Plenarprotokoll 14/28

Deutscher

Stenographischer Bericht

28. Sitzung

Bonn, Freitag, den 19. März 1999

I n h a l t :

Tagesordnungspunkt 9: Hans-Peter Kemper SPD ...... 2286 C a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Wolfgang Zeitlmann CDU/CSU...... 2287 A Dr. Peter Struck, , weiteren (Augsburg) BÜNDNIS 90/DIE Abgeordneten der Fraktion SPD, den Ab- GRÜNEN ...... 2287 B geordneten Kerstin Müller (Köln), Rezzo Schlauch, weiteren Abgeordneten der Rüdiger Veit SPD ...... 2287 D Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Wolfgang Zeitlmann CDU/CSU...... 2287 D sowie den Abgeordneten Dr. , Dr. , und Kerstin Müller (Köln) BÜNDNIS 90/DIE weiteren Abgeordneten der Fraktion GRÜNEN ...... 2288 A F.D.P. eingebrachten Entwurfs einesGe- CDU/CSU ...... 2291 A setzes zur Reform des Staatsangehörig- keitsrechts (Drucksache 14/533)...... 2281 A Kerstin Müller (Köln) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ...... 2291 D in Verbindung mit Dr. Guido Westerwelle F.D.P...... 2292 B Zusatztagesordnungspunkt 6: PDS...... 2295 C a) Erste Beratung des von den Abgeordneten SPD ...... 2297 D Dr. Jürgen Rüttgers, , Dr. Thomas Schäuble, Minister (Baden- weiteren Abgeordneten und der Fraktion Württemberg)...... 2300 C CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung des Staatsan- Jörg Tauss SPD...... 2303 B gehörigkeitsrechts (Staatsangehörigkeits- Dr. Guido Westerwelle F.D.P...... 2304 A neuregelungsgesetz) (Drucksache 14/ 535) ...... 2281 B Dr. Angelika Köster-Loßack BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN...... 2305 A b) Antrag der Abgeordneten Dr. Jürgen Rüttgers, Erwin Marschewski, weiterer () BÜNDNIS 90/DIE Abgeordneter und der Fraktion CDU/CSU GRÜNEN ...... 2305 A Modernes Ausländerrecht (Drucksache SPD...... 2307 B 14/532) ...... 2281 C Dr. Jürgen Rüttgers CDU/CSU...... 2309 D c) Antrag der Abgeordneten Dr. Jürgen Dr. Guido Westerwelle F.D.P...... 2313 D Rüttgers, Erwin Marschewski, weiterer Abgeordneter und der Fraktion CDU/CSU (Köln) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ...... 2314 D Integration und Toleranz (Drucksache 14/534) ...... 2281 C Dr. Michael Bürsch SPD ...... 2315 B Dr. Michael Bürsch SPD ...... 2281 D Dr. Jürgen Rüttgers...... 2316 A Wolfgang Zeitlmann CDU/CSU...... 2284 D Otto Schily, Bundesminister BMI ...... 2316 B II Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. , Freitag, den 19. März 1999

Tagesordnungspunkt 10: Peter Weiß (Emmendingen) CDU/CSU ...... 2340 B Antrag der Fraktion CDU/CSU Detlef Dzembritzki SPD...... 2342 A Bekämpfung des politischen Extremis- Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministe- mus (Drucksache 14/295) ...... 2319 A rin BMZ...... 2344 A CDU/CSU ...... 2319 A (Pforzheim) SPD ...... 2320 D Tagesordnungspunkt 12: Dr. F.D.P...... 2322 D a) Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke, Pe- tra Pau und der Fraktion PDS Annelie Buntenbach BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN...... 2324 A Sofortiger unbefristeter Abschiebestop für Flüchtlinge in die Türkei (Drucksa- PDS ...... 2325 D che 14/331) ...... 2346 A Dr. Hans-Peter Uhl CDU/CSU ...... 2326 D b) Antrag der Abgeordneten Heidi Lipp- Hans-Christian Ströbele BÜNDNIS 90/DIE mann-Kasten, Dr. , weite- GRÜNEN...... 2327 C rer Abgeordneter und der Fraktion PDS Hans-Werner Bertl SPD...... 2329 A Einleitung eines internationalen Frie- densprozesses zur Situation der Kur- Carsten Hübner PDS (Erklärung nach dinnen und Kurden in der Türkei § 30 GO) ...... 2330 D (Drucksache 14/470)...... 2346 A Manfred Grund CDU/CSU ...... 2331 B Ulla Jelpke PDS...... 2346 B Rüdiger Veit SPD ...... 2347 B Tagesordnungspunkt 11: Sylvia Bonitz CDU/CSU ...... 2348 C Antrag der Abgeordneten Dr. R. Werner Schuster, Joachim Tappe, weiterer Ab- Rüdiger Veit SPD ...... 2349 C geordneter und der Fraktion SPD sowie Hans-Christian Ströbele BÜNDNIS 90/DIE der Abgeordneten Dr. Angelika Köster- GRÜNEN ...... 2349 D Loßack, Hans-Christian Ströbele, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- Heidi Lippmann-Kasten PDS ...... 2350 A NIS 90/DIE GRÜNEN Sylvia Bonitz CDU/CSU ...... 2350 C Reform der europäischen Entwick- lungspolitik durch die deutsche EU- Claudia Roth (Augsburg) BÜNDNIS 90/DIE Ratspräsidentschaft (Drucksache 14/ GRÜNEN ...... 2351 A 538) ...... 2331 C Dr. Max Stadler F.D.P...... 2352 C in Verbindung mit SPD ...... 2353 C CDU/CSU ...... 2354 B Zusatztagesordnungspunkt 7: a) Antrag der Abgeordneten Dr. Ralf Brauk- Zusatztagesordnungspunkt 8: siepe, Klaus-Jürgen Hedrich, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion CDU/CSU Aktuelle Stunde betr. Haltung der Bundesregierung zu den u. a. durch Europäische Entwicklungszusammen- die ökologische Steuerreform bedingten arbeit reformieren (Drucksache 14/537) . 2331 D Tariferhöhungen der Deutschen Bahn b) Antrag der Abgeordneten Joachim Gün- AG unter besonderer Berücksichtigung ther, Gerhard Schüßler, weiterer Abge- der zusätzlichen Belastungen in den ordneter und der Fraktion F.D.P. neuen Bundesländern ...... 2355 C Eigenverantwortlichkeit der AKP-Staa- Gerhard Jüttemann PDS ...... 2355 C ten fördern (Drucksache 14/531)...... 2331 D SPD ...... 2356 C Dr. Angelika Köster-Loßack BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN ...... 2332 A (Bayreuth) F.D.P...... 2357 B Dr. CDU/CSU ...... 2333 D Albert Schmidt (Hitzhofen) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN...... 2358 B Dr. R. Werner Schuster SPD...... 2335 D Dr. Winfried Wolf PDS...... 2359 B Gerhard Schüßler F.D.P...... 2337 D Carsten Hübner PDS...... 2339 B Nächste Sitzung ...... 2360 C Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999 III

Anlage 1 der zusätzlichen Belastungen in den neuen Bundesländern (Zusatztagesordnungspunkt 8) Liste der entschuldigten Abgeordneten...... 2361 A Norbert Otto (Erfurt) CDU/CSU ...... 2361 D Anlage 2 Peter Letzgus CDU/CSU ...... 2362 B Zu Protokoll gegebene Reden zur Aktuellen Dr. CDU/CSU...... 2363 A Stunde betr. Haltung der Bundesregierung zu den u. a. durch die ökologische Steuerreform bedingten Tariferhöhungen der Deutschen Anlage 3 Bahn AG unter besonderer Berücksichtigung Amtliche Mitteilungen...... 2363 D Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999 2281

(A) (C)

28. Sitzung

Bonn, Freitag, den 19. März 1999

Beginn: 9.01 Uhr

Vizepräsident : Guten Morgen, die mann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Sitzung ist eröffnet. der CDU/CSU Modernes Ausländerrecht Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9a sowie die Zu- – Drucksache 14/532 – satzpunkte 6a bis 6c auf: Überweisungsvorschlag: 9 a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Innenausschuß (federführend) Peter Struck, Otto Schily, Wilhelm Schmidt Rechtsausschuß (Salzgitter), weiteren Abgeordneten der Frak- c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Jür- tion der SPD, den Abgeordneten Kerstin Müller gen Rüttgers, Erwin Marschewski, Günter Bau- (Köln), Rezzo Schlauch, Kristin Heyne, weite- mann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion ren Abgeordneten der Fraktion BÜNDNIS 90/ der CDU/CSU DIE GRÜNEN sowie den Abgeordneten (B) Integration und Toleranz (D) Dr. Wolfgang Gerhardt, Dr. Guido Westerwelle, Jörg van Essen und weiteren Abgeordneten der – Drucksache 14/534 – Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Überweisungsvorschlag: Gesetzes zur Reform des Staatsangehörig- Innenausschuß (federführend) Rechtsausschuß keitsrechts Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend – Drucksache 14/533 – Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für Überweisungsvorschlag: Innenausschuß (federführend) die Aussprache zweieinhalb Stunden vorgesehen. – Ich Rechtsausschuß höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ich eröffne die Aussprache und gebe für die SPD- Fraktion dem Kollegen Michael Bürsch das Wort. ZP6 a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Jürgen Rüttgers, Erwin Marschewski, Günter Dr. Michael Bürsch (SPD): Herr Präsident! Meine Baumann, weiteren Abgeordneten und der Frak- Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! tion der CDU/CSU eingebrachten Entwurfs eines Die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts ist nicht nur Gesetzes zur Neuregelung des Staatsangehörig- für das Gelingen der Ausländerintegration von zentraler keitsrechts Bedeutung. Sie steht auch für die Reform- und Zu- (Staatsangehörigkeitsneuregelungsgesetz – kunftsfähigkeit der Politik insgesamt. – Diese richtige StANeuG) Feststellung stammt von den Kollegen Altmaier und Röttgen aus der Unionsfraktion. Ich stimme dem nach- – Drucksache 14/535 – drücklich und uneingeschränkt zu. Wir befassen uns heute in der Tat mit einem Modellprojekt für die Re- Überweisungsvorschlag: Innenausschuß (federführend) formfähigkeit unserer Gesellschaft. Rechtsausschuß Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Zunächst eine Vorbemerkung zum bisherigen Stil der Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Auseinandersetzung über die Reform des Staatsangehö- rigkeitsrechts. In Deutschland wurde über dieses Thema b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Jür- in den letzten Monaten intensiv gestritten: in politischen gen Rüttgers, Erwin Marschewski, Günter Bau- Veranstaltungen, in den Medien, an Infoständen und 2282 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999

Dr. Michael Bürsch (A) nicht zuletzt am Stammtisch. Kein Zweifel, eine Demo- nau zu sein: 86 Jahre lang. Schon 1913 kämpften wir – (C) kratie braucht Auseinandersetzung über den richtigendamals erfolglos – für dessen Einführung. Der sozial- Weg. In letzter Zeit aber drohte ein entscheidendes Ele- demokratische Abgeordnete Landsberg prophezeite da- ment unserer Demokratie unter die Räder zu geraten,mals: nämlich die politische Kultur. Wenn unsere Anträge jetzt nicht das Recht der Ge- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ genwart werden, so werden sie ganz sicherlich das DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Recht der Zukunft sein, und wir sind stolz darauf, PDS) daß wir auf diesem Gebiete wieder einmal als Pio- niere tätig geworden sind. Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, ich plädiere für eine Form (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des politischen Streits, die dem Ernst des Themas und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) seiner gesellschaftlichen Bedeutung Rechnung trägt. Nun, daß es bis zur Einführung des Jus soli so lange Lassen Sie uns vom heutigen Tage an engagiert, aber dauern würde, konnte damals natürlich niemand ahnen, sachlich, Herr Rüttgers, leidenschaftlich, aber tolerant Herr Westerwelle. Aber wir Sozialdemokraten kennen über das Staatsangehörigkeitsrecht streiten! seit über 130 Jahren den Reiz der Langsamkeit (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und DIE GRÜNEN) der F.D.P.) So müßten im Grunde auch Sie von der CDU/CSU den- – und der Gründlichkeit, so füge ich hinzu, Herr Mar- ken; denn Sie haben öffentlich erklärt und so Ihren An- schewski. trag begründet, bei der Reform des Staatsangehörigkeits- rechts handle es sich um ein höchst sensibles Thema. (Lachen bei der CDU/CSU) Wie wahr! Auf jeden Fall können wir am Ende dieses Jahrhun- (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Sehr wahr! derts nun endlich damit beginnen, unsere Vorstellungen So verhalten wir uns auch!) von einem modernen Staatsangehörigkeitsrecht zu ver- wirklichen. An zwei Punkten entzündet sich die augen- Nach dem Motto: Wo bleibt das Positive?, möchteblickliche Debatte besonders: am sogenannten Options- ich zunächst herausstellen, worüber wir uns beim Thema modell und an der Hinnahme doppelter Staatsangehö- Staatsangehörigkeitsrecht im Prinzip einig sind. Frakti- rigkeit. onsübergreifende Übereinstimmung besteht darüber, daß Zum Optionsmodell. Wir sind der Meinung, daß der (B) das veraltete Reichs- und Staatsangehörigkeitsrecht von (D) 1913 dringend reformbedürftig ist. Unbestritten ist auch vorgelegte Entwurf mit der Verfassung, insbesondere die Notwendigkeit, den dauerhaft in Deutschland leben- mit Art. 16, vereinbar ist. Zu dieser rechtspolitischen den Menschen umfassende politische Teilhabe zu er-Frage wird meine Kollegin Christine Lambrecht noch im möglichen. einzelnen Stellung nehmen. – Auch viele Mitglieder der Unionsfraktion sind offenbar – wie wir – von der Ver- Schon 1984 war die damalige Bundesregierung der fassungsmäßigkeit der Optionslösung überzeugt; denn Auffassung: Kein Staat kann es auf Dauer hinnehmen, nur so ist es zu erklären, daß über ein Drittel der Uni- daß ein zahlenmäßig bedeutender Teil der Be- onsabgeordneten auf einer Fraktionssitzung im Januar völkerung über Generationen hinweg außer- für das Optionsmodell votiert haben. Es gibt bei der halb der staatlichen Gemeinschaft und außer- CDU sogar einen sehr prominenten Kronzeugen, der halb der Loyalitätspflichten ihm gegenüber- sich schon 1993 bei einem Besuch der Türkei für das steht. Optionsmodell ausgesprochen hat. Herr Rüttgers, Herr Marschweski, es handelt sich um , den Alt- Schließlich kann niemand in diesem Hause und in öf-kanzler. Er sagte damals bei einem Türkeibesuch: Die- fentlichen Diskussionen ernsthaft bestreiten, daß bei ei- ses Optionsmodell ist in Ordnung. Für fünf Jahre sollen ner Zahl von über 7 Millionen Ausländern nur verstärkte die jungen Leute die Möglichkeit für doppelte die Integrationsbemühungen den sozialen Frieden in Staatsangehörigkeit haben. Deutschland sichern können. (Zuruf von der CDU/CSU: Das war bestimmt (Beifall bei Abgeordneten der SPD) falsch übersetzt!) Was sind nun die entscheidenden Fortschritte im– Wenn Sie Zweifel an dieser Aussage haben, lege ich vorgelegten Staatsangehörigkeitsrecht? InnenministerIhnen gerne die Quellen dazu offen. Schily wird am Ende der Debatte in seinem Beitrag noch Herr Schäuble, wenn Sie wirklich von der Überle- ausführlich erläutern, was Neues in dem Entwurf steht. genheit Ihres Modells überzeugt sind, geben Sie doch in Vor allem mit der Einführung desTerritorialprinzips dieser wichtigen Frage die Abstimmung in Ihrer Frakti- und der deutlichen Verkürzung der Einbürgerungsfristen on frei! erreichen wir wichtige Verbesserungen. Auch für Ver- triebene und Aussiedler gibt es Vereinfachungen. Auf (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ die Einführung des Territorialprinzips oder Jus soli ha- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der ben wir Sozialdemokraten sehr lange gewartet, um ge- F.D.P.) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999 2283

Dr. Michael Bürsch (A) In Ihrer Fraktion gibt es ja nachhaltige Stimmen auch für Deutschland, unter ihnen honorige Lehrerinnen und(C) das Optionsmodell. Geben Sie die Abstimmung frei;Lehrer, Verwaltungsbeamte und Polizisten, dann hätten wir am Ende nämlich tatsächlich die breite (Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/ parlamentarische Mehrheit, die auch Sie immer gefor- DIE GRÜNEN]: Abgeordnete! – Erwin Mar- dert haben. schewski [CDU/CSU]: 2 Millionen ist falsch! (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des 500 000, nicht 2 Millionen! Das ist Quatsch!) BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) tagtäglich die unproblematische Handhabung von Zum zweiten Streitpunkt, der Frage derDoppel- Mehrstaatlichkeit vorleben. staatlichkeit. Die Notwendigkeit, Doppelstaatlichkeit Wie sehr die Probleme der doppelten Staatsangehö- zumindest in bestimmten Fällen hinzunehmen, wird im rigkeit in Deutschland überdramatisiert werden, Herr Grundsatz von allen Fraktionen anerkannt. Der vorlie- Marschewski, zeigen nicht zuletzt die durchweg positi- gende Gesetzentwurf ergänzt nun in einigen Punkten – ven Erfahrungen anderer Länder.Schauen wir auf sehr zurückhaltend – die bereits existierenden Möglich- diesem Gebiet nach Frankreich, Großbritannien und den keiten zur Hinnahme von Mehrstaatlichkeit, unter ande- Niederlanden. Nehmen Sie als Beispiel die überaus be- rem für junge Menschen während einer Optionszeit von liebte niederländische Königin Beatrix. Sie besitzt nicht fünf Jahren. eine, nicht zwei, nicht drei, sie besitzt vier Staatsbürger- Besonders dringlich ist es, der ersten Ausländergene- schaften, neben der niederländischen auch die deutsche, ration, die wir als Arbeitskräfte ins Land geholt haben die englische und die kanadische; man höre und staune. und die hier seit vielen Jahren integriert ist, volle Bür- (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Das ist gerrechte zu gewähren und die Einbürgerung zu er- wirklich erstrebenswert!) leichtern. Darauf haben zum Beispiel die evangelische und die katholische Kirche zu Recht hingewiesen. Kein Niederländer, Herr Marschewski, hat jemals ernst- haft bezweifelt, daß seine Königin Beatrix eine loyale, Emotionale Barrieren beim Verzicht auf die altestaatstreue Holländerin sei. Staatsangehörigkeit sollten wir dabei nicht als Mißtrau- ensbeweis und Zeichen von Illoyalität werten. Für viele (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ lange hier lebende Ausländer wird die Aufgabe der alten DIE GRÜNEN) Staatsangehörigkeit als Bruch mit der eigenen Kultur, Auch käme niemand auf die Idee, Herr Zeitlmann, als Lösung von früheren menschlichen und familiären einem Bayern vorzuhalten, er könne nicht gleichzeitig Bindungen empfunden. Solchen emotionalen und psy- auch ein guter Deutscher und ein guter Europäer sein. chologischen Aspekten müssen wir bei der Gesetzge- (B) bung Rechnung tragen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (D) DIE GRÜNEN) Sie alle wissen, daß die Regierungskoalition ur- sprünglich einen anderen, einen konsequenteren und Zum jetzigen Gruppenantrag bleibt festzuhalten: auch praktikableren Gesetzentwurf vorgelegt hat. Un-Auch ohne generelle Hinnahme der doppelten Staats- ter den derzeitigen Rahmenbedingungen haben wir da- bürgerschaft macht die nun gefundene Lösung vielen von Abstriche gemacht, mit der Absicht, unserem poli- ausländischen Mitmenschen ein ihnen lange vorenthal- tischen Ziel der Integration von Ausländern jedenfalls tenes, faires Integrationsangebot, als politisch und mit einem ersten Reformschritt näherzukommen. Na-rechtlich Gleiche in unserer Gesellschaft heimisch zu mentlich bei der Frage der Hinnahme von Doppelstaat- werden. Das ist ein deutlicher Schritt in die richtige lichkeit hätten wir uns bekanntlich eine etwas weniger Richtung. engherzige Lösung gewünscht. Aus meiner Sicht gibt es (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten auch nach wie vor keinen durchschlagenden sachlichen des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Grund, die Hinnahme von Mehrstaatlichkeit zu diskre- ditieren: Indem wir ausreichendeSprachkenntnisse, Unter- haltsfähigkeit und Verfassungstreue von den Einbürge- Bereits heute wird in der Bundesrepublik Deutsch- rungsbewerbern verlangen, machen wir außerdem deut- land die doppelte Staatsangehörigkeit akzeptiert, … lich, daß es eine Einbürgerung zum sogenannten Nullta- ohne daß dies zu gravierenden praktischen, juristi- rif nicht gibt. Die flexible Ausgestaltung der Vorausset- schen oder politischen Problemen geführt hätte. zungen gewährleistet zugleich, daß sie einer Einbürge- Diese wunderbar klarsichtige Formulierung stammtrung keine unüberwindbaren Hürden vorsetzen. nicht aus der SPD, sondern ist Originalton F.D.P. Be- Genauso wichtig wie rechtliche Erleichterungen – reits im April 1993 hat die F.D.P.-Fraktion einen Ge- darauf sollten wir in der heutigen Debatte hinweisen – setzentwurf befürwortet, „der die Aufgabe der bisheri- ist letztlich der Bewußtseinswandel, der durch die Mo- gen Staatsangehörigkeit nicht mehr verlangt“. dernisierung des Staatsangehörigkeitsrechts in Gang ge- Im übrigen waren es Union und F.D.P. selbst, die die bracht werden soll; denn ohne das berechtigte Vertrauen doppelte Staatsbürgerschaft seit 1990 in einer Weise ge- der deutschen und der ausländischen Bevölkerung in die setzlich ermöglicht haben, daß bei rund einem Drittelwechselseitige Bereitschaft zu Toleranz und Akzeptanz der Eingebürgerten die Beibehaltung ihrer alten Staats- werden weitere Reformschritte und Integrationserfolge bürgerschaft zugelassen wird. Allzugern verschwiegen nicht möglich sein. Integration im rechtlichen, sozialen, wird auch, daß die über 2 Millionen Doppelstaatler insprachlichen und kulturellen Bereich muß zukünftig viel 2284 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999

Dr. Michael Bürsch (A) stärker als eine gesellschaftliche Daueraufgabe begriffen Ich verzeihe Ihnen noch den Moses. Das ist Ihr Problem. (C) werden. Bessere Rahmenbedingungen allein werdenWas ich Ihnen aber nicht verzeihe, ist, daß Sie hier zu nicht zu mehr Integration führen. Vielmehr brauchen wir Anfang sagten, wir hätten die politische Kultur verletzt ein langfristig angelegtes Bündnis für Integration von (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Bund, Ländern und Kommunen, von Kirchen und Ver- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Ludwig bänden und über Parteigrenzen hinweg. Stiegler [SPD]: Aber es ist so!) (Beifall bei der SPD) – warten Sie nur! –, als wir ein ganz normales demokra- Dafür brauchen wir Aufklärung, Toleranz und einentisches Recht in Anspruch genommen haben, nämlich langen Atem. Dazu müssen wir bereit sein, zum Beispiel eine Mobilisierung der Öffentlichkeit zu einem unsin- den Erwerb der deutschen Sprache stärker als bisher zu nigen Gesetz zu unternehmen. fördern. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Meine Damen und Herren, ich komme aus einem DIE GRÜNEN – Wolfgang Zeitlmann [CDU/ Wahlkreis, wo wir bei 220 000 Wahlberechtigten zwi- CSU]: Ihr legt dazu doch nichts vor!) schenzeitlich 55 000 Unterschriften haben. – Wir werden das vorlegen, Herr Zeitlmann. (Zuruf von der SPD: Pfui!) (Wolfgang Zeitlmann [CDU/CSU]: Dazu habt Wenn Sie wollen, nenne ich Ihnen namhafte SPD-Leute ihr lange genug Zeit gehabt! Jahrelang!) in meinem Wahlkreis, die ganz offen in die Geschäfts- stelle kamen und gesagt haben: Diesen Unsinn mache Lassen Sie mich zum Schluß einen Hinweis geben, ich nicht mit. – Wenn Sie wollen, nenne ich Ihnen auch der vielleicht zu allgemeiner Zustimmung führen kann. Mitglieder Ihrer Partei, die sich bei mir telefonisch ge- Ich habe dafür plädiert, daß wir die Reform des Staats- meldet haben und gefragt haben: Haben die noch alle angehörigkeitsrechts von nun an sachlich und konstruk- Tassen im Schrank? tiv diskutieren. In diesem Sinne möchte ich mit einem Zitat aus dem 3. Buch Moses schließen (Beifall bei der CDU/CSU) (Zurufe von der CDU/CSU: Oh!) Sie können kritisieren. Aber Sie können sich nicht hier hinstellen und jemandem vorwerfen – wie haben – die Bibel gibt soviel her, auch für diesen Fall –, des- Sie gesagt? –, ein Element der Demokratie und die poli- sen friedensstiftender Wirkung sich hoffentlich auchtische Kultur zu verletzen, die christlich orientierte Fraktion in diesem Hause (Dr. [CDU/CSU]: Von we- (B) nicht entziehen kann. Im 3. Buch Moses, 19. Kapitel (D) heißt es: gen!) wenn Sie nicht Ihren eigenen Leuten, die ähnlich denken Wenn … ein Fremder in eurem Land lebt, sollt ihr wie ich, diesen Spiegel vorhalten. Daß Sie in der weite- ihn nicht unterdrücken. Der Fremde, der sich beiren Rede von emotionalen Regungen – das war Ihre euch aufhält, soll euch wie ein Einheimischer gel- Formulierung – der Menschen gesprochen haben, auf ten, und du sollst ihn schätzen wie dich selbst. die man Rücksicht nehmen muß, weil sie nicht verzich- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ten können, sprechen, paßt mir ebenfalls nicht ganz. DIE GRÜNEN) (Lachen bei Abgeordneten der SPD) Sie machen Emotionen zur Grundlage Ihrer Überlegun- Vizepräsident Rudolf Seiters: Das Wort hat der gen; aber auf die Emotionen Ihrer Wähler und der Bür- Kollege Wolfgang Zeitlmann für die CDU/CSU-ger in diesem Lande nehmen Sie keine Rücksicht. Fraktion. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) ( [SPD]: Jetzt kommt Kain, Diesen Widerspruch müssen Sie erst einmal auflösen. nicht Moses!) Herr Bürsch, ein bißchen Chuzpe war schon dabei, als Sie sagten: Gebt ihr Unionsleute doch die Abstim- Wolfgang Zeitlmann (CDU/CSU): Herr Präsident! mung frei! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Kollege (Dr. Michael Bürsch [SPD]: Wir sind für jede Bürsch, ich habe Ihnen relativ intensiv zugehört. Stimme dankbar!) (Dr. Michael Bürsch [SPD]: Das nehme ich er- Ich sitze seit 1987 im Parlament. freut zur Kenntnis! – Weiterer Zuruf von der SPD: Relativ!) (Zuruf von der SPD: Zu lange!) Das fällt schwer, wenn sich jemand so scheinheilig ver- Ich kann Ihnen nur sagen: Was ist denn bei Ihnen? Ge- hält. ben Sie doch die Abstimmung zu unserem Modell „Ein- bürgerungszusicherung“ frei! Was ist das Problem? Sie (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – wissen ganz genau, daß Sie sie nicht freigeben – aus Lachen bei der SPD) ganz klaren Gründen. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999 2285

Wolfgang Zeitlmann (A) Ich habe mir einmal schriftlich geben lassen, was in mit vielen Ausnahmeregelungen –, die Mehrstaatlich- (C) den letzten Wochen von namhaften Vertretern der Bun- keit solle künftig weit ausgedehnt werden. In einem Ab- desregierung zum Thema Optionsmodell gesagt worden satz heißt es, älteren Bürgern solle die Entscheidung in ist. Am 2. Februar zum Beispiel gab es eine Sendungder Frage der Doppelstaatlichkeit erleichtert werden. mit dem Bundeskanzler: „Was nun, Herr Schröder?“ Definieren Sie mir einmal, was ein älterer Mensch ist. (Dr. Wolfgang Bötsch [CDU/CSU]: Das (Dr. Michael Bürsch [SPD]: Wie Sie zum Bei- kannst du vergessen!) spiel!) – Ich habe es nicht vergessen, Kollege Bötsch. – In die- Setzen Sie da die Grenze bei 60 Jahren? Sie verwenden sem Fernsehinterview sagte Herr Schröder, eine dop-nur allgemeine, schwammige Begriffe. pelte Staatsbürgerschaft nur bis zur Volljährigkeit, wie es die F.D.P. vorgeschlagen habe, mache eine Verfas- Sie schreiben weiter, vermögensrechtliche und wirt- sungsänderung nötig. Er verwies auf die Bestimmungschaftliche Nachteile des Grundgesetzes, nach der eine deutsche Staatsbürger- (Ludwig Stiegler [SPD]: Das steht schon heute schaft nicht entzogen werden kann. Diese Bestimmung im Gesetz!) wolle er nicht ändern; sie sei ein Bollwerk unserer Ver- fassung. Eine Änderung des Koalitionsentwurfs entspre- sollen zur Möglichkeit der Doppelstaatlichkeit führen. chend dem F.D.P.-Vorschlag komme daher nicht in Fra- Damit ist für mich klar: Sie legen ein Gesetz vor, in das ge. – Ähnliche Kritikpunkte sind vom Kollegen Özde- Sie zwar formal hineinschreiben, die Mehrstaatlichkeit mir in einem Interview mit dem „Tagesspiegel“ amsolle vermieden werden, aber Sie schaffen so viele Aus- 21. Januar 1999 vorgebracht worden. nahmetatbestände, Dann gibt es noch die wunderschöne Meldung vom (Dr. Michael Bürsch [SPD]: Die gibt es 11. Februar, daß Bundesinnenminister Schily dem Info- schon!) Radio gesagt habe, er habe verfassungsrechtliche daß Sie viele Möglichkeiten eröffnen. Bedenken gegen den Vorschlag, Ausländern mit einem Doppelpaß, die sich mit 23 Jahren nicht für eine Staats- Es gibt schon derzeit manche Ausnahmeregelungen; angehörigkeit entscheiden, den deutschen Paß zu entzie- das weiß auch ich. Wenn Sie hier darauf hinweisen, daß hen. es Doppelstaatler gibt, dann ist das unbestritten; das wird durch Wiederholung nicht besser. (Abg. Dr. Michael Bürsch [SPD] meldet sich zu einer Zwischenfrage) (Dr. Michael Bürsch [SPD]: Das sind alles wunderbar loyale Menschen!) – Ich lasse keine Zwischenfrage zu. Ich habe Sie auch (B) (D) nicht gefragt, obwohl Sie manches gesagt haben, wasSie wissen, daß es nach den statistischen Zahlen unge- mich zu Fragen veranlaßt hätte. fähr 580 000 sind. Ich sage Ihnen eines: Eher bekommen Sie einen Ele- (Dr. Michael Bürsch [SPD]: Nein, es sind 2 fanten in ein Mauseloch, als daß diese Bundesregierung Millionen!) einmal vier Wochen bei einer Meinung bleibt. Aber das ist auch egal. Ich behaupte doch nicht, daß je- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) der, der krank ist, auch schwerkrank sein muß, und Das ist an Hand der vorgebrachten Zitate nachweisbar. ebenso behaupte ich nicht, daß jeder Doppelstaatler an sich schon negativ ist. Das hat nie jemand behauptet. Wenn dann jemand wie Sie, Herr Bürsch, sagt, man könne doch ein guter Bayer und trotzdem ein Deutscher (Sebastian Edathy [SPD]: Was verlangen Sie sein, dann stimme ich ihm zu. jetzt, Herr Zeitlmann?) (Dr. Michael Bürsch [SPD]: Ein guter Rat!) Aber Sie sagen: Weil es positive Beispiele gibt, machen wir alle zu Doppelstaatlern. Das ist aus Ihrer Diktion Aber eines kann man sicher nicht sein: Man kann nicht hervorgegangen. Viele, unter anderem Frau Müller und ein guter Bayer und gleichzeitig ein „Saupreiß“ sein, um Herr Struck, haben gesagt, momentan müßten sie etwas das mal deutsch auszusprechen. Kreide fressen; aber irgendwann kämen sie auf ihre Ur- (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU) vorstellungen von genereller doppelter Staatsangehörig- keit zurück. Das können Sie doch nicht bestreiten. In Ih- Das eignet sich bei uns nur noch für Witze. rer Diktion haben Sie ähnliches zum Ausdruck gebracht. (Ludwig Stiegler [SPD]: Das ist eine Ver- Ein weiteres Argument muß ich noch loswerden: Sie leumdung aller Zugewanderten in Bayern! – wollen künftig jedem ausländischen Jugendlichen die Dr. Michael Bürsch [SPD]: Haben Sie das doppelte Staatsangehörigkeit geben. Ich habe einmal Grundgesetz 1949 in Bayern abgelehnt oder durchgerechnet, wie viele Jugendliche das betrifft. In nicht?) Deutschland werden pro Jahr in etwa 100 000 ausländi- sche Kinder geboren. Wenn ich einmal von einer gerin- – Was da alles Verleumdung ist. geren Zahl ausgehe, dann werden davon etwa 60 000 Sie legen heute einen Gesetzentwurf vor, aus dem ich ausländische Kinder eingebürgert. Wenn Sie das jetzt einige Punkte aufgreifen möchte. Sie sagen ganz klar – rückwirkend auf die letzten zehn Geburtsjahre beziehen, 2286 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999

Wolfgang Zeitlmann (A) dann heißt das, daß mit einem Federstrich 600 000 aus- ab sofort damit rechnen, Deutsche zu werden, also einen (C) ländische Jugendliche eingebürgert werden. deutschen Paß zu bekommen, wenn ihr volljährig seid, euch entsprechend gut führt und die deutsche Sprache Ich frage Sie, wie viele Ausländer nach der Krimina- gelernt habt.“ Sie aber sollten einmal draußen erklären, litätsstatistik – – was an Ihrem Entwurf, in dem Sie sagen: „Ich mache (Widerspruch bei der SPD) euch automatisch zu Deutschen, ob ihr wollt oder nicht; – auch der fanatische Islamist bekommt per Expreß ei- – Wenn ich boshaft wäre, würde ich sagen – – nen deutschen Paß für sein Kind ins Haus geschickt, ob (Sebastian Edathy [SPD]: Sie sind boshaft!) er will oder nicht“, besser ist. Hinzu kommt, daß Sie das Ende Ihres Unternehmens, nämlich den Zeitpunkt, zu – Ja, natürlich, jetzt bin ich boshaft. Was stört Sie denn dem der ausländische Jugendliche 23 Jahre alt wird, ver- daran, wenn man im Zusammenhang mit dem vorlie-fassungsrechtlich nicht im Griff haben. Ich kann den genden Thema auch über Kriminalität diskutiert? Menschen Ihr Vorhaben nicht erklären. Weil ich dies (Sebastian Edathy [SPD]: Das ist boshaft! – nicht kann, kann ich Ihren Entwurf nur für falsch halten. Ludwig Stiegler [SPD]: Eine glatte Verleum- Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. dung ganzer Generationen ist das! – Dr. Mi- chael Bürsch [SPD]: Wollen Sie Integration (Beifall bei der CDU/CSU) oder nicht?) Ist man in diesem Hause nicht mehr in der Lage, bei ei- Vizepräsident Rudolf Seiters: Das Wort zu einer nem solchen Thema auch über den Aspekt der Krimina- Kurzintervention hat der Kollege Hans-Peter Kemper. lität zu diskutieren? Ich will wissen, ob Sie sich Gedanken darüber ge- Hans-Peter Kemper (SPD): Herr Kollege macht haben, daß Sie künftig alle kleinen MehmetsZeitlmann, Sie haben in Ihrer Rede erstens behauptet, hierbehalten müssen. wir würden Kriminelle einbürgern. Ich weise Sie darauf hin, daß Sie wider besseres Wissen mehrere Dinge un- (Widerspruch bei der SPD) terstellt haben, die so von uns in keiner Weise angedacht Mit der von Ihnen vorgesehenen Regelung müssen Sie worden sind. Das wissen Sie ganz genau. Denn wir diejenigen Menschen, die in diese Gesellschaft absolut schließen die Einbürgerung von Kriminellen bzw. von nicht passen und alles getan haben, um sich an den Rand Extremisten aus. dieser Gesellschaft zu begeben, auf Dauer behalten. Zweitens haben Sie in Ihrer Darstellung eine infame (B) (Sebastian Edathy [SPD]: Daß wir Sie auf Unterstellung begangen. Denn Sie haben den Eindruck (D) Dauer behalten, finde ich viel schlimmer!) erweckt, als ob ausländische Mitbürger deutlich krimi- neller wären als vergleichbare deutsche Gruppen. Sie – Sie können ruhig schreien. wissen ganz genau, daß die ausländische Bevölkerung, (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: die sich seit langem in der Bundesrepublik aufhält und Wer schreit, sind Sie!) arbeitet, nicht krimineller ist als vergleichbare deutsche Gruppen. Meine Damen und Herren, ich habe gesagt: Krimina- lität ist auch ein Aspekt, den wir berücksichtigen müs- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE sen. Deswegen müssen Sie sich diesen entgegenhalten GRÜNEN, der F.D.P. und der PDS) lassen. Sie wissen auch ganz genau, daß die Kriminalitätsbela- stung im wesentlichen auf die einreisenden organisier- Wenn Sie im Hinblick auf das Thema „doppelte ten Kriminellen und auf die ausländerspezifischen Staatsangehörigkeit“ eine Befriedung ernstlich gewollt hätten, dann hätten Sie in Ruhe auch mit uns, mit denStraftaten, die die Deutschen gar nicht begehen können, zurückzuführen ist. Ich halte es für sehr bedauerlich, daß Kräften der Opposition, eine gemeinsame, vernünftige Sie in einer solchen Rede, vor einem solchen Publikum Handlungsweise zu finden versucht. diese unwahren Behauptungen wiederholen. (Zuruf von der SPD: Nein!) (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Einen solchen Versuch haben Sie nicht einmal unter- GRÜNEN und der PDS sowie des Abg. Jürgen nommen. Sie können der Öffentlichkeit nicht erklären, Koppelin [F.D.P.]) warum Sie von den Äußerungen Schröders und Schilys Im übrigen ist mir bis heute noch nicht klar: Wie soll bis hin zu dem heutigen Gesetzentwurf einen derartigen man zwischen Kriminellen und Nichtkriminellen unter- Bocksprung gemacht haben. Das Produkt, das Sie heute scheiden, wenn wir die ausländischen Kinder mit der vorlegen, haben Sie noch vor vier Wochen für verfas- Geburt einbürgern? sungsrechtlich bedenklich gehalten. (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Ich sage Ihnen ganz offen: UnsereEinbürgerungs- GRÜNEN, der F.D.P. und der PDS) zusicherung beinhaltet im Kern das, von dem Sie be- haupten, daß es hinter Ihrem Gesetzentwurf stehe, näm- Denn auch in der Vererbungslehre geht man davon aus, lich ein Integrationsangebot. Nach der Zusicherung kann daß niemand als Krimineller geboren wird, sondern daß man den ausländischen Jugendlichen sagen: „Ihr könnt verschiedene Faktoren daran mitwirken, ob die Men- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999 2287

Hans-Peter Kemper (A) schen später kriminell werden oder nicht. Die Geburt hat Kollegen! Ich möchte dem Hohen Haus versichern, daß (C) am wenigsten damit zu tun. Von daher geht Ihre Dar-der Eindruck eines einförmigen Bayerns nicht stimmt. stellung völlig an der Sache vorbei. Es gibt auch ein anderes Bayern. (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN GRÜNEN und der PDS sowie bei Abgeord- und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der neten der F.D.P.) PDS) Es gibt ein Bayern, das radikaldemokratisch ist. Es gibt Vizepräsident Rudolf Seiters: Das Wort zur Erwi- ein Bayern, das tolerant, das offen, das großherzig ist. Es derung hat der Kollege Zeitlmann. gibt ein Bayern, das sich nicht nur am Sonntagmorgen auf die Bibel besinnt. ( [Wiesloch] [SPD]: Aber ohne Schaum vor dem Mund! – Renate Ren- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, nebach [SPD]: Wenn der Schaum braun ist, bei der SPD und der PDS) kennzeichnet es die Wahrheit!) Es gibt ein Bayern, das für gleiche Rechte für alle Men- schen steht, das für Integration und gegen Ausgrenzung Wolfgang Zeitlmann (CDU/CSU): Herr Kollege steht. Und es gibt Menschen aus Bayern, die stolz sind, Kemper, Sie wissen ganz genau, daß Sie hier ein Modell daß sie – wie ich – irgendwo in der Verwandtschaft vorlegen – ich habe das eingehend ausgeführt –, mitnoch etwas Preußisches haben. dem Sie die Konsequenz, nämlich die endgültige dop- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN pelte Staatsangehörigkeit, verfassungsrechtlich nicht im und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Griff haben. Diese Regelung ist nach den Worten Ihres PDS) Bundeskanzlers, um es vorsichtig auszudrücken, verfas- sungsrechtlich bedenklich. Wenn wir schon bei der Bibel sind, dann empfehle ich Kollegen Zeitlmann Lukas 18, 11: Da heißt es: Was die Einbürgerung derjenigen angeht, die krimi- „Gott, ich danke dir, daß ich nicht wie die anderen Men- nell werden, habe ich mich nicht so falsch ausgedrückt, schen bin …“ Herr Zeitlmann, das sagen die Pharisäer. wie Sie das hingestellt haben. Das ist mein Wort zum Sonntag für Sie. (Zurufe von der SPD: Doch!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, – Gut, dann erkläre ich es Ihnen noch einmal: Sie müs- bei der SPD und der PDS) sen in Kauf nehmen, daß ein gewisser Anteil derjenigen, die Sie heute einbürgern, kriminell wird. Ich habe ja (B) Vizepräsident Rudolf Seiters: Schließlich noch(D) nicht gesagt, schon das Embryo sei potentiell kriminell. eine Kurzintervention des Abgeordneten Rüdiger Veit. Ich weise nur darauf hin: Wenn Sie die Jugendkrimina- lität in unseren Großstädten in bezug auf ausländische und inländische Bevölkerung vergleichen, dann stimmt Rüdiger Veit (SPD): Ich stamme nicht aus Bayern, Ihre Rechnung nicht. In den Kreisen ausländischer Ju- sondern aus Hessen, bin aber trotzdem des Lesens und gendlicher ist die Kriminalität definitiv höher. Sie haben des Schreibens kundig. Ich möchte den Kollegen recht – etwas anderes habe ich auch nicht behauptet –, Zeitlmann fragen, ob er folgenden Satz wiedererkennt: wenn Sie sich auf die gesamte Wohnbevölkerung bezie- hen und dann zwischen ausländischen und inländischen Seit Jahren rechtmäßig in Deutschland lebende Teilen vergleichen. Unter den Jugendlichen, die Sie ein- Ausländer sind nicht signifikant häufiger an Straf- bürgern wollen, ist der Anteil der Kriminellen leider er- taten beteiligt als Deutsche. höht. Dieser Satz, der von ihm unterschrieben ist, stammt – (Ludwig Stiegler [SPD]: Es geht um Kinder, man höre und staune – aus der Drucksache 14/532, nicht um Jugendliche!) „Antrag der Abgeordneten Dr. Jürgen Rüttgers, … Wol- fang Zeitlmann“ zum modernen Ausländerrecht. Das Wenn Sie die Konsequenz der doppelten Staatsbür- sind Ihre Worte, Herr Zeitlmann. gerschaft nicht im Griff haben, dann nehmen Sie in Kauf, daß Sie künftig „Mehmets“ nicht mehr abschieben (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS können. Das ist Faktum. 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. [F.D.P.] – Dr. Michael Bürsch [SPD]: Haben (Beifall des Abg. Dr. Peter Ramsauer Sie einen Unterschriftenautomaten?) [CDU/CSU])

Vizepräsident Rudolf Seiters: Kollege Zeitlmann Vizepräsident Rudolf Seiters: Das Wort zu einer zur Antwort. weiteren Kurzintervention hat die Kollegin Claudia Roth, Bündnis 90/Die Grünen. Wolfgang Zeitlmann (CDU/CSU): Herr Kollege, ich habe doch gerade klargestellt, daß es einen Unter- Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIEschied gibt zwischen der Kriminalitätsrate der ausländi- GRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undschen Bevölkerung insgesamt und der Kriminalitätsrate 2288 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999

Wolfgang Zeitlmann (A) ausländischer Jugendlicher. Das, was Sie vorgelesen Künftig ist automatisch Deutscher, wer hier geboren (C) haben, sagt überhaupt nichts zur speziellen Jugend-wird. Und nicht nur das: Auch Kinder, die hier geboren kriminalität in unseren Großstädten. wurden und nicht älter als zehn Jahre sind, erhalten einen deutschen Paß. Erwachsene bekommen künftig schon nach 8 Jahren statt nach 15 Jahren einen solchen Vizepräsident Rudolf Seiters: Ich gebe nunmehr Anspruch, und zwar auch dann, wenn sie unverschuldet das Wort der Kollegin Kerstin Müller, Bündnis 90/Die von Sozialhilfe oder Arbeitslosenhilfe leben. Beide Grünen. Neuerungen sind aus unserer Sicht ein großer Erfolg; denn das bietet die Chance für eine schnelle und unbü- rokratische Einbürgerung vieler hunderttausend Men- Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- schen, denen als sogenannte Ausländer die Bürgerrechte NEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr in diesem Land heute noch verwehrt werden. Zeitlmann, ich finde, Ihr Beitrag war dem Ernst des Themas, dem Ernst, den diese Debatte verdient, wirklich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nicht angemessen. sowie bei Abgeordneten der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Bei all den Schwächen, die dieses Gesetz aus der bei der SPD und der F.D.P.) Sicht meiner Fraktion auch hat: Die Einführung des Ge- burtsrechts in der Bundesrepublik ist wirklich ein histo- Heute geht es um eine zentrale Frage des Zusammenle- rischer Schritt. Das ist eine Reform, mit der diese Repu- bens aller Menschen in dieser Republik. Solche Beiträ- blik endlich den Anschluß an Europa findet. Deshalb ge, wie Sie sie hier geleistet haben, tragen nicht zumwird meine Fraktion diesem Gesetzentwurf einstimmig guten Zusammenleben, sondern sie tragen zur Spaltung zustimmen. der Gesellschaft bei. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD) und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Sicherlich, er bleibt an einigen Stellen hinter unseren PDS und des Abg. Dirk Niebel [F.D.P.]) Zielen zurück. Es ist nicht das, was wir, diese Koalition, 7 Millionen sogenannte Ausländer leben in Deutsch- uns gewünscht haben und was weiterhin notwendig land, fast zwei Drittel schon seit über 10 Jahren, mehrbleibt. Aber es ist ein erster Schritt. Da wir nun einmal als 30 Prozent bereits seit über 20 Jahren. Hunderttau- auf die Zustimmung des Bundestages und des Bundes- send Kinder ausländischer Eltern werden jährlich hierrates angewiesen sind, müssen wir akzeptieren, daß die geboren. Aber nach dem alten Ausländergesetz sind sie Mehrheit im Bundesrat zu einer weitergehenden Reform (B) Fremde im eigenen Land. Wir beenden nach nunmehrnicht bereit ist. (D) 86 Jahren endlich diese Ausgrenzung. Wir machen viele Wir haben Kompromisse gemacht, die für uns und von diesen sogenannten Ausländern endlich zu Inlän-viele Menschen in unserem Land nicht einfach sind. Wir dern. haben – auch das will ich nicht verhehlen – nach wie vor große Bedenken gegen dasOptionsmodell. Warum (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sollen sich Jugendliche mit Erreichen der Volljährigkeit und bei der SPD) plötzlich für eine Staatsbürgerschaft entscheiden? War- Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, das sind um stellt man ihre Zugehörigkeit zu unserer Gesell- Menschen, die dieses Land mit aufgebaut, die unschätz- schaft, wenn sie 18 werden, auf einmal in Frage? Meine bar viel zum wirtschaftlichen Erfolg Deutschlands bei- Fraktion meint, hier geborene Kinder sollten mit der getragen, die Freunde gefunden haben, die sich ehren- Gewißheit aufwachsen, daß sie in unsere und zu unserer amtlich engagieren und die unsere Gesellschaft nach-Gesellschaft gehören. drücklich geprägt und auch bereichert haben. Ich möchte besonders Ihnen, meine Damen und Her- (Wolfgang Zeitlmann [CDU/CSU]: Es geht ren von der F.D.P., einmal zu bedenken geben: Haben doch um Kinder! Die haben doch nichts auf- Sie sich einmal überlegt, daß Sie mit dem Optionsmo- gebaut!) dell, mit dieser erzwungenen Entscheidung in vielen Familien schwere Konflikte auslösen können? Denn Diesen Menschen geben wir nun endlich die gleichen viele Eltern werden eine Entscheidung ihrer Kinder für Bürgerrechte, zum Beispiel das Recht, bei der Ausge- die deutsche Staatsbürgerschaft als Abkehr von ihren staltung des Zusammenlebens mitzuwirken, das Recht, eigenen Bindungen an ihr Heimatland empfinden, das bei der Verabschiedung von Gesetzen mitzubestimmen, heißt als Entscheidung gegen die Eltern verstehen. Ich und das Recht zu wählen. Diese elementaren Rechte ha- frage Sie: Wollen Sie das wirklich? Das ist unsere ben wir Deutschen bis zum heutigen Tage für uns reser- Hauptkritik an dem Optionsmodell und nicht, Herr Rütt- viert; denn nach dem Staatsangehörigkeitsrecht vongers und meine Damen und Herren von der CDU, die 1913 sind Deutsche nur diejenigen, die deutsche Eltern verfassungsrechtlichen Fragezeichen. In vielen Fällen haben. Dieses Relikt aus der Kaiserzeit ändern wir mit wird dies die Integration verhindern. dieser Reform. Bedauerlich ist auch, daß die generelle Hinnahme der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN doppelten Staatsangehörigkeit jetzt nicht durchsetzbar sowie bei Abgeordneten der SPD) war. Nicht, weil sie unser eigentliches Ziel war, wie Sie Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999 2289

Kerstin Müller (Köln) (A) von der Opposition wider besseres Wissen immer wie- Sie fordere ich auf, Ihre absolut zynischeUnterschrif- (C) der behauptet haben; nein, die doppelte Staatsbürger-tenkampagne endlich einzustellen. schaft ist und war immer nur als Instrument gedacht, um die schnelle und unbürokratische Einbürgerung zu errei- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN chen. Wir haben jetzt zwar die Ausnahmen bei der Hin- und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der nahme der Mehrstaatigkeit erweitert, was fehlt, ist aber F.D.P. – Wolfgang Zeitlmann [CDU/CSU]: der Brückenschlag zur ersten Generation. Dies, liebe Was soll denn da zynisch sein?) Kolleginnen und Kollegen von der F.D.P., ist leider an Angeblich – Herr Rüttgers, Sie werden ja heute noch Ihnen gescheitert. Ausschließlich Sie tragen die Verant- sprechen – soll es dabei um Integration gehen. Sie wis- wortung dafür, daß der Gesetzentwurf hier nicht weiter sen ganz genau, daß diese Kampagne eine völlig andere geht. Sie haben das blockiert. Wirkung hat. Sie integriert nicht, sie spaltet die Gesell- schaft. (Beifall des Abg. Dr. Edzard Schmidt-Jortzig [F.D.P.]) (Wolfgang Zeitlmann [CDU/CSU]: Was ist denn ursächlich?) – Ich würde nicht klatschen – Sie werden damit die Ein- bürgerung der ersten Generation verhindern. Viele Menschen, die ihre Listen unterzeichnet haben, haben nicht für Integration, sondern, um es mit den Es ist – ich möchte da auf Ihr Argument eingehen – Worten von Ignatz Bubis zu sagen, gegen Ausländer nämlich genau umgekehrt. Sie sagen immer, mit 30 Jah- unterschrieben. Sie haben daher auf dem Rücken der ren kann man sich doch entscheiden, denn da ist man ja hier lebenden Ausländerinnen und Ausländer Stim- schon so lange hier. Gerade bei der ersten Generationmungsmache betrieben. Das finde ich unverantwortlich, sind die Bindungen an das Heimatland aber noch sehr stark. Gerade deshalb werden sich die meisten Einwan- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN derer der ersten Generation ohne die Möglichkeit des und bei der SPD) Doppel-Passes nicht einbürgern lassen. Ich sage einmal vor allen Dingen auch deshalb, weil Ihre scheinheilige folgendes: Gerade diesen Menschen, die wir, meine El- Kampagne gegen den Doppel-Paß auf Behauptungen be- tern, Sie, als Gastarbeiter hierhergeholt haben und die ruht, die schlichter Unfug sind. hierbleiben werden, sollte man doch den Brückenschlag eröffnen und den Doppel-Paß gewähren. Die doppelte Staatsbürgerschaft ist kein Privileg, wie Sie unterstellen, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Wolfgang (Wolfgang Zeitlmann [CDU/CSU]: Natür- (B) Zeitlmann [CDU/CSU]: Sie reden jetzt schon lich!) (D) gegen das Gesetz!) und sie hat nichts, aber auch gar nichts mit Rosinenpik- Wir können das noch ändern, meine Damen und Herren kerei zu tun. Das ist dummes Zeug, und noch dazu ge- von der F.D.P. fährlich. (Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.]: Aber das (Wolfgang Zeitlmann [CDU/CSU]: Natürlich ändern wir nicht!) ist es ein Privileg!) Die Rechte und Pflichten von Doppelstaatsbürgern – ich dachte, wir machen jetzt ein parlamentarisches richten sich ganz einfach nach dem festen Wohnsitz. Die Verfahren – , und ich fordere Sie auf, bis zum Abschluß zweite Staatsangehörigkeit zu bekommen bedeutet im des parlamentarischen Verfahrens wenigstens diese Kern nur einen einzigen Vorteil – das muß man, glaube Chance zur Integration zu nutzen. ich, einmal deutlich darstellen –, Der Kompromiß ist trotz der Kritik, die wir üben, ein (Wolfgang Zeitlmann [CDU/CSU]: Ein Doppel- erster wichtiger Schritt zu einer umfassenden Reform. staatler hat mehr Rechte als ein Deutscher!) Gerade wegen seiner Schwächen bleibt – das sage ich für meine Fraktion ganz deutlich – dieses Thema für uns nämlich den: Es gibt außer Deutschland ein weiteres auf der politischen Tagesordnung. Unser Ziel ist undLand, in dem man das Recht hat, sich jederzeit nieder- bleibt es, allen dauerhaft hier lebenden Menschen wirk- zulassen. Dieses Recht, meine Damen und Herren, Herr lich die gleichen Bürgerrechte zu geben. Deshalb wer- Zeitlmann, hat jeder Deutsche – das heißt, auch Sie in den wir in der Gesellschaft um die Mehrheiten kämpfen, diesem Hause –, und zwar nicht nur in einem anderen um einen weiteren Schritt der Integration in ferner Zu- Land, sondern in allen 14 Ländern der Europäischen kunft durchzusetzen. Union. Da sollten wir doch nicht von Privilegien reden. Der Doppelpaß bedeutet eben keine doppelten Rechte. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Vier Pässe (Wolfgang Zeitlmann [CDU/CSU]: Aber mehr wie Königin Beatrix!) Rechte als der, der nur einen hat! Das ist unbe- streitbar!) Jetzt komme ich zu Ihnen, Herr Marschewski. Deshalb fordere ich Sie auf, mit dieser gezielten (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Das kön- Desinformation aufzuhören. Sie schüren damit in unver- nen Sie machen!) antwortlicher Weise Neidgefühle. 2290 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999

Kerstin Müller (Köln) (A) Wieviel das Gerede von der Integration, auf das Sie Ich möchte zum Schluß aus einem Aufruf zitieren, in (C) wahrscheinlich noch zu sprechen kommen werden, Wert dem es heißt: ist, zeigt sich meiner Meinung nach schon wenige Wo- chen nach der Hessen-Wahl: , der künftige Die soziale und rechtliche Integration der in Ministerpräsident von Hessen, hat schon kurz nach der Deutschland lebenden ausländischen Mitbürger ist Wahl nichts Besseres zu tun, als mit einem Federstrich eine moralische Verpflichtung gegenüber den Be- die Sprachförderung des muttersprachlichen Unterrichts troffenen und unverzichtbar für die dauerhafte Be- einzustellen. Soviel zur Umsetzung Ihres Integrations- wahrung des gesellschaftlichen Friedens. Der konzeptes! Das ist Integration à la CDU. Schaffung eines zeitgemäßen Staatsangehörigkeits- rechts kommt damit eine zentrale Bedeutung zu. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Frau Süssmuth, Herr Altmaier, Herr Geißler, Herr SES 90/DIE GRÜNEN – Widerspruch bei der Röttgen, Herr Pflüger CDU/CSU – Ludwig Stiegler [SPD]: Desinte- gration!) (Wolfgang Zeitlmann [CDU/CSU]: Wenn nur die nicht zustimmen, die vorher verfassungs- Sie sollten Ihr Konzept einmal Herrn Koch schicken. rechtliche Bedenken hatten!) Die Maßnahmen, die Sie vorschlagen, liegen meistens in der Kompetenz der Länder. Die rotgrün regierten Länder und viele anderen Damen und Herren von der Union haben das meiste davon schon umgesetzt. (Abg. [CDU/CSU] meldet Aber nicht genug, daß Integration bei Ihnen ein reines sich zu einer Zwischenfrage) Lippenbekenntnis ist, nicht genug, daß Sie daran den- ken, selbst noch gegen diesen Kompromiß zu klagen– gleich, ich möchte diesen Gedanken zu Ende führen –, und damit die unsägliche Stimmungsmache gegen die in ich denke, Sie wissen nur zu gut, aus welchem Text die- Deutschland lebenden Ausländerinnen und Ausländerses Zitat stammt. 150 von Ihnen haben in der letzten Le- fortzusetzen – gislaturperiode den sogenannten Reformaufruf unter- zeichnet, aus dem diese Passage stammt. (Wolfgang Zeitlmann [CDU/CSU]: Ja, wenn Ihr selber, wenn der Bundeskanzler verfas- Der sogenannte Rüttgers-Entwurf hat nichts, aber auch gar nichts mit den Forderungen dieses Aufrufes zu sungsrechtliche Bedenken äußert!) tun. Im Gegenteil: Was die Einführung des Geburts- der Höhepunkt ist wirklich das von Ihnen heute einge- rechts betrifft, entspricht er eher dem, was wir heute brachte Gesetz zur Regelung der Staatsangehörigkeit. vorgelegt haben. 150 von Ihnen haben diesen Aufruf unterschrieben – Sie nicht, Herr Zeitlmann, wie man (B) (Wolfgang Zeitlmann [CDU/CSU]: Wir müs- eben gemerkt hat. Sie haben jetzt – das meine ich ganz(D) sen euch mit euren verfassungswidrigen Ge- ernst – setzen ja helfen!) (Wolfgang Zeitlmann [CDU/CSU]: Ach so! Da feiert Herr Kanther fröhliche Urstände. Die darin Und das andere war nicht ernst?) enthaltenen Vorstellungen fallen weit hinter das zurück, was wir in der letzten Legislaturperiode gewollt haben. die einmalige Chance: Sie können die Forderungen aus diesem Aufruf in die Realität umsetzen, indem Sie unse- (Wolfgang Zeitlmann [CDU/CSU]: Ihr habt ja rem Gesetzentwurf zustimmen. die Argumente geliefert!) Was, bitte schön, soll dieEinbürgerungszusiche- Vizepräsident Rudolf Seiters: Frau Kollegin, ge- rung? Die ist praktisch wertlos. Denn die Hürden fürstatten Sie, auch wenn Sie am Ende Ihrer Rede sind, die sogenannte Zusicherung sind höher als für einen An- noch eine Zwischenfrage des Kollegen Hohmann? spruch auf Einbürgerung nach dem geltenden Auslän- dergesetz – mit dem Unterschied, daß der Anspruch auf Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Einbürgerung zum Paß führt, während Ihre abenteuerli- NEN): Ich würde das gerne noch zu Ende führen. che Konstruktion nur zu einer Zusicherung auf jenen Paß führt. Ich frage mich: Was soll das, bitte? Gerade die Form des Gruppenantrags bietet dazu die Möglichkeit. Überlegen Sie sich das gut! Ich glaube, Sie (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Das haben tragen eine große Verantwortung. Denn damit wäre auch Sie nicht verstanden! Wirklich nicht! Das ist dieser unsäglichen Unterschriftenkampagne, die diese sachlich falsch!) Gesellschaft spaltet Ich glaube, diese Konstruktion ist das Papier nicht wert, (Wolfgang Zeitlmann [CDU/CSU]: Ihr Ge- auf dem sie steht. Wir sollten uns damit nicht mehr län- setzentwurf hat gespaltet!) ger beschäftigen. und die das Land keinen Schritt voranbringt, der Boden (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – entzogen. Dann können wir in diesem Haus endlich wie Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Hat sie in anderen europäischen Ländern gemeinsam über das schon ihr zweites Examen, damit sie so etwas reden, was notwendig ist, nämlich darüber, wie man das versteht? Das weiß ich nicht!) Einwanderungsland Bundesrepublik gestaltet. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999 2291

Kerstin Müller (Köln) (A) Ich fordere Sie daher auf: Werden Sie Ihrer Verant- ausländischen Familien. Neben Ihnen sitzt der Kollege(C) wortung gerecht! Stimmen Sie der vorgelegten Reform Beck, der mit mir zusammen an einer Podiumsdiskussi- des Staatsangehörigkeitsrechts zu! Stimmen Sie diesem on in der Volkshochschule Köln teilgenommen und dort ersten historischen Schritt einer Reform zu! gesagt hat: Das Optionsmodell ist schlecht, weil es in dem Moment Streit innerhalb der ausländischen Famili- Danke schön. en geben wird, in dem sich der junge Erwachsene zwi- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schen zwei Staatsangehörigkeiten entscheiden muß und und bei der SPD – Wolfgang Zeitlmann die Eltern darauf drängen, daß die angestammte Staats- [CDU/CSU]: Mir kommen die Tränen!) angehörigkeit beibehalten wird. Das ist doch ein kardi- naler Mangel des Optionsmodells. Deswegen können Sie Ihre Auffassung nicht ernsthaft mit den Argumenten, Vizepräsident Rudolf Seiters: Frau Kollegin, ich die Sie hier vorgetragen haben, vertreten und gleichzei- danke Ihnen für Ihre Bereitschaft, eine Zwischenfrage tig für das Optionsmodell stimmen. Hier bietet unser zuzulassen. Aber der Zwischenfrager hat mittlerweileModell der Einbürgerungszusicherung einen großen seine Frage zurückgezogen. Vorteil. Dritter Punkt. Wir können in der Tat nicht verhin- Ich gebe dem Kollegen Bosbach das Wort für einedern, daß jemand fragt, wo er gegen Ausländer unter- Kurzintervention. schreiben könne. Auf eine solche Frage gibt es für die Mitglieder meiner Fraktion nur eine Antwort: Bei der Wolfgang Bosbach (CDU/CSU): Frau KolleginUnion nicht! Müller, Sie haben vorhin zumindest sinngemäß dahin (Beifall bei der CDU/CSU – Lachen bei der gehend argumentiert, daß meine Fraktion durch ihre SPD) politische Haltung in der hier diskutierten Frage die Einbürgerung der ersten Einwanderungsgeneration ver- Wir sammeln Unterschriften für eine bessere Integration hindere. Sie haben dann gesagt – das akzeptiere ich auch der dauerhaft und rechtmäßig hier lebenden Auslände- als Argument –, daß gerade diese Generation eine be-rinnen und Ausländer, für eine erleichterte Einbürgerung sonders enge emotionale Bindung zum ursprünglichen der jungen Generation und gegen die generelledoppelte Heimatland habe. Im Klartext bedeutet Ihre Argumenta- Staatsbürgerschaft. Unsere Politik hat also absolut nichts tion, daß sich die Zahl derjenigen, die deutsche Staats- mit Ausländerfeindlichkeit zu tun. bürger werden möchten, wesentlich vergrößerte, wenn man die doppelte Staatsbürgerschaft bei Einwanderern (Beifall bei der CDU/CSU) (B) hinnehmen würde. (D)

