodt?) nicht aufgefallen, daß die erste Adresse, was die Rechts- und Fachaufsicht über die BvS und ihre Vor- Ich komme zum Schluß, liebe Kolleginnen und Kol- gängerin, die Treuhand, angeht, bei dem Bundes- legen. Die Fraktion der Freien Demokraten lehnt die finanzminister und bei dem Bundeswirtschaftsmini- beiden Anträge ab. - Auf den Zuruf sage ich Ihnen: ster lag? Herr Rexrodt hat mit der Angelegenheit nichts zu tun. Das wissen Sie genausogut wie ich. (Beifall bei der SPD - Zuruf von der SPD: Das will er doch gar nicht wissen!) (Lachen bei der SPD)

Ich bedanke mich für Ihre Geduld. Jürgen Koppelin (F.D.P.): Zum ersten, Herr Kol- lege: Ich habe nicht länger Zeit als die anderen Kol- (Beifall bei der F.D.P.) 9518 Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996

Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort zu ei- Jürgen Koppelin (F.D.P.): Ich weiß sehr wohl etwas ner Kurzintervention hat die Kollegin Christa Luft. dazu. (Widerspruch bei der SPD)

Dr. Christa Luft (PDS): Herr Kollege Koppelin, als - Habe ich nun die Gelegenheit zu antworten oder Mitglied des Haushaltsausschusses weise ich mit nicht? Man sagt zwei Worte, und Sie ereifern sich be- Nachdruck zurück, daß die PDS in diesem Gremium reits. nicht die Möglichkeit genutzt habe, Fragen zu stel- len, wenn dieser Tagesordnungspunkt an der Reihe (Wiederholte Zurufe bei der SPD) war. Vielleicht waren Sie zu diesem Zeitpunkt nicht zugegen. Das ist möglich. Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Darf der Kollege (Elke Ferner [SPD]: Das ist öfter so!) Koppelin die Gegenrede halten?

Ich jedenfalls könnte eine Reihe von Zeugen beibrin- gen. Die Protokolle sagen das ja auch aus. Jürgen Koppelin (F.D.P.): Ich kann ja die Aufre- gung der Sozialdemokraten verstehen. Ich wi ll jetzt Im übrigen haben wir in der vorletzten Sitzung des nicht noch einmal die ganzen Namen aufzählen. Haushaltsausschusses einen Antrag der PDS beraten Herr Kollege Schily, ich könnte Ihnen dazu noch et- - natürlich hat die Mehrheit ihn abgelehnt -, der sich was sagen. Ich habe mich - solange ich diesem Parla- mit dem weiteren Umgang beim Subventionsmiß- ment angehöre - sehr intensiv damit beschäftigt, wie brauch befaßt. Was Ihre Person angeht, erinnere ich zum Beispiel die Allianz an bestimmte Dinge in den mich sehr genau, daß Sie in diesem Hause - aller- neuen Bundesländern gekommen ist. Ich will auch dings vor den Landtagswahlen - selbst gefordert ha- das einmal erwähnt haben. Ich habe immer wieder ben, man möge einen Untersuchungsausschuß ein- nachgebohrt. Das wäre auch noch ein Kapitel für setzen. Nachdem die Landtagswahlen vorbei sind, sich. Ich bin da sehr wohl in der Materie. haben Sie mit diesem Thema offenbar nichts mehr am Hut. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Haben Sie die Regierung oder nicht?) (Widerspruch bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Ich habe nur fünf Minuten Redezeit. Deshalb kann ich dazu nicht mehr sagen. Vielleicht geht es Ihnen auch darum, zu verhin- dern, daß aufgeklärt wird, welche Rolle in diesem Ich möchte zur Kollegin Professor Luft etwas sa- Prozeß eine ganze Reihe von Großbanken dieses gen. Es ist richtig, daß ich einen Untersuchungsaus- Landes und auch einige Abgeordnete spielen, die in schuß gefordert habe. Ich habe - das werden Sie diesem Hause sitzen, und zwar auf der Bank mir ge- nachlesen können - aber gesagt, ich würde den Lan- genüber. desparlamenten in Bremen und Mecklenburg-Vor- - pommern Untersuchungsausschüsse empfehlen. Das Danke schön. war jedenfalls der Vorschlag der F.D.P. Deswegen habe ich ausdrücklich gesagt, daß wir begrüßen, daß (Beifall bei der PDS - Abg. Otto Schily in Bremen ein Untersuchungsausschuß eingerichtet [SPD] meldet sich zu einer Kurzinterven worden ist. tion) (Dr. Christa Luft [PDS]: Das haben Sie doch nicht im Parlament zu empfehlen! Wir Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Ich nehme an, haben hier über die Regierungsbeteiligung das ist auch eine Kurzintervention zu dem Beitrag. bei der BvS zu befinden!) Ich bitte, sich an der Kürze der Vorrednerin ein Bei- spiel zu nehmen. Danach kann der Kollege Koppelin einmal antworten. Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das war Rede und Gegenrede.

Otto Schily (SPD): Sehr schön, Herr Präsident. Ich Jetzt wollen wir in der Tagesordnung weiterfahren. nehme Ihre Aufforderung selbstverständlich gerne Die veranlaßt mich zu sagen, daß Kollege Andreas entgegen. Schmidt seine Rede mit dem Einverständnis des Hau- ses zu Protokoll gibt.*) Ich möchte nur darauf hinweisen, daß der Kollege Koppelin keine Silbe zu der Frage verloren hat, ob es Damit schließe ich die Aussprache. nicht auch untersuchungswert ist, was mit der Priva- tisierung der Banken geschehen ist. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Gruppe der PDS zur Einsetzung eines Untersu- (Beifall bei Abgeordneten der SPD - Wolf chungsausschusses auf Drucksache 13/4065. Wer gang Ilte [SPD]: Dazu weiß er doch nichts!) stimmt für diesen Antrag? - Gegenprobe! - Enthal- tungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen der Koali-

Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Herr Kollege *) Der Redetext wird als Anlage 5 in einem Nachtrag zu diesem Koppelin. Stenographischen Bericht abgedruckt Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996 9519

Vizepräsident Hans-Ulrich Klose tionsfraktionen und der SPD-Fraktion gegen die - Das tut mir leid. Ich bedaure außerordentlich. Ich Stimmen von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der kann nur das aufrufen, was mir die Geschäftsführer PDS abgelehnt. auf Zetteln angeben. Der Name stand do rt nicht. Et- was anderes kann der Amtierende Präsident hier Der Antrag der Fraktion der SPD zur Erweiterung nicht tun. Ich weiß nicht, wie das entstanden ist. des Untersuchungsauftrages des 2. Untersu- Aber so ist nun einmal das Leben. Deshalb ist die Sa- chungsausschusses auf Drucksache 13/4698 soll dem che jetzt abgeschlossen. Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Ge- schäftsordnung überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist offenbar der Fall. Dann ist Wir sind am Schluß der heutigen Tagesord- die Überweisung so beschlossen. nung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deut- schen Bundestages auf Freitag, den 24. Mai 1996, Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tages- 9 Uhr ein. ordnung. (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sie Die Sitzung ist geschlossen. haben eine Wortmeldung von Frau Lucyga übersehen!) (Schluß der Sitzung: 0.30 Uhr)

Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996 9521*

Anlage zum Stenographischen Bericht

Anlage entschuldigt bis Abgeordneter) einschließlich Liste der entschuldigten Abgeordneten Petzold, Ulrich CDU/CSU 23. 5. 96 entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich Poß, Joachim SPD 23. 5. 96

Antretter, Robert SPD 23. 5. 96 Dr. Rappe (Hildesheim), SPD 23.5. 96 Hermann Behrendt, Wolfgang SPD 23. 5. 96 * Schlauch, Rezzo BÜNDNIS 23. 5. 96 Berger, Hans SPD 23. 5. 96 - 90/DIE GRÜNEN Dr. Däubler-Gmelin, SPD 23. 5. 96 Herta Schönberger, Ursula BÜNDNIS 23. 5. 96 90/DIE Dr. Gerhardt, Wolfgang F.D.P. 23. 5. 96 GRÜNEN Göllner, Uwe SPD 23. 5. 96 Steenblock, Rainder BÜNDNIS 23. 5. 96 Gysi, Andrea PDS 23. 5. 96 90/DIE GRÜNEN Hempelmann, Rolf SPD 23. 5. 96 Terborg, Margitta SPD 23. 5. 96 Dr. Höll, Barbara PDS 23. 5. 96 Vosen, Josef SPD 23. 5. 96 Horn, Erwin SPD 23. 5. 96 Wolf (Frankfurt), BÜNDNIS 23. 5. 96 Kanther, Manfred CDU/CSU 23. 5. 96 Margareta 90/DIE GRÜNEN Dr. Kohl, Helmut CDU/CDU 23. 5. 96 Michels, Meinolf CDU/CSU 23. 5. 96 *) für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Ver- Mosdorf, Siegmar SPD 23. 5. 96 sammlung

Nachtrag zum Plenarprotokoll 13/107

Deutscher Bundestag

Nachtrag zum Stenographischen Bericht

107. Sitzung

Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996

Inhalt:

Anlage 2 Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, Bundesmini Zu Protokoll gegebene Reden zu Tages- ster BMJ 9533* B ordnungspunkt 9 (a - Unterrichtung Margot von Renesse SPD 9533* D durch die Bundesregierung: Die Rolle der Dr. Wolfgang Götzer CDU/CSU 9534* D Union im Bereich des Fremdenverkehrs Grünbuch der Kommission, b - Entschlie- Hildebrecht Braun (Augsburg) F.D.P. . 9536* A ßungsantrag zum Bericht der Bundesre- Rita Grießhaber BÜNDNIS 90/DIE GRÜ gierung über die Entwicklung des Touris- NEN 9537* A mus, c - Antrag: Umweltschutz und Tou- Heidemarie Lüth PDS 9537* D rismus) - Dr. Gerd Müller CDU/CSU 9523* A Anlage 4 Dr. Olaf Feldmann F.D.P 9523* D Zu Protokoll gegebene Reden zu CDU/CSU 9524* B Zusatztagesordnungspunkt 13 (Große Dr. Rolf Olderog CDU/CSU 9525* D Anfrage: Die Situation von Lesben und Schwulen in der Bundesrepublik Deutsch- Susanne Kastner SPD 9527* A land) Halo Saibold BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 9528* B Dr. Dietrich Mahlo CDU/CSU 9538* B Iris Follak SPD 9529* C Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, Bundesmini Christina Schenk PDS 9531* A ster BMJ 9539* A Dr. Heinrich L. Kolb, Parl. Staatssekretär BMWi 9532* A Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Rede zu den Zu- Anlage 3 satztagesordnungspunkten 14 - Antrag: Zu Protokoll gegebene Reden zu Tages- Einsetzung eines Untersuchungsaus- ordnungspunkt 10 (Entwurf eines Geset- schusses - und 15 - Antrag: Erweiterung zes zur erbrechtlichen Gleichstellung des Untersuchungsausschusses des 2. Un- nichtehelicher Kinder - Erbrechtsgleich- tersuchungsausschusses stellungsgesetz) Andreas Schmidt (Mülheim) CDU/CSU . 9539* D

Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996 9523*

Anlagen zum Stenographischen Bericht

Anlage 2 eine weitgehende Regelungskompetenz auch für die Tourismuspolitik auf EU-Ebene einzuführen. Zu Protokoll gegebene Reden zu Tagesordnungspunkt 9 Darüber hinaus möchte ich darauf verweisen, daß (a - Unterrichtung durch die Bundesregierung: die EU zunehmend eine Politik des goldenen Zügels Die Rolle der Union im Bereich beim Einsatz von Haushaltsmitteln praktiziert. Die des Fremdenverkehrs-Grünbuch der Kommission, indirekte Förderung des Fremdenverkehrs durch die b - Entschließungsantrag zum Bericht Anwendung bestimmter Gemeinschaftspolitiken hat der Bundesregierung in den letzten Jahren erheblich zugenommen. über die Entwicklung des Tourismus, In der Europäischen Union beschäftigt sich nicht c - Antrag: Umweltschutz und Tourismus) nur die Generaldirektion XXIII, sondern auch ein Verwaltungsausschuß Tourismus und ein beratender Ausschuß für Tourismus bei der Kommission sowie Dr. Gerd Müller (CDU/CSU): Der Bezugspunkt die- ser Debatte, nämlich das Grünbuch der Kommission der Ausschuß für Verkehr und Fremdenverkehr des im Bereich des Fremdenverkehrs, ist bereits ein Jahr Europäischen Parlaments mit der Thematik. alt, und dennoch ist diese Debatte durchaus aktuell. Da die Tourismuswirtschaft als Querschnittsbe- Bei der derzeit laufenden Europäischen Regierungs- reich von vielen Regelungsvorschlägen der EU tan- konferenz geht es nämlich unter anderem auch um giert ist, möchte ich aufzeigen, wo konkreter Hand- die Überprüfung der Zuständigkeit der EU auf dem lungsbedarf besteht: Sektor des Fremdenverkehrs. 1. bei der Verwirklichung des Binnenmarktes und Seit dem Maastrichter Vertrag wurde der Fremden- der Herstellung von vergleichbaren Wettbewerbs- verkehr in Artikel 3 EG-Vertrag als Tätigkeit der Ge- bedingungen, beispielsweise bei der Rechtsan- meinschaft genannt. Immer wieder wird allerdings gleichung im steuerlichen Bereich; verkannt, daß sich daraus keine spezielle Kompe- tenznorm ergibt. Maßnahmen der Gemeinschaft im 2. bei der Umsetzung der Dienstleistungsfreiheit, Tourismus - wie dies der Aktionsplan war - werden beispielsweise beim Einsatz deutscher Reiseleiter bisher auf Artikel 235 EG-Vertrag gestützt, der einen im Ausland; einstimmigen Ratsbeschluß fordert. Darüber hinaus 3. bei der Verwirklichung des Verbraucherschutzes. ist auch Artikel 100a EG-Vertrag (Entscheidung mit Hier nenne ich das Stichwort Dienstleistungshaf- qualifizierter Mehrheit) als Rechtsgrundlage denk- tung, Lebensmittelrecht etc. Allerdings ist hier die bar, wenn die Maßnahmen der Verwirklichung des Grenze der Überreglementierung sehr schnell Binnenmarktes dienen. überschritten; Mit Blick auf die laufenden Verhandlungen der Re- 4. beim Umweltschutz. Ich sehe dringenden Hand- gierungskonferenz stellt die CDU/CSU-Fraktion ein- lungsbedarf bei der Umsetzung des 5. EG-Um- deutig und unmißverständlich klar, daß es keiner weltaktionsprogramms zur Stabilisierung des speziellen Gemeinschaftskompetenz für den Touris- Weltklimas mit sofortigen Initiativen zur Reduzie- mus bedarf. Eine weitergehende Kompetenz wäre rung der Steuervergünstigung im europäischen mit den regionalen Besonderheiten der dezentralen Flugverkehr und der Verwirklichung einer um- Organisationsstruktur sowie der vorrangigen Kompe- weltschonenden Mobilität. Hier brauchen wir Be- tenz der Länder unvereinbar. Eine eigene EU-Zu- wegung in Europa. Das Thema „Plakette auf Au- ständigkeit würde dem Subsidiaritätsprinzip wider- tobahnen" ist noch nicht vom Tisch. sprechen. Als Vertreter der Alpenregion des Allgäus fordere In bezug auf die Vorschläge des Grünbuches ich darüber hinaus ein Bündnis zwischen Landwirt- spricht sich die CDU/CSU-Fraktion für die Option schaft und Tourismus. zwei, d. h. für die Beibehaltung des gegenwärtigen Die Bauern in den Alpen, im Allgäu, aber auch in Rahmens und Aktionsniveaus der Gemeinschaften den Mittelgebirgsregionen und an der Ostsee sind im Bereich des Tourismus, aus. Dies geht allerdings unsere besten Kulturpfleger und leisten einen her- nur unter der Voraussetzung, daß die EU-Kommis- ausragenden Beitrag. Leider wird ihre Arbeit nicht sion zukünftig das Subsidiaritätsprinzip strenger als entsprechend honoriert. Bei der Umsetzung dieser bisher auslegt und beachtet. Aufgaben sind wir national gefordert, sehr schnell zu Das Europäische Parlament fordert in seiner Ent- reagieren. schließung zur Regierungskonferenz vom 17. Mai Meine Damen und Herren, im Bereich des Frem- unter Punkt X: „Der Fremdenverkehr sollte in all sei- denverkehrs sind wir bereits über ausreichende Vor- nen europäischen Aspekten eine getrennte und ei- schriften in das EU-Regelwerk eingebunden; weite- genständige gemeinsame Politik mit eigener Rechts- rer Regelungsbedarf besteht nicht. grundlage und einem eigenen Kapitel in dem über- prüften Vertrag bilden." Dr. Olaf Feldmann (F.D.P.): Tourismus ist ein dyna- Meine sehr geehrten Damen und Herren, Sie se- mischer Wirtschaftszweig. Er bringt auch Belastun- hen also, es besteht durchaus die Begehrlichkeit, gen für die Umwelt. Das Spannungsfeld von Ökono- 9524* Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996 mie und Ökologie ist daher ein touristisches Dauer- Hause und ist in manchen Bereichen sicher auch thema. Gerade im Tourismus sind ökologische Ver- noch ausbaufähig. Aber ich denke, wir haben damit träglichkeit und wi rtschaftliche Entwicklung eng eine hervorragende Grundlage erhalten für unsere verknüpft. Wir Fremdenverkehrspolitiker wissen: weitere Arbeit. Eine intakte Umwelt ist nicht nur unser aller Lebens- grundlage, sondern auch die Existenzgrundlage des Im Ausschuß haben wir bereits vor Wochen eine Fremdenverkehrsgewerbes. Tourismus und Umwelt- Reihe von Anregungen für Verbesserungen disku- schutz sind zwei Seiten ein und derselben Medaille. tiert. Vor allem der Wunsch, einen solchen Bericht in Zukunft regelmäßig in jeder Legislaturpe riode dem Die F.D.P. begrüßt, daß der Zielkatalog der Touris- Deutschen Bundestag vorzulegen, fand einhellige muspolitik der Bundesregierung im Umweltbereich Zustimmung. Ergänzend hierzu würde die Vorlage wesentlich erweitert wurde. Wir wollen einen hohen eines separaten Berichtes „Umweltschutz und Tou- Umweltstandard durch marktwirtschaftliche Anreize rismus" die besondere Verantwortung dieser Ent- und nicht durch Gebote oder Verbote erreichen. Um- wicklung unterstreichen. Hierin besteht in diesem weltpolitische Ziele sind nicht im nationalen Allein- Hause wohl Einvernehmen zwischen allen Parteien. gang zu erreichen. Sie erfordern eine enge europäi- sche Kooperation. Aber deswegen brauchen wir Der Bericht und die damit verbundenen Anträge keine eigenständige EU-Tourismuspolitik. bzw. die auf unsere Initiative hin ergangene Be- schlußempfehlung des Ausschusses zeigen aber Es ist richtig, daß der Tourismus in den Tätigkeits- auch, daß das wirtschaftliche und umweltpolitische katalog der Union aufgenommen wurde. Die F.D.P. Potential, welches der Tourismus bietet, noch nicht wendet sich aber mit Nachdruck gegen eine beson- hinreichend ausgeschöpft ist. Nach zuverlässigen dere Kompetenz der EU für den Tourismus. Wir wol- Schätzungen von Experten wird der Tourismus in len keine zentralistische, reglementierende Brüssler den nächsten Jahren einer der am schnellsten wach- Super-Tourismus-Zentrale. Europäische Tourismus- senden Wirtschaftsbereiche werden. Er stellt ande- politik muß auf das unbedingt notwendige Mindest- rerseits aber auch den Bereich unserer Wirtschaft maß beschränkt bleiben. Bei allen Kommissions-Ak- dar, in dem selten zu findende Übereinstimmung tivitäten muß das Subsidiaritätsprinzip st rikt einge- herrscht, daß Umwelt und Tourismus untrennbar mit- halten werden. Europäische Vielfalt sowohl der Ziel- einander verbunden sind. Hierauf basiert der Antrag als auch der Herkunftsregionen ist eine wesentliche der Koalition „Umweltschutz und Tourismus". Reisemotivation. Dieser Vielfalt kann die Politik nur durch dezentrale Entscheidungsstrukturen gerecht Die Regierung ist in den vorliegenden Anträgen werden. daher aufgefordert, neben ihren vielfältigen Bemü- hungen in diesem Bereich einige Umweltgesichts- Die Aktivitäten der Kommission zum Europäischen punkte noch stärker zu berücksichtigen. Hierzu gibt Tourismusjahr 1990 waren keine Empfehlung für es vor allem in unserem Antrag „Umweltschutz und eine Ausweitung der EU-Kompetenzen. Die un- Tourismus" eine Reihe von Ergänzungen und kon- durchsichtige Mittelverwendung und die mangel- kreten Vorschlägen. hafte Kontrolle waren ein Skandal. Der im Grünbuch vorgeschlagenen Option IV stimmt die -F.D.P. nicht Gerade der Tourismus gibt die Möglichkeit, Um- zu. Auch die Option III widerspricht unseren Vorstel- weltschutz bewußt zu erleben und ökologisches Be- lungen. Diese Ziele sind auch mit der Option II zu er- wußtsein zu stärken. Die steigende Zahl von Klagen reichen. Die Forderung nach einer „besseren finan- im Reiserecht zeigt, daß viele Bürger - abgesehen ziellen Ausstattung" weisen wir mit Nachdruck zu- von reiseorganisatorischen Problemen - nicht bereit rück. Kostenreduzierung, Dezentralisierung und De- sind, störende Einflüsse in Kauf zu nehmen. Keiner regulierung müssen in Zukunft unverrückbare Eck- möchte in seinem Urlaub beispielsweise in schmutzi- punkte der EU-Politik sein. gem Wasser baden, oder im Wanderurlaub auf wilde Müllkippen stoßen. Durch diese persönlichen Schlüs- Sinnvoll sind EU-Aktivitäten nur auf den Gebieten, selerlebnisse erreichen wir im umweltpolitischen die eine europaweite Abstimmung erfordern, z. B.: Denken viel mehr Menschen, als durch irgendwel- Entzerrung der Ferienzeiten, Koordination im Ausbil- che theoretischen Appelle. dungsbereich, Steuer- und Statistikharmonisierung und nicht zuletzt eine europäische Tourismus Die Deutschen als Reiseweltmeister haben einen Charta, die gleiche Rechte für alle Reisende in EU- gehörigen Marktanteil, den sie zur Durchsetzung Ländern sichert. Das ist ein weites Betätigungsfeld. ökologischer Positionen nutzen können und sollten. Dafür reicht das vorhandene Instrumentarium aus. Der Protest einiger Reiseveranstalter und Verbrau- Koordination und Integration sind die Haus- und cher hat bereits in der Vergangenheit geholfen, etli- Hauptaufgaben der Kommission, nicht spektakuläre che umweltpolitische Sünden in ökologisch sensiblen Aktionen. Zusätzliche Kompetenzen und mehr finan- Regionen zu verhindern. Wir können hier in der Fo rt zielle Mittel widersprechen dem Grundsatz der Sub- -entwicklung umweltpolitischer Grundsätze, die z. B. sidiarität und Regionalität. Sie sind daher abzuleh- in der Rio-Konvention, der Alpenkonvention und vie- nen. len anderen internationalen Abkommen beschlossen worden sind, eine Vorreiterrolle übernehmen.

Monika Brudlewsky (CDU/CSU): Der Bericht der Eine wichtige Aufgabe für uns sollte die stärkere Bundesregierung über die Entwicklung des Touris- Förderung des Inlandstourismus sein. Durch eine mus, der noch aus der letzten Legislaturperiode Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit und Wirt- stammt, hat noch keine lange Tradition in diesem schaftlichkeit könnten bei uns etliche Milliarden Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996 9525* mehr für die schönsten Tage des Jahres ausgegeben und im Nahverkehr zu fördern. Insbesondere der werden. Besonders deutlich wird dies durch das er- Ausbau der Bahn muß daher Vorrang erhalten. Die rechnete hohe Reisedevisenbilanzdefizit. Deutsche Bahn AG hat bereits erste Schritte in diese Richtung getan durch familienfreundliche Tarife und Wir sehen im Bereich des Tourismus noch einigen Angebote wie z. B. „Mit Bahn und bike". Dies sind Nachholbedarf, um das Reiseland Deutschland wie- weitere gute Schritte in die richtige Richtung. der attraktiver zu machen. Gerade im Dienstlei- stungsbereich müssen wir noch einiges tun. Hier be- Ein Punkt, den ich noch ansprechen möchte, be- steht noch ein ungeheures Potential, neue Arbeits- trifft die Kureinrichtungen. Der Kur- und Bäderver- plätze zu schaffen, welches wir nutzen sollten. Dar- band befürchtet, daß eine Reihe von Kureinrichtun- über sollten wir nicht nur diskutieren, sondern wir gen als Folge der Sparmaßnahmen im Zuge des müssen entsprechende kostensenkende und arbeits- Spar- und Konsolidierungsprogramms der Bundesre- platzschaffende Maßnahmen auch realisieren. Der gierung schließen müßten. Tatsache ist zum einen, Urlaub in Deutschland für eine durchschnittliche Fa- daß wir in Deutschland eines der besten und größten milie darf nicht teurer sein als in Spanien oder Portu- Kursysteme der Welt besitzen. Tatsache ist aber gal. Diese Standortfragen müssen wir schnellstens auch, daß die Kosten für diese Kurmaßnahmen ein angehen. Faktor von vielen für die Kostenexplosion im Ge- sundheitswesen sind. Das Sparprogramm kann die- Vor allem auch in den neuen Bundesländern bietet sen wichtigen Bereich daher nicht ausnehmen. Aber: sich die große Chance, den Inlandstourismus durch Die ambulanten Kuren sind von den geplanten Spar- einen ökologischen Wandel zu fördern und den maßnahmen nicht betroffen, sondern nur die statio- Fremdenverkehr als Wirtschaftsfaktor stärker fort- nären Kuren. Hier müssen die Kureinrichtungen viel- zuentwickeln. Die Schaffung von Naturparks und leicht auch über neue Konzepte nachdenken. der Wiederaufbau historischer Stadtkerne sind Maß- nahmen, die zu einer Belebung des Binnentourismus Sofern es tatsächlich in diesem Bereich zu Schlie- beitragen können. Einige Regionen - wie Mecklen- ßungen in größerem Ausmaß kommen sollte, behält burg-Vorpommern, die Sächsische Schweiz und sich die Koalition andere Regelungen vor. Aber wir meine Heimat, der Harz - bieten ideale und ideelle sollten vor einer allgemeinen Hysterie warnen und Voraussetzungen für eine solche Entwicklung. Die erst einmal die tatsächlichen Entwicklungen abwar- erfolgreiche Vermarktung z. B. des Luther-Jahres ten. durch die Rückbesinnung auf die kulturelle Vergan- genheit einer ganzen Region, die sich über Sachsen, Da die Entwicklung des Tourismus viele Bereiche - Thüringen und Sachsen-Anhalt erstreckte, zeigt, daß wie Wirtschaft, Verkehr, Umwelt - berührt, bedarf es vor allem der Kulturtourismus in Deutschland ein auch auf interministerieller Ebene einer genauen Ab- wichtiges Marketinginstrument sein kann. stimmung. Auch hierauf zielte unser damaliger An- trag und die auf unserer Initiative basierende vorlie- Der Bund kann ergänzend durch Förderinstru- gende Beschlußempfehlung. mente wie den Bundeswettbewerb „Umweltfreund- liche Fremdenverkehrsorte in Deutschland" Hilfe- Ich bitte um Ablehnung des Antrags der Grünen. stellung geben. Immerhin 118 Gemeinden beteiligen sich 1996 an diesem Wettbewerb. Dr. Rolf Olderog (CDU/CSU): Ich möchte zum Koa- Zweistellige Zuwachsraten der Übernachtungen in litionsantrag „Umweltschutz und Tourismus" spre- den neuen Bundesländern stimmen zuversichtlich. chen. Umweltprobleme haben heute in wichtigen Be- reichen eine Brisanz und Dramatik gewonnen, die Allerdings: Massentourismus hat auch Massenver- uns alle weltweit in höchstem Maße alarmieren und kehr zur Folge. Auch die ökologischen Belastungen herausfordern müssen. Der Tourismus gehört mitten von Feriengebieten im Abwasser- und Emissionsbe- hinein in die aktuelle Diskussion. Daß unsere Positio- reich sind Herausforderungen, die nachhaltig bewäl- nen ökologisch höchst anspruchsvoll sind, zeigt die tigt werden müssen. bemerkenswerte Tatsache, daß - nach einigen ge- Eines der Hauptprobleme, wo wir als Politiker ge- meinsam vorgenommenen Veränderungen - auch fordert sind, ist die Sicherstellung der Nachhaltigkeit die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN den Antrag der Entwicklung. Wir haben dafür Sorge zu tragen, unterstützt. Ich möchte Frau Kollegin Saibold dafür daß im Zeitalter des Massentourismus die Infrastruk- sehr danken. tur so gestaltet wird, daß die Umweltverträglichkeit Daß der Tourismus ökologisch nicht unschuldig ist, sichergestellt wird. Auch dies forde rte bereits damals vor allem wenn er als Massenerscheinung auftritt unsere Initiative. und sensible Regionen berührt, zeigen eindeutige Solches gilt insbesondere für die Verkehrsinfra- Spuren: zersiedelte Landschaften, bedrohte Tiere struktur. Immer noch fahren 66 Prozent der Deut- und Pflanzen; landschaftszerstörende Architektur schen mit dem Pkw in Urlaub, und über 30 Prozent von Großprojekten; immer stärkere Verschmutzung fliegen mit dem Flugzeug, beides Verkehrsmittel, die der Luft durch Fahrzeug- und Flugzeugabgase; extrem umweltbelastend sind, wobei ich einräumen endlose Blechlawinen auf dem Weg in die Erholung; möchte, daß einige Urlaubsziele eben wirklich nur mit parkenden und mühsam vorankriechenden mit dem Flugzeug zu erreichen sind. Autos vollgestopfte Ferienorte. Über 50 Prozent der durch den Pkw-Verkehr verursachten Luftver- Unser Antrag zielte bereits darauf ab, den öffentli- schmutzungen werden in Deutschland durch Frei- chen Personenverkehr im überregionalen Verkehr zeitaktivitäten, Fremdenverkehr und Tourismus aus- 9526* Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996 gelöst. Nach der Prognose des World Travel and Drittel des Flugverkehrs sind bedingt durch den Tourism Council soll sich die weltweite Reisetätigkeit Tourismus. in den nächsten zehn Jahren nochmals verdoppeln. Es ist sicher richtig, daß die modernen Flugzeuge - Erfreulicherweise können wir festellen, daß das wenn sie voll ausgelastet sind - je 100 Kilometer pro unvermeidbare Spannungsverhältnis zwischen Tou- Person nur noch drei Liter verbrauchen. Aber ange- rismus und Umweltschutz bei uns erkannt ist. In sichts der enormen Entfernungen im Flugtourismus, Deutschland weiß die Branche, daß eine gesunde oft über viele tausend Kilometer, ist jede Flugreise Umwelt, eine intakte Landschaft, der Schutz von unvermeidbar mit einer enormen Belastung der Um- Landschaft und Natur das Fundament des Tourismus welt verbunden. Nach Mallorca hin und zurück sind sind. Das beweisen eine Fülle von Seminaren und es 2 680 Kilometer, nach Gran Cana ria 6 360 Kilome- Veranstaltungen zu diesem Thema, die zahlreichen ter, nach Santo Domingo 16 000 Kilometer, nach Initiativen für Umweltsiegel im Tourismus, das Enga- Bangkok 18 300 Kilometer. Natürlich denkt bei uns gement der Naturschützer und Tourismusorganisa- niemand daran, Flugreisen generell zu verurteilen. tionen, die Tatsache, daß es bei TUI einen Umweltbe- Aber jeder muß sich darüber klar sein, daß jede Flug- auftragten Dr. Iwand gibt, sowie zahlreiche Wettbe- reise ihren gewichtigen ökologischen Preis hat, je werbe und Aktionen. Umfragen zeigen, daß der weiter, um so höher. deutsche Urlauber problembewußt ist. Können wir also für den deutschen Tourismus Ent- Ich halte es durchaus für geboten, einmal darüber warnung geben? Nein, leider nicht. Erfahrungen und nachzudenken, was mit unserer Erde geschieht, Untersuchungen zeigen, daß häufig do rt, wo der Um- wenn unser Reiseverhalten von immer mehr Men- weltschutz eine persönliche Einschränkung, Unbe- schen in immer mehr Ländern dieser Erde in ver- quemlichkeiten oder ein bescheidenes finanzielles gleichbarer Weise praktiziert würde. Opfer verlangt, leider aus vorhandenem ökologi- schen Wissen die notwendigen praktischen Konse- Wofür plädiere ich? Wir sollten begreifen, daß mit quenzen nicht gezogen werden. jeder Flug-Fernreise untrennbar Doppeltes verbun- den ist. Einerseits ermöglicht sie uns die Erfüllung ei- Dafür nur wenige Beispiele: Alle Welt redet von nes alten Menschheitstraumes, das Kennenlernen der umweltfreundlichen Bahn und von dem umwelt- exotischer Länder, fremder Menschen und faszinie- feindlichen Autoverkehr. Dennoch reisen die meisten render ferner Kulturen. Doch andererseits bedeutet Deutschlandurlauber mit dem eigenen Pkw, selbst jede Flugreise unvermeidbar auch die massive Bela- dort, wo die Bahn eine zumutbare Alte rnative wäre. stung der hochempfindlichen Stratosphäre, unserer Und allenfalls ganz wenige haben dabei ein schlech- ohnehin so gefährdeten Umwelt. Flugreisen dürfen tes Gewissen. Und sicher verbraucht ein modernes wir daher nicht gedankenlos und verschwenderisch Auto oder Flugzeug immer weniger Benzin, aber die in Anspruch nehmen, sondern nur sehr verantwor- Zahl der Pkws und der Flugzeuge hat enorm zuge- tungsbewußt und - wenn ich so sagen darf - mit nommen und damit auch der Gesamtverbrauch von maßvoller Selbstbeschränkung. Benzin und Kerosin - und ebenfalls damit unver- meidbar die Luftbelastung, gerade auch im Freizeit- Was sind weitere Kernforderungen unseres Antra- verkehr. ges? Wir fordern die europa- und weltweite Besteue- rung von Flugbenzin, emissionsarme Kraftfahrzeuge, Auch berichten Reiseveranstalter, daß ausgespro- Verkehrsminderung und -verlagerung auf Bahn und chen ökologische Urlaubsangebote, die etwas teurer Busse, verkehrsberuhigte und -freie Ferienorte, mehr sind, sich nur schwer verkaufen. Hingegen finden Umweltaufklärung für Touristen und Touristiker, prestigeträchtige Reiseangebote, selbst wenn sie et- Umweltmodellprojekte, Wettbewerbe und ein mög- was teurer sind, problemlos ihre Abnehmer. Und wie lichst europaweites Gütesiegel für umweltfreundli- wenig ökologisch verantwortungsbewußt verhalten che Angebote, verstärkten Schutz ökologisch emp- sich jene, die zu einem zweieinhalbtätigen Weih- findlicher Landschaften und eine umweltangepaßte nachtseinkaufsbummel nach New York fliegen oder Architektur von Großprojekten sowie mehr Natur- zu einem Wochenendtrip nach Mallorca. Sicher Ein- und Landschaftsschutz, insbesondere für Watten- zelfälle, doch man kennt das, und wer in der Öffent- meer, Nordsee, Ostsee und Alpen. lichkeit regt sich darüber auf? Also, übertriebenes Selbstlob ist durchaus nicht angebracht. Unser Antrag nennt eine Reihe konkreter Forde- Auf dem Umweltgipfel in Rio hat sich die Bundes- rungen. Aber im Grunde geht es um noch mehr, um republik Deutschland durch Bundeskanzler Helmut etwas Umfassenderes. Es geht darum, was Frau Bun- Kohl persönlich verpflichtet, im Interesse des Klima- desministerin Merkel ebenso wie das Wuppertaler schutzes bis zum Jahr 2005 den CO2-Ausstoß um Institut für Klima, Umwelt und Energie fordern: Wir 25 Prozent zu reduzieren. Tatsächlich geschieht auf in den reichen Industrieländern müssen lernen, in unseren Autobahnen, Straßen und in der Luft genau unserem Lebensstil bescheidener zu werden, unse- das Gegenteil. ren zum Teil überzogenen Konsumansprüchen Gren- zen zu setzen. Statt immer nur Fernreisen, auch gele- Noch einmal zum Flugverkehr: Kein anderer Ver- gentlich Urlaub in Deutschland. Statt immer mit dem kehrsträger hat einen so hohen Zuwachs. 1980 lag eigenen Auto zu fahren, öfter einmal mit der Bahn. der Anteil des Flugverkehrs am Gesamtpersonen- Statt gedankenlos Energie und Wasser zu ver- verkehr in Deutschland noch bei 10 Prozent, 1993 schwenden, sich bewußt um Einsparungen zu bemü- lag er bereits bei 16 Prozent, und mehr als zwei hen. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996 9527*