Ich darf in diesem Zusammenhang aus einerUm- Vizepräsident Rudolf Seiters: Frau Müller, frage der früheren Ausländerbeauftragten, Corneliamöchten Sie darauf antworten? – Bitte. Schmalz-Jacobsen, zitieren. In der entsprechenden Drucksache steht wörtlich: Diejenigen Befragten, die bislang keine konkrete Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Absicht haben, sich einbürgern zu lassen …, NEN): Herr Kollege, zunächst zurUnterschriftenkam- pagne: Sie sagen jetzt, daß es nicht Ihre Absicht gewe- – das ist der überwiegende Teil; über 90 Prozent derje- sen sei, mit der Kampagne eine ausländerfeindliche nigen, die einen Anspruch auf Einbürgerung haben, ma- Stimmung in der Gesellschaft zu schüren. Das konzedie- chen davon keinen Gebrauch –, re ich. Dennoch müssen Sie zur Kenntnis nehmen – wir nennen als Hauptgrund den Wunsch, Türke/haben mit vielen Leuten an unseren Ständen in Hessen Grieche/Italiener/Kroate/Serbe/Bosnier zu blei-gesprochen; ich war selbst an den Ständen in den Fuß- ben … gängerzonen; auch viele bekannte Persönlichkeiten, un- ter anderem Ignatz Bubis, – Das sind 71 Prozent. – (Wolfgang Zeitlmann [CDU/CSU]: Wer ist Die Aufgabe der bisherigen Staatsangehörigkeit Ignatz Bubis?) stellt hingegen für eine weitaus kleinere Gruppe ein Hindernis dar … haben darüber berichtet, daß bei vielen Bürgern der scheinbar harmlose Text Ihres Aufrufes „Ja zur Integra- Das sind 18 Prozent. tion“ ganz anders, als Sie ihn beabsichtigt hatten, ange- Ich akzeptiere und respektiere, wenn drei Viertel der kommen ist; er hat in der Gesellschaft eine ganz andere Betroffenen sagen: Mein größter Wunsch ist es, Türke, Wirkung hervorgerufen. Wenn man feststellt, daß mit Serbe, Kroate oder Bosnier bleiben zu wollen. Abereinem solchen Aufruf Stimmung zu Lasten der hier le- stellt eine solche Haltung für Sie ein ernsthaftes Kriteri- benden Ausländerinnen und Ausländer gemacht wird, um dar, diesen Menschen die deutsche Staatsangehörig- finde ich, muß man die Konsequenzen ziehen und eine keit zu verleihen? solche Kampagne stoppen. Zweiter Punkt. Sie haben vorhin gesagt – hier stimme (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, ich Ihnen zu –, dasOptionsmodell trage Streit in die bei der SPD und der PDS) 2292 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999

Kerstin Müller (Köln) (A) Zum Optionsmodell. Es ist richtig, daß meine Frak- Wir reden hier bewußt über einen Gruppenantrag,(C) tion hierzu Bedenken hat. Ich habe diese Bedenken ge- weil es unser Ziel ist, als diejenigen, die diesen Grup- nannt. Vor allen Dingen befürchten wir, daß es Kon-penantrag initiiert haben, eine breite politische Mehrheit flikte in die Familien hineintragen könnte. Die Umset- in diesem Hause zu finden. Wenn das Recht von 1913 zung des Modells bedeutet wahrscheinlich auch einennach 86 Jahren zum erstenmal geändert wird, dann löst ziemlich hohen bürokratischen Aufwand. Aber ich und das in unserem Lande natürlich große Diskussionen aus. viele Mitglieder meiner Fraktion haben diesen Sachver- Wir sollten uns bewußt sein, daß diese Debatte nicht nur halt abgewogen. Ich möchte Sie, meine Damen und Her- im Inland, sondern auch im Ausland sehr genau verfolgt ren von der CDU/CSU, bitten, dies auch zu tun. wird. Für mich ist entscheidend, daß wir mit dieser Reform (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- den Einstieg in das Geburtsrecht leisten. Es handelt sich ten der SPD) um einen ersten, rechtspolitisch historischen Schritt. Ich bin der Meinung, daß man vor diesem Hintergrund die Wir werden in Deutschland mit diesem Gesetz nach Hinnahme des Optionsmodells akzeptieren kann. Wireiner langjährigen Diskussion jetzt ein modernes Staats- werden – das habe ich hier angekündigt, und das meine angehörigkeitsrecht bekommen. ich sehr ernst; wir können das gerne gemeinsam tun – für gesellschaftliche Mehrheiten kämpfen, um das ius (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Das glau- soli pur, ohne das Optionsmodell, zu bekommen. Ich ben Sie doch selber nicht!) finde, ein Einstieg ist besser, als daß es bei der alten,Das neue Staatsangehörigkeitsrecht wird zu einer Ver- schlechten Rechtslage bleibt. besserung der Integration der dauerhaft und rechtmäßig (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN in Deutschland lebenden Menschen ausländischer Her- sowie bei Abgeordneten der SPD) kunft führen. Die Verbesserung der Integration dieser Menschen ist im Interesse unserer gesamten Gesell- Herr Kollege, die Zahlen, die Sie genannt haben,schaft dringend notwendig. sprechen genau für das von mir genannte Argument. Dies haben viele Gespräche ergeben. Die Verbände, die (Beifall des Abg. Sebastian Edathy [SPD]) nicht alle grün gefärbt sind, haben dies immer wieder Was wir heute tun, dient nicht nur den hier geborenen gesagt. Dies sagen auch viele Migrantenverbände, mit Kindern, sondern auch unserem nationalen Interesse. denen wir seit langem im Dialog stehen. Diejenigen, die Was wir jetzt unterlassen, rächt sich in Zukunft als so- seit 30 Jahren hier sind, haben nun einmal die größten ziale Verwerfung. Bindungen zu ihrem Herkunftsland. Deshalb sagen in (B) dieser Umfrage 70 Prozent der Befragten: Wir möchten (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- (D) gerne Griechen, wir möchten gerne Türken bleiben. ten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE Aber das heißt nicht, daß sie nicht auch Deutsche wer- GRÜNEN) den würden, wenn man ihnen die Möglichkeit dazu ge- ben würde. Diese Reform – das ist aus Sicht der Freien Demo- kraten besonders wichtig – wird von einer breiten Mehr- Wir sind dafür, daß sich dieses Haus dazu entschließt, heit in der Bevölkerung akzeptiert. Ich möchte mich wenigstens diesen Menschen – wir selbst hätten auchdeshalb – Sie werden verstehen, daß ich das zu Beginn nichts gegen die Hinnahme der generellen doppeltenmeiner Rede tue – ausdrücklich bei denen herzlich be- Staatsbürgerschaft – den doppelten Paß zu gewähren.danken, die bei diesem wichtigen, ja historischen Schritt Wir haben sie hierhergeholt, und wir haben die Verant- mitgewirkt haben. Zunächst möchte ich mich ganz herz- wortung, ihnen endlich gleiche Rechte zu geben, endlich lich bei unserer früheren Kollegin Cornelia Schmalz- diesen Brückenschlag zu machen. Jacobsen bedanken, die als seinerzeitige Ausländerbe- Danke schön. auftragte der Bundesregierung maßgeblichen Anteil an der hier vorliegenden Reform hat. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der F.D.P. sowie der Abg. Marie- luise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Vizepräsident Rudolf Seiters: Das Wort hat der Kollege Westerwelle. Ich möchte mich ausdrücklich auch bei Bundesin- nenminister Otto Schily für eine sehr faire Verhand- lungsführung bedanken; in diesen Dank schließe ich Dr. Guido Westerwelle (F.D.P.): Herr Präsident! ausdrücklich auch den Kollegen Wiefelspütz als innen- Meine sehr geehrten Damen und Herren! Diese Debatte politischen Sprecher seiner Fraktion ein. ist aus Sicht der Freien Demokraten viel zu wichtig, als daß wir sie im parteipolitischen kleinen Karo führen (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- sollten. ten der SPD) (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- Schließlich bedanke ich mich – Sie werden verstehen, ten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE daß ich das tue – sehr herzlich bei unserem Kollegen GRÜNEN) Brüderle und dem Justizminister des Landes Rheinland- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999 2293

Dr. Guido Westerwelle (A) Pfalz, Caesar, die für eine klare Linie im Gesetzentwurf sein. Diese Kinder sprechen Deutsch als Heimatsprache. (C) gesorgt haben, so daß er nun eine Chance auf eine große Sie gewinnen in den Schulklassen die Vorlesewett- Mehrheit im Bundestag und Bundesrat hat. bewerbe. (Beifall bei der F.D.P.) (Wolfgang Zeitlmann [CDU/CSU]: Wo denn?) Weil wir hier nicht unter uns sind, sondern die Öf- fentlichkeit sehr genau hinsieht, welche Unterschriften Sie können die Sprache ihrer Eltern allenfalls noch mit unter einem solchen Gruppenantrag stehen und mit wel- einem deutschen Akzent. Es macht keinen Sinn, diese chen Mehrheiten er beschlossen wird, will ich vorab ei- Kinder erst künstlich von ihren Altersgenossen abzu- nes klarstellen: Was wir hier heute als Gruppenantraggrenzen, um sie anschließend mit großem Aufwand und beraten, ist ein Vorschlag der Vernunft, um eine Eini- ungewissen Erfolgsaussichten wieder integrieren zu gung in der Sache zugunsten unseres Landes und zugun- müssen. sten der Kinder zu erreichen. Das Ganze hat nichts, aber (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- auch gar nichts mit Koalitionsliebäugeleien unter politi- ten der SPD) schen Parteien zu tun. Die Reform des Staatsangehörig- keitsrechts ist eben eine Sache von nationalem Interesse Wenn es noch eines Beleges bedurft hätte, daß das und viel zu wichtig, als daß sie mit machtpolitischendeutsche Staatsangehörigkeitsrecht zugunsten hier gebo- Taktierereien verbunden werden dürfte. rener Kinder geändert werden muß, dann haben ihn die Ereignisse vor wenigen Wochen geliefert, als wir beina- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abge- he täglich Bilder fanatisierter Jugendlicher sehen muß- ordneten der SPD – Erwin Marschewski ten, die sich von der Gruppengewalt der PKK mitreißen [CDU/CSU]:Das hätte keiner geglaubt, Herr ließen. Deswegen, Herr Kollege Zeitlmann, möchte ich Westerwelle!) Ihnen einmal diese Sicht der Dinge nahebringen. Es ist Die Kräfte der Vernunft haben sich zu einemBündnis unzulässig, gewissermaßen fahrlässig, ich finde, sogar der Vernunft zusammengefunden, um für eines dergrob fahrlässig, wichtigsten gesellschaftspolitischen Vorhaben unserer (Zuruf von der SPD: Vorsätzlich!) Zeit eine Mehrheit in den Gesetzgebungsorganen sicher- zustellen. wenn Sie den Eindruck erwecken, die in Deutschland geborenen ausländischen Kinder seien lauter kleine Wir als Freie Demokraten, verehrte Kolleginnen und Mehmets. Als ob es darum ginge! Es sollen doch nicht Kollegen, sind mit diesem Verhandlungsergebnis Herr Öcalan eingebürgert werden oder Mehmets nicht hochzufrieden, weil es exakt der Lösung der Vernunft mehr abgeschoben werden können. Das Entscheidende entspricht, die wir selbst in dem von uns vorge- (B) ist, daß wir durch eine Integrationspolitik dafür sorgen(D) legten Gesetzentwurf angemahnt haben. Deswegen müssen, daß sich die Kinder nicht fanatisieren lassen, haben wir unseren eigenen Gesetzentwurf von der nicht fundamentalistischen Strömungen anschließen und Tagesordnung absetzen lassen; denn unser Gesetzent- nicht in Ghettos in den Städten zusammenschließen. wurf ist zu 100 Prozent in diesem Gruppenantrag Wer die Ghettoisierung in den Städten verhindern will, enthalten. der muß die Ghettoisierung in den Köpfen der hier gebo- Der Staat macht ein weitreichendes Integrationsange- renen Kinder verhindern. bot. Er verlangt aber auch bewußt eine aktive Integra- (Beifall bei der F.D.P., der SPD, dem BÜND- tionsentscheidung. NIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS – Wider- (Wolfgang Zeitlmann [CDU/CSU]: Stimmt spruch bei der CDU/CSU) nicht!) Natürlich kann man bereits fanatisierte Kriminelle Wichtig war uns – deswegen hatten wir einen eigenenmit einer Änderung des Staatsangehörigkeitsrechts nicht Gesetzentwurf eingebracht –, daß die hier geborenenändern. Sie müssen bestraft und auch abgeschoben wer- Kinder von dauerhaft und rechtmäßig in Deutschland den. Darüber haben wir im Bundestag erst vor kurzem lebenden Ausländern mit Geburt die deutsche Staatsan- diskutiert. Aber man muß verhindern, daß die nächste gehörigkeit erwerben. Wer den Eindruck erweckt, eine Generation für Gewalt und Fanatismus anfällig wird im achten oder neunten Monat Schwangere könne ge-und zu Mitläufern auf Grund des Gruppendrucks wird. wissermaßen durch Deutschland reisen und ihr hier ge- Hier geborene Kinder dürfen nicht unter den Einfluß borenes Kind wäre dann automatisch Deutscher, führtausländischer Fanatiker geraten, und deswegen wollen eine absolut unzutreffende Polemik ein. Wir reden hier wir sie durch die Vermittlung unserer Kultur und unse- von den Kindern seit langem in Deutschland rechtmäßig rer Sprache, aber eben auch durch die Ausstellung des lebender Ausländer. Es dient unserer Gesellschaft, wenn deutschen Passes integrieren. Der Paß ersetzt nicht die wir diese Kinder integrieren. Integration, er ergänzt die Integration. Diese Leitlinie liegt unserem Gesetzentwurf zugrunde. (Beifall bei der F.D.P. und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- GRÜNEN) ten der SPD) Diese Kinder sollen von Anfang an wissen, daß sie da- Verehrte Kolleginnen und Kollegen aus der Union, zugehören und Teil unserer Gesellschaft sind. Sie sollen wir halten nichts von Ihrem Vorschlag, den Kindern die nicht mit dem Bewußtsein aufwachsen, Ausländer zudeutsche Staatsangehörigkeit zunächst vorzuenthalten 2294 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999

Dr. Guido Westerwelle (A) und ihnen lediglich eine Einbürgerungszusicherung zu setzt eine bewußte Hinwendung zum deutschen Staat(C) geben, die sie bei Volljährigkeit einlösen können. Sievoraus. haben nämlich auf der einen Seite davon gesprochen, (Zustimmung bei Abgeordneten der die Auseinandersetzungen würden in die Familien hin- CDU/CSU) eingetragen, wenn wir nach der Volljährigkeit eine Entscheidung verlangten. Auf der anderen Seite legen Deshalb halten wir es für gerechtfertigt, von dem ein- Sie aber selber einen Gesetzentwurf vor, der eine Ent- bürgerungswilligen Ausländer die Aufgabe seiner bishe- scheidung nach dem Erreichen der Volljährigkeit ver-rigen Staatsangehörigkeit zu verlangen. langt. Das gilt insbesondere für diejenigen Ausländer, die Das Problem bei Ihrem Gesetzentwurf ist – um diesen bereits lange in Deutschland leben. Wer 30 Jahre in Gesetzentwurf haben wir in der letzten Legislaturperi- Deutschland gelebt hat, der kennt dieses Land gut ge- ode sehr kollegial und sehr fair miteinander gerungen –, nug, um sich entscheiden zu können, ob er Deutscher daß Sie damit nichts gegenüber der bestehendensein will oder nicht. Aber bei den hier geborenen Kin- Rechtslage ändern. Wir haben schon heute eine Einbür- dern nehmen wir die Mehrstaatigkeit für eine gewisse gerungsgarantie bis zum 23. Lebensjahr für die Kinder, Zeit in Kauf, weil sie eben als Minderjährige nicht selbst die hier geboren sind und volljährig werden. Diese Re- entscheiden können. gelung bestätigen Sie gewissermaßen mit Ihrem Gesetz- (Wolfgang Zeitlmann [CDU/CSU]: Das El- entwurf. Wenn Sie aber die Kinder zunächst mit einem ternrecht spielt keine Rolle!) ausländischen Bewußtsein aufwachsen lassen, um sie später integrieren zu müssen, dann muß ich sagen, daß Deswegen möchten wir, daß diese Kinder sich erst als Ihr Gesetzentwurf das Problem nicht löst. Es wäre bes- junge Erwachsene, nach Erreichen der Volljährigkeit, ser, die Kinder erst zu integrieren und ihnen das Gefühl zwischen der Staatsangehörigkeit der Eltern und unserer zu geben, daß sie zu uns gehören. Man muß ihnen eindeutschen Staatsangehörigkeit entscheiden müssen. Angebot machen! Diese Kinder sollen wissen, daß sie in (Wolfgang Zeitlmann [CDU/CSU]: An den unsere Gesellschaft gehören. Wir möchten aber auch, Eltern vorbei wollen Sie das machen!) daß sich die Kinder später als junge Erwachsene ent- scheiden müssen, welche Staatsangehörigkeit sie an- Das ist unser Optionsmodell, das die Koalition nun nehmen wollen, zu welchem Land sie also gehörenübernommen hat. Damit wir zu nennenswerten Integra- wollen. tionsfortschritten kommen, haben wir als F.D.P. vorge- schlagen, daß dieses Modell auch auf bereits geborene (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- Kinder übertragen wird, die noch nicht älter als zehn ten der SPD) Jahre sind. Ich bin froh darüber, daß sich in unserem (B) Gruppenantrag gerade dieses Angebot an die bereits in (D) Was wir heute unterlassen, das werden wir in we-Deutschland geborenen Kinder findet. nigen Jahren mit Zins und Zinseszins zurückzahlen. Deshalb ist die Reform des Staatsangehörigkeits-Wir halten an dem Grundsatz derVermeidung von rechts mit dem Ziel einer besseren Integration der Kin- Mehrstaatsangehörigkeit klar und eindeutig fest. Der der ausländischer Eltern eine nationale Aufgabe ersten Katalog der Ausnahmetatbestände wird nicht erweitert, Ranges. sondern lediglich flexibler gestaltet. Der Elterngeneration macht dieser Gruppenantrag Da Sie, Herr Kollege Zeitlmann, aus dem Gesetzent- durch eine deutliche Absenkung der Einbürgerungs- wurf zitiert haben – Sie können jetzt nicht zuhören, weil frist ebenfalls ein großzügiges Integrationsangebot. Ich Sie telefonieren müssen –, möchte ich noch einmal auf gehe davon aus, daß die Union diesem Teil des Gesetz- § 87 des Ausländergesetzes in unserem Gesetzentwurf entwurfes zustimmen wird; denn über diese Regelunghinweisen. Sie haben von älteren Bürgern gesprochen. bestand bereits in der letzten Legislaturperiode zwischen So, wie Sie das wiedergegeben haben, stimmt es einfach der F.D.P.-Fraktion und der CDU/CSU-Fraktion Ein-nicht. Hier steht: vernehmen. Dagegen muß ich offen gestehen, daß ich Einbürgerung unter Hinnahme von Mehrstaatigkeit bei Ihrer Rede, Frau Müller, nicht ganz erkennen konnte, ob Sie nun für oder gegen den Gruppenantrag sind, den Sie wird hingenommen, wenn Sie selbst mit unterzeichnet haben. der Einbürgerung älterer Personen ausschließlich (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) das Hindernis eintretender Mehrstaatigkeit entge- gensteht, die Entlassung auf unverhältnismäßige Wir als F.D.P. treten dafür ein, daß dem Integrati- Schwierigkeiten stößt und die Versagung der onsangebot auch eine Integrationsentscheidung folgt. Einbürgerung eine besondere Härte darstellen Deshalb haben wir uns eindeutig und konsequent gegen würde … die ursprünglichen Pläne der Koalition gestellt, eine Verehrte Kolleginnen und Kollegen, das entspricht dauerhafte doppelte Staatsangehörigkeit für alle ein- der Rechtslage, wie sie sich schon heute herausgebildet zuführen. Wer deutscher Staatsangehöriger werdenhat. Das können Sie in den einschlägigen Texten der möchte, soll sich grundsätzlich durch die Aufgabe seiner Einbürgerungsrichtlinie nachlesen. bisherigen Staatsangehörigkeit zu unserem Land beken- nen. Der deutsche Paß ist nicht irgendein Papier, das (Wolfgang Zeitlmann [CDU/CSU]: Aber eine man gerne zusätzlich in Empfang nimmt, sondern er Richtlinie ist etwas anderes als ein Gesetz!) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999 2295

Dr. Guido Westerwelle (A) Wer den Kopf schüttelt, dem nenne ich auch gleich die Ich kann Sie einfach nur bitten, hier ehrlich zu argu-(C) Quelle: Es ist die Ziffer 5.3.3. der Einbürgerungsricht- mentieren. Es geht Ihnen nicht um juristische Bedenken; linie. Da gibt es, Herr Kollege Rüttgers, diese fabelhaf- es geht Ihnen um politische Bedenken. Ihre juristischen ten kleinen Beck-Ausgaben der Gesetzestexte. Bedenken sind vor allen Dingen politisch motiviert. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- (Beifall bei der F.D.P., der SPD und dem ten der SPD – Ludwig Stiegler [SPD]: Die BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- können doch nicht lesen! Die wollen auch geordneten der PDS) nicht lesen!) Das wird der Seriosität der Diskussion nicht gerecht. Es gibt keine verfassungsrechtlich ernstzunehmenden Der Gesetzentwurf ist verfassungskonform; das ist im- Bedenken gegen das Optionsmodell. Das Optionsmodell mer wieder festgestellt worden. ist von mehreren Justizministern geprüft worden. Es ist Letzte Bemerkung, meine sehr geehrten Damen und dem früheren Bundesjustizminister vorgelegt und dort Herren: Vor einiger Zeit stritten sich vor unserem Haus geprüft worden, ebenso der derzeitigen Bundesjustizmi- in der Bonner Altstadt eine türkische Oma und ihr klei- nisterin, dem Innenminister, dem Landesjustizminister nes Enkelkind. Die türkische Oma beschimpfte das Kind von Rheinland-Pfalz, und es ist übrigens natürlich auch auf türkisch, das Enkelkind schimpfte auf deutsch zu- vom Wissenschaftlichen Dienst des Deutschen Bundes- rück. Um diese Kinder geht es. Sie gehören zu uns, und tages eingehend geprüft worden. Dabei wurde klar fest- sie müssen integriert werden. gestellt, daß das Optionsmodell vollständig verfassungs- gemäß ist und daß es selbstverständlich auch zulässig (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- ist, den jungen Erwachsenen eine Entscheidung abzu- ten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE verlangen. GRÜNEN) Weil in diesem Zusammenhang Art. 16 des Grund- gesetzes immer wieder zitiert wird, der dem angeblich Vizepräsident Rudolf Seiters: Ich gebe der Kolle- entgegensteht, möchte ich einmal darauf hinweisen, was gin Ulla Jelpke von der PDS-Fraktion das Wort. dort steht. Natürlich heißt es in Art. 16 Abs. 1 Satz 1: Die deutsche Staatsangehörigkeit darf nicht entzo- Ulla Jelpke (PDS): Herr Präsident! Meine Damen gen werden. und Herren! Herr Zeitlmann, wer im Niveau so weit heruntergeht, wie Sie, aber auch Ihre Partei es heute Die Juristen wissen aber: Immer einen Satz weiterlesen. wieder mit der Parole getan haben, daß der Doppelpaß (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD) dazu führe, daß Kriminelle leichter eingebürgert werden (B) können, wer sich dazu hinreißen läßt, diese Kampagne(D) Denn Satz 2 lautet: mit der Parole zu führen, daß die Gefahren durch ein modernes Staatsangehörigkeitsrecht bzw. den Dop- Der Verlust der Staatsangehörigkeit darf nur aufpelpaß größer seien als in den siebziger Jahren die Ge- Grund eines Gesetzes und gegen den Willen desfahr durch die RAF, wer Angstmache betreibt mit der Betroffenen nur dann eintreten, wenn der Betroffe- Parole, daß Menschen ausländischer Herkunft dann auch ne dadurch nicht staatenlos wird. das Wahlrecht haben und das Ausland die Interessen Entziehung ist eben nicht Verlust. Wer sich selbst ent- der Deutschen beeinflussen könnte, wer den Fami- scheiden kann, der bekommt die Staatsangehörigkeitliennachzug prophezeit und damit Angst erzeugen will, nicht gegen seinen oder ohne seinen Willen entzogen. der arbeitet Rechtsextremisten ganz offensichtlich in Vielmehr führt er durch seine eigene Willensentschei- die Arme, der fördert ein Bewußtsein, dasAusländer- dung den Verlust oder den Behalt der deutschen Staats- feindlichkeit und Rassismus schürt und den rassisti- angehörigkeit herbei. schen Mob, wie wir gesehen haben, auf die Straße bringt. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- ten der SPD – Wolfgang Zeitlmann [CDU/ (Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten CSU]: Auch wenn er schweigt?) der SPD) Falls Sie es mir nicht glauben, zitiere ich unseren Kolle- Meine Damen und Herren, die Kampagne der gen und Kronjuristen der CDU/CSU, Professor Scholz, CDU/CSU ist in der Tat, wie wir eben auch von Herrn wörtlich. Er hat am 16. Februar 1999 gesagt: Westerwelle gehört haben, politisch motiviert. Man kann der CDU/CSU nicht ernsthaft abnehmen, daß sie Ja, ganz im Gegensatz zu einer generellen Vergabe die Integration will, wie sie es in Teilen ihrer Anträge der doppelten Staatsbürgerschaft, die mit der Ver- wieder zum Ausdruck gebracht hat. Sie knüpft vielmehr fassung nicht zu vereinbaren wäre … Das Opti-ganz gezielt und bewußt an der Unsicherheit, an dem onsmodell ist verfassungskonform, weil keine ge- Unwissen der Menschen an, um demagogisch gegen ein nerelle doppelte Staatsangehörigkeit verliehen wird Recht der Menschen einzutreten, die hier seit Jahren le- und weil keine Entziehung der deutschen Staatsan- ben und die eigentlich längst die gleichen Rechte haben gehörigkeit vorgesehen ist. müßten wie wir Deutschen. (Zuruf von der SPD: Wo er recht hat, hat er Ich bin aber auch der Meinung, daß Frau Müller es recht!) sich hier zu einfach macht, wenn sie nur auf die Bundes- 2296 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999

Ulla Jelpke (A) ratsmehrheit hinweist. Ich möchte daran erinnern, daß scheut man in einigen Kreisen der SPD offenbar(C) gerade die SPD und die Grünen es versäumt haben, der nicht einmal vor einer Gefährdung der Regierungs- Kampagne der Unionspartein massiv etwas entgegenzu- koalition zurück. setzen. Sie sind meines Erachtens sehr schnell einge- knickt. Sie haben ihren Entwurf nach der Hessenwahl Meine Damen und Herren, ich fand es nicht wenig sehr schnell zurückgezogen. Das liegt meines Erachtens demütigend, daß die SPD und die F.D.P. als erste be- nicht nur an der neuen Mehrheit; denn wer sich die Um- kanntgeben, daß man sich über das Optionsmodell geei- fragen anschaut, der weiß, daß es eben keine großenigt habe. Auch die Grünen haben meines Wissens aus Mehrheit in der Bevölkerung gegen den Doppelpaß bzw. den Medien erfahren müssen, was jetzt der neue Entwurf gegen ein modernes Staatsbürgerschaftsrecht gibt, der sein soll. weiß, daß viele Menschen der doppelten Staatsbürger- (Zuruf von der SPD: Ihr Wissen ist falsch!) schaft nur deshalb ablehnend gegenüberstehen, weil sie zuwenig über diesen Paß wissen. Wenn von der Gegen- Es wundert mich, ehrlich gesagt nicht, wenn Herr Trittin seite, einschließlich der linken Opposition, eine Kampa- hier das rotgrüne Modell als tot, als gescheitert erklärt. gne geführt worden wäre, dann wären wir heute mit Si- cherheit einen Schritt weiter. (Zuruf von der SPD: Er war an dem Thema nicht beteiligt!) Wir haben heute einige Redner gehört, die den jetzi- gen Entwurf, das Optionsmodell, schöngeredet haben. Man muß einfach sagen: Wo er recht hat, hat er recht. Ich möchte hier eine Aussage des Verbandes binationa- Das vermisse ich hier ganz eindeutig: Die Grünen haben ler Familien und Partnerschaften zitieren: Der Bergnicht einmal mehr zu ihren Positionen gestanden. Sie kreißte und gebar eine Maus. haben nicht einmal das i-Tüpfelchen in diesem Entwurf bewegt. Das muß wohl in aller Deutlichkeit gesagt wer- (Zuruf von der SPD: Du willst also gar den. nichts!) (Beifall bei Abgeordneten der PDS – Dr. Will- – Doch, ich möchte einiges mehr. Dazu werde ich noch fried Penner [SPD]: Nicht endenwollender kommen. stürmischer Beifall!) Ich meine, daß diese Reform es nach diesen vielen Jahren Debatten nicht wirklich verdient, Reform genannt Meine Damen und Herren, ich komme jetzt zu dem zu werden, auch wenn sie zweifellos – darauf werde ich Entwurf. Für viele Menschen – das habe ich schon an- später noch kommen – einige Verbesserungen beinhal- gedeutet – wird es in diesem Land keinen Doppelpaß tet. Wichtig ist mir, zunächst klarzustellen: Sie hat nicht geben. Für viele Menschen ist das eine große Enttäu- (B) einmal den Standard der westeuropäischen Länder er-schung. Für viele Menschen ist es längst so, (D) daß reicht. Das finde ich mehr als bedauerlich. Deutschland ein Einwanderungsland ist. Die Erleich- terungen der Einbürgerung wären in der Tat wichtiger Wenn wir in den letzten Wochen eine Bundesregie- denn je gewesen, um endlich dem Klima in diesem rung erlebt haben, die meines Erachtens kraftlos ist und Land, was Rassismus und Ausländerfeindlichkeit an- den politischen Willen nicht hatte, einer ausländerfeind- geht, etwas entgegenzusetzen. lichen Kampagne entgegenzutreten, dann muß man sich doch allen Ernstes fragen: Wie kann es eigentlich ange- Zweifellos, in diesem Entwurf gibt es einigepositive hen – diese Frage werde ich besonders an die GrünenAnsätze. Ich nenne hier die Fristen, ich nenne die richten –, daß Sie heute einen Entwurf eingebracht ha- stückweise Abkehr vom Abstammungsrecht, also hin ben, der eigentlich ein Kompromißentwurf an zum die Jus soli, was meiner Meinung nach aber auch nur Adresse der CDU ist? halbherzig passiert. Ich nenne die Tatsache, daß es in Zukunft möglich sein wird, schneller und leichter Frau- Wer die Geschichte der Debatten über das Staatsan- en und Kinder oder Männer und Kinder einzubürgern, gehörigkeitsrecht in diesem Hause verfolgt hat, derdie einen deutschen Partner bzw. eine deutsche Partnerin weiß: Herr Westwelle, Sie haben unrecht. Die F.D.P. hat geheiratet haben. 1993 die Mehrstaatigkeit, den Doppelpaß, gefordert und hat schon 1994 in den Koalititionsvereinbarungen for- Das aber kann es doch nicht gewesen sein, liebe muliert, daß eine Schnupperstaatsbürgerschaft mögli-Kolleginnen und Kollegen! Daß auf der anderen Seite cherweise denkbar wäre. Das ist natürlich nicht umge- Verschlechterungen zur Kenntnis genommen werden setzt worden. Sie machen jetzt im Grunde genommenmüssen bzw. höhere Hürden in das Gesetz eingebaut ein Kompromißangebot an die CDU, obwohl Sie wissen, werden, das kann und darf nicht übersehen werden. Ich sie wird diesem Entwurf, diesem Optionsmodell nichtnenne die Tatsache, daß man jetzt die deutsche Sprache zustimmen. ausreichend beherrschen muß. Ich frage Sie, was ist aus- reichend? Wer bestimmt, was ausreichend ist? Auch wer In diesem Zusammenhang möchte ich den Vorsitzen- angeblich seine Arbeitslosigkeit oder Sozialhilfesituati- den der türkischen Gemeinde, Professor Keskin, zitie- on selbst verschuldet hat, wird nicht eingebürgert. Eben- ren. Er schreibt: falls nicht ganz unwichtig ist, daß Sie einen neuen Para- Mit welcher Leichtfertigkeit die SPD mit der eige- graphen einbringen, in dem der Schwur auf die FDGO nen Glaubwürdigkeit umgeht, ist kaum zu glauben. enthalten ist. Damit schaffen Sie meines Erachtens ein Da der Entwurf überdies für den Koalitionspartner Einfallstor für Gesinnungsschnüffelei in größerem Aus- Bündnis 90/Die Grünen inakzeptabel sein dürfte, maß. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999 2297

Ulla Jelpke (A) Von Ihnen wird der Entwurf als gelungen gefeiert,Flüchtlingen und Menschen ohne festen Aufenthalts-(C) obwohl hier anzumerken ist, daß er verfassungsrechtli- status. Selbst der UNHCR ist der Meinung, daß es kei- che Mängel hat, die mit Sicherheit Folgen haben wer- nen sachlichen Grund für die Differenzierung zwischen den. In vielen Passagen weist der Entwurf Ungereimt- verschiedenen Flüchtlingsgruppen gibt, von denen die heiten auf. Er schafft meines Erachtens auch keine Er- einen die Chance bekommen, sich einbürgern zu lassen, leichterung in bezug auf behördliche Willkür. Erst ge- die anderen aber nicht, einmal ganz abgesehen davon, stern konnte man in der Zeitung einen langen Berichtdaß Sie auch hier den Versuch machen könnten, Men- über eine Frau lesen, die eingebürgert wurde. Aus die- schen, die seit vielen Jahren illegal in der Bundesrepu- sem Artikel wurde deutlich, welche bürokratischen Hür- blik Deutschland leben, aus der Illegalität herauszuho- den – es ist beinahe ein Spießrutenlaufen – ein Mensch len, indem Sie ihnen die Einbürgerung anbieten. in diesem Lande überwinden muß, wenn er eingebürgert Was den Punkt der Straffälligkeit angeht, so glaube werden will. ich – – Verfassungsrechtlich bedenklich ist beispielsweise, daß binationale Kinder, die hier geboren sind, den Dop- pelpaß behalten dürfen, während Kinder mit Eltern aus- Vizepräsident Rudolf Seiters: Frau Kollegin, ich ländischer Herkunft sich mit 18 Jahren für eine Staatsbür- muß Sie darauf hinweisen: Die Uhr leuchtet schon seit gerschaft entscheiden müssen. Wie wollen Sie das mit einiger Zeit. Sie müssen jetzt zum Abschluß kommen. dem Gleichheitsgrundsatz in Übereinstimmung bringen?

Und was soll nach Auffassung der Bundesregierung Ulla Jelpke (PDS): Okay. Dann komme ich zu mei- geschehen, wenn jemand seinen Paß nicht freiwillig ab- nem letzten Punkt. – gibt? Ich denke zum Beispiel daran, daß eine junge Frau mit 21 Jahren für einen Landtag kandidiert und sich (Dr. Michael Bürsch [SPD]: Was will die noch nicht entschieden hat, welche Staatsbürgerschaft PDS?) sie annehmen will. Was passiert dann? Muß sie ihr Ein Punkt ist mir ganz besonders wichtig; den möchte Mandat abgeben? Wird sie zwangseingebürgert oder ich Ihnen hier heute noch sagen. Ich finde es falsch, daß zwangsausgebürgert? wir uns einzig und allein auf die Frage des Staatsbürger- (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Das erklärt schaftsrechts beziehen, wenn wir die Debatte führen, gleich der Innenminister!) wie Menschen integriert werden können. Es besteht die Gefahr – Sie haben selber seit 1993 heftig daran mitge- All diese Fragen sind bisher nicht beantwortet worden. wirkt, vor allen Dingen die rechte Seite in diesem Haus –, daß Rechte für Menschen ausländischer Her- (B) Ungereimtheiten gibt es aber auch in anderen Berei- (D) chen. Mit welcher Berechtigung soll es eine Übergangs- kunft abgebaut werden. Wenn wirklich gleiche Rechte regelung für Kinder bis zu zehn Jahren geben? Warum für Menschen existieren würden, die hier ihren Lebens- nicht auch für Jugendliche im Alter von 18 Jahren? mittelpunkt haben, dann – Herr Bosbach, da würde ich Ihnen recht geben – würden wahrscheinlich viele gar (Zuruf von der SPD: Das ist rückwirkend!) nicht die deutsche Staatsangehörigkeit anstreben und bei ihrer Staatsbürgerschaft bleiben. – Ich weiß, daß es rückwirkend gemeint ist. Trotzdem ist es sehr willkürlich, es erst einmal auf zehn Jahre festzu- Diese Debatte muß geführt werden und darf nicht legen. Das ist in diesem Zusammenhang doch völlig un- vernachlässigt werden. Denn nur so ist meiner Meinung begründet. Sie könnten auch 14 Jahre sagen. Erklärennach ein wirklich gleichberechtigtes Leben in diesem Sie uns einmal, warum nur ein Teil der jungen Men-Land möglich, ist der Kampf gegen Rassismus und schen, die hier geboren sind, rückwirkend die doppelte Ausländerfeindlichkeit zu führen und tatsächlich ein Staatsangehörigkeit annehmen darf! Stück Frieden in dieses Land einzubringen. Auch jetzt gibt es schon vielfach eine unerträgliche Ich danken Ihnen. Willkür in der Behördenpraxis. In diesem Zusammen- hang haben Sie denHärtefall in Ihren Entwurf aufge- (Beifall bei der PDS – Dr. Willfried Penner nommen. Ich erinnere hier an die Debatte um den § 19 [SPD]: Das war ja Rosa Luxemburg pur!) des Ausländergesetzes und frage: Was bedeutet „Härte- fall“ in Bayern, wenn eine Frau von ihrem Ehemann ge- schlagen wird und kein eigenständiges Aufenthaltsrecht Vizepräsident Rudolf Seiters: Das Wort für die hat? Muß sie halbtot geprügelt sein, oder reicht eineSPD-Fraktion hat der Kollege Sebastian Edathy. Vergewaltigung aus? All dies ist im Gesetz nicht gere- gelt worden; der Härtefall ist allgemein und nicht präzi- se formuliert. Vor allen Dingen ist er zu eng und nicht Sebastian Edathy (SPD): Herr Präsident! Meine großzügig genug gefaßt, was wiederum dazu führenDamen und Herren! Heute ist ein bedeutsames, ein wird, daß es in den verschiedenen Ländern oder auch bei wichtiges Datum. Denn was heute Gegenstand der Be- einzelnen Behörden sehr unterschiedliche Handhabun- ratung hier im Plenum des Deutschen Bundestages ist, gen geben wird. was anschließend in den zuständigen Ausschüssen diskutiert wird und worüber wir und der Bundesrat vor- Meine Damen und Herren, besonders ärgerlich istaussichtlich im Mai dieses Jahres abschließend befinden, aber die Ignoranz der Bundesregierung gegenüberist ein Reformvorhaben, dessen Bedeutung weit jenseits 2298 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999

Sebastian Edathy (A) der Tagespolitik liegt, ja dessen volle Bedeutung erst Das Funktionieren eines demokratischen Gemeinwe- (C) im Abstand von vielen Jahren zum Tragen kommensens hängt in einem erheblichen Maße davon ab, daß die wird. ihm angehörenden Menschen hinsichtlich ihrer Pflichten und hinsichtlich ihrer Rechte gleichgestellt sind. Das ist (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ keine Frage der Parteipolitik, sondern das ist die Frage, DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Guido wie ernst wir den Demokratieanspruch nehmen, und Westerwelle [F.D.P.]) zwar im Interesse aller Menschen, die in diesem Land Der vorliegende Gesetzentwurf von Kolleginnen und leben. Kollegen aus den Fraktionen der SPD, der Grünen und (Beifall bei der SPD) der F.D.P. wird zu einer zeitgemäßen Veränderung des Staatsbürgerschaftsrechts führen, die längst überfällig ist Es geht nämlich bei genauer Betrachtung nicht allein um und die zumindest auf mittlere, ganz bestimmt aber auf die, die von einer Gesetzesänderung unmittelbar betrof- lange Sicht auch zu einer Veränderung in den Köpfen, fen sein werden, sondern es geht um die Gesamtheit der zu einer Veränderung im staatsbürgerlichen Selbstver- Bevölkerung, deren Zusammenleben es zu verbessern ständnis führen wird. gilt. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Klar ist dabei – wir als Sozialdemokraten haben auch nie etwas anders behauptet –, daß Integration ein langer Nach einigen Beiträgen hier – ich denke da insbesondere Weg ist und eine Gesetzesänderung nur einen Beitrag an den Kollegen Zeitlmann – kann ich nur feststellen:dazu leisten kann, daß manche Steine, die sich auf die- Diese Veränderung in den Köpfen ist dringend nötig. sem Weg befinden, beiseite geräumt werden können. Aber wenn wir dafür sorgen, daß hier geborene und her- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ anwachsende Kinder von rechtmäßig hier lebenden DIE GRÜNEN – Wolfgang ZeitlmannAusländern mit der Geburt die deutsche Staatsbürger- [CDU/CSU]: Das hätten Sie gern!) schaft erhalten, dann räumen wir einen großen Stein auf Ich bin mir ziemlich sicher: Es wird in einigen Jahren zu diesem Weg zu einer besseren Integration beiseite, und einigem Kopfschütteln führen, wenn man das Protokoll dafür ist es höchste Zeit. von heute noch einmal daraufhin durchliest, wie klein- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE kariert man war, wie man in vielen Beiträgen nicht in GRÜNEN und der F.D.P.) der Lage war, über den Tellerrand der Tagespolitik hin- auszublicken. Ich glaube, es geht wirklich um etwas Hi- Es ist völlig widersinnig, junge Menschen, deren Le- storisches, was wir gemeinsam vorhaben und auch ge- bensmittelpunkt in diesem Land liegt – ein Land, das meinsam tragen sollten. übrigens umgekehrt auch diese jungen Menschen (B) braucht –, als Ausländer zu behandeln. (D) Die Ergänzung des Abstammungsprinzips durch die Hinzufügung des Grundsatzes, daß, wer hier geboren (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie bei wird und aufwächst, die deutsche Staatsbürgerschaft mit der F.D.P.) der Geburt erhält, wird eine historische EntscheidungSie kamen nie aus dem Ausland; sie sind im Grunde In- sein, die zeitgemäß ist und die wir dringend brauchen. länder ohne deutschen Paß. Dieser Unsinn wird – dafür Es ist höchste Zeit, daß wir die Grundlage für den Er-wollen wir mit unserem Gesetzentwurf Sorge tragen – werb der deutschen Staatsbürgerschaft und damit für die bald ein Ende finden. Erlangung demokratischer Teilhabechancen in unserer Gesellschaft verbreitern. (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.) Als Demokraten sind wir alle, unabhängig vom Par- Wir werden diesen Kindern und Jugendlichen signalisie- teibuch, gefordert, die gesellschaftliche Realität an- ren und deutlich machen, daß wir der Meinung sind, daß zuerkennen und aus ihr ohne jede ideologische Be- sie zu uns gehören und uns willkommen sind. frachtung die richtigen Schlüsse für unser Handeln zu ziehen. Dazu gehört festzustellen: Ja, es hat Zuwande- In diese Richtung gehen auch unsere Vorschläge für rung nach Deutschland in erheblichem Maße stattge-eine Verkürzung der Einbürgerungsfristen für Erwach- funden, und diese Zuwanderung hatte und hat Aus-sene. Ich will an dieser Stelle keinen Hehl aus folgendem wirkungen auf die Zusammensetzung der hier lebenden machen: Ich hätte mir gewünscht, wir könnten ein paar Bevölkerung. Schritte mehr machen, gewissermaßen ein paar Steine mehr aus dem Weg räumen. Wir wissen: Von den rund 7 Millionen Ausländerin- nen und Ausländern in Deutschland hat die Mehrheit (Ludwig Stiegler [SPD]: Schwarze Steine!) hier ihren Lebensmittelpunkt gefunden. Vor diesemIch hätte mir gewünscht, wir könnten gerade gegenüber Hintergrund müssen wir als Träger politischer Verant- denen, die vor Jahrzehnten zu uns gekommen sind und wortung handeln, indem wir mit Blick zumindest auf die die, wie auch ihre Kinder und ihre Enkel, zu unserer Ge- kommenden Jahrzehnte die Weichen dafür stellen, daß sellschaft gehören, ein noch deutlicheres Zeichen geben, kein zu großer Teil der dauerhaft hier lebenden Bevölke- daß wir sie nicht nur als Nachbarn unter uns haben wol- rung nicht zum Staatsvolk gehört. len, sondern auch als gleichberechtigte Mitbürger. (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Abg. Dr. Edzard Schmidt-Jortzig [F.D.P.]) DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999 2299

Sebastian Edathy (A) In dieser Hinsicht – das muß man so feststellen – war Sie von der Union lassen nach wie vor Unterschriften(C) das, was wir in den Koalitionsvereinbarungen festge-unter einen Text setzen, der folgenden Schlußsatz hat: schrieben haben, weitgehender und schlüssiger. Ich er- Deshalb sind wir gegen die generelle Zulassung der achte aber gleichwohl das, was sowohl wir nach den an- doppelten Staatsangehörigkeit. stehenden Beratungen mit voraussichtlich breiter Mehr- heit hier im Bundestag als auch der Bundesrat verab- (Jörg Tauss [SPD]: Lüge!) schieden werden, als alles andere als gering. Dieser Gruppengesetzentwurf ist ein echter Fortschritt. Er geht Das steht nicht zur Debatte. Hier liegt keine Initiative in die richtige Richtung. Wir beenden damit nicht zuletzt vor, die so etwas fordert. Das muß man einmal zur den jahrelangen Stillstand in diesem wichtigen Politik- Kenntnis nehmen, auch wenn es schwerfallen mag. bereich. (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei Ich möchte an dieser Stelle dem deutschen Innenmi- der F.D.P. – Erwin Marschewski [CDU/CSU]: nister ausdrücklich für die Übernahme und die Meiste- Erster Entwurf, zweiter Entwurf, dritter Ent- rung der nicht einfachen Aufgabe danken, hier die nöti- wurf, vierter Entwurf!) ge Übereinkunft herbeizuführen. – Herr Marschewski, es ist ja gut. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Wenn Sie gleichwohl an einer solch offenkundig Wolfgang Zeitlmann [CDU/CSU]: Für die gegenstandslosen Unterschriftensammlung festhalten, geistige Kehrtwendung!) dann offenbaren Sie damit, daß es Ihnen entgegen allen Beteuerungen nicht um die Sache oder sogar um Inte- Ich denke übrigens, es ist nicht entscheidend, wer von gration und Toleranz geht, wie es in Ihrem Antrag heißt, den Initiatoren des Gesetzentwurfes im einzelnen wel- sondern um wahlstrategische Interessen. chen konkreten Anteil am Zustandekommen des Ent- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ wurfes hatte. Für entscheidend halte ich vielmehr, daß es DIE GRÜNEN – Zuruf des Abg. Wolfgang gelungen ist, einen Gesetzentwurf zu formulieren, der Zeitlmann [CDU/CSU]) geeignet ist, die Gestaltung des Zusammenlebens der Menschen in diesem Land zu verbessern. Herr Kollege Zeitlmann – Sie schreien gerade dazwi- schen –, Sie haben zu Beginn dieses Jahres ein Papier Ich bin in diesen Bundestag nicht eingezogen, umerstellt, in dem es unter anderem heißt – ich zitiere –: Gesetze zu beschließen, damit Gesetze beschlossen wer- Die rotgrünen Pläne zum Staatsbürgerschaftsrecht be- den, sondern um Gesetze zu beschließen, damit wir die reiten den Nährboden für Volksverhetzung. (B) konkrete Lebenswirklichkeit in einem positiven Sinne (D) mitgestalten können. Das sollten wir auch tun. (Zurufe von der SPD: Oh!) Herr Kollege Zeitlmann, nach der Lektüre dieses Satzes (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ – das war im Januar dieses Jahres – bin ich eigentlich DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Edzard nicht davon ausgegangen, daß das, was Sie hier formu- Schmidt-Jortzig [F.D.P.]) liert haben, eine Art Selbstaufforderung an die Union Nun liegt uns heute neben dem Gesetzentwurf vonsein sollte. Abgeordneten aus SPD, Bündnis 90/Die Grünen und (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten F.D.P. auch ein Gesetzentwurf der Union vor, nebst des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) zwei Anträgen. Einer davon trägt den Titel „Integration und Toleranz“. Ihr Beitrag von heute morgen läßt mich daran zweifeln, ob das, was Sie dort geschrieben haben, nicht doch eine (Jörg Tauss [SPD]: Heuchelei!) interne Signalwirkung entfaltet hat. Meine Damen und Herren von CDU und CSU, maßgeb- Sie haben in den vergangenen Wochen und Monaten liche Vertreter Ihrer beiden Parteien haben auch in den für das Linsengericht eines vermeintlichen parteipoliti- letzten Tagen erklärt, dieUnterschriftenkampagne schen Vorteils einen Konsens aufgekündigt, der darin gegen die generelle Hinnahme des Entstehens vonbestand, zum Beispiel ein so komplexes Thema wie die Mehrstaatigkeit solle fortgesetzt werden. Fortentwicklung des Staatsbürgerschaftsrechts angemes- sen und mit der nötigen Sorgfalt und Sensibilität zu be- (Jörg Tauss [SPD]: Pfui!) handeln. Es hätte meines Erachtens einem Mindestmaß anIch bin immer davon ausgegangen, daß es unabhän- Anstand und Redlichkeit entsprochen, wenn Sie spä-gig von der Parteizugehörigkeit so etwas wie testens zum heutigen Tag, an dem wir über den Ge- (Zuruf von der SPD: Anstand!) setzentwurf der Gruppe beraten, diese Kampagne be- endet hätten, weil sie schlichtweg gegenstandslos ge-ein gemeinsames Selbstverständnis aller Demokraten worden ist. gibt, daß es eine unstrittige Aufgabe ist, Ängste und Vorbehalte in der Bevölkerung ernst zu nehmen, zu be- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ rücksichtigen und dort, wo sie unbegründet sind, zu ent- DIE GRÜNEN) kräften. Aber Sie, meine Damen und Herren von der 2300 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999

Sebastian Edathy (A) Union, haben Ängste und Vorbehalte bei den Bürgern Sinne des Grundgesetzes zu handeln, indem wir ein auf- (C) geschürt, indem Sie das Thema unzulässig verzerrt bzw. geklärtes, ein zeitgemäßes Staatsbürgerschaftsrecht be- verfälscht haben. schließen. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Dann haben Sie die Menschen, nachdem Sie deren DIE GRÜNEN) Ängste geweckt und instrumentalisiert haben, mit ihren Ängsten allein gelassen. Damit haben Sie dem inneren Frieden dieses Landes und dem gesellschaftlichen Klima Vizepräsident Rudolf Seiters: Ausweislich des bewußt und willentlich Schaden zugefügt. Protokolls hat die Kollegin Renate Rennebach nach der Rede des Kollegen Zeitlmann einen Zwischenruf ge- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ macht, der unparlamentarisch ist und den ich rügen muß. DIE GRÜNEN) Das gibt mir Gelegenheit, darum zu bitten, daß wir Das ist nach meinem Dafürhalten einer demokratischen uns – das ist an alle Seiten des Hauses gerichtet – in den Partei völlig unwürdig. Formulierungen bezüglich dieses wichtigen und sensi- blen Themas ein wenig mäßigen. Herr Rüttgers, ich habe gesehen, daß Sie heute noch hier sprechen werden: Beenden Sie Ihre Taktik des Ich gebe nunmehr dem Innenminister des Landes Ba- Verhetzens und Verletzens der Menschen in diesemden-Württemberg, Dr. Thomas Schäuble, das Wort. Land! (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Jetzt reicht Dr. Thomas Schäuble, Minister (Baden Württem- es aber langsam!) berg): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich zu Beginn feststellen: Die meisten Stellen Sie hier und heute klar, daß Ihre Unterschrif- ausländischen Menschen – jedenfalls sehr viele –, von tenaktion sofort beendet wird! denen bisher in dieser Debatte die Rede war, haben schon heute Anspruch darauf, die deutsche Staatsange- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ hörigkeit zu erwerben, wenn sie es nur wollten und da- DIE GRÜNEN) bei die ererbte Staatsangehörigkeit aufgeben würden. Der von Ihnen an diesem Tag kurzfristig vorgelegte (Beifall bei der CDU/CSU) Gesetzentwurf erfüllt nicht zuletzt die Funktion eines Alibis. Sie tun so, als seien Sie in dem heute behandel- Dies muß man immer wieder sagen, damit hier nicht ein (B) (D) ten Feld politikfähig. Sie sind es nicht. Sie sind allenfalls künstliches Mißverständnis aufgebaut wird. kampagnefähig und mehr nicht. Nach jahrelanger Untä- tigkeit bzw. Verweigerungshaltung, was die Fortent- (Jörg Tauss [SPD]: Wer baut denn hier?) wicklung des Staatsbürgerschaftsrechts betrifft, bleiben Nun finde ich den Grundgedanken der F.D.P. im Ihre jetzt gemachten Vorschläge hinter dem, was erfor- Prinzip sympathisch: Für eine gewisse Zeit wäre die derlich ist, weit zurück. Die Zusicherung des ErwerbsMehrstaatigkeit nicht schlecht, um die jungen Menschen der deutschen Staatsbürgerschaft für Kinder von Aus-emotional stärker für Deutschland einzunehmen. Aber ländern ist völlig ungenügend. das Problem ist: Es kann nicht funktionieren. Deshalb muß man schon zwischen den Motiven der F.D.P. und Ich möchte Sie ermuntern, die Schlußabstimmung den Motiven von Rotgrün unterscheiden. freizugeben. – Mir wird signalisiert, daß ich zum Ende kommen muß. Herr Präsident, ich komme zu den letzten (Jörg Tauss [SPD]: Oder von Ihnen!) wenigen Absätzen. Bei aller Kritik an dieser Bundesregierung muß man (Heiterkeit bei der SPD) ihr eines zugeben: Sie bleibt sich – jedenfalls war das in der kurzen Zeit bisher der Fall – selbst treu; für jedes – Es sind ganz kurze Absätze. wichtige Vorhaben braucht sie etliche Anläufe. Im Janu- Liebe Kolleginnen und Kollegen, in wenigen Mona- ar gab es den Entwurf „Schily 1“, vor wenigen Wochen ten nimmt das deutsche Parlament seine Arbeit in Berlin kam „Schily 2“, und vor wenigen Tagen haben Sie den auf. Noch vorher, voraussichtlich im Mai, werden Bun- heute zur Beratung anstehenden Gesetzentwurf vorge- destag und Bundesrat über die Reform des Staatsbürger- legt. Eine Steigerung im Sinne einer grundlegenden schaftsrechts entscheiden. Im Mai werden wir auch auf Besserung ist nicht zu erkennen. Der entscheidende das 50jährige Bestehen desGrundgesetzes zurück- Punkt ist: Rotgrün – ich spreche nicht von der F.D.P. – blicken, dessen Bedeutung für die Teilhabe der Bürge- will nach wie vor die generelle doppelte Staatsangehö- rinnen und Bürger am demokratischen Leben völlig un- rigkeit auf Dauer. Das kam expressis verbis vorhin auch strittig ist. Das werden wir entsprechend würdigen, und im Beitrag der Abgeordneten Müller zum Ausdruck. das ist gut so. (Beifall bei der CDU/CSU) Aber wir werden im Mai nicht nur die Gelegenheit Der wesentliche Punkt meines Vorwurfes ist: Rotgrün haben, über das Grundgesetz zu sprechen. Wir werden will nach wie vor die Bevölkerung täuschen, wenn Sie im Mai hier in diesem Haus auch Gelegenheit haben, im sagen, Sie seien zu einemKompromiß – welcher Art Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999 2301

Minister Dr. Thomas Schäuble (Baden-Württemberg) (A) auch immer und warum auch immer – bereit. tungspraktischen Das Gründen scheitern, wenn Sie nicht, um (C) stimmt nicht. Denn daß Sie andere Absichten haben,es verfassungsrechtlich wirklich wasserdicht zu machen, wird daran deutlich, daß schon heute ganz unverhohlen einen riesigen Verwaltungsaufwand in Kauf nehmen. gesagt wird, der jetzige Kompromiß sei natürlich nicht Sie müssen nämlich mit großem Aufwand feststellen, der letzte Schritt. welche der jungen Menschen, die 18 Jahre sind, op- tionspflichtig sind. Sie müssen bei den Optionspflich- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/ tigen nachfragen. Sie müssen die Erklärungen werten. DIE GRÜNEN]: So ist es!) Dann werden Anträge auf Beibehaltung der doppelten Noch wichtiger ist für mich persönlich die Tatsache –Staatsangehörigkeit kommen, und zwar in großer Zahl. darin kommt die von Rotgrün beabsichtigte Tarnung, die Das wird erneut Verwaltungsverfahren auslösen. Am Täuschung noch deutlicher zum Ausdruck –, Schluß werden wir eine Zahl von verwaltungsgericht- lichen Verfahren bekommen, die mindestens so groß ist (Dr. Michael Bürsch [SPD]: Na, na, na!) wie die vor der Grundgesetzänderung im Zusammen- hang mit dem Asylrecht. daß Sie wissen müßten: Der jetzt vorliegende Gesetz- entwurf, dieses Optionsmodell, wird eben nicht nur zu (Beifall bei der CDU/CSU) einer zeitlich beschränkten, sondern zu einer dauerhaften doppelten Statsangehörigkeit führen. Das ist der Kern Der Verwaltungsaufwand wird also exorbitant sein. meines Vorwurfs. Ich stelle mir das entsprechende Gesetzblatt vor. Da steht dann unter Buchstabe D: Kosten: keine. – Aber die (Beifall bei der CDU/CSU – Jörg Tauss Länder werden gezwungen sein, einen großen bürokrati- [SPD]: Wie bei Otto von Habsburg!) schen Apparat aufzubauen, um die mit diesem Gesetz verbundenen Folgen für die Verwaltung zu bewältigen. Warum ist das so? – Rotgrün hat bisher selbst immer Ich habe mir nicht vorgestellt, die Arbeitslosigkeit da- die verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die zeitliche durch zu verringern, daß wir immer noch größere Büro- Beschränkung der doppelten, sprich: gegen den Verlust kratien aufbauen. der deutschen Staatsangehörigkeit herausgestellt. (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Michael (Zuruf von der SPD: Die sind doch ausge- Bürsch [SPD]: Zyniker!) räumt!) Im übrigen: Es glaubt wohl niemand, man könne Jetzt plötzlich werden die Bedenken – und die sind eben Hunderttausenden von jungen Menschen nach mehr als nicht ausgeräumt – verschwiegen. 20 Jahren die deutsche Staatsangehörigkeit wegnehmen, (Dr. Michael Bürsch [SPD]: Hören Sie den wenn sie nicht auf ihre ererbte verzichten. Es gibt zahl- (B) Beitrag der Kollegin Lambrecht!) lose Beispiele dafür – viele sind in der Öffentlichkeit(D) auch schon genannt worden –, zu welchen innenpoliti- Angesichts des Beitrages der Abgeordneten Müller frage schen Verwerfungen dies zwangsläufig führen würde. ich mich: Was sind die Grünen noch alles zu tun bereit, Wir sollten sie uns wirklich ersparen. um an der Regierung bleiben zu können? Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der SPD- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Fraktion, wenn es wirklich so käme, daß einem die deut- Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.]: Da ist was sche Staatsangehörigkeit nach mehr als 20 Jahren weg- dran!) genommen werden könnte, dann muß ich sagen: Inte- grationspolitisch wäre dies wirklich die größte Absur- Um diese vorgetäuschte Kompromißbereitschaft letzt- dität. Das muß man auch feststellen. lich nicht auf ihre Echtheit kritisch hinterfragen zu müs- sen, gehen Sie plötzlich auf wundersame Weise selbst (Beifall bei der CDU/CSU) von der Verfassungsmäßigkeit des Optionsmodells aus, Ich gehe davon aus: Dies alles ist nicht nur uns be- entgegen Ihrer bisherigen Aussage. kannt; das ist auch Ihnen bestens bekannt. Daher mein (Dr. Michael Bürsch [SPD]: Professor Scholz harter Vorwurf: Es geht Ihnen nicht um einen Kompro- ja auch!) miß; vielmehr wollen Sie die besorgte Bevölkerung mit einem Placebo beruhigen. Das ist die Wahrheit. – Moment, Sie verwechseln eines: Ich habe damit die Frage der verfassungsrechtlichen Problematik überhaupt (Beifall bei der CDU/CSU) nicht angesprochen, sondern nur gesagt, daß RotgrünDabei setzen Sie darauf, daß die Folgen, nämlich die bisher der Auffassung war, die Regelung sei verfas-dauerhafte doppelte Staatsangehörigkeit, erst in vielen sungswidrig, und jetzt aus sehr durchsichtigen Gründen Jahren – frühestens in 13 Jahren, bei denjenigen, die erst plötzlich die Meinung geändert hat. Das war meine Aus- noch geboren werden, frühestens in 23 Jahren – sichtbar sage. werden und daß sich nach so langer Zeit niemand mehr (Beifall bei der CDU/CSU) gegen die bekannte normative Kraft des Faktischen weh- ren kann. Bei der Art und Weise, in der Sie vorgehen, Darüber hinaus wissen Sie ganz genau – falls Sie es vom Entwurf Schily 1 über Schily 2 bis Schily 3 – ich nicht wissen, lassen Sie es sich von einem Mann sagen, weiß nicht, wie der dritte Entwurf heißt –, drängt sich der als Landesminister für die Verwaltung Verantwor- einem das bekannte Zitat von William Shakespeare aus tung trägt –: Dieses Optionsmodell muß aus verwal-„Hamlet“ förmlich auf: Ist es schon Wahnsinn, hat es 2302 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999

Minister Dr. Thomas Schäuble (Baden-Württemberg) (A) doch Methode. Das ist wahr, meine sehr verehrten Da- Richtig ist aber auch, daß die jungen Ausländer in er- (C) men und Herren. heblich stärkerem Maße kriminalitätsbelastet sind als die jungen Deutschen. Es geht nicht nur darum, daß jemand (Beifall bei der CDU/CSU) vielleicht auch auf Grund Integrationsschwierigkeiten Weil das alles nicht ehrlich gemeint ist, müssen wir einmal zum Sünder wird und daß sich dann dies wieder unsere Informations- und Unterschriftenaktion wei- irgendwo auslebt. terführen, Wir haben in Baden-Württemberg – ich empfehle, (Lachen bei Abgeordneten der SPD) das in allen Bundesländern zu tun – vor wenigen Wo- chen kreisweit einmal die jugendlichen Intensivstraftä- um die Bevölkerung vor solchen Roßtäuschereien zuter erfaßt, also diejenigen, die mehr als 20 Straftaten be- bewahren. gangen haben. Da beträgt – das muß man schon deutlich (Beifall bei der CDU/CSU – Jörg Tauss sagen – der Ausländeranteil allerdings über 40 Prozent. [SPD]: Wir wollen Otto von Habsburg inte- (Ludwig Stiegler [SPD]: Das ist das Erbe Ihrer grieren!) bisherigen Integrationspolitik!) Uns war von Anfang an klar, daß wir mit den üblichen Sie haben vorhin die jungen Leute bei der PKK ange- Argumenten der sogenannten „political correctness“sprochen. Ich sehe es für richtig an, daß man sich be- usw. zu schlechten Menschen gemacht werden sollen. müht, sie aus diesem Getto herauszuholen. Aber man Ich sage Ihnen folgendes – auch nach den Beiträgen, kann mir nicht erzählen, daß diese jungen fanatisierten die ich heute gehört habe –: Wir hätten unsere PflichtMenschen bei den gewalttätigen Demonstrationen der nicht wahrgenommen, wenn wir der Bevölkerung ausPKK nicht mitgemacht hätten, wenn sie die deutsche Feigheit nicht die Wahrheit gesagt hätten. Das ist derStaatsangehörigkeit gehabt hätten. Das zu glauben ist Punkt. nun völlig naiv. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU) Wenn Sie uns wegen der Unterschriftenaktion angrei- Bei jungen Menschen ist die Ausweisung und erst recht fen, dann zeigen Sie zum einen, daß Sie Angst davordie Abschiebung die Ultima ratio, die auch nur in weni- haben, und zum anderen verwechseln Sie Ursache mit gen Ausnahmefällen überhaupt Platz greifen kann. Aber Wirkung, denn Sie mit Ihren Vorschlägen, die auf einen eines muß klar sein: Ausweisung und Abschiebung wä- Irrweg führen, sind die Ursache für diese Situation. ren bei dieser Gruppe dann kein Thema mehr. (Beifall bei der CDU/CSU) Beim Thema „Erwerb der Staatsangehörigkeit durch (B) Geburt“ möchte ich noch einen anderen Punkt anspre-(D) Ich muß, weil das ThemaStraftäter die Diskussion chen. Wenn ich es richtig sehe – ich habe den Entwurf etwas geprägt hat, einige Sätze dazu sagen. Eines muß erst vor wenigen Tagen bekommen; diese kurze Zeit dabei ganz deutlich gesagt werden: Wenn die deutsche macht es nicht gerade einfach –, können die jungen Staatsangehörigkeit durch Geburt erworben wird, dann Leute, die die deutsche Staatsangehörigkeit durch Ge- können junge Menschen oder auch Erwachsene, die die burt erwerben, ins Ausland oder zum Beispiel in die deutsche Staatsangehörigkeit auf diesem Weg erworben Heimat ihrer Eltern gehen und ohne deutsche Sprach- haben, nicht mehr ausgewiesen und abgeschoben wer- und Schulkenntnisse usw. irgendwann jedenfalls bis den. Man kann es so wollen, aber man darf diesen Um- zum 18. oder 23. Lebensjahr wieder nach Deutschland stand nicht verschweigen. zurückkehren und die deutsche Staatsangehörigkeit, (Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/ wenn sie sich für sie entscheiden und dies erfolgreich DIE GRÜNEN]: Mit deutschen Kindern wird ist, behalten. Integrationspolitisch halte ich dies für es auch nicht gemacht!) einen völligen Irrweg. Sie haben vorhin die Statistik ein bißchen hin- und (Sebastian Edathy [SPD]: Argumente aus Ab- hergewendet. Ich kann es Ihnen ganz genau sagen, surdistan! – Zuruf des Abg. Ludwig Stiegler denn ich bin permanent damit befaßt. Zu Recht ist ge- [SPD]) sagt worden – auch Kollege Zeitlmann hat es mehr-– Vielleicht habe ich Ihren Gesetzentwurf gründlicher fach betont –, die ausländische Mitbevölkerung, die seit gelesen als Sie. vielen Jahren da ist, die sogenannten Gastarbeiter sind nicht in höherem Maße kriminalitätsbelastet als die (Ludwig Stiegler [SPD]: Das ist ein Irrtum! übrige Bevölkerung. Das ist schlicht und ergreifend Dann könnten Sie nicht so daherreden!) richtig. Das alles ist nicht die Art Integration, die wir uns vor- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) stellen. Ich glaube, sie sind sogar etwas geringfügiger krimina- Demgegenüber – das müssen Sie sich einfach deut- litätsbelastet. lich sagen lassen – vermeidet die von uns vorgeschlage- ne Einbürgerungszusicherung alle diese Nachteile des (Ludwig Stiegler [SPD]: So ist es! – Dr. Mi- Optionsmodells, ohne daß sie für die jungen Leute ihrer- chael Bürsch [SPD]: Schön, daß das einmal seits mit irgendeinem Nachteil verbunden wäre, mit klargestellt wird!) Ausnahme des Wahlrechts, aber das haben sie vor dem Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999 2303

Minister Dr. Thomas Schäuble (Baden-Württemberg) (A) 18. Lebensjahr sowieso nicht. Insofern gibt es keinenlich erhöht. Das ist für Baden-Württemberg die Wahr-(C) vernünftigen Grund, gegen diese Einbürgerungszusiche- heit. rung zu sein. (Beifall bei der CDU/CSU) Abgesehen von dem Irrglauben an das Optionsmodell Wenn ich sage, wir müssen die jungen Menschen enthält der Gesetzentwurf von Rotgrün und der F.D.P. fördern, dann verbinde ich damit, daß wir sie gleichzei- überhaupt nichts zum Thema der tatsächlichen Integrati- tig fordern müssen. Das hat eine praktische Konsequenz on. Demgegenüber gehen wir hinsichtlich der Integrati- für die Integrationsarbeit, die nach meiner Überzeugung on der jungen ausländischen Mitbürgerinnen und Mit- in der Zukunft dringend verstärkt werden muß. In con- bürger von einem klaren Leitsatz aus. Eines muß klarge- creto bedeutet das: Wenn wir Angebote zur Integration stellt sein: Sie müssen gefördert werden; aber wir dürfen machen und wenn diese Angebote nicht angenommen nicht nur fördern, wir müssen auch fordern. werden, dann kann das nicht einfach folgenlos bleiben, (Beifall bei der CDU/CSU) sondern muß gewisse Konsequenzen haben. Wenn die jungen Ausländer zum Beispiel finanzielle Leistungen Vielleicht wäre es gar keine schlechte Überlegung für beziehen, aber Integrationsangebote wie Sprachkurse dieses Hohe Haus, einmal dieIntegrationsarbeit der usw. nicht annehmen, dann muß man darüber nachden- 16 Bundesländer zu vergleichen. ken – und auch entsprechend handeln –, die finanziellen (V o r s i t z : Vizepräsidentin Petra Bläss) Leistungen einzuschränken. Soweit ich es übersehen kann, geschieht bei dem Thema Ich bin der Auffassung, daß auch bei dem Thema Er- Integration schon viel. Zugegebenermaßen kann manteilung einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis bis hin das alles – Bildungsangebot, Sprachkenntnisse, Schule, zur Erteilung einer Aufenthaltsberechtigung die Erfor- Ausbildung, gesellschaftliche Integration – noch stei-dernisse einer nachweisbar geleisteten Integration noch gern. wesentlich stärker betont werden müssen, als das heute im Ausländergesetz verankert ist. Allerdings darf eines (Jörg Tauss [SPD]: Baden-Württemberg nicht eintreten, nämlich daß es künftig leichter wird, die schränkt die Angebote doch gerade ein! Mit- deutsche Staatsangehörigkeit zu erwerben, als eine un- telkürzung!) befristete Aufenthaltserlaubnis oder eine Aufenthaltsbe- Bevor Sie einfach hineinschreien, bitte ich Sie, sich ein rechtigung zu erhalten. Das wäre ein völlig fataler Irr- klein wenig sachkundig zu machen. Baden-Württemberg weg. hat zum Beispiel die Mittel für die Sprachförderung in (Beifall bei der CDU/CSU) ganz erheblichem Umfang verstärkt, weil wir der Mei- Man muß, weil unsere Bevölkerung das erwartet, mit (B) nung sind, daß die deutsche Sprache das A und O für die (D) Integration der jungen Menschen ist. unseren Bürgerinnen und Bürgern ganz deutlich darüber sprechen, daß es natürlich Grenzen der Integrationsfä- (Beifall bei der CDU/CSU) higkeit gibt, zum Beispiel was die Zahl der Menschen angeht, die bei uns integriert werden können. Wenn die Zahl zu groß wird, muß die Integration scheitern. Des- Gestatten Sie eine Vizepräsidentin Petra Bläss: halb müssen wir gemeinsam darüber nachdenken, wie Zwischenfrage des Kollegen Tauss? wir eine verantwortbare Zuzugsbegrenzung erhalten. (Zurufe von der CDU/CSU: Nein!) Der nächste Punkt ist für die Integration von heraus- ragender praktischer Bedeutung. Ich bin hundertprozen- Dr. Thomas Schäuble, Minister (Baden-Württem- tig dafür, daß wir dasNachzugsalter der jungen Men- berg): Gerne. schen – also den Zeitpunkt, bis zu dem sie nach Deutschland kommen müssen – absenken müssen. Das Alter von 16 Jahren ist schlicht und ergreifend zu hoch. Jörg Tauss (SPD): Herr Minister, darf ich Sie fra- Wer erst mit 16 Jahren nach Deutschland kommt, wird gen, ob Ihnen bekannt ist, daß in Baden-Württembergdas deutsche Bildungssystem in der Regel nicht mehr gerade in dem Bereich der Integration von Ausländern mit Erfolg durchlaufen können. Damit ist der ganze fa- die Mittel überproportional gekürzt worden sind, so daß tale Weg vorgegeben: Er wird auch keinen Ausbil- die Verbände – zum Beispiel die Arbeiterwohlfahrt – im dungsplatz erhalten. Er wird zum Schluß in der Ar- Moment gezwungen sind, Sozialarbeiter, die in Baden- beitslosigkeit und in der Sozialhilfe enden. Deshalb muß Württemberg bisher die Ausländerbetreuung gemachtdas Nachzugsalter auf zehn Jahre gesenkt werden. haben, zu entlassen, und daß die Integrationsbemühun- gen in vielen Bereichen auf Null geführt worden sind? (Beifall bei der CDU/CSU) Darf ich Sie zu mir nach Karlsruhe-Land einladen, um Wir brauchen bessere Möglichkeiten, umausländi- diese Situation einmal vor Ort zu besichtigen? sche Straftäter leichter auszuweisen und abzuschieben. Das ist ein Grundanliegen der überwältigenden Mehrheit unserer Bevölkerung. Das liegt auch im Interesse der Dr. Thomas Schäuble, Minister (Baden-Württem- überragenden Mehrheit der anständigen Ausländer. berg): Darf ich als Innenminister Sie darauf aufmerksam machen, daß das Kabinett erst vor wenigen Monaten ei- (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE ne Vorlage meines Hauses beschlossen hat. Mit dieser GRÜNEN]: Sie sind jedenfalls kein anstän- Vorlage wurden die Mittel zur Sprachförderung erheb- diger Inländer!) 2304 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999

Minister Dr. Thomas Schäuble (Baden-Württemberg) (A) Es ist doch auch ein Anliegen vieler von Ihnen, daß die den soll. Der hier vorgelegte Entwurf eines Gesetzes zur (C) schwarzen Schafe stärker als bisher ausgewiesen undReform des Staatsangehörigkeitsrechts umfaßt auch das abgeschoben werden. Paßgesetz. Aber Sie haben gesagt, daß es hier eine ähn- liche Vergrößerung des Verwaltungsaufwandes wie Ich stelle fest: Sie haben aus den Fehlern der Hessen- schon nach der Änderung des Art. 16 a des Grundgeset- Wahl nichts gelernt. Mit Ihrer Mehrheit laufen Sie jetzt zes geben wird. Gefahr, den Boden für eine Entwicklung zu bereiten, die unabsehbare Folgen haben wird und für die Sie die Ver- (Minister Dr. Thomas Schäuble [Baden- antwortung tragen. Für unsere Republik wäre es besser, Württemberg]: Vorher!) wenn Sie sich sachlich und nicht polemisch mit unseren Argumenten auseinandersetzten. – Entschuldigung, „vorher“. Dann nehme ich das zu- rück. – Ich glaube, wir sind uns darüber einig, daß die (Zurufe von der SPD: Oh!) letzte Änderung unter dem Strich sehr sinnvoll gewesen Unsere Argumente – das wissen Sie ganz genau; deshalb ist und zu guten Ergebnissen geführt hat. haben Sie Angst – werden von einer großen Mehrheit Des weiteren haben Sie ausgeführt, daß das vorlie- der Bevölkerung mitgetragen. Noch ist es nicht zu spät gende Gesetz nur der erste Schritt sei. Ich möchte darauf für Sie, dies zu erkennen. Nutzen Sie die Zeit, die Siehinweisen, daß es auch für die F.D.P. eine wichtige Ge- noch haben! schäftsgrundlage gewesen ist, daß der Bundesinnenmi- Danke schön. nister in dieser Woche noch einmal öffentlich erklärt hat, mit dem vorliegenden Gruppenantrag sei die Ände- (Beifall bei der CDU/CSU) rung der Staatsangehörigkeit für diese Legislaturperiode vom Tisch. – Daß er nur für diese Legislaturperiode sprechen kann, halte ich für normal; denn es ist auch un- Vizepräsidentin Petra Bläss: Zu einer Kurzinter- vention erteile ich das Wort dem Kollegen Dr. Guidoser Ziel, daß Rotgrün nach dieser Legislaturperiode Westerwelle, F.D.P. nicht mehr regiert. (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) Dr. Guido Westerwelle (F.D.P.): Herr Minister, da Ferner haben Sie von einem Placebo gesprochen, das Sie in Ihrer Rede mehrfach auf mich, die F.D.P. und vor in unserem Gruppenantrag enthalten sei. allen Dingen auch auf die Unterschriftenaktion Bezug genommen haben, habe ich mir erlaubt, mich zu einer (Zuruf des Ministers Dr. Thomas Schäuble Kurzintervention zu melden. [Baden-Württemberg]) (B) Wenn Sie als Landesminister von „unserer Unter-– Sie haben wörtlich das Wort „Placebo“ verwendet. – (D) schriftenaktion“ sprechen, dann gehe ich fest davon aus, Herr Staatsminister, darf ich Sie darauf aufmerksam ma- daß Sie damit die Unterschriftenaktion der CDU/CSU chen, daß die Einbürgerungszusicherung, die jetzt von meinen; denn daß die baden-württembergische Landes- der Union beantragt wird, das eigentliche Placebo ist; regierung, der auch die F.D.P. angehört, dieser Unter- denn die Einbürgerungszusicherung ändert gegenüber schriftenaktion zugestimmt hat bzw. sie gegen unseren der bisherigen Rechtslage nichts. Gruppenantrag fortsetzen will, ist mir bis heute verbor- gen geblieben. Sie als Prädikatsjurist wissen, daß in § 85 Ausländer- gesetz bereits das enthalten ist, was auch im Antrag der (Beifall bei der F.D.P. und der SPD sowie bei Union gefordert wird, und zwar Punkt für Punkt. Die Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE Einbürgerungszusicherung ist das eigentliche Placebo, GRÜNEN und der PDS – Widerspruch bei der weil sie nicht nur die Aufgabe, die hier geborenen Kin- CDU/CSU) der zu integrieren, nicht löst, sondern auch nichts ande- Man muß das noch einmal klarstellen, liebe Kolleginnen res tut, als die bisherige Rechtslage fortzuschreiben. und Kollegen. (Beifall des Abg. Jürgen Koppelin [F.D.P.]) Herr Minister, da wir uns heute auf einem hohen lite- Schließlich bitte ich Sie um eines: Den von mir gege- rarischen Niveau bewegen, möchte auch ich ein Zitatbenen Hinweis auf diePKK können Sie gar nicht so dazu beitragen: „Durch Heftigkeit ersetzt der Irrende,mißverstanden haben, wie es Ihre Äußerung vermittelt was ihm an Wahrheit … fehlt!“ hat. Ich habe doch nicht davon gesprochen, daß irgend- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten einer der fanatisierten, fundamentalisierten Jugend- der PDS) lichen, die heute Krawall machen, das mit einem deut- schen Paß nicht täten. Ich habe nur gesagt: Wer möchte, Ich möchte eine weitere Bemerkung zu dem machen, daß die in Deutschland geborenen Kinder nicht fanati- was Sie über denVerwaltungsmehraufwand gesagt siert, nicht fundamentalisiert und nicht gettoisiert wer- haben. Sie haben hier starke Argumente angeführt, die den, der sollte alles dafür tun, daß sie integriert in unse- ich aufgreifen möchte. Sie haben gesagt, der Verwal-rer Gesellschaft groß werden. tungsaufwand werde sehr viel größer werden. Ich schät- ze das nicht so ein, weil der ausländische Bürger genau- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- so wie jeder andere Bürger für die Verlängerung seines ten der SPD und des BÜNDNISSES 90/ Passes selber sorgen muß, wenn er nicht ungültig wer- DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999 2305

(A) Vizepräsidentin Petra Bläss: Zu einer zweiten Ich begrüße es ausdrücklich, daß wir dieses sensible (C) Kurzintervention erteile ich das Wort der Kollegin Dr. Thema heute morgen in dieses Haus zurückgeholt ha- Angelika Köster-Loßack, Bündnis 90/Die Grünen. ben. Das Thema Ausländereinbürgerung gehört nicht auf die Straße. Auch wenn Sie hier heute noch einmal betont haben, die Unterschriftenaktion weiterführen zu wol- Dr. Angelika Köster-Loßack (BÜNDNIS 90/DIE len, möchte ich an Sie appellieren, ja ich möchte Sie so- GRÜNEN): Herr Innenminister Schäuble, als Abgeord- gar wegen des Friedens im Lande bitten: Stellen Sie die- nete aus Heidelberg, die mit den Verhältnissen in Ba-se Unterschriftenaktion ein! den-Württemberg recht gut vertraut ist, frage ich Sie, ob Sie das Buch von George Orwell „1984“ gelesen haben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wenn nicht, dann lesen Sie es! Wenn Sie es schon gele- sowie bei Abgeordneten der SPD) sen haben, dann lesen Sie es noch einmal! Bei Ihrem Ich sage das nicht deswegen, weil uns die Unter- „newspeak“ heißt „Verhetzung“ „Aufklärung“, undschriftenaktion parteipolitisch geschadet hätte, sondern „Ausgrenzung“ heißt „Integration“. Ich glaube, daß das, weil wir wissen, daß auf dem Boden von Verunsiche- was Sie in Ihrer Rede vorgetragen haben, wirklich ein rung, von Verängstigung, auch von Ablehnung gegen- schreckliches Beispiel für das ist, was Orwell in seinem über den Fremden und dem Fremden Stimmungen ent- Buch beschrieben hat. stehen und Geister aus der Flasche geraten, die wieder (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einzufangen wir alle uns gemeinsam bemühen müssen. sowie bei Abgeordneten der SPD) Man kann so keine Politik machen. Wir haben die Ver- antwortung dafür, daß diese Stimmungen in der Bevöl- kerung, die, wie wir alle wissen, rudimentär vorhanden Vizepräsidentin Petra Bläss: Herr Innenminister, sind, nicht durch Stichworte, die aus der Politik gegeben möchten Sie darauf etwas erwidern? – Nein, er machtwerden, weitere Nahrung bekommen. davon keinen Gebrauch. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ich erteile das Wort für die Fraktion Bündnis 90/Die und bei der SPD – Wolfgang Zeitlmann Grünen der Abgeordneten Marieluise Beck. [CDU/CSU]: Ursache und Wirkung!) Aus den Reihen der CDU ist eine sehr kluge und be- Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIEsonnene Kollegin als Ausländerbeauftragte in Berlin GRÜNEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Her- tätig. Sie schildert genau wie ich, daß ihr aus den Mi- ren! Die erste zentrale Frage, die hinter der Debatte über granten- und Ausländerverbänden nahegelegt wird, alles das Staatsbürgerschaftsrecht und das Ausländergesetzdaranzusetzen, daß diese Unterschriftenaktion aufhört, (B) steht, ist, ob wir Kinder, die in diesem Land geboren (D) werden, mit ihrer Geburt tatsächlich zu deutschen Bür- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gern dieses Landes machen wollen. und bei der SPD) (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Mit 23 weil die Ausländer diejenigen sind, die den Stim- weg!) mungswechsel zu spüren bekommen, und nicht die rot- grüne Koalition. Wir können damit leben, wenn es Die zweite zentrale Frage ist, ob wir diejenigen Men- schlechte Stimmung gegen uns gibt. Das auszuhalten schen, die schon seit Jahren hier leben, die zum Wohl- gehört bei Parteien dazu. Es geht um Menschen, die die- stand des Volkes mit beitragen, die oft sogar se die Stimmungen zu spüren bekommen. Das können Sie Drecksarbeit erledigen – auch das muß deutlich gesagt nicht wollen. Ich bitte Sie noch einmal: Gehen Sie her- werden –, einbürgern wollen, ob wir ein Interesse daran unter von der Straße, kehren Sie zurück ins Parlament! haben, sie zu gleichberechtigten Bürgerinnen und Bür- Hierhin gehört die Auseinandersetzung. gern zu machen oder ob wir unsere Gesetze lieber so stricken, daß diese Menschen den Weg in die Ein- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bürgerung auf Grund zu hoher Hürden nicht gehen und bei der SPD) können oder nicht gehen wollen. Um diese beiden Fra- Sonst müssen Sie die Verantwortung dafür überneh- gen geht es. men, daß ein gesellschaftliches Klima entsteht, in dem nicht Integration und Toleranz, wie Sie in Ihrem Antrag Wie soll unsere Gesellschaft also aussehen, was für sagen, vorangetrieben werden. Wir haben viel Fremden- ein Gesicht soll sie haben? Nehmen wir die Herausfor- feindlichkeit in diesem Land. In den östlichen Bundes- derung an, daß Deutschland – ob wir es gewollt haben ländern bemühen sich viele Menschen im Sinne von oder nicht – im Laufe der vergangenen Jahrzehnte zu ei- Weltoffenheit und Toleranz, etwas den sich radikalisie- nem Einwanderungsland geworden ist? DieEinwande- renden Stimmungen gegen Fremde und Andersausse- rung hat das Gesicht dieses Landes verändert. Einwan- hende entgegenzusetzen. Es darf von seiten der Politik derung führt auch zu Verunsicherungen in der Bevölke- nichts dazu getan werden, diese sich radikalisierenden rung. Es ist eine Herausforderung an die Politik, diese Stimmungen von oben her noch zu schüren. Sie dürfen Veränderungen und Verunsicherungen so zu bündeln, keine Tische in den Städten aufstellen, an denen den daß die Mehrheit der deutschen Bevölkerung mit Ruhe Menschen das Gefühl vermittelt wird, sie könnten all und mit Frieden den Neuerungen entgegensehen kann. ihren Frust, all ihre Ängste gegen die Türken, gegen den (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES Islam und gegen die anderen dort mit einer Unterschrift 90/DIE GRÜNEN und der SPD) abladen. Das darf in diesem Land nicht sein, wenn 2306 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999

Marieluise Beck (Bremen) (A) wir an demokratischen und zivilen Verhältnissen inter- Schulpolitik, die – wie auch Experimente und Modell-(C) essiert sind. vorhaben – extrem wichtig sind. In diesem Bereich pas- siert in den Ländern sehr viel. Auch die Sprachförderung (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ist wichtig, weil die Sprache die Brücke in eine Gesell- und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der schaft ist. Die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit PDS – Wolfgang Zeitlmann [CDU/CSU]: Ur- und auch der Jugendsport, in dem es unendlich viele sache und Wirkung!) Begegnungen zwischen ausländischen, deutschen oder Es liegt in der Natur von Kompromissen, daß jedeschon eingebürgerten Kindern gibt, sind wichtig. All Seite Zugeständnisse machen muß und sich jede Seite in diese Punkte gehörten zur Integrationspolitik. einem Kompromiß wiederfinden muß. Das ist mit dem hier vorgelegten Gesetzentwurf zur Einbürgerung der Ich finde es gut, daß die Union zu diesem Thema Fall. Es ist bekannt, daß wir uns weitergehende Schritte einen Antrag vorlegt. Allerdings müssen Sie sich schon hätten vorstellen können und daß wir den Erwartungen fragen lassen, weshalb es 16 Jahre gedauert hat, bis Sie an dieses neue Staatsbürgerschaftsrecht, die bei den Mi- mit diesem Thema in der politischen Arena erscheinen. granten in diesem Land sehr groß geworden sind, nicht (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN voll nachkommen konnten. und bei der SPD) Eines sollten wir aber nicht kleinreden: Wir habenDie eigentliche Differenz zwischen der alten und der endlich die Zäsur bei dem bisher ausschließlichen Ab- neuen Regierung besteht in der Tatsache, daß sich die stammungsrecht in unserem Staatsbürgerschaftsrecht.neue Regierung der Realität stellt und sagt: Deutschland Die Kinder, die ab jetzt in deutschen Kreißsälen zurist zu einem Einwanderungsland geworden; dementspre- Welt kommen – egal, ob sie bosnische, polnische oder chend werden wir die Gesetze gestalten. deutsch-türkische Eltern haben – werden hier als deut- sche Kinder aufwachsen, wenn die Eltern die Vorausset- (Wolfgang Zeitlmann [CDU/CSU]: „Einwan- zungen erfüllen. derungsland“ müssen Sie immer wieder sagen! Das ist ganz wichtig!) (Zuruf von der CDU/CSU: Zwangsgermani- sierung!) Wir müssen zur Kenntnis nehmen, daß sich das kultu- relle Gesicht dieses Landes tatsächlich verändert hat: Es Das ist gut so und ist ein großer Schritt in Richtung In- ist unser Land, in dem Sabrina Setlur als „Beste natio- tegration. Damit wird ihnen von vornherein die Mög-nale Künstlerin“ geehrt wird; es ist unser Land, in dem lichkeit eröffnet dazuzugehören. Darum geht es eigent- die Top-Nachrichten von Yasemin Kalkan im „Bericht lich. Es geht nicht um das Papier, den Paß. Es geht um aus Bonn“ präsentiert werden; es ist unser Land, in dem die Botschaft: Ihr gehört dazu; ihr seid nicht etwas ande- (B) ein junger Mann mit dem urdeutschen Namen Yueshi(D) res und nicht andere. Lai beim Landeswettbewerb „Jugend forscht in NRW“ (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einen ersten Preis erringt; es ist unser Land, in dem und bei der SPD) die deutsche Goldhoffnung bei den Taekwondo-Welt- meisterschaften Fadime Karatas heißt. Kinder kommen nicht mit einem Gefühl für Staatsange- hörigkeit zur Welt. Kinder fühlen, in welcher Umwelt In unserem Land steht die Karriere einer Nilgün Özel sie leben und wozu sie gehören. Wie gesagt, sie sollen mit ihrer Agentur für „Marketing-Service/Design“ und dazugehören. ihren 14 Mitarbeitern beispielhaft für Existenzgründun- gen von Frauen. (Wolfgang Zeitlmann [CDU/CSU]: Gegen den Willen der Eltern!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Erwin Marschewski Das zweite Angebot richtet sich an die schon hier le- [CDU/CSU]: Das Land haben wir gestaltet! Es benden Migranten. Wir werden darum werben, daß die- ist unsere Leistung!) jenigen, die schon jetzt die rechtlichen Bedingungen er- füllen, um sich einbürgern zu lassen, aber diesen Schritt In unserem Land hat der „Kicker“ eine Elf zur „Mann- nicht tun mochten, ihn vollziehen. Wir werben darum, schaft der Woche“ erklärt, in dem die Fußballer aus weil diese neue Regierung – damit bricht sie mit der Po- Frankfurt – wohlgemerkt: aus Frankfurt – die Namen litik der alten Regierung – Arslan, Karagiannidis, Bakyrtzis und Zeran tragen. Das (Wolfgang Zeitlmann [CDU/CSU]: Weiß ist Deutschland. Unser Land besitzt inzwischen diese Gott!) Vielfalt. möchte, daß die Migranten dazugehören und gleichbe- (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Richtig! rechtigt sind. Sie sollen als gleichberechtigter Teil unse- Das ist das Ergebnis der Politik von rer Bevölkerung anerkannt werden. Wir wollen sie dazu CDU/CSU nach 16 Jahren!) einladen. Diese Einladung können wir nicht oft genugEs wird Ihnen nicht gelingen, meine Damen und Herren aussprechen. von der Union, dieses Land in die Abgeschlossenheit (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und Spießigkeit der 50er Jahre zurückzukatapultieren. sowie bei Abgeordneten der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Das Dazugehören zu betonen ist ein Teil von Integra- und bei der SPD sowie der Abg. Eva Bulling- tion. Zur Integration gehören ferner die Bildungs- und Schröter [PDS]) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999 2307

Marieluise Beck (Bremen) (A) Wir wollen ein modernes und zukunftsfähigesLandes. An der Schwelle zum 21. Jahrhundert wird nach (C) Deutschland gestalten. Weil diese Menschen zu uns ge- 86 Jahren das alte wilhelminische Staatsbürgerschafts- hören, ändern wir das Staatsangehörigkeitsrecht, wonach recht mit seiner völkischen Philosophie des deutschen die Kinder, die hier geboren werden, sofort vom ersten Blutes durchbrochen. Tag an zu unserer Gesellschaft gehören. Mit diesem Ge- setzentwurf werden die Hürden für die Einbürgerung (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie nicht so hoch gelegt, daß die Annahme der deutschen bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ Staatsangehörigkeit nicht möglich wird. DIE GRÜNEN) Es ist richtig, daß noch einige Punkte dieses Gesetz- Zum erstenmal tritt das in den meisten Staaten der Euro- entwurfs zu diskutieren sind. päischen Union und in den meisten demokratischen Ländern der Welt gültige Ius soli, das Territorialprinzip, (Wolfgang Zeitlmann [CDU/CSU]: Oh!) an seine Seite. Künftig erwerben in Deutschland gebo- Dazu gibt es die parlamentarische Beratung. Wir wer- rene Kinder ausländischer Eltern mit der Geburt die den diese Diskussionen im Rahmen der Anhörung mit deutsche Staatsangehörigkeit. Es ist ein Fortschritt für Fachleuten führen. In diesem Zusammenhang will ich unser Land und ein Schritt hin zu einem vereinten Euro- im Namen meiner Fraktion dem Bundesinnenminister pa. noch einmal für die oft mühseligen Verhandlungen dan- Genauso wie Innenminister Schily halte ich den ur- ken, die er geführt hat. sprünglichen Gesetzentwurf für den konsequenteren und (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN für den, der die Ziele dieser Gesetzesinitiative besser er- und bei der SPD) reichen würde, nämlich Integration und sozialen Frieden durch gesellschaftliche Gleichstellung. Wir haben mit Herr Rüttgers, wir führen den Doppelpaß nicht durch dem nun eingebrachten Gesetzentwurf einenKom- die Hintertür ein, wie Sie behaupten. Wir sprechen für promiß erreicht, einen Kompromiß, der sich an den alle Jugendlichen und für alle, die hier dauerhaft leben, politischen Mehrheiten im Bundesrat orientiert, einen endlich die Einladung aus, durch die Vordertür in diese Kompromiß, der zu diesem Zeitpunkt das umsetzt, was Gesellschaft zu kommen. Sie sollen sich nicht längerzu erreichen ist. Ich sehe darin ebenso wie Peter Struck durch den Lieferanteneingang drücken müssen. Kom-einen Einstieg, einen ersten Schritt zu einer grundlegen- men Sie aus Ihrer Nörgelecke, meine Damen und Herren deren Reform des Staatsangehörigkeitsrechts, die in Zu- von der CDU/CSU! kunft unumgänglich sein wird. Wir werden weiterhin (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN um eine gesellschaftliche Mehrheit für eine grundlegen- und bei der SPD) dere Reform des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts (B) werben. (D) Es liegt einKompromiß auf dem Tisch, der die breite Mehrheit in der Gesellschaft widerspiegelt. Ich Der hier vorliegende Entwurf ist das Ergebnis einer möchte gerne wissen, wie Sie angesichts der Europa-sachlichen Diskussion von den politischen Kräften, die wahlen, die ein Schritt auf dem Weg zu einem weltoffe- an einer solchen Diskussion und an einer Lösung der be- nen Europa sind, Ihre Campingtische in die Fußgänger- stehenden Probleme interessiert sind. Die Zustimmung zonen stellen können, wo Sie gegen Mobilität, gegengeht über die Fraktionen der Regierungskoalition hin- Offenheit und gegen eine tolerante Gesellschaft agieren. aus; sie umfaßt die Abgeordneten der F.D.P.-Fraktion Das darf nicht passieren! und, wie zu hören ist, auch Abgeordnete der CDU/CSU- Fraktion. Ich will Ihnen dazu eine kleine Szene von (Beifall bei Abgeordneten der SPD) heute morgen schildern. Mir hat ein Kollege aus der Sie können die Tür zu einer weltoffenen Gesellschaft Fraktion der CDU/CSU erklärt, daß er heute lieber gar nicht mehr zunageln. Diesen Weg wird auch die Gesell- nicht erst ins Plenum kommt, weil er sonst womöglich schaft nicht gehen. der Situation ausgesetzt würde, daß er klatschen möchte – wenn nämlich heute das eingebracht wird, wofür er in Denn bei allen Schwierigkeiten, die eine multikultu- den letzten vier Jahren gekämpft hat – und deswegen relle Gesellschaft macht, bringt sie letztlich doch einen Schwierigkeiten bekäme, oder weil er der Situation aus- Gewinn an Lebensqualität, an Buntheit, an Offenheitgesetzt würde, daß er Schwierigkeiten von Ihrer Seite und an Vielfalt mit sich. Und Vielfalt ist immer nochbekäme, wenn er bei den Redebeiträgen von Ihnen nicht besser als Einfalt. klatschen würde. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Joachim Hörster [CDU/CSU]: Bei uns kann und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der jeder klatschen, wann er will!) PDS) Ich denke, das ist eindeutig. Deswegen freue ich mich ganz besonders darüber, daß es auch noch andere Kolle- Vizepräsidentin Petra Bläss: Das Wort hat die gen aus Ihrer Fraktion gibt, die ihre Zustimmung zu dem Kollegin Christine Lambrecht, SPD-Fraktion. vorliegenden Gesetzentwurf deutlich ausgedrückt haben, die also nicht den einfacheren Weg gehen, zu Hause zu bleiben, sondern die klar Stellung beziehen. Christine Lambrecht (SPD): Sehr geehrte Frau Prä- sidentin! Meine Damen und Herren! Heute beginnt ein (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ historischer Abschnitt in der Rechtsgeschichte unseres DIE GRÜNEN) 2308 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999

Christine Lambrecht (A) Daß es weder dem Kollegen Schäuble noch HerrnMenschen gehandelt hat, die in gar keiner Weise die(C) Stoiber, noch der Mehrheit in Ihrer Partei um eine sach- Voraussetzungen des Gesetzentwurfs erfüllt hätten. Da liche Diskussion geht, das liegt auf der Hand. Die Union ich Ihnen unterstelle, daß Sie des Lesens und des geisti- geht nach rechts. Die CDU/CSU hat beschlossen, diegen Erfassens eines Gesetzentwurfes mächtig sind, umstrittene Unterschriftenaktion fortzuführen. Ich fand bleibt nur die Schlußfolgerung, daß Sie hier wissentlich es bezeichnend, wie Sie, Herr Schäuble, als Innenmini- und kalkuliert die Unwahrheit gesagt haben, um auch ster von Baden-Württemberg erklärt haben: Wir führen hier eine fremdenfeindliche Stimmung zu schüren und die Unterschriftenaktion fort. – Ich gehe davon aus, Sie die Regierungsfraktionen zu verunglimpfen. Die Union haben das als Sprachrohr der CDU gesagt und nicht in geht nach rechts! der Funktion als Innenminister, in der Sie hier sind. Die Väter und Mütter der Rechtsordnung der Bundes- (Beifall bei der SPD) republik Deutschland haben eine demokratische und freiheitliche Gesetzgebung geschaffen, in der Taten Meine Damen und Herren, Sie polemisieren mit die- wie Volksverhetzung unter Strafe gestellt wurden. Ich ser Unterschriftenaktion weiterhin gegen eine generelle kann mich des Eindrucks nicht erwehren, daß maßgeb- Hinnahme der sogenannten doppelten Staatsbürger- liche Teile der CDU/CSU im Begriff sind, diesen schaft, und das, obwohl das in dem vorliegenden Ge- Konsens zu verlassen. Man ist heutzutage in der CSU setzentwurf überhaupt nicht mehr enthalten ist. stolz darauf, wenn DVU-Chef Frey erklärt, seine Partei (Beifall des Abg. Dr. Guido Westerwelle werde nicht zu den bayerischen Landtagswahlen an- [F.D.P.]) treten, weil die CSU alle Voraussetzungen einer Rechtspartei in seinem Sinne erfülle. Die CDU/CSU hat In diesem Entwurf ist das schon einmal gar nicht derdie Orientierung an der Mitte aufgegeben. Die Union Fall. Ihnen geht es gar nicht darum, ein Gesetz zu ver- geht nach rechts! hindern. Ihnen geht es einzig und allein darum, weiter- hin mit gezielter Desinformation unterschwellige Ängste (Beifall des Abg. Hans-Christian Ströbele und Fremdenfeindlichkeit zu schüren. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Wenn Sie es mit solchen Kampagnen schaffen, bei DIE GRÜNEN) Landtagswahlen zu punkten, ist das noch hinnehmbar. Sie befördern damit aber in unserem Land ein Klima, in Sie stehen damit in der übelsten und unseligsten Traditi- dem es dann möglich wird, daß Menschen zu Tode ge- on der deutschen Rechten in diesem Jahrhundert. Sofort hetzt und wegen ihrer Herkunft angezündet werden. Da- nach dem Start der Unterschriftenaktion haben dieRe- für tragen Sie Ihren Teil der Verantwortung. Und dies ist publikaner, die DVU und die NPD lauthals Beifall ge- unlösbar mit der Diskussion verbunden, die wir hier (B) klatscht und angekündigt, Ihnen inhaltlich und organi- (D) heute führen. satorisch unter die Arme zu greifen. Ich würde mich für diesen Zuspruch und solche politischen Bündnispartner (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ schämen. DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Zur Unterschriftenaktion nur ein kurzes Zitat Ihres DIE GRÜNEN) Parteifreundes Michel Friedman, der im Berliner „Ta- Die Union geht nach rechts! gesspiegel“ erklärt hat: Während die katholische und die evangelische Kir- Es ist doch der Gipfel der Heuchelei, wenn die che, während alle wichtigen gesellschaftlichen Institu- CDU behauptet, diese Unterschriftensammlung im tionen Sie kritisiert haben und noch immer kritisieren, Interesse der Ausländer zu machen. setzen Sie diese Kampagne fort. Da stellt sich Herr Stoi- Dem kann man eigentlich nichts mehr hinzufügen. ber hin und erklärt unseren Ansatz zum „gefährlichsten Anschlag auf den Rechtsstaat seit der RAF“. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Jörg Tauss [SPD]: Widerlich!) Sie mögen ja den Ausgang der Wahl in Hessen als Da verbreitet die CSU die Auffassung, daß bei einer großen Sieg Ihrer Unterschriftenaktion feiern. Es gibt erleichterten Einbürgerung die PKK in unserem Parla- aber auch Siege, die schlimmer sein können als Nieder- ment sitzen wird. lagen. Und dieser Sieg wird Sie entzweien. Sie haben in der Debatte zur Festnahme von Abdullah (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Öcalan mehrmals einen Zusammenhang zwischen den DIE GRÜNEN) Ausschreitungen von PKK-Anhängern und der Diskus- sion um eine Reform des Staatsangehörigkeitsrechts Die Union geht nach rechts! Wir Sozialdemokratin- hergestellt. Das ist eine infame und wissentlich unrichti- nen und Sozialdemokraten werden dem entschlossen ge Darstellung. entgegentreten. Gemeinsam mit den Kollegen des Bündnisses 90/Die Grünen und der F.D.P. haben wir an- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gesichts der veränderten Verhältnisse im Bundesrat DIE GRÜNEN) einen tragfähigen Kompromiß gesucht und gefunden. Er Sie wissen ganz genau, daß es sich bei den an den Kra- beinhaltet einige Veränderungen, die wirklich nach vor- wallen beteiligten Personen mit großer Mehrheit umne weisen. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999 2309

Christine Lambrecht (A) Natürlich ist das Optionsmodell stark in der Kritik. dann würden wir eine Zweiklassengesellschaft schaffen: (C) Ich kann diese Kritik beispielsweise vom Geschäftsfüh- Doppeldeutsche und Nur-Deutsche. Was machen Sie rer des Türkischen Bundes Berlin-Brandenburg, Herrn jetzt? – Sie wollen für in Deutschland geborene Kinder Kenan Kollat – stellvertretend für viele Betroffene –,ausländischer Eltern eine Einbürgerungszusicherung verstehen. Aber ich kann nur sagen: Dieses Gesetz isteinführen, eine Art Gutschein, der den jungen Menschen gegenüber der bestehenden Regelung eine Reform, die dann sagt: Ihr gehört nicht zu uns, aber wenn ihr hübsch nach vorne weist. Ich kann alle Kritikerinnen und Kriti- brav seid, dann dürft ihr vielleicht einmal zu einem von ker nur auffordern: Arbeiten Sie mit! Führen Sie mit uns uns werden. eine gesellschaftliche Diskussion, damit dies nur ein er- Vorhin ist mir fast einmal die Luft weggeblieben – ster Schritt ist! das kommt bei mir selten vor –, (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Das ist DIE GRÜNEN) wahr!) An dieser Stelle möchte ich noch etwas zum Kollegen als Ihr Kollege gesagt hat, sie müßten sich gut führen. Gerhardt von der F.D.P. sagen, der erklärte, die Grünen Wissen Sie, woher ich den Begriff kenne? – Aus meiner müßten begreifen, daß sie die Schlacht in dieser Angele- Tätigkeit als Anwältin. Da haben mich Mandaten immer genheit verloren hätten. Ich finde, schon die Diktion läßt gefragt, wenn sie zu einer Haftstrafe verurteilt wurden, tief blicken; hier wird von einer Schlacht, sozusagen von wann sie denn herauskommen, wenn sie sich gut führen. einem Krieg gesprochen. Es ist aber auch sachlich Wenn Sie so eine Assoziation mit einer Einbürgerungs- falsch; denn die Verlierer in dieser Angelegenheit sind möglichkeit für Kinder und Jugendliche verbinden, dann nicht die Grünen. Die Verlierer sind vielmehr die Men- sträuben sich mir wirklich die Haare. Das läßt tief blik- schen, die seit Jahrzehnten in diesem Land leben, die ken. hierhergeholt wurden, um zu arbeiten, und die unsere Wirtschaft, unseren Wohlstand mit aufgebaut haben. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Meine Damen und Herren, mit dem Inkrafttreten die- ses Gesetzes, wenn wir es durchsetzen, beginnt eine Von seiten der CDU kommt natürlich wieder der Ruf: neue Entwicklung. Wir wollen nämlich keine ethnische Wir gehen vorsBundesverfassungsgericht . Das sind Sauberkeit, sondern kreative, leistungsfähige und zu- wir mittlerweile gewohnt. Es war in den letzten 16 Jah- kunftsorientierte Vielfalt. Wir wollen für die Menschen, ren auch kaum eine politische Entscheidung möglich, die in dieser Gesellschaft leben und arbeiten, die glei- ohne daß sie Ihnen aus Karlsruhe diktiert wurde. Sie chen Rechte und Pflichten, unabhängig von ihrer ethni- (B) selbst waren ja nicht mehr für Politik zuständig. Das hat (D) schen Abstammung. sich jetzt geändert. Wir haben eine Regierung, die Poli- tik macht. Wir brauchen auch die verfassungsrechtliche Das heute eingebrachte Gesetz, der Gruppenantrag, Untersuchung nicht zu fürchten. ist ein erster Schritt im Rahmen dieser Entwicklung. Es ist nicht das Ende des Weges, sondern der Anfang. Die (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Union geht nach rechts; wir gehen nach vorn! BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vielen Dank. Ich brauche hier, glaube ich, kein juristisches Semi- nar zur Verfassungsmäßigkeit eines Optionsmodells ab- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ zuhalten. Sie alle wissen, daß nach Art. 16 des Grundge- DIE GRÜNEN) setzes ein Entzug der Staatsbürgerschaft verboten, aber ein Verlust durchaus möglich ist. Hierzu wird es eine ausführliche juristische Diskussion und auch eine Vizepräsidentin Petra Bläss: Nächster Redner ist Anhörung geben. Wir werden dann zu einem verfas-der Kollege Dr. Jürgen Rüttgers, CDU/CSU-Fraktion. sungsmäßigen Entwurf kommen, der dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts standhalten wird. Dr. Jürgen Rüttgers (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Allerdings finde ich es schon etwas witzig, wenn Sie Werte Kolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin, zu Ih- sich hier hinstellen und sagen: Das Optionsmodell istrer Rede: Von Gift und Häme geprägt, würde es sich wegen des Verlustes per se verfassungswidrig. Lesennormalerweise nicht besonders lohnen, darauf einzuge- Sie sich einmal Ihren Gesetzentwurf durch; darin stehen hen. einige Verlustgründe. Dann wären diese ja genauso we- nig möglich, dann wären diese ja genauso verfassungs- (Lachen bei der SPD) widrig. Ich erspare es mir, auf einige einzugehen. DieSie sollten nur an einer Stelle etwas vorsichtig sein: sind schon hanebüchen. Als Juristin stellen sich mir da wenn Sie über rechtsradikale Parteien diskutieren. Sonst die Haare zu Berge. fällt mir ein, daß die von Ihnen zitierteDVU anläßlich Ich möchte nur noch auf einen Punkt Ihres Antrages der Niedersachsenwahl im vergangenen Jahr aufgerufen eingehen, nämlich auf § 6, dieErwerbszusicherung. hat, Gerhard Schröder zu wählen. Ich wäre an Ihrer Sie haben uns immer vorgeworfen, wenn wir auch nur in Stelle viel vorsichtiger bei dem, was ich hier vorn sage, Ausnahmefällen zulassen würden, daß Menschen in die- oder ich würde wenigstens ordentlich lesen. sem Land mehr als eine Staatsbürgerschaft besitzen, (Beifall bei der CDU/CSU) 2310 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999

Dr. Jürgen Rüttgers (A) Liebe Kolleginnen und Kollegen, dieAusländer- Die CDU/CSU-Fraktion hat heute zwei Anträge und (C) beauftragte der Bundesregierung hat eben in ihrereinen Gesetzentwurf vorgelegt. Rede einige Menschen vorgestellt, die in Deutschland (Ludwig Stiegler [SPD]: Einer schlimmer als leben, mit dem emotionalen Anfang der Sätze: Das ist der andere!) unser Land. – Sie hat recht: Es ist schön, daß es in die- sem Land viele Menschen gibt mit sehr unterschied-In einem Antrag legen wir ein Konzept für die Integrati- lichen Begabungen und auch mit unterschiedlicheron mit vielen konkreten Punkten vor. Herkunft. (Jörg Tauss [SPD]: Und mit viel Gelaber!) (Jörg Tauss [SPD]: Und mit zwei Pässen!) Der Antrag für ein modernes Ausländerrecht enthält – Lieber Herr Kollege Tauss, ich habe Ihnen schonVorschläge für die Novellierung des Ausländergesetzes. mehrfach gesagt: Gewöhnen Sie sich doch einmal an,Unser Gesetzentwurf schließlich beinhaltet die Neure- das Gehirn einzuschalten, bevor Sie den Mund aufma- gelung des Staatsangehörigkeitrechtes. chen! Es ist doch wirklich unerträglich. (Zuruf von der SPD: Dafür haben Sie aber (Beifall bei der CDU/CSU) lange gebraucht!) Halten Sie doch einfach einmal den Mund und hören Sie Diese Vorlagen sind eine klare Alternative zu dem aus- zu. Vielleicht lernen Sie etwas. Das täte Ihnen gut. länderpolitischen Scherbenhaufen, den Rotgrün hier in den letzten Wochen angerichtet hat. (Jörg Tauss [SPD]: Das ist Ihr Niveau!) (Beifall bei der CDU/CSU) Frau Kollegin Beck, es ist schön, daß dieses Land so vielfältig ist. Aber man muß auch darauf achten, daß ein Es ist das bessere Konzept für die Integration der recht- solches Land zusammenbleibt, daß es ausländerfreund- mäßig und dauerhaft hier lebenden Ausländer. lich bleibt. Da haben Sie nun wirklich einen Fehler ge- (Jörg Tauss [SPD]: Blödsinn!) macht. Nicht wir haben das Thema Doppelpaß auf die Tagesordnung gesetzt, sondern Sie glaubten vor der Heute hat Herr Schily den dritten Entwurf vorgelegt. Hessen-Wahl, Sie könnten Stimmen gewinnen, wenn Sie das Thema ansprechen. Aber Sie haben sich geirrt, (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE und es wird Zeit, daß Sie zur Kenntnis nehmen, was in GRÜNEN]: Von Ihnen lag noch gar kein Ent- dieser Frage die Mehrheit in diesem Land will. wurf vor!) (Beifall bei der CDU/CSU) Man höre und staune: den dritten Entwurf in zwei Mo- naten. Mitte Januar hat man noch von historischen Di- (B) Sie versuchen jetzt vor der Bremen-Wahl und vor der mensionen geredet. Im Februar mußte der Bundesin-(D) Europa-Wahl schon wieder, dieses Gesetz mitSonder- nenminister diesen Entwurf zurückziehen, und zwar we- sitzungen durch das Parlament zu peitschen. Sie werden gen inhaltlicher Mängel, wegen politischer Unausgego- sich noch einmal irren. Ich beschwöre Sie: Lassen Sie renheit, weil er nicht mehrheitsfähig war und weil die von diesem Vorhaben ab, lassen Sie uns über die Frage Bevölkerung in Hessen diesen Entwurf klar abgelehnt reden, wie man das Landversöhnen kann, statt es zu hat. spalten, wie Sie es machen. Dann kam Schily II aus der Abteilung Tricksen und (Beifall bei der CDU/CSU – Kerstin Müller Täuschen. Man wollte so tun, als verzichte man auf die [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer Einführung der regelmäßigen doppelten Staatsangehö- hat denn die Unterschriftenkampagne ge- rigkeit. Aber es gab für fast jeden Fall eine Ausnahme- macht? Unglaublich! – Lebhafte Zurufe von vorschrift, was bedeutet hätte, der Doppelpaß wäre doch der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gekommen. Auch dieser Entwurf wurde wenige Tage NEN) später kassiert. Wo sind denn Ihre konkreten Vorschläge für dieIn- Heute haben wir nun Schily III. Dieser Entwurf hat tegration? Der Glaube, man gebe einem Menschen ei- mit seinen Vorgängern eines gemeinsam: Auch er wurde nen Paß und dann sei er integriert, ist ein Irrglaube, wie mit heißer Nadel gestrickt. Er ist wiederum nur ein wir aus Frankreich, England und den Niederlanden wis- Stückwerk und keine Gesamtreform des deutschen sen. Wo sind denn Ihre Vorschläge, wie es mit demStaatsangehörigkeitsrechts. Noch nicht einmal Verfah- Sprachunterricht weitergeht, rensregeln sind in diesem Entwurf enthalten. Vor allem fehlt jede inhaltliche Abstimmung mit dem Ausländer- (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE recht. GRÜNEN]: Den haben Sie doch gekürzt!) Ein Beispiel: Man kann künftig als Ausländer leichter wie es am Arbeitsplatz und bei den Lehrstellen sein soll? die deutsche Staatsangehörigkeit als ein Daueraufent- Da ist bei Ihnen Sendepause, Frau Kollegin Müller. Sie haltsrecht in Deutschland erwerben. Das erkläre einem, haben keinen Antrag hinbekommen. Deshalb meinen wer will; ich verstehe das nicht. Sie, Sie müßten Ihre Ideologie durchsetzen. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU – Sebastian Edathy [SPD]: Wer hat denn hier polarisiert? Doch Es bleibt völlig offen, wie viele der hier lebenden Sie mit Ihrer Unterschriftenaktion!) Ausländer die Einbürgerungsvoraussetzungen erfül- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999 2311

Dr. Jürgen Rüttgers (A) len, ob es 100 000, 500 000 oder 1 Million sind. AberIII zusätzlich die deutsche Staatsangehörigkeit bekom-(C) angeblich soll der Doppelpaß nur noch die Ausnahmemen, also jährlich etwa 80 000 neue Doppelstaatler. sein. Das haben wir jedenfalls gehört. Lassen Sie mich Hinzu kommen noch diejenigen, die bereits zehn Jahre einmal versuchen, abzuschätzen, um wie viele Men-hier sind und die jetzt auch den Doppelpaß erhalten. Das schen es geht. Politisch Verfolgte sollen in jedem Fall sind auf einen Schlag noch einmal zwischen 600 000 die doppelte Staatsangehörigkeit bekommen. Nach den und 700 000 Personen. Zahlen des Ausländerzentralregisters sind es knapp 300 000 Menschen. (Jörg Tauss [SPD]: Dann sind wir schon bei mehr als 80 Millionen!) (Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.]: Standard heute!) Diese Zahlen, werte Kolleginnen und Kollegen, zei- gen: Auch Schily III führt die doppelte Staatsangehörig- EU-Bürger sollen das Recht auf den Doppelpaß haben. keit ein, wenn auch nur durch die Hintertür. Diejenigen, Das sind rund 1,6 Millionen Menschen. die dann den Doppelpaß immer noch nicht haben, sollen (Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.]: Auf Gegen- ihn – das haben wir heute gehört, etwa bei der Rede von seitigkeit!) Frau Kollegin Müller oder bei den Äußerungen des SPD-Fraktionsvorsitzenden – in einem zweiten Schritt Mehrstaatlichkeit soll für ältere Ausländer zugelassen bekommen. Für Sie ist das Gesetz ein erster Schritt. Ich werden. sage Ihnen: Sie mißachten mit diesem Gesetz nicht nur (Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.]: Standard den Willen der Bevölkerung; Sie werden mit diesem heute!) Vorhaben auch ein zweites Mal scheitern. Wenn wir eine Grenze von 60 Jahren annehmen, sind (Beifall bei der CDU/CSU) das 450 000 Personen. Das Optionsmodell ist „weder von der Verfassung (Jörg Tauss [SPD]: Wie heute schon bei Otto her unproblematisch noch in Hinsicht auf die verwal- von Habsburg!) tungspraktische Umsetzung“. Mehrstaatlichkeit soll nach Schily III aber vor allem (Abg. Dr. Michael Bürsch [SPD] meldet sich dann hingenommen werden, und zwar zwingend, wenn zu einer Zwischenfrage – Jörg Tauss [SPD]: die Entlassung aus der bisherigen Staatsangehörigkeit zu Fragen kann er nicht beantworten!) wirtschaftlichen oder vermögensrechtlichen Problemen führt. Es führt zu einem „gigantischen Verwaltungsaufwand“, der „überhaupt nicht zu bewältigen“ ist, wenn jeweils (Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.]: Standard (B) geprüft werden muß, ob die zweite Staatsangehörigkeit(D) heute!) bei der Option für die deutsche tatsächlich aufgegeben wird. – Das waren Zitate von Herrn Bundesinnenmini- Das trifft aber in jedem Land für jeden zu, der nicht ster Schily vom 24. Januar 1999. mehr Inländer, sondern Ausländer ist. Das heißt, man braucht nur vorzutragen, man werde von der Familie enterbt, und schon kann man die doppelte Staatsangehö- Vizepräsidentin Petra Bläss: Herr Kollege, ge- rigkeit behalten. statten Sie eine Frage? (Widerspruch bei der SPD und dem BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN) Dr. Jürgen Rüttgers (CDU/CSU): Ich frage Sie, Zudem läge es in den Händen anderer Staaten, jedem ih- rer hier lebenden Staatsbürger die doppelte Staatsange- (Zuruf von der SPD: Er soll antworten! – Ge- hörigkeit zu ermöglichen. Liebe Kolleginnen und Kolle- genruf des Abg. Jörg Tauss [SPD]: Er kann gen, wollen wir wirklich, daß andere Staaten über die doch nicht!) Zahl von doppelten Staatsangehörigkeiten in Deutsch- Herr Bundesinnenminister: Ist es nicht so, daß Sie für land bestimmen? die Verfassung in diesem Land zuständig sind? Wie kann es sein, daß ein Bundesinnenminister hier einen Vizepräsidentin Petra Bläss: Herr Kollege, ge- Gesetzentwurf vorlegt und vertritt, der nicht zweifelsfrei statten Sie eine Zwischenfrage? verfassungsgemäß ist? (Jörg Tauss [SPD]: Wie eure Familienpolitik! Dr. Jürgen Rüttgers (CDU/CSU): Nein. Herr Kol- – Weiterer Zuruf von der SPD: Fragt doch den lege Westerwelle hat heute schon mehrfach geredet. Scholz!) Jetzt muß er sich das auch einmal ein bißchen anhören. Ich frage Sie: Wie kann es sein, daß notwendige Abklä- Heißt dies nicht auch, je strenger der ausländischerungen, die gerade auch im Hinblick auf den Rechtsfrie- Staat ist, desto leichter kann er die doppelte Staatsange- den von zentraler Bedeutung sind, unterbleiben, bloß hörigkeit in Deutschland für seine Bürger durchsetzen, weil man aus politischer Not glaubt, man müsse jetzt in falls er das politisch als vorteilhaft ansieht? dieser Frage handeln? Ich verstehe das nicht. Es bleiben die jährlich etwa 80 000in Deutschland (Ludwig Stiegler [SPD]: Der alte Koalitions- geborenen Kinder ausländischer Eltern, die nach Schily partner versteht Sie auch nicht!) 2312 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999

Dr. Jürgen Rüttgers (A) Ich weiß auch nicht, wie Sie, Herr Schily, das mit Ihrem pelpasses für Jugendliche liegen soll. Es ist vor kurzem (C) Amtseid in Übereinstimmung bringen können. In dieser vom Kollegen Kanther gefragt worden, wie es mit der Woche haben Sie gesagt, eventuelleverfassungsrecht- integrativen Logik des Modells auf Zeit, wie es im Ge- liche Bedenken könnten im Laufe des parlamentari-setzentwurf von Rotgrün steht, dem Herr Westerwelle schen Verfahrens beseitigt werden. Herr Schily, was ist zugestimmt hat, zu vereinbaren sei, wenn das kleine das für ein Verständnis von Ihrem Amt, wenn Sie Ge- Kind über zwei Pässe verfügt, aber der 23jährige die setze vorlegen und begründen und zugeben, daß es ver- deutsche Staatsangehörigkeit wieder verlieren soll, weil fassungsrechtliche Bedenken gibt, die man nicht ausge- er die elterliche nicht aufgeben will. Für wen ist denn räumt hat? Herr Schily, ziehen Sie Ihre Zustimmung zu eigentlich die Integration – der Paß, wie Sie meinen – diesem Entwurf zurück, solange nicht klar ist, ob dieser wichtiger: für den Zweijährigen oder für den Gesetzentwurf verfassungsgemäß ist oder nicht! 23jährigen? (Beifall bei der CDU/CSU – Ludwig Stiegler (Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.]: Für den [SPD]: So ein Unsinn!) Zweijährigen!) Ich persönlich glaube, daß dieses Gesetz verfassungs- Das zeigt, Herr Westerwelle, daß schon der Ansatz des rechtlich mehr als bedenklich ist. Optionsmodells völlig unausgegoren ist. Er führt zu in- tegrationspolitisch völlig unmöglichen Situationen. (Sebastian Edathy [SPD]: Ihre Rede ist mehr als bedenklich!) Nehmen wir einmal den Fall der jungen Frau, die 18jährig, das heißt als Doppelstaatlerin, ein deutsches Der Sache nach handelt es sich um befristete eine Kind zur Welt bringt, mit 23 Jahren aber die deutsche Staatsangehörigkeit, die vom Grundgesetz nicht vorge- Staatsangehörigkeit verliert, weil sie zur Aufgabe ihrer sehen ist. Aber unabhängig von dieser Frage ist dieses ausländischen Staatsangehörigkeit nicht bereit ist. Das Gesetz auch integrationspolitisch unausgegoren. Es wirft Kind bleibt dann deutsch, im übrigen ohne spätere Opti- nur Fragen auf, löst aber die praktischen Probleme der onspflicht, da es die deutsche Staatsangehörigkeit nach Integration nicht. Zur Rechtssicherheit gerade in Status- dem Abstammungsprinzip erhalten hat – was beweist, fragen gehört eben auch Rechtsklarheit; die wird durch daß Ihre ganze Rhetorik gegen das Abstammungsprinzip dieses Gesetz nicht erreicht. völlig an der Sache vorbeigeht, denn Sie behalten es sel- (Jörg Tauss [SPD]: Sie wissen noch nicht ber bei, wie dieser Fall zeigt. Insofern sollten Sie diese einmal, wie man Integration schreibt!) Argumentation einstellen. Integration durch einen Paß – das ist der ideologi- Nehmen Sie den zweiten Fall des 22jährigen Auslän- sche Glaube an die Macht bürokratischer Entscheidun- ders, der als Doppelstaatler zum Bundestag wählen darf, (B) gen. Zur wahren Integration gehört aber, wie jeder weiß, mit 24 Jahren aber nicht mehr an der Landtagswahl teil- (D) viel mehr. nehmen darf, weil er zwischenzeitlich seine deutsche Staatsangehörigkeit verloren hat, und zwar nur deshalb, (Ludwig Stiegler [SPD]: Gehört eine Unter- weil er seine elterliche Staatsangehörigkeit nicht aus- schriftenkampagne! – Kerstin Müller [Köln] drücklich aufgeben will. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Man kann das eine tun, ohne das andere zu lassen! Was Oder nehmen Sie den dritten Fall des 19jährigen macht denn Herr Koch?) Doppelstaatlers, der Wehrdienst leistet, dann aber plötz- lich wieder zum Ausländer in Deutschland wird, obwohl Integration, Frau Müller, findet im Kindergarten und in sich an seinen persönlichen Lebensumständen überhaupt der Schule statt. Sie findet in der Wohnumgebung statt. nichts geändert hat. Sie findet im Sportverein statt. Sie findet bei Freund- schaften zwischen jungen Ausländern und Deutschen Und wie steht denn derjenige da, der seit seiner Ge- statt. Da entscheidet sich die Integration. burt als Deutscher in Deutschland lebt, jetzt aber gegen die deutsche Staatsangehörigkeit optiert: Muß er dann, Deshalb verstehe ich Ihre Bemerkung zu Rolandnach einem Vierteljahrhundert als Deutscher, Deutsch- Koch im Hinblick auf den muttersprachlichen Unterricht land verlassen? – Keine Antwort im Schily-Entwurf. nicht. Wer die Integration in die deutsche Gesellschaft will, der muß den Deutschunterricht fördern und nicht eine ausländische Sprache, um die Rückkehr zu ermög- Vizepräsidentin Petra Bläss: Herr Kollege Rütt- lichen. gers, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin ? (Beifall bei der CDU/CSU) Das ist genau das, was Sie anscheinend nicht verstehen können oder nicht verstehen wollen. Dr. Jürgen Rüttgers (CDU/CSU): Frau Präsidentin, ich glaube, ich hatte mehrfach deutlich gemacht, daß ich (Kerstin Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/ keine Zwischenfrage zulasse. Ich sage das gerne noch DIE GRÜNEN]: Sie haben keine Ahnung! – einmal. Jörg Tauss [SPD]: Sie sprechen oft besser Deutsch als der bayerische Stoiber!) Oder was ist mit jugendlichen Kriminellen, die dann nicht mehr ausgewiesen bzw. abgeschoben werden kön- Bisher hat niemand plausibel erklären können, worin nen? Wir alle kennen den Fall Mehmet; er ist eben eigentlich der integrationspolitische Zugewinn des Dop- schon diskutiert worden. Man kann jungen Kriminellen Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999 2313