Wir können nichts Besseres für die Umwelt tun, als hang von „unterstützen" und „anstreben" reden, die Bürger unseres Landes für diese Tugenden zu ge- aber keinerlei konkrete Vorgaben machen? winnen und uns zu bemühen, durch eigenes Verhal- ten ein gutes Beispiel zu geben. Wo denn, bitte, wenn Sie davon reden, daß das Potential der National- und Naturparks für eine um welt- und sozialverantwortliche regionale Touris- Susanne Kastner (SPD): Das Positive an der heuti- musentwicklung durch Unterstützung von Modell- gen Debatte ist: Die Regierungsparteien haben die vorhaben und -projekten stärker zu unterstützen sei, Notwendigkeit erkannt, Umwelt und Tourismus, die Sie aber gleichzeitig so ein Modellprojekt für die vom Grundsatz her häufig Konfliktfelder sind, in Ein- Verkehrsentwicklung im Bayerischen Wald vehe- klang zu bringen. Das Negative ist: In ihrem Antrag ment ablehnen? Widersprücherlicher kann man Poli- wird dieses Ziel nicht erreicht. Kraftvoll sollte der tik doch gar nicht bestreiten, als Sie dies zur Zeit tun. Wurf sein, aber weil die Zielvorgaben nicht erfüllt Vor Ort alles versprechen und in Bonn dagegen sein, sind, ist er leider viel zu kurz geworden. Auch die diese Art von Politik lassen wir Ihnen nicht durchge- Unterstützung der Grünen hat dem Antrag nichts ge- hen, da werden wir auch weiter laut sagen, wie wir holfen. so etwas nennen: doppelzüngig. Ich möchte schon auch einmal auf den Beratungs- Was uns in diesem Antrag fehlt, sind zum Beispiel ablauf diese Antrages eingehen. Sie, liebe Kollegen die konkreten gesetzlichen Aktivitäten und Forde- von der Union, formulieren einen Antrag mit beacht- rungen. Wo ist denn etwa die Novellierung des Bun- lichen Analysen, kritisieren in der ersten Lesung hier desnaturschutzgesetzes? Ich denke, wir brauchen im Plenum die Schwächen und Versäumnisse der auf allen Ebenen eine umfassende Integration des deutschen Fremdenverkehrswirtschaft, beschimpfen Umwelt- und Landschaftsschutzes in tourismusbezo- - völlig zu Recht - den Bundeswirtschaftsminister, sa- gene Planungen. Warum also sträuben sich die Koali- gen aber dann kein Wort zu Ihrem eigenen Antrag. tionsfraktionen so dagegen? Seit zwölf Jahren wird diese Novellierung von Ihrer Regierung versprochen, Nur gut, dachten wir, da steht ja auch nicht viel bisher hat es noch kein Umweltminister und noch drin, was soll man schon groß dazu sagen. Also set- keine Umweltministerin geschafft. zen wir uns zusammen, um gemeinsam einen ver- nünftigen, zukunftsweisenden Antrag zur Förderung Ein anderes Beispiel: Gerade auch im Tourismus- des Fremdenverkehrs und zum Erhalt der natürli- bereich ist die Preisentwicklung von Wasser und Ab- chen Lebensgrundlagen zu schreiben. Wir haben wasser oft eine existentielle Frage. Hören Sie sich Vorschläge gemacht, die auch von Ihrem Berichter- einmal die Klagen der Hoteliers und Gastwirte insbe- statter, Herrn Wittmann, weitgehend mitgetragen sondere in den neuen Ländern an. Eine Senkung der wurden. Gebühren über das Abwasserabgabengesetz ist hier nämlich leider auch keine Lösung, weil es die Frem- Union, SPD und Grüne hätten gemeinsam einen denverkehrsbranche dann anschließend über den Antrag verabschieden können, der Umweltschutz,- Verlust von Wasserqualität und damit von Attraktivi- erfolgreiches Unternehmertum und sichere Arbeits- tät der Urlaubsgebiete doppelt bezahlen müßte. Wo plätze miteinander verknüpft hätte. Aber nein, plötz- also bleiben auf diesem Gebiet Ihre Aktivitäten und lich, als es an die Abstimmungen im Ausschuß geht, Forderungen an die Bundesregierung? Wo bleibt Ihr können Sie dies alles nicht mehr mittragen, und das Protest gegen die Absicht der Bundesregierung, den mit der Begründung, es gäbe Abstimmungsprobleme kommunalen Betreibern von Wasser- und Abwasser- in der eigenen Fraktion. Ich frage mich ja schon, anlagen jetzt auch noch 15 Prozent Mehrwertsteuer warum Sie Anträge in die Ausschußberatungen ein- zu berechnen und damit die Gebühren weiter zu er- bringen, die Sie in den eigenen Reihen nicht durch- höhen? setzen können. Und dann der Autoverkehr und die damit verbun- Und ich frage mich genauso, Frau Saibold, warum dene Luftbelastung! Viele Kurstädte sind davon be- Sie gemeinsam mit CDU/CSU und F.D.P. einen An- droht, weil sie ihre Prädikatisierung verlieren wer- trag verabschieden, von dem Sie wissen oder wissen den, wenn hier nicht bald umgesteuert wird. Sie sollten, daß er weder den ökologischen noch den streiten heftig für Autobahnen (A 4, A 71), statt sich ökonomischen Zielsetzungen Ihrer Parteiprogramme für vernünftige Ortsumgehungen einzusetzen. Das gerecht wird. Ich fand es jedenfalls sehr spannend zu ist total veraltetes Denken und verschärft die Pro- erfahren, daß die Grünen die Umweltpolitik dieser bleme in den betroffenen Kommunen. Bundesregierung so großartig finden, daß sie sie auf- fordern, diese „unverminde rt " fortzusetzen. In der letzten Legislaturperiode haben wir einen Antrag zum Fahrradtourismus eingebracht. Leider Bisher hatte ich die Grünen meist anders verstan- finde ich auch zu diesem Thema keinen Ansatz in Ih- den, aber man lernt ja nie aus. Unser Problem ist, daß rem Antrag. Dabei wäre es doch eine echte Chance die Chance „global zu denken und lokal zu han- zur Entlastung bei den CO2-Emissionen, wenn wir deln", in diesem Antrag nicht genutzt wurde, wes- den Fahrrahrdtourismus besser fördern würden, ge- halb wir ihn auch ablehnen. koppelt mit anderen umweltfreundlichen Verkehrs- anbindungen. Wo bleibt zum Beispiel der schon Sie reden in diesem Antrag davon, die Bundesre- lange geforderte Bundeswegeplan für Fahrradwege? gierung solle ihre umweltpolitischen Initiativen zum Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen fortsetzen. Und warum haben Sie das Gemeindeverkehrswe- Welche denn, bitte, wenn Sie in diesem Zusammen- gefinanzierungsgesetz nicht weitergeführt, damit die 9528* Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996

Kommunen auch von seiten des Bundes Geld für den Feuer, man kann damit seine Suppe kochen aber Ausbau des ÖPNV bekommen? Vertane Chancen auch sein Haus abbrennen." überall. Mit dieser Redewendung ist in gelungener Weise Ähnlich sieht es im Bereich der direkten Touris- die Ambivalenz des Tourismus beschrieben: einer- musförderung aus. Die EU ist Ihnen da ein ganzes seits verbinden wir mit Urlaub Erholung, Abwechs- Stück voraus. Sie haben in Ihrem Antrag einen Ab- lung vom Alltag, Bildung und vieles andere mehr, schnitt darüber, daß der Tourismus am Prinzip der was uns angenehm erscheint. Und in wirtschaftlicher Nachhaltigkeit gefördert werden muß. Nur die Um- Hinsicht hat sich der Tourismus zu einem der größten setzung ist wieder einmal mehr als kläglich. Sagen Arbeitgeber entwickelt: alleine in Deutschland hän- Sie uns doch bitte, wieviel für die Förderung von Um- gen ungefähr zwei Millionen Arbeitsplätze davon ab. weltaufklärung, wieviel für modellhafte Projekte von Dies ist die eine Seite. Ihnen bereitgestellt wird. Die Durchführung von Die andere Seite ist die, daß wir durch unsere touri- Wettbewerben ist sicher ein richtiger Ansatz, aber es stischen Aktivitäten Natur und Umwelt immer mehr reicht leider nicht. belasten oder gar zerstören, sei es durch den Ur- Die Förderkriterien der Bundesregierung sind laubsverkehr mit Pkw oder Flugzeug, sei es durch schon lange nicht mehr zeitgemäß. Wir brauchen das fortschreitende Erschließen immer neuer Reise- eine Umorientierung auf Umweltfreundlichkeit, So- ziele in bisher nicht erschlossenen Gebieten, um nur zialverträglichkeit und Begünstigung einheimischer zwei Aspekte zu nennen. Potentiale, gerade im Bereich von Neubauten oder Genau diesen Zusammenhang zwischen Natur bei Modernisierungsmaßnahmen. Die Kriterien öko- und Umwelt einerseits und wi rtschaftlich tragfähi- logisch, barrierefrei und familienfreundlich müßten gem Tourismus andererseits, hat nach vielen Jahren hier oberste Priorität haben. der Diskussion auch die Welt-Tourismus-Organisa- Die heutige Debatte gibt die Möglichkeit, aktuell tion erkannt. Um es auf den Punkt zu bringen: Was auf das Desaster im Bereich des Fremdenverkehrs ökologisch schädlich ist, ist auch ökonomisch schäd- einzugehen, das in Ihrem Sparkonzept schlummert. lich. Deshalb fordert selbst der Präsident der WTO Die Fremdenverkehrswirtschaft gehört zu den ein- nachdrücklich, daß die Politik ihre Verantwortung deutigen Verlierern Ihres Konzeptes. Sie wollen die endlich wahrnimmt. Kuren auf drei Wochen beschränken. Damit treffen Es ist die Aufgabe der Politik, die Rahmenbedin- Sie den Nerv des Fremdenverkehrs in den struktur- gungen für eine zukunftsfähige Tourismusentwick- schwachen Regionen, denn genau do rt sind die lung zu schaffen, die mit Natur und Umwelt scho- Kureinrichtungen gezielt aufgebaut worden. nend umgeht, auf Sozialstrukturen Rücksicht nimmt Sie streichen 25 Prozent der Geschäftsgrundlage und Menschen die Chance bietet, ihren Lebensun- für Kureinrichtungen mit dem Ergebnis, daß nach terhalt im Tourismus zu bestreiten. Wer diese Ent- Befürchtungen der Rentenversicherer 100 Kur- wicklung einseitig den Mechanismen des Marktes kliniken geschlossen und damit rund 18 000 Arbeits- überläßt, manövriert den Tourismus in eine Sack- plätze wegfallen werden. Sie haben anscheinend im- gasse - auf Kosten von Mitweltzerstörung und Ar- mer noch nicht begriffen, daß der Fremdenverkehr beitsplätzen. Deshalb ist es sehr erfreulich, und wir oft das wirtschaftliche Rückgrat der strukturschwa- begrüßen es ausdrücklich, daß die Fraktionen von chen Regionen darstellt. Im nun folgenden freien Fall CDU/CSU und FDP inzwischen ebenfalls die Not- der Kureinrichtungen werden unsere Fremdenver- wendigkeit des Handelns erkannt haben und im An- kehrsregionen weiter belastet. Wir können daher nur trag zu Umweltschutz und Tourismus die Bundesre- erneut feststellen: Der Fremdenverkehr hat bei die- gierung auffordern, sich in stärkerem Umfang als bis- ser Bundesregierung schlechte Karten. her für den Erhalt unserer natürlichen Lebensgrund- lagen einzusetzen. Ich kann für meine Fraktion nach den Beratungen Meine Fraktion begrüßt weiter, daß unsere Ände- dieses Antrages nur folgendes Fazit ziehen: CDU/ rungsvorschläge weitgehend in den Antrag aufge- CSU, F.D.P. und Grüne verabschieden heute umwelt- nommen wurden. Dadurch ist ein kleiner, aber wich- politische Lippenbekenntnisse, die das Papier nicht tiger Schritt gelungen, damit sich der Tourismus - um we sind, auf dem sie stehen. Das Umweltbundes- rt auf die Redewendung von Frau Merkel Bezug zu amt hat gerade erst in einem Bericht für das Umwelt- nehmen - nicht zum alles vernichtendem Feuer aus- ministerium festgestellt, daß die deutsche Umwelt- weitet. - So weit, so gut. politik nicht weit genug geht und viele Möglichkei- ten ungenutzt läßt. Daß sich hier heute eine schwarz- Nur, die schönsten Sonntagsreden und wohlformu- grüne Koalition zu einem „Weiter so" bekennt, lierten Anträge des Deutschen Bundestages nützen macht den Unterschied zwischen öffentlichen Erklä- nichts, wenn den Worten keine Taten folgen. Die in rungen und tatsächlicher Politik deutlich. Meine diesem Antrag formulierten Forderungen müssen Fraktion schließt sich einem solchen Doppelspiel von der Bundesregierung schnell und konsequent nicht an. umgesetzt werden. Und da bin ich skeptisch, wenn ich mir die tourismuspolitische Bilanz und Kompe- tenz dieser Bundesregierung so anschaue. Halo Saibold (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Um- weltministerin Merkel hat auf der ITB 96 eine asiati- Ich fordere daher die Koalitionsparteien auf, mit sche Redewendung in bemerkenswe rter Weise auf Nachdruck ihren Einfluß auf die Bundesregierung den Tourismus gemünzt: „Tourismus ist wie ein für die Umsetzung des Antrages geltend zu machen. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996 9529*