Dr. Jürgen Rüttgers (A) dann eigentlich nur raten, nach Erreichen der Volljäh-langem in Deutschland leben, wollen wir eine Zusiche-(C) rigkeit so schnell wie möglich für die deutsche Staatsan- rung des Erwerbs der deutschen Staatsangehörigkeit ein- gehörigkeit zu optieren, damit sie vor Abschiebung oder führen. Ausweisung sicher sein können. (Ludwig Stiegler [SPD]: 16 Jahre haben Sie (Kerstin Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE nichts gewollt!) GRÜNEN]: Das ist echt demagogisch! De- Diese Einbürgerungszusicherung löst alle praktischen magogie ist das!) Fälle, die im Zusammenhang mit der Frage „Wie kön- Wie man das auch dreht und wendet: Das Options-nen Kinder hier aufwachsen?“ denkbar sind. Sie können modell – nun hören Sie einmal zu; jetzt zitiere ich näm- so aufwachsen wie ihre Spielkameraden und wie ihre lich den „Spiegel“– ist „der größte anzunehmende Unfug Schulkameraden. Sie können mit ihrer Schulklasse ins in der Nachkriegsgeschichte des Staatsangehörigkeits- Ausland reisen. Sie können sogar eine Lehre im öffentli- rechts“. Auch darin hat der „Spiegel“ recht. Weiter: chen Dienst aufnehmen. „Kinder, die – ohne daß ihre Eltern gefragt werden (Zurufe von der SPD: Oh!) – zunächst von Amts wegen Deutsche werden sol- Sie können bei der Polizei eine Ausbildung absolvieren. len, bekommen eine familiäre Zeitbombe unters Es gibt also praktisch überhaupt nichts, was sie bei Bett gelegt“. ihrem Aufwachsen von deutschen Kindern und Jugend- (Jörg Tauss [SPD]: Wie alt ist denn der „Spie- lichen unterscheidet. Die Einbürgerungszusicherung gel“-Artikel?) vermeidet alle Probleme, die ich soeben aufgezählt habe. Das macht den Unterschied aus: Statt Ideologie zu be- Diese völlig verfehlte Konzeption des Schily-treiben, sollten praktische Lösungen für die jungen Entwurfs und seine zahlreichen Ungereimtheiten undMenschen hier in diesem Lande gefunden werden. Das Inkonsequenzen vermeidet der Entwurf der CDU/CSU- zu erreichen wäre wichtig. Statt unser Land zu spalten, Bundestagsfraktion. Er hat ein klares System. Er wirft sollte es zu einer Versöhnung kommen. die Grundprinzipien des bisherigen Staatsangehörig- keitsrechts nicht einfach über Bord, sondern entwickelt (Beifall bei der CDU/CSU) sie fort. Deshalb sage ich Ihnen – obwohl das nach manchen (Ludwig Stiegler [SPD]: Völkisch!) Beiträgen in dieser Debatte unglaublich schwerfällt –: Wir wollen das Einbürgerungsrecht erleichtern. Wir (Ludwig Stiegler [SPD]: So ein Scheinheili- wollen Rechtsansprüche und nicht bloßes behördliches ger! Erst hetzen und dann den Beleidigten (B) Ermessen. Wir verkürzen die Mindestaufenthaltszeiten spielen!) (D) im Bundesgebiet, bei Erwachsenen von derzeit 15 Jah- Aus Verantwortung für die jungen Menschen und gerade ren auf künftig 10 Jahre, bei jungen Ausländern von auch für die jungen Ausländer in diesem Land sind wir derzeit 8 Jahren auf künftig 6 Jahre. Wir hätten dann ei- bereit, in Gespräche einzutreten, um zu einer vernünfti- nes der großzügigsten Einbürgerungsrechte der Welt. gen und praktikablen Lösung zu kommen. Unverzichtbar ist aber die nachweisbareIntegration (Jörg Tauss [SPD]: Ach, ist das großzügig!) und Sozialisation des Einbürgerungsbewerbers. Wir verlangen deshalb den Nachweis ausreichender Kennt- Das setzt allerdings voraus, daß Sie aufhören, den vor- nisse der deutschen Sprache und Grundkenntnisse derliegenden Gruppenantrag bzw. Gesetzentwurf durch die verfassungsmäßigen Ordnung unseres Landes. parlamentarischen Verfahren zu peitschen, und daß wir in vernünftige Gespräche eintreten. Ich fordere Sie des- (Jörg Tauss [SPD]: Das stand schon im alten halb auf: Lassen Sie davon ab, dieses Land zu spalten, Gesetz!) bevor es zu spät ist! Wir brauchen eine vernünftige Lö- Wir halten am Grundsatz der Vermeidung sung von im Interesse der Menschen und vor allen Dingen Mehrstaatlichkeit fest. Wer sich einbürgern lassen will, der Kinder in diesem Land. muß sich für die Bundesrepublik Deutschland entschei- Vielen Dank. den. Wer Deutscher werden will, muß also seine alte Staatsangehörigkeit aufgeben. (Beifall bei der CDU/CSU – Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Kerstin Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE Jörg Tauss [SPD]: Otto von Habsburg!) GRÜNEN]: Unglaublich! Nach dieser Rede!) Natürlich muß es auch weiter Ausnahmen davon ge- ben. Manche Staaten lassen das Ausscheiden aus ihrer Staatsangehörigkeit überhaupt nicht zu, andere verwei- Vizepräsidentin Petra Bläss: Zu einer Kurzinter- gern es regelmäßig oder willkürhaft oder machen es von vention erteile ich das Wort dem Kollegen Dr. Guido unzumutbaren Bedingungen abhängig. Deshalb enthält Westerwelle, F.D.P. unser Entwurf Ausnahmen, die es auch jetzt schon gibt. Aber es gibt in unserem Entwurf keine Generalklausel, sondern eine abschließende Aufzählung aller Fälle, in Dr. Guido Westerwelle (F.D.P.): Frau Präsidentin! denen von diesem Erfordernis Abstand genommen wird. Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich bitte um Ver- Für die hier geborenen Kinder von Ausländern, die seit ständnis dafür, daß ich Ihre Geduld noch einmal ganz 2314 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999

Dr. Guido Westerwelle (A) kurz strapazieren muß. Aber als einer der Autoren des Drittens. Ich nehme, was den vorliegenden Gesetz-(C) vorliegenden Gesetzentwurfes liegt mir an drei kurzen entwurf angeht, eine Vielzahl der von Ihnen vorgetrage- Bemerkungen. nen Argumente sehr ernst. Das ist für mich überhaupt keine Frage. Aber eine Sache kann ich nicht akzeptieren, Erstens. Wir sind – so wie Sie – Angehörige der Op- und zwar, daß Sie den Eindruck erwecken, durch den position. Deswegen würden wir es schon aus Prinzip vorliegenden Gruppenantrag werde derDoppelpaß nicht zulassen, daß dieRechte der Opposition im durch die Hintertür eingeführt. Das geschieht nicht. Rahmen der Beratung dieses Gesetzentwurfes beschnit- ten werden. Verschiedene Redner der Grünen und der SPD haben ausdrücklich bedauert, daß ihr ursprüngliches Modell (Beifall bei Abgeordneten der SPD) vom Tisch ist – ich kann das verstehen –, weil wir die- Wir könnten es nicht akzeptieren, daß jemand berech- sem Modell nicht zugestimmt haben. Es gibt also keinen tigterweise den Vorwurf erheben müßte, der vorliegende Doppelpaß – nicht offen, nicht verdeckt, nicht durch die Gesetzentwurf werde durchgepeitscht. Hintertür und nicht von vornherein. Er ist ausdrücklich ausgeschlossen worden. (Jörg Tauss [SPD]: Würden wir auch nie tun!) Diejenigen Regelungen in unserem Gesetzentwurf, Das ist doch nicht erfolgt. die eine Mehrstaatlichkeit vorsehen, entsprechen der (Widerspruch bei der CDU/CSU) bisherigen Rechtslage. § 87 des Ausländergesetzes ent- hält genau diese Gründe, warum man eine Mehrstaat- Deswegen ist das parlamentarische Verfahren, insbe- lichkeit hinnehmen kann: zum Beispiel, wenn ein junger sondere die Anberaumung einer diesbezüglichen Anhö- Mensch, der hier geboren wurde, aus seiner alten Staats- rung für den 13. April dieses Jahres, im Innenausschuß angehörigkeit nicht entlassen wird, so wie wir das aus einstimmig, also unter Zustimmung der Vertreter derdem und manchmal bei jungen wehrfähigen Män- CDU/CSU-Bundestagsfraktion, festgelegt worden. nern aus Serbien kennen. Wenn das so ist, können wir (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. sowie doch nicht allen Ernstes sagen: Du darfst nicht Deut- bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE scher werden. GRÜNEN – Kerstin Müller [Köln] [BÜND- In meine Kanzlei – dies war einer meiner ersten Pro- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ja interes- zesse, lange bevor ich in die Politik ging – kam ein jun- sant!) ger Serbe, der pfälzischen Dialekt sprach und eingebür- Sie haben dem zugestimmt. Sie können hier nicht vongert werden wollte. „Durchpeitschen“ sprechen.

(B) Zweitens. Ich möchte Sie alle darauf aufmerksam Vizepräsidentin Petra Bläss: Herr Kollege, denken (D) machen, daß wir in der letzten Periode einen Reformauf- Sie bitte an Ihre Redezeit. ruf vorgelegt bekommen haben, dem 30 Abgeordnete der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zugestimmt und den sie unterschrieben haben. Dr. Guido Westerwelle (F.D.P.): Entschuldigen Sie, eine letzte Bemerkung. – Dieser serbische Kfz-Lehrling, (Jörg Tauss [SPD]: Die sind alle nicht da!) der hier groß geworden ist und nur einmal in seinem Le- Hier heißt es wörtlich: ben auf Besuch zu Hause in Jugoslawien war, konnte nicht aus seiner Staatsangehörigkeit entlassen werden, Die in Deutschland geborenen Kinder ausländi-weil man für die Annahme des Ausbürgerungsantrages scher Eltern erhalten mit der Geburt die deutschefast 10 000 DM Gebühren verlangt hat. Das kann ein Staatsangehörigkeit. Voraussetzung ist, daß ein El- Kfz-Lehrling nicht bezahlen. Für solche Fälle, in denen ternteil dauerhaft und rechtmäßig in Deutschland jemand nicht aus der alten Staatsangehörigkeit entlassen lebt, da zu erwarten ist, daß diese Kinder in unse- werden kann, muß es die Möglichkeit der Mehrstaat- rem Land aufwachsen und bleiben werden. Nachlichkeit geben. Das ist Recht heute, und das ist Recht in Erreichen der Volljährigkeit sollen sie sich für eine Zukunft. der beiden Staatsangehörigkeiten entscheiden. (Beifall bei der F.D.P. und der SPD) Punktum. Das wollen wir jetzt mit dem vorliegenden Gesetzentwurf umsetzen. Ich appelliere an die CDU/CSU: Heben Sie denVizepräsidentin Petra Bläss: Zu einer weiteren Fraktionszwang auf! Lassen Sie die Abgeordneten der Kurzintervention erteile ich dem Kollegen Volker Beck, CDU/CSU-Fraktion, so wie dies alle anderen Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen, das Wort. auch tun, über den vorliegenden Gruppenantrag frei ent- scheiden, wie wir das auch in bezug auf § 218 des Straf- gesetzbuches getan haben. Dann wird hier im Deutschen Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Bundestag für die vorgelegte Reform mehr als eineWerter Kollege Rüttgers! Ich hatte Ihnen eigentlich eine Zweidrittelmehrheit erzielt. Zwischenfrage stellen wollen. Denn ich möchte etwas über Ihren Gesetzentwurf, der ja erst seit drei Tagen (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. sowie vorliegt, lernen, weil er meines Erachtens Fragen auf- bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE wirft. Sie haben sehr wenig über Ihren Gesetzentwurf, GRÜNEN) aber viel über den Gesetzentwurf der „Koalition der Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999 2315

Volker Beck (Köln) (A) Vernunft“ gesprochen. Sie haben dafür wahrscheinlich und breit berichtet, was da passiert ist: Ein Drittel hat(C) gute Gründe. Denn ich glaube, Ihr Gesetzentwurf ist im sich für das Optionsmodell ausgesprochen. – Das kön- wesentlichen „Blindtext“. nen doch nicht Idioten oder verfassungsmäßig Blinde gewesen sein; In diesem Land werden jährlich etwa 100 000 Kinder ausländischer Eltern geboren. Die heutige Rechtslage (Beifall des Abg. Wolf-Michael Catenhusen ist, sie sozusagen im Kreißsaal auszubürgern. Diesen [SPD]) Zustand wollen wir beenden, das wollen wir mit die- sem Optionenmodell zumindest erreichen. Ich habe jetzt auch diese Menschen haben sich doch dabei etwas ge- die ganz konkrete Frage: Was ändert sich für diesedacht. Frau Merkel, Herr Rühe, Herr von Klaeden und Kinder nach Ihrem Gesetzesvorschlag gegenüber derandere wirklich honorige Mitglieder Ihrer Fraktion – heutigen Rechtslage? Wenn die Kinder hier geborenman kann noch mehr Namen nennen: Geißler, Blüm, sind, sind sie mit 18 – das ist das Alter, bei dem Sie die Schwarz-Schilling und Frau Süssmuth – haben sich aus Zusicherung der Einbürgerung geben wollen – länger als ihrer Überzeugung heraus, weil sie Art. 38 GG ernst 15 Jahre in diesem Land und haben deshalb nach gelten- nehmen, für dieses Optionsmodell ausgesprochen. Die dem Ausländerrecht einen Rechtsanspruch auf Ein-„FAZ“ berichtet über die Fraktionssitzung, daß darauf- bürgerung. hin von CSU-Abgeordneten Schmährufe wie „Ihr Weichlinge!“ kamen, ebenso laut wie die Aufforderung: Deshalb halte ich das, was Sie hier vorschlagen, für „Macht doch gleich eine Große Koalition!“ eine Verwirrung der Öffentlichkeit mit neuen Begrif- fen. In der Substanz ändern Sie nichts. Aus Sicht der (Kerstin Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE hier geborenen Kinder muß man sagen: Der Berg – die GRÜNEN]: Unglaublich!) Union – kreißte und gebar nicht einmal eine Maus. Die Union war schlicht scheinschwanger. Ich wür-Diese Art der Diskussion entspricht nicht der Toleranz, de mich freuen, wenn Sie mich jetzt belehren, daßdie dieses Thema verlangt. Sie doch schwanger sind. Erläutern Sie mir einmal Ihren Vorschlag: Was ändert sich gegenüber dem Ist- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Zustand? (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES Dann gab es noch einen weiteren Zwischenruf in Ih- 90/DIE GRÜNEN und der SPD) rer Fraktion, der sehr interessant ist; er ist in der „FAZ“ nachzulesen: Was hier passiert, ist das gleiche wie in den ande- (B) Vizepräsidentin Petra Bläss: Zu einer weiteren ren europäischen Staaten, der Zerfall des bürgerli-(D) Kurzintervention erteile ich das Wort dem Kollegen Mi- chen Lagers. chael Bürsch, SPD-Fraktion. So wird das bei Ihnen diskutiert. Ich glaube, da müssen Sie sich an Ihre eigene Nase fassen und prüfen, ob das Dr. Michael Bürsch (SPD): Herr Rüttgers, ich hatte tolerant ist, ob das dem entspricht, was Sie hier einfor- zu Beginn der Debatte dafür plädiert, die Diskussiondern. durchaus leidenschaftlich, aber tolerant und sachbezo- gen zu führen. Das haben Sie auch für sich reklamiert. Drittens. Bundeskanzler a. D. Kohl, den ich vorhin Bloß, Ihre Rede war insofern ein Widerspruch in sich. – zitiert habe, hat im Mai 1993 bei seinem Besuch in der Drei Bemerkungen. Türkei gesagt, er wolle zustimmen, in Deutschland ge- borenen Ausländern die doppelte Staatsbürgerschaft Erstens. Zu der Unterschriftenaktion, auf die auch befristet zuzugestehen. Nach einer Spanne von fünf Jah- andere CDU/CSU-Redner verwiesen haben – für Sieren müßten sich diese dann zwischen dem deutschen war sie eine Frage der Aufklärung –, sagt jemand wieund dem ausländischen Staatsbürgerschaftsrecht ent- Richard von Weizsäcker: scheiden. Er hat bei seinem dortigen Aufenthalt auch si- Die Materie ist für plebiszitär eingesammelte Un- gnalisiert, die Interessen der 1,8 Millionen Türken in terschriften viel zu komplex. Eine solche Ak-Deutschland bei der Novellierung des Staatsangehörig- tion könnte es auch beim besten Willen nichtkeitsrechts zu berücksichtigen. – Bravo, Herr Kohl! Das vermeiden, „Ausländer raus!“-Instinkte zu schü-sind Dinge, die bei Ihnen völlig zu Recht strittig und lei- ren. Sie paßt nicht zu einer Partei, die sich mitdenschaftlich diskutiert werden. großem Recht zum Zusammenschluß Europas Aber ich plädiere dafür: Lassen Sie uns bei aller Lei- bekennt. denschaft in der Debatte darauf achten, daß das Thema Das ist eine Stimme aus Ihren Reihen. sensibel ist – wie Sie selber geschrieben haben – und daß wir zu einer Lösung kommen, die der Integration Zweitens. Seien Sie doch so ehrlich, zuzugeben, daß dient. es auch bei Ihnen keineEinheitsmeinung gibt, Herr Rüttgers. Es handelt sich um eine schwierige Materie, Ein letzter Hinweis – auch Herr Westerwelle hat das bei der unterschiedliche Meinungen aufeinanderprallen. angesprochen –: Wir peitschen das nicht durch. Ich habe In Ihrer Fraktionssitzung am 19. Januar ist das ebenfalls darauf verwiesen: Das Thema Jus soli steht seit 86 Jah- passiert. Die „FAZ“, wirklich kein SPD-Blatt, hat lang ren auf der Tagesordnung, nämlich seit 1913. Das ist al- 2316 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999

Dr. Michael Bürsch (A) so wirklich nicht neu. Sie können nicht sagen, daß wir pfälzischen Landesregierung unter Führung von Mi-(C) hier etwas völlig Neues erfinden und Sie das nicht schon nisterpräsident Kurt Beck zu danken. lange gewußt haben. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) DIE GRÜNEN) Mein Dank gilt aber auch der Mehrzahl der übrigen Bundesländer, die sich in den Diskussionen sehr kon- struktiv verhalten haben. Vizepräsidentin Petra Bläss: Zur Erwiderung Herr Kollege Rüttgers, bitte. Ich bin überzeugt, daß der Gesetzentwurf, der im Rahmen der Ausschußberatungen in einzelnen Formu- lierungen möglicherweise noch der Überarbeitung be- Dr. Jürgen Rüttgers (CDU/CSU): Herr Kollege darf, in der Schlußabstimmung eine breite Mehrheit im Bürsch, ich habe all das, was Sie hier aus ZeitungenBundestag und im Bundesrat finden wird. Wir bilden ein vorgelesen haben, mit Interesse gehört; ich hatte es auch „Bündnis der Vernunft“, das auch die Zustimmung der gelesen. überwiegenden Mehrheit unseres Volkes finden wird. (Dr. Michael Bürsch [SPD]: Sie waren dabei!) Ich möchte der Hoffnung Ausdruck geben, daß sich die- sem Bündnis der Vernunft auch diejenigen aus der – Ich habe auch an der Debatte teilgenommen. – IchCDU/CSU-Fraktion hinzugesellen, die in der Vergan- weiß nur, daß wir in unserer Fraktion mit großem Enga- genheit haargenau denselben Standpunkt vertreten haben gement um die richtige Lösung gerungen haben. Bitte wie wir. nehmen Sie zur Kenntnis: Als wir in unserer Fraktion ganz offen und freundschaftlich um den richtigen Weg (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE gerungen haben, etwas für die hier geborenen Kinder GRÜNEN und der F.D.P.) ausländischer Familien zu tun, haben Herr Bundesin-Herr Rüttgers, die Aufregung, die Sie heute mit Ihrem nenminister Schily und Herr Özdemir in den Zeitungen Redebeitrag dargestellt haben, kann ich mir nur so erklä- bekanntgegeben, daß das Optionsmodell verfassungs-ren, daß ein tiefer Riß durch Ihre Fraktion geht, den Sie widrig ist. Damit sollten Sie sich einmal auseinanderset- übertünchen wollen. zen. Insofern finde ich das, was Sie hier sagen, nicht be- sonders erhellend. (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Ach Gott!) Wir haben uns klar für das entschieden, was nach un- Daß Modernisierungsbedarf hinsichtlich des Staats- serer Meinung richtig ist. Nehmen Sie bitte zur Kennt- angehörigkeitsrechtes besteht, wird von allen Seiten des (B) (D) nis, daß niemand aus der Fraktion der CDU/CSU – auch Hauses anerkannt. Die frühere Bundesregierung hat sich nicht diejenigen, die bei den ausländischen Kindern ger- jeweils zu Beginn der zurückliegenden Legislaturperi- ne einen Schritt weiter gegangen wären – Ihren Grup-oden die als dringlich erkannte Reform des Staatsbür- penantrag unterschrieben hat. Niemand aus gerschaftsrechtes der vorgenommen. Sie ist jedoch mit die- CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat ihn unterschrieben, sem Vorhaben mangels Einigungsbereitschaft unter den weil wir der Auffassung sind – das habe ich darzulegen früheren Koalitionspartnern immer wieder gescheitert. versucht –, daß dieser Entwurf nicht nur von der juristi- Wenn jetzt von seiten der CDU/CSU-Fraktion versucht schen, sondern vor allen Dingen auch von der prak-wird, die Reform des Staatsangehörigkeitsrechtes wieder tischen Seite her für diejenigen, die hier leben, schädlich auf die lange Bank zu schieben, ist das nicht seriös. ist, daß er nicht integrationsfördernd, sondern integra- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ tionshemmend ist. Deshalb bleiben wir bei einem Nein DIE GRÜNEN) zu Ihrem Entwurf. Leider muß ich auch aus der heutigen Debatte den (Beifall bei der CDU/CSU) Eindruck gewinnen, daß die CDU/CSU in dieser Frage zu großen Teilen nicht dialogfähig ist. Ich muß das so sagen im Hinblick auf einige Äußerungen, mit denen Sie Vizepräsidentin Petra Bläss: Letzter Redner in zum Beispiel immer wieder versucht haben, das Thema dieser Debatte ist der Bundesminister des Innern, Otto Staatsangehörigkeitsrecht mit der Frage der Verfas- Schily. sungstreue und mit Kriminalitätserscheinungen zu ver- binden. Sie wissen ganz genau, daß Sie da an bestimmte Emotionen rühren, die diese Debatte verdunkeln kön- Otto Schily, Bundesminister des Innern: Frau Präsi- nen. Lassen Sie sich einmal von kirchlichen Kreisen sa- dentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Der Ge-gen, daß man mit diesem Thema so nicht umgehen darf. setzentwurf, der Ihnen heute vorliegt, ist das Ergebnis (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ zahlreicher Gespräche mit Vertretern der Landesregie- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der rungen und Abgeordneten des Deutschen Bundestages. F.D.P.) Ich danke allen, die sich an diesen konstruktiven Ge- sprächen beteiligt und zu einer Versachlichung der Dis- Jeder Mensch kommt unschuldig auf , nicht kussion jenseits der Schlagwortrhetorik beigetragen ha- als Fanatiker, nicht als Verbrecher. Deshalb kann es ei- ben. Insbesondere habe ich Anlaß, den Koalitionsfrak- nem deutschen Kind deutscher Eltern geschehen, daß es tionen und der Fraktion der F.D.P. sowie der rheinland- leider zu einem Verbrecher wird. Es kann einem deut- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999 2317

Bundesminister Otto Schily (A) schen Kind deutscher Eltern geschehen, daß es leider zu behörden auch erhebliche Erleichterungen. Dazu ge- (C) einem Fanatiker wird, wie wir zum Beispiel an denhört folgendes: Skinheads erkennen. Wollen wir darauf so reagieren, Erstens. Die generelle Verpflichtung der Einbürge- daß wir die Jugendlichen, die diese Fehlentwicklung er- rungsbehörden, vor einer beabsichtigten Einbürgerung fahren haben, ausbürgern? Ist das Ihre Vorstellung von die Zustimmung des Bundesministeriums des Innern Demokratie und Verfassung? einzuholen, wird aufgehoben. Zugleich wird dem Bun- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ desministerium des Innern das Recht übertragen, zur DIE GRÜNEN) Ausführung des Staatsangehörigkeitsrechts allgemeine Verwaltungsvorschriften zu erlassen. In der Praxis ist Oder wollen Sie ungleiches Recht für die Jugendlichen für die weitaus meisten Fälle ohnehin die Zustimmung schaffen, die von ausländischen Eltern geboren wurden im Wege der Vorabzustimmung allgemein erteilt wor- und hier in gleicher Weise aufgewachsen sind? Wollen den, so daß mit dieser Rechtsänderung im Ergebnis eine Sie für die ein Extrarecht einführen? Vergewissern Sie Anpassung an die Einbürgerungspraxis erfolgt. sich erst einmal über das, was Sie sagen, ehe Sie mit dieser Polemik fortfahren. Zweitens. Ferner wird die Zuständigkeit für Staatsan- gehörigkeitsangelegenheiten von im Ausland lebenden Gewiß ist der Entwurf, den wir heute beraten, einAntragstellern beim Bundesverwaltungsamt konzen- Kompromiß. Er ist übrigens ein Kompromiß, der intriert. Diese Fälle mit Auslandsberührung, in denen bei der Tat für diese Legislaturperiode dann auch als ab-beabsichtigten Einbürgerungen derzeit noch relativ häu- schließender betrachtet werden sollte. Das ist meinefig eine Einzelfallbeteiligung des Bundesministeriums Überzeugung; damit wir uns da nicht etwas des vor- Innern erfolgt, können dadurch leichter nach ein- machen. Allerdings sage ich zugleich: Eine umfassende heitlichen Kriterien behandelt werden. Reform des Staatsbürgerschaftsrechts, auch wegen Drittens. Schließlich werden die Gebühren der Ein- einiger wichtiger Fragen aus der Vergangenheit, steht wanderungsbehörden für die Anspruchseinbürgerung uns noch bevor. Deshalb werden wir daran weiterar- nach dem Ausländergesetz auf ein kostendeckendes beiten. Ich hoffe, daß wir mit einer noch breiteren Niveau angehoben, und zwar von bisher 100 DM auf Mehrheit wieder in den nächsten Bundestag einziehen, grundsätzlich 500 DM; für die Einbürgerung Minderjäh- und dann wird dieses Thema wieder auf der Tagesord- riger ohne eigenes Einkommen bleibt es bei einer Ge- nung stehen. bühr von 100 DM. Das sage ich an die Adresse von (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Herrn Minister Schäuble, der diese Verwaltungsangele- DIE GRÜNEN – Dr. Guido Westerwelle genheiten in seiner Rede angesprochen hat. (B) [F.D.P.]: Das könnt ihr euch ja wünschen!) Viertens. Die wichtigste Verwaltungsvereinfachung(D) Der Kompromiß bleibt hinter dem, wie ich finde,besteht darin, daß die Einwanderungsbehörden von den konsequenteren Gesetzentwurf der F.D.P.-Fraktion aus Verfahren zur Einbürgerung von Deutschen ohne deut- dem Jahre 1993 und dem ebenfalls konsequenteren Ar- sche Staatsangehörigkeit – gemeint sind die sogenannten beitsentwurf auf der Grundlage der Koalitionsvereinba- Statusdeutschen im Sinne des Art. 116 des Grundgeset- rung vom Januar dieses Jahres zurück. Jedoch sollte der zes; das sind Vertriebene, Aussiedler und Spätaussiedler Reformschritt, der mit dem jetzt eingebrachten Gesetz- sowie ihre Familienangehörigen – entlastet werden. Die entwurf vollzogen wird, deshalb nicht unterschätzt wer- genannten Personengruppen erwerben die deutsche den. Es ist eine Reform von großer Tragweite, wenn im Staatsangehörigkeit künftig automatisch kraft Gesetzes. deutschen Staatsangehörigkeitsrecht festgelegt wird, daß Das Verfahren einer Anspruchseinbürgerung in jedem die Kinder der sogenannten zweiten Ausländergenera- Einzelfall – 1997 mußten immerhin zirka 195 000 Fälle tion – das sind die in Deutschland geborenen Kinderbearbeitet werden – wird abgeschafft. ausländischer Eltern mit verfestigtem Aufenthaltsstatus Der Gesetzentwurf enthält auch für die erste Auslän- – künftig mit Geburt die deutsche Staatsangehörigkeit dergeneration im Rahmen der Anspruchseinbürgerung erwerben. Die in dem Gesetzentwurf vorgeseheneOp- deutliche Verbesserungen. Die Frist für die Anspruchs- tionspflicht entspricht der Beibehaltung des Grund- einbürgerung wird von 15 auf 8 Jahre verkürzt, und die satzes, daß Mehrstaatlichkeit nach Möglichkeit vermie- Ausnahmeregelungen in § 87 Ausländergesetz werden den werden soll. Die verfassungsrechtlichen Probleme, gegenüber dem geltenden Recht flexibler gestaltet. – die sich in diesem Zusammenhang stellen, erscheinenHerr Dr. Rüttgers, das ist nicht Mehrstaatlichkeit durch mir auf Grund der gutachterlichen Stellungnahmen, die die Hintertür – Herr Kollege Westerwelle hat das schon wir eingeholt haben, lösbar. richtig angesprochen –; im wesentlichen ist das gelten- des Recht. Zum Teil haben wir aus den Einbürgerungs- Schwieriger ist die Frage zu beantworten, wie sichrichtlinien einiges in den Gesetzestext überführt. Wissen Verwaltungspraxis das Optionsmodell auf die aus- Sie, Herr Kollege Rüttgers, wir sind für Anregungen wirken wird. Leider – das sage ich ganz offen – müs- immer dankbar. Nun nehme ich Ihren Gesetzestext und sen wir damit rechnen, daß bei seiner verwaltungsmä-finde darin auf Seite 13 eine Passage, in der es unter Zif- ßigen Umsetzung einige Schwierigkeiten auftreten wer- fer 3 heißt, daß vom Ausscheiden aus der bisherigen den. Es wird unsere gemeinsame Aufgabe sein, die Staatsangehörigkeit abgesehen werden kann, Schwierigkeiten so gering wie möglich zu halten. Im- merhin – das sollte nicht übersehen werden – schaffen (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Kann! wir mit diesem Gesetzentwurf für die Einbürgerungs- Nicht muß!) 2318 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999

Bundesminister Otto Schily (A) wenn eine mindestens 35 Jahre alte antragstellende Per- heute geäußert wurde, ist ein böser Widerhall dieser(C) son zwar die Verweigerung der Entlassung zu vertreten schlimmen Worte. hat, sich aber seit 15 Jahren nicht mehr im Heimatstaat (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE aufgehalten hat, sofern sie während dieser Zeit minde- GRÜNEN und der PDS sowie des Abg. Hans- stens 5 Jahre rechtmäßig ihren gewöhnlichen Aufenthalt Michael Goldmann [F.D.P.]) im Bundesgebiet hatte. Wer nach Wegen sucht, den gesellschaftlichen Frie- Wissen Sie, das ist ein gute Anregung; die werdenden zu festigen, muß sein Selbstverständnis überprüfen wir übernehmen, darüber kann man reden. und den Gegebenheiten einer globalisierten Welt anglei- (Dr. Guido Westerwelle [F.D.P.]: Na, na, na! chen. Es ist seltsam, daß die CDU/CSU keine Probleme Herr Minister, das geht mir zu weit!) mit der Mehrstaatlichkeit eines Otto von Habsburg hat, jedoch einem Bürger türkischer Herkunft, der seit Jahr- – Herr Westerwelle hat Bedenken. – Aber es ist immer- zehnten bei uns lebt, gute Arbeit leistet, Steuern und So- hin interessant, daß Sie mit der Hinnahmezialversicherungsbeiträge der zahlt, ein rechtschaffenes Le- Mehrstaatlichkeit eine so weit gehende Regelung ein-ben führt und unsere Gesellschaft auch in kultureller führen wollen. Ich bedanke mich ausdrücklich für diese Hinsicht bereichert, die Beibehaltung seiner früheren Anregung, Herr Dr. Rüttgers. Staatsangehörigkeit verweigert. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der DIE GRÜNEN) F.D.P.) Mehrstaatlichkeit als Adelsprivileg scheint mir eine ziem- Auch die in unserem Gesetzentwurf enthaltenen Ein- lich veraltete und verquere Anschauungsweise zu sein. bürgerungserleichterungen sollten im Sinne einer umfas- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ senden Integrationspolitik als Angebot zur gleichbe- DIE GRÜNEN) rechtigten Teilhabe an die erste Generation der bei uns lebenden Bürgerinnen und Bürger ausländischer Her-Daß eine solche rückwärtsgewandte Politik so weit geht, kunft verstanden werden. Sicherlich kann ein umfassen- daß ein CSU-Bewerber um ein bayerisches Oberbür- des Integrationskonzept nicht allein auf die Reform des germeisteramt – ich zitiere wörtlich – „bis zum letzten Staatsangehörigkeitsrechts beschränkt werden. Aber die Blutstropfen“ gegen ein modernes Staatsangehörigkeits- Staatsangehörigkeitsreform ist ein wesentliches Element recht kämpfen will, hat dabei eine unfreiwillige Komik, einer umfassenden Integrationspolitik. Die Reform des die kaum noch zu überbieten ist. Staatsangehörigkeitsrechts ist sogar mehr als das: Sie ist (Beifall bei der SPD) (B) der Kern eines umfassenden Integrationskonzeptes, weil (D) Integration – davon bin ich fest überzeugt – nur gelingen Aber die Sache, um die es geht, ist überhaupt nicht kann, wenn den Bürgerinnen und Bürgern ausländischer komisch, sondern sehr ernst. Wenn es uns nicht gelingt, Herkunft über den Erwerb der deutschen Staatsange-durch ein modernes Staatsangehörigkeitsrecht und ein hörigkeit die gleichberechtigte Teilhabe am gesell- umfassendes Integrationskonzept die Ligaturen der Ge- schaftlichen Leben in Deutschland ermöglicht wird. sellschaft zu festigen, dann müssen wir damit rechnen, daß sich Konfliktpotentiale vergrößern, von denen wir in (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten den zurückliegenden Jahren allenfalls eine Vorahnung des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des hatten. Abg. Hans-Michael Goldmann [F.D.P.]) Wir müssen uns auf die grundsätzlichen Fragen be- Alles andere ist fauler Zauber, mit dem man davon ab- sinnen. In einem lesenswerten Aufsatz in der „Süddeut- lenken will, daß diese gleichberechtigte Teilhabe nicht schen Zeitung“ hat Reinhard Kreissl diesen Gedanken gewollt ist. vor wenigen Tagen so auf den Punkt gebracht: Wer im übrigen beständig den vermeintlichen Inte- Die Auseinandersetzung um das neue Staatsange- grationswillen beteuert, aber zugleich durch fragwürdige hörigkeitsrecht hat uns eine Debatte beschert, an Aktionen Ausländerfeindlichkeit schürt und damit die der man vor allen Dingen eines lernen kann: Wir Spaltung der Gesellschaft vertieft sowie seinen eigenen wissen nicht, wer zu uns gehört, oder, anders for- Worten zuwiderhandelt, sie quasi dementiert, kann in muliert, wir wissen nicht, wer wir sind. dieser Debatte nicht als glaubwürdig gelten. Ich für meinen Teil habe auf beide Fragen eine einfa- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ che Antwort: Zu uns gehört, wer die Verfassung und de- DIE GRÜNEN) ren Grundwerte achtet und unsere Gesetze einhält. Zu uns gehört, wer sprachfähig ist. Zu uns gehört, wer sich Wer sich dem gesellschaftlichen Frieden verpflich- mit dem gesellschaftlichen Leben in Deutschland auf tet weiß, muß daher die Reform des Staatsangehörig-seine eigene Weise ohne Leitkultur verbinden will. Wer keitsrechtes unterstützen. Wer die Bedeutung des gesell- wir sind, erkennen wir an der Würde jedes einzelnen schaftlichen Friedens erkannt hat, muß sich um Ver-Menschen, die zu achten und zu schützen uns durch ständnis und Ausgleich bemühen sowie von den altenArt. 1 des Grundgesetzes aufgegeben ist. Horrorbildern verabschieden. Ich habe noch die Worte des bayerischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber im (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Ohr, als er – leider – von der „homogenen, nicht durch- GRÜNEN und der F.D.P. – Dr. Guido We- raßten Gesellschaft“ gesprochen hat. Manches, was sterwelle [F.D.P.]: Ausgezeichnet!) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999 2319

(A) Vizepräsidentin Petra Bläss: Ich schließe die Aus- In einer freien und offenen Gesellschaft wie der, in(C) sprache. der wir leben, müssen politischen Extremen Werte wie Toleranz, Kreativität und konstruktive Leistungsbereit- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf schaft entgegengestellt werden. Wenn über politischen den Drucksachen 14/533, 14/535, 14/532 und 14/534 an Extremismus diskutiert wird, dann fängt dieSprach- die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor- verwirrung bereits mit der Bezeichnung und mit der geschlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? –Abgrenzung an. Wo ist die Trennlinie zwischen „ex- Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so trem“, „extremistisch“ und „radikal“? Allzuoft und allzu beschlossen. leichtfertig wird die Bezeichnung „politisch extrem“ als Kampfbegriff verwandt, und sie dient einer politischen Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf: Etikettierung. Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/CSU Bekämpfung des politischen Extremismus Ich will versuchen, politischen Extremismus zu defi- nieren. Es handelt sich um die prinzipielle Bereitschaft, – Drucksache 14/295 – zur Durchsetzung eigener Wertvorstellungen Gewalt an- Überweisungsvorschlag: zuwenden. Unter Demokraten sollte es unerheblich sein, Innenausschuß (federführend) ob es sich dabei um Gewalt gegen Personen oder „nur“ Rechtsausschuß um Gewalt gegen Sachen handelt, wie zum Beispiel ge- Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Angelegenheiten der neuen Länder gen Bahnanlagen. Extremistische Positionen sind durch Ausschuß für Menschenrechte und humanitäre Hilfe einen Absolutheitsanspruch, durch den Glauben an eine finale Problemlösung, durch ein ausgeprägtes Freund- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Feind-Schema, durch kompromißloses Kämpfen und Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen immer wieder durch ein antipluralistisches Politik- und Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Gesellschaftsverhältnis gekennzeichnet. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die Frakti- Diese Merkmale finden sich sowohl beim Rechts- on der CDU/CSU hat der Kollege Manfred Grund. wie beim Linksextremismus. Strategie, Taktik, ja Be- griffe sind oft deckungsgleich und austauschbar. Dabei Manfred Grund (CDU/CSU): Frau Präsidentin!wechseln Aktivisten und Sympathisanten sogar die La- Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lassen Sieger. Wer in seiner Jugend als Linksextremer begonnen mich eingangs aus dem Antrag der CDU/CSU-hat, beendet seinen Weg durch die politischen Instanzen Bundestagsfraktion „Bekämpfung des politischen Ex-oftmals als strammer Rechter. Links- und rechtsextremi- tremismus“ zwei wesentliche Sätze vortragen: stische Parteien wie die KPD und die NSDAP haben aus unterschiedlichen Ausgangspositionen die verfassungs- (B) Politischer Extremismus ist eine Kampfansage an (D) mäßige Ordnung der Weimarer Republik mit fast identi- die Demokratie und an die verfassungsmäßige Ord- scher Begründung, mit auswechselbaren Losungen, mit nung. ... Gerade auf dem Weg der europäischen gleichen Mitteln legal und illegal bekämpft und letztlich Nationen in ein geeintes Europa darf dem Extre- auch zu Fall gebracht. Die bürgerlichen Parteien und das mismus in Deutschland als dem größten Mitglied- Bürgertum haben dem Treiben hilflos zugesehen und es staat keine Chance gegeben werden. zum Teil sogar geduldet. Diesen Sätzen können sicherlich alle Parteien in die- Uns bleibt die Erkenntnis: Extremismus ist nur aus sem Hause zustimmen, und sie können sich sicherlich der Mitte der Gesellschaft heraus zu bekämpfen. Die auch der Aufforderung anschließen, daß jeder einzelne politische Mitte muß zu den Rändern hin integrieren, sie Bürger für sich prüfen möge, wo er einenBeitrag zur darf aber nie mit Extremen paktieren. Wer über politi- Demokratie und zur Sicherung der Freiheitleisten schen Extremismus und über politisch motivierte Straf- kann. Wenn politischer Extremismus eine Kampfansage taten spricht, kommt um die jeweiligen Verfassungs- an unsere Demokratie und an die verfassungsmäßige schutzberichte bzw. die Berichte der Landeskriminal- Ordnung ist, dann brauchen wir erstens staatliche An- ämter nicht herum. Deswegen folgen nun einige Ausfüh- strengungen zur Bekämpfung und Eindämmung des rungen zum Rechtsextremismus, zum Linksextremismus politischen Extremismus, und zweitens brauchen wir und zur politisch motivierten Ausländerkriminalität. dringend eine aktive geistig-politische Auseinanderset- zung der Bürgerinnen und Bürger mit allen Erschei- Zuerst das Erfreuliche: Sowohl bei den rechtsextre- nungsformen des Extremismus. mistischen wie auch bei den fremdenfeindlichen Ge- walttaten gingen die Fallzahlen 1998 um 5 bzw. 10 Pro- Die Demokratie legitimiert sich letztlich aus derzent gegenüber dem Vorjahr zurück. Aber im Bereich Identifizierung der Bürger mit dem Gemeinwesen, mit des Linksextremismus ist eine Zunahme um fast 4 Pro- unserer Verfassungsordnung. Wir benötigen die Bereit- zent zu verzeichnen. Bei der um fast 50 Prozent erhöh- schaft der Bürger, an der Bewahrung dieser Ordnungten politisch motivierten Ausländerkriminalität handelt mitzuwirken. Dabei hat der Staat Orientierungshilfen zu es sich fast ausschließlich um eine Steigerung der An- leisten. Doch nicht nur der Staat allein ist zur Orientie- zahl der Landfriedensbrüche und der Verstöße gegen das rung, zur Sinnstiftung aufgerufen. Es ist notwendig, daß Versammlungs- und Vereinsgesetz. sich Kirchen, Verbände und Gewerkschaften an dieser Diskussion beteiligen und daß Jugendlichen und Heran- Dem Linksextremismus sind der linksextremistische wachsenden insbesondere an den Schulen Werte ver-Terrorismus, die Autonomen, die anarchistische Ge- mittelt werden. waltszene, aber auch das linksextremistische Parteien- 2320 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999

Manfred Grund (A) spektrum zuzuordnen. Revolutionäre marxistische Par- Wenn wir heute hier über politischen Extremismus(C) teien und sonstige Gruppierungen unter Einschluß mar- debattieren, müssen wir gerade angesichts der Aktionen xistisch-leninistischer und trotzkistischer Organisationen militanter Kurden nach der Öcalan-Festnahme über haben sich in Erscheinungsbild und Zustand kaum ver- Ausländerextremismus reden. So waren allein im Jahr ändert. Sie verfolgen weiterhin das Ziel, die bestehende 1997 der PKK insgesamt 965 Straftaten, drei versuchte Staats- und Gesellschaftsordnung zu beseitigen und an Tötungsdelikte, 45 Körperverletzungen sowie 126 Raub- ihrer Stelle eine sozialistisch-kommunistische Gesell-und Erpressungsdelikte zuzurechnen. Bekannt sind schaft zu etablieren. Hier setzen sie nach wie vor aufSpendengelderpressungen, Entführungen Minderjähri- Klassenkampf und Revolution. ger, Gewaltandrohung und Gewaltanwendungen. Wer die Büroräume in Berlin, Frankfurt und nach Eine herausragende Bedeutung behält diePartei des den PKK-Besetzungen gesehen hat, hat ein von der Demokratischen Sozialismus. Ihr Verhältnis zur par- Militanz dieser Organisation. lamentarischen Demokratie bleibt weiterhin unbestimmt und zweideutig. Nach wie vor hält die PDS den außer- Dies wissend, haben der PDS-Bundestagsabgeordnete parlamentarischen Kampf für entscheidend. Carsten Hübner, der PDS-Landtagsabgeordnete Dittes und der PDS-Stadtvorstand von Erfurt zur Teilnahme an (Zurufe von der PDS) einer Demonstration der verbotenen Kurden-Partei Wenn von extremistischen Tendenzen innerhalb der PKK in Erfurt aufgerufen. Der Präsident des Landes- PDS die Rede ist, dann muß die Kommunistische Platt- amtes für Verfassungsschutz in Thüringen hat gegen- form der PDS angesprochen werden. Die Kommunisti- über der „Südthüringer Zeitung“ gesagt, die Initiative sche Plattform versteht sich als Zusammenschluß vonfür die Kundgebung sei von linksextremistischen Krei- Kommunistinnen und Kommunisten in der PDS, die für sen ausgegangen, und die Mitglieder der PDS wollten den Sozialismus als Ziel gesellschaftlicher Veränderun- die Kurdenproteste für eigene ideologische Ziele nutzen. gen eintreten. Dabei wird offen die Machtfrage gestellt, Die Ankündigung der Demonstration hat unter den Er- wobei parlamentarischer, aber vor allem außerparla-furter Bürgern Ängste und Befürchtungen ausgelöst, daß mentarischer Widerstand notwendig sei. die Demonstration eskalieren könne. Dank umfangrei- cher Information und eines besonnenen Polizeieinsatzes Aus diesem Umfeld einige Zitate: „Mit diesem Sy- eskalierte die Situation am 5. März aber nicht. Übrigens stem kann es keinen Frieden geben“, sagte Heinz Ma-hat die PDS zu einer ähnlichen Kundgebung in ron, einer der Sprecher der Kommunistischen Plattform. eingeladen. Weiter sagte Ellen Brombacher, daß die Dominanz des privatkapitalistischen Eigentums überwunden werden (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE müsse. Bei einer Demonstration in Sachsen-Anhalt hat GRÜNEN]: Sprechen Sie doch einmal zum (B) eine PDS-Sprecherin den Ausspruch getätigt: „Ob fried- Antrag!) (D) lich oder militant – wichtig ist der Widerstand.“ Meine sehr verehrten Damen und Herren, es gäbe zum Thema Extremismus noch vieles hinzuzufügen, Bei soviel Militanz mutet es schon merkwürdig an, insbesondere was die unterschiedliche Wahrnehmung wenn der Ministerpräsident von -Vor-von Extremismus in den neuen Bundesländern betrifft pommern, Harald Ringstorff, die Absicht äußert, die Kommunistische Plattform nicht mehr vom Verfas- (Beifall bei der CDU/CSU) sungsschutz überwachen zu lassen, obwohl sich die In- oder was die Frage betrifft, wie gewaltbereite Jugendli- nenministerkonferenz wenige Tage zuvor für eine weite- che wieder in die Gesellschaft integriert werden können. re Beobachtung der PDS durch das Bundesamt für Ver- Doch hierfür fehlt mir heute die Redezeit. fassungsschutz und die Länderbehörden ausgesprochen hatte. Bezeichnend für die unheilige Allianz in Meck- Es bleibt festzuhalten: Die Bekämpfung des Extre- lenburg-Vorpommern ist die Aussage des stellvertreten- mismus hat nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn der den Ministerpräsidenten Holter von der PDS, er bekenne Staat bereit ist, Extremisten und Gewalttätern von links sich zur „Systemopposition“, was wohl nur ein Be-und rechts gleichermaßen entschlossen entgegenzutre- kenntnis gegen die Werteordnung des Grundgesetzesten. Unsere Mitglieder dürfen sich nicht auf die Ränge bedeuten kann. einer „Zuschauerdemokratie“ zurückziehen. Der mündi- ge Bürger und die aktive Bürgergesellschaft müssen Seiner Zeit voraus war bereits Ende 1994 der Innen- Extreme und Extremisten in die Schranken weisen. Da- minister Dewes in Thüringen. Eine seiner ersten Amts- zu wollen wir von der CDU/CSU mit diesem Antrag handlungen als SPD-Innenminister war die Auflösung einen Beitrag leisten. des Referates „Geistig-politische Auseinandersetzung mit dem Extremismus“. Diese Dienststelle war nach der Herzlichen Dank. Wende vom damaligen Staatssekretär des Innenministe- (Beifall bei der CDU/CSU) riums, Michael Lippert, eingerichtet worden. Dem Refe- rat oblag unter anderem die Bewertung der PDS. Innen- minister und SPD-Landesvorsitzender Dewes hatte of- Vizepräsidentin Petra Bläss: Für die Fraktion der fensichtlich für sich eine eigene Bewertung der PDSSPD spricht jetzt die Kollegin Ute Vogt. vorgenommen. Er braucht die PDS, um in Thüringen Ministerpräsident zu werden. In diesem Zusammenhang Ute Vogt (Pforzheim) (SPD): Frau Präsidentin! paßt eine kritische Bewertung der PDS nicht in die Kar- Liebe Kolleginnen und Kollegen! Offen gestanden, lie- riereplanung. ber Herr Kollege Grund, fällt es mir ziemlich schwer, Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999 2321

Ute Vogt (Pforzheim) (A) auf der Grundlage Ihres vorgelegten Antrags eine Dis- ganz massiv zurückgehalten. Sie sammeln Unterschrif-(C) kussion über dieses sehr wichtige und grundlegendeten; aber Sie sind nicht bereit, die Menschen wirklich Thema zu führen. Beim ersten Durchlesen Ihres Antrags abstimmen zu lassen. Wenn man eine Grundgesetzände- habe ich mir gedacht, er hilft nicht und er schadet nicht, rung in Richtung auf die Möglichkeit eines Volksent- weil er nicht besonders viel enthält. Beim näheren Hin- scheides oder der direkten Mitbestimmung durchführen schauen bin ich aber ziemlich zornig geworden. würde, wäre das ein Beitrag, mit dem man die Absicht umsetzen könnte: Wir wollen wirklich, daß die Men- Die Überschrift Ihres Antrags lautet zwar „Bekämp- schen Demokratie mitgestalten. Jedenfalls wäre das ein fung des politischen Extremismus“, aber Sie haben kein größerer Beitrag, als wenn man nur davon spricht, daß einziges Wort darüber verloren, wie man politischen die Menschen verstärkt an der Arbeit des Parlaments Extremismus bekämpfen kann. Sie haben nur die Gele- teilnehmen sollen, weil sie das nach der jetzigen Verfas- genheit genutzt, sich über allgemeine Strömungen aus- sungslage, zumindest was die direkte Parlamentsarbeit zulassen, die Ihnen nicht passen. Sie haben keinen Ton angeht, nur als Zuschauer tun können. zu dem gesagt, was wir uns zueigen machen müssen, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Sie schreiben weiter: sowie bei Abgeordneten der PDS) Populistische Parolen extremistischer Gruppierun- nämlich eine Antwort auf die Frage zu geben: Wie ge- gen und Parteien tragen nicht zur Lösung gegen- hen wir damit um, daß extremistische Strömungen unse- wärtiger Probleme bei … re Demokratie bedrohen? Dazu muß ich Ihnen sagen: Das gilt nicht nur für Paro- Jetzt zitiere ich einmal aus Ihrem Antrag. Sie schrei- len extremistischer Parteien, sondern das gilt auch für ben, es geht darum, daß wir auch künftig in der Infor-Parolen der CDU/CSU, wie sie zum Beispiel in der vor- mation über das parlamentarische Regierungssystem angegangenen Debatte ausführlich zu hören waren. eine wichtige Aufgabe sehen. Wollen Sie mit solchen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Plattheiten dem Extremismus den Boden entziehen? – DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Das kann ich mir nun wirklich kaum vorstellen. PDS) Sie wollen die Bürgerinnen und Bürger ferner einla- Man kann Ihnen vielleicht unterstellen, daß Ihre Be- den, verstärkt an der Arbeit des Parlaments teilzuneh-weggründe für die Unterschriftenaktion nicht waren, men. Dafür sind auch wir. Aber wie wollen Sie das ma- solche Parolen loszutreten. chen? – Diese Anwort sind Sie schuldig geblieben. Es könnte etwa darum gehen: Wollen Sie mehr Fernseh- (Joachim Hörster [CDU/CSU]: Mehr Gelas- übertragungen? Dafür sind wir tatsächlich auch. Aber senheit!) (B) einmal ganz ehrlich gesagt: So, wie es hier zuweilen, (D) Sie hätten aber dann wenigstens im Laufe dieser Aktio- auch in der Auseinandersetzung, zugeht, weiß ich nicht, nen auf Grund der Reaktionen an den Infoständen, auf ob mehr Fernsehübertragungen und die Erhöhung der Grund dessen, was hochkam, auf Grund der Leserbriefe, Zahl der Besuchergruppen dem Zweck dienen könnten, die an die Zeitungen geschickt wurden – Dinge, die die Akzeptanz des Parlaments zu erhöhen. selbst konservative Zeitungen nicht mehr veröffentlich- (Beifall bei der PDS sowie des Abg. Hans- ten, weil man gesagt hat, daß eine solche Hetze in einem Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- solchen Maße nicht mehr zulässig ist –, Verantwortung NEN]) übernehmen müssen und hätten sagen müssen: Wir un- Was ich mir in diesem Zusammenhang durchaus wün- terbrechen unsere Aktion. schen würde, ist, daß wir einmal eine Auseinanderset- (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Bei unseren zung – ich meine das jetzt wirklich ernsthaft – über die Infoständen ging es ordentlich zu!) Frage führen, wie hier debattiert wird, in welcher Weise man miteinander umgeht, ob Argumente zum Tragen– Ich war in Städten an Infoständen, wo man mich nicht kommen. Denn ich habe den Eindruck, in vielen unserer gekannt hat, und ich kann Ihnen sagen: Vielleicht ist es Debatten – das gilt nicht für alle – beschränken wir uns bei Ihnen im Land ganz gesittet abgelaufen, aber die auf das Austauschen von Schlagworten. Das machtbaden-württembergische CDU hat dabei Reaktionen einen häufig ziemlich unzufrieden, und das ist sicherprovoziert, nicht nur auf eine Partei, sondern auf alle zu beziehen. (Zuruf von der SPD: Nein, das war überall!) Ich würde mich freuen, wenn wir das zum Anlaß näh- men, zu sagen: Wir überprüfen einmal, wie die Diskus- die genau dem entsprechen, was Sie hier verurteilen, sionskultur bei uns ist, und überlegen, wie wir in dieser nämlich populistische Parolen und einem brutalen Beziehung etwas tun können. Damit wäre vielleicht eine „Ausländer raus“-Stimmungsgefühl. erhöhte Akzeptanz zu erreichen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Aber wenn die Frage angesprochen wird, wie wir die des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Leute beteiligen können, wie wir die Arbeit des Parla- PDS – Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Das stimmt ments so gestalten können, daß die Menschen mehr teil- so nicht! – Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das haben können, wäre aus meiner Sicht etwas ganz ande- wollen Sie uns vielleicht einreden! – Volker res notwendig, zum Beispiel zu sagen: Wir eröffnen den Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Menschen auch die Möglichkeit zurdirekten Beteili- Dann kommen Sie mit einem solchen Wischi- gung. Dabei hat sich die Fraktion der CDU/CSU bisher waschi-Antrag!) 2322 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999

Ute Vogt (Pforzheim) (A) Weiterhin formulieren Sie, daß nicht nur die Politik Gibt es rechtliche Maßnahmen, mit denen man zum Bei- (C) Verantwortung hat, sondern auch andere gesellschaftli- spiel die organisierten Extremisten belegen kann? Gibt che Gruppen. Sie sprechen davon, daß diese Verant-es auch für uns eine Möglichkeit, ein Bewußtsein für wortung auch die Kraft zur Differenzierung umfaßt. Da- mehr Zivilcourage zu schaffen? zu muß ich Ihnen sagen: Ich kann nicht verstehen, wie Es gibt eine ganze Reihe von konkreten Themen, die Sie zum einen so etwas Läppisches – jetzt sage ich es man in diesem Zusammenhang in Angriff nehmen muß. einmal – zu diesem Thema einbringen können und wie Ich denke, wir sollten uns Zeit nehmen und nicht nur ei- Sie zum anderen auch noch die Stirn haben – nach dem, ne kleine Willenserklärung abgeben, sondern uns wirk- was heute morgen hier geäußert wurde –, über so etwas lich ernsthaft mit den Ursachen von Extremismus aus- auch noch debattieren zu lassen. Sie sprechen von der einandersetzen. Wir sollten eine tiefgehende Auseinan- Kraft zur Differenzierung und haben bewiesen, daß Sie dersetzung führen mit dem Ziel, gemeinsam ein starkes selber nicht in der Lage sind, zu vielen wichtigen The- Signal zu setzen, mit dem Ziel, daß es der gesamte Bun- men, in denen sich das Problematische im Umgang mit destag nicht dabei beläßt, Links- und Rechtsextremis- der Öffentlichkeit widerspiegelt, die erforderlich ma- mus gegeneinander auszuspielen, wie es Teile von Ihnen chen, daß wir sehr differenziert argumentieren, und die versucht haben, sondern deutlich macht: Wir stehen für den Extremismus in unserem Land geschürt haben, dif- die parlamentarische Demokratie. Wir stehen für eine ferenziert Stellung zu nehmen. lebendige Demokratie. Wir wollen, daß sich Bürgerin- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE nen und Bürger einbringen; wir wollen sie einbeziehen. GRÜNEN und der PDS) Wir setzen ein Signal, um gemeinsam gegen den Extre- mismus vorzugehen. Ich kann Sie deshalb nur auffordern: Wenn Sie wol- len, daß Politik Verantwortung übernimmt, vor allen Dazu müssen Sie allerdings diesen zusammenge- Dingen aber, daß sich andere verantwortlich verhalten, schriebenen Antrag beiseite legen, sich einmal tieferge- dann müssen Sie diese Verantwortlichkeit vorleben. Da hende Gedanken machen und sich dann mit uns ausein- genügt nicht ein Satz in einem Antrag. Es muß praktisch andersetzen, um eine gemeinsame, starke Willenserklä- agiert werden. Es ist nämlich viel entscheidender, wie rung zustande zu bringen. Das hätte eine entsprechende man sich verhält. Jede Mutter und jeder Vater wissen,öffentliche Wirkung; denn das wäre ein deutliches daß das eigene Vorbild wesentlich mehr bewirkt als das, Signal. Im übrigen wäre dies dem Thema wesentlich was man den Leuten erzählt. angemessener als dieses kleinkarierte Hickhack, wie es meinem Eindruck nach in Teilen Ihrer Beiträge zum (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Ausdruck gekommen ist. der CDU/CSU – Wolfgang Zöller [CDU/ CSU]: Das gilt aber für alle!) (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE (B) GRÜNEN und der PDS) (D) Daher bitte ich Sie, diese Dinge nicht nur in einem Satz einzufordern, sondern zu sagen: Mein eigenes Ver- halten wird dazu beitragen, daß es differenzierte Diskus- Vizepräsidentin Petra Bläss: Für die F.D.P.- sionen gibt. Das wäre die eigentliche Lösung für dasFraktion spricht jetzt der Kollege Dr. Max Stadler. Problem, um zu verhindern, daß extremistische Stim- mungen populistisch verschärft werden. – Weil Sie am Dr. Max Stadler (F.D.P.): Frau Präsidentin! Meine Schluß Ihres Antrags an jeden einzelnen appellieren,Damen und Herren! Der liberale Rechtsstaat des Grund- sich zu prüfen, möchte ich Sie bitten: Prüfen Sie sich in gesetzes ist eine wehrhafte Demokratie, wie das Bun- dieser Frage zuallererst selbst! desverfassungsgericht wiederholt ausgesprochen hat. Deshalb zählt die Bekämpfung des politischen Extre- Ich möchte Ihnen sagen, wie wir mit diesem Thema mismus zu den wichtigen Daueraufgaben der Innen- und weiter verfahren sollten. Dieses Thema ist uns wichtig. Gesellschaftspolitik. Die Bedeutung des Themas ließe Deswegen möchten wir es nicht – wie Sie – dabei belas- sich auch durch zahlreiche aktuelle Vorgänge belegen. sen, lapidare Sätze niederzuschreiben. Wir würden gerne So ist es schon ein bedenkliches Zeichen, wenn politi- eine intensive Diskussion führen mit denen, die sich da- sche Veranstaltungen aus Angst vor extremistischer für interessieren und die zuhören. Wir möchten auch ei- Gewalt nicht mehr durchgeführt werden können. ne ausführliche Debatte im Bundestag vorbereiten. Wir könnten uns gut vorstellen, den Zeitpunkt des Umzugs (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) nach Berlin zu nutzen, um zu Beginn unserer Arbeit dort, im September oder Oktober, ein entsprechendesGenau dies ist zum Beispiel dem Landesverband Bran- Signal zu setzen. Wir werden seitens unserer Fraktiondenburg der Jungen Liberalen am 6. März mit einer be- einen ausführlichen Antrag dazu vorlegen. Darin werden absichtigten Podiumsdiskussion zur Reform des Staats- nicht nur Appelle enthalten sein, sondern vor allem ganz angehörigkeitsrechts passiert. konkrete Maßnahmen benannt werden. Ein so ernstes und bedeutsames Thema muß dann Wir sollten uns darüber unterhalten: Aus welchemaber im Deutschen Bundestag auch auf angemessener sozialen Umfeld kommen die Leute? Wie sollen wir das Grundlage behandelt werden. Der vorliegende Antrag soziale Umfeld gestalten? Gelingt es uns, die Arbeits- der CDU/CSU genügt diesem Anspruch leider nicht. plätze zu schaffen, die wir brauchen? Gelingt es uns, (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- über Bildungspolitik Einfluß zu nehmen? Gelingt es uns ten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE über die Jugendarbeit? Wir sollten uns aber auch fragen: GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999 2323

Dr. Max Stadler (A) Er läßt jede klare Gedankenführung vermissen. Diechen von Extremismus kommt aber in dem Antrag nur(C) schwierige Thematik wird allenfalls an der Oberfläche unzureichend zum Ausdruck. Die Einladung an die Bür- berührt. Einzelne richtige und weiterführende Gedanken ger, verstärkt an der Arbeit des Parlaments teilzuneh- mischen sich in bunter Reihe mit Binsenweisheiten. Ins- men, ist zwar in Ordnung, kann aber doch wohl nicht gesamt wirkt der Antrag so, als sei er rasch und lieblos genügen. Wie steht es denn statt dessen mit verstärkten zusammengeschustert worden. Mitwirkungsbefugnissen der Bürgerinnen und Bürger etwa durch eine vorsichtige Ausweitungplebiszitärer (Beifall bei der F.D.P. und dem BÜNDNIS 90/ Elemente? DIE GRÜNEN) (Beifall bei der F.D.P. sowie des Abg. Dr. Kurz gesagt – ich kann es Ihnen nicht ersparen –: Mit [PDS]) einem solch dürftigen Antragstext wird ein wichtiges Thema geradezu verschenkt. Auch das Thema des kommunalen Ausländerwahlrechts (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- gehört in diesen Zusammenhang. ten der SPD und der Abg. Dr. Heidi Knake- Meine Damen und Herren, mir scheint ein Gedanke Werner [PDS]) entscheidend. Der frühere Bundesverfassungsrichter Deshalb hat man sich natürlich gefragt – auch bei derDieter Grimm Abfassung dieses Redemanuskriptes habe ich mich ge- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE fragt –, worin denn die Zielsetzung eines so formulierten GRÜNEN]: Er ist doch noch Verfassungs- Antrags liegen könnte. Ich habe schon befürchtet, daß er richter!) hauptsächlich den Zweck hat, die üblichen Diskussions- rituale in Gang zu bringen, die auf bestimmte Reizwör- hat kürzlich in einem Aufsatz dargelegt, daß die Ach- ter wie Pawlowsche Reflexe folgen. tung der Grundrechte denVerfassungspatriotismus ausmacht, der eine liberale und offene Gesellschaft (Beifall bei der F.D.P.) zusammenhält. Dies bedeutet für die Politik, eine Es war vorherzusehen, daß Sie der SPD die PDS vor-geistige Führung im Kampf gegen Extremismus halten. Es war vorherzusehen, daß mit der Unterschrif- wahrzunehmen, und zwar eine geistige Führung, die tenaktion gekontert wird. sich dadurch auszeichnet, daß sie sich auch nicht den geringsten Anschein von Anpassung an extreme Posi- Meine Damen und Herren, ich finde, all dies führttionen leistet, nach dem bekannten Motto: Neben uns nicht sonderlich weiter. Dabei gäbe es vieles, was drin- darf es keine extreme Partei geben. Dies ist ein sehr gend aufgearbeitet werden müßte. gefährliches Motto. Es birgt nämlich die Gefahr in (B) (Beifall bei der F.D.P.) sich, daß man politische Führung dahingehend versteht, (D) durch Adaption oder Teiladaption extremistischer Ich nehme allein den Posteingang der letzten beidenPositionen dafür zu sorgen, daß extremistische Par- Tage, um nur einige Beispiele auszuwählen. Darunterteien bei Wahlen den Einzug in das Parlament nicht befindet sich etwa der Jahresbericht der Wehrbeauf- schaffen. tragten mit einer wirklich lesenswerten Darstellung zu rechtsextremistischen und fremdenfeindlichen Fällen in Aber die Aufgabe besteht gerade darin, den Werte- der Bundeswehr im Jahre 1998. katalog der Grundrechte ohne jeden Abstrich offensiv zu vertreten, und zwar auch dann, wenn dies nicht allge- (Beifall der Abg. Dr. Heidi Knake-Werner meinen Beifall erheischen kann. Gelegenheiten, bei der [PDS]) Verteidigung von Grundwerten Rückgrat zu beweisen, Der Deutsche Gewerkschaftsbund hat den Abgeord- gibt es nur allzuoft. Wir werden zum Beispiel heute am neten in dieser Woche seine Mitteilungen zurMigra- späteren Nachmittag noch die Frage diskutieren, wie tionspolitik vom 1. März 1999 zukommen lassen. Dort ernst wir es mit der Geltung der Europäischen Men- lesen wir bedrückende Hinweise auf die Zunahme soge- schenrechtskonvention in einer bestimmten aktuellen nannter national befreiter Zonen. Über die Verbreitung politischen Frage nehmen, nämlich in bezug auf die Ab- von Extremismus im Internet wäre zu reden ebenso wie schiebung von Kurden. selbstverständlich darüber, wie verhindert werden kann, Deswegen noch einmal mein Appell, meine Damen daß sich politische Konflikte aus dem Ausland in derund Herren: Es ist leicht, sich auf die Grundwerte des Bundesrepublik Deutschland gewaltsam entladen.Grundgesetzes zu berufen, wenn dies allgemeinen Bei- Schließlich wäre Bilanz zu ziehen, welche Folgerungen fall findet. Aber es wird schwierig, wenn man zu den denn die Politik aus den Erkenntnissen der von unsGrundrechten und Grundwertenauch dann steht, selbst eingesetzten Kommission zur Verhinderung und wenn es dem Mainstream gerade nicht entspricht. Das Bekämpfung von Gewalt gezogen hat. Was hat eigent- aber ist die entscheidende Aufgabe im Kampf gegen den lich das Europäische Jahr gegen Rassismus wirklich ge- Extremismus. bracht? (Beifall bei der F.D.P. und dem BÜNDNIS 90/ Zu all dem findet sich in dem Antrag kein Wort. DIE GRÜNEN) Auch die Lösungsansätze sind äußerst dünn skizziert. Richtig ist dabei, daß alle gesellschaftlichen Gruppen Ein letzter Punkt. Ich meine, Radikalität bei der Be- und jeder einzelne Verantwortung trägt. Die Rolle derwahrung der Grundrechte zeichnet die Demokraten aus. politischen Institutionen bei der Bekämpfung der Ursa- Deswegen möchte ich an die Adresse der Union zu ih- 2324 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999

Dr. Max Stadler (A) rem Antrag noch eines anmerken: Von der Wurzel her, Ich zitiere ein Beispiel für die Substanzlosigkeit des (C) also radikal im Sinne des Wortes, zu denken ist oft ge- Antrags, den Sie hier vorgelegt haben: nug geboten. Daß dies aber, wie in dem Antrag gesche- Pauschalverurteilungen helfen nicht bei der Pro- hen, in begrifflicher Ungenauigkeit mit Extremismus blemlösung, können sie gar behindern. Dort, wo vermischt wird, der in der Tat zu bekämpfen ist, zeigt Probleme existieren, muß politisch gehandelt wer- ein weiteres Mal, daß mit wesentlich größerer Präzision den. und Gedankentiefe an diese Problematik herangegangen werden muß, Wie wahr! (Manfred Grund [CDU/CSU]: Wie eben in (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) meiner Rede!) Wollen Sie einen solchen Text ernsthaft in diesem Par- als es die Verfasser des Unionsantrags getan haben. lament zur Abstimmung stellen? Damit werden wir das Ansehen des Parlaments und der repräsentativen Demo- (Beifall bei der F.D.P., der SPD und dem kratie nicht gerade erhöhen; denn dieser Text zeigt le- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) diglich, wie man mit mehr oder minder gefälligen For- mulierungen gar nichts oder zumindest doch nur sehr wenig sagt. Denn wenn Sie das Thema wirklich ernst Vizepräsidentin Petra Bläss: Für die Fraktion nehmen würden – das hätte es verdient –, dann hätten Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt die Kollegin Anne- Sie wenigstens einen konkreten Vorschlag gemacht und lie Buntenbach. es nicht bei allgemeinen Appellen bewenden lassen. Aber wenn wir heute über dieses Thema diskutieren – Annelie Buntenbach (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ich muß sagen, wir diskutieren viel zu selten über NEN): Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Her- Rechtsextremismus –, dann will ich die Gelegenheit ren! Dem Zorn der Kollegin Vogt und auch dem Unver- nutzen, zum Thema und nicht nur zu Ihren Anträgen ei- ständnis, das der Kollege Stadler in bezug auf den vor- nige inhaltliche Bemerkungen zu machen. liegenden Antrag gerade geäußert hat, kann ich mich nur anschließen. Herr Grund, Sie muten uns hier schon Ich möchte als erstes bei der Betrachtung desExtre- einiges im Namen Ihrer Fraktion zu, wenn Sie ein somismus differenzieren. Das, was Sie Extremismus von zentrales Thema – das ist es ohne Zweifel; wir hattenlinks und rechts nennen, sind zwei ganz unterschiedliche schon in der letzten Legislaturperiode versucht, darüber Phänomene. Ich will hier keineswegs die Begehung von eine vernünftige Debatte zu führen, was uns von derStraftaten beschönigen; jede Straftat muß mit der not- damaligen Mehrheit jedoch verweigert worden ist – in wendigen Konsequenz verfolgt werden. Aber es besteht (B) dieser Form zur Debatte stellen. Sie legen einen einseiti- schon ein Unterschied, Kollege Grund, ob sich Gewalt(D) gen Antrag vor und halten zugleich eine Rede, bei der in erster Linie gegen Menschen richtet und sich auf Ihnen genau an dem Punkt, an dem Sie zum ThemaIdeologien stützt, die geradezu zu Gewalt und Vernich- etwas hätten sagen können, die Redezeit ausgeht. Das ist tung herausfordern, wie es im rechtsextremen Bereich wirklich sehr bedauerlich, und darum werden wir hier der Fall ist, oder ob es sich weitgehend um Sachbeschä- über dieses Thema noch einmal vertiefter diskutierendigungen oder Verstöße gegen das Versammlungsrecht müssen. handelt. Wenn zum Beispiel eine friedliche Demonstra- tion gegen die Abschiebehaftanstalt in Büren in den Die Debatte, um die es hier eigentlich gehen müßte, letzten Verfassungsschutzberichten unter Linksextre- hat nach Drucklegung Ihres Antrags eine traurigemismus aufgeführt wird, dann stellt sich schon die Fra- Aktualität erhalten. Am 13. Februar wurde in Guben der ge, was da eigentlich unter Linksextremismus verstan- algerische Flüchtling Ben Noui von rechtsextremenden wird. Denn Kritik an der Ausländer- und Asylpolitik Jugendlichen zu Tode gehetzt. Am 9. März wurde ineiner Regierung muß doch wohl erlaubt sein, ohne Saarbrücken ein Sprengstoffanschlag auf die Ausstel-gleich als Extremismus diskriminiert zu werden. lung „Vernichtungskrieg, Verbrechen der Wehrmacht 1941–1944“ verübt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der PDS) Gerade deshalb ist es sehr schade, daß die Vorlage, die Sie hier abgeliefert haben, ein Paradebeispiel für Ich gehe davon aus, daß es in diesem Haus unbestrit- Substanzlosigkeit darstellt. Ich kann mich des Eindrucks ten ist, daß der Rechtsextremismus derzeit das gravie- nicht erwehren, als wollten Sie mit der Vorlage dieses rende Problem darstellt. Die rechtsextremen Gewalttaten Antrags die Verantwortungslosigkeit Ihrer Unterschrif- sind keine Einzelfälle. Sie haben in weiten Teilen unse- tenkampagne und den Schaden, den Sie damit in der Ge- res Landes dazu geführt, daß sich diejenigen, die zu den sellschaft angerichtet haben, in einem Wasserfall vonGruppen der Opfer des Rechtsextremismus gehören, Floskeln ertränken. Das wird Ihnen aber nicht gelingen; nicht mehr angstfrei im öffentlichen Raum bewegen vielmehr können Sie sich die praktischen Konsequenzen können. Es ist inzwischen so weit, daß Berliner Schulen nicht ersparen. Eine erste praktische Konsequenz aus der keine Ausflüge mehr ins Brandenburger Umland ma- heutigen Diskussion wäre, daß diese Unterschriften-chen können. Neonazis haben „ausländerfreie“ oder kampagne sofort definitiv eingestellt wird. „national befreite Zonen“ ausgerufen und leider teilwei- se auch mit Gewalt durchgesetzt, so daß sich dort zum (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Beispiel in Stadtteilen oder Jugendzentren Menschen und bei der SPD) mit der falschen Hautfarbe zu bestimmten Zeiten, Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999 2325

Annelie Buntenbach (A) abends oder am Wochenende, nicht mehr frei bewegen Wir brauchen eine bessere Förderung demokratisch(C) können, ohne Kopf und Kragen zu riskieren. Diese mehr orientierter Jugendszenen und präventiverJugend- als bedrückende Tendenz wird zum Beispiel durch diearbeit. Es geht nicht an, daß die knappen Mittel in NPD logistisch unterstützt. Andere wie die DVU flankie- immer höherem Maße rechtsextremen Problemgruppen ren diese Strategie durch gigantische Propagandafeld-zur Verfügung gestellt werden. Es gibt zahlreiche züge mit ausländerfeindlichen und rassistischen Parolen. Beispiele dafür, daß Angebote der Jugendhilfe von organisierten Neonazis zur Stärkung ihrer Logistik ge- (V o r s i t z : Vizepräsident Rudolf Seiters) nutzt werden. Damit muß Schluß gemacht werden. Ge- Da reicht es dann nicht aus, in einem solchen Antrag rade in Regionen, in denen rechtsextreme Szenen eine mit gesetzten Worten niederzulegen, man wolle – ichDominanz erreicht haben, müssen die demokratisch zitiere erneut – „die Akzeptanz der repräsentativen De- orientierten Jugendszenen gefördert werden, um über- mokratie erhöhen“. Da ist auch von Ihnen, meine Da-haupt eine Vielfalt des kulturellen Angebots sicherzu- men und Herren von der CDU/CSU, ein Bekenntnis zum stellen. Faktum der multikulturellen Gesellschaft notwendig und nicht die Fortsetzung einer diskriminierenden Unter- Wir brauchen außerdem ein Verweigerungsrecht für schriftenkampagne. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, damit diese nicht weiter gezwungen werden können, sich an der Produk- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN tion und Verbreitung von rechtsextremer Propaganda zu sowie bei Abgeordneten der SPD und der beteiligen. PDS) Diese Maßnahmen sollen vor allem die gesellschaftli- Wir stehen als Politiker und Politikerinnen in einerchen Widerstandskräfte stärken. Die Maßnahmen sind in besonderen Verantwortung, weil wir die öffentlichender vorigen Legislaturperiode an der CDU/CSU ge- Debatten sehr stark beeinflussen. Führen Sie sich doch scheitert, ohne daß Sie andere Vorschläge gemacht hät- einmal all die Energie vor Augen, die Sie in den letzten ten. Auf diese anderen Vorschläge von Ihnen warte ich Jahren für die Heraufbeschwörung einer Kurdengefahr bis heute. oder einer islamischen Gefahr verwandt haben, die Sie in die Durchsetzung von Kinderabschiebungen gesteckt Wir halten im Kampf gegen Rechtsextremismus we- haben! Jetzt stellen Sie sich einmal vor, Sie hätten diese nig von Strafverschärfung und Einschränkungen der Energie statt dessen darauf verwandt, die tatsächlichen Rechte der Bürgerinnen und Bürger, die letztlich immer Fluchtursachen von Menschen, die hier Schutz suchen, einen Schritt in den autoritären Staat bedeuten. Unsere in die Gesellschaft hinein zu vermitteln! Politik zielt vielmehr darauf ab, die gesellschaftliche Auseinandersetzung zu stärken und den demokratisch (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (B) eingestellten Menschen Handlungsmöglichkeiten zu er- (D) sowie bei Abgeordneten der SPD und der öffnen, Zivilcourage und selbstverantwortliches Handeln PDS) zu stärken und zu unterstützen. Stellen Sie sich einmal vor, Sie hätten all die Energie, Nicht weniger, sondern mehr Demokratie ist der die Sie jetzt in Ihre diskriminierende Unterschriften- richtige Weg zur Bekämpfung des Rechtsextremismus. kampagne investiert haben und investieren, tatsächlich in die Vermittlung demokratischer Werte, von Toleranz (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, und Solidarität gesteckt! Ich bin sicher, dann hätten wir bei der SPD und der PDS) jetzt ein öffentliches Klima, in dem Rechtsextremisten weit mehr Probleme hätten, so offen zu agieren. Vizepräsident Rudolf Seiters: Das Wort für die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, PDS-Fraktion hat der Kollege Roland Claus. bei der SPD und der PDS) Neben dieser politischen Verantwortung, die wir mit Roland Claus (PDS): Herr Präsident! Meine Damen Sorgfalt wahrnehmen müssen, sind wir auch gefordert, und Herren! Liebe Kollegen Antragsteller, im Blick auf Maßnahmen zu ergreifen, um die gesellschaftlichen Wi- Sie von der CDU/CSU-Fraktion stelle ich zunächst ein- derstandskräfte gegen Rechtsextremismus zu stärken. mal fest, daß Ihre antiextremistische Aktionsgruppe hier Wir haben als grüne Bundestagsfraktion schon in der im Plenarsaal etwas klein ausfällt. Ihr Appell an den letzten Wahlperiode eine Reihe von konkreten Vor- einzelnen, sich zu beteiligen – Sie haben ihn in Ihrem schlägen gemacht, die wir jetzt mit der neuen Bundesre- Text verankert –, hat im Moment zirka 5 Prozent Ihrer gierung auch praktisch umsetzen wollen. Ich will nur ei- eigenen Fraktion erreicht. Da sehen Sie, wieviel Sie nige Beispiele nennen. noch zu tun haben. Wir brauchen eine Verbesserung des Schutzes und eine Unterstützung der Opfer rechtsextremer Gewalt. (Beifall bei der PDS) Die meisten dieser Menschen werden auch von der Ge- Ich stehe wie auch die anderen Rednerinnen und sellschaft ausgegrenzt. Sie trauen sich häufig nicht, zur Redner natürlich vor der schwierigen Frage, worüber Polizei zu gehen und Anzeige zu erstatten. Da ist esjetzt hier zu debattieren ist: über den uns vorgelegten dringend nötig, durch Beratungs- und Unterstützungsan- Text, gebote die Konfliktfähigkeit zu stärken. Wo Minderhei- ten an den Rand gedrängt werden, müssen wir sie offen- (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE siv in die Mitte der Gesellschaft zurückholen. GRÜNEN]: Bitte, ja!) 2326 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999

Roland Claus (A) darüber, was uns die geschätzten Kollegen mit dem Text Erst ganz zum Schluß, liebe Kolleginnen und Kolle- (C) möglicherweise sagen wollten, oder darüber, was siegen, kam mir der Gedanke, die CDU/CSU könnte uns, meinen, hier schon gesagt zu haben oder noch sagendie PDS, gemeint haben. Darüber habe ich lange nach- zu müssen? Dann stelle ich mir natürlich die Frage:gedacht. Aber auch nach längerem Grübeln fiel mir hier- Worüber hast du als Abgeordneter abzustimmen?für kein Anhaltspunkt ein. Auch die Rede des Kollegen Antwort: über den Text. So halte ich mich also an den Grund betrachte ich eher als Werbung für uns und nicht Text. als einen ernsthaften Anhaltspunkt für meine letzte Vermutung. Ich will nur eines sagen: Das Thema, um das es hier geht, wäre in der Tat für eine sehr ernsthafte Debatte ge- (Beifall bei der PDS) eignet, und es wird bitter notwendig sein – da teile ich So kam ich zu dem Schluß – dabei habe ich all meine die Auffassungen, wie sie die Kollegin Vogt und derRedlichkeit zusammengenommen –, daß die CDU/CSU Kollege Stadler hier geäußert haben –, über diesesdiesen Antrag völlig frei von Hintergedanken und Ver- Thema ernsthaft zu reden. Das aber, meine Damen und dächtigungen, also redlich vom Scheitel bis zur Sohle, Herren von der CDU/CSU, gibt Ihr Text nicht her. stellt. Wenn man so will, ist dies ein Antrag wie das (Christine Lehder [SPD]: Nein!) Schwert Karls des Großen: lang, breit, aber auch un- heimlich flach. Deshalb muß ich diesen Text hinterfragen. Deshalb schlage ich vor, diesen Antrag nicht erst zu Offenbar hat Sie bei der Abfassung des Antrages ein überweisen, sondern sofort über ihn abzustimmen. Bei starkes Harmoniebedürfnis getrieben. Ich weiß zwarso viel Einigkeit könnten wir uns das Recht und die nicht, woher bei Ihnen dieser Hang kommt; bei uns kann Freiheit nehmen, dem Antrag zuzustimmen oder ihn ab- ich mir das immer erklären, bei Ihnen nicht. Dennochzulehnen. Das Ergebnis wäre dasselbe. meine ich, die Unionsfraktion war wohl darum bemüht, partout einen Text vorzulegen, dem alle, aber auchIch danke Ihnen. wirklich alle im Bundestag zustimmen können. Dazu (Beifall bei der PDS und dem BÜNDNIS 90/ kann ich Ihnen sagen: Das ist Ihnen nur bedingt gelun- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der gen. Allerdings würden wir gern zustimmen, aber nur, SPD) sofern uns die Koalitionsfraktionen in dieser Frage nicht mit der CDU/CSU allein lassen. Diesen Eindruck habe ich im Moment allerdings. Vizepräsident Rudolf Seiters: Für die CDU/CSU- Bundestagsfraktion gebe ich Herrn Dr. Hans-Peter Uhl Trotzdem bleibt natürlich eine tiefe Nachdenklichkeit das Wort. (B) bei mir, weil ich mir nicht vorstellen kann, daß die (D) CDU/CSU wirklich nur eine Feindbildverzichtserklä- (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE rung innerhalb des Bundestages im Sinn hätte. Auch das GRÜNEN]: Lesen Sie uns den Antrag noch wäre nicht schlecht. So stellt sich die Frage: Hatten die einmal vor! Er ist so schön!) Autorinnen und Autoren tatsächlich ein Ziel für ihre Kritik vor Augen? An welche Adresse geht denn die Dr. Hans-Peter Uhl (CDU/CSU): Herr Präsident! Botschaft? Da habe ich mich einmal durchgefragt. In der Meine Damen und Herren! Ich glaube, es erübrigt sich, Regel kritisiert die Union hier die Regierung. Aber ich den Antrag vorzulesen. Ich nehme an, daß die Kollegen mag nicht glauben, daß die CDU/CSU in der Koalition von der Fraktion der Grünen des Lesens fähig sind. oder in der Nähe der Koalition Extremisten ausgemacht hätte, es sei denn, man geht nach dem Prinzip vor: Man (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE schlägt den Sack und meint den Kanzler. Hier kommen GRÜNEN]: Die Öffentlichkeit hat ein Recht, wir also nicht weiter. zu erfahren, was Sie hier vorhaben!) Irgendwann war ich kurz davor, bei den CDU/CSU- Ich möchte zu dem Antrag im Detail Stellung nehmen, Kollegen vorstellig zu werden, um aus erster Hand und und zwar in der Weise, in der wir es für richtig halten. aus berufenem Munde zu erfahren, was denn der tiefe (Ute Vogt [Pforzheim] [SPD]: Aber nicht auf Sinne ihres Vorhabens sei. Doch kurz davor hielt ich in- der Grundlage eines so läppischen Textes!) ne. Was, wenn die geschätzten Kollegen den Antrag als ernstgemeinten Fingerzeig nach innen, an die eigene Wer den politischen Extremismus wirklich bekämp- Adresse gemeint hätten? Da hätte meine Frage natürlich fen will, muß dies in beiden Richtungen tun. Das wurde sehr gestört. mit Recht bereits betont. Die rechtsextremen Parteien sind in Deutschland derzeit – glücklicherweise – von Aber auch das ist natürlich nicht des Pudels Kern.eifersüchtigem Konkurrenzdenken geprägt. Deswegen Kein Mensch käme auf die Verdächtigung, dem CDU- ist es ihnen bisher nicht gelungen, eine einheitliche Fraktionsvorsitzenden im Magdeburger Landtag eineSammlungsbewegung herzustellen, obwohl knapp Nähe zu Extremisten zu unterstellen, nur weil die DVU- 50 000 Personen dieses rechtsextremistische Potential Abgeordneten nach Christoph Bergners Reden Land-bilden. tagssitzung für Landtagssitzung Standing ovations ab- halten. Oder kam der CDU womöglich in den Sinn, daß Bei der vergangenen Bundestagswahl ist es den drei bei ihrem Straßenkampf um Unterschriften etwas ausrechtsextremen Parteien, der DVU, den Republikanern dem Ruder gelaufen sein könnte? und der NPD, trotz millionenschwerer Wahlkampfkon- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999 2327

Dr. Hans-Peter Uhl (A) zepte, Postwurfsendungen und Plakataktionen mit ex- Es war mehreren tausend Polizisten zu verdanken,(C) tremistischen Parolen nur gelungen, 3,3 Prozent derdaß es über Sachbeschädigungen und Körperverletzun- Zweitstimmen zu erreichen. In absoluten Zahlen sindgen hinaus nicht zu weiteren Ausschreitungen und zu das 1,6 Millionen Stimmen. Straßenschlachten in München anläßlich dieser Aus- stellung gekommen ist. Diese Erfahrung mit gewaltbe- (Dieter Wiefelspütz [SPD]: Viel zuviel!) reiten Demonstranten, die wir in anderen deutschen Das ist noch keine ernsthafte Bedrohung für die politi- Großstädten noch sehr viel deutlicher gemacht haben, sche Ordnung der Bundesrepublik Deutschland. Den-zeigt zumindest zweierlei – – noch – um hier einen falschen Zungenschlag zu vermei- den – werden die Verfassungsschutzbehörden diese Vizepräsident Rudolf Seiters: Herr Kollege Uhl, rechtsextremen Splitterparteien auch weiterhin sehrgestatten Sie jetzt eine Zwischenfrage? sorgfältig zu beobachten haben. Wir müssen diese schrecklichen Simplifikateure von Dr. Hans-Peter Uhl (CDU/CSU): Ja, bitte schön. rechts ebenso bekämpfen wie jene von links. (Beifall bei der CDU/CSU – Zurufe von der Vizepräsident Rudolf Seiters: Bitte, Herr Ströbele. SPD: Oh!) (BÜNDNIS 90/DIE Wir müssen den demokratischen Grundkonsens der Hans-Christian Ströbele GRÜNEN): Herr Kollege, sehen Sie einen Unterschied Gründerväter unseres Grundgesetzes wieder wachrufen. zu denen aus Gewerkschaftskreisen oder kirchlichen Ihnen war klar, daß es zwischen demokratischen Partei- Kreisen, die im Zusammenhang mit der Wehrmachts- en einerseits und Extremisten andererseits Trennungsli- ausstellung zu einer Gegendemonstration zur angekün- nien gibt. Der Rechtsextremist braucht den Linksextre- digten Demonstration von Rechtsextremisten aufgerufen misten und umgekehrt. Sie brauchen sich gegenseitig haben? Oder ist das für Sie das gleiche, wenn Mitglieder wie die Luft zum Atmen. von Gewerkschaften, Mitglieder von kirchlichen Orga- Ich möchte das an einem konkreten Beispiel aus mei- nisationen, Antifagruppen dazu aufrufen, gegen eine ner Erfahrung aus München deutlich machen: Als diesolche Meinungskundgabe von Rechtsextremisten auf umstrittene Wehrmachtsausstellung in München statt- die Straße zu gehen? fand – wie anschließend auch in anderen großen deut- schen Städten –, kam es, wie Sie wissen, zu sehr kontro- Dr. Hans-Peter Uhl (CDU/CSU): Ich bedanke mich versen Debatten. Diese Situation nutzten die beiden ex- für die Frage, Herr Ströbele. Sie gibt mir Gelegenheit, tremen Lager, um ihre jeweiligen Anhänger bundesweit (B) darauf hinzuweisen, daß wir natürlich zwischen der Per- (D) zu mobilisieren. Aus ganz Deutschland kamen sie mitsonengruppe, die Sie gerade geschildert haben, einer- Bussen angereist: die Neonazis, die Skinheads in Sprin- seits und den Links- und Rechtsextremisten andererseits gerstiefeln, die Anarchisten und Chaoten. differenzieren müssen. (Abg. Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/ (Heinz Seiffert [CDU/CSU]: Das ist doch DIE GRÜNEN] und Abg. Claudia Roth wohl klar!) [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] melden sich zu einer Zwischenfrage) Es gab – das können Sie nicht wissen, weil Sie, so neh- me ich an, zu dem Zeitpunkt nicht in München zugegen – Jetzt meldet sich eine Abgeordnete der Grünen zuwaren; zumindest waren Sie nicht wie ich Leiter der einer Zwischenfrage, die hinsichtlich dieses ThemasVersammlungsbehörde – drei Versammlungen. Die offensichtlich ein anderes Wahrnehmungsvermögendritte, von der Sie jetzt geredet haben, habe ich natürlich hat. nicht gemeint. Dort waren die Gewerkschaften, die SPD, Teile der Grünen anwesend. Andere Teile der Grünen waren bei den Linksextremen. Das ist der Punkt, von Vizepräsident Rudolf Seiters: Herr Kollege Uhl, gestatten Sie zunächst eine Zwischenfrage des Abgeord- dem ich rede, Herr Ströbele, nicht aber Sie. neten Dr. Ströbele? (Beifall bei der CDU/CSU) Der Staat muß diesen Chaoten, von denen ich rede, mit Dr. Hans-Peter Uhl (CDU/CSU): Im Anschluß an massivem Polizeiaufgebot Grenzen aufzeigen. Es darf meine Ausführungen gerne, Herr Präsident. Ich möchte kein Zurückweichen der Staatsgewalt geben; es darf keine erst das Beispiel zu Ende führen. Anschließend können rechtsfreien Räume geben, weil sich diese Chaoten genau wir über Einzelheiten debattieren. so stark fühlen, wie sie den Staat als schwach erleben. Bei dieser Demonstration zeigte sich sehr deut- (Beifall bei der CDU/CSU) lich, daß es dem gewaltbereiten Teil der linksextremen Vieles deutet darauf hin, daß das Demonstrationsge- Szene darum ging, eine direkte körperliche Auseinan- dersetzung mit dem nicht minder gewaltbereiten Teilschehen in Deutschland leider radikaler und gewaltbe- reiter wird, der rechtsextremen Szene zu suchen. Jeder Versuch der örtlichen Verlagerung der Rechtsextremen führte (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE dazu, daß ihnen die Linksextremen auf dem Fuße GRÜNEN]: Das wird seit 40 oder 50 Jahren folgten. erzählt!) 2328 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999

Dr. Hans-Peter Uhl (A) ausgelöst auch durch die importierten Konflikte desders empört darüber, daß auf allen drei Ebenen – Bun-(C) Ausländerextremismus. Wenn diese Prognose zutreffend desebene, Landesebene und kommunale Ebene – Parla- ist, werden dieGrenzen der Demonstrationsfreiheit mentarier der Grünen ebenso wie der PDS klammheim- klar zu ziehen sein. Es geht um die ganz praktische Fra- lich Sympathie für diese autonome Szene haben. ge – dieses Thema ist Ihnen, Herr Ströbele, als demon- (Christine Lehder [SPD]: Pfui!) strationserprobtem Parlamentarier bekannt –: Wie viele tausend Polizeibeamte müssen ihren Kopf hinhalten, um Unter dem Oberbegriff des antiimperialistischen Wi- gewaltbereite Chaoten von links oder rechts daran zuderstandes steht der deutsche Linksextremismus auf hindern, aufeinander einzuschlagen? vielfältige Weise mit der kurdischenPKK und der bas- (Beifall bei der CDU/CSU) kischen ETA in Verbindung. Heute weiß jeder, daß es richtig war, die PKK in Deutschland zu verbieten. Heute Wenn Sie es, wie ich, erlebt haben, was es heißt, mit weiß fast jeder – bis auf einige Unverbesserliche –, den Polizisten zwischen 4 000 Linksextremisten auf der einen Seite und einer gleich großen Zahl von Rechtsex- (Beifall bei der CDU/CSU) tremisten auf der anderen Seite – die nichts anderes vor- daß es unverantwortlich war, daß diese verbotene PKK haben, als aufeinander einzuschlagen – zu stehen, wenn dennoch in einigen Bundesländern unter den Augen der Flaschen, Steine und sonstige Gegenstände über ihrenPolizei Massenveranstaltungen durchführen durfte. In Kopf hinweg fliegen, dann kommt man sehr schnell zu diesen Ländern ist versäumt worden, eine klare Trennli- der Auffassung, daß das mit dem Grundgedanken dernie zwischen den militanten Anhängern der PKK und Demonstrationsfreiheit, wie sie im Grundgesetz veran- den vielen hier friedlich lebenden kurdischen Mitbür- kert ist, nichts, aber auch gar nichts mehr zu tun hat. gern zu ziehen. (Beifall bei der CDU/CSU) Wir alle kennen den vielzitierten Ausspruch von Es geht um den Mut zu einem konsequenten Ver-Bundeskanzler Schröder: „Wer unser Gastrecht miß- sammlungsverbot. Wenn zu einer öffentlich aufgeheiz- braucht, fliegt raus, und zwar schnell“. So hat er getönt. ten Stimmung sowohl links- wie rechtsextreme gewalt- Aber wer sich das Verhalten in Nordrhein-Westfalen bereite Berufsdemonstranten und in anderen Bundesländern gegenüber der verbote- nen PKK und ihren Massenveranstaltungen anschaut, (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE muß doch zugeben, daß die bewußt geduldeten politi- GRÜNEN]: Was ist denn das? Werden die be- schen Rechtsbrüche diesen Ausspruch von Schröder zu zahlt?) einem leeren Getöse machen. bundesweit angereist kommen, muß es rechtlich möglich (Beifall bei der CDU/CSU – Hans-Christian (B) sein, örtlich, zeitlich und thematisch begrenzt ein De- Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (D) monstrationsverbot für Extremisten beider Lager auszu- Stuttgart!) sprechen. Meine Damen und Herren, es wäre noch viel zu den (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Konsulatsbesetzungen und wie damit umgegangen wur- GRÜNEN]: Was ist ein Berufsdemonstrant? de, zu sagen. Ich will mir das hier ersparen und zum Wie kann man das werden?) Schluß kommen. Dies kann man derzeit nur, wie Sie wissen, wenn die Es gibt Bundesländer, die nach dem Motto handeln: Polizei zuvor kapituliert hat, wenn sie den „polizeilichen Deeskalation durch Wegschauen. Nein: Hinschauen ist Notstand“ erklärt hat. Über dieses Thema wird in näch- das Gebot der Stunde. ster Zeit zu reden sein; ich möchte das nicht weiter aus- führen. (Beifall bei der CDU/CSU) Das linksextremistische Potential besteht derzeit aus Das heißt, auch Bundesinnenminister Schily wird auf 34 000 Personen. Davon sind 6 000 genauer zu beach- seine Kollegen Landesminister zugehen und sie anhalten ten, weil sie zum anarchistischen Spektrum, zur soge-müssen: PKK-Veranstaltungen, auch unter kulturellem nannten autonomen Szene gehören. Dieser Kreis hatTarnmantel, müssen verboten werden. PKK- durch Gewaltbereitschaft, Brandanschläge, Sachbeschä- Veranstaltungen, auch wenn sie mit Hilfe von Stroh- digungen bundesweit auf sich aufmerksam gemacht. In männern angemeldet werden, müssen verboten werden. ihren Wahnvorstellungen kämpfen diese Anarchisten (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Die PDS gegen das kapitalistische System, für eine herrschafts- als Strohmann!) freie Gesellschaft, gegen die von ihnen so genannte Atommafia. Der Antifaschismus, den sie bekämpfen – Die Verwendung von PKK-Symbolen, die ich in Mün- wobei sie mit den Begriffen sehr locker umgehen; auch chen elf Jahre lang verboten habe, die in anderen Bun- ich selber bin aus deren Sicht ein Anhänger des Fa-desländern elf Jahre lang permanent erlaubt war, muß schismus –, drückt sich in Parolen aus wie: „dem staatli- endlich untersagt werden. chen Terror entgegentreten“, dem „Polizeistaat verhin- dern“ – als wären wir auf dem Weg zu einem Polizei- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE staat –, „Feuer und Flamme für den Staat“, „Deutsche GRÜNEN]: Sie haben Sorgen!) Polizisten schützen die Faschisten“ – wirre Gedanken, 31 000 Personen gehören zum islamischen Funda- die wir eigentlich bekämpfen müssen; da müßten wirmentalistenkreis; über den wäre auch noch zu sprechen. uns einig sein. Deswegen, Herr Ströbele, bin ich beson- Hier haben der Verfassungsschutz und der Bundesnach- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999 2329

Dr. Hans-Peter Uhl (A) richtendienst eine schwierige Aufgabe. Deswegen ver- nen allen wirklich klar – ich sage Ihnen, meine Herren(C) dienen sie die Unterstützung aller Parteien, von links bis von der CDU/CSU, das jetzt sehr ernsthaft – in welch rechts. schlechte Gesellschaft Sie in den letzten Wochen und Monaten geraten sind? Sie haben ohne Wenn und Aber Die Bekämpfung des politischen Extremismus ist die um der reinen Machtsicherung willen eine unselige Dis- Aufgabe des Staates, der demokratischen Parteien und kussion in diesem Land vom Zaun gebrochen und dabei jedes einzelnen. Die politische Ordnung in diesem Land entweder nicht gemerkt – was übrigens genauso ist vom Grundgesetz bewußt und aus bitterer Erfahrung schlimm ist –, zu welcher Polarisierung Sie beigetragen als wehrhafte Demokratie angelegt. haben, oder Sie haben es bewußt in Kauf genommen. Es Es ist die Aufgabe des Staates, im Kampf gegenwar Ihnen auch egal, wer Sie vereinnahmt hat. Rechtsextremismus und Linksextremismus das Recht (Manfred Grund [CDU/CSU]: Uns hat nie- durchzusetzen sowie Sicherheit und Ordnung zu ge- mand vereinnahmt!) währleisten. In dem Maße, wie dem Staat diese Aufgabe gelingt, wird er die Anerkennung seiner Bürger finden. Herr Uhl hat eben von Wahrnehmung gesprochen. Haben Sie wirklich wahrgenommen, was los ist? In un- Danke schön. serem Land werden Fremde zu Tode gehetzt? Haben Sie (Beifall bei der CDU/CSU) registriert, daß laut BKA-Bericht in den ersten fünf Mo- naten des Jahres 1998 3029rechtsextrem motivierte Straftaten begangen wurden, im zweiten Quartal 1998 Vizepräsident Rudolf Seiters: Das war die erste 164 Straftaten mit antisemitischer Motivation verübt Rede des Kollegen Hans-Peter Uhl. Ich darf ihm imwurden? Haben Sie zur Kenntnis genommen, daß Innen- Namen des Hauses dazu gratulieren. senator Werthebach am 18. Februar dieses Jahres gesagt (Beifall) hat, daß die Zahl rechtsextremistischer Gewalttaten im Jahr 1998 deutlich gestiegen ist? Haben Sie registriert, Ich gebe nunmehr dem Kollegen Hans-Werner Bertl daß das BKA uns mitgeteilt hat, daß das gewaltbereite von der SPD-Fraktion das Wort. rechte Personenpotential – das linke gibt es auch – von 1996 mit 6400 auf jetzt 8000 gestiegen ist? Hans-Werner Bertl (SPD): Sehr geehrter Herr Prä- Für uns im Parlament ist wichtig: Die Täter werden sident! Kolleginnen und Kollegen! Wir haben heuteimmer jünger. 60 Prozent von ihnen werden der Gruppe morgen in der ersten Lesung einen Gesetzentwurf be-unter 21 Jahren zugerechnet. Ich erinnere an diesem handelt, der in den letzten Wochen viel in unserem Land Punkt nur daran, was Ihr Fraktionsvorsitzender Schäuble verändert hat. Ich rede jetzt nicht von dem, was er fürzu unserem Sofortprogramm gegen Jugendarbeitslosig- (B) hier lebende Ausländer bewirkt, sondern davon, was sich keit gesagt hat: Wir würden sie ruhigstellen. (D) in unserem Land getan hat und was in unmittelbarem Zusammenhang mit Ihrem Antrag gesehen werden muß. (Manfred Grund [CDU/CSU]: Wir reden nach einem Jahr weiter!) Ich gebe zu, ich war von diesem Antrag im ersten Moment angetan, weil ich dachte, es kommen noch ein Hier gibt es vieles aufzuarbeiten, wenn wir diese Dis- paar Seiten. Sie haben wichtige Funktionen unsereskussion entsprechend Ihrem Antrag führen wollen. Parlaments angesprochen, zum Beispiel, unsere Arbeit Haben Sie – es ist eben angesprochen worden – den den Bürgern transparent zu machen. Natürlich ist es ein Bericht der Wehrbeauftragten gelesen, der erst wenige richtiges Anliegen und ein richtiger Auftrag, die „Ak-Tage alt ist? Sie hat von 320 Vorfällen in der Bundes- zeptanz der repräsentativen Demokratie zu erhöhen“.wehr im Jahr 1998 berichtet. Ich will jetzt gar nicht Das schließt natürlich den Kampf gegen Extremismus mehr auf die Ergebnisse des Untersuchungsausschusses jeder Richtung ein. Auch der richtige Hinweis, daßeingehen, der uns in der letzten Legislaturperiode wich- populistische Parolen extremistischer Gruppierungentige Erkenntnisse über Tendenzen in unserer Gesell- und Parteien nicht zur Lösung unserer Probleme bei-schaft und Bundeswehr vermittelt hat. tragen, sondern sie erhöhen, ist richtig. Ich will vor allem denen in Ihrer Fraktion, die den Dann folgt der Appell an alle gesellschaftlichenAntrag – der sehr kurz greift – gestellt haben und ihn Gruppen und an jeden einzelnen, aber auch an die Poli- vielleicht ernst meinen, die sich in den letzten Wochen tik, Verantwortung wahrzunehmen. Ich hoffe, Sie haben und möglicherweise auch heute morgen bei der Debatte sich bei diesem Appell nicht ausgenommen. Sie haben sogar heimlich geschämt haben – viele waren gar nicht sogar festgestellt: „Pauschalverurteilungen helfen nicht“, mehr hier –, deutlich machen, in welch schlechte Gesell- und Sie appellieren an jeden einzelnen, zu prüfen, „wo schaft sie in der letzten Zeit geraten sind. Da bejammert ein Beitrag für Demokratie und die Sicherung der Frei- Schönhuber in „Nation und Europa“, Ausgabe 2/99 heit geleistet werden kann“. – eine eindeutig rechtsextreme Publikation –, „daß Meine Damen und Herren, spätestens an dieser Stelle CDU/CSU mit ihrer Kampagne gegen die doppelte ist mir insbesondere im Zusammenhang mit der Diskus- Staatsbürgerschaft ein weiteres Mal das Bröckeln des sion heute morgen ein böser Verdacht gekommen. Die- rechten Randes anstreben“. ser Antrag zu diesem Zeitpunkt mit dieser Diktion ist In der „Jungen Freiheit“ verbreitet sich in diesem Jahr wie der Versuch einer schlechten Beichte und die Ab- Herr von Stetten, und in der Ausgabe 7/99 dieser rechts- sicht, sich die Absolution billig zu erschleichen. Ist Ih- extremen Zeitung gibt Ihr Fraktionskollege Martin nen eigentlich klar, was in unserem Land los ist? Ist Ih- Hohmann ein Interview und bekräftigt – jetzt Origi- 2330 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999

Hans-Werner Bertl (A) nalton –, daß die nationale Karte bei der Hessen-Wahl – das ist die Bundeswehr – (C) gestochen und den Sieg gebracht habe. Und weiter Ori- zeigt, wohin der Weg weist … ginalton – es wird jetzt ganz spannend –: „Die Moral- keule sauste nieder, aber siehe, sie tat gar nicht weh.“ Der Verfassungsschutz weist uns klar auf deutliche Wie recht er übrigens hat, denn er beschreibt Ihre Resi- Radikalisierungstendenzen sowie auf die Zunahme von stenz gegen diejenigen, die Sie gebeten haben, eine sol- volksverhetzenden, antisemitischen und den Natio- che Aktion zu unterlassen. Das waren die Kirchen, die nalsozialismus verherrlichenden Texten hin. Die Zahl Wohlfahrtsverbände, die Gewerkschaften, Sportvereine, der extremistischen Homepages hat sich in weniger als Arbeitgeberverbände, Unternehmensverbände und viele zwei Jahren verfünffacht: 1996 waren es in Deutschland Ihrer eigenen Kreisverbände. 32, jetzt sind es 156; weltweit ist die Zahl von 5 im Jah- re 1995 auf heute 448 angestiegen. In der Ausgabe 4/99 der gleichen Publikation läßt sich Ihr Kollege Wolfgang Zeitlmann – wir haben ihn Das ist der Grund, warum Ihr Antrag zu kurz greift. heute morgen hier erlebt – über „regierungsamtlichenEr ist vordergründig; er ist nicht ehrlich. Ich muß Ihnen Unsinn im Ausländerrecht“ aus. ganz offen sagen: Natürlich muß aus unserem Parlament Widerspruch gegen jede Form von Extremismus kom- Ich habe noch viel mehr Fundstellen; ich nenne siemen. Dabei brauchen wir keine Rechts-Links-Diskus- Ihnen alle. In der Ausgabe 45 vom letzten Jahr ist sogar sion. der Justizminister aus Sachsen zu lesen, der sich – es ging um die Diskussion von Walser und Bubis – darüber (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten verbreitet, daß Ignatz Bubis nicht nur sich selbst, son- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der dern auch dem Ansehen der Juden in Deutschland ge- PDS) schadet habe. Wir brauchen von dieser Stelle aus den Widerspruch ge- gen Ausgrenzung und Gewalt gegen jeden Menschen (Zuruf von der SPD: Hört! Hört!) und gegen jede Minderheit. Unsere Aufgabe ist es, eine Ich frage mich ganz ernsthaft: Wie können Sie, wenn stabile und an den Menschenrechten orientierte Repu- Sie hier einen solchen Antrag einbringen, in solchen Pu- blik für die Menschen in unserem Land als Wert erfahr- blikationen, die gleichzeitig in wüsten Angriffen überbar zu machen. Es ist dabei notwendig, auch im Parla- die ehemalige Präsidentin des Deutschen Bundestages, ment Klartext zu reden – vielleicht auch einmal scho- unsere Kollegin Frau Süssmuth, herfallen, Äußerungen nungslos. Denn es geht um unsere politische Hygiene. verbreiten oder verbreiten lassen? Merken Sie das alles Kompromisse dürfen sich die politisch Verantwortli- nicht? Nehmen Sie das nicht zur Kenntnis? Schauen Sie chen, also auch die Parlamentarier im Deutschen Bun- nur noch in eine Richtung? destag, da nicht mehr erlauben. (B) (D) (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Meine Damen und Herren von der Union, Sie müssen Rechts blind!) sich darüber klar sein, daß Sie eine schlimme Spur durch unser Land gelegt haben. Ich bin sicher, Sie werden aus Haben Sie einmal ins Internet gesehen, wie die Republi- dieser Sache nicht mit sauberen Füßen herauskommen. kaner ihre Anhänger zur bedingungslosen Unterstützung Ihren Antrag kann man wirklich nur ablehnen. Aber ich Ihrer Unterschriftenaktion auffordern? Oder haben Sie möchte Ihnen ein sehr ehrliches Angebot machen: Wir einmal das „Nationale Infotelefon“ von Andre Goertz, sollten uns fraktionsübergreifend zusammensetzen und einem bekannten Neonazi, abgehört? Ich zitiere einmal gemeinsam an dieser Problematik arbeiten, um dann ein ein paar Originaltöne: „Nationale Parteien unterstützen glaubwürdigeres Signal als Ihren Antrag aus diesem die Unterschriftenaktion.“ – „Sowohl die Republikaner Parlament heraus an die Bürgerinnen und Bürger in un- als auch NPD wollen die Aktion tatkräftig unterstützen serem Land zu senden. und bieten Mitarbeit an.“ Der Republikaner-Chef Rolf Schlierer meint: „Das ist ein Schritt in die richtigeDanke schön. Richtung.“ Der NPD-Bundessprecher Beier sagt: „Wenn (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE die Hauptzielrichtung gegen die doppelte Staatsbürger- GRÜNEN und der PDS) schaft bleibt, dann machen unsere Mitglieder bei der CSU/CDU-Aktion an vorderster Front mit.“ Das „Na- tionale und soziale Aktionsbündnis Norddeutschland“ Vizepräsident Rudolf Seiters: Das Wort zu einer verkündet: Wir „nehmen mit Genugtuung zur Kenntnis, Erklärung zur Aussprache nach § 30 der Geschäfts- daß auch CDU-Politiker den wirklichen politischenordnung gebe ich dem PDS-Abgeordneten Carsten Kampf aufgenommen haben.“ Hübner. Meine Damen und Herren, wir haben alle Internetan- schluß; schauen Sie doch einmal in das Thule-Netz! In Carsten Hübner (PDS): Sehr geehrter Herr Kollege der Nacht der Bundestagswahl erschien dort der Aufruf Grund, da Sie mich vorhin so freundlich angesprochen zu Gewalt und Bürgerkrieg. Ich zitiere den Originaltext: haben, erlauben Sie mir eine Erwiderung. Unter der SPD-Regie muß es schnell gehen – bevor Ich möchte Ihnen zuerst einmal mitteilen, in welchem die gewalttätigen Ausländer der 3. und 4. Genera- Zusammenhang der von Ihnen erwähnte Artikel in der tion ins Kampfalter kommen … Die Zeit für demo- „Südthüringer Zeitung“ erschienen ist. Die Demonstra- kratische Spielregeln ist vorbei … Die politischetion ist meines Wissens an einem Montagnachmittag an- Säuberung der Bunzwehr gemeldet worden. Bereits am darauffolgenden Dienstag Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999 2331

Carsten Hübner (A) erschien darüber ein Artikel in dieser Zeitung, der wie Des weiteren möchte ich auf das eingehen, was der(C) ein Interview aufgemacht ist, das angeblich ein Journa- Kollege von der PDS gesagt hat. Den „volksfestähnli- list der „Südthüringer Zeitung“ mit dem Landesverfas- chen Zustand“ kann es durchaus gegeben haben. Nur, sungsschutzpräsidenten Roewer geführt hat. Welchebei der Demonstration sind Kinder aufgetreten, die Rückschlüsse man daraus ziehen kann, überlasse ich Ih- Schilder umhängen hatten, auf denen stand: In uns allen nen selbst. Ich jedenfalls gehe davon aus, daß sowohlstecken kleine Öcalans. Ob das zu einem Volksfest mit die Polemik als auch der Zeitpunkt des Erscheinens die- dazugehört, wage ich zu bezweifeln. Insoweit habe ich ses Artikels kein Zufall sind; vielmehr sollten damit be- nach wie vor Bedenken gegen eine Veranstaltung, wie stimmte Stimmungen forciert und geschürt werden. sie im thüringischen Erfurt durchgeführt worden ist. Zum zweiten möchte ich Ihnen gerne mitteilen, daß die Koordinierungsgespräche zur Vorbereitung der De- Vizepräsident Rudolf Seiters: Ich schließe die monstration nach meinem Wissen sowohl mit dem In- Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der nenministerium als auch mit der Polizei, also mit den für Vorlage auf Drucksache 14/295 an die in der Tagesord- den Ablauf der Veranstaltung zuständigen Behörden, nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie völlig problemfrei verlaufen sind. Das hat unter anderem damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die dazu geführt, daß die Demonstration – abgesehen vonÜberweisung so beschlossen. einem relativ großen Polizeiaufgebot – in keiner Weise mit Auflagen, die verlesen werden, belegt worden ist, zum Beispiel ähnlich den Auflagen für Gewerkschafts- Ich rufe Tagesordnungspunkt 11 sowie die Zusatz- demonstrationen oder anderen Veranstaltungen. Ich bit- punkte 7a und 7b auf: te, auch das zur Kenntnis zu nehmen. 11. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. R. Der dritte Punkt, auf den ich hinweisen möchte, ist, Werner Schuster, Joachim Tappe, Adelheid Trö- daß die Demonstration völlig gewaltfrei und friedlich scher, weiterer Abgeordneter und der Fraktion verlaufen ist. Es gab weder Gewalttaten gegen Personen der SPD sowie der Abgeordneten Dr. Angelika noch solche gegen Sachen. Der Einsatzleiter der Polizei Köster-Loßack, Hans-Christian Ströbele, Kerstin vor Ort hat nach der Demonstration „dpa“ mitgeteilt, es Müller (Köln), Rezzo Schlauch und der Fraktion habe ein „volksfestähnlicher Zustand“ auf der Veran- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN staltung geherrscht. – Soviel zu Ihrer Aussage, die De- Reform der europäischen Entwicklungspolitik monstration sei nur deshalb gewaltfrei verlaufen, weil durch die deutsche EU-Ratspräsidentschaft ein massives Polizeiaufgebot am Rande der Demonstra- tion dafür gesorgt habe. Die Veranstaltung selber ist – Drucksache 14/538 – friedlich gewesen. Deswegen möchte ich Ihnen wie (B) Überweisungsvorschlag: (D) Herrn Köckert, dem Vorsitzenden der CDU-Fraktion im Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick- Thüringer Landtag, der in ähnlich ungehobelter Weise lung (federführend) wie Sie sowohl gegen meine Person als auch gegen den Auswärtiger Ausschuß Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Thüringer Landtagsabgeordneten Steffen Dittes Vorwür- Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union fe erhoben hat, mit einem Satz antworten: Kommen Sie wieder herunter! ZP7 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Ralf Brauksiepe, Klaus-Jürgen Hedrich, Dr. Christian Danke. Ruck, weiterer Abgeordneter und der Fraktion (Beifall bei der PDS) der CDU/CSU Europäische Entwicklungszusammenarbeit re- formieren Vizepräsident Rudolf Seiters: Das Wort zu einer Erwiderung hat der Kollege Manfred Grund. – Drucksache 14/537 –

(Dr. Willfried Penner [SPD]: Herr Präsident, Überweisungsvorschlag: wir sind hier nicht im Thüringer Landtag!) Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick- lung (federführend) Auswärtiger Ausschuß Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union Manfred Grund (CDU/CSU): Herr Präsident, ich möchte zuerst kurz auf die Rede des Kollegen Bertl ein- b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Joachim gehen und feststellen, daß in der Aneinanderreihung von Günther, Gerhard Schüßler, Dr. Helmut Hauss- Zitaten auch ein hoher Desinformationsgehalt liegen mann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion kann. Während der gesamten Debatte ist die Unter- der F.D.P. schriftenaktion angesprochen worden. Nach meinem Dafürhalten – diese Einschätzung muß niemand teilen – Eigenverantwortlichkeit der AKP-Staaten för- dern hat die Unterschriftenaktion in Hessen bewirkt, daß bei den dortigen Wahlen keine extremistische Partei in den – Drucksache 14/531 – Hessischen Landtag eingezogen ist. Wenn das allein Überweisungsvorschlag: durch die Unterschriftenaktion erreicht worden ist, ist Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick- das ein großer Erfolg. lung (federführend) Auswärtiger Ausschuß (Beifall bei der CDU/CSU) Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union 2332 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999

Vizepräsident Rudolf Seiters (A) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Für uns ist dieAgrarpolitik der EU ein zentrales (C) Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen Thema, insbesondere die Frage derExportsubventio- Widerspruch. Dann ist so beschlossen. nen. Wir denken, daß die europäischen Exportsubven- tionen nicht allein aus Gründen der WTO-Konformität Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort zu-abgebaut werden müssen, sondern vor allem wegen der nächst für das Bündnis 90/Die Grünen der Kollegin An- Ernährungssituation in den Entwicklungsländern und der gelika Köster-Loßack. Auswirkungen auf die dortigen Märkte. Wir kennen alle die Beispiele, daß durch die Subventionierung der euro- Dr. Angelika Köster-Loßack (BÜNDNIS 90/DIE päischen Agrarprodukte lokale Märkte im Süden schwer GRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undgeschädigt worden sind und weiterhin geschädigt werden. Kollegen! Es freut mich, daß in den vorgelegten Anträ- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gen zur Reform der europäischen Entwicklungspolitik sowie bei Abgeordneten der SPD und der ein Konsens darüber besteht, die deutsche Ratsprä- F.D.P.) sidentschaft und die Neuverhandlungen des Lomé- Abkommens für wirkliche Reformschritte zu nutzen. In Der Abbau der Agrarsubventionen wird nicht einfach der Frage, wie diese Reform erreicht werden kann, sehe durchzusetzen sein. Wir sind in diesen Tagen – nicht nur ich jedoch in den von den Oppositionsfraktionen vorge- in Deutschland – Zeugen massiver Bauernproteste gegen legten Anträgen einige Ungereimtheiten, auf die ichdie Agenda 2000 geworden. Aus entwicklungspolitischer noch eingehen werde. Wir haben gemeinsam mit unse- Sicht kann es jedoch keine Rechtfertigung einer unver- rem Koalitionspartner einen Antrag vorgelegt, mit dem änderten Weiterführung von Exportsubventionen geben. die wichtigsten Schritte für eine zukunftsfähige Ent-Wir müssen mit einem schrittweisen Abbau beginnen. wicklungspolitik dargestellt werden. Damit die Entwicklungspolitik wirklich zur Verbes- Lassen Sie mich zu Beginn festhalten: Wir wünschen serung der Situation in den Ländern des Südens beitra- keine Renationalisierung der Entwicklungspolitik.gen kann, müssen auch in den anderen Politikbereichen, Hierzu geben auch die jüngsten Entwicklungen in Brüs- die hier eine Rolle spielen, andere Prioritäten gesetzt sel keinen Anlaß. Den Rücktritt der Kommission sehe werden. Ich denke vor allem an dieRüstungspolitik, ich als Ausdruck eines demokratischen Prozesses in den nicht nur an die in Deutschland, sondern auch an die in Institutionen der EU. Wir sollten hierin auf keinen Fall den anderen Staaten der Europäischen Union. einen neuen Anlaß sehen, die Entwicklungspolitik stär- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ker in die Verantwortung der Mitgliedstaaten zurückzu- führen. Das würde gerade die dringend benötigte bessere Wir sehen nämlich die Krisenprävention als die zentrale Abstimmung der europäischen Entwicklungspolitiken Aufgabe der Entwicklungszusammenarbeit an. (B) verhindern. (Beifall der Abg. Ingrid Becker-Inglau [SPD]) (D) Mir ist leider auch nicht deutlich geworden, worauf Deshalb ist es wichtig, im Politikdialog nicht nur in Eu- die Unionsfraktion in ihrem Antrag hinaus will, wennropa, sondern auch mit den Ländern des Südens ihre in einerseits ein Zuviel an Zentralisierung und an starrem Relation zu den Ausgaben für menschliche Entwicklung Regelwerk beklagt wird und wenn andererseits im näch- viel zu hohen Rüstungsausgaben zu thematisieren. sten Satz die Zersplitterung der administrativen Zustän- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- digkeiten angesprochen wird. Auch unter dem Deck- SES 90/DIE GRÜNEN und der SPD) mantel des Stichwortes „Subsidiarität“ halten wir eine Renationalisierung für nicht geeignet, den immensen Damit ist auch eine Mahnung an unsere eigene Rü- entwicklungspolitischen Herausforderungen zu begeg- stungspolitik verbunden, insbesondere an unsere Rü- nen, insbesondere bei der Aufgabe der Krisenpräventi- stungsexportpolitik. on. (Dr. Norbert Blüm [CDU/CSU]: Richtig! Was wir allerdings brauchen, ist eine bessereKoor- U-Boote nach Südafrika!) dination und eine bessere Komplementarität zwischen In Zukunft müssen deutlichere Anstrengungen auf euro- den Entwicklungspolitiken der Mitgliedstaaten und der päischer Ebene gemacht werden. Der Code of Conduct Gemeinschaft. Es gibt einen Konsens darüber, daß die für Rüstungsexporte, wie er innerhalb der EU verab- Verteilung der Entwicklungspolitik auf vier verschiede- schiedet worden ist, ist lange nicht ausreichend und fällt ne Kommissare, drei Generaldirektionen und ECHOhinter unseren eigenen Standard zurück. dringend reformbedürftig ist. Wir wollen, daß die Zu- ständigkeit für die europäische Entwicklungspolitik in Zur Verhandlungsrunde in Dakar ist zu sagen, daß der Hand einer Kommissarin oder eines Kommissarsdort in wesentlichen Bereichen sehr gute Ansätze for- gebündelt wird. muliert worden sind. Jetzt kommt es auf die konkrete Umsetzung an. Ich möchte an dieser Stelle die Verant- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wortlichen in der Bundesregierung ganz herzlich darum sowie bei Abgeordneten der SPD) bitten, dafür zu sorgen, daß angesichts der Krise, die sich jetzt in Brüssel ergeben hat, die Verhandlungen Der Europäische Entwicklungsfonds sollte darüber nicht ins Stocken geraten, sondern termingerecht weiter- hinaus einer starken Kontrolle durch das Europäische geführt werden. Parlament unterworfen werden. Wie sinnvoll und wie wirksam das Europäische Parlament seine Kontroll- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN funktionen ausüben kann, haben wir gerade erlebt. sowie bei Abgeordneten der SPD) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999 2333