Ihre Glaubwürdigkeit - meine Damen und Herren Dieser in schwarz-grüner Zusammenarbeit erar- von den Regierungsfraktionen - hängt davon ab, und beitete Antrag ist trotz seiner Unzulänglichkeiten um die steht es eh nicht gut. Bei vielen Beratungen viel zu schade, um in den Verliesen der Administra- im Ausschuß habe ich den Eindruck, daß die meisten tion zu verschwinden. Deshalb fordere ich die Koali- von Ihnen bereits vergessen haben, was in Ihrem tionsparteien nochmals auf, der Bundesregierung auf nunmehr veränderten Antrag steht. Deshalb will ich die Sprünge zu helfen und mit Nachdruck die Umset- es hier nochmals an einigen Punkten verdeutlichen: zung dieses Antrages einzufordern. Die Koalitions- parteien werden in Zukunft an den Inhalten dieses Unser weitergehender, umfassender Entschlie- Antrages gemessen werden, und Sie können sich ßungsantrag zum Tourismusbericht der Bundesregie- darauf verlassen, daß ich Ihr weiteres Verhalten ge- rung wird zwar heute von Ihnen abgelehnt, aber nauestens beobachten werde. viele Punkte daraus finden sich nach entsprechen- den Ergänzungen in Ihrem Antrag zu Umweltschutz Sie und die Bundesregierung sind jetzt gefordert, und Tourismus wieder. zu beweisen, daß dieser Antrag nicht nur ein „Pa- piertiger" ist und alsbald in der Versenkung ver- - Sie haben unsere Forderung übernommen, daß schwindet. nur mehr ein am Prinzip der Nachhaltigkeit orien- tierter Tourismus zu fördern ist. Für weitere, wichtige Konkretisierungen der politi- schen Rahmenbedingungen - zum Beispiel für die - Sie haben unsere Forderung nach verstärkter Ver- Einführung einer sozialen Ökosteuerreform, die ge- lagerung des Verkehrs auf die Schiene übernom- rade für den touristischen Bereich viele positive Aus- men, da der Individualverkehr das größte ökologi- wirkungen hätte - biete ich Ihnen schon heute meine sche Problem darstellt. Unterstützung an. - Auch Sie haben neben der Umweltverträglichkeit nunmehr die Berücksichtigung der Sozialverträg- Iris Follak (SPD): Neben den umweltpolitischen lichkeit der Tourismusentwicklung übernommen, Aspekten, die meine Kollegin Susanne Kastner vor- was ich als großen Erfolg für die Bündnisgrünen hin bereits aufgegriffen hat, gibt der Entschließungs- betrachte. antrag der Grünen zum „Bericht der Bundesregie- rung über die Entwicklung des Tourismus" eine - Auch Sie wollen nunmehr, daß Umweltverbände Möglichkeit, die heutige Tourismusdebatte inhaltlich bei touristischen Aktivitäten mit einbezogen und auszuwerten. sogar unterstützt werden. Als ostdeutsche Abgeordnete will ich nach vielen - Auch Sie verlangen nunmehr, daß Modellvorha- Gesprächen mit Vertreterinnen und Vertretern von ben und Modellprojekte für eine umweit- und so- Fremdenverkehrsverbänden auf regionaler und auch zialverantwortliche Tourismusentwicklung geför- Landesebene, mit Hoteliers und Gastwirten, mit Bür- dert werden und daß die regionalen Organisatio- germeisterinnen und Stadträtinnen Ihnen ein Bild nen stärker einbezogen werden. Dies entspricht in von der Situation, den Problemen und auch den Per- der Praxis dem Prinzip des „Runden Tisches". spektiven des Fremdenverkehrs in den neuen Bun- desländern vermitteln. Ferner steht im Antrag: Der europaweite Abbau der Steuerbefreiung für Flugbenzin muß vorangetrie- Die im folgenden aufgezeigten Mißstände spre- ben werden. Ich sehe hier jedoch keine Bemühungen chen für sich. Hier ist jede Polemik fehl am Platze, der Bundesregierung, also machen Sie Druck! hier sind vielmehr Lösungen gefordert, die eine breite Konsensfähigkeit voraussetzen. Unsere Situa- Sie haben meine Initiative auf Durchführung einer tion im Ausschuß unterscheidet sich positiv von an- Imagekampagne für Urlaub in Deutschland im Aus- deren, da hier nicht selten gemeinsam nach Lösun- schuß mit fadenscheinigen Argumenten abgelehnt, gen gesucht wird. fordern in Ihrem hier vorliegenden Antrag nunmehr aber Information und Aufklärung der Bevölkerung Es muß uns gelingen, im Tourismus der neuen über Probleme des Massentourismus und das Aufzei- Bundesländer Impulse zu setzen, damit besonders gen von alternativen Urlaubsformen. Ich bin ge- die wirtschaftlich schwachen Gebiete davon profitie- spannt, wie diese Forderung umgesetzt wird und ren können. was Sie dazu beizutragen haben. Wenn man die Angaben des Deutschen Hotel- und Sie haben meine Forderung nach einem zukunfts- Gaststättenverbandes heranzieht, beabsichtigen die orientierten touristischen Gesamtkonzept der Bun- Hotel- und Gaststättenbetriebe in den neuen Bun- desregierung nicht übernommen. Immerhin habe ich desländern keineswegs neue Einstellungen. Sie ge- erreicht, daß Sie jetzt die Bundesregierung auffor- hen eher von Entlassungen aus. Legt man die Zahlen dern, zumindest für den Bereich „Umwelt und Tou- des Bundesministeriums für Wirtschaft zugrunde und rismus" ein Konzept vorzulegen. Sie sehen also, daß stellt die steigenden Übernachtungszahlen, die in der vorliegende Antrag bei weitem nicht alle von uns Ostdeutschland mit durchschnittlich +15 % recht als notwendig erachteten Maßnahmen für eine zu- hoch liegen, ist das eine erfreuliche Entwicklung. kunftsfähige Tourismuspolitik enthält. In Anbetracht Sieht man dabei jedoch auf der anderen Seite die dessen, daß auch „die längste Reise mit dem ersten Bettenkapazität, die um 18 % gestiegen ist, ist die Schritt beginnt", stimmen wir diesem Antrag jedoch reale Auslastung hier gesunken. Also keine wirklich zu. positive Entwicklung. 9530* Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996

Trotz dieser Zahlen bleibt zu Recht die Angst der sitzt er nun mit Hotelbetten und Reservierungen, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, daß sie bei aber ohne Gäste, da diese nicht zu seinem Haus ge- den nächsten Einsparungen von ihrem Arbeitgeber langen können. Genau dieselbe Situation treffen entlassen werden, der auf Grund einer geringeren nicht selten auch die Gästehäuser an, die von den Gewinnerwartung Arbeitsplätze abbauen möchte. Kommunen verwaltet werden. Gerade in der heuti- Ein weiteres Beispiel sind die westdeutschen Investo- gen Zeit ist eine sinnvoll funktionierende Infrastruk- ren, die vielleicht weniger Abschreibungsmöglich- tur notwendig, wenn man auf eine prosperierende keiten sehen und aus diesem Grunde die Betriebe Fremdenverkehrswirtschaft setzen will. schließen werden. Drittens. Wem nützt es, wenn ein bundesweit ein- Meine Damen und Herren, die neuen Bundeslän- heitliches Informations- und Rese rvierungssystem der dürfen nicht zu einem Abschreibungsland herun- entstehen würde? Tatsache ist, daß die hierfür zustän- terkommen. Das gilt für alle Bereiche, nicht nur für digen Fremdenverkehrsämter in den neuen Bundes- die Fremdenverkehrswirtschaft! ländern nicht nur personell unterbesetzt sind. Eine Nach statistischen Schätzungen des Deutschen von meiner Fraktion initiierte Umfrage zeigt deutlich, Wirtschaftswissenschaftlichen Instituts für Fremden- daß einem hauptamtlichen Leiter beziehungsweise verkehr muß Deutschland als Ferienland attraktiver einer Leiterin fast ausschließlich Kräfte im Rahmen gemacht werden. Zielgruppenorientierte preiswerte der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen zur Seite ge- Pauschalangebote sind eine Möglichkeit, neue Kun- stellt sind. Diese sind meist auf zwei Jahre begrenzt, denkreise zu gewinnen. Angebote für Senioren, die so daß sich eine intensive Einarbeitung häufig nicht zu 44 % einen Deutschlandurlaub bevorzugen, müß- rentiert. Kaum sind die Mitarbeiterinnen und Mitar- ten mehr in die Werbung einbezogen werden. beiter eingearbeitet, verlassen sie die Wirkungs- stätte, und das ganze Spiel muß von vorne beginnen. Außerdem ist ein weiterer Schwerpunkt in der ver- stärkten Auslandswerbung zu sehen. Nur 11 % der Viertens. Was nützt es, wenn nach wie vor neue Urlauber kamen 1995 aus dem Ausland, um hier in Hotels und Beherbergungsbetriebe gebaut werden? Deutschland ihre Ferien zu verbringen. Bei einer Auslastung von 39 % sind keine neuen Be- triebe notwendig, sondern die vorhandenen müssen Diese Untersuchung zeigt Versäumnisse in der einerseits entsprechend vermarktet werden. Ande- Kundenwerbung und Vermarktung „Deutschland als rerseits muß der Qualitätsstandard der vorhandenen Urlaubsland" auf. Hotels und Beherbergungsbetriebe stimmen. Sie wis- Nun werde ich auf einige Problemaspekte bei der sen es selber, meine Damen und Herren, die kinder- Entwicklung des Tourismus in den neuen Bundeslän- reiche Familie muß eine geeignete Unterkunft finden dern hinweisen, die häufig schon in einem wesent- können, ebenso müssen die Erwartungen des Millio- lich früheren Stadium auftreten, nicht erst bei der närs optimal erfüllt werden. Also weg vom Abschrei- Vermarktung. bungsland Ostdeutschland hin zu einer gut durch- dachten Vermarktung des vorhandenen! Erstens. Was nützt es, wenn das Regierungspräsi- dium in Chemnitz eine Broschüre für Kommunalver- Ich rede hier nicht wie der Blinde von der Farben- waltungen herausgibt, in der sämtliche Förderpro- welt. Die geschilderten Zustände muß man an Ort gramme auf Bundes- und Europaebene stehen? Es und Stelle ansehen und erleben; daher ist es erfreu- handelt sich um sage und schreibe 144 solcher Pro- lich, daß auf meine Einladung der zuständige Mini- gramme. sterialdirektor im Bundesministerium für Wirtschaft zu Gast bei mir in der Erzgebirgsregion war. Dieser Da für einige dieser Maßnahmen die notwendigen zeigte sich zum einen erfreut über das Engagement Verwaltungsvorschriften immer noch nicht erstellt der anwesenden Vertreterinnen und Vertreter aus worden sind, können Anträge gar nicht eingereicht, dem Bereich der Fremdenverkehrswirtschaft, mußte geschweige denn bearbeitet werden. Außerdem muß jedoch auch zugeben, daß die Dramatik der Situation ich fragen: Welcher Bürgermeister oder welcher vor Ort allgemein unterschätzt wird. Kommunalverwaltungsmitarbeiter ist in der Lage, bei einem derartigen Antragsdschungel noch den Ich persönlich bin froh, daß sich das Bundesmini- Überblick zu bewahren? sterium für Wirtschaft selber einen Überblick über die Situation verschaffen konnte, und bin des weite- Das zeigt sich dann auch in folgenden Zahlen ren gespannt, welche Lösungsvorschläge von dort mehr als deutlich: Bis zum heutigen Zeitpunkt ist unterbreitet werden. vom Regierungspräsidium Chemnitz noch kein einzi- ger Antrag des Jahres 1996 bewilligt worden, und es Meine Damen und Herren, die Bereitschaft zu in- ist bereits Ende Mai. Dies, meine Damen und Herren, vestieren ist in den fünf neuen Ländern grundsätz- gibt es wirklich und ist traurige Realität in Ost- lich gegeben, da man erkannt hat, daß der Tourismus deutschland. gerade in ländlichen Gebieten einer der wenigen Wirtschaftszweige ist, der noch ein Wachstum ver- Zweitens. Was passiert, wenn ein engagierter Ho- zeichnen kann. Mit 340 000 Arbeitsplätzen, die di- telbesitzer einen ehemals volkseigenen Betrieb an- rekt oder indirekt als Zulieferbetriebe vom Tourismus kauft, renovie rt und dann neueröffnen will? Dieser leben, stellt diese Branche einen relevanten Teil auf Hotelbesitzer macht bei der Eröffnung nicht selten dem Arbeitsmarkt dar. die Erfahrung, daß zu seinem Hotel noch immer keine Zufahrtsstraße gebaut ist. Diese aber sollte bis Nicht fehlendes Engagement oder Kapital, nicht zur Geschäftseröffnung fertiggestellt werden. Da mangelnde Phantasie oder Geschäftssinn sind die Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996 9531*