Dr. Angelika Köster-Loßack (A) Ich begrüße sehr, daß in Dakar dem politischen Dialog können. Hier schlagen wir die Einrichtung eines ge-(C) insbesondere über Menschenrechte und Demokratisie- meinsamen EU-AKP-Verbindungsbüros bei der WTO in rung sowie über das Einbinden der Zivilgesellschaft ein Genf vor. größeres Gewicht als bisher eingeräumt worden ist. Die positiven Ansätze der bisherigen Partnerschaft Es ist auch ein wichtiger Schritt, daß das Kriterium müssen in Zukunft verstärkt werden. Die aus der kolo- der verantwortlichen Regierungsführung zukünftig der nialen Hypothek herrührenden Prioritätensetzungen in Zusammenarbeit zwischen der EU und den AKP-der EU-AKP-Partnerschaft müssen überwunden werden. Ländern zugrunde gelegt werden soll. Ich denke, hier ist Auch anderen Ländern muß eine engere Partnerschaft aus den Fehlschlägen der Vergangenheit wirklich dermit der EU ermöglicht werden. Das ist aber eine mittel- gute Schluß gezogen worden, daß man nicht mehr ausbis langfristige Aufgabe und läßt sich nicht von heute normalen diplomatischen Gepflogenheiten heraus über auf morgen verwirklichen. Dazu gehört auch, den diese Fragen hinweggehen kann. Wenn es Defizite bei gleichberechtigten Dialog mit den Partnerländern insti- Good Governance gibt, muß das auch Folgen haben. tutionell so abzusichern und weiter auszubauen, daß es läuft. Weiter ist besonders hervorzuheben, daß als allge- meine Zielsetzungen Armutsbekämpfung, nachhaltige Die vielversprechendste politische Rahmenbedingung und umweltschonende Entwicklung sowie die schritt-für diesen Dialog bildet die Umsetzung der Agenda 21, weise Integration in die Weltwirtschaft klar formuliert wie sie in Rio verabschiedet worden ist. Hier sind zu- worden sind. In unserem Antrag fordern wir außerdem nächst die Industrieländer aufgefordert, ihre Produkti- die Einbeziehung der Nichtregierungsorganisationenons- und Lebensweise zu verändern, um im Gespräch nicht nur bei der konkreten Arbeit und bei der Umset- mit den Ländern des Südens glaubwürdig zu sein. Das zung, sondern auch in den politischen Dialog. Auch die gilt im übrigen auch für den Abbau der Korruption. Wir Vereinfachung und bessere Transparenz bei der Projekt- fordern von den Ländern des Südens Transparenz dar- abwicklung im Rahmen der europäischen NRO-Ko-über, wie sie ihre finanziellen Ressourcen einsetzen; finanzierung ist nicht zu unterschätzen; da werden noch auch wir müssen in diesem Zusammenhang Transparenz viele Abstimmungen nötig sein. Im Rahmen der Lomé- beweisen. Das ist deswegen eine gemeinsame Aufgabe. Folgeverhandlungen müssen wir zu differenzierten Mo- dellen für die EU-AKP-Zusammenarbeit kommen, da (Dr. Uschi Eid [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- die Bedingungen in den verschiedenen Regionen im NEN]: 100 000-Dächer-Programm für Solar- Rahmen dieses Abkommens sehr unterschiedlich sind. energie in der EU!) Die Weltmarktintegration dieser Staaten muß sehr Vielen Dank. behutsam vorgenommen werden, denn viele dieser Län- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (B) (D) der verfügen nicht über die entsprechenden Lieferpoten- und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der tiale, um von einer Weltmarktintegration wirklich zu CDU/CSU und der PDS) profitieren. Ihnen muß es durch eine angemessene Ent- wicklungszusammenarbeit erst ermöglicht werden, die notwendigen Strukturen und Produktangebote aufzu- Vizepräsident Rudolf Seiters: Das Wort für die bauen. CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege Dr. Ralf Brauk- siepe. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) Dr. Ralf Brauksiepe (CDU/CSU): Herr Präsident! Erst dann wird dieLiberalisierung in vielen Fällen Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die europäi- nicht zu einer Belastung der jeweiligen Inlandsmärkte sche Entwicklungszusammenarbeit ist reformbedürftig. führen, sondern den Ländern helfen, ihre eigene Aus-Diese Feststellung wurde nicht nur in der Rede der Kol- gangslage für eine nachhaltige Entwicklung zu verbes- legin Köster-Loßack getroffen, sondern darüber hat sern. Den im Antrag der F.D.P. vorgeschlagenen Weg, – wie auch hinsichtlich der Grundzüge der europäischen ausschließlich auf die Liberalisierung des Weltmarktes Entwicklungszusammenarbeit selbst – in diesem Haus, zu setzen, halte ich für nicht ausreichend und mit Blick soweit ich das beurteilen kann, weitgehend Konsens auf eine gewisse Übergangszeit sogar für falsch. bestanden. Dieser Konsens hat sich im letzten Jahr in einem gemeinsamen Beschluß der Fraktionen nieder- ( [Köln] [SPD]: Sehr richtig! Ty- geschlagen. pisch F.D.P.!) Uns war die Hoffnung gemeinsam, daß unter der Ich halte es für wichtig, daß wir von europäischer deutschen Ratspräsidentschaft diese Reformen vorange- Seite aus besonders die ärmsten Entwicklungsländer trieben werden. Nun ist uns allen aber – mindestens ins- stärker als bisher darin unterstützen, Verhandlungen in geheim – auch die Befürchtung gemeinsam, daß die der WTO überhaupt angemessen führen zu können. notwendigen Reformen unter die Räder kommen, nach- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dem der Bundeskanzler viel zu lange und letztlich doch und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der erfolglos an der jetzt zurückgetretenen Europäischen PDS) Kommission festgehalten hat. Damit hat er den Zeitraum für die Beschlüsse über die notwendigen Reformen un- Diesen Ländern fehlen bisher meist die personellen und nötig verkürzt. auch die finanziellen Ressourcen, um gleichrangig Ein- fluß auf die Verhandlungen in der WTO nehmen zu (Beifall bei der CDU/CSU) 2334 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999

Dr. Ralf Brauksiepe (A) Wenn man über Reformen der Entwicklungszusam- „qualitativen Schuldenerlaß“ nennen, bedeutet letztlich (C) menarbeit redet, dann darf man natürlich nicht nur über doch nichts anderes als eine einzelfallgerechte Entschul- Formalien, sondern muß auch über die Richtung, diedungsstrategie, für die auch wir uns aussprechen. Der solche Reformen auf europäischer wie nationaler Ebene Kollege Hedrich hat dieses Konzept vor Wochen also zu einschlagen sollen, diskutieren. Die rotgrüne Bundesre- Recht als Mogelpackung bezeichnet. gierung hat bei vielen Organisationen und bei mit ihr sympathisierenden Gruppen zweifellos hohe Erwartun- (Beifall bei der CDU/CSU) gen im Hinblick auf eine Neuorientierung der Entwick- Eine Erklärung darüber, was Sie unterglobaler Struk- lungspolitik geweckt. Sie, meine Damen und Herren,turpolitik verstehen, sind Sie uns bisher schuldig ge- haben aber zur Erfüllung dieser Erwartungen bisherblieben. Für CDU und CSU geht es bei der Wirtschafts- vorwiegend nur Überschriften produziert. ordnung in den Entwicklungsländern um die Einführung Ich will Ihnen einige dieser Überschriften in Erinne- und Festigung dersozialen Marktwirtschaft, einge- rung rufen. So postulieren Sie unter anderem einen hö- bettet in andere entwicklungsfördernde Rahmenbedin- heren Stellenwert der Entwicklungszusammenarbeit ins- gungen wie Rechtssicherheit, Beachtung der Menschen- gesamt. Wir können aber bisher nur feststellen, daß die rechte und Beteiligung der Bevölkerung an politischen Frau Ministerin nun ein paar zusätzliche Sitzungstermi- Entscheidungen. Diese bekannten, von uns schon vor ne, beispielsweise im Bundessicherheitsrat, hat. Ob sich Jahren aufgestellten Kriterien haben nach unserer Über- daraus wirklich konkrete Verbesserungen für die Men- zeugung nichts an Aktualität verloren und können auch schen in den Entwicklungsländern ergeben, bleibt erst nicht durch eine – wie auch immer geartete – globale einmal abzuwarten. Es darf nicht bei der Lieferung von Strukturpolitik ersetzt werden. Ich denke, es ist an der U-Booten nach Südafrika bleiben, sondern in diesemZeit, daß Sie einmal erklären, ob Sie unser Ordnungs- Bereich muß schon ein bißchen mehr geschehen. modell der sozialen Marktwirtschaft weiterhin als ent- wicklungsförderlich ansehen oder ob Sie es unter der (Beifall bei der CDU/CSU) Überschrift „globale Strukturpolitik“ durch etwas ande- res ersetzen wollen. Mir ist das bisher nicht klarge- Eine weitere Überschrift – ich will darauf eingehen, worden. obwohl sie schon einige Zeit zurückliegt – war die ge- forderte Steigerung des BMZ-Haushaltes. Auch in die- (Beifall bei der CDU/CSU) sem Punkt hat längst Ernüchterung um sich gegriffen. Selbst die Regierungsfraktionen im Ausschuß für wirt- Das Kernstück der europäischen Entwicklungszu- schaftliche Zusammenarbeit haben vor zwei Tagen ihre sammenarbeit ist ja zweifellos dasLomé-Abkommen, Enttäuschung über dieEntwicklung des BMZ-über dessen Weiterentwicklung zur Zeit diskutiert wird. Die Lomé-Kooperation war in der Vergangenheit durch (B) Haushaltes deutlich zum Ausdruck gebracht. Dabei wa- (D) ren Kürzungen, die wir auf Grund der Erfahrungen der Stärken wie auch durch Schwächen gekennzeichnet. letzten Jahre beim Europäischen EntwicklungsfondsDeshalb sind wir grundsätzlich für ein Festhalten an die- gemeinsam beschlossen haben, noch gar nicht einge-ser Kooperation, aber als Konsequenz aus den erkennba- rechnet. Man kann also nicht mehr – wir haben zu dieser ren Schwächen eben auch für eine Weiterentwicklung in Thematik in den Haushaltsberatungen ausführlich Stel- konzeptioneller Hinsicht. Wenn ich mir diese in der lung genommen – von einer Steigerung des BMZ-Vergangenheit im Konsens festgestellte Position vor Haushaltes reden. Mehr als eine Überschrift ist nicht üb- Augen führe, dann muß ich sagen, daß der Antrag der riggeblieben. Regierungsfraktionen, den Sie heute vorlegen, schon sehr enttäuschend ist. (Beifall bei der CDU/CSU) Meine Damen und Herren von den Regierungsfrak- Sie, Frau Ministerin, haben eine weitere, für uns nicht tionen, was Sie hier vorlegen – es tut mir persönlich leid ganz überraschende Überschrift produziert, als Sie sich für Leute wie Sie, Herr Schuster, die ja den Sachver- heute vor einer Woche in der „Süddeutschen Zeitung“ stand besitzen, auch etwas anderes zu formulieren –, ist, mit den Worten vernehmen ließen: „Wir überprüfen un- positiv ausgedrückt, sehr staatstragend. Man könnte sere Politik gegenüber Kuba.“ Nun ist Nachdenken und auch sagen: Es ist eigentlich nichtssagend, was in Ihrem Überprüfen an sich niemals schlecht. Aber aus unserer Antrag steht. Denn trotz Ihres verbalen Bekenntnisses Sicht wäre es besser, wenn Herr Castro selber seine ei- zum früheren Beschluß von CDU/CSU, F.D.P., SPD gene Kuba-Politik überprüfen würde. Ich glaube, dies und Bündnis 90/Die Grünen, der in diesem Hause vor wird in weiten Teilen der Europäischen Union nicht an- einem Jahr gefaßt wurde, gehen Sie deutlich hinter ihn ders gesehen. zurück. Enttäuschend ist vor allem das, was in Ihrem Antrag nicht steht. Ich komme darauf gleich zurück. Sie (Beifall bei der CDU/CSU) sagen zum Beispiel: Ich will noch zwei weitere Überschriften nennen. Sie Alle Beteiligten sind sich grundsätzlich über die sprechen von einemqualitativen Schuldenerlaß und Reformbedürftigkeit des Vertragswerks einig … von einer globalen Strukturpolitik. All dies hört sich sehr schön an, ist aber entweder nichts Neues oderDas ist sehr staatstragend. Ich lasse es einmal dahinge- nichts Greifbares. So hatte bereits die CDU/CSU-stellt sein, ob Sie uns das als wesentliche Aussage zum geführte Bundesregierung zahlreiche Initiativen zumLomé-Vertrag so hätten durchgehen lassen. Ich glaube, Schuldenerlaß auf den Weg gebracht, natürlich nicht in eher nicht. Ein bißchen konkreter hätten wir es dann Form eines pauschalen Schuldenerlasses. Was Sie nun schon gern. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999 2335

Dr. Ralf Brauksiepe (A) Sie werden immer da deutlich – jetzt komme ich auf gab es eine SPD-geführte Bundesregierung. Diejenigen, (C) den eben von Frau Kollegin Köster-Loßack angespro- die heute regieren, waren damals noch nicht dabei; viele chenen Punkt –, wo es um formale Fragen geht, dievon ihnen waren damals noch auf den Barrikaden. Von weitgehend unstrittig sind. Deswegen kann ich Ihnendaher kann ich noch einmal feststellen: Sie sind sehr sagen: Wenn es um dieStraffung der Kompetenzen staatstragend geworden. – Man ändert solche Strukturen der europäischen Entwicklungszusammenarbeit geht, al- ja nicht dadurch, daß man großspurig von der Vertretung so darum, wegzukommen von einer Struktur, in der die deutscher Interessen redet, sondern indem man das kon- Entwicklungszusammenarbeit auf vier Kommissare, drei kret an einem Punkt festmacht oder indem man zumin- Generaldirektionen etc. verteilt ist, dann haben Sie uns dest an diesem Ziel festhält. bei dieser Forderung auf Ihrer Seite. Deswegen sage ich: Statt – wie Sie es in Ihrem Papier (Dr. R. Werner Schuster [SPD]: Das ist doch fordern – ein neues EU-AKP-Verbindungsbüro und da- schon einmal ein Wort!) mit eine neue Bürokratie zu schaffen, sollten Sie dieses Geld lieber für die Entwicklungszusammenarbeit mit – Ja. – Aber für uns gilt eben auch das Prinzip derSub- anderen, den ärmsten Ländern zur Verfügung stellen, bei sidiarität. Das heißt, wir wollen keine eigenen Durch- denen es nur sachgerecht wäre, sie in dieses Programm führungsorganisationen auf europäischer Ebene, sondern aufzunehmen, und die Sie nicht dafür bestrafen sollten, wir sagen ganz deutlich – nicht nur vor dem Hintergrund daß sie nicht in die bisherigen, kolonial geprägten der Erfahrungen und Berichte der letzten Tage –: DasStrukturen der EU-AKP-Entwicklungszusammenarbeit können die nationalen Durchführungsorganisationenpassen. Jedenfalls für uns ist das bei der Reform ein besser; dazu brauchen wir keinen zusätzlichen bürokra- Schwerpunkt, auf den wir Wert legen. tischen Apparat in Europa. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU) Meine Damen und Herren, CDU und CSU wollen Nun müssen wir neben diesen formalen Fragen eben unter Beachtung des Grundsatzes derSubsidiarität – auch über die Inhalte der Entwicklungszusammenarbeit darauf legen wir Wert; dies haben wir auch in unserem auch und gerade mit den AKP-Staaten reden. UnsereAntrag zum Ausdruck gebracht – eine offene Diskussion gemeinsame Feststellung vor einem Jahr lautete unterüber Ziele, Instrumente, Schwerpunkte und auch Ver- anderem – ich zitiere –: tragspartner der europäischen Entwicklungszusammen- Die strukturkonservierend wirkenden STABEX-arbeit führen. Soweit wir dies im Konsens tun können, und SYSMIN-Instrumente müssen zugunsten flexi- haben Sie uns auf Ihrer Seite. Wir werden Sie nicht an bler Elemente, die … die Förderung kleiner undIhren Überschriften, sondern an Ihren Taten messen – mittlerer Unternehmen einschließen, umgewandelt im Interesse der Menschen, die Hilfe zur Selbsthilfe (B) (D) werden. brauchen. Davon findet sich in Ihrem Antrag leider nicht mehr sehr Vielen Dank. viel, außer der sehr wolkigen Überschrift eines Unter- (Beifall bei der CDU/CSU) punktes: „Politikkohärenz im Bereich der Außenhan- delspolitik“. Ich darf dem Kolle- Meine Damen und Herren von der Regierungskoaliti- Vizepräsident Rudolf Seiters: gen Brauksiepe zu seiner ersten Rede in diesem Hause on, da ist ja sogar Ihre Ministerin noch vor zwei Tagen im Namen der anwesenden Kolleginnen und Kollegen im Ausschuß weiter gegangen mit ihren Vorstellungen gratulieren. im Sinne dieses gemeinsamen Beschlusses zu Stabex und Sysmin, an dem wir festhalten. (Beifall) Ich will Ihnen ein weiteres Beispiel nennen, das unse- Nunmehr gebe ich für die SPD-Fraktion dem Kolle- re Enttäuschung über das verdeutlicht, was nicht in Ih- gen Werner Schuster das Wort. rem Antrag steht. In dem gemeinsamen Beschluß ist vor einem Jahr formuliert worden – ich zitiere wiederum wörtlich –: Dr. R. Werner Schuster (SPD): Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Ich will mit Darüber hinaus sollte das Abkommen einem Kompliment an die ganz linke Seite dieses Hau- – gemeint ist das Lomé-Abkommen – ses beginnen. Es war Ihr Antrag vom Dezember 1998, der eine Art Initialzündung ausgelöst und die großen weiteren Least Developed Countries offenstehen. Fraktionen angeregt hat, selber aktiv zu werden. Ich fin- de auch den Inhalt sehr bemerkenswert. Deshalb bedau- Ich halte dies für ein ganz zentrales Anliegen und frage re ich immer wieder, daß in diesem Hause nicht ent- mich: Wo ist das eigentlich in Ihrem Antrag konkret ge- scheidend ist, was jemand sagt, sondern wer es sagt. blieben? Es kann doch wohl nicht sein, daß die früher einmal bestehenden kolonialen Strukturen weiterhin be- (Beifall bei der PDS) stimmen, wer im Rahmen der EU-AKP-Zusammen- arbeit eigentlich unser Vertragspartner ist. Nun ist esDas ist sicher ein großer Nachteil. natürlich nicht ganz einfach, an dieser Struktur etwas zu Allerdings muß ich nach Vergleich der vier Anträge ändern. Es handelt sich ja um Strukturen, die im Grund- deutlich sagen, daß sich Ihr Antrag und auch der Antrag satz schon seit den 70er Jahren bestehen. Auch damals der F.D.P. vom Ansatz her ausschließlich aufLomé be- 2336 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999

Dr. R. Werner Schuster (A) ziehen, während wir, die Regierungsfraktionen, und die Wir wünschen Ihnen – da bin ich mit Ihnen, Herr Brauk- (C) CDU/CSU, wie ich glaube, zu Recht den Gesamtrahmen siepe, und der CDU offensichtlich einer Meinung – bei gesehen haben. diesem Unternehmen viel Erfolg. Ich hoffe sehr – das wird es Herrn Kollegen Brauk- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ siepe vielleicht verständlich machen, warum ich so DIE GRÜNEN) staatstragend formuliere –, daß wir, zumindest die Re- Damit bin ich bei der Kritik an Brüssel. Sehr geehrter gierungskoalition gemeinsam mit der großen Opposi-Herr Hedrich, ich habe manche Dinge nicht vergessen. tionsfraktion, nach den Beratungen im Ausschuß zu ei- Sie haben immer dafür votiert – im Detail waren wir ner gemeinsamen Beschlußempfehlung kommen. Wir beide uns immer einig –: Wer Kritik an Brüssel übt, muß haben uns nämlich in den letzten Jahren immer wieder sich zuerst an die eigene Nase fassen. gewünscht, wenigstens in der Entwicklungszusammen- arbeit gegenüber Brüssel mit einer Stimme zu reden. Das fängt damit an, daß man bei den Entscheidungen Hier, Herr Hedrich, sollten wir uns davon unterscheiden, persönlich anwesend ist. Zweitens muß man zum Bei- wie wir gestern die Diskussion zum Thema Agendaspiel dafür sorgen, daß in Brüssel deutsches Personal 2000 geführt haben. vorhanden ist. Wir zahlen ungefähr 25 Prozent. Der Anteil des deutschen Personals in den entsprechenden (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Generaldirektionen liegt unter 10 Prozent. Hier müssen DIE GRÜNEN) wir unsere Haushälter überzeugen, daß wir jungen Be- Unserem Anliegen nützt es sehr, für Brüssel einen Kon- amten eine Karriere eröffnen, wenn sie unsere wohlver- sens zu finden, aufeinander zuzugehen. Ich denke, wir standenen deutschen Interessen in Brüssel – übrigens werden in den Beratungen das eine oder andere von Ih- auch bei der UNO – vertreten. nen übernehmen. (Beifall bei der SPD) Zweitens möchte ich mich im Gegensatz zu Ihnen Meine Damen und Herren, ich wiederhole den Vor- ausdrücklich bei der Frau Ministerin bedanken und sie schlag, den ich schon in der letzten Wahlperiode ge- an dieser Stelle loben. macht habe – hier spreche ich auch unseren Ausschuß- (Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Das steht ja vorsitzenden, Herrn Kraus, an –: Wir müssen dafür sor- auch in Ihrem Antrag!) gen, daß wichtige Beschlüsse des Bundestages vor allem dann, wenn sie einstimmig gefaßt worden sind, auch in Frau Tröscher, Herr Dzembritzki und ich waren vor Brüssel gelesen werden. Das heißt, sie müssen hinge- 14 Tagen in der berühmten DG VIII in Brüssel, beischickt und vorher, Frau Ministerin, möglichst ins Eng- Herrn Lowe. Wir waren überrascht, als er ungefragtlische übersetzt werden. Dort wird eben nur Englisch (B) zwei Dinge sagte. Er sagte, ihm habe imponiert, daß die oder Französisch gelesen. Wenn wir wollen, daß unsere (D) neue deutsche Bundesregierung erklärt habe, die Ent-Beschlüsse das Europäische Parlament und die Kom- wicklungszusammenarbeit sei ein wesentlicher Teil der mission beeinflussen, müssen wir unsere Ergebnisse ent- Friedenssicherung. Das hätten wir auch in den letzten sprechend vorlegen. Das sollte doch wirklich möglich vier Jahren gern einmal so deutlich gehört. sein. (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Es ist ganz bezeichnend und im Vergleich zu den GRÜNEN und der PDS) letzten acht Jahren ungewöhnlich, Herr Hedrich, daß die Zudem hat er gesagt, es habe Eindruck gemacht, daßFrau Ministerin gemeinsam mit ihrer Kollegin Clare nicht irgend jemand, sondern die Ministerin selbst imShort und mit Charles Josselin ein Positionspapier veröf- Europäischen Parlament gesprochen hat. Das hätten wir fentlicht hat. Das ist doch auch schon ein Schritt: Man früher auch gern so gehabt. darf nicht nur kritisieren, sondern muß zusehen, wie man in Brüssel Verbündete findet, um dann gemeinsam (Beifall bei der SPD und der PDS sowie bei etwas zu bewirken. Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Insofern ist verständlich, daß die DG VIII – da haben Insofern bitte ich um Verständnis, Herr Kollege Sie recht, Herr Kollege Brauksiepe – große Erwartungen Brauksiepe, daß wir bewußt nicht wiederholt haben, was an die EU-Präsidentschaft hat. wir schon vor einem Jahr formuliert haben. Das haben Ich will nur vorbeugen: Frau Ministerin, wir waren wir inkorporiert. Wir sind uns da in vielen Grundsatzfor- uns der Beschränkung auf diese sechs Monate bewußt. derungen, wenn auch nicht in der Frage der Liberalisie- Wir wissen, daß Sie dies alles nicht in sechs Monatenrung, einig. Das haben wir aber bewußt nicht wiederholt. lösen können. Wir hoffen aber, daß Sie entscheidende (Zuruf von der CDU/CSU: Das war doch bis- Impulse geben können bzw., wie ich immer flapsig sage, her unverbindlich!) den Zug auf das richtige Gleis bringen. Das wäre schon ein Fortschritt gegenüber dem, Herr Hedrich, was wir in Uns hat die Kommission einen Gefallen getan, indem den letzten acht Jahren erlebt haben. sie komplett zurückgetreten ist. Nach einem solchen Rücktritt gibt es ein neues Spiel. Diese Chance, meine (Beifall bei der SPD und der PDS sowie bei Damen und Herren, sollten wir nutzen. Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999 2337

Dr. R. Werner Schuster (A) Das ist ein Neuanfang. Dabei geht es auch um institutio- ich nur noch eines sagen: Für mich ist gerade in Afrika(C) nelle Reformen. Wir sind uns doch darin einig, daß esdas zentrale Thema dieRüstungsexportkontrolle. Es schwachsinnig ist, daß vier Kommissare, drei Generaldi- ist schlicht Heuchelei, wenn wir über die Bürgerkriege rektionen und ECHO unabhängig voneinander arbeiten. jammern und zugleich zur Kenntnis nehmen, daß in so unverdächtigen Zeitungen wie „Observer“ oder „Herald (Bundesministerin Heidemarie Wieczorek- Tribune“ nachgewiesen wird, wie Länder aus dem We- Zeul: So ist es!) sten an dem Waffengeschäft beteiligt sind, und zwar in Wir müssen endlich mit dem Unsinn aufräumen, dieder Regel nicht in Unkenntnis der Regierungen. Ich darf Töpfe nur deshalb, weil sie woanders herkommen, in der die Länder nennen: Ruanda, Burundi, Angola, Kongo – Durchführung getrennt zu sehen. Nothilfe ist nur dann Kabila –, Äthiopien, Eritrea und Sudan. Diese Heuchelei sinnvoll, wenn sie einen kontinuierlichen Übergang zur muß aufhören. Sonst brauchen wir unsere ganze Ent- Entwicklungszusammenarbeit zuläßt. Mein Kollegewicklungszusammenarbeit nicht. Die Gelder können wir Tappe und ich haben im Sudan erlebt, daß ausECHO- sonst einsparen. Mitteln wunderschöne Brunnenbohrungen im Rahmen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ der Nothilfe vorgenommen worden sind. Nachdem die DIE GRÜNEN) Experten den Sudan verlassen hatten, ist alles kaputtge- gangen, weil die Einrichtung eines Wasserkomitees Schließen möchte ich, bevor Sie mich mahnen, Herr nicht vorgesehen war; das ist nämlich Entwicklungshil- Präsident, mit dem Hinweis auf ein kleines Buch, ge- fe. Das kann doch nicht wahr sein. schrieben von einer sehr engagierten Journalistin, Bri- gitte Kols von der „Frankfurter Rundschau“: „Tatort Ein weiterer Punkt ist die Koordination innerhalb der Afrika. Ein Kontinent zwischen Gewalt und Hoffnung“. Mitgliedstaaten. Rechnet man sämtliche LeistungenSie sagt am Schluß – ich stimme ihr zu –: Der Tatort hoch, dann geht es um mehr als 35 Milliarden DM pro Afrika ist vor allem ein Ort für die Taten der Afrikaner. Jahr. Wir wollen nicht die Subsidiarität in Frage stellen; – Richtig. Aber es liegt auch sehr an uns Europäern, ob aber es wäre doch klug, wenn die 25 Milliarden DM der dieser Kontinent in Zukunft ein Kontinent der Gewalt 15 Länder und die EU- und Lomé-Mittel in Höhe von 10 bleibt oder ein Kontinent der Hoffnung wird. Milliarden DM in ein Gesamtkonzept eingebracht wür- den. Das geht aber nur mit gemeinsamen Länderkon- In diesem Sinne bitte ich Sie alle gemeinsam, Afrika- zepten. In diesem Zusammenhang haben wir wieder ge- ner und Europäer, die Chance eines Neuanfanges der eu- hört, Herr Hedrich, daß Brüssel Länderkonzepte liefert. ropäischen Entwicklungszusammenarbeit wirklich zu Bloß wir liefern unsere nicht. Warum eigentlich? Dasbegreifen und in Taten umzusetzen. kann man ändern. Man kann auch die Kooperationsbe- Danke schön. reitschaft der anderen Mitgliedstaaten testen; dafür (B) (D) braucht man keine Gesetze. Ich bin davon überzeugt, (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE daß wir auf diese Weise viele Synergieeffekte bekämen GRÜNEN und der PDS) und dies auch die Koordination, die Kohärenz und die Einstimmigkeit gegenüber unseren Partnern erhöhte. Vizepräsident Rudolf Seiters: Ich gebe das Wort Des weiteren müssen wir Kriterien für eine nachhal- dem Kollegen Gerhard Schüßler, F.D.P.-Fraktion. tige und menschenwürdige Entwicklung, unterschiedlich für das jeweilige Entwicklungsland, entwerfen. Dabei würde auch die Heuchelei deutlich. Aber dazu wird Gerhard Schüßler (F.D.P.): Herr Präsident! Meine nachher mein Kollege Dzembritzki etwas sagen, wassehr verehrten Damen und Herren! Wenn man die vor- nachhaltige Entwicklung ohne Kohärenz bedeutet.liegenden Anträge sorgfältig liest, dann kann man trotz Schließlich erleichterte es die Evaluation, wenn manaller Widersprüche und Unzulänglichkeiten feststellen, sich auf solche Kriterien verständigte. Da hätte man ein daß wir in vielen Punkten gemeinsame Meinungen ver- gemeinsames Grundsystem und würde nicht mehr mittreten. Wenn die Beratung dieser Anträge zu einem unterschiedlichen Maßstäben herangehen. Wir brauchen Konsens führt, kann das der Sache nur dienlich sein. bilateral und multilateral dieselben Maßstäbe. Ich sage das deshalb, weil unsere Partner in Europa Frau Köster-Loßack ist auf die Förderung der zivilge- und in den Entwicklungsländern von uns erwarten, daß sellschaftlichen Strukturen eingegangen. Das möchte ich von der deutschenEU-Präsidentschaft entscheidende jetzt nicht alles wiederholen. Aber wichtig scheint mir, Impulse für die Erneuerung der europäischen Entwick- Frau Ministerin, der politische Dialog vor Ort. Ich sage lungszusammenarbeit ausgehen. Nun muß man sagen: es einmal ganz negativ: Es kann nicht angehen, daß die Bislang hat die Bundesregierung bei den laufenden Ver- GTZ oder die politischen Stiftungen den Job tun, den ei- handlungen über die Erneuerung der Zusammenarbeit gentlich unsere Botschaften oder das BMZ tun müßten. zwischen der Europäischen Union und den AKP-Staaten weder klare Schwerpunkte benannt noch ein Konzept zu (Beifall der Abg. Dr. Angelika Köster-Loßack der Gestaltung vorgelegt. Wie anders ist es möglich, daß [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) die Koalitionsfraktionen mit einem Antrag vom 16. Das ist kein politischer Dialog. Er muß bitte schön von März die Bundesregierung auffordern, im Rahmen ihrer den Ministerien wahrgenommen werden. EU-Ratspräsidentschaft eine Initiative zu ergreifen? Das ist schon ein Armutszeugnis für eine Bundesregierung: Auch das Thema Krisenprävention hatte die Kolle- Sie muß von den Koalitionsfraktionen knapp ein halbes gin Köster-Loßack schon angesprochen. Dazu möchte Jahr nach Verhandlungsbeginn und fast zur Halbzeit ih- 2338 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999

Gerhard Schüßler (A) rer Präsidentschaft in einem Antrag aufgefordert wer-kohärent vernetzten europäischen Entwicklungspolitik(C) den, eine Initiative zu ergreifen. Das ist schon sehr un- umgestaltet werden. Hierzu ist eine zwischen allen Be- gewöhnlich. teiligten, einschließlich der Bundesländer und der Kommunen, abgestimmte Schwerpunktsetzung erfor- Meine Damen und Herren, die bisherigeEU-AKP- derlich. Die EU-Kommission sollte nur für solche Auf- Zusammenarbeit gilt zwar als erfolgreiches Modell gaben zuständig sein, die besser und wirksamer auf eu- interregionaler Entwicklungspartnerschaft; sie ist in ih- ropäischer Ebene durchgeführt werden können. Hierfür rer gegenwärtigen Form jedoch nicht den Herausforde- eignen sich insbesondere Handelsfragen, Strukturanpas- rungen der Globalisierung gewachsen und muß daher sungsmaßnahmen und die interregionale Zusammenar- vollständig überarbeitet werden. Strukturelle Defizite beit. müssen beseitigt, neue Prioritäten gesetzt werden. Die Erfahrungen aus vier Entwicklungsdekaden, die (Beifall bei der F.D.P.) durch schlechte Rahmenbedingungen für Selbsthilfe und Aus liberaler Sicht sollten insbesondere solche ent- unzureichende Eigenanstrengungen der Entwicklungs- wicklungspolitischen Maßnahmen unterstützt werden, länder gekennzeichnet waren, lehren, daß ein reiner Fi- die auf eine Stärkung des Privatsektors abzielen. Der Er- nanztransfer und neue Verteilungsmechanismen das Ziel richtung marktwirtschaftlicher Strukturen, der Unter- einer nachhaltigen Entwicklung eher behindern. Nur ein stützung unternehmerischer Eigeninitiative und der För- neues Konzept, das Eigenanstrengungen als unerläßliche derung eines günstigen Investitionsklimas in den Part- Voraussetzung für wohlverstandene Solidarität undnerländern sollte Vorrang eingeräumt werden. Eine be- Partnerschaft definiert, kann langfristig erfolgreich sein. sondere Rolle sollten in diesem Zusammenhang die be- Dem von der Bundesregierung bei der EU-AKP-reits in der Praxis bewährten Modelle der sogenannten Ministerkonferenz am 8. Februar in Dakar angekündig- „private public partnerships“ übernehmen, in denen öf- ten neuen Schub für die Verhandlungen müssen nunfentliche Entwicklungsinstitutionen mit privaten Trägern dringend Taten folgen. Darum hat die bei F.D.P.- der Verwirklichung von Entwicklungsprojekten in- Bundestagsfraktion einen Antrag, ein eigenesNeun- tensiv zusammenarbeiten. Punkte-Konzept zur zukünftigen Gestaltung der EU- Zu einer erfolgreichen Neustrukturierung der euro- AKP-Zusammenarbeit vorgelegt. – Frau Kolleginpäischen Entwicklungszusammenarbeit gehört auch eine Köster-Loßack, es behandelt sicherlich nicht nur denabgestimmte inhaltliche Schwerpunktsetzung, wobei marktwirtschaftlichen Teil; ich möchte Sie bitten, dassich die Bemühungen der Kommission in erster Linie sorgfältig zu lesen. – Dabei soll neben der Armutsbe-auf die Integration der Entwicklungsländer in den freien kämpfung die Stärkung derEigeninitiative der AKP- Welthandel und auf Strukturanpassungsmaßnahmen Partner absolute Priorität haben. sowie auf interregionale Zusammenarbeit beziehen (B) (D) Voraussetzung dafür sind rechtsstaatliche Rahmenbe- sollten. dingungen, entwicklungsorientiertes staatliches Han- (Beifall des Abg. Jürgen Koppelin [F.D.P.]) deln, Wettbewerb, Privatisierungen, Dezentralisierung, die wirksame Bekämpfung von Korruption, freie und Die Zusammenarbeit mit den AKP-Staaten muß spä- faire Handelsbedingungen und regionale Zusammenar- testens nach Inkrafttreten desVertrages von Amster- beit. Verantwortungsvolle Staatsführung, Eigeninitiative dam mit der gemeinsamen Außenpolitik der Europäi- und freier Handel sind die besten Voraussetzungen für schen Union zusammengeführt werden. Die Vorberei- nachhaltige Entwicklung. Dies alles finden Sie in dentungen dafür müssen jetzt beginnen. Zur politischen neun Punkten ausformuliert wieder. Komponente einer gemeinsamen Entwicklungspolitik gehört auch eine gemeinsame Politik der Konfliktver- Eine Reform der europäischen Entwicklungszusam- meidung und Konfliktlösung. Dabei müßte es Aufgabe menarbeit, die diesen Namen verdient, muß auch auf ei- der Kommission sein, das Umfeld von Konfliktzonen, ne verbesserte Kohärenz der verschiedenen europäi-insbesondere in Afrika, durch Entwicklungspole abzu- schen und nationalen Instrumente und Geberinstitutio- sichern, landwirtschaftliche und handwerkliche Subsi- nen abzielen. stenzwirtschaft zu ermöglichen und sich für ein Mi- (Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Sehr wahr!) nimum an öffentlicher Sicherheit und Ordnung einzu- setzen. Zu viele Köche verderben, wie Sie wissen, den Brei, auch in der Entwicklungspolitik. All dies kann nur gelingen, wenn die europäische Entwicklungszusammenarbeit nicht mehr neben den (Beifall bei der F.D.P.) 15 bilateralen Gebern als 16. Geber steht, sondern unter Die Europäische Union braucht eine Entwicklungs- größtmöglicher Einbeziehung ihrer Mitglieder zusammen politik aus einem Guß. Um bessere Kohärenz zu errei- mit den jeweiligen AKP-Partnern ein Gesamtkonzept der chen, müssen die sich teilweise überlappenden Zustän- Reformen erarbeitet. Nur abgestimmte länder- und regio- digkeiten verschiedener Generaldirektionen der Kom-nalspezifische Konzepte werden es ermöglichen, die mission klar abgegrenzt und die Aufgabenteilung zwi- Schwierigkeiten der Konfliktregionen anzugehen. schen Kommission und Mitgliedstaaten transparenter Die gegenwärtige Praxis, daß die Entwicklungshilfe gestaltet werden. Das wissen Sie auch alle. nur reihum die Löcher zu stopfen versucht, welche sie in Die entwicklungspolitischen Aktivitäten der Mit-der Vergangenheit selbst gerissen hat, ist nicht mehr zu gliedstaaten und der Kommission müssen gemäß dem in verantworten. Es wird nicht möglich sein, alle AKP- Maastricht festgelegten Subsidiaritätsprinzip zu einer Länder auf den Pfad politischer Tugenden zurückzufüh- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999 2339

Gerhard Schüßler (A) ren. Es wird Länder geben, die sich den Reformen ver- auf hinweisen, daß diese Beratungen möglichst bald er- (C) weigern, deren staatliche Ordnung insgesamt zusam-folgen müssen, wenn unsere parlamentarische Initiative menbricht oder in denen bewaffnete Konflikte für lange die Bundesregierung noch rechtzeitig erreichen und Zeit andauern werden. Deshalb gehört ein langfristiges während des besonderen Rahmens der deutschen Rats- politisches Konzept derKonfliktprävention und - präsidentschaft wirksam werden soll. lösung zur europäischen Entwicklungspolitik. Nun komme ich zu den Anträgen selbst. Dabei be- Deutsche und europäische Entwicklungspolitik istschränke ich mich auf die derzeit strittigen Fragen des noch längst nicht erfolgreich, wenn jedes einzelne Ent- Lomé-Nachfolgeprozesses. Zunächst – das ist wohl die wicklungshilfeprojekt erfolgreich ist. Sie ist erfolgreich, Kernfrage – zur Handelspolitik: In diesem Bereich ge- wenn ein Beitrag zu einer dauerhaften, positiven Ge-hen die Positionen erheblich auseinander. Die Anträge samtentwicklung in den Nehmerländern geleistet wird. der F.D.P. und der PDS bilden die jeweiligen Pole. Das Ein solcher dauerhafter Erfolg ist nur möglich, wenn da- hat Herr Schüßler in seinem Beitrag soeben schon ver- zu beigetragen wird, daß die Nehmerländer eine ent-deutlicht. sprechende kohärente Gesamtpolitik konzipieren und realisieren. Während die F.D.P. auf eine verstärkte Liberalisie- rung der Handelsbeziehungen im wirtschaftlichen Sinne, Meine Damen und Herren, wir fordern die Bundesre- also auf mehr deregulierten Markt und damit auf den gierung auf, die derzeitige EU-Präsidentschaft zu nut- weiteren Ausbau des Rechts des Stärkeren setzt, erklärt zen, die Entwicklungspolitik zu einem Bereich gemein- die PDS in ihrem Antrag einer völlig verfrühten und von samer EU-Politik zu entwickeln. Nur dann können aus- den entwicklungspolitischen Folgen her unüberschauba- scherende nationale Interessen auch anderer EU-Staaten ren Transformation des bisherigen Lomé-Vertragswer- hinreichend unter Kontrolle gebracht werden. kes in Freihandelsabkommen eine deutliche Absage. In diesem Sinne bitten wir im Hinblick auf die Bera- Statt dessen sind Konzepte für eine zeitlich und öko- tungen unseres Antrags in den Ausschüssen um Ihre Zu- nomisch angemessene und vertretbareIntegration der stimmung. AKP-Staaten gefragt – Konzepte, die dem Ansatz einer (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- internationalen Strukturpolitik und einer gerechten ten der CDU/CSU) Weltwirtschaftsordnung verpflichtet sein müssen, Kon- zepte, die nicht auch noch die ärmsten und am wenig- sten entwickelten Länder – um diese geht es nämlich – Vizepräsident Rudolf Seiters: Ich möchte etwas völlig schutzlos der turbokapitalistischen Megamaschine Ungewöhnliches tun: Ich möchte einmal, da wir amaussetzen (B) heutigen Freitag um 14.20 Uhr noch voll besetzte Zuhö- (D) rertribünen haben, unsere Gäste hier im Parlament recht (Zurufe von der CDU/CSU: Oh!) herzlich begrüßen. – das sind schöne Worte; wenn man sieht, was dies in (Beifall) diesen Regionen anrichtet, dann kann man auch einmal solche schönen Formulierungen wählen –, Gleichzeitig bitte ich unsere Besucher, keine falschen Rückschlüsse daraus zu ziehen, daß das Parlament nicht (Beifall bei der PDS – Manfred Grund so stark besetzt ist wie bei anderen Debatten. Wir hatten [CDU/CSU]: Afghanistan!) eine lange Sitzungswoche mit vielen namentlichen Ab- stimmungen. Jetzt geht es hier um sogenannte erste Le- die bekanntlich national wie international immer dann sungen. Der Inhalt dieser Debatten ist allerdings nicht am reibungslosesten läuft, wenn soziale, bildungs- und weniger wichtig. Ich hoffe, Sie haben trotzdem Interesse kulturpolitische Standards abgebaut werden. Aus Sicht daran. meiner Fraktion ist dies ein verheerender Trend, der nicht fortgeschrieben, sondern umgekehrt werden muß. Nun gebe ich das Wort an den Kollegen CarstenDies setzt voraus, daß sich die Bundesregierung, die EU Hübner von der PDS. und die AKP-Staaten gemeinsam in der WTO gegen diesen Trend stemmen und eine verantwortliche Politik erzwingen. Carsten Hübner (PDS): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Nach den zum Teil äußerst Ein zweiter wesentlicher Punkt, meine Damen und erhitzten Kontroversen des heutigen Tages empfinde ich Herren, ist der Aspekt der „good governance“. Sosehr es als ausgesprochen angenehm, daß wir in der jetzigen ich den Ansatz teile, daß die Zusammenarbeit zwischen Debatte wieder zum sachlichen Diskurs zurückgekehrt der EU und den AKP-Staaten und die Entwicklungszu- sind und daß parteipolitische Motive in den Hintergrund sammenarbeit allgemein an verbindliche rechtsstaatli- getreten sind. che, menschenrechtliche, ökologische und demokrati- (Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Was ist denn das für sche Standards angebunden wird, so wichtig ist es aber eine Aussage?) auch, dafür zu sorgen, daß bei den AKP-Partnern nicht der Eindruck entsteht, diese Standards seien nur ein Ich hoffe, daß das die Grundlage dafür ist, daß wir inweiterer und ganz perfider Trick, um den weiteren den Ausschüssen die Gemeinsamkeiten in den Vorder- Rückzug der Geberländer aus einer internationalen grund stellen und einen interfraktionellen Konsens zu er- Strukturpolitik zu legitimieren und eigene strategische reichen versuchen. Dabei möchte ich ausdrücklich dar- und ökonomische Interessen zu verschleiern. 2340 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999

Carsten Hübner (A) Diesen Eindruck kann man eben nur dadurch aus-der Kommission der Europäischen Union hat über- (C) räumen, daß man mit gutem Beispiel vorangeht. Aberdeutlich gezeigt, daß die Skepsis gegenüber der Lei- genau da gibt es, wie Sie wissen, auf EU-Ebene erheb- stungsfähigkeit und der Kompetenz der europäischen liche Defizite – Defizite, die durch die mangelhafteEntwicklungszusammenarbeit in den vergangenen Jah- demokratische Verfaßtheit der EU zumindest befördert ren voll und ganz berechtigt war. werden und die auf strukturelle, nicht allein personelle Mängel schließen lassen. (Beifall bei der CDU/CSU) Gleichzeitig müssen wir uns aber dafür einsetzen, daß Die Kritik, wie sie zum Beispiel im Urteil des Rech- der entwicklungspolitische Etat – möglichst erhöht – in nungshofes über die Arbeit des Europäischen Amtes für den regulären Haushalt der EU-Kommission eingestellt humanitäre Hilfe zum Ausdruck kommt, war schließlich wird, was zumindest ein erster Schritt in Richtung eines mit ein Anlaß dafür, daß der Kommission im Parlament höheren Stellenwerts der Entwicklungspolitik in derdie Entlastung verweigert wurde und daß sie nach Be- Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EUstätigung dieser Kritik durch den Rat der Weisen jetzt sein könnte. Leider wurde dieser Schritt auch in derzurücktreten mußte. Bundesrepublik längst noch nicht vollzogen, wie die Auch wenn Frau Köster-Loßack das höflich als „Akt bisherigen Haushaltsberatungen gezeigt haben. Ich be- der Demokratie“ beschrieben hat, muß man doch sagen: fürchte, das dicke Ende kommt erst noch. Dieser lange, schmerzhafte Prozeß bis zum Rücktritt ist Meine Damen und Herren, ich denke, wir zunächst sind für all die eine Blamage, die sich bis zum uns einig, daß Lomé keine reine Erfolgsgeschichte war, Schluß hinter diese Kommission gestellt haben. Es war daß – dies ist mehrfach angesprochen worden – Re-dringend notwendig, daß sie diesen Schritt endlich un- formen und Strukturveränderungen notwendig sind,ternommen hat, nachdem im Parlament dafür leider kei- wenn wir im europäischen Zusammenhang angemessen ne Mehrheit zustande gekommen war. auf die Herausforderungen der nächsten Jahre reagieren (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. wollen. Stabex und Sysmin müssen transformiert R. Werner Schuster [SPD]) werden; den Frauen muß als einem wesentlichen Trag- pfeiler von Entwicklungsprozessen vor Ort noch weitaus Nun will ich bei aller berechtigten Kritik nicht be- mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden. Auch einestreiten: Die Europäische Union hat eine Reihe kompa- bessere, eine strukturell effektivere und zielgenauererativer Vorteile gegenüber rein nationalen Entwick- Koordinierung der multilateralen und bilateralen Ent-lungspolitiken. Nur, die Bürgerinnen und Bürger in un- wicklungszusammenarbeit steht dringend auf der Tages- serem Land sind zu Recht äußerst sensibel, ob die von ordnung. ihnen für die Entwicklungszusammenarbeit zur Verfü- (B) gung gestellten Gelder tatsächlich den Menschen in den (D) Ich bin mir sicher: In den Ausschußberatungen wer- ärmsten Ländern der Welt zugute kommen. den wir auf ebendiese Fragen zu sprechen kommen. Ich hoffe, daß wir uns nicht nur kritisch und sachorientiert Man muß heute feststellen, daß diese Kommission, auseinandersetzen werden, sondern daß wir auch zudie jetzt endlich zurückgetreten ist, einen riesigen Ver- einem gemeinsamen, einem interfraktionellen Ergebnis trauensverlust verursacht hat. Ich will es einfach noch kommen. Dem Thema wäre es angemessen. Aber sicher einmal erwähnen: Da wurden Gelder, die für die huma- bin ich mir, was das anbetrifft, natürlich nicht. Ich hoffe. nitäre Hilfe oder die Entwicklungszusammenarbeit vor- gesehen waren, zur Finanzierung von „U-Booten“ um- Danke. geleitet. Das sind in diesem Fall nicht die U-Boote, von (Beifall bei der PDS) denen Frau Köster-Loßack sprach, sondern damit sind Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gemeint, die außerhalb des Stellenplans eingesetzt wurden. Da läßt es sich nicht Vizepräsident Rudolf Seiters: Das Wort hat der mehr feststellen, ob Nahrungsmittel und medizinische Kollege Peter Weiß für die CDU/CSU-Fraktion. Hilfsgüter tatsächlich die vorgesehenen Empfänger er- reicht haben, weil Überwachung und Kontrolle ungenü- gend waren. Da wursteln mehrere Organisationen und Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): Herr Prä- Institutionen im gleichen Entwicklungsland mit den sident! Meine Damen und Herren! Die neue Bundesre- gleichen EU-Mitteln nebeneinander her, ohne daß koor- gierung will in der Entwicklungspolitik mehr auf Europa diniert und kooperiert wird. und die internationalen Organisationen setzen. Herr Schuster hat noch einmal betont, daß Europa in der Deshalb hat das Europäische Parlament bekanntlich Entwicklungspolitik sozusagen erst jetzt richtig entdeckt bereits im vergangenen Jahr Konsequenzen gefordert. werde, und auch die Frau Ministerin hat in der PresseDie Kommission hat diese rigoros abgelehnt. erklärt, das sei der große Unterschied zu ihrem Vorgän- ger, Carl-Dieter Spranger. (Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Sie hat nichts ge- tan!) (Dr. R. Werner Schuster [SPD]: Das stimmt! Nicht zu Herrn Repnik!) Diese Arroganz der Kommission ist letztlich der Auslö- ser für ihren Sturz. Ich finde zu Recht: Hochmut kommt Angesichts der Entwicklung in dieser Woche mußvor dem Fall. man auf dieses Thema antworten. Der durch die nicht mehr zu bestreitenden Skandale erzwungene Rücktritt (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999 2341

Peter Weiß (Emmendingen) (A) Oftmals wird davon gesprochen – auch heute ein biß- Ich sehe dabei weniger die Gefahr, daß die Entwick-(C) chen –, eine verbesserte europäische Entwicklungszu- lungszusammenarbeit, insbesondere die humanitäre Hil- sammenarbeit sei vor allem eine Frage von mehr Geld. fe, instrumentalisiert werden könnte, als – auf Grund der Erfahrung der letzten Jahre – vielmehr die Gefahr, daß (Dr. R. Werner Schuster [SPD]: Wer hat das sich Eitelkeiten und Rivalitäten zwischen den Akteuren gesagt?) zum Schaden der Betroffenen auswirken. – Ich komme darauf. – Erst am 5. März dieses Jahres hat (Dr. R. Werner Schuster [SPD]: Wie in die neue Leitung des Bundesministeriums für wirt- Deutschland!) schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung den Kol- legen Hedrich aus der CDU/CSU-Fraktion als – ich Jetzt möchte ich die Zusammenarbeit mit denKir- zitiere – „hochgradig unseriös“ bezeichnet, chen und Nichtregierungsorganisationen ansprechen. Frau Ministerin, ich gehe davon aus, daß Sie uns am (Zurufe von der CDU/CSU: Was? Unerhört!) Schluß der Debatte noch einen Bericht über das Treffen weil er – so die Begründung in der Erklärung mit des den Nichtregierungsorganisationen in Berlin geben. Ministeriums – die geplante Erhöhung der deutschenIch will schon vorher folgendes feststellen: Schöne Mittel für den europäischen Entwicklungsfonds kritisiert Worte sind zuwenig. Für die Zusammenarbeit der Euro- habe. Nun muß ich feststellen: Der Schock des Kommis- päischen Kommission mit den Nichtregierungsorganisa- sionsrücktritts hat offensichtlich auch bei Sozialdemo- tionen gibt es eigentlich nur ein Wort: Chaos. Sie brau- kraten und Grünen eine andere Politik ausgelöst; denn chen nicht zu erschrecken: Ich meine jetzt nicht das wir haben uns in dieser Woche gemeinsam daraufChaos in der rotgrünen Koalition, sondern ich meine das verständigt, die Mittel im Haushaltsansatz etwas zuChaos in Brüssel. senken. Seit Jahren wird den Nichtregierungsorganisationen Eine Reform der europäischen Entwicklungszusam- seitens der EU-Kommission das Leben eher schwerge- menarbeit muß bei Strukturen wie bei Inhalten erfolgen; macht: viel zu lange Wartezeiten für die Genehmigung ansonsten ist möglicherweise jeder zusätzliche Euro ver- wichtiger Projekte; man richtet Consulting-Büros in den schwendet. Für die Reform der Strukturen brauchen einzelnen Mitgliedstaaten ein; man löst sie zum 30. Juni wir, wenn wir eine neue Kommission bilden – wir for- dieses Jahres vorzeitig auf; man will in Brüssel ein neu- dern den Bundeskanzler auf, dafür zu sorgen, daß dases großes Büro einrichten, laut Ausschreibung doppelt rasch erfolgt –, eine Zusammenführung der für die Ent- so teuer wie das bisherige; zum 1. Januar 2000 sollen die wicklungszusammenarbeit zuständigen Stellen; wirVerträge im Rahmen der Kofinanzierung auf eine neue brauchen humanitäre Hilfe in einer Hand; wir müssenBasis gestellt werden. – Also: Rein in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln. Das ist keine verläßliche Poli- (B) Schluß machen mit der Zersplitterung in eine Vielzahl (D) von Kommissaren, Generaldirektionen und unterschied- tik, erst recht keine Partnerschaft mit Nichtregierungsor- lichen Dienststellen. ganisationen, wie wir sie verstehen. Im Bereich der humanitären Hilfe wird von der EU- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Kommission über Jahre eine französische Hilfsorgani- ordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/ sation einseitig bevorzugt. Der Direktor des Amtes kann DIE GRÜNEN) unwidersprochen behaupten, humanitäre Hilfe im Rah- Herr Dr. Schuster hat es als eine großartige Sache er- men der Europäischen Union sei grundsätzlich franzö- wähnt, die in Europa auf Beifall stoße, daß die Ministe- sisch. Verfolgt wird zudem ein rein interventionistischer rin so gerne ihren politischen Lehrmeister zitiert undAnsatz. Herr Dr. Schuster hat ein schönes Beispiel mit von Entwicklungspolitik als Friedenspolitik spricht. dem Brunnen aus dem Sudan genannt. Jede Nachhaltig- keit und Entwicklungsorientierung fehlt. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Bundes- ministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul: Da- Meine Damen und Herren, Nichtregierungsorganisa- von können Sie noch lernen! – Dr. R. Werner tionen müssen echte Partner in der Entwicklungszu- Schuster [SPD]: Das ist auch mein Lehrmei- sammenarbeit und bei der humanitären Hilfe werden. ster!) Die Arbeit der Nichtregierungsorganisationen selbst sollte sich meines Erachtens europäisieren. Da hätte Verehrte Frau Ministerin, ich denke, die entscheidende auch die EU-Kommission eine Aufgabe, nämlich dazu Frage wird sein, wie sich die Entwicklungszusammenar- beizutragen, daß transnationale Zusammenarbeit von beit dem neuen Instrument der Gemeinsamen Außen-Nichtregierungsorganisationen gefördert wird. und Sicherheitspolitik des Amsterdamer Vertrages zu- ordnet. Wir brauchen – auch das ist schon angesprochen worden – ein neues und besseres System derEvaluie- (Dr. R. Werner Schuster [SPD]: Richtig!) rung. Prüfberichte, in denen nur die eigenen Wunsch- vorstellungen bestätigt werden und keine kritische Ich meine, daß die entwicklungspolitische Zusammen- Bewertung stattfindet, sind wertlos. Auch das hat der arbeit ein wesentlicher Bestandteil und gleichberechtig- EU-Rechnungshof zu Recht kritisiert. Notwendig sind tes Element der Gemeinsamen Außen- und Sicherheits- mehr unabhängige Evaluierungen und keine Gefällig- politik der Union sein muß. keitsgutachten. Es gibt den schönen Spruch, eine Aller- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. weltsweisheit: Jede Krise birgt in sich auch eine Chance. R. Werner Schuster [SPD]) So ist der Rücktritt der Kommission in der Tat eine 2342 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999

Peter Weiß (Emmendingen) (A) Chance für einen Neuanfang auch in der europäischen weiterzukommen, weil sie die Europäer zu mehr Zu-(C) Entwicklungszusammenarbeit, die wir gemeinsam nut- sammenarbeit mahnen. Es geht um die grundlegende zen sollten. Mein Wunsch ist: Von Europa sollte manReform der Beziehungen zwischen EU und AKP- zielgerichtetes entwicklungs- und partnerorientiertesStaaten. Ich finde es gut, daß hier im Hause Einigkeit Handeln und nicht Bürokratismus und Interventionismus darüber herrscht, daß die EU nicht quasi der 16. Staat in lernen können. Europa sein und nicht als solcher agieren darf, sondern daß die EU vielmehr für die Bündelung und Koordina- Vielen Dank. tion der EU-Entwicklungspolitik verantwortlich sein muß. (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Die SPD und Bündnis 90/Die Grünen wollen eine Vizepräsident Rudolf Seiters: Auch dem Kollegen kohärente Gesamtpolitik. Dem Europäischen Parlament, Peter Weiß darf ich zu seiner ersten Rede hier im Hause der Kommission und allen 15 nationalen Parlamenten gratulieren. muß künftig eine Übersicht über die Gesamtmittel der (Beifall) europäischen Entwicklungszusammenarbeit vorgelegt werden. Eine effizientere Entwicklungszusammenarbeit Nun gebe ich dem Kollegen Detlef Dzembritzki für setzt Transparenz voraus. Die Kommission wurde schon die SPD-Fraktion das Wort. häufig genug gescholten; ich denke, daß wir alle ein In- teresse daran haben, daß gerade auch die Betrugsvor- Detlef Dzembritzki (SPD): Herr Präsident! Meine würfe im ECHO-Kommissariat bzw. in der Generaldi- sehr verehrten Damen und Herren! Herr Weiß, ich habe rektion restlos aufgeklärt werden. Andererseits darf man aufmerksam zugehört und bei Ihrer Rede an den vonwiederum nicht übersehen, wie wichtig es ist, die ideell Herrn Dr. Schuster schon angesprochenen Besuch inund über Soforthilfen tätige ECHO-Generaldirektion als Brüssel gedacht. Ich will Ihnen offen sagen: Ich war bei Instrument in diesen weltweiten Krisen- und Katastro- dem Besuch in Brüssel überrascht, daß, jedenfalls fürphenbereichen zu haben. mich, nachvollziehbare strategische Konzepte über Ent- Die Ziele der Reform der europäischen Entwick- wicklungspolitik nicht erkennbar waren. Eine Konse-lungspolitik unter unserer Ratspräsidentschaft sind Kri- quenz daraus ist für mich, daß wir unseren Einfluß insenprävention und Konfliktmanagement sowie Förde- Richtung Brüssel mit Sicherheit intensiv wahrnehmenrung der Handelsbeziehungen. Beides setzt Demokrati- müssen, wenn wir dort weiterhin eigene Vorstellungen sierung voraus. Was heißt das im einzelnen? realisieren wollen und wenn wir erreichen wollen, daß (B) dort tatsächlich eine sinnvolle, vernünftige, nachvoll- Nach unserer Meinung mußKrisenprävention ein (D) ziehbare Entwicklungspolitik gemacht wird. operativer Bestandteil der europäischen Entwicklungs- zusammenarbeit werden. Die EU-Mitgliedstaaten müs- Nachdem Sie aber die Kommission und das Verhal- sen sich auf ein gemeinsames Konzept einigen. Herr ten der jetzigen Bundesregierung in dieser MassivitätKollege Weiß, ich muß das noch einmal sagen: In Ihrem kritisiert haben, kann ich eigentlich nur den Rückschluß Antrag fehlt diese Friedenspolitik als Hinweis und als ziehen, daß in den zurückliegenden Jahren von Ihrerwichtiges Moment; Sie können das noch einmal nachle- Seite aus offensichtlich verhältnismäßig wenig Einfluß sen. Wir hingegen fordern diese Friedenspolitik gerade auf die Institutionen in Brüssel genommen wurde, umangesichts der Bürgerkriege und Konflikte, wie wir sie bestimmte Entwicklungen nicht in der Weise eintreten zum Beispiel in Afrika oder jetzt in Indonesien erleben zu lassen, wie es geschehen ist. müssen. Solche Konflikte zerstören die Ergebnisse einer (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- jahrelangen Förderung. Deshalb wollen wir die Ursa- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – chen der Krisen an der Wurzel bekämpfen. Da ich höre, Dr. R. Werner Schuster [SPD]: Das ist leider daß in dieser Woche in Osttimor keine Chirurgen und wahr!) keine ärztliche Versorgung zur Verfügung stehen, bitte ich die Bundesregierung – möglicherweise mit EU-Hilfe Angesichts der zu bewältigenden Situation ist festzu- –, gute Dienste anzubieten. Denn wir wollen die Wurzel halten, daß trotz der knappen finanziellen Ressourcender Gewalt bekämpfen, und Hoffnungslosigkeit ist häu- nach wie vor Möglichkeiten vorhanden sind und – dafig eine dieser Wurzeln. stimme ich dem Kollegen der F.D.P.-Fraktion zu – daß der Einsatz lediglich von Finanzen die notwendigen Die Entwicklungs- und Wirtschaftspartnerschaft muß Veränderungen nicht bringen wird. Kreativität, Enga-aber um die politische Dimension erweitert werden. gement und gemeinsame Konzepte sind gefragt. DasDeshalb ist die Demokratisierung in den Entwicklungs- große Verdienst der Bundesministerin Wieczorek-Zeul ländern der Dreh- und Angelpunkt. Der politische Dia- liegt gerade darin, daß sie sich dieser Herausforderung log ist das Schlüsselwort und die Grundlage für eine gestellt und diese Aufgabe angepackt hat. partnerschaftliche Zusammenarbeit zwischen EU und AKP-Staaten. Es geht uns nicht darum, dort ein Spiegel- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten bild Europas zu schaffen. Vielmehr müssen traditionelle des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) und demokratische Strukturen verzahnt werden. Die Nach den Verhandlungen in Dakar sind wir auf dem Entwicklungsländer sollen sich in der Zusammenarbeit richtigen Weg. Die für das Post-Lomé-Abkommen fest- wiederfinden. Unsere Forderungen nach Demokratisie- gelegten Eckpunkte sind wirklich eine Chance, hierrung, Rechtsstaatlichkeit und Einhaltung der Menschen- Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999 2343

Detlef Dzembritzki (A) rechte sollen einen internationalen Mindeststandard ga- Seiten. Insbesondere sind die Entwicklungsländer vor(C) rantieren. Bei Verletzung dieser Standards muß eineKorruption von dritter Seite zu schützen. Es treibt einem gemeinsam mit den AKP-Staaten vereinbarte Suspendie- die Schamröte ins Gesicht, wenn eine afrikanische Mi- rungsklausel greifen. Gelder können dann ausgesetztnisterin, die übrigens in ihrem Land für die Ölförderung oder gestoppt werden. zuständig ist, nach nur drei Wochen Amtszeit ein Ange- bot von europäischen Gönnern bekommt, sich in Genf Ein zweiter wesentlicher Punkt bei der Reform der ein Konto einrichten zu lassen. europäischen Entwicklungszusammenarbeit sind die Handlungsbeziehungen. Die Armutsbekämpfung ist für (Beifall bei Abgeordneten der SPD) uns zentral. Die Sicherung der Ernährung in den Ent- Dazu fällt mir nur noch eine Aussage von Gustav Hei- wicklungsländern selbst muß – auch als Wirtschafts- nemann ein: und Arbeitsmarktfaktor – Vorrang haben. Die Wirt- schaftsinteressen der EU müssen das berücksichtigen. Wer mit einem Finger auf andere zeigt, weist mit Übrigens fehlt auch dieser Aspekt in den Oppositions- drei Fingern auf sich selbst zurück. anträgen. Wichtigstes Instrument ist für uns die Agrar- Die Interessen beider Seiten müssen in einem gleich- und Fischereipolitik. Das bedeutet Abbau von Sub- berechtigten Dialog berücksichtigt werden. Die Atmo- ventionen und Öffnung unserer Märkte. Es kann doch sphäre, die ich bei der Lomé-Konferenz in Dakar erlebt nicht sein, daß in Entwicklungsländern Viehwirte ihr habe, stimmt mich optimistisch, daß dies möglich ist. Rindfleisch nicht verkaufen können, weil billigeres Das ist auch ein Verdienst unserer Ministerin Heidema- subventioniertes Fleisch aus den EU-Ländern importiert rie Wieczorek-Zeul. Kompliment und Anerkennung! wird. Solange das so ist, leisten wir keine Hilfe. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) DIE GRÜNEN) Wir wollen aber auch lokale und regionale Gruppen Es sind Handelsregeln notwendig, die an das Ent- in die politische Vorbereitung unserer Entwicklungshil- wicklungsniveau der einzelnen Länder flexibel anpaßbar femaßnahmen stärker einbeziehen. Machen wir auch sind. Wir wollen den Entwicklungsländern den Zugang Mut für kommunale Partnerschaften zwischen Städten zum Weltmarkt erleichtern. Unsere soziale Marktwirt- der EU und AKP-Staaten! Meine eigenen Erfahrungen schaft wird sich daran messen lassen, ob wir dazu bereit aus meinem Wahlkreis, der zusammen mit einer franzö- und in der Lage sind. Insofern können wir über Kriterien sischen Partnerstadt und mit einer Region in Burkina der sozialen Marktwirtschaft diskutieren. Faso Entwicklungszusammenarbeit betreibt, sind über- (Zuruf von der CDU/CSU: Schaut euch doch zeugend. Wer gesehen hat, wie junge Leute nach vier (B) das Welttextilabkommen einmal an!) Wochen Aufenthalt in dieser afrikanischen Region ver- (D) ändert zurückkommen, nachdem sie in einem armen Ich denke, daß es richtig ist, daß wir die kulturellen und Land Gastfreundschaft, Herzlichkeit und eine andere sozialen, aber auch die technischen Besonderheiten im Kultur erlebt haben, der stellt fest, daß es sich bei der jeweiligen Land bei der Unterstützung berücksichtigen. Entwicklungszusammenarbeit auch um ein Geben und Denn nur so werden wir Akzeptanz bekommen, und nur Nehmen handelt, nicht nur um ein Geben. Das muß auch so werden wir erreichen, daß die Entwicklungsprojekte eine der Grundlagen unserer Entwicklungspolitik sein. in den betroffenen Ländern auch tatsächlich nachhaltig sind. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Außerdem ist zu überlegen, ob einEU/AKP-Ver- CDU/CSU und der F.D.P.) bindungsbüro bei der WTO angesiedelt werden sollte und ob es nicht Sinn macht, Europa auch in der Welt- Die europäischen Länder müssen ihre Konzepte aus- bank eine eigene Stimme zu geben. Wir müssen auchtauschen. Sie müssen gemeinsam vor Ort zu einer abge- darauf achten, daß in diesen Bereichen nicht nur Finanz- stimmten Zusammenarbeit gelangen. Nicht die Addition, gewaltige, sondern auch Entwicklungsexperten sitzen. sondern die Vernetzung und Verzahnung von Entwick- lungshilfe führt zu nachhaltigem Erfolg. Wichtig ist, daß Demokratie und wirtschaftliche Prosperität müssen wir dies in einer Partnerschaft betreiben. Hand in Hand gehen. Deshalb wollen wir die demokrati- sche Entwicklung und Wirtschaftskraft in den Entwick- Lassen Sie mich zum Schluß meine zentralen Forde- lungsländern gleichzeitig stärken und Planungssicherheit rungen wiederholen: erstens Bündelung der europäi- schaffen. Unter diesem Aspekt muß die Mittelvergabe schen Entwicklungszusammenarbeit, zweitens Reform an einen längeren Zeitraum gebunden sein. Gleichzeitig der europäischen Entwicklungszusammenarbeit durch muß eine Fortschrittsevaluierung gesichert werden. Einführung von Krisenprävention und Förderung der Handelsbeziehungen, drittens Förderung der Kohärenz Es geht nicht nur um die EU. Auch die Beziehungen der europäischen Entwicklungszusammenarbeit, viertens der Entwicklungsländer untereinander müssen verbes- Steigerung der Effektivität durch flexiblere Instrumente. sert werden. Das Europa der Regionen ist ein Beispiel Wenn wir hierbei Erfolg haben, arbeiten wir erfolgreich dafür, wie wichtig regionale Zusammenarbeit ist. für die Demokratisierung, die wir alle wollen. Meine Vorrednerinnen und Vorredner haben von Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. „good governance“ gesprochen. Mit der Politik der „good governance“ können wir die Zivilgesellschaft (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ stärken. Aber „good governance“ gilt für alle beteiligten DIE GRÜNEN) 2344 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999

(A) Vizepräsident Rudolf Seiters: Auch dem Kollegen denten der Weltbank, von vor wenigen Tagen in Berlin. (C) Dzembritzki möchte ich zu seiner ersten Rede gratulie- Und der amerikanische Präsident hat gesagt, es bedürfe ren. eines Schuldenerlasses im Umfang von 70 Milliarden DM. Wenn der G-7-Gipfel nur diesen einen Beschluß (Beifall) wirklich in Politik umsetzen würde, dann hätten wir in Nun gebe ich der Bundesministerin für wirtschaftli- unserer Entwicklungspolitik etwas erreicht. Das wäre che Zusammenarbeit und Entwicklung, Frau Heidemarie gut so. Darauf könnten alle stolz sein. Wieczorek-Zeul, das Wort. (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS) Heidemarie Wieczorek-Zeul, Bundesministerin für Werner Schuster hat vom Tatort Afrika gesprochen. wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung: Herr Es geht auch hier um lange Linien, liebe Kolleginnen Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eine EU- und Kollegen. Der Konvention gegen die Antiperso- Ratspräsidentschaft dauert sechs Monate. Für eine EU- nenminen, gegen Landminen ging ein ganz langer Entwicklungspolitik – das wissen Sie alle, Herr Hedrich, Kampf voraus. Wir haben es aber jetzt durchgesetzt, daß und auch die, die vorher in diesem Bereich tätig waren – Landminen geächtet werden, daß kein Transfer, keine braucht man jedoch lange Entwicklungslinien und auch Produktion und keine Verlagerung in die entsprechen- einen langen Atem sowie Visionen, Perspektiven, aber den Länder mehr stattfinden darf. Wir fordern alle Län- auch Hartnäckigkeit und Zähigkeit gegenüber allen Wi- der, die diese Konvention noch nicht unterschrieben ha- derständen und Widerwärtigkeiten, um die eigene Linie ben – die USA, China und Rußland –, auf, sich dieser durchhalten zu können. Konvention anzuschließen, damit wir in diesem Bereich Wir haben die deutsche Ratspräsidentschaft vorbe-vorankommen. reitet. Wir haben im November letzten Jahres beim er- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE sten Ministerrat der Europäischen Union nach dem Bon- GRÜNEN und der PDS) ner Regierungswechsel sozusagen im Vorfeld der Troika mitgearbeitet. Wir werden auch die finnische Ratspräsi- Ein weiterer Punkt ist mit dem vorherigen vergleich- dentschaft begleiten, die ab Juli die Arbeit übernimmt. bar, wenn auch nicht identisch. Es geht darum, dafür zu Wir haben selbstverständlich auch im Vorfeld der For- sorgen, erst einmal in der EU und dann hoffentlich auch mulierung der Anträge diese Positionen während unserer UN-weit eine Konvention zustande zu bringen, daß dem Ratspräsidentschaft seit Januar vertreten. Da ich immillionenfachen Transfer von Kleinwaffen – so werden AwZ dazu immer Berichte abgebe, verzichte ich jetztsie verniedlichend genannt; es geht um Gewehre, Hand- auf die Details in diesem Bereich. Sie wissen, daß wir in feuerwaffen und Pistolen – ein Ende gemacht wird. Das (B) Dakar – das ist wichtig; ich bitte darum, das positiv zur ist die Voraussetzung dafür, daß sich afrikanische Län- (D) Kenntnis zu nehmen – sehr viel weitergekommen sind, der nicht länger gegenseitig niedermetzeln und Kinder- als man auf Grund des Ausgangsmandats der EU undsoldaten nicht mehr mit Gewehren und Pistolen in Krie- auch der AKP-Staaten befürchten mußte. ge gegeneinander gehetzt werden. Ich möchte Sie, Herr Brauksiepe und alle Kollegin- Lassen Sie uns alle gemeinsam dazu beitragen, die- nen und Kollegen, die zu diesem Thema gesprochen ha- sem Skandal und diesen Verbrechen ein Ende zu setzen. ben, bitten, keine künstlichen Differenzen aufzubauen. Wenn das geschieht, dann haben wir doch etwas er- Wir können uns über wirklich notwendige Sachen strei- reicht! ten. Aber zurEntschuldung der ärmsten Entwick- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE lungsländer könnte ich auch sagen, daß das, was die GRÜNEN und der PDS sowie bei Abgeord- vorherige Bundesregierung gemacht hat – ein Schulden- neten der CDU/CSU und der F.D.P.) erlaß von 9 Milliarden DM –, noch aus dem UNCTAD- Beschluß von 1978 stammt, der in die RegierungszeitDieses Problem beschäftigt doch jeden von uns und der sozialliberalen Koalition fällt. Meine Güte, was für kann doch niemanden gleichgültig lassen. Wir haben es diejenigen Kinder, die verhungern, oder für diejenigen hier mit europäischer Entwicklungspolitik zu tun; denn Menschen, die in Armut leben, wichtig ist, ist, daß wir kein Land kann dabei allein vorangehen. schnell einen Schuldendiensterlaß von 30 Milliarden Zu dem, was in der Ratspräsidentschaft unmittelbar DM auf den Weg bringen und die frei werdende Geld- ansteht, möchte ich sagen: Wir werden unsere Pläne um- summe in das Gesundheitswesen der entsprechenden setzen. Es geht vor allen Dingen darum, die Wirksam- Länder umorientieren. Das würde sieben Millionen Kin- keit der europäischen Entwicklungszusammenarbeit zu dern das Leben retten. verstärken. Es liegen mittlerweile die Berichte zur (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Evaluierung der EU-Entwicklungspolitikvor. Ich GRÜNEN und der PDS) möchte Ihnen drei wichtige Elemente nennen, die wir umsetzen werden. Es ist in Ordnung, wenn Sie uns in der Entschuldungs- strategie gegenüber armen Entwicklungsländern unter- Das erste ist, daß die europäische Entwicklungszu- stützen. Diesen Plan wollen wir auf dem G-7-Gipfelsammenarbeit im Vergleich zu anderen Gebern nicht verwirklichen. ausreichend strategisch konzipiert ist. In diesem Bereich gibt es interessante Unterstützung, Das zweite ist – das wundert uns nicht, es ist aber zum Beispiel die von James Wolfensohn, dem Präsi-wichtig, daß das jetzt gesagt wird –, daß die fehlende Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999 2345

Bundesministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul (A) Abstimmung zwischen Kommission und Mitgliedstaaten Vorhin wurde ich von Herrn Kollegen Weiß und(C) den Wettbewerb zwischen den Gebern erhöht und damit anderen nach dem informellen Treffen gefragt: Alle die Verwaltungen der Entwicklungsländer belastet. Das waren davon begeistert, daß wir zum erstenmal auf der ist eine absurde Situation. Ebene der EU – das wurde noch während keiner Ratspräsidentschaft praktiziert – ein Seminar mit den Das dritte ist, daß eine Entwicklungszusammenarbeit EU-Entwicklungsministern, von denen fast alle da aus einem Guß geschaffen werden muß. Sie muß zwi- waren, und Nicht-Regierungsorganisationen hatten. Zum schen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten so abgestimmt einen wurden die bürokratischen Hemmnisse innerhalb werden, daß sie zu mehr entwicklungspolitischem Ein- der EU angesprochen. Wir werden dieses Problem fluß auf die jeweiligen Länderkonzepte führt. anpacken und versuchen, sie auszuräumen. Zum anderen (Ulrich Heinrich [F.D.P.]: Wir sind gespannt haben wir festgestellt, daß wir viele gemeinsame Ziele auf das Ergebnis!) haben: Zum Beispiel ist unser gemeinsames Ziel im Verhältnis zu den AKP-Ländern, dort die Zivilge- – Darauf wollte ich gerade kommen, Herr Kollege. –sellschaft auszubauen und in den Partnerländern dazu Das Ministerium hat vor, während der deutschen Rats- beizutragen, daß Menschenrechte gesichert werden, präsidentschaft diese Ergebnisse aus der Evaluierungdaß Demokratie und gute Regierungsführung verwirk- der europäischen Entwicklungszusammenarbeit auf die licht werden und daß die Menschen in diesen Ländern Tagesordnung des nächsten Ministerrates am 21. Mai zu an den Entscheidungen, die sie betreffen, beteiligt setzen und daraus entsprechende Schlußfolgerungen für werden. die Politik der Europäischen Union zu ziehen. Vor zwei Tagen hatten wir – einer der Kollegen hat (V o r s i t z : Vizepräsidentin Anke Fuchs) darauf hingewiesen – ein informellesTreffen der EU- Eines ist doch sicher, liebe Kolleginnen und Kolle- Entwicklungsminister in Berlin, die auf meine Einla- gen: Es wird keinen Frieden und keine Entwicklung dung hin dort waren. Es bestand Einvernehmen zwi-geben, wenn nicht die breite Bevölkerung in diese schen uns allen darüber, daß es jetzt, nachdem die EU- Entwicklungen einbezogen wird. Deshalb muß die Kommission selber die Konsequenzen gezogen hat, an EU-Entwicklungspolitik die Beteiligung der Mitglieds- der Zeit ist, daß nur eine Person, Mann oder Frau, in der länder, der Entwicklungsländer und der Nicht- Europäischen Kommission für den Bereich der Ent-Regierungsorganisationen an diesen Prozessen voran- wicklungspolitik zuständig ist. Dafür sollten die Regie- bringen. Von unserer Seite aus werden wir das tun. Wir rungen sorgen, damit es nicht durch die Zuständigkeit haben mit dem Seminar deutlich gemacht, daß wir uns unterschiedlicher Stellen für diesen Bereich zu Verzet- ein gemeinsames Herangehen aller Beteiligten wün- telungen kommt. Wir alle waren der Meinung, daß die- schen. (B) ses notwendig ist. (D) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Ich bedanke mich sehr herzlich bei Ihnen. DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE F.D.P. und der PDS) GRÜNEN und der PDS) Weiter haben alle EU-Entwicklungsminister gesagt, daß keine Zeitverzögerungen bei den Verhandlungen mit Ich möchte mich dafür entschuldigen, daß ich etwas den AKP-Staaten eintreten dürfen. Das sage ich hierlänger gesprochen habe. Aber in dieser Debatte ging es ausdrücklich noch einmal zu. Es bleibt bei dem entspre- um Probleme, die uns allen am Herzen liegen. Ich bitte chenden Zeitplan. um Nachsicht, daß meine Rede etwas länger als geplant war. Eine ausreichende Behandlung dieses Themas sind Zur Ratspräsidentschaft. Liebe Kolleginnen undwir aber den Menschen, die ihre Hoffnung in uns setzen, Kollegen, Sie sind wahrscheinlich alle gleichermaßenschuldig. darüber empört: Wir reden alle über Kohärenz und da ist es doch ein Skandal, daß die Unterzeichnung desHan- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten delsabkommens mit Südafrikavor dem Ende der des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Amtszeit Mandelas daran zu scheitern droht, daß man- che Mitgliedstaaten die Begriffe „Port“ und „Sherry“ für sich reserviert sehen wollen. Da ist ein Mann jahrzehn- Vizepräsidentin Anke Fuchs: Herr Vizepräsident telang im Gefängnis und schafft es dann, die Demokratie Seiters hat Ihnen die verlängerte Redezeit zu Recht ein- in Südafrika voranzubringen und die Apartheid zu be- geräumt, Frau Ministerin, weil es eine wichtige Rede seitigen, Präsident Mandela, und die Europäische Union war. Ich schließe mich seiner Auffassung an. soll nicht imstande sein, dieses Handelsabkommen mit Südafrika so rechtzeitig abzuschließen, daß dieses Damit ist die Aussprache beendet. Interfraktionell Ereignis noch in die Amtszeit von Präsident Mandelawird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen fällt? Ich fordere alle Regierungen auf, dazu beizutra-14/538, 14/537 und 14/531 an die in der Tagesordnung gen, daß dieses Handelsabkommen endlich beschlossen aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Der Antrag der wird. Koalitionsfraktionen auf Drucksache 14/538 soll zu- nächst dem Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Re- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE aktorsicherheit überwiesen werden. Sind Sie damit ein- GRÜNEN und der PDS sowie bei Abgeord- verstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Überwei- neten der CDU/CSU und der F.D.P.) sungen so beschlossen. 2346 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999

Vizepräsidentin Anke Fuchs (A) Ich rufe die Tagesordnungspunkte 12 a und 12 b auf: in der Zeit unmittelbar nach der Verhaftung von Öcalan, (C) hat es allein in der Westtürkei rund 3 370 Verhaftungen a) Beratung des Antrags der Abgeordneten gegeben. Ulla In der Türkei findet gegenwärtig eine Hetz- Jelpke, und der Fraktion der PDS kampagne unvorstellbaren Ausmaßes gegen die kurdi- Sofortiger unbefristeter Abschiebestop fürsche Bevölkerung statt. Kurdinnen und Kurden werden Flüchtlinge in die Türkei verhaftet; Razzien finden statt; Kurdinnen und Kurden werden in der Haft Repressionen ausgesetzt; Folter und – Drucksache 14/331 – weitere Verfolgung stehen auf der Tagesordnung. Überweisungsvorschlag: Wenn wir heute über Abschiebung sprechen, dann Innenausschuß (federführend) Auswärtiger Ausschuß möchte ich mich nicht nur auf die aktuelle Situation be- Rechtsausschuß ziehen, sondern ich möchte Sie daran erinnern, daß Am- Ausschuß für Menschenrechte und humanitäre Hilfe nesty International erst vor kurzem darauf hingewiesen b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heidihat, daß es in der Westtürkei eben nicht die Fluchtalter- Lippmann-Kasten, Dr. Dietmar Bartsch, Evanative in Richtung Westen gibt. Ich zitiere aus dem ent- Bulling-Schröter, weiterer Abgeordneter und der sprechenden Bericht: Fraktion der PDS Immer weniger ist dabei ein konkreter Tatverdacht Einleitung eines internationalen Friedenspro- gegen die Betroffenen ausschlaggebend. zesses zur Situation der Kurdinnen und Kur- den in der Türkei – Gemeint sind die Kurden. – Drucksache 14/470 – Immer wieder werden von Kurden bewohnte Stadtteile abgeriegelt und kurdische Versammlun- Überweisungsvorschlag: gen und Feste gestört und willkürlich Personen Auswärtiger Ausschuß (federführend) festgenommen. Die Festgenommenen sind während Verteidigungsausschuß Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend der Polizeihaft sehr häufig Mißhandlungen und Ausschuß für Menschenrechte und humanitäre Hilfe Folter ausgesetzt. Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union Die kurdischen Provinzen sind von der türkischen Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Regierung zu „verbotenen Orten“ erklärt worden. Das Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die heißt, gegenwärtig kann niemand nach Kurdistan reisen. Fraktion der PDS fünf Minuten erhalten soll. – Dazu hö- Delegationen, die dies in den vergangenen Tagen und re ich keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Wochen versucht haben, wurden direkt am Flughafen in (B) Wir beginnen die Aussprache. Das Wort hat die Kol- Diyarbakir abgefangen und per Flugzeug nach Ankara(D) legin Ulla Jelpke, PDS-Fraktion. und Istanbul zurückgebracht. Unsere Einschätzung ist eindeutig: Mit den Verschärfungen bei der Einreise will man derzeit verhindern, daß es Zeugen des Krieges in Ulla Jelpke (PDS): Frau Präsidentin! Meine Damen Kurdistan gibt. Deswegen werden auch türkische Jour- und Herren! Vor allem viele Anfragen von Asyl- undnalisten nicht ins Land gelassen. Der Ausnahmezustand Flüchtlingsorganisationen und von Personen aus demwird in einem Ausmaß durchgesetzt, daß es unmöglich Bereich des Kirchenasyls und die große Anzahl der Pe- ist, gesicherte Informationen zu erhalten. titionen haben uns vor einigen Wochen dazu bewogen, einen Antrag hinsichtlich eines sofortigen Abschie- Ich möchte hier aber auch in aller Kürze darauf hin- bestopps in die Türkei zu stellen. Wir wissen alle, daß es weisen, daß Bündnis 90/Die Grünen eine Dokumenta- inzwischen eine erhebliche Zuspitzung der Situation in tion über abgeschobene Flüchtlinge herausgegeben ha- der Türkei insbesondere durch die Verschleppung von ben, die nach der Abschiebung in der Türkei festge- Abdullah Öcalan gegeben hat. nommen, verfolgt und gefoltert wurden. Auch Fernseh- reporter wie Michael Enger – ich kann leider nicht alle Ich möchte meinen Beitrag mit einem Zitat aus einem aufführen – haben deutlich gemacht und durch Materia- Ad-hoc-Bericht des Auswärtigen Amtes vom Februarlien bewiesen, daß Menschen, die aus Deutschland 1999 beginnen: abgeschoben wurden, Verfolgung erlitten haben. Ich zi- Angesichts der zur Zeit hochemotionalisierten At- tiere: mosphäre im Zusammenhang mit der Inhaftierung Alle, die wir gefunden haben, sind direkt nach der Öcalans ist jedoch zu bedenken, daß ein erhöhtes Ankunft in der Türkei inhaftiert und gefoltert wor- Risiko einer besonderen Gefährdung für abzuschie- den. bende Türken kurdischer Volkszugehörigkeit be- steht. Ich kann das Ausmaß derMenschenrechtsverlet- zungen hier im einzelnen nicht beschreiben, dazu fehlt Wer es also ernst mit seiner Sorge um die Lage dermir die Zeit. Ich möchte Sie daran erinnern, wie viele Menschenrechte in der Türkei meint, müßte schon allein Menschen Jahr für Jahr in der Türkei verschwinden. auf Grund dieses Satzes einen sofortigen Abschie-Denken Sie an die Aktionen der „Samstagsmütter“, die bestopp fordern. inzwischen keine Chance mehr haben, ihre Aktionen Ich möchte ganz kurz wenige Fakten zur aktuellenganz normal in Istanbul oder Ankara durchzuführen, da Lage nennen: In der Zeit vom 16. bis 24. Februar, also sie permanent von Übergriffen betroffen sind. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999 2347

Ulla Jelpke (A) In dieser Situation – das wissen wir alle – hat es Aus- Ich sage das Ergebnis vorweg: Die SPD-Fraktion(C) schreitungen und Anschläge gegeben. Sicher wird das schlägt Ihnen vor, den Antrag der PDS an die zuständi- niemand gutheißen. Dennoch bin ich der Meinung, daß gen Ausschüsse zu überweisen. Ich tue das, obwohl ich der Innenminister seine Position aufgeben muß, dieIhnen den auf etwas Unmögliches gerichteten Antrag Kanthersche Linie fortzusetzen, die da hieß, daß mansehr leicht sofort zur Ablehnung empfehlen könnte; allein einer Versicherung, einer Garantie der türkischen denn die Bundesregierung und ihr Innenminister sind für Regierung, Abgeschobenen würde nichts passieren,die Anordnung eines wie auch immer gearteten Ab- traut, der Garantie eines Staates, der – das wissen wirschiebestopps im Sinne des § 54 des Ausländergesetzes ganz genau – Menschenrechtsverletzungen begeht, der schlicht nicht zuständig. keine rechtsstaatliche Behandlung Menschen kurdischer Herkunft kennt. Deswegen darf es nicht die Politik von Die Initiative liegt bei denobersten Landesbehör- Herrn Schily sein, diese Politik fortzusetzen, wie es je- den, das heißt, bei den Innenministern der Länder. Diese denfalls im Moment geplant ist. bedürfen der Zustimmung des Bundesministers des In- nern nur dann und insoweit, als sie einen von ihnen an- (Beifall bei der PDS) geordneten Abschiebestopp über sechs Monate hinaus verlängern wollen. Unter welchen Voraussetzungen, nämlich einstimmiges Wollen der Länderinnenminister Vizepräsidentin Anke Fuchs: Kommen Sie zum – wie Herr Kanther meinte –, Zweidrittelmehrheit Län- Schluß, Frau Kollegin. derinnenminister – wie die Innenministerkonferenz po- litisch festgelegt hat – oder lediglich ein entsprechender Vorstoß von einigen Bundesländern oder sogar nur ei- Ulla Jelpke (PDS): Ja. – Ich möchte zum Schluß noch zwei Sätze zu unserem Antrag, der die friedliche nem Bundesland, dies dann zu geschehen hat, will ich Lösung betrifft, sagen. heute mit Ihnen nicht juristisch ausdiskutieren. Das kön- nen wir hier und heute auch nicht. Sie alle wissen, daß die Bundesrepublik Deutschland Eine politische Bewertung dieses Hauses und ein dar- seit langem eine Politik betreibt, die zu Ursachen von auf gestütztes Signal des Bundesinnenministers aber Flucht führt. Ich nenne hier dieWaffenexporte. Ich würde zumindest dazu führen, daß sich die Länderin- möchte Sie daran erinnern, daß erst jüngst eine Anfrage nenminister in ihrer humanitären Verantwortung nicht der PDS genauso beantwortet wurde, wie von der alten mehr voreinander und auch nicht mehr hinter dem Bun- Bundesregierung: Man habe keine Erkenntnisse, daß desinnenminister verstecken können. Deswegen will ich deutsche Waffen in Kurdistan eingesetzt werden. Ich das in Ihrem Antrag sich verbergende Anliegen nicht brauche Ihnen – so glaube ich – nicht zu sagen, wie mit einem formalen Hinweis abbügeln, zumal der politi- viele Beweise es dafür gibt und wie viele Beweise noch (B) sche Schutt von Unglaubwürdigkeiten und Widersprü-(D) vorgelegt werden können. chen im außen- wie innenpolitischen Handeln den Tür- ken und den Flüchtlingen gegenüber, den uns die Vor- Vizepräsidentin Anke Fuchs: Frau Kollegin, Sie gängerregierung und die sie tragende Mehrheit hinter- müssen bitte zum Schluß kommen. lassen hat, endlich abgeräumt und eine neue, glaubwür- dige Position erst wieder aufgebaut werden muß.

Ulla Jelpke (PDS): Ja, ich komme zum Schluß. (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS) Ich bin der Meinung, daß es nur dann eine friedliche Lösung geben kann, wenn sich dieses Haus im Rahmen Schließlich muß man es schon fast zynisch nennen, der deutschen EU-Präsidentschaft dafür einsetzt, endlich daß einige Innenminister, insbesondere von B-Ländern, eine internationale Friedenskonferenz durchzuführen. kurdische Flüchtlinge unter zum Teil heftigem Zuspruch Außerdem muß der Waffenexport gestoppt werden.des früheren Bundesinnenministers nach Kräften in die Und, meine Damen und Herren: Reden Sie nicht nur von Türkei abgeschoben haben, die sich tragischerweise ge- der Rechtsstaatlichkeit des Prozesses gegen Abdullahrade in ihrer alten Heimat mit ebenfalls aus Deutschland Öcalan, sondern überprüfen Sie, was dort passiert. stammenden Waffen, zum Beispiel aus ehemaligen NVA-Beständen, konfrontiert sahen. Danke. (Zuruf der Abg. Heidi Lippmann [PDS]) (Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) – Eben. – Die frühere Bundestagsmehrheit und die Re- gierung folgten eher der Einschätzung des NATO- Partners, Europa- und OSZE-Mitglieds und EU- Vizepräsidentin Anke Fuchs: Ich erteile nun das Aspiranten Türkei, die Problematik der Unterdrückung Wort dem Kollegen Rüdiger Veit, SPD-Fraktion. des kurdischen Volkes reduziere sich auf bloße Terro- rismusbekämpfung. Dies hat allerdings mittlerweile mehr als 40 000 Menschenleben gekostet. Rüdiger Veit (SPD): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Während Frau Zapf In diesem Kontext unterscheidet sich auch der letzte zum außenpolitischen Teil des heutigen Themas reden Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 18. Septem- wird, will ich mich dem innenpolitischen Teil ber zu- 1998 praktisch durch nichts von früheren. Die darin wenden. fast inflationär gebrauchten Beruhigungsformeln stan- 2348 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999

Rüdiger Veit (A) den nicht selten im krassen Gegensatz zu dem, was Be- Vizepräsidentin Anke Fuchs: Das war Ihre erste (C) troffene, Menschenrechtsorganisationen oder Reisende Rede, Herr Kollege Veit. Ich gratuliere Ihnen im Namen aus der Türkei an Einschätzungen berichtet haben. des ganzen Hauses. (Beifall des Abg. Hans-Christian Ströbele (Beifall im ganzen Hause – Hans-Christian [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Weiter so!) Wohl aber – das ist richtig, Frau Jelpke – enthält der Ad- hoc-Lagebericht vom 25. Februar 1999 in Kurzfassung – Ich erteile der Kollegin Sylvia Bonitz, CDU/CSU- er umfaßt eine Seite – neue Gesichtspunkte. Daher istFraktion, das Wort. jetzt eine differenzierte Betrachtung des durch den An- trag der PDS angesprochenen Problems angesagt. Sylvia Bonitz (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsi- Dazu gehört vorab der Hinweis, daß es sich natürlich dentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Die PDS nicht um einen sofortigen und unbefristeten Abschie-schlägt vor, einen sofortigen, unbefristeten und bedin- bestopp für sämtliche Flüchtlinge aus der Türkei han-gungslosen Abschiebestopp für Flüchtlinge in die Türkei deln kann. Es geht vielmehr um die friedlich bei uns le- zu erlassen. Sie fordert daneben die Einleitung eines in- benden Türken, die keinen rechtlich gesicherten Aufent- ternationalen Friedensprozesses zur Kurdensituation in haltsstatus haben, genauer gesagt: um die zirka 70 bis 80 der Türkei. Doch die Lösung dieses außenpolitischen Prozent aller in die Türkei abgeschobenen bzw. nochProblemes ist längst zu einem innenpolitischen Brand- abzuschiebenden Flüchtlinge kurdischer Volkszugehö- herd in Deutschland geworden. rigkeit. Für sie ist im Lichte einer aktuellen Einschät- Die PDS ignoriert diese Brisanz. zung des Auswärtigen Amtes die Frage nach der Recht- fertigung eines Abschiebestopps – wohlgemerkt: zu in- (Zuruf von der PDS: Nein!) itiieren durch die Länder – genauestens zu prüfen. Ich Sie ignoriert diese Brisanz in einer Zeit, in der die Bilder hoffe im übrigen sehr, daß die herrschendeVerwal- der gewaltsamen Kurdenproteste und ihrer Opfer noch tungsrechtsprechung ihre Auffassung von der angeb- allgegenwärtig sind, in der die Anhänger der verbotenen lich sicheren Fluchtalternative in der Westtürkei alsPKK die Demonstrationsfreiheit für ihre Angriffe ge- Grund für die Nichtgewährung des Asylrechtes ebenfalls gen Menschen, Einrichtungen und die freiheitliche neu bewertet. Grundordnung unseres Landes mißbrauchen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der CDU/CSU) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) und in der unsere volle Solidarität unseren Polizeibe- (B) Die SPD-Bundestagsfraktion geht zum einen davon amten gilt, die in diesem schwierigen Einsatzfeld Dienst (D) aus, daß diese Koalition und ihr Bundesinnenminister zu tun. dem Thema Abschiebestopp zweifelsfrei andere Vor- stellungen haben als die Vorgängerregierung. Allein (Heidi Lippmann [PDS]: Und in Berlin Gott deswegen bedarf es einer inhaltlichen Befassung. sei Dank nicht erschossen wurden!) Kein normaler Bürger auf der Straße kann mehr verste- Zum anderen erwarten wir von einem grünen Au-hen, warum die Gewalttäter weiterhin in Deutschland ßenminister einer rotgrünen Koalition, daß die von ihm bleiben und unser Gastrecht mißbrauchen dürfen. weiterzugebende Lageeinschätzung des Auswärtigen Amtes ohne Rücksicht auf die Interessen der Rüstungs- Schlimmer noch: Wir sehen mittlerweile hilflos zu, industrie und ohne Rücksicht auf außenpolitische Inter- wie sich einige kurdische Fanatiker, die sich durch eine essen Dritter die Menschenrechtslage in der Türkei un- besonders hohe kriminelle Energie auszeichnen, erst geschminkt und so realitätsnah wie möglich darlegt. durch ihre Gewalttaten überhaupt das Recht verschaffen, trotz Ausweisung in Deutschland bleiben zu dürfen, und Zum dritten und letzten ist seit der Festsetzung desdies mit der abenteuerlichen Begründung, ihre Gewalt- PKK-Führers Abdullah Öcalan, wie wir alle fast täglich taten seien als besonderes Engagement für die PKK nun den Nachrichten entnehmen können, eine beklagens-auch dem türkischen Geheimdienst aufgefallen, so daß werte, von allen Seiten zu verantwortende Verschärfung diese „armen Menschen“ bei ihrer Rückkehr in die Tür- der Menschenrechts- und Sicherheitslage eingetreten. kei nicht mehr vor Folter oder Tod sicher sein könnten. Mit diesen gebotenen Differenzierungen sollten wir (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE nach der Bewertung eines neuen Lageberichtes aus dem GRÜNEN]: Also schicken wir sie in Folter- Auswärtigen Amt, der dem Vernehmen nach zur Zeit haft!) auf der Leitungsebene behandelt wird und womöglich schon unterschrieben ist, in den Ausschüssen beraten. Weil das so ist, wird selbst der Bundeskanzler un- Die Koalitionsfraktionen behalten sich vor, alsdann eine schwer erkennen können, daß markige Sprüche, wie sie eigene parlamentarische Initiative zu diesem Thema ein- zum Teil auch von Ihnen hier gekommen sind, allein zubringen. noch zu keiner Ausweisung und anschließenden Ab- schiebung geführt haben. Ich danke für die Aufmerksamkeit. (Heidi Lippmann [PDS]: Fahren Sie einmal (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE hin und schauen Sie sich das an! Dann reden GRÜNEN und der PDS) Sie ein bißchen anders!) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999 2349

Sylvia Bonitz (A) Weil das so ist, hätte die rotgrüne Bundesregierung we- Vizepräsidentin Anke Fuchs: Frau Kollegin Bo- (C) sentlich wirkungsvoller für eine menschenwürdige Be- nitz, das war Ihre erste Rede im Parlament. Ich gratulie- handlung der Kurden in der Türkei auftreten müssen, als re Ihnen im Namen des ganzen Hauses. sie noch das Druckmittel des Auslieferungsersuchens im Fall Öcalan in der Hand hatte. (Beifall im ganzen Hause) (Beifall bei der CDU/CSU) Jetzt liegen mir zwei Bitten um Zwischenbemerkun- gen vor. Ich will sie gerne zulassen. Ich gucke nur alle Dies gilt insbesondere im Hinblick auf die Beseitigung an, die zu ihrem Zug wollen, und frage mich, ob wir uns von Abschiebungshindernissen. Aber vermutlich fällt es dadurch Sympathie einhandeln. Herrn Minister Schily schwer, das Konsultationsverfah- ren als erfolgversprechenden Ansatz, den noch der frü- (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE here Innenminister geliefert hat, auf- GRÜNEN]: Wir haben ihn schon versäumt!) zunehmen und gerichtsfest fortzuentwickeln. Zur ersten Zwischenbemerkung der Kollege Veit, (Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE bitte. GRÜNEN]: Da sind Leute gefoltert worden! Was ist denn daran erfolgversprechend?) (SPD): Frau Kollegin, ich möchte es Angesichts der mit äußerster Brutalität ausgeführten Rüdiger Veit gewalttätigen Aktionen fanatischer Anhänger der kurdi- kurz machen. schen Arbeiterpartei PKK ist ein genereller Abschie- Ich habe dies nicht in die Form einer Zwischenfrage bestopp von Kurden in die Türkei ein Signal in die fal- gekleidet, weil Sie heute ebenso wie ich Ihre erste Rede sche Richtung. Es könnte fatale Folgen haben, zumal im gehalten haben; aber ich will Ihnen schon noch einmal Falle einer Verurteilung Öcalans mit weiteren massiven sagen: Von denjenigen, die auf Grund ihrer zum Teil Protesten zu rechnen ist. kriminellen PKK-Aktivitäten hier in Deutschland aufge- fallen sind, kann nach Flüchtlingskonvention und Euro- Vizepräsidentin Anke Fuchs: Frau Kollegin, ge- päischer Menschenrechtskonvention sowieso niemand statten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Ströbele? abgeschoben werden. Das sollten Sie bitte wissen. Um sie geht es nicht in dem Antrag, und um sie ging es auch Sylvia Bonitz (CDU/CSU): Ich möchte im Zusam- nicht in meinem Redebeitrag. menhang vortragen. Ich will Sie davon in Kenntnis setzen, daß das Ver- fahren, das der frühere Bundesinnenminister mit seinem Vizepräsidentin Anke Fuchs: Danke schön. früheren türkischen Kollegen verabredet hat, seit andert- (B) halb Jahren, nicht erst seit September, deswegen nicht(D) Sylvia Bonitz (CDU/CSU): Die in § 53 Ausländer- mehr funktioniert, weil die türkische Regierung den gesetz festgelegten Abschiebungshindernisse verlangen deutschen Abschiebebehörden überwiegend nicht mehr zudem, daß für einen zur Abschiebung anstehendenantwortet. Schon deswegen geht das ins Leere. Das ist Ausländer die konkrete Gefahr – ich wiederhole: diekeine Möglichkeit für die Zukunft. konkrete Gefahr – der Folter oder Todesstrafe besteht. Ich bitte um Nachsicht dafür, das hier noch einmal Für die Verhängung eines sofortigen generellen Ab-sagen zu müssen. schiebestopps bleibt daher schon aus diesem Grunde kein Raum. (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Die PDS mißachtet nicht nur den Anspruch unserer GRÜNEN und der PDS) Bevölkerung, vor solchen Gewalttätern geschützt zu werden. Nein, sie schlägt mit ihren Anträgen vielmehr Vizepräsidentin Anke Fuchs: Frau Kollegin, Sie all denjenigen Flüchtlingen ins Gesicht, die vor demkönnen nachher auf alle drei Zwischenbemerkungen Hintergrund teilweise erschütternder Einzelschicksale antworten. Zuflucht in unserem Land gesucht haben, um sich hier in unsere Ordnung einzufügen und die Spielregeln unse- Jetzt hat der Kollege Ströbele das Wort zu einer Zwi- res Landes zu respektieren. Diese Menschen wie auch schenbemerkung. wir von der CDU/CSU-Fraktion blicken mit Unver- ständnis, Sorge und Entsetzen auf die wenig friedlichen Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE Gäste in unserem Land; denn wir gewähren ihnenGRÜNEN): Ich bitte Sie, wenn Sie diese Ihre Thesen Schutz vor politischer Verfolgung und Flüchtlingselend hier vortragen, doch einmal klar und deutlich dem deut- und lassen sie an den Wohltaten unserer umfassendenschen Volk und der deutschen Öffentlichkeit zu sagen, staatlichen Sozialfürsorge teilhaben. daß jemand, der in Deutschland beispielsweise an einer (Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) verbotenen Demonstration teilgenommen hat oder auch Aber wir können und wir wollen nicht hinnehmen, daß andere Delikte begangen hat, nach Ihrer und der CDU diejenigen, die durch besondere Gewalttätigkeit aufge- Auffassung in die Türkei abgeschoben werden soll, fallen sind, nun auch noch mit einem generellen Ab-auch wenn er dort gefoltert wird, indem ihm Elektro- schiebungsstopp belohnt werden sollen. schocks versetzt werden, indem ihm die Hoden ge- klemmt werden, indem er in anderer Weise malträtiert (Beifall bei der CDU/CSU) wird. 2350 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999

Hans-Christian Ströbele (A) Das möchte ich dann auch einmal so hören und nicht Vizepräsidentin Anke Fuchs: Frau Kollegin,(C) immer nur ein Drumherumgerede. Jeder soll sich vor- möchten Sie antworten? – Bitte sehr. stellen können, was Sie für richtig halten und was nicht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Sylvia Bonitz (CDU/CSU): Ich möchte gerne auf ei- sowie bei Abgeordneten der SPD und der niges eingehen, weil ich meine, daß das nicht so im PDS) Raum stehenbleiben kann. Ich habe sehr deutlich ausgeführt, daß eine Abschie- Vizepräsidentin Anke Fuchs: Nun hat die Kollegin bung nur als Konsequenz einer Ausweisungsverfügung Heidi Lippmann das Wort zu einer Zwischenbemerkung. erfolgen kann, und zwar unter den Voraussetzungen, die Bitte sehr. in § 53 Abs. 1 des Ausländergesetzes dargelegt sind. Dort steht, daß eine ganz konkrete Gefahr, wie mögli- cherweise bevorstehende Folter oder Tod, bestehen Heidi Lippmann (PDS): Frau Kollegin, Sie sindmuß. Das heißt, es geht nicht um ein generelles Ab- noch sehr jung. Deswegen möchte ich sagen: Sie haben schiebungsverbot. Was Sie von der PDS heute verlan- vielleicht die Gnade der späten Geburt in Anspruch ge- gen, ist ein Abschiebestopp, der generellen Charakter nommen. haben soll, der den Einzelfall nicht mehr berücksichtigt 16 Jahre lang ist von seiten der Bundesregierung –und auch, wie Herr Kollege Ströbele es hier ausgeführt Sie gehören einer der sie damals tragenden Parteien an – hat, bei Ausländern anzuwenden wäre, die hier in eine ganz massive freundschaftliche Politik betriebenDeutschland Delikte begangen haben. worden. Im Rahmen eines bilateralen Abkommens zwi- (Zuruf der Abg. Heidi Lippmann [PDS]) schen der Bundesregierung und der türkischen Republik und seit 1995 auch im Rahmen der NATO sind massiv – Liebe Kollegin, ich habe Sie aussprechen lassen. Seien Waffen geliefert worden; das ist hier zum Teil schonSie bitte so freundlich, auch mich aussprechen zu ausgeführt worden. Es hat eine massive finanzielle Un- lassen. terstützung der türkischen Regierung gegeben, egal wel- che Partei dort an der Regierung war, womit diese in In den Fällen, in denen als Voraussetzung der Ab- dem Krieg in Kurdistan, der in den östlichen Provinzen schiebung eine Ausweisungsverfügung erlassen wird, herrscht, einseitig unterstützt wurde. Das bedeutet: Die muß ein ganzes Register von Straftaten zugrunde liegen, CDU/CSU hat einseitig eine der Kriegsparteien unter- das unter Umständen zu einer Freiheitsstrafe von drei stützt und jahrelang nicht die Verantwortung dafür über- Jahren führt. Das sind wirklich keine Delikte, sondern nommen. Sie ist anscheinend bis heute nicht bereit –schwere Straftaten. (B) Ihre Ausführungen haben das gezeigt –, die Verantwor- Es geht nicht um Folter. Ich habe Ihnen gesagt, daß es (D) tung hierfür zu übernehmen. um die Einzelfallprüfung geht und nicht um einen gene- Von den Ausschreitungen, die es in den vergangenen rellen Abschiebestopp, der den Einzelfall nicht mehr Wochen nach der Verschleppung Abdullah Öcalans in sieht. die Türkei gegeben hat, hat sich diePKK häufig distan- Ich möchte auch noch kurz auf den Kollegen Veit ziert. Es sind einzelne fanatische Leute gewesen, die zu eingehen. Es wird deutlich, daß Herr Schily als neuer Unfrieden beigetragen haben. Innenminister hier im Grunde genommen eine Chance (Lachen bei der CDU/CSU) vertan hat, zusammen mit seinem Kollegen im Bereich des Auswärtigen. Denn die Bundesregierung hatte im Aber Sie müssen das als Reaktion auf die Politik desFall Öcalan das Druckmittel desAuslieferungsersu- Schweigens und des Verharrens der Bundesrepublikchens in der Hand. Wir hatten einen internationalen Deutschland sehen. Haftbefehl. In dem Moment, als wir ihn noch hatten und damit die Chance, diesen Auslieferungsantrag zu Sagen Sie doch hier und heute einmal ganz klar, was stellen – das war bis zum Dezember letzten Jahres der die PKK von der UCK unterscheidet, Fall –, hätten wir sehr wohl ein Druckmittel gehabt (Ruprecht Polenz [CDU/CSU]: Das kann ich – wenn Sie nicht fahrlässigerweise darauf verzichtet wohl sagen!) hätten –, um die Türkei zu Verhandlungen zu bringen. Die Verhandlungsbereitschaft jetzt, da Öcalan in den die im Moment als Verhandlungspartner in Rambouillet Händen der Türkei ist, geht natürlich tendenziell gegen mit am Tisch sitzt. Im Kosovo wird mit allen politischen null. und militärischen Mitteln versucht zu intervenieren. Weshalb gibt es keinerlei Bemühungen, Friedensmaß- Insofern kann ich durchaus verstehen, daß Herr nahmen in der Türkei einzuleiten und den dringend er- Schily überhaupt keine Notwendigkeit sieht, wie er das forderlichen Abschiebestopp damit in Verbindung zuauch über die Medien verkündet hat, mit der Türkei in bringen? Ich möchte Sie bitten, einmal in die Türkei zu neue Verhandlungen einzutreten. Das ist das Jämmer- fahren und sich vor Ort zu informieren, gerade ange-liche: daß alles unterbleibt, was getan werden könnte, sichts der aktuellen Situation. Dann sprechen Sie viel- um die Abschiebungshindernisse, nämlich die Gefahr leicht in ein, zwei Jahren anders, als Sie es hier heutevon Folter und Tod, im entsprechenden Land zu ver- getan haben. meiden. (Beifall bei der PDS) (Beifall bei der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999 2351

(A) Vizepräsidentin Anke Fuchs: Nun erteile ich das Wir Grünen haben uns schon immer gegen die Be-(C) Wort der Kollegin Claudia Roth, Bündnis 90/Die Grü- hauptung gewehrt, daß dieser Konflikt eine rein inner- nen. staatliche Auseinandersetzung sei. Mein Vorredner von der SPD hat schon darauf hingewiesen: Dieser Krieg wurde und wird noch immer auch mit deutschen Waffen Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIEgeführt. Die Rüstungsexportpolitik der früheren Regie- GRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undrung war in hohem Maße doppelbödig. Kollegen! In dieser Debatte geht es um Menschenrechte, um verantwortliche Politik, um Mitverantwortung und ( [CDU/CSU]: Hat sie sich geän- um Glaubwürdigkeit, aber auch um Doppelbödigkeit dert?) von Politik. Diese wichtige Debatte, die wir heute be-Sie war heuchlerisch. Denn es ist doppelbödig – Herr ginnen, aber keinesfalls heute abschließen, richtet sich Lamers, das wissen Sie ganz genau –, wenn auf der ei- an die Türkei, aber auch an uns selber, an die Bundesre- nen Seite die Einhaltung der Menschenrechte eingefor- publik Deutschland. dert wird, auf der anderen Seite aber Waffen geliefert Ich glaube, daß die zentrale Frage, die wir uns ge-oder sogar verschenkt werden, die genau diese Men- meinsam stellen müssen, ist: Wie kann deutsche Politik schenrechtsverletzungen möglich machen. und wie kann die Politik der Europäischen Union zum (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Schutz der Menschenrechte in der Türkei und damit bei der SPD und der PDS) auch zur Demokratisierung der Türkei beitragen? Die Debatte ist notwendig und richtig, weil wir vor einer Ich war sehr oft in kurdischen Gebieten. Ich habe neuen Situation stehen. Erstens gibt es eine neue Bun- mich dabei geschämt. Denn ich kam mir bisweilen vor, desregierung, die sich vorgenommen hat, Menschen-als sei ich auf einem deutschen Truppenübungsplatz. rechte zum Leitmotiv ihrer Politik zu machen. (Martin Hohmann [CDU/CSU]: Waren Sie (Karl Lamers [CDU/CSU]: Davon merkt man schon einmal auf einem?) aber noch nicht viel!) Die neue Regierung muß ihre Rüstungsexportpolitik Daran wird sich auch eine neue Türkeipolitik orientie- auch im Hinblick auf die Türkei an den Folgen ausrich- ren müssen. ten, die diese Politik für die Einhaltung der Menschen- rechte hat. Zweitens stehen wir deshalb vor einer neuen Situa- tion – darauf haben einige Vorrednerinnen und Vorred- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, ner schon hingewiesen –, weil es im Zusammenhang mit bei der SPD und der PDS – Martin Hohmann (B) der Verhaftung von Abdullah Öcalan eine dramatische [CDU/CSU]: Das wollen wir einmal sehen!) (D) Verschlechterung und Zuspitzung der Menschenrechts- lage in der Türkei gibt. Türkische Medien und Regie- rende haben einen Chauvinismus geschürt, der zu einer Vizepräsidentin Anke Fuchs: Frau Kollegin, ge- Pogromstimmung gegen kurdische Organisationen, statten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Lippmann wie zum Beispiel gegenüber der HADEP, geführt hatvon der PDS? und der sich gegen Personen richtet, die sich für eine friedliche, für eine politische Lösung der Kurdenfrage Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE einsetzen. GRÜNEN): Nein, ich möchte meine Rede zunächst be- Die türkische Regierung diffamiert in diesen Wochen enden; vielleicht hinterher. die gesamte kurdische Bewegung als terroristisch. Büros War es denn wirklich – Herr Lamers, Sie wissen, wo- der HADEP sind gestürmt worden, Hunderte, Tausende von wir jetzt sprechen – ein Freundschaftsdienst der frü- von Mitgliedern sind verhaftet worden. Jetzt wird auch heren Regierung gegenüber der Türkei, Frau Çiller als mit dem Parteiverbot gedroht. Anwälte und Anwältinnen Repräsentantin für Demokratie und Rechtsstaatlich- werden bedroht; Maßnahmen zu ihrem Schutz werden keit zu präsentieren? Wäre es nicht richtiger und not- abgelehnt. Ich erinnere daran: Unmittelbar nach derwendiger gewesen, diejenigen Organisationen zu unter- Verhaftung von Abdullah Öcalan ist das türkische Mili- stützen, die für Demokratie und Menschenrechte eintre- tär völkerrechtswidrig in den Nordirak einmarschiert. ten, oder laut und deutlich die Freilassung der kurdi- Voraussetzung für die Demokratisierung der Türkei schen Abgeordneten Leyla Zana zu fordern, die nichts und untrennbar damit verbunden sind die politische Lö- anderes getan hat als das, wozu sie gewählt wurde, sung der kurdischen Frage und das Ende des schmut- nämlich für die Rechte der Kurden in der Türkei einzu- zigen Krieges, in dem über 3 000 Dörfer zerstört worden treten? War denn das bereits angesprochene Konsulta- sind, 30 000 Menschen getötet worden sind und Hun-tionsverfahren, der Kanther-Mentese-Briefwechsel, wirk- derttausende von Menschen auf der Flucht sind. Dieser lich ein Freundschaftsdienst im Sinne der Demokratisie- schmutzige Krieg muß aufhören. Denn die militärische rung der Türkei, in dessen Folge es zu Abschiebungen Lösung ist keine Lösung. Niemand kann bei einer mili- gekommen ist und in dessen Folge Menschen gefoltert tärischen Lösung gewinnen. Die Zivilbevölkerung hat worden sind, verschwunden sind und verhaftet worden schon lange verloren. sind? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Die neue Bundesregierung wird sich auch in diesem bei der SPD und der PDS) Punkt an der Unteilbarkeit der Menschenrechte ori- 2352 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999

Claudia Roth (Augsburg) (A) entieren. Sie wird sich an diesbezüglichen Erfolgen prü- Dr. Max Stadler (F.D.P.): Frau Präsidentin! Meine (C) fen lassen müssen. Deswegen appelliere ich mit Nach- Damen und Herren! Liebe Frau Kollegin Roth, ich glau- druck an die verantwortlichen Innenminister der Länder, be, es zeichnet einen lebendigen Parlamentarismus aus, ihre Flüchtlingspolitik am Prinzip der Schutzgewährung wenn aus den Fraktionen, die die Regierung tragen, auszurichten, wie es zum Beispiel in der Genfer Flücht- durchaus andere Forderungen formuliert werden, als wir lingskonvention und der Europäischen Menschenrechts- sie im Regierungshandeln erkennen können. konvention vorgeschrieben wird, und gerade angesichts der aktuellen Situation, die vom Auswärtigen Amt als (Beifall des Abg. Dr. Winfried Wolf [PDS]) Situation mit einem erhöhten Risiko vor allem für abzu- Wir sind auf Grund Ihres Redebeitrages neugierig, wann schiebende Türken kurdischer Volkszugehörigkeit ein- das, was Sie heute gesagt haben, und das, was die Regie- geschätzt wird, nicht abzuschieben. rung in diesem Bereich bisher tut, in Einklang stehen wird. Wir haben uns im Rahmen der EU immer für eine glaubwürdige Türkeipolitik ausgesprochen. Daran än- Meine Damen und Herren, der Antrag, die Bundesre- dert sich nichts dadurch, daß wir jetzt in der Regie-gierung solle einen Abschiebestopp erlassen, ist schon rungsverantwortung stehen. Daran darf sich nichts än- aus Rechtsgründen abzulehnen. Das hat Herr Kollege dern, wenn wir selber glaubwürdig bleiben wollen.Veit ausführlich dargelegt, so daß ich mich darauf be- Deswegen gehe ich davon aus, daß die jetzige Regierung ziehen kann. Die Länder wären dafür zuständig; sie ha- bald eine neue Initiative hinsichtlich einer internationa- ben aber von ihrer Möglichkeit nach § 54 Ausländerge- len Konferenz zur Lösung dieser Problematik in diesetz bisher keinen Gebrauch gemacht. Wege leiten wird, daß sie im Rahmen der UNO, im Unabhängig von dieser Kompetenzregelung gibt der Rahmen der OSZE und in bezug auf die USA eine akti- Antrag von Frau Kollegin Jelpke Gelegenheit, gerade ve Demokratisierungsinitiative unterstützen wird undnach den Vorfällen der letzten Wochen noch einmal ei- daß sie sich für eine wirkliche Perspektive der Türkei, in nige grundsätzliche Bemerkungen zu Abschiebungen die Europäische Union integriert zu werden, einsetzen von Kurden zu machen. wird. – Herr Lamers, warum schlagen Sie eigentlich die Augen so auf, wenn Sie mich anschauen? Das ist schön, Nach der Verhaftung Öcalans hat es in Deutschland Herr Lamers. – schwere Ausschreitungen gegeben. Dies können wir nicht dulden, egal, welche politischen Motive zu diesen (Heiterkeit) Taten geführt haben. Dies muß eine Initiative sein, die die Demokratisierung (Beifall bei der F.D.P.) der Türkei mobilisiert. Man sollte aber nicht darüberDer Staat hat selbstverständlich das Recht und die (B) nachdenken, ob die Türkei in der Europäischen Union Pflicht, alle strafrechtlichen und ausländerrechtlichen(D) tatsächlich Platz hat. Dies geschieht ohnehin nicht aus Bestimmungen anzuwenden, zu denen auch Ausweisung Zweifeln an der Einhaltung von Menschenrechten und und Abschiebung gehören. Aber es gilt dabei wieder Demokratie, sondern deshalb, weil die Menschen in der einmal die Devise Herbert Wehners, die er seinerzeit im Türkei Moslems und nicht Christen sind. Zusammenhang mit den Ostverträgen formuliert hat: „Voll anwenden, strikt einhalten!“ Dazu gehört derAb- schiebeschutz gemäß § 51 Ausländergesetz, wonach ein Vizepräsidentin Anke Fuchs: Frau Kollegin, bitte kommen Sie zum Schluß. Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden darf, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner po- litischen Überzeugung bedroht ist. Ein Abschiebungs- Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIEhindernis gemäß § 53 Ausländergesetz besteht, wenn GRÜNEN): Mein letzter Satz. – In den nächsten Tagen dem Ausländer in dem Staat der Abschiebung konkret wird das kurdische Newroz-Fest gefeiert. Ich hoffe aus die Folter oder die Todesstrafe droht oder wenn dort für ganzem Herzen, daß es ein wirkliches Fest wird und die ihn eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben Gewalt nicht weiter eskaliert, nicht in der Türkei undoder Freiheit besteht. Diese Vorschriften müssen nicht nicht bei uns. Ich hoffe, daß diese Aufforderung zurnur voll angewendet, sondern, wie ich zitiert habe, strikt Deeskalation bei allen ankommt: auf seiten der Türkei, eingehalten werden. aber auch auf seiten der PKK. Dazu finden sich deutliche Worte in der „Frankfurter (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und Allgemeinen Sonntagszeitung“ – ich zitiere –: bei der SPD – Abg. Heidi Lippmann-Kasten Wer will, daß wir uns über diese äußerste Grenze [PDS] meldet sich zu einer Zwischenfrage) hinwegsetzen und trotzdem abschieben, soll es deutlich und ohne Beschönigung sagen.