Ursachen für die existierenden Probleme, sondern es Es müssen entsprechende Rahmenbedingungen ist das Fehlen eines überzeugenden Gesamtkonzep- geschaffen werden, die einen Erhalt bzw. eine Wie- tes. derherstellung der Ressourcen garantieren. Dazu ge- hören auch Anstrengungen zur stärkeren Sensibili- Ich sage Ihnen, verehrte Kolleginnen und Kolle- sierung und Aufklärung sowohl der Reisenden als gen, man wird in Zukunft darauf achten müssen, daß auch der Bereisten. Die örtlichen Institutionen in den nicht nur hier und dort mal ein Förderprogramm be- Zielorten müssen direkt an den tourismusrelevanten willigt wird, sondern man muß für verschiedene Re- Entscheidungen beteiligt werden. Es sind Vorausset- gionen verschiedene Gesamtkonzepte entwickeln, zungen zu schaffen durch die sich die einzelnen Gegenden ganz indivi- duell vermarkten und präsentieren können. Hier - für eine Reduzierung des Individualverkehrs, z. B. möchte ich als Beispiele nur die „Silberstraße" in durch autofreie Landschaften und durch den Aus- Sachsen und die Mecklenburgische Seenplatte in bau des öffentlichen Nahverkehrs, Mecklenburg-Vorpommern nennen. Hier profitieren sowohl kleine Orte und Gemeinden als auch große - für eine umweltfreundliche Energieversorgung, Städte von einer einheitlichen Vermarktung. - für eine sparsame Verwendung von Wasser, Ich hoffe, daß man gemeinsam - in Ministe rien und auch über Parteigrenzen hinweg - Möglichkeiten fin- - für sinnvolle Entsorgungskonzepte, det, die vorhandenen Kräfte zu nutzen, etwas Ver- nünftiges daraus zu machen unter Berücksichtigung - für einen schonenden Umgang mit der Natur, ge- der Menschen und der Umwelt. gebenenfalls auch mit administrativen Maßnah- men, wie die zeitweilige Sperrung von Gebieten, Christina Schenk (PDS): Wegfahren, verreisen, wenn die Regeneration des Bestands an Tieren den Urlaub weit entfernt von den heimischen Regio- und Pflanzen dies erfordert. nen verbringen - das ist ein Bedürfnis, das offenbar viele Menschen in der Bundesrepublik haben. Es gibt bereits eine Reihe von Aktionen, die zu ei- nem umweltfreundlicheren Urlaub beitragen. Als Dabei muten die Autoschlangen, kilometerlange Beispiel sei hier nur die Wassersparaktion in Tune- Staus inklusive, die übervollen Flughäfen, die wir je- sien genannt, das zu den wasserärmsten Regionen des Jahr wieder in den Nachrichten besichtigen kön- gehört. Eine Einheimische/ein Einheimischer ver- nen, wie eine große Fluchtbewegung an. Möglichst braucht durchschnittlich 25 1 Wasser pro Tag, eine weit weg - das ist das Bestreben der meisten. Die Touristin/ein Tourist 700 l! Die Urlauberinnen und Tourismuswirtschaft boomt. Aber der Preis für diese Urlauber haben sich aktiv beteiligt und es konnten Reisewut ist hoch: Zerstörung der Natur, Vernich- bis zu 30 % Wasser gespart werden - immerhin ein tung von Subsistenzwirtschaft, Verschmutzung von Beginn. Luft und Wasser, Verbreitung von Krankheiten und sehr oft auch die Zerstörung der Kultur sind die Fol- Die zunehmende Sensibilisierung für den Zustand gen des Tourismus. der Umwelt muß genutzt werden, um den Druck auf die Anbieter zu erhöhen. Ich schlage vor, eine Infor- Die Suche nach Erholung, nach Ruhe, nach Natur- mationspflicht in den Reisebüros einzuführen, die und Kulturerlebnissen, nach Sport und Bewegung ist alle Reisenden über die durch den Tourismus verur- gewinnträchtig gestaltbar. Im Zuge der Gewinnmaxi- sachte Umweltzerstörung aufklärt und die notwendi- mierung werden die Ressourcen, die zur Befriedi- gen Gegenmaßnahmen erläutert. gung dieser Wünsche notwendig sind, durch die Be- friedigung eben dieser Bedürfnisse zerstört. Die vor Der Antrag der CDU/CSU ist so allgemein formu- der Industriegesellschaft Flüchtenden vernichten, liert, daß konkrete Effekte nicht bzw. nicht im erfor- was sie suchen. derlichen Maße zu erwarten sind. Statt Ausbau des Leider mußte erst eine Verknappung der Ressour- öffentlichen Verkehrs werden lediglich verbrauchs- cen, auf die der Tourismus angewiesen ist, eintreten arme Pkws gefordert. Verkehrsberuhigung soll es - in diesem Fall eine unzerstörte Natur -, ehe ein Um- nur „im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten" ge- denkprozeß in Gang gekommen ist. Immerhin sind ben usw. usf. Das heißt, eine Umstrukturierung, eine mittlerweile positive Entwicklungen erkennbar ge- strukturelle Änderung der gegenwärtigen Situation worden. ist nicht gewollt. Eine nachhaltige Tourismuspolitik muß die Bedürf- Der Entschließungsantrag der Bündnisgrünen läßt nisse der Touristinnen und Touristen und die Interes- auch einige Wünsche offen: zum Beispiel ist nicht sen der Einwohnerinnen und Einwohner in den be- einzusehen, warum Arbeitsplätze im Fremdenver- reisten Ländern sowie die Bedingungen für den Er- kehr nur renten-, nicht aber sozial- und arbeitslosen- halt der dortigen Umwelt und Kultur miteinander in versicherungspflichtig sein sollen. In vielen Punkten ein dauerhaftes Gleichgewicht bringen. Etwa 50 % können wir jedoch zustimmen, z. B. der Forderung, der Reisenden gibt inzwischen an, das Naturerleben den Tourismusbeirat um Vertreterinnen und Vertre- im Urlaub zu suchen. Dann allerdings müssen sich ter der Naturschutzverbände zu ergänzen, die Sub- auch die Ansprüche der Reisenden wandeln: Der ventionierung des Flugbenzins zu beenden und das Wunsch nach intakter Natur und nach uneinge- Primat der Nachhaltigkeit im Tourismus zu fordern. schränkten Sportmöglichkeiten zugleich ist nun ein- Denn daran wird sich die Zukunft des Tourismus ent- mal nicht erfüllbar! scheiden. 9532* Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996

Dr. Heinrich L. Kolb, Parl. Staatssekretär beim Bun- Eine grundsätzliche Umorientierung der Touris- desminister für Wirtschaft: Zu den Beschlußempfeh- muspolitik halte ich weder für geboten noch für not- lungen zu den Tagesordnungspunkten 9 a bis c wendig. Mit der Aufnahme des Ausgleichs von Öko- möchte ich einige Bemerkungen machen. Zunächst nomie und Ökologie in den Zielkatalog der Touris- zu 9 a: Beschlußempfehlung und Bericht zu der Un- muspolitik wird den umweit- und sozialpolitischen terrichtung durch die Bundesregierung - „Die Rolle Anliegen Rechnung getragen. Die notwendigen Ab- der Union im Bereich des Fremdenverkehrs - Grün- stimmungsprozesse werden durch die gemeinsame buch der Kommission". Geschäftsordnung der Bundesregierung gesichert. Die von den Grünen vorgeschlagenen weiteren Prü- Im April 1995 hat die Europäische Kommission ein fungsverfahren, zusätzlichen Koordinierungsstellen Grünbuch über die Rolle der Union im Bereich des und ähnliches würden nur den bürokratischen Auf- Fremdenverkehrs vorgelegt, dessen Inhalt die Bun- wand erhöhen. desregierung mit großem Interesse zur Kenntnis ge- nommen hat. Ebensowenig halte ich angesichts der zahlreichen Die Bundesregierung vertritt zu der Frage einer Publikationen zu dem Thema „Massentourismus und europäische Tourismuspolitik die Auffassung, daß seine negativen Auswirkungen" eine bundesweite angesichts des zunehmenden nationalen und inter- Informationskampagne für notwendig. Die Verbrau- nationalen Wettbewerbs im Tourismus und der im- cher zeigen zunehmende Sensibilität bei der Um- mer enger werdenden Finanzspielräume der Einfluß weltqualität touristischer Angebote. Die Tourismus- der Europäischen Union im Tourismusbereich auf die wirtschaft hat in der Vergangenheit gezeigt, daß um- Gebiete beschränkt werden sollte, die notwendig ei- weltpolitische Belange, z. B. bei Reiseveranstaltern ner einheitlichen Lösung bedürfen. Die Bundesregie- und Gastgewerbe, hohe Priorität haben. rung ist deshalb gegen die Einführung eines speziel- Eine bessere Verzahnung von Auslands- und In- len Kompetenztitels für Tourismus. Sie hat dies ge- landswerbung, die auch von der Bundesregierung genüber der Kommission deutlich zum Ausdruck ge- angestrebt wird, wird dazu beitragen, den Touris- bracht. musstandort Deutschland zu stärken und zusätzliche Auf zusätzliche Finanzinstrumente kann durchaus Synergieeffekte zu erzielen. Besonders gefordert verzichtet werden, da z. B. im Rahmen der Struktur- sind hier Bund und Länder, die Tourismuswirtschaft fonds und anderer bestehender Förderprogramme und die DZT. ausreichende Mittel zur Verfügung stehen. Die qualitative Verbesserung der Ausbildungs- In der Bundesrepublik leben Fremdenverkehr und gänge - nicht nur im Tourismusbereich - ist ein stän- Tourismus aus der regionalen Differenziertheit der diges Anliegen der Bundesregierung. Verschiedene einzelnen Fremdenverkehrsgebiete und -regionen. Maßnahmen wurden in Angriff genommen, z. B. die Eine zentral ausgerichtete Fremdenverkehrspolitik Anpassung der Ausbildungsordnungen an zeitge- auf der Ebene der Europäischen Gemeinschaften mäße Berufsbilder, die Diskussion um neue Berufsfel- würden diese regionalen Eigenheiten nivellieren und der im Tourismus sowie die Finanzierung des Deut- damit dem Tourismus in Deutschland eine seiner schen Seminars für Fremdenverkehr als Weiterbil- wesentlichen Grundlagen entziehen. Gerade die re- dungsinstitut. gionale Vielfalt und die landschaftlichen und kul- turellen Besonderheiten machen den Tourismus- Nach Auffassung der Bundesregierung ist der Auf- standort Deutschland interessant. bau eines bundesweiten Informations- und Reservie- rungssystems dringend notwendig. Diesbezüglich Die Kommission sollte auf die Berücksichtigung sind sich Bund, Länder und der Deutsche Fremden- tourismuspolitischer Belange bei der Formulierung verkehrsverband einig, und ich gehe davon aus, daß und Gestaltung von solchen Politiken hinwirken, für das System DIRG nun auf gutem Wege ist. die bereits eine Gemeinschaftskompetenz vorhanden ist. Ich denke hierbei an die Verbraucher- und Um- Die Bundesregierung erstattet dem Deutschen weltpolitik und an Maßnahmen im Bereich der Ver- Bundestag, insbesondere dem Bundestagsausschuß kehrspolitik. für Fremdenverkehr und Tourismus, regelmäßig Be- richt über ihre tourismuspolitischen Aktivitäten. Der Zu 9 b: Beschlußempfehlung und Bericht zu dem Bericht der Bundesregierung über die Entwicklung Entschließungsantrag der Abgeordneten Halo Sai- des Tourismus wird regelmäßig aktualisiert. (Zum bold und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nächsten Mal im Herbst 1997). zu der Unterrichtung der Bundesregierung - „Bericht der Bundesregierung über die Entwicklung des Tou- Zu 9 c: Beschlußempfehlung und Bericht zu dem rismus". Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. Dem Entschließungsantrag kann ich nicht zustim- „Umweltschutz und Tourismus". Der Antrag der men. Fraktionen von CDU/CSU und F.D.P. stellt das not- wendige Zusammenspiel von Umweltschutz und Der Tourismusbericht der Bundesregierung belegt, Tourismus zutreffend dar. Zwischen Tourismus und daß viele der in der Beschlußempfehlung angespro- Natur- und Landschaftsschutz besteht weitgehende chenen Maßnahmen bereits in Angriff genommen Interessenparallelität. Einem konstruktiven Dialog worden sind. Bei der Forderung nach zusätzlichen zwischen Tourismuswirtschaft und Umweltschützern Maßnahmen sollten immer auch die zur Verfügung messe ich deshalb besondere Bedeutung bei. Denn stehenden knappen Mittel bedacht werden. nur mit wirkungsvollen Maßnahmen zum Umwelt- Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996 9533* schutz können die natürlichen Grundlagen des Tou- Dieses Sondererbrecht der nichtehelichen Kinder rismus dauerhaft gesichert werden. stammt noch aus einer Zeit, in der diese als „Stören- friede" in einer Familiengemeinschaft empfunden Der Bereich Umweltschutz muß integraler Be- wurden. Diese Auffassung ist heute von der gesell- standteil der Politik zur Entwicklung des Tourismus schaftlichen Wirklichkeit überholt. Immer mehr Kin- sein. Ich halte es daher nicht für erforderlich, einen der wachsen in nichtehelichen Lebensgemeinschaf- gesonderten Bericht über Umweltschutz und Touris- ten oder bei nur einem Elternteil auf. Allein in den mus vorzulegen. Vielmehr sollte dieses Thema in den neuen Bundesländern werden mehr als 40 % der Kin- nächsten Tourismusbericht integ riert werden. der nichtehelich geboren. Die deutsche Tourismuswirtschaft hat erkannt, daß Die Reform des Kindschaftsrechts, zu der ich Ihnen Umweltschutzmaßnahmen sich imagefördernd aus- bereits vor einigen Wochen an dieser Stelle berichtet wirken können und auch Standortvorteile im interna- habe, und der vorliegende Entwurf tragen nicht nur tionalen Wettbewerb bedeuten. dieser gesellschaftlichen Wirklichkeit Rechnung. Sie Es gibt bereits wichtige übergreifende umweltpoli- entsprechen auch meiner Überzeugung, daß der tische Handlungsebenen und Instrumente. Beispiele Staat nicht durch seine Gesetze und Institutionen be- sind die Rio-Konvention, das Tourismusprotokoll der stimmte Schicksale, bestimmte Lebensbilder, be- Alpenkonvention, das Umweltschutzprotokoll zum stimmte Daseinspläne bevorzugen darf. Der Entwurf Antarktisvertrag, die Umweltverträglichkeitsprüfun- zieht hieraus die Konsequenzen, indem er die ge- gen für touristische Anlagen und vieles mehr. nannten Sondervorschriften ersatzlos streicht. Die Bundesregierung hat im Rahmen ihrer Mittel Ich freue mich, daß der Bundesrat diesen Ansatz bisher zahlreiche Projekte der Fremdenverkehrswirt- grundsätzlich unterstützt. Er will allerdings - anders schaft im Umweltschutz unterstützt. Ich möchte an als noch in der vergangenen Legislaturperiode - dieser Stelle noch einmal besonders auf den derzeit auch die vor dem 1. Juli 1949 geborenen nichteheli- laufenden Bundeswettbewerb „Umweltfreundliche chen Kinder einbeziehen und damit eine Übergangs- Fremdenverkehrsorte" hinweisen, der gemeinsam regelung der Reform aus dem Jahre 1969 abschaffen. vom BMWi, BMU und dem Deutschen Fremdenver- Seinerzeit wurden Kinder, die älter als 21 Jahre wa- kehrsverband durchgeführt wird. ren, nicht in den Anwendungsbereich des neuen Rechts einbezogen. Eine Stichtagsregelung bringt zwar immer Härten mit sich und ist den Betroffenen nur schwer plausibel Anlage 3 zu machen. Das Bundesverfassungsgericht hat dem Gesetzgeber aber bestätigt, daß er das Vertrauen po- Zu Protokoll gegebene Reden tentieller Erblasser auf die Weitergeltung des alten zu Tagesordnungspunkt 10 Rechtszustandes, in dem es überhaupt kein Erbrecht (Entwurf eines Gesetzes für nichteheliche Kinder gab, um so eher für schutz- zur erbrechtlichen Gleichstellung würdig halten durfte, je älter die nichtehelichen Kin- nichtehelicher Kinder - der bei Inkrafttreten des Gesetzes waren. Ansonsten Erbrechtsgleichstellungsgesetz) hätte der Gesetzgeber im Jahre 1969 eine Vielzahl Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, Bundesminister der von Vaterschaftsanfechtungen heraufbeschworen, Justiz: Das Grundgesetz trägt dem Gesetzgeber in selbst in Fällen, in denen die Geburt mehr als Art. 6 Abs. 5 auf, den nichtehelichen - oder wie es 21 Jahre zurücklag. dort noch heißt: „unehelichen" - Kindern die glei- Diese Überlegungen haben durch den Zeitablauf chen Bedingungen für ihre Entwicklung und ihre noch an Gewicht gewonnen. Sollen wir jetzt Anfech- Stellung in der Gesellschaft zu schaffen wie den ehe- tungsverfahren entscheiden, wenn die Geburt bald lichen Kindern. Die Verwirklichung dieses Verfas- 50 Jahre zurückliegt? Und: Soll ein 75- bis 80jähriger sungsauftrags treibt die Bundesregierung mit dem Vater heute eine Vaterschaft anfechten müssen, mit heute zur Beratung anstehenden Entwurf eines Erb- der sich alle in den geltenden Rechtsbahnen längst rechtsgleichstellungsgesetzes aus meinem Haus wei- arrangiert haben? Ich halte es nicht für angemessen, ter voran. daß der 1969 gewährte und vom Verfassungsgericht Bereits im Jahre 1969 hat der Gesetzgeber einen gebilligte Vertrauensschutz jetzt wieder entzogen entscheidenden ersten Schritt getan: Nichtehelichen wird. Kindern wurde ein Erbrecht nach ihrem Vater und Dieser Streitpunkt soll nicht darüber hinwegtäu- ihren väterlichen Verwandten eingeräumt. Vor einer schen, daß wir uns im Grundsatz einig sind: Nicht- völligen erbrechtlichen Gleichstellung ist der Gesetz- eheliche und eheliche Kinder sollen erbrechtlich geber zurückgeschreckt, indem er nichtehelichen gleichgestellt und der Verfassungsauftrag des A rt. 6 Kindern gegenüber der Ehefrau und den ehelichen Abs. 5 des Grundgesetzes insoweit nunmehr voll- Kindern nur einen sogenannten Erbersatzanspruch ständig erfüllt werden. eingeräumt hat, der in seiner Höhe dem Wert des ihnen „eigentlich" zustehenden Erbteils entspricht. Auf der anderen Seite hat der Gesetzgeber nichtehe- Margot von Renesse (SPD): Um es vorweg zu sa- lichen Kindern die Möglichkeit eingeräumt, von gen: Der Regierungsentwurf zum Erbrecht ist dem ihrem Vater einen „vorzeitigen Erbausgleich" zu ver- Ziel, der Gleichstellung aller Kinder eines Erblassers, langen. schon erfreulich nahe gekommen, auch wenn er - 9534* Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996 wie ein Golfball vor dem Loch - noch ein kleines biß- Recht Eltern vor ihren Kindern strammstehen läßt. chen davor steckengeblieben ist. Doch dazu später. Gleichbehandlung des Nachwuchses ist auch hier am Platze, da Eltern weit über die Volljährigkeit ihrer Kinder sind Kinder, ob sie „ehelich" sind oder Kinder hinaus für lange Ausbildungszeiten ein offe- nicht, geliebt oder ungeliebt, der Stolz ihrer Eltern nes Portemonnaie haben müssen. oder ihr Kummer. Die unterhaltsrechtliche Verant- wortung in beiderlei Richtung ist dieselbe, die Chan- So weit, so gut mit dem Regierungsentwurf. Wir cen für gelungene oder gescheiterte Elternschaft werden ihn im Zusammenhang mit dem Entwurf zur gleich. Was also hat so lange den Gesetzgeber gehin- Kindschaftsrechtsreform beraten, zu der er inhaltlich dert, das Selbstverständliche zu tun: die Gleichstel- gehört. Es war immer ein Unding, ihn in der letzten lung aller Kinder auch im Erbrecht zu bewirken? Legislaturperiode als Einzelnovelle vorzulegen. Ich freue mich, daß der Zusammenhang, wie wir Sozial- Nennen wir die Angst beim Namen, die viele um- demokraten immer verlangt haben, nun gewahrt ist. treibt: Da könne es einen Fremdling, einen Bastard in der Erbengemeinschaft geben, der nichts als Un- Aber über eines müssen wir doch noch streiten: frieden in eine erbende Familie trägt. Unsinn! Als ob Warum um alles in der Welt soll die Gleichstellung enge Blutsverwandtschaft Frieden in der Erbenge- nur für die Kinder gelten, die nach dem Inkrafttreten meinschaft gewährleistete! Und schon heute kom- des Grundgesetzes geboren sind? Aus Gründen des men viele Erbengemeinschaften, in denen sich Halb- Vertrauensschutzes? Den gibt es nur, wenn in be- geschwister aus geschiedenen Ehen des Erblassers rechtigtem Vertrauen auf den Bestand geltenden zusammenfinden, gelegentlich auch f riedlich mitein- Rechts disponiert und gehandelt wurde. Wer aber ander aus. Wollen wir etwa, wie es allen Ernstes von hat denn wohl im Vertrauen darauf, daß es nichts er- erlauchter Fachautorität vorgeschlagen wurde, das ben werde, ein Kind gezeugt? Diese Vorstellung volle Erbrecht aller Kinder aus geschiedenen Ehen bringt mich zum Lachen. Wieso auch soll das Ver- auf das der nichtehelichen Kinder nach heutigem trauen darauf, daß man einem nichtehelichen Kind Recht reduzieren, so daß die Scheidung ihrer Eltern gegenüber keine Verantwortung trägt, „berechtigt" auch sie selbst vorn Vater oder der Mutter rechtlich und darum schützenswert sein? Im Unterhaltsrecht trennte? Das dürfte kaum mit Art. 6 der Verfassung sehen wir das ganz anders - und das mit Recht, weil vereinbar sein. es nicht eine grundlegende Neuerung aus gesetzge- berischer Willkür, sondern die Ausprägung anthro- Was ist die Begründung für das gesetzliche Erb- pologischer Konstanten ist, wenn wir nunmehr auf recht naher Angehöriger? Es ist mitnichten die Zu- dem Standpunkt stehen, nichteheliche Väter seien neigung oder gar Liebe zwischen Erblasser und Er- mit ihren Kindern ebenso verantwortlich verbunden ben. Solche wackligen Anknüpfungstatbestände ver- wie mit ehelichen. Vor den Verwirrungen, die das achtet das BGB. Die Erbengemeinschaft ist nicht, wie neue Recht in bestehende Rechtsverhältnisse brin- manche Spätromantiker immer noch meinen, als Fa- gen könnte, habe ich ebensowenig Angst wie die milientisch minus Erblasser konzipiert. Die rationale Regierung vor den viel zahlreicheren Fällen nach Begründung für das starke Angehörigenerbrecht - 1949, auf die sie selber die Rückwirkung erstrecken übrigens auch mit seinen steuerrechtlichen Privile- möchte. Daß es sich nur um die Fälle unechter Rück- gien - ist die höchstrangige ökonomische Verantwor- wirkung handeln kann, wo also die Erbfälle noch tung der Angehörigen füreinander. Diese heißt zu nicht eingetreten sind, ist ohnehin aus verfassungs- Lebzeiten Unterhaltsverpflichtung, nach dem Tode rechtlichen Gründen eindeutig. Erbrecht. Gut beraten sind bei größeren Vermögen immer diejenigen, die mit Hilfe von Testamenten Noch eine Bemerkung zum Schluß: Vor einiger Streit unter den Hinterbliebenen vermeiden und Be- Zeit hörte ich einen Kollegen aus der Koalition einen triebe zusammenhalten helfen. Da gilt es klug vorzu- Satz mit den Worten beginnen: „Da hat man ein un- sorgen und an die klassische Frage zu denken: „Wes eheliches Kind, und dann hat man noch drei eigene ..." wird sein, das du bereitet hast?" Das genau ist die Unterscheidung, die wir alle nicht mehr wollen. Auch Begünstigungen nichtehelicher Kinder müs- sen abgebaut werden, die das geltende Recht vor- Dr. Wolfgang Götzer (CDU/CSU): Mit dem vorlie- sieht. Der vorgezogene Erbausgleich, den ein nicht- genden Gesetzentwurf soll die völlige erbrechtliche eheliches Kind von seinem Vater heute verlangen Gleichstellung von nichtehelichen Kindern geschaf- kann und mit dem es beansprucht, ihn bei lebendi- fen werden. Diesen war bis 1970 jegliche erbrecht- gem Leibe schon zu beerben, ist eine widerliche Gro- liche Berechtigung nach ihrem Vater versagt. Denn teske. Gewiß hat der Gesetzgeber dem nichteheli- bis zu diesem Zeitpunkt galten das nichteheliche chen - und damit ungeliebten - Kind einen Aus- Kind und sein Vater als nicht miteinander verwandt. gleich für eine vermutete Großzügigkeit von Vätern ehelicher Kinder geben wollen, die der erwachsenen Mit dem Nichtehelichengesetz vom 19. August Tochter eine Aussteuer, dem erwachsenen Sohn das 1969 wurde bekanntlich eine deutliche Besserstel- Grundkapital für eine Betriebsgründung zuschanzte. lung der nichtehelichen Kinder eingeführt, allerdings Aber wo sind wir denn? Wo gibt es das denn heute nach wie vor keine völlige Gleichstellung: Der Erb- noch in den Familien, insbesondere gegenüber Kin- ersatzanspruch bei gesetzlicher Erbfolge ist zwar dern auch aus geschiedenen Ehen? Ich habe etwas materiell dem Erbteil des ehelichen Abkömmlings gegen diesen vorzeitigen Erbausgleich, weil er mich gleich, aber die Rechtsposition ist nicht dieselbe, da an das Gleichnis vom verlorenen Sohn erinnert und das nichteheliche Kind nicht wie die ehelichen Kin- es mich immer unangenehm berührt, wenn das der gesamthänderisch berechtigter Miterbe wird. Als Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996 9535* bloßer Gläubiger muß der Erbersatzberechtigte auch nicht von einer gelebten Beziehung zwischen Erblas- vom Nachlaßgericht beim Erbfall nicht von Amts we- ser und Erben abhängig gemacht worden. gen ermittelt werden, was dazu führen kann, daß das nichteheliche Kind keine Kenntnis vom Erbfall er- Außerdem: Sofern beim Kind über die bloße Ver- langt. wandtschaft hinaus nur eine tatsächliche innere Be- ziehung zwischen Vater und Kind das volle Erbrecht Das geltende Recht ist immer wieder - und inzwi- rechtfertigt, muß dies für a 11e Kinder gelten, nicht schen verstärkt - in die Kritik geraten. Dabei wird nur für nichteheliche. vor allem auf die gewandelte rechtliche und soziale Situation nichtehelicher Kinder seit dem Nichtehe- Bei Scheidungskindern z. B. ist häufig das Ende lichengesetz hingewiesen: eine gesellschaftliche Dis- einer gelebten Beziehung zum Vater festzustellen, kriminierung nichtehelicher Kinder findet heute während es andererseits zahlreiche nichteheliche Le- praktisch nicht mehr statt; die Zahl nichtehelicher bensgemeinschaften mit gemeinsamen Kindern gibt, Lebensgemeinschaften nimmt zu, und diese werden in denen sehr wohl eine gelebte Beziehung besteht. zunehmend akzeptiert; die Zahl von Ein-Eltern- Angesichts dessen lassen sich meines Erachtens Familien steigt mit wachsender Scheidungsrate. kaum noch überzeugende Argumente für die Beibe- Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Ent- haltung der erbrechtlichen Sonderstellung nichtehe- scheidung vom 7. Mai 1991 festgestellt: licher Kinder finden. Eine ungleiche Behandlung nichtehelicher Kin- Der Entwurf sieht deshalb die Streichung aller im der, die sich als Benachteiligung gegenüber ehe- BGB enthaltenen erbrechtlichen Sonderregelungen lichen Kindern auswirkt, bedarf stets einer über- für nichteheliche Kinder vor, mit der Konsequenz, zeugenden Begründung. Abweichungen von daß nichteheliche Abkömmlinge auch neben dem den für eheliche Kinder geltenden Vorschriften überlebenden Ehegatten und den ehelichen Ab- sind deshalb grundsätzlich nur zulässig, wenn kömmlingen des Erblassers zu gesamthänderisch be- eine förmliche Gleichstellung der anderen sozia- rechtigten Miterben werden. len Situation des nichtehelichen Kindes nicht ge- Spannungen unter den Miterben werden dabei recht würde oder dadurch andere, ebenso ge- zwar in Kauf genommen; als allgemeines Problem schützte Rechtspositionen beeinträchtigt wür- „heterogener" Erbengemeinschaften dürften sie je- den. doch ohnehin kaum vermeidbar sein. Danach läßt sich eine Schlechterstellung nichtehe- Im übrigen ist darauf hinzuweisen, daß der Erblas- licher Kinder nicht mehr ohne weiteres mit dem pau- ser natürlich die Möglichkeit hat, die Erbfolge durch schalen Hinweis rechtfertigen, die mögliche Vielfalt Verfügung von Todes wegen abweichend von der ge- der Lebenssituation nichtehelicher Kinder unter- setzlichen Erbfolge zu regeln. Aus diesem Grund scheide sich von den typisierenden Lebensumstän- halte ich auch den Einwand für nicht durchgreifend, den ehelicher Kinder. die Gleichstellung der nichtehelichen Kinder würde Damit bestätigt das Bundesverfassungsgericht vor allem für Unternehmen große Probleme schaffen. seine geänderte dogmatische Position, die erstmals Außerdem ist in Unternehmen meist im Gesell- in der im 74. Band (Seite 33 ff.) veröffentlichten Ent- schaftsvertrag oder in der Satzung eine Regelung scheidung bezogen worden war. Daraus - wie es über die Erblichkeit oder eine Unternehmensnach- manche Kritiker der derzeitigen Regelung tun - zu folge getroffen. folgern, die geltende Rechtslage sei verfassungswid- Noch ein Wort zur Stichtagsproblematik: Der Bun- rig, halte ich für gewagt. Allerdings macht auch desrat will im Gegensatz zum Regierungsentwurf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch die vor dem 1. Juli 1949 geborenen nichteheli- deutlich, daß sich ein Wandel in den Verhältnissen chen Kinder in erbrechtlicher Hinsicht den ehelichen vollzogen hat, dem auch das Recht Rechnung zu tra- Kindern gleichstellen. Hierfür lassen sich durchaus gen hat. Argumente anführen, es sprechen aber auch gute § 1934 a BGB beruht im Grunde auf der Annahme, Gründe dagegen, die es in den bevorstehenden par- daß das nichteheliche Kind ein „Störenfried" im be- lamentarischen Beratungen abzuwägen gilt. stehenden Familienverband sei, mithin sein Aus- Der mit dem Nichtehelichengesetz eingeführte schluß aus der Erbengemeinschaft den Frieden in- vorgezogene Erbausgleich ist vom rechtspolitischen nerhalb dieser Rechtsgemeinschaft wahre. Der Ge- Schicksal des Erbersatzanspruchs grundsätzlich un- setzgeber ging damals davon aus, daß zwischen abhängig. Er könnte deshalb auch nach Wegfall des Vater und ehelichem Kind bzw. mit dessen Mutter Erbersatzanspruchs fortbestehen. regelmäßig eine gelebte Eltern-Kind-Beziehung besteht, dagegen praktisch nie zwischen Vater und Motiv für den vorzeitigen Ausgleichsanspruch war nichtehelichem Kind. seinerzeit, das sogenannte Lebensdefizit des nicht- ehelichen Kindes auszugleichen. Die Antwort auf die Diese Voraussetzung ist - wie der Vizepräsident Frage, ob mit einer Streichung der §§ 1934a, b BGB des OLG München, Wolfgang Edenhofer, bei einem auch der vorzeitige Erbausgleich beseitigt werden Expertengespräch auf Einladung der CDU/CSU-Mit- soll, hängt also davon ab, ob der Gesetzgeber es bei glieder des Rechtsausschusses überzeugend darge- voller erbrechtlicher Gleichstellung noch für geboten legt hat - erbrechtlich unlogisch und durch die Ent- ansieht, mit Hilfe dieses Rechtsinstituts weiterhin wicklung der sozialen Verhältnisse überholt; denn einer Benachteiligung nichtehelicher Kinder entge- das gesetzliche Erbrecht der Verwandten ist im BGB genzuwirken. 9536* Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996

Dies ist nach unserer Ansicht heute - jedenfalls in nahme aus der Entstehungsphase des BGB verwie- genereller Hinsicht - zu verneinen. Entwicklungsmä- sen wurde, wo vermerkt wurde: ßige, soziale und wirtschaftliche Nachteile können sachgerecht heute nur noch aus der konkreten Le- Meistens steht der Vater dem unehelichen Kinde benssituation des einzelnen - nichtehelichen oder gleichgültig oder fremd gegenüber ... Es erman- ehelichen - Kindes begründet werden. Auch läßt sich geln hier völlig die sittlichen Voraussetzungen der Wunsch, durch einen vorgezogenen Erbaus- für die Begründung einer familienrechtlichen gleich künftigen Erbkonflikten vorzubeugen, nicht Beziehung ... auf den Fall des nichtehelichen Kindes beschränken. Der heutige Bundestag erlaubt sich eine dera rtige Andererseits würde die Ausweitung des vorzeitigen Bewertung der Entstehung eines nichtehelichen Kin- Erbausgleichs auf eheliche Kinder die Dispositions- des gewiß nicht mehr. Ganz im Gegenteil: Es gibt freiheit des künftigen Erblassers noch weiter ein- Zehntausende von nichtehelichen Vätern, die kei- schränken und somit an die Schranken des A rt. 14 neswegs nur Zahlväter sind, sondern sich mit großem Grundgesetz stoßen. Engagement, ja mit elterlicher Liebe um ihr Kind kümmern. Tausende von Vätern kämpfen um die Der Wegfall des vorzeitigen Erbausgleichs ist da- Teilhabe an der elterlichen Sorge, nicht etwas aus mit gerechtfertigt. Machtgründen, sondern weil sie ihre Verantwortung gegenüber dem Kind kennen und die besondere Hildebrecht Braun (Augsburg) (F.D.P.): Was lange menschliche Nähe eines Elternteils zu seinem Kind währt, wird endlich gut. Viele Jahre hat es gedauert, als Realität wahrnehmen. Dies ist eine wunderbare bis in unserer Gesellschaft der Konsens darüber ge- Sache, die der Bundestag nur mit allem Nachdruck wachsen ist, daß Diskriminierungen in jeder Form, unterstützen kann. die an die Art der Geburt anknüpften, aus dem deut- Die bisherige gesetzliche Regelung benachteiligt schen Recht beseitigt werden müßten. auch eheliche Kinder, die keinen Erbersatzanspruch haben. Sie führt auch zu einem grotesken Ergebnis: Es ist schon eine befremdliche Regelung, die es zu Wenn das nichteheliche Kind den Erbersatzanspruch ersetzen gilt: Da tut das Gesetz so, als sei die Bilder- gegen den Vater geltend macht, so endet hiermit ja buchfamilie, wo jeder nur das Wohl des anderen Fa- nicht nur die erbrechtliche Beziehung zwischen dem milienmitgliedes im Auge hat, noch immer die Regel. Kind und dem Vater, sondern auch zwischen dem Richtig ist, daß die Ehe an Attraktivität und die Fami- Vater und dem Kind. In anderen Worten: Wenn das lie an Integrationskraft verloren haben. So sind im Kind vor dem Vater verstirbt, ist der Vater nicht mehr Jahr 1992 in den neuen Bundesländern 33,6 %, also Erbe. Wenn keine Verwandten vorhanden sind, soll ein Drittel aller Kinder, geboren worden, ohne daß an Stelle des Vaters der Staat erben. Eine solch aben- die Eltern verheiratet waren. teuerliche Konstellation muß geändert werden. Da unterstellt die gegenwärtige gesetzliche Re- Das neue Gesetz wird eine Rechtsangleichung zwi- gelung doch, daß im Erbfalle die Angehörigen- die- schen den alten und den neuen Bundesländern brin- ser Bilderbuchfamilie in trauter Friedfertigkeit das gen, aber darüber hinaus auch eine Entwicklung Ererbte im Geiste des Verstorbenen ausschließlich nachvollziehen, die in unseren Nachbarstaaten dem Wohle der verbleibenden Familie widmen wür- längst stattgefunden hat. Nicht nur Österreich hat den. Richtig ist natürlich, daß schon heute der Erbfall sie; auch die in manchen rechtspolitischen Dingen oft die größte Gefährdung für ansonsten intakte eher zögerliche Schweiz hat bereits 1976 das nicht- Familien darstellt. Jeder Anwaltskollege wird uns be- eheliche Kind dem ehelichen gleichgestellt. stätigen, daß über die Nichteinigung bei der Vertei- lung des Erbes Geschwister und Eltern in besten Fa- Lassen Sie mich noch kurz auf die Gesetzesbe- milien zu Feinden geworden sind. Ja, die Heftigkeit gründung eingehen: Sie verweist zu Recht darauf, der Streitereien um Ererbtes, also letztlich um Ver- daß auch die jetzt gefundene Lösung keineswegs das mögen ohne eigene Leistung wird gelegentlich noch Nachdenken über die Grundlagen des Erbrechts be- in ihrer Heftigkeit übertroffen durch Streitigkeit von endet. So werden Erwägungen angestellt, die durch- Nachbarn über die Thujen-Hecke. aus verdienen, weiter bedacht zu werden, etwa, ob nicht den Kindern im Falle des Versterbens eines El- Das geltende Recht hat sich der Einsicht verwehrt, ternteils nur ein Erbersatzanspruch gegenüber dem daß natürlich schon heute Millionen von Kindern aus überlebenden Ehegatten zustehen sollte. Ich könnte zweiter Ehe des Erblassers im Erbfall mit den Kin mir gut vorstellen, daß dies dem Zusammenhalt in dern aus erster Ehe, zu denen sie oft keinen Kontakt der Familie dienlich sein könnte. haben, eine Erbengemeinschaft bilden. Der Gesetz- geber hat dies als hinnehmbar erachtet, während er Der Gesetzentwurf lehnt einen Antrag des Bundes- die Erbengemeinschaft mit dem nichtehelichen Ge- rates ab, auch vor dem 1. Juli 1949 Geborenen das schwister als unzumutbare Belastung bewe rtete. Erbrecht zuzusprechen. Ich gestehe, daß mir die Be- Welch eine Diskriminierung! Schwang nicht 1969 gründung dieser Weigerung nicht einleuchten mag. noch die Vorstellung der ethischen Minderwertigkeit Hierüber wird sicherlich in der Gesetzesberatung des nichtehelich geborenen Kindes, des Bastards noch intensiv zu sprechen sein. Eigentlich will ich, mit? daß es in Zukunft keinerlei Diskriminierung von nichtehelichen Kindern mehr gibt, auch nicht von Es kommt wohl nicht von ungefähr, wenn in solchen, die das 47. Lebensjahr bereits vollendet ha- der Gesetzesbegründung 1969 auf eine Stellung- ben. Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996 9537*

Lassen Sie mich am Ende eine Anregung an die damals, als es um allererste Versuche einer Gleich- Damen und Herren im Justizministerium geben: Der stellung ging, kaum nachzuvollziehen. Gesetzentwurf und seine Begründung übernehmen die Sprache des BGB, das nun bald 100 Jahre alt sein Es ist aber heute halbherzig, diese unverhältnismä- wird. Es werden nichteheliche Abkömmlinge den ßige und willkürliche Benachteiligung beizubehal- ehelichen Abkömmlingen gegenübergestellt. Muß es ten. Gleiche Rahmenbedingungen sollten für alle denn wirklich sein, daß wir von Kindern und Enkeln gelten, unabhängig vom Geburtsdatum. Deshalb immer noch als Abkömmlingen sprechen? Wäre es schließen wir uns in diesem Punkt der Empfehlung nicht an der Zeit, dera rtige technische Begriffe, die des Bundesrates an. uns Menschen als Objekte rechtlicher Konstruk- tionen so erscheinen lassen, ebenso aus der Geset- Die erbrechtliche Gleichstellung ist aber nur ein zesprache zu entfernen wie die schrecklichen Teil einer Gleichstellung von ehelichen und nicht- Frauenspersonen, die uns nirgends mehr begegnen ehelichen Kindern. Weitergehende Reformen stehen außer im deutschen BGB, wo es zum Beispiel bisher dringend an. Zum Beispiel die Regelung des Unter- völlig unwidersprochen in § 825 heißt: „Wer eine halts. Frauensperson durch Hinterlist ... zur Gestattung der außerehelichen Beiwohnung bestimmt, ist ihr Unsere Fraktion will, daß die Höhe des Unterhalts zum Ersatze des daraus entstehenden Schadens ver- für alle anspruchsberechtigten Kinder, gestaffelt pflichtet."? Aber, Herr Bundesjustizminister, auf nach Alter, zukünftig einheitlich festgelegt wird. Er diese Bestimmung, die kaum einer kennt, kommen sollte sich am tatsächlichen Lebensbedarf orientie- wir in Kürze zurück, wenn wir familienrechtliche ren. Vorschriften der verdienten Runderneuerung zufüh- Wenn Sie den vorzeitigen Erbausgleich abschaf- ren. fen, wo ist dann noch die Berechtigung für die Mög- lichkeit, zur Abgeltung aller Ansprüche einmalig Rita Grießhaber (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es eine Unterhaltsabfindung zu vereinbaren? ist wirklich ein langer Weg vom dramatischen Schicksal des Gretchen in Goethes Faust bis zum Meine Damen und Herren, sinnvolle Einzelrege- heutigen Tag. lungen, wie sie uns heute zum Erbrecht vorliegen, entbinden die Bundesregierung nicht von ihrer Die Nichtehelichengesetzgebung der siebziger Pflicht, endlich einen Entwurf zur umfassenden Re- Jahre versuchte die Gretchensituation zu mildern. form des Kindschaftsrechts vorzulegen. Heute nichtehelich geboren zu sein und in einer so- genannten Teilfamilie zu leben bedeutet meist keine Wir brauchen ein Gesetz, das im Interesse der Kin- gesellschaftliche Stigmatisierung mehr. der Erbrecht und Unterhaltsrecht regelt. Wir brau- Die Gleichstellung von ehelichen und nichteheli- chen klare Bestimmungen zur elterlichen Sorge und chen Kindern in allen Bereichen des juristischen und zum Umgangsrecht. Und das Recht auf und die Ver- politischen Lebens ist eine überfällige Konsequenz pflichtung zur gewaltfreien Erziehung muß endlich aus den gesellschaftlichen Entwicklungen der letz- gesetzlich durchgesetzt werden. ten Jahrzehnte. Dieser Entwicklung muß auch die Wir hoffen, daß Ihnen da die Puste nicht vorzeitig Politik endlich und umfassend Rechnung tragen. ausgeht, und sind gespannt auf Ihren Entwurf. Unsere Fraktion hat im Antrag „Für eine gesetzli- che Neuregelung des Kindschaftsrechts" die Gleich- stellung von ehelichen und nichtehelichen Kindern Heidemarie Lüth (PDS): Die Neufassung eines Erb- in allen Bereichen gefordert. Ein Sonderrecht für rechtsgleichstellungsgesetzes ist längst überfällig, nichteheliche Kinder im Erbrecht ist durch nichts ge- weil hier geltendes Recht nicht nur - wie im Geset- rechtfertigt und stellt eine Ungleichbehandlung ge- zestext vermerkt - problematisch geworden ist, son- genüber ehelichen Kindern dar. dern weil es zu den antiquierten, lebensfernen und kinderunfreundlichen, ja Kinder und deren Mütter Der Erbersatzanspruch diente erklärtermaßen der diskriminierenden Vorschriften gehört. Rücksichtsnahme auf Verwandte, die dem Erblasser „tatsächlich nahestehen". Das nichteheliche Kind Es muß schon verwundern - oder eigentlich auch wurde als „fremder Eindringling" in deren Angele- nicht -, wenn die Bundesregierung selbst feststellt, genheiten betrachtet. daß die entstandenen realen Familienstrukturen, ver- Die Streichung von Erbersatzanspruch und vorge- fassungsrechtliche Vorgaben, Vorgaben des Eini- zogenem Erbausgleich wird von uns unterstützt. Es gungsvertrages von 1990 und die europäische ist an der Zeit, daß nichteheliche Kinder endlich auch Rechtsvereinheitlichung eine Neufassung von Erb- erbrechtlich den ehelichen Kindern gleichgestellt ansprüchen nichtehelicher Kinder erforderlich ma- werden. chen, aber dies erst 1996 ins Auge gefaßt wird. Not- wendig ist unbedingt die Gleichstellung von eheli- Allerdings scheint Ihnen nach diesem Schritt schon chen und nichtehelichen Kindern in Erbschaftsange- die Puste für die weitere Wegstrecke ausgegangen legenheiten. Das betrifft sowohl die gesamthänderi- zu sein. Das bet rifft zum Beispiel die Absicht, Kinder, sche Berechtigung als Miterbe wie auch den Wegfall die vor dem 1. Juli 1949 geboren sind, aus dieser Re- des vorgezogenen Erbausgleiches. Welche Geburts- gelung auszunehmen. Diese Ausnahme stammt aus wehen hierbei auszustehen waren, macht der Um- dem Nichtehelichengesetz von 1970 und war schon stand deutlich, daß im Referentenentwurf noch vor- 9538* Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996 geschlagen wurde, nichteheliche Kinder zu Erben schlechtliche Veranlagung von Menschen eine be- zweiter Klasse zu machen. trächtliche Lebenserschwernis darstellen kann. Die Keinen Grund sehen wir - wie bekanntlich der Frage ist, ob die Belastung und ihre Folgen für die Betroffenen so unerträglich sind, daß der Sozialstaat Bundesrat auch -, hinsichtlich der vor dem 1. Juli 1949 geborenen nichtehelichen Kinder die bisherige - über das Verbot der rechtlichen Diskriminierung hinaus - sie ihnen abnehmen muß, weil sie dem ein- Rechtslage beizubehalten. Liest man die Begrün- zelnen keine Chance zu einem erfüllten Leben mehr dung für das Gesetz, so erkennt man den gleichen lassen. Der Sozialstaat ist nicht dafür da, dem einzel- defensiven Ansatz wie auch im Gesetzentwurf zur nen alle Lebensrisiken und Lebenserschwernisse ab- Reform des Kindschaftsrechts. Ausgangspunkt, Maß- zunehmen, alle Unterschiede gewissermaßen ein- stab und die eigentliche moralische Kategorie ist im- zuebnen. Er soll das nicht, weil er das nicht kann, mer wieder die „normale Ehe" mit dem ehelichen weil die Suche nach immer mehr Gleichheit und im- Kind. Bedauerlicherweise wird dies auch noch ge- mer mehr Sicherheit auch zu immer mehr Abhängig- stützt in einer Entscheidung des Bundesverfassungs- keit und immer weniger Freiheit führt, sich im Ergeb- gerichts von 1991: „Den Maßstab der Gleichstellung nis schließlich auch gegen die wendet, denen zu die- bildet der ,Normalfall' des ehelichen Kindes, das in nen sie vorgibt. einer stabilen Ehe aufwächst." Die Größe und der moralische Wille der Väter wird bemüht, und in die- Das Leben ist bunt, und die Eigenschaften sind sem Sinne wird über das Kind entschieden. Das läßt nicht gleich verteilt. Es gibt Heterosexuelle und noch aufschlußreiche Diskussionen erwarten. Homosexuelle. Es gibt Menschen mit stabiler und Im übrigen steht doch wohl eine generelle Ände- solche mit labiler Gesundheit, Menschen, die schön rung des Erbrechts ins Haus. Aber da traut sich die sind, und Menschen, die häßlich sind und darunter Regierung offensichtlich nicht ran, weil dies einen leiden. Es gibt sehr kluge und sehr dumme Men- nicht gewollten Sinn für Realitäten zur Bedingung schen, Menschen mit Normalwuchs, Menschen mit haben müßte. Übergröße und Kleinwüchsige. Die erhebliche Ab- weichung vom Durchschnitt, von der Norm, kann leicht eine Belastung für den Betroffenen sein - in meinen Augen nicht selten auch eine schwerere Be- lastung als eine geschlechtliche Veranlagung. Anlage 4 Viertens. Viele Gleichgeschlechtliche oder ihre Apologeten begehren für die homosexuelle Lebens- Zu Protokoll gegebene Reden gemeinschaft die gleichen Rechte wie für die Ehe. In zu dem Zusatztagesordnungspunkt 13 der Tat hat unser Staat die Ehe mit Privilegien ausge- (Große Anfrage: stattet. Die Lebensgemeinschaft von Mann und Frau, Die Situation von Lesben und Schwulen aus der typischerweise die Familie mit Kindern her- in der Bundesrepublik Deutschland) vorgeht und die als kleinste gesellschaftliche Einheit Dr. Dietrich Mahlo (CDU/CSU): Erstens. Die PDS Ausgangspunkt der Sozialisation des Menschen dar- hat sich mit insgesamt 38 Einzelfragen zu unter- stellt und die für das Wohl eines Volkes oder einer schiedlichsten Rechtsbereichen an die Bundesregie- Gesellschaft von lebenswichtiger Bedeutung ist, ist rung gewandt, um deren bisherige und zukünftige privilegiert. Daraus folgt nicht, daß alle ähnlichen Be- Tätigkeit zum Schutz vor Diskriminierung und zur ziehungen ebenfalls zu privilegieren sind. Erzielung einer absoluten rechtlichen und gesell- Natürlich gibt es im Einzelfalle Ehen, die sich als schaftlichen Gleichstellung für gleichgeschlechtlich weniger gut erweisen als andere Lebensgemein- Veranlagte und für gleichgeschlechtliche Lebensge- schaften, die von großer Verantwortung getragen meinschaften im einfach-gesetzlichen Bereich anzu- werden und im besonderen Fall die Unterstützung regen. Daneben wird mit den Fragen auch auf auf- der Allgemeinheit verdienten. Aber wir können nicht klärende und meinungsbildende Maßnahmen ge- für jeden Einzelfall ein Gesetz machen. Der Staat zielt. muß sich auf idealtypische Tatbestände beziehen. Zweitens. In der Bundesrepublik Deutschland re- Anderes ist aus praktischen Gründen nicht machbar. spektiert der Staat die Höchstpersönlichkeit der Ent- scheidung des einzelnen über sein Sexualleben. Das Fünftens. Bei der Ausgestaltung der Wohnungs- Recht der Bundesrepublik verbietet es, Menschen bauförderung gebührt der Familie der Vorrang vor wegen ihrer sexuellen Orientierung zu diskriminie- anderen Formen der Gemeinschaft. Bei der Frage ren oder sachwidrig ungleich zu behandeln. Das ist des Eintritts in einen bestehenden Mietvertrag der in Art . 3 Abs. 1 und Abs. 3 des Grundgesetzes scheint mir die immer größere Ausweitung des Krei- verfassungsrechtlich abgesicherte Grundsatz mit ses der Eintrittsberechtigten mit dem Recht des Ver- Rechtsschutzgarantie und der Verfassungsbe- mieters, grundsätzlich selbst zu bestimmen, wem er schwerde als Ultima ratio. Und weil dies existiert, eine Wohnung vermietet, nicht kompatibel. Die sind so viele der in den Fragen enthaltenen indirek- Frage der Adoption durch gleichgeschlechtliche Le- ten Aufforderungen und Vorwürfe an die Adresse benspartner ist zu diffizil, als daß sie hier in einem der Bundesregierung rechtlich überflüssig und poli- Minutenbeitrag abgehandelt werden könnte. Das tisch „just for show". Wohl des Kindes muß der Maßstab sein - und nur dieses. Nachteile im Erb- und Steuerrecht scheinen Drittens. Es wird nicht verkannt, daß trotz des mir teils hinnehmbar, teils überwindbar z. B. durch rechtlichen Diskriminierungsverbots die gleichge- die Errichtung eines Testaments. Das Besuchsrecht Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996 9539* im Strafvollzug muß in der Tat geregelt werden, das Die dort begründete Verpflichtung der gesamten Besuchsrecht auf der Intensivstation ebenfalls. „staatlichen Ordnung" zum „besonderen Schutz" von Ehe und Familie würde nicht erfüllt, wenn alle Eine Ablehnung der Gleichstellung mit der Ehe Lebensformen pauschal gleichgestellt und Ehe und bedeutet nicht die Ablehnung jeglicher Anerken- Familie damit eben nicht mehr „besonders" ge- nung einer gleichgeschlechtlichen Lebensgemein- schützt würden. schaft; unter der Voraussetzung freilich, daß dort, wo besondere Rechte gefordert werden, auch besondere Deshalb sind wir als Gesetzgeber sehr wohl ge- Pflichten übernommen werden müssen. fragt, wenn auf Dauer angelegten Lebensgemein- schaften Hürden gegenüberstehen, welche die ihnen Insgesamt läßt sich sagen, die Situation der gleich- garantierte Gestaltungsfreiheit zwar formal nicht be- geschlechtlich Veranlagten in Deutschland bietet schränken, für die Betroffenen aber eine schwere Be- keine Veranlassung zu Panik und Feldgeschrei. Aber lastung sind. es ist auch nicht ein Gebiet, auf dem jede Reform schlechthin überflüssig wäre. Das Thema bleibt auf Ein Beispiel hierfür ist das Mietrecht. Nach dem der Tagesordnung. Tod des Mieters gewährt das Gesetz Ehepartnern die Möglichkeit, in den Mietvertrag einzutreten. Die Rechtsprechung hat dies auf Pa rtner heterosexueller Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, Bundesminister der Lebensgemeinschaften ausgedehnt, Pa rtner homose- Juistz: Die Situation von Homosexuellen ist wieder- xueller Lebensgemeinschaften aber ausdrücklich holt Gegenstand parlamentarischer Anfragen gewe- nicht in den Schutz einbezogen. Dies beabsichtige sen. Die Ihnen vorliegende Große Anfrage themati- ich im Rahmen der anstehenden Mietrechtsreform zu siert keine grundsätzlich neuen Aspekte. Ich bin mir ändern. deshalb sicher, Ihr Verständnis dafür zu haben, daß auch die Antworten nicht sonderlich überraschen. Auf anderen Feldern und im Alltag werden Homo- sexuelle im übrigen zumeist durch individuelles Lassen Sie mich die wesentlichen Punkte kurz zu- Fehlverhalten anderer diskriminiert. Dem ist mit Ge- sammenfassen. Die freiheitliche Gesellschaft ermög- setzen nicht zu begegnen. Hier sind wir nicht als Ge- licht es jedermann, sein Leben und die von ihm ge- setzgeber, sondern als Politiker gefragt und gefor- führte Partnerschaft nach eigenen Vorstellungen zu dert, Verständnis zu wecken und Toleranz zu för- gestalten - auch und gerade dann, wenn diese Vor- dern. stellungen von denen anderer, insbesondere von de- nen der Mehrheit abweichen. Insofern hat auch diese Debatte, wenn auch zu un- freundlich später Stunde, zumindest den We rt, diese Dies ist für mich als Liberalen selbstverständlich. Absicht zu bekräftigen. Die Diskriminierung bestimmter Lebensentwürfe durch den Staat, seine Gesetze und Institutionen ist in der liberalen Bürgergesellschaft nicht hinnehm- bar. - Anlage 5 Diese Gestaltungsfreiheit genießt grundrechtli- chen Schutz. Niemand darf auf Grund seiner Lebens- Zu Protokoll gegebene Rede gestaltung, seiner Werteeinstellung, seiner sexuellen zu den Zusatztagesordnungspunkten 14 - Orientierung, diskriminiert, d. h. schlechter behan- Antrag: Einsetzung eines Untersuchungs delt werden als andere. Die Bundesregierung hat ausschusses - und 15 - dies immer bekräftigt. Sie hat wiederholt darauf hin- Antrag: Erweiterung des Untersuchungsauftrages gewiesen - und tut dies heute gern nochmals -, daß des 2. Untersuchungsausschusses das geltende Recht dieses Landes eine Diskriminie- rung Homosexueller nicht zuläßt. Im Gegenteil: Das Grundgesetz selbst enthält das Verbot sachwidriger Andreas Schmidt (Mühlheim) (CDU/CSU): Die Ungleichbehandlung, nämlich den Gleichheitssatz parlamentarische Untersuchung von Vorgängen, die des Art. 3. in der Öffentlichkeit von Interesse sind oder die inter- essant gemacht worden sind, durch Untersuchungs- Vorschläge, die eine Ergänzung durch ein beson- ausschüsse erfreut sich besonderer Beliebtheit vor al- deres, auf die sexuelle Identität zielendes Diskrimi- lem bei der Opposition. Öffentliches Interesse an be- nierungsverbot zum Gegenstand hatten, erhielten im stimmten Vorgängen legitimiert für sich allein nicht Rahmen der Verfassungsreform 1994 nicht die erfor- die Einsetzung des schärfsten parlamentarischen derliche Mehrheit. Sie hätten dem Gleichheitssatz Kontrollinstrumentes, nämlich eines Untersuchungs- auch in der Tat substantiell nichts hinzufügen kön- ausschusses. Das Umfeld außerhalb und innerhalb nen, was er nicht schon enthielte. des Parlamentes sollte beachtet werden. Dazu gehört zum Beispiel, inwieweit die ständig vorhandenen Einfachrechtliche Regelungen, die Menschen mit Kontrollmechanismen des Parlamentes geeignet sind homosexueller Orientierung gezielt benachteiligen, und genutzt werden, um bestimmten Vorgängen also im eigentlichen Wortsinne diskriminieren, gibt nachzugehen, diese aufzuklären und gegebenenfalls es nicht. Es gibt Regelungen, die Ehe und Familie be- Konsequenzen zu ziehen. günstigen. Und die Rechtsprechung vollzieht das gleichermaßen. Beides findet seine Rechtfertigung in Die PDS beantragt eine parlamentarische Untersu- dem Verfassungsgebot des Art. 6 Abs. 1 GG. chung zum Thema Bremer Vulkan. Dem hat sich die 9540* Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 107. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. Mai 1996

SPD politisch mit einem in der Form und möglicher- ohne die Einholung eines Votums des von der Erwei- weise im Inhalt abweichenden Antrag zehn Wochen terung seines Auftrages bedrohten 2. Untersu- später angeschlossen. Beide Anträge unterliegen chungsausschusses vorlegt. nicht dem Minderheitenrecht des Art. 44 Abs. 1 Grundgesetz, so daß der Bundestag insofern frei ist Die SPD wird im Geschäftsordnungsausschuß Ge- zu entscheiden, wie es ihm zweckmäßig erscheint. legenheit haben, darzulegen, ob, wann und inwie- weit das Thema Bremer Vulkan nach ihren Vorstel- Das Thema Bremer Vulkan ist unter mehreren Ge- lungen mit der Erweiterung des Untersuchungsauf- sichtspunkten von Interesse: Staatliche Einfluß- trags aufgegriffen werden soll, obwohl es derzeit nahme und staatliche Subventionen verbunden mit auch staatsanwaltschaftliche Ermittlungen geben dem Verdacht roten Filzes sind zum einen grundsätz- soll. Im übrigen erinnere ich an folgendes: Der Vor- liche Probleme, zum anderen spezielle in Bremen; sitznde des 2. Untersuchungsausschusses, der Kol- dort wurde dazu am Montag dieser Woche ein Unter- lege Volker Neumann, SPD, hat am 29. Februar 1996 suchungsausschuß eingesetzt. im 2. Untersuchungsausschuß zu Protokoll gegeben, der derzeitige Untersuchungsauftrag des 2. Unter- Was die Frage von Geldern der Treuhandanstalt suchungsausschusses beinhalte auch das Thema bzw. der BvS für die Ostwerften im Bremer Vulkan Bremer Vulkan, allerdings könne man sich damit Verbund anbelangt, so gibt es hier selbstverständlich nicht befassen, denn es sei kein abgeschlossener auch ein Interesse des Bundestages zu wissen, was Vorgang. konkret geschehen ist. Es ist allerdings nicht so, als ob der Bundestag bisher schlafend den Ereignissen Insbesonder wird aber die SPD darlegen können, zugesehen hätte. Der für solche Angelegenheiten zu- welche sonstigen konkreten Vorkommnisse mit Hilfe ständige Ausschuß des Bundestages, nämlich der des Erweiterungsantrags Gegenstand der Untersu- Haushaltsausschuß, hat sich mit entsprechenden chung des 2. Untersuchungsausschusses werden sol- Themen bereits beschäftigt. Unter dem 11. März und len und inwiefern der 2. Untersuchungsausschuß dem 10. April 1996 hat er auf seine Anforderung hin freie Kapazitäten für weitere Aufträge hat. Berichte des Bundesfinanzministeriums erhalten. Zwei weitere Berichte hat der Haushaltsausschuß an- Ich möchte in diesem Zusammenhang daran erin- gefordert, und er wird sie - so wie es heute aussieht - nern, daß Voraussetzung für die Einsetzung des noch vor der Sommerpause erhalten. Schließlich er- 2. Untersuchungsausschusses, der ja auch nicht auf wartet der Haushaltsausschuß bzw. der Rechnungs- einem Minderheitenrecht der SPD beruht, das Er- prüfungsausschuß einen Bericht des Bundesrech- gebnis der interfraktionellen Gespräche war: Do rt nungshofes - ebenfalls noch vor der Sommerpause. hatten wir uns darauf verständigt, Doppelarbeit in- Aus diesem Grund ist nicht ersichtlich, weshalb der- nerhalb des Parlamentes zu vermeiden. Deshalb zeit die Notwendigkeit der Einsetzung eines parla- wurde in den Text unter III. des Untersuchungsauf- mentarischen Untersuchungsausschusses zu diesen trags ausdrücklich die Formulierung aufgenommen, Vorgängen bestehen sollte. Wir lehnen deshalb den daß nicht zum Gegenstand des Untersuchungsauf- Antrag der PDS ab. trags gehört, wozu der Bundesrechnungshof Feststel- - lungen getroffen hat. Sollte die SPD-Fraktion daran Was den SPD-Antrag anbelangt, so läßt er im un- etwas geändert haben wollen, also die Grundlage für klaren, ob es um Fragen im Zusammenhang mit dem die Ermöglichung der Einsetzung des 2. Untersu- Bremer Vulkan gehen soll. Wir sind deshalb bereit, chungsausschusses nachträglich beseitigen wollen, ihn nach Überweisung an den Geschäftsordnungs- so müßte die SPD schon sehr detaillie rt und gut be- ausschuß zu prüfen. Wir halten es für selbstverständ- gründet darlegen, was sich sei jener Zeit geändert lich, daß dieser seine Beschlußempfehlung nicht hat.