Vizepräsidentin Anke Fuchs: Für eine Zwischen- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE frage ist jetzt kein Raum mehr. Ich lasse, wenn Sie das GRÜNEN]: Das habe ich ja auch gefordert!) gestatten, meine Damen und Herren, keine Kurzinter- Wer diese Grenze überschreitet, ist schamlos. Er ventionen mehr zu, weil wir sehr in zeitliche Bedrängnis paktiert mit den Häschern. Er beschädigt uns und gekommen sind. den Rechtsstaat, den wir auf den Trümmern einer Jetzt hat das Wort der Kollege Max Stadler, F.D.P.- Tyrannei aufgebaut haben. Fraktion. Bitte sehr. (Beifall bei der F.D.P.) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999 2353

Dr. Max Stadler (A) Dies sagte zu Recht der ehemalige Vizepräsident dieses Vizepräsidentin Anke Fuchs: Nun erteile ich das (C) Hohen Hauses, . Wort der Kollegin Uta Zapf. Was heißt dies praktisch? Es ist nicht zu bestreiten, daß Türken kurdischer Herkunft, die aktiv für die Rechte Uta Zapf (SPD): Frau Präsidentin! Sehr geehrte der kurdischen Bevölkerung in der Türkei eintreten, dort Kolleginnen und Kollegen! Der Schlagabtausch in den Repressalien ausgesetzt sind. Interventionen hat gezeigt, daß wir dringend lernen müssen, wie man mit Konflikten umgeht. Ich glaube, (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE daß der richtige Ansatz von der einen wie der anderen GRÜNEN]: Folter!) Seite noch nicht gefunden worden ist. Insbesondere die Eine Abschiebung ist daher keinesfalls zulässig, solange junge Kollegin von der CDU/CSU sollte sich mit der keine verbindlichen und nachprüfbaren Vereinbarungen Natur des Konfliktes einmal etwas vertrauter machen. mit der Türkei über die rechtsstaatliche Behandlung Ab- (Sylvia Bonitz [CDU/CSU]: Danke!) geschobener vorliegen und die Einhaltung solcher Ver- einbarungen nicht gesichert ist. Wenn sie denn zustande Meine Damen und Herren, derFriedensprozeß, der kommen, müssen sie noch im Lichte damit in der Ver- in dem Antrag der PDS eingeklagt wird, ist in der Tat gangenheit gemachter Erfahrungen bewertet werden. dringend erforderlich. Nach der Verhaftung von Öcalan hat es in der Türkei eine Eskalation von Gewalt und Re- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE pression – im übrigen von beiden Seiten – gegeben. Die GRÜNEN]: So ist es!) Ängste, daß eine solche Eskalation außer Kontrolle ge- Ob die Bundesregierung Vereinbarungen, die diesen rät, sind, glaube ich, durchaus begründet. Es gab Bom- Kriterien genügen, zustande bringt, bleibt mit Skepsisbenanschläge; es gab Feuer in einem Einkaufszentrum. abzuwarten, zumal das US State Department in seinem Da waren viele Tote und Verletzte zu beklagen. Menschenrechtsbericht vom 26. Februar dieses Jahres Auf der anderen Seite steht der türkische Generalstab, der Türkei schwere Menschenrechtsverletzungen vor-der die völlige Vernichtung der PKK ankündigt und kei- wirft. nerlei Bereitschaft zur Deeskalation zeigt. Festzustellen Meine Damen und Herren, zumaußenpolitischen ist auch die Weigerung der Regierung und des General- Aspekt der Debatte kann ich aus Zeitgründen nur noch stabes, überhaupt ein Kurdenproblem anzuerkennen und einige wenige Punkte anführen. den Kurden kulturelle Rechte zuzugestehen. Es gibt also eine zunehmende Verhärtung in dieser Frage. Erstens. Allgemein besteht Einigkeit darüber, daß das Kurdenproblem nicht mit militärischen, sondern nur mit Das Verbot der HADEP ist hier schon erwähnt wor- (B) politischen Mitteln gelöst werden kann. den. Das Verfassungsgericht hat noch eine andere Partei (D) verboten, die DKP, die Demokratische Volkspartei, und Zweitens. Wir beobachten mit großer Sorge eine zu- zwar mit einer bemerkenswerten Begründung: Weil sie nehmende Verhärtung der Haltung der türkischen Regie- sich für die kurdische Sprache und Identität einsetze, sei rung in der Kurdenfrage, insbesondere zunehmendedie Einheit der türkischen Nation und die territoriale Diskriminierungen der HADEP. Einheit der Türkei gefährdet. Auch das hat in diesem Drittens. Wir fordern die Bundesregierung auf, imKonflikt zu Verhärtungen geführt. Ich denke, wir müs- Rahmen ihrer EU-Ratspräsidentschaft auf die türkische sen hier ganz deutlich sagen: Wir wollen die territoriale Regierung einzuwirken, gemeinsam mit den Vertretern Einheit der Türkei in keiner Weise gefährden. Wir wol- der weit überwiegenden Mehrheit der Kurden, die sich len vielmehr zu einer friedlichen politischen Lösung die- für eine friedliche Beilegung des Konfliktes einsetzen, ses Konfliktes beitragen. Wir müssen uns in der Tat in einen konstruktiven Dialog mit dem Ziel einer weit- überlegen, mit welchen Instrumenten wir das schaffen. gehenden kulturellen Autonomie für die Kurden einzu- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten treten. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Viertens. Die friedliche Beilegung des Konflikts und Wir haben in diesem Hohen Hause schon einmal den die uneingeschränkte Gewährleistung von Menschen-Beschluß gefaßt, den Sie jetzt wieder aufgreifen, eine und Minderheitsrechten in der Türkei sind entscheiden- internationale Konferenz einzufordern. Aber, ich denke, de Voraussetzungen für die erstrebte Annäherung derman kann auch klüger werden. Wir haben in den letzten Türkei an die Europäische Union. Jahren eine Menge gelernt, unter anderem auch, daß ei- Fünftens. Ebenso unmißverständlich muß der kurdi- ne solche internationale Konferenz möglicherweise dazu schen Seite verdeutlicht werden, daß nur ein gewaltfrei- dient, sich gegenseitig an den Pranger zu stellen, aber er Weg zum Ziel führt. Dies betrifft auch die jüngstennicht zu einer Konfliktlösung führt, für die sich beide Androhungen von Terroranschlägen gegen Urlaubsziele. Teile näherkommen müssen. Wir müssen die Spirale der Gewalttaten führen nur dazu, die bei weiten Teilen der Gewalt durchbrechen. deutschen Bevölkerung durchaus vorhandene Sympathie Wir fordern, daß die Türkei dasVerfahren gegen für die kurdische Sache zu zerstören. Öcalan wirklich transparent und menschenwürdig Vielen Dank. durchführt, daß sie Beobachter zuläßt – wir unterstüt- zen die Initiative des Europarates an dieser Stelle aus- (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU und drücklich: Es muß eine internationale Beobachtung ge- dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ben – und daß die Türkei keine Todesstrafe verhängt. 2354 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999

Uta Zapf (A) Ich denke, das ist ein wichtiger Punkt, zumal die Türkei mundigen Ankündigungen einer neuen Türkei-Politik in (C) schon zugesichert hat, die Todesstrafe ganz aufzuhe-die Welt gesetzt haben. Sie haben bewußt gesagt: Das ist ben. Auch ich weiß von dem Moratorium. Nur kanndas Politikfeld, auf dem wir es mit der außenpolitischen man in der Kürze der Zeit nicht alles ausführlich dar-Kontinuität anders sehen, da wollen wir neue Wege ge- stellen. hen, da wollen wir besonders erfolgreich sein. Sie ha- ben, als der italienische Ministerpräsident D’Alema bei Ich habe im übrigen noch ein paar Vorschläge zu ma- Schröder war, eine deutsch-italienische Initiative in Sa- chen: Wir müssen durch bilaterale Politik und durch ei- chen Türkeipolitik angekündigt. Ich habe Sie schon gemeinsame europäische Politik ne dazu beitragen, einmal gefragt: Was ist daraus geworden? daß eine politische Lösung gefunden wird. Da werden wir im Zusammenhang mit den Menschenrechten eine (Karl Lamers (CDU/CSU): Geheimberatun- ganze Menge an Einwirkung auf die türkische Regie- gen!) rung zu besorgen haben. Wir müssen gleichzeitig die PKK auffordern, die Gewaltanwendung einzustellen. Sie haben bei der Festnahme Öcalans wichtige Chan- Auch die PKK hat einen totalen Krieg gegenüber dercen für politische Initiativen verpaßt, die seinerzeit Türkei erklärt und gesagt, sie werde die militärischenauch Außenminister Fischer gesehen hat. Aber es sind Aktionen auf die gesamte Türkei, insbesondere auf die keine ergriffen worden. Auch haben Sie die deutsche touristischen Gebiete, ausweiten. Dort liegt eine ganze Ratspräsidentschaft, gemeinsame EU-Initiativen ange- Menge an Aufgaben vor uns. kündigt. Bis heute ist davon nichts erkennbar, wenn- gleich es aber wahrscheinlich redliches Bemühen gibt, Ich weiß, daß diese Bundesregierung, auch wenn es Frau Kollegin. Wir werden sehen, was bis zum Ab- nicht spektakulär nach außen dringt, sehr bemüht ist, In- schlußgipfel unserer Präsidentschaft noch passiert. Bis- itiativen zu befördern, die einer solchen Konfliktlösung her aber – außer der üblichen Kritik an der Vorgänger- näherkommen. Aber es wird wahrscheinlich erst nachregierung –: weitgehend Fehlanzeige. Seit Anfang No- den Wahlen in der Türkei überhaupt möglich sein, wie- vember – das müssen wir feststellen – ist hier nichts der miteinander sprachfähig zu werden. Dieses Parla-passiert. ment ist sich darin einig, daß es einen solchenBefrie- dungsprozeß geben muß. Warum muß es ihn geben? (Beifall bei der CDU/CSU) Weil die Türkei zu Europa gehört, das wissen wir alle. Die PDS fordert nun in ihrem Antrag, zu dem ich Es liegt innen- wie außenpolitisch in unserem eigenen mich äußern möchte, die Einleitung eines internationa- deutschen Interesse, daß die Türkei stabil ist. Es liegt in len Friedensprozesses. Seite 3 Ihrer Begründung macht unserem Interesse, daß die Kurden und die Türken in der allerdings deutlich, daß Sie als PDS jegliche kritische Bundesrepublik mit uns friedlich zusammenleben kön- Distanz zur PKK vermissen lassen. Ich möchte Ihnen nen. Die Krawalle auf unseren Straßen sind doch Aus- (B) sagen: Mit diesem Ansatz wird man dem Kurdenpro-(D) fluß des Problems in der Türkei. Dieses Problem muß in blem nicht gerecht. Denn die PKK und ihre Methoden der Türkei mit Kurden und mit Türken gemeinsam ge- tragen dazu bei, daß die Lösung dieses Konfliktes so löst werden. Lassen Sie uns mit einer deutschen Initiati- schwierig ist. Die PKK ist Teil des Problems und nicht ve, mit bilateralen Initiativen und europäischen Initiati- Teil der Lösung. Wenn wir überhaupt weiterkommen ven gemeinsam dazu beitragen, daß der Friedensprozeß wollen, ist es erforderlich, daß alle, die Einfluß nehmen in der Türkei in Gang gebracht wird. Dies ist nicht nur wollen, eine klare Distanzierung von Gewaltanwendung eine humanitäre Forderung, sondern dies ist auch eine und damit eine klare Distanzierung von der PKK zum Forderung in unser aller Interesse. Ausdruck bringen. Ich danke Ihnen. (Beifall bei der CDU/CSU – Heidi Lippmann (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ [PDS]: Aber in Rambouillet sitzt die UCK DIE GRÜNEN) auch mit am Tisch!) – Weil Sie jetzt gerade diesen Zwischenruf machen und Vizepräsidentin Anke Fuchs: Als letzter in dieser weil Sie auch vorhin schon gewollt haben, daß man Ih- Aussprache hat nun der Kollege Ruprecht Polenz,nen den Unterschied zwischen UCK und PKK erklärt, CDU/CSU-Fraktion, das Wort. sage ich folgendes: Mir ist nicht bekannt, daß die UCK in belebten Einkaufsstraßen oder Einkaufszentren Bom- ben geworfen hätte. Mir ist nicht bekannt, daß die UCK (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Ruprecht Polenz in Touristenzentren Gewalt anwenden will und dabei Meine Damen und Herren! Wir haben uns in dieser Wo- den Tod von Touristen in Kauf nimmt. Mir ist nicht be- che im Auswärtigen Ausschuß mit der Türkei-Politik der kannt, daß die UCK ihre Organisationsstrukturen in Bundesregierung befaßt. Es war, glaube ich, nicht nur einer stalinistischen Weise aufbaut, wie die PKK das tut. mein Eindruck, Herr Staatsminister, daß das eigentlich Mir ist nicht bekannt, daß die UCK gegen ihre Mitglie- eine enttäuschende Beratung war. Wenn Frau Kollegin der mit den Methoden des Terrorrismus bis hin zum Zapf gerade davon sprach, die Regierung sei mit ihren Mord – auch das war ja Hintergrund des Haftbefehls ge- Initiativen sehr bemüht, so wissen auch Sie, was das in gen Öcalan – vorgeht. Bitte tun Sie der UCK nicht da- der Zeugnissprache bedeutet. Ich stelle das deshalb fest, durch Unrecht, daß Sie sie mit der PKK in einen Topf weil ich mir schon darüber im klaren bin, wie schwierig werden! es ist, gerade im Bereich der Türkei-Politik Fortschritte zu erzielen. Aber das wußten Sie auch, als Sie die voll- (Beifall bei der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999 2355

Ruprecht Polenz (A) Meine Damen und Herren, die PKK fordert die um- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf(C) gehende Einberufung einer internationalen Friedens- den Drucksachen 14/331 und 14/470 an die in der Ta- konferenz. – Aus Zeitgründen kann ich nur noch zu die- gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. sem Punkt etwas sagen. – Wir halten das nicht für das Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann geeignete Mittel, denn die Ausgangsbasis eines jegli-sind die Überweisungen so beschlossen. chen Lösungsansatzes muß die Erkenntnis sein, daß eine Lösung des Kurdenproblems nicht gegen die Türkei Ich rufe den Zusatzpunkt 8 auf. möglich ist. Wir müssen erst einmal zur Kenntnis neh- men, daß es bei den türkischen Eliten – insbesondere Aktuelle Stunde bei der Justiz, beim Militär und bei der staatlichen auf Verlangen der Fraktion der PDS Bürokratie – die Überzeugung gibt, daß die Türkei ein Einheitsstaat mit einer einheitlichen nationalen Identität Haltung der Bundesregierung zu den u. a. ist. Das kommt in der Anklageschrift der General- durch die ökologische Steuerreform bedingten staatsanwaltschaft in dem Verbotsverfahren gegen die Tariferhöhungen der Deutschen Bahn AG un- HADEP jetzt noch einmal wie in einem Brennglas zum ter besonderer Berücksichtigung der zusätzli- Ausdruck. Ich zitiere aus dem Briefing Nr. 1228 vom chen Belastungen in den neuen Bundesländern 1. Februar 1999: Ich eröffne die Aussprache. Sind Sie damit einver- Es gibt nur eine Identität in der Türkei, und das ist standen, daß wir die Reden der Kollegen Norbert Otto, die türkische Identität. Forderungen nach Anerken- Peter Letzgus und Dr. Michael Meister zu Protokoll nung einer kurdischen Identität sind nur ein erster nehmen? – Das ist der Fall. Schritt in einem hinterhältigen Versuch, das Land zu teilen. Dann gebe ich jetzt dem Kollegen Gerhard Jüt- temann, PDS, das Wort. Das ist die Position der kemalistischen Hardliner. Aber nicht nur von denen: Diese Position wird bis hin zum Staatspräsidenten Demirel offiziell von der Türkei ver- Gerhard Jüttemann (PDS): Sehr geehrte Frau Prä- treten. Damit müssen wir uns auseinandersetzen. Wirsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist natürlich halten diese Position nicht für richtig. Wenn wir dietraurig, wenn man zu einem solchen aktuellen Thema, Türkei aber bewegen wollen, eine andere Sicht des Pro- das eigentlich alle Bürger in Deutschland betrifft und zu blems zu gewinnen, dann müssen wir dort anknüpfen, dem eine Aktuelle Stunde einberufen worden ist, vor ei- wo die Türkei jetzt steht, und nicht dort, wo wir sie uns nem so leeren Haus sprechen muß. Vielleicht sollte sich gerne hinmalen würden. Eine internationale Friedens-die Bundesregierung einmal überlegen, solche Aktuellen (B) konferenz, wie sie jetzt gefordert wird, würde Stunden aus zu anderen Zeiten als Freitag nachmittags, zum (D) Sichtweise der Türkei als Vorwand der Europäer gese- Beispiel zu guten Fernsehzeiten, auf die Tagesordnung hen, nun das zu erreichen, was man 1920 im Vertragzu setzen. von Sèvres nicht geschafft hat, nämlich die Türkei zu Wir wollen hier heute über die angekündigten Fahr- zerschlagen. preiserhöhungen bei der Deutschen Bahn AG reden. Ab Aus Zeitgründen – weil ich für die Anmerkungen zu April kostet der Fernverkehr bundesweit 1,5 Prozent PKK und UCK etwas mehr Zeit gebraucht habe – nurmehr, der Nahverkehr in den alten Bundesländern eben- noch ein Hinweis, in welche Richtung man nach Lösun- falls 1,5 Prozent mehr, in Ostdeutschland durchschnitt- gen suchen muß. Herr Staatsminister, Deutschland allei- lich 5,2 Prozent mehr. Die Preise für Schülermonats- ne wird das nicht können; auch die EU wird das nichtkarten im Osten steigen sogar – das muß ich so deut- alleine können. Im Zweifel wird die EU wegen der grie- lich sagen – um unanständige 9,9 Prozent. Ansonsten chisch-türkischen Spannungen sogar paralysiert sein, als kommt es nicht so oft vor, daß die höheren Zahlen für Gemeinschaft zu handeln. Es wird deshalb vor allemden Osten gelten. Aber wenn es um Preise geht, spielt darauf ankommen, daß es uns gelingt, dieUSA in eine das offenbar keine Rolle. Angleichung der Fahrpreise koordinierte Türkeipolitik einzubeziehen, gemeinsam nennt man das bei der Deutschen Bahn AG. Die An- auf die Türkei einzuwirken und dort die zivilgesell-gleichung der Löhne und der Arbeitslosenquote ist un- schaftlichen Kräfte zu stärken. Diese Kräfte gibt es vor terdessen noch einmal auf unbestimmte Zeit verschoben allen Dingen in der Wirtschaft der Türkei. Daran muß worden. man anknüpfen. Dann kann man – hoffentlich – Schritt Die Deutsche Bahn AG geht mit ihrer Preispolitik für Schritt weiterkommen. Ich will nicht so weit gehen, konsequent weiter auf dem seit der Privatisierung einge- daß man von der Bundesregierung die Lösung des Kur- schlagenen Weg. Sie entfernt sich damit immer weiter denproblems erwarten sollte. Das ist Sache der Türkei von ihrer ursprünglichen Aufgabe, nämlich der Befrie- selbst. Aber dann nehmen Sie, Herr Staatsminister, indigung des gesellschaftlichen Interesses an Mobilität. dieser Frage bitte den Mund in Zukunft nicht mehr soSchnell, sicher, bequem, preiswert und umweltfreund- voll! lich – an diesen fünf Kriterien muß sich die Bahn mes- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) sen lassen. Die ersten vier Kriterien werden seit Jahren immer mehr vernachlässigt, und zwar in einem Tempo, daß den Bahnfahrern Hören und Sehen vergeht und im- Vizepräsidentin Anke Fuchs: Ich schließe diemer mehr von ihnen auf die eigenen vier Räder auswei- Aussprache. chen müssen. 2356 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999

Gerhard Jüttemann (A) Die Deutsche Bahn AG reduziert ihr Personal jährlich Angelika Mertens (SPD): Frau Präsidentin! Meine (C) in unverantwortlicher Weise um 15 000 bis 20 000 Be- Damen und Herren! Zum zweitenmal innerhalb weniger schäftigte. Auch in den kommenden vier Jahren sollen Wochen beschäftigt uns die PDS mit einem Thema zur mindestens 60 000 Stellen bei der Bahn verschwinden. Bahn. Ich kann nur sagen: Sie liefern hier eine richtig Viele Experten und Eisenbahngewerkschafter führen die „gute“ Performance ab. Sie beklagen, daß so wenig Unfallserie bei der Deutschen Bahn AG in den vergan- Leute im Plenum anwesend sind. Ich habe einmal ge- genen Wochen und Monaten auch auf den immer größer schaut: Ihre Fraktion hat 36 Mitglieder, von denen jetzt werdenden Personalmangel und die damit verbundene wohl sechs anwesend sind. Ich beschreibe das einmal so: Demotivation des verbleibenden Personals zurück. Bei Dr. Wolf und die sechs Geißlein sitzen hier. der Bahn scheinen in allen Bereichen statt Fachleuten (Dr. Winfried Wolf [PDS]: Sieben Geißlein!) zunehmend die Kaufleute zu bestimmen. Deswegen gibt es massive Streckenstillegungen im Nahverkehr. Auch Wie beim letztenmal ist auch diese Aktuelle Stunde der Interregio-Bereich schrumpft immer mehr. Von den ziemlich sinnlos. heute noch täglich verkehrenden 434 Interregio-Zügen Haltung der Bundesregierung zu den u. a. durch die sollen in diesem Frühjahr weitere 30 gestrichen werden. ökologische Steuerreform bedingten Tariferhöhun- Gleichzeitig sinken die Erlöse im Fernverkehr. In die- gen der Deutschen Bahn AG unter besonderer Be- sem Bereich fehlen 1998 370 Millionen DM an erwar- rücksichtigung der zusätzlichen Belastungen in den teten Einnahmen. Damit werden die Gesamterlöse im neuen Bundesländern. Fernverkehr um 100 Millionen DM unter denen des Vorjahres liegen. So lautet das genaue Thema dieser Aktuellen Stunde. Mir ist jedenfalls nicht bekannt, daß es derzeit eine ein- Die kundenfeindliche Entwicklung bei der Bahn ist zige durch die ökologische Steuerreform bedingte Tarif- natürlich nicht zufällig. Sie ist das Ergebnis der von der erhöhung bei der Deutschen Bahn AG gibt. Politik im Interesse mächtiger Wirtschaftsgruppen im Laufe der vergangenen Jahrzehnte geschaffenen Rah- Die Deutsche Bahn AG beabsichtigt, ihre Tarife zum menbedingungen, inklusive der Privatisierung der Bahn. 1. April um 1,5 Prozent zu erhöhen. Soweit diese Tarif- Von Rotgrün durfte man erwarten, daß dieser verhee-erhöhungen den Schienenpersonennahverkehr betreffen, renden Entwicklung endlich einmal entgegengesteuert liegt eine Genehmigung der Länder vor. Ein darüber wird. Wenigstens verbal geschah das tatsächlich. Zum hinausgehender Antrag, eventuelle Kostenerhöhungen Beispiel wurde eine Ökosteuer verabschiedet, was sozial wegen der Ökosteuer auf die Nahverkehrstarife umzule- und erst recht ökologisch klingt. Aber in Wirklichkeitgen, ist bisher bei den Ländern nicht gestellt worden. wird die umweltfreundliche Bahn durch die Ökosteuer Wenn Sie dazu etwas wissen wollen, dann sollten Sie mit 172 Millionen DM zusätzlich belastet. Diese Mehr- nicht nur die richtige Frage stellen; vielmehr sollten Sie (B) (D) belastung reicht sie natürlich an ihre Kunden weiter. Das sich auch an den richtigen Adressaten wenden. Das sind heißt, auf all die genannten Preiserhöhungen werdendie jeweiligen Landesregierungen. Wenn Sie etwas zur noch einmal 1,5 Prozent Ökosteuer aufgeschlagen. ökologischen Steuerreform wissen wollen, dann muß ich (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist die Öko- Ihnen sagen, daß Sie dazu in den letzten Wochen wirk- steuer!) lich genügend Gelegenheiten hatten. Wir haben zu fast allen Tageszeiten dazu etwas geboten. Aber ich kann es Was bedeutet das anderes, als daß die neue Regierung gerne wiederholen: Die Regierung und die sie tragenden die autofreundliche und bahnfeindliche Politik der alten Fraktionen halten die Ökosteuer für richtig und für Regierung nahtlos fortsetzt? Die Wirkung der Ökosteuer wichtig, weil sie erstens den Faktor Arbeit entlastet und ist unökologisch, unsozial und verkehrspolitisch sowieso zweitens dazu auffordern soll, mit Energie bewußter unsinnig. Sie belastet wegen der ohnehin stärkerenund damit auch sparsamer umzugehen. Preissteigerungen im Osten die neuen Bundesländer in besonderem Maße. Die Spirale dreht sich immerAußerdem ist es uns angesichts der Bedeutung des Schienenverkehrs gelungen, für den Stromverbrauch der schneller und immer weiter: Höhere Bahnpreise führen Deutschen Bahn AG den halben Regelsteuersatz durch- zu weniger Bahnkunden; weitere Streckenstillegungen bedeuten zunehmenden Autoverkehr; das führt wieder- zusetzen. Genauer gesagt, der Regelsteuersatz der Stromsteuer von 2 Pfennig pro Kilowattstunde ist für um zu weniger Bahnkunden und damit zu höheren den Fahrbetrieb der Schienenbahn sowie der Oberlei- Bahnpreisen. Wenn Sie diesen Kreislauf nicht durchbre- chen oder wenn Sie ihn noch nicht einmal durchbrechen tungsbusse um 50 Prozent auf 1 Pfennig pro Kilowatt- stunde ermäßigt worden. wollen, dann heißt das, daß Ihre Ansprüche weder sozial noch ökologisch sind. Das wird, auf längere Zeiträume Damit diese ganze Veranstaltung hier noch einen bezogen, eine unvergleichlich höhere Rechnung als die- Nutzen hat, will ich zumindest den Versuch machen, die jenige ergeben, die uns schon jetzt als Ergebnis IhrerPDS ein bißchen schlauer zu machen. Vielleicht erspart Politik von der Deutschen Bahn AG präsentiert wird. das uns in Zukunft Zeitverschwendung. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. Erstens. Nach der Bahnreform bestimmt die Deutsche Bahn AG die Preise ihrer Dienstleistungen grundsätzlich (Beifall bei der PDS) eigenverantwortlich. Zweitens. Die Deutsche Bahn AG ist deshalb gegen- Vizepräsidentin Anke Fuchs: Ich erteile das Wort über der Bundesregierung nicht zur Information bei Ta- der Kollegin Angelika Mertens, SPD-Fraktion. riferhöhungen verpflichtet. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999 2357

Angelika Mertens (A) Daraus resultiert drittens, daß sie auch nicht zur Ein- Einstieg in die ökologische Steuerreform noch ein- (C) holung einer Genehmigung bei der Bundesregierung mal geändert werden soll. Die Änderungsanträge verpflichtet ist. werden voraussichtlich am … frühen Vormittag vorliegen. Sie werden Ihnen zum frühestmöglichen Zum Schluß möchte ich zwei Bemerkungen machen. Zeitpunkt per Fax zugeleitet werden. Erstens. Wir können getrost davon ausgehen, daß die Länder konkrete Anträge auf Tariferhöhungen Weiter im heißt es sinngemäß: Ich will Sie nur darüber in- SPNV, mit welcher Begründung auch immer, spitzformieren, daß davon der Personennahverkehr sowie die nachrechnen werden, zumal die Energiepreise – meinDeutsche Bahn AG betroffen sein werden. Kollege Schmidt wird noch darauf eingehen – in den (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ letzten Jahren trotz massiver Steuererhöhungen durch DIE GRÜNEN]: Aber der Kollege Koppelin die alte Bundesregierung insgesamt gesunken sind. blockiert!) Zweitens. Die Attraktivität, besonders die des SPNV und die des ÖPNV, macht sich nicht nur am Preis fest; Das ist dann also das geordnete Gesetzgebungsverfah- vielmehr hat sie sehr viel damit zu tun, wie attraktiv die- ren! se Verkehrsmittel sind: Pünktlichkeit, Vernetzung, ob- Die F.D.P. hat im Vorfeld darauf hingewiesen, daß jektive und subjektive Sicherheit, Bequemlichkeit und nach dem von Kollegin Mertens richtigerweise festge- Schnelligkeit sind einige Kriterien, die über Erfolg und stellten Prinzip Preiserhöhungen, egal aus welchem Mißerfolg entscheiden. Grund, im Nahverkehr folgende Konsequenzen haben: In diesem Sinne wünsche ich der Deutschen BahnEntweder muß eingespart werden, oder der Fahrpreis AG sehr ernsthaft und sehr ehrlich viel Erfolg beimmuß erhöht werden, oder die im Nahverkehr tätigen weiteren Nachdenken über die Steigerung ihrer Attrakti- Aufgabenträger müssen die Erhöhung des Defizitaus- vität. gleiches zugestehen. Nun kann man ja verniedlichend sagen: Das ist alles nur halb so schlimm, der Strompreis (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ ist ja statt um 2 Pfennig nur um 1 Pfennig erhöht wor- DIE GRÜNEN) den. Gegenüber dem Zeitraum vor Inkrafttreten der Ökosteuerreform ist es eine Kostenerhöhung, die offen- Vizepräsidentin Anke Fuchs: Ich erteile das Wort sichtlich durch die gleichzeitig eingeführte Senkung der dem Kollegen Horst Friedrich, F.D.P.-Fraktion. Lohnnebenkosten nicht in vollem Umfang ausgeglichen wird. Das heißt, es bleibt auch für die Bahn eine Ko- (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ stenerhöhung übrig. DIE GRÜNEN]: Horst, wir klatschen bei dir, (B) damit du Applaus kriegst!) Nun beginnt der zweite Akt der Komödie. Ausge-(D) rechnet die, die für die Kostenerhöhungen verantwort- Horst Friedrich (Bayreuth) (F.D.P.): Frau Präsiden- lich sind, heben moralisierend den Zeigefinger und sa- tin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Im Hin- gen: Das gilt aber nicht, Bahn, was du da machst; das ist blick auf die generelle Betrachtung der Bahn kann ichunfair; das darfst du nicht. – An vorderster Front steht mich den Worten der Kollegin Mertens anschließen. Ich leider auch der Kollege Schmidt, will nur noch hinzufügen: Diejenige Partei, die uns die (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ Deutsche Reichsbahn im schrottreifen Zustand überge- DIE GRÜNEN]: Ich bin immer an vorderster ben hat, sollte vielleicht einmal nachdenken, an wel- Front! – Gegenruf von der CDU/CSU: Aber in chem Punkt sie den Zeigefinger hebt. schlechter Gesellschaft!) (Beifall bei der CDU/CSU) der ja nun – das ist eine seiner Nebentätigkeiten – im Ich möchte mich auf den Punkt Preiserhöhungen we- Aufsichtsrat der Deutschen Bahn AG sitzt. Es wäre gen der ökologischen Steuerreform bei der Bahn konzen- vielleicht an der Zeit, Herr Kollege Schmidt, daß Sie trieren. Da läuft ja tatsächlich das Stück ab: Haltet deneinmal Ihre Rolle klären: Entweder sprechen Sie als Dieb! Erst legt Rotgrün in einem chaotischen Gesetzge- Aufsichtsrat der Bahn in der Öffentlichkeit – dann sind bungsverfahren ein Gesetz zu einer sogenannten ökologi- Sie dafür verantwortlich, daß die Bahn ein positives schen Steuerreform vor, von dem überraschenderweiseWirtschaftsergebnis erzielt –, oder Sie melden sich als auch der bisher von den Grünen fast als heilige Kuh be- verkehrspolitischer Sprecher. handelte öffentliche Personennahverkehr betroffen ist. Dann gibt es Proteststürme. Verkehrsminister Franz (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ Müntefering erklärt: Es gibt keine Ausnahme für den öf- DIE GRÜNEN]: Das habe ich getan!) fentlichen Personennahverkehr; alle müssen zahlen. Dann sollten Sie zu den Erhöhungen auf Grund der Ko- Dann gibt es offensichtlich doch genügend Druck.stensituation stehen und sollten die Bahn nicht mit dem Nachdem die Gesetzesberatungen im FinanzausschußZeigefinger darauf hinweisen, daß sie gefälligst Tarifer- bereits abgeschlossen sind, erreicht die mitberatenden höhungen unterlassen soll. Ausschüsse ein staunenswerter Brief der Vorsitzenden, Kollegin Scheel, in dem steht: (Beifall bei der CDU/CSU und der PDS – Al- bert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/DIE Ich darf Sie darüber informieren, daß das vom Fi- GRÜNEN]: Horst Friedrich mit Beifall von nanzausschuß bereits abgeschlossene Gesetz zum CDU/CSU und PDS!) 2358 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999

Horst Friedrich (Bayreuth) (A) Nein, meine Damen und Herren, der Versuch, dienicht wahrer wird, daß man sie als Thema einer Aktuel- (C) Bahn hier als Sündenbock abzustempeln, ist ein ganzlen Stunde in die Tagesordnung setzt. billiger Versuch von Rotgrün, sich aus der mißlungenen Ökosteuerreform zu verabschieden, die, um mit den In Wahrheit kann dieökologisch-soziale Steuerre- Worten meines Kollegen Thiele zu sprechen, weder öko form in gar keiner Weise als Begründung dafür herhal- noch logisch ist, ten, daß wieder an der Fahrpreisschraube gedreht wer- den muß. Im Gegenteil: Die öffentlichen Verkehrsbe- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE triebe insgesamt sind die Nettoprofiteure auf dem Ver- GRÜNEN]: Die ist doch jetzt durch!) kehrsmarkt. sondern schlicht und ergreifend ein weiteres Konzept (Gerhard Jüttemann [PDS]: Der Kunde auch?) zum Geldkassieren. Leider Gottes ist sie wahrscheinlich – Hören Sie einmal zu! Ich habe Ihnen auch in aller Ru- heute durch den Bundesrat gegangen. Dieser Freitag he zugehört. – Die Ökosteuer verbessert nämlich die re- wird als schwarzer Freitag der Steuergesetzgebung in lativen Marktchancen der umweltfreundlichen öffentli- die Geschichte eingehen. chen Verkehrssysteme, insbesondere die Chancen der (Beifall bei der CDU/CSU) Schiene gegenüber dem Straßenverkehr. Wir lehnen dieses Verfahren und auch dieses Gesetz Dies zeigt eine einfache Rechnung, die jeder Viert- strikt ab. klässler durchführen kann: Eine Autofahrt über 100 Ki- lometer verteuert sich durch die Ökosteuer im Durch- Ich will nicht verschweigen, daß es mit Sicherheitschnitt um etwa 50 Pfennige. Eine Zugfahrt über die- viele Gründe gibt, um die Bahn zu kritisieren. Es gibtselbe Strecke würde sich durch die Einführung der Öko- auch viele Anlässe dazu. Aber man sollte als Vertreter steuer um etwa 10 Pfennige verteuern, wenn die Öko- derjenigen, die dafür gesorgt haben, daß die Bahn über steuer voll auf den Fahrpreis umgelegt werden würde. Preiserhöhungen nachdenken muß, nicht mit dem Finger Also selbst unter dieser Annahme kann man sagen, daß auf die zeigen, die das tatsächlich umsetzen müssen,sich die relative Marktchance der öffentlichen Verkehrs- weil die Wirtschaft bestimmten Gesetzmäßigkeitenträger verbessert. unterliegt. Herr Kollege Friedrich, meine Haltung zu dieser Fra- In diesem Sinne bedanke ich mich für die Aufmerk- ge hat mit meiner Funktion überhaupt nichts zu tun. samkeit, Frau Präsidentin, und wäre dankbar, wenn Sie Meinem Vorgänger im Aufsichtsrat, dem Kollegen dem nächsten Redner erst dann das Wort erteilen, wenn Kohn von der F.D.P., haben Sie nie vorgehalten, daß er ich mich hingesetzt habe, damit im Protokoll steht: Bei- gleichzeitig Abgeordneter und Aufsichtsratsmitglied (B) fall bei der F.D.P. war. Das ist sehr komisch. (D) Ich danke Ihnen. (Horst Friedrich [Bayreuth] [F.D.P.]: Er hat sich wenigstens im Gegensatz zu Ihnen nicht (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU so- öffentlich geäußert!) wie des Abg. Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Albert – Das stimmt. Ich habe nie etwas von ihm gelesen oder Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/DIE gehört. GRÜNEN]: Wir klatschen jetzt auch einmal für den armen Horst!) Der entscheidende Punkt ist aber, daß es zu einer Fahrpreiserhöhung, insbesondere zu der im Schienen- nahverkehr, überhaupt keinen Grund gibt. Warum ist Vizepräsidentin Anke Fuchs: Der Beifall ist mei- dies so? Ich will Ihnen drei Gründe nennen. stens so brausend, daß die Zeit für Sie reicht, um Platz zu nehmen, Herr Kollege. – Nun ist das im Protokoll Erstens. Die Strompreise weisen eine sinkende Ten- verzeichnet. denz auf. Im Wege des europäischen Strombinnen- marktes wird sich diese Tendenz verstärken. Das heißt, (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ man kann heute gerade als Großkunde günstiger Strom DIE GRÜNEN]: Ich habe auch geklatscht! In einkaufen. Davon wird auch die Bahn verstärkt profitie- so einem Fall klatsche ich immer! – Christian ren. Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: An Zweitens. Der Mineralölpreis, der im Hinblick auf die vorderster Front klatschst du!) Diesellokomotiven durchaus von Bedeutung ist, ist in Ich erteile das Wort dem Kollegen Albert Schmidt. den letzten Monaten in einer Größenordnung gefallen, was durch die Einführung der Ökosteuer nicht annä- hernd ausgeglichen wird. Der Dieselpreis pro Liter liegt Albert Schmidt (Hitzhofen) (BÜNDNIS 90/DIEheute um mehr als 10 Pfennige unter dem Vorjahres- GRÜNEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undpreis. Wenn man die Energiekosten immer gleich auf Kollegen! Der Titel der heutigen Aktuellen Stunde ent- den Fahrpreis umrechnen würde, müßte logischerweise hält eine falsche Behauptung. Dort ist die Rede vondie Frage aufkommen: Wo bleibt die Fahrpreissenkung? Fahrpreiserhöhungen bei der Bahn, die unter anderem durch die Ökosteuer bedingt seien. Da wird seitens der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN PDS und mit Unterstützung der F.D.P., wie ich gerade und bei der PDS – Zuruf von der PDS: Wo ist festgestellt habe, an einer Legende gestrickt, die dadurch sie denn?) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999 2359

Albert Schmidt (Hitzhofen) (A) Drittens. Darüber hinaus haben wir Bündnisgrüne in die Öffentlichkeit mit Preiserhöhungen, mit schlechter(C) der Koalition durchgesetzt, daß für die Eisenbahnen, die Qualität und mit neuen Unfällen. Mich wundert, wo der U-Bahnen, die Straßenbahnen und die S-Bahnen nur der Kollege Schmidt und wo die Kollegin Mertens real le- halbe Stromsteuersatz gilt, weil wir den ökologischenben. Ich lese – wie Sie auch – Zeitung, und habe vor mir Lenkungseffekt, der im ersten Schritt dieser Energie-einige Schlagzeilen. „Stern“: Ärger auf Rädern; „Süd- kostenbelastung nach unserer Meinung sehr bescheiden deutsche Zeitung“: Die Bahn droht endgültig, aufs Ab- ausfällt, verstärken wollen. stellgleis zu fahren; (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Angelika Mertens [SPD]: Das ist doch nicht das Thema der Aktuellen Stunde!) Eine derart maßvolle Einbeziehung in die Ökosteuer schadet den öffentlichen Verkehrsbetrieben nicht nur„Express“: Spart sich die Bahn in die Katastrophe?; nicht, im Gegenteil – ich wiederhole diesen Punkt –: Sie (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ liefert den notwendigen Anreiz, auch im Bereich der DIE GRÜNEN]: Davon habe ich nicht gespro- Schiene und im Bereich des öffentlichen Nahverkehrs chen! Ich habe zu den Fahrpreisen gesprochen für einen sparsamen und effizienten Energieeinsatz zu und nicht zu der von Ihnen in die Welt ge- sorgen. Dies steht in Übereinstimmung mit dem von der setzten Legende!) Deutschen Bahn AG selbst aufgelegten„Energieein- sparprogramm 2005“, das vorsieht, bis zum Jahr 2005 „Berliner Tagesspiegel“: Das Gespenst der Schrumpf- den Stromverbrauch um satte 25 Prozent zu reduzieren. bahn kehrt zurück; „Express“: Der tägliche Bahnhorror; „FAZ“ – Lieblingslektüre von Abgeordneten einiger an- Ich habe mir einmal die bisherige Entwicklung ange- derer Parteien –: Bei der Bahn nehmen die schlechten schaut. Seit 1990 hat sich der Stromverbrauch bei derNachrichten kein Ende; „Frankfurter Rundschau“: Auch Deutschen Bahn um 16 Prozent, von 52 Gigawattstun- die Treuesten verzweifeln jetzt an der Bahn. Last, not den auf 44 Gigawattstunden, reduziert. Das heißt, diese least noch eine Zeitschrift für junge Frauen, „Lisa“, die Tendenz zur Energieeinsparung durch höhere Effizienz schreibt: Verspätungen, überhöhte Preise, mangelnde und durch bessere Logistik wird durch die ÖkosteuerSicherheit – das Chaosunternehmen „Deutsche Bahn“ nicht nur beschleunigt und verbessert, sondern sie sorgt steht im Kreuzfeuer der Kritik. dafür, daß der Energieeinkaufspreis für die Bahn trotz Ökosteuer summa summarum sinken wird. Die Legende (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ von einer Fahrpreiserhöhung, die durch die Ökosteuer DIE GRÜNEN]: Das hat nichts mit der Öko- notwendig würde, ist durch die Sachlage überhaupt nicht steuer zu tun, Herr Kollege Wolf! Überhaupt gerechtfertigt. Diese Auffassung werde ich auch in Zu- nichts!) (B) kunft vertreten. Wenn Sie völlig an der Öffentlichkeit vorbeireden wol- (D) len, Herr Schmidt, dann reden Sie weiter so, wie Sie ge- Sie, Herr Kollege Friedrich, als Vertreter einer Partei, redet haben. Das gilt auch für Sie, Frau Mertens. Aber die viel mit Wirtschaftspolitik zu tun hatte, sollten wis- wenn Sie sich ein bißchen in Ihrem Wahlkreis umschau- sen, daß es ein einfaches kaufmännisches Gesetz gibt: en, ein bißchen Zeitung lesen und ein bißchen mit Kol- Wenn es in einem Betrieb an einer Stelle Kostenerhö- leginnen und Kollegen reden, hungen und an einer anderen Stelle Kostensenkungen gibt, dann wird man diese Kosten zunächst gegeneinan- (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ der aufrechnen, bevor man auf den Markt geht, auf dem DIE GRÜNEN]: Sie reden nicht zum Thema!) man eigentlich erfolgreich sein will, und sagt: man müs- se den Verkaufspreis seiner Ware erhöhen. Das ist mei- – Ich rede genau zum Thema, Herr Schmidt –, ne Auffassung vom unternehmerischen Handeln. Infol- (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ gedessen sehen wir das sehr gelassen. DIE GRÜNEN]: Ökosteuer und Fahrpreise heißt das Thema!) Auch der zweite und dritte Schritt der Ökosteuerre- form werden die Wettbewerbsposition der öffentlichen dann wissen Sie, daß Sie darauf eingehen müssen. Verkehrssysteme weiter verbessern. Das ist von uns durchaus so gewollt. (Beifall bei der PDS) Zur Ökosteuer hat der Kollege Friedrich das Richtige (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gesagt. Es ist einfach Tatsache, daß, wenn Sie das öko- sowie bei Abgeordneten der SPD) logischste Verkehrsunternehmen mit einer zusätzlichen Steuer belasten und es ankündigt, Vizepräsidentin Anke Fuchs: Zum Abschluß er- (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ teile ich das Wort dem Kollegen Dr. Winfried Wolf, DIE GRÜNEN]: Gleichzeitig sinken die Ener- PDS-Fraktion. gieeinkaufspreise!) deswegen die Tarife zu erhöhen, Herr Aufsichtsrat Dr. Winfried Wolf (PDS): Sehr geehrte Frau Präsi- Schmidt, man das zur Kenntnis nehmen und darüber dentin! Da es der Wahrheitsfindung dient, habe ich ein diskutieren muß. Lederjackett angezogen. Ich möchte zunächst auf Frau Mertens eingehen: Nicht die PDS beschäftigt uns hier Ich bin der Meinung, daß es nicht nur zu einer direk- mit dem Thema Bahn. Vielmehr beschäftigt die Bahnten Tariferhöhung kommt, sondern – das hat Herr 2360 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999

Dr. Winfried Wolf (A) Schmidt in der Presse gesagt, ob als Aufsichtsrat oder dem direkten Weg über Leipzig. So fallen entsprechend (C) verkehrspolitischer Sprecher, ist egal – zu einer doppel- mehr Tarifkilometer bei der Bahn an. ten Preiserhöhung. Dazu ein Zitat aus der „Süddeut- (Beifall bei der PDS – Albert Schmidt [Hitz- schen Zeitung“: Zu der normalen Tariferhöhung kommt hofen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie noch – das ist jetzt ein Zitat von Herrn Schmidt – die reden nicht zum Thema, Kollege Wolf! Zum Preiserhöhung auf kaltem Wege dadurch, daß weitere Thema! Nur einen Satz!) 200 Fernverkehrsverbindungen eingestellt werden und die Leute gezwungen werden, von bisherigen Interregio- Zum Schluß möchte ich Sie darauf hinweisen, daß die zügen und D-Zügen auf IC- oder sogar ICE-Züge umzu- Bahn momentan eine Philosophie verfolgt – gerade Sie steigen und noch einmal höhere Preise zu zahlen. müssen das zur Kenntnis nehmen –, die dem absolut entgegengesetzt ist, was sie behauptet. Ich zitiere aus der (Albert Schmidt [Hitzhofen] [BÜNDNIS 90/ „Deutschen Verkehrs-Zeitung“, in der sich Herr Sinnek- DIE GRÜNEN]: Das hat wieder nichts mit der ker aus dem Frachtbereich so äußert: Das Warten auf Ökosteuer zu tun!) den Kunden bei der Bahn gehört jetzt endgültig der Ver- Es kommt hinzu, daß in besonderem Maße die neuen gangenheit an. – Das ist die Philosophie der heutigen Bundesländer betroffen sind, und zwar auf verschiedene Bahn, nämlich keine Rücksicht auf die Kunden und auf Art und Weise: zum Beispiel durch die schlechte Quali- die Belange eines ökologischen Verkehrs zu nehmen. tät, die bei der Bahn im Osten angeboten wird, undSie macht im Grunde Politik gegen den Markt und ge- durch das Streckensterben, das es in den neuen Bundes- gen die Kunden und hat so die absurde Teufelsspirale in ländern viel stärker gibt als anderswo. Gang gesetzt: neue Tariferhöhungen, ein höherer Fahr- gastverlust, neue Tariferhöhungen usw. Damit fährt sie Zur PDS und ihrer Verantwortung möchte ich nur so- auf das Abstellgleis. viel sagen: Ich halte es für einen schweren verkehrspoli- Danke schön. tischen Fehler, daß die SED in ihrer 40jährigen Regie- rungszeit versucht hat, beides, sowohl Straßen als auch (Beifall bei der PDS) Schienenwege, zu bauen. Beides hat sie halb schlecht oder halb gut gemacht. Sie hat 40 Jahre die Chance ge- Vizepräsidentin Anke Fuchs: Die Aktuelle Stunde habt, eine Wende im Bereich des Verkehrs herbeizufüh- ist beendet. ren – sie hat es nicht geschafft. Wir sind damit am Schluß unserer Tagesordnung. Ich Das rechtfertigt aber in keiner Weise, daß im Jahre 10 berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages nach der deutschen Einheit dieser Zustand im Ostenauf Mittwoch, den 24. März 1999, 13 Uhr ein. weiterhin anhält. Man findet solch absurde Zustände, (B) daß man mit dem ICE von Berlin nach MünchenDie Sitzung ist geschlossen. (D) schneller über und Hannover kommt als auf (Schluß 16.19 Uhr) Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999 2361

(A) Anlagen zum Stenographischen Bericht (C)

Anlage 1 entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich Liste der entschuldigten Abgeordneten Storm, Andreas CDU/CSU 19.3.99 entschuldigt bis Abgeordnete(r) Dr. Thalheim, Gerald SPD 19.3.99 einschließlich Thiele, Carl-Ludwig F.D.P. 19.3.99 Balt, Monika PDS 19.3.99 Weiß (Groß-Gerau), CDU/CSU 19.3.99 Gerald Baumeister, Brigitte CDU/CSU 19.3.99 Wieczorek (Duisburg), SPD 19.3.99 Behrendt, Wolfgang SPD 19.3.99 *) Helmut Böttcher, Maritta PDS 19.3.99 Wiesehügel, Klaus SPD 19.3.99 Dautzenberg, Leo CDU/CSU 19.3.99 Willner, Gert CDU/CSU 19.3.99 Diemers, Renate CDU/CSU 19.3.99 Wissmann, Matthias CDU/CSU 19.3.99 Dörflinger, Thomas CDU/CSU 19.3.99 Dr. Wodarg, Wolfgang SPD 19.3.99 *) Dr. Dückert, Thea BÜNDNIS 90/ 19.3.99 Wolf, Aribert CDU/CSU 19.3.99 DIE GRÜNEN Würzbach, Peter Kurt CDU/CSU 19.3.99 Fischer (Karlsruhe-Land), CDU/CSU 19.3.99 —————— Axel *) für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versamm- Friedrich (Altenburg), SPD 19.3.99 lung des Europarates Peter Glos, Michael CDU/CSU 19.3.99 Hartnagel, Anke SPD 19.3.99 Anlage 2 Hempelmann, Rolf SPD 19.3.99 Hirche, Walter F.D.P. 19.3.99 Zu Protokoll gegebene Reden Dr. Höll, Barbara PDS 19.3.99 zur Aktuellen Stunde betr.: Haltung der Bun- (B) desregierung zu den u. a. durch die ökologische (D) Hofbauer, Klaus CDU/CSU 19.3.99 Steuerreform bedingten Tariferhöhungen der Hornung, Siegfried CDU/CSU 19.3.99 *) Deutschen Bahn AG unter besonderer Berück- Jünger, Sabine PDS 19.3.99 sichtigung der zusätzlichen Belastungen in den neuen Bundesländern Leidinger, Robert SPD 19.3.99 (Zusatztagesordnungspunkt 8) Lintner, Eduard CDU/CSU 19.3.99 Norbert Otto (Erfurt) (CDU/CSU): Das Versagen der Metzger, Oswald BÜNDNIS 90/ 19.3.99 Bundesregierung wird an keiner Stelle so deutlich wie DIE GRÜNEN bei der Ökosteuer. Die eine Regierungspartei, die sich Michels, Meinolf CDU/CSU 19.3.99 gerne mit dem Zusatz „ökologisch“ schmückt, verteuert Möllemann, Jürgen W. F.D.P: 19.3.99 massiv die Energiekosten für Bus und Bahn. Die andere Regierungspartei, die gerne vorgibt, die Interessen des Ortel, Holger SPD 19.3.99 Kleinen Mannes zu vertreten, zieht genau diesem Klei- Ostrowski, Christine PDS 19.3.99 nen Mann mit der Zusatzsteuer das Geld aus der Tasche. Dr. Pick, Eckhart SPD 19.3.99 Zusammen ergibt das eine Ökosteuer, die unsozial, un- gerecht und unökologisch ist – also unsinnig! Pieper, Cornelia F.D.P. 19.3.99 Verehrte Kolleginnen und Kollegen von SPD und Scherhag, Karl-Heinz CDU/CSU 19.3.99 Bündnis-Grünen, halten Sie eine Steuer für gerecht, die Schmidt-Zadel, Regina SPD 19.3.99 die Stromkosten bei der Bahn AG um 7 Prozent erhöht, Schmitz (Baesweiler), CDU/CSU 19.3.99 während PKW und LKW durch die Erhöhung der Mine- Hans Peter ralölsteuer nur mit Steigerungen von 5 beziehungsweise 6 Prozent belastet werden? Und wie steht es mit dem Schröder, Gerhard SPD 19.3.99 Gleichheitsgrundsatz, wenn die Energiekosten für Bin- Dr. Schwarz-Schilling, CDU/CSU 19.3.99 nenschiffahrt und Luftverkehr sogar unverändert blei- Christian ben? Der ganze Irrwitz dieser Ökosteuer wird an einem Dr. Seifert, Ilja PDS 19.3.99 kleinen Beispiel deutlich: Selbst Bahnstrom aus regene- rativen Energiequellen wird steuerlich belastet. Die Siemann, Werner CDU/CSU 19.3.99 Bahn AG bezieht 10 Prozent ihres Stroms aus klima- Dr. Skarpelis-Sperk, SPD 19.3.99 neutraler Wasserkraft. Und auch hier wird mit der neuen Sigrid Steuer abkassiert. 2362 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999

(A) Glauben Sie im Ernst, die Anreize, vom Auto auf die hin zu umweltfreundlichen und energieeffizienten Ver- (C) Bahn umzusteigen, werden steigen, wenn die Fahrpreise kehrsträgern nicht zu, sondern konterkariert sie. Die wegen der Ökosteuer deutlich angehoben werden müs- Mehrbelastungen durch die Energiesteuer betragen für sen? Ich bin auf Ihre Erklärung gespannt, wie Sie denden PKW 5 Prozent, für den Lkw 6 Prozent, für die Menschen in den neuen Ländern klarmachen wollen,Bahn 7 Prozent. Das verschlechtert die Wettbewerbs- daß durch Ihre Politik zwar vieles teurer, aber noch lan- position der Bahn und wird nicht dazu beitragen, mehr ge nicht alles besser wird. Sie glauben doch wohl nicht Verkehr auf die Schiene zu bringen. wirklich, daß nach Einführung der Ökosteuer eine Gü- tertonne mehr von der Straße auf die Schiene verlagert Nein, diese Steuer ist weder öko- noch logisch. Der wird. Im Gegenteil: Der LKW-Verkehr wird in Relation umweltfreundliche ÖPNV, soweit nicht schienengebun- sogar noch weitaus weniger belastet. Und erst rechtden – und das ist bis auf wenige Ausnahmen der ge- bringen Sie keinen Menschen durch die Ökosteuer dazu, samte ÖPNV in den Flächenländern im Osten Deutsch- vom Auto auf Bus und Bahn umzusteigen. lands –, wird von der neuen Steuer voll getroffen. Auch in meiner Region, dem Jerichower Land und dem Ohre- Insgesamt verpaßt die Ökosteuer also das erstrebens- kreis in Sachsen-Anhalt (das sind 80 Prozent ländliche werte Ziel, durch Verkehrsverlagerung auf die Schiene Fläche) stellt der ÖPNV durch die Anbindung der länd- Energie einzusparen und Schadstoffemissionen zu redu- lichen Räume an die Mittelzentren einen wichtigen zieren. Anstatt Bahn AG und ÖPNV im Wettbewerb mit Faktor für die regionalwirtschaftliche Entwicklung und dem Individual- und dem Flugverkehr zu stärken,die Mobilität der Menschen dar. schwächen Sie ihre Stellung auch noch. Die Umweltverträglichkeit des ÖPNV gegenüber Ein konkretes Beispiel: Alleine den Verkehrsbetrie- dem Individualverkehr ist unbestritten. Ihn jetzt zu bela- ben in Erfurt entstehen durch die neue Steuer Mehraus- sten, ist völlig widersinnig. Die im Ausgleich vorgese- gaben für Bus und Straßenbahn in Höhe von 305 000hene Ausgabenminderung bei den Rentenversicherungs- Mark pro Jahr. Bei der Bahn AG liegen die Belastungen beiträgen von 0,4 Prozent reicht zur Kompensierung der sogar bei 280 Millionen DM. Daß diese ZusatzkostenMehrbelastungen nicht aus. durch die Streichung von Personal und Linien oder durch Fahrpreiserhöhungen wieder hereingeholt werden Was wird passieren? Auch der ÖPNV wird die Tarife müssen, ist doch sonnenklar. Oder glauben Sie, daß der erhöhen oder sein Leistungsangebot einschränken müs- Städtkämmerer irgendwo noch 300 000 DM rumliegen sen – beides kann doch niemand wollen. Die Wettbe- hat? werbssituation für die Chemieindustrie, Braunkohle und Landwirtschaft in den NBL wird sich weiter ver- Bestraft werden also hier vor allem Pendler, Men-schlechtern. Allein in ST ergeben sich aus der Anhebung schen ohne PKW und insbesondere ältere Mitbürger, die (B) der Mineralölsteuer Mehrkosten von fast 7 Millionen(D) auf Bus und Bahn angewiesen sind. Sieht so die von Ih- DM für die Landwirtschaft, das sind 6 DM pro Hektar. nen vielfach propagierte soziale Gerechtigkeit aus?Die Gleichstellung mit dem produzierenden Gewerbe ist Wenn ja, dann tut es mir um unser Land für die kom-eine Mogelpackung, weil alle Nebenerwerbsunterneh- menden Jahre wirklich leid. men (45 Prozent in ST) und fast alle Familienbetriebe Ich hätte nie gedacht, daß ich einmal die ökologisch (46 Prozent) aufgrund des Sockelbetrages voll belastet sinnvollsten Massenverkehrsträger Bahn und Bus gegen werden. Dieser Sockelbetrag, der für Erdgas/-öl und eine rotgrüne Regierung verteidigen muß. An der heuti- Strom gilt, bedeutet eine Reduzierung des Einkommens gen Debatte sehen Sie, wie weit wir inzwischen ge-um 2 000 DM/Jahr für jeden landwirtschaftlichen Be- kommen sind! trieb. Wer da von Bagatellgrenze spricht, hat die Realität wohl völlig aus den Augen verloren. Peter Letzgus (CDU/CSU): Die heute durch den Die Umschichtung zwischen Steuern und Sozialab- Bundesrat verabschiedete Energiesteuer führt nicht nur gaben, so ergeben die Berechnungen, wird für viele zu einer zusätzlichen Tariferhöhung bei der Deutschen Menschen zu Mehrbelastungen führen. Die Energiesteu- Bahn AG, sondern trifft auch den Mittelstand, die er erhöht die Wohnnebenkosten deutlich. Die privaten Wirtschaft, die Landwirtschaft, den ökologischen Ver- Haushalte mit verhältnismäßig geringem Verbrauch be- kehrsträger ÖPNV – daher wohl der Name Ökosteuer – zahlen anders als die Stromgroßabnehmer den vollen deutschlandweit, aber speziell die NBL. Das ist das Steuersatz – das macht doch keinen Sinn! Viele Mieter falsche Signal für den „Aufbau Ost“. Insofern hätte in den NBL, die in noch unsanierten Plattenbauten woh- ich es begrüßt, wenn diese „Aktuelle Stunde“ sich nen, werden durch die erhöhten Heizkosten stark bela- nur mit den durch die sogenannte Ökosteuer zusätz- stet werden – und das sind oft nicht die sozial Starken. lichen Belastungen für die NBL befaßt hätte, ohne Sachsen-Anhalt hat deutschlandweit die meisten Ar- der Deutschen Bahn AG hier indirekt den Buhmann zu- beitslosen. Sie und sozial Schwache werden durch den schieben zu wollen. Nicht die DB AG trägt die Schuld Preisanstieg von 4 Prozent bei den Energiekosten getrof- für die bevorstehenden Tariferhöhungen, sondern die fen, denn der Einzelhandel wird diese neue Verbrau- rotgrüne Regierung mit ihren verhängnisvollen Steuer- chersteuer weitergeben. Der Landtag von Sachsen- plänen. Anhalt hat mit großer Mehrheit die Landesregierung Bei der DB AG gibt es seit 1994 ein Energiesparpro- aufgefordert, die sogenannte Ökosteuer im Bundesrat gramm, das vorsieht, den Verbrauch bis zum Jahr 2005 abzulehnen. Die SPD-Regierung, die von der PDS tole- um 25 Prozent zu senken. Daher trifft die mit dem neuen riert wird, ist – soviel ich weiß – dieser Forderung nicht Gesetz immer wieder beschworene Lenkungsfunktion nachgekommen. Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999 2363

(A) Abschließend daher eine Bemerkung an die PDS-Steuersatz und unter Abzug der Senkung der Lohnzu-(C) Fraktion im Bundestag: Es wäre besser gewesen, anstatt satzkosten verbleiben der Deutschen Bahn etwa 172 hier diese „Aktuelle Stunde“ zu beantragen, sie hätten Millionen DM Mehrkosten, die weiteren Träger des entsprechenden Druck auf die Landesregierung in STÖPNV müssen mit Mehrausgaben von rund 80 Millio- ausgeübt – dazu sind sie in der Lage, denn nur sie stüt- nen DM rechnen. Es liegt auf der Hand, daß dies an zen diese Regierung –, damit diese ihre Zustimmung für die Kunden weitergegeben werden muß und zu einer das für die NBL so schädliche Gesetz verweigert hätte. Verschlechterung der Attraktivität des ÖPVN führen wird. Dr. Michael Meister (CDU/CSU): In den Anhörun- gen im Fachausschuß und in vielen öffentlichen Stel- Die Träger des ÖPNV haben genau zwei Möglich- lungnahmen haben Experten immer wieder auf die ab- keiten, diese Mehrkosten zu verkraften. Der eine Weg surde ökologische Wirkung der rotgrünen Öko-Steuer ist die Weitergabe an die Kunden und die Verteuerung hingewiesen. Unter anderem war Ihnen bekannt, daß die des ÖPNV. Der andere Weg ist die Reduzierung des durch die Stromsteuer, Mineralölsteuer in die Höhe ge- Angebots. Beides kann nicht im Sinne eines nachhaltig henden Kosten im ÖPNV unweigerlich zu Fahrpreis-sinnvollen ökologischen Wirtschaftens sein. Beide Op- erhöhungen auf breiter Front führen würden. Sie haben tionen werden insbesondere den ÖPNV im ländlichen diese Warnungen, wie viele andere, vor dem Beschluß Raum und im Einzugsbereich mittlerer und kleinerer im Deutschen Bundestag in den Wind geschlagen und Städte treffen. Der ÖPNV in diesen Regionen ist in der stehen nun auch in diesem Bereich vor dem Scherben- Regel ausschließlich über den Busverkehr organisiert, haufen der eigenen Politik: Die Bilanz weist einenfür den der volle Steuersatz anzurechnen ist. Dies wird enormen Verlust an Glaubwürdigkeit und ökologischer den Anreiz, vom Auto in den ÖPNV umzusteigen, dra- Kompetenz auf, selbst die Ihnen eigentlich wohlgeson- stisch senken. Sinkende Attraktivität im Vergleich zum nenen Umweltfachverbände haben keinen Weg mehrAuto führt zu sinkender Nachfrage des ÖPNV-Ange- gesehen, diese Bilanz aufzuhellen. Vor allem – und dies bots, die schlechtere Auslastung der angebotenen Ver- ist sicher das Schlimmste –: Erhöhungen der Tarife für kehre wird Stillegungsüberlegungen nach sich ziehen. den ÖPNV sind unausweichlich. Politischer Verlierer dieser Gesetzgebung ist die rot- Vor diesem Hintergrund ist es ein unglaublichergrüne Koalition. Eigentlicher Verlierer aber ist das Kon- Vorgang, wenn Vertreter der Regierungskoalition nun zept der ökologischen Marktwirtschaft, das ausgerechnet in bester Haltet-den-Dieb-Manier denjenigen, die denvon einer rotgrünen Regierung als reine Einnahmequelle Scherbenhaufen ihrer Politik im Alltag eines Verkehrs- disqualifiziert wird. Da damit einem parteiübergreifen- unternehmens in die Praxis umsetzen müssen, Un-den Politikansatz, der Schutz der natürlichen Ressourcen redlichkeit vorwerfen. Es ist erstaunlich, mit welcherund unserer Lebensgrundlagen diskreditiert wird, sollte (B) Selbstgerechtigkeit sie die Belastungsrechnungen derdie rotgrüne Regierung zumindest eine Konsequenz zie- (D) Unternehmen vom Tisch wischen. hen und dafür sorgen, daß die weiteren Stufen dieser Ökosteuer nicht zu einem noch schlimmeren Gesetzes- Im Entwurf des Ökosteuergesetzes der rotgrünenwerk geraten, sondern die fatalen Folgen der ersten Bundesregierung haben sich Konzeptionslosigkeit und Stufe heilen. Ahnungslosigkeit kombiniert. Die Ökosteuer ist eine der Gelddruckmaschinen der rotgrünen Bundesregierung, sie ist von positiven Lenkungswirkungen meilenweit entfernt. Sie schafft nicht zusätzliche Anreize für einAnlage 3 umweltverträgliches Verhalten, sie verschlechtert gar die Rahmenbedingungen, wie sich am Beispiel des Amtliche Mitteilungen ÖPNV leicht aufzeigen läßt. Der Vorsitzende des folgenden Ausschusses hat mit- Die Verkehrspolitiker der CDU/CSU-Fraktion haben geteilt, daß der Ausschuß gemäß § 80 Abs. 3 Satz 2 der in den Ausschußberatungen darauf gedrungen, die Bahn Geschäftsordnung von einer Berichterstattung zu der und den ÖPNV von der zusätzlichen Steuerlast auszu- nachstehenden Vorlage absieht: nehmen. Dies ist im Sinne einer ökologischen Len- kungswirkung dieser Steuer, die die Attraktivität des Auswärtiger Ausschuß ÖPNV im Vergleich zum Individualverkehr erhöhen – Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung über die Tätigkeit des soll. Diesen Widerspruch Ihres Gesetzes haben Sie ja Europarats für die Zeit vom 1. Juli bis 31. Dezember eingesehen, sind aber inkonsequent auf dem halben We- 1997 ge stehen geblieben: Nun wird die Bahn und der schie- – Drucksachen 13/11309, 14/69 Nr. 1.10 – nengebundene öffentliche Personennahverkehr nur mit – Unterrichtung durch die deutsche Delegation in der Parla- dem halben Steuersatz belastet, während der schie- mentarischen Versammlung der OSZE nenungebundene Busverkehr die Steuererhöhung in über die Siebte Jahrestagung der Parlamentarischen Versammlung der OSZE vom 7. bis 10. Juli 1998 in voller Höhe verkraften muß. Diese Unterscheidung zwi- Kopenhagen schen unterschiedlichen Verkehrsträgern ist zum einen – Drucksachen 13/11466, 14/69 Nr. 1.20 – in der Praxis der Verkehrsverbünde überhaupt nicht dar- – Unterrichtung durch die Delegation der Interparlamentari- stellbar. Es gibt auch keinerlei sachlichen Rechtferti- schen Gruppe der Bundesrepublik Deutschland gungsgrund für diese Differenzierung. Unter dem Strich über die 100. interparlamentarische Konferenz vom müssen die Träger des ÖPNV mit erheblichen Kosten- 7. bis 12. September 1998 in Moskau mehrbelastungen rechnen: Auch bei dem ermäßigten – Drucksachen 14/53, 14/153 Nr. 2 – 2364 Deutscher Bundestag – 14. Wahlperiode – 28. Sitzung. Bonn, Freitag, den 19. März 1999

(A) Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben Drucksache 13/10487 Nr. 2.1 (C) Drucksache 13/10487 Nr. 2.2 mitgeteilt, daß der Ausschuß die nachstehenden EU- Drucksache 13/10487 Nr. 2.3 Vorlagen bzw. Unterrichtungen durch das Europäische Drucksache 13/10487 Nr. 2.4 Drucksache 13/10487 Nr. 2.13 Parlament zur Kenntnis genommen oder von einer Be- Drucksache 13/10892 Nr. 2.30 ratung abgesehen hat. Drucksache 13/11106 Nr. 2.3 Drucksache 13/11106 Nr. 2.7 Auswärtiger Ausschuß Drucksache 13/11106 Nr. 2.20 Drucksache 14/74 Nr. 2.37 Drucksache 14/309 Nr. 2.45 Ausschuß für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen Drucksache 14/272 Nr. 149 Haushaltsausschuß Drucksache 14/272 Nr. 151 Drucksache 14/74 Nr. 2.61 Drucksache 14/272 Nr. 152 Drucksache 14/342 Nr. 2.24 Drucksache 14/272 Nr. 153 Drucksache 14/272 Nr. 154 Ausschuß für Wirtschaft und Technologie Drucksache 14/309 Nr. 2.18 Drucksache 14/309 Nr. 2.25 Drucksache 14/74 Nr. 2.67 Drucksache 14/309 Nr. 2.41 Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Drucksache 14/309 Nr. 2.12 Drucksache 14/74 Nr. 2.72 Drucksache 14/309 Nr. 2.47 Drucksache 14/74 Nr. 2.88 Drucksache 14/309 Nr. 2.49 Drucksache 14/272 Nr. 168 Drucksache 14/309 Nr. 2.54 Drucksache 14/272 Nr. 170 Drucksache 14/309 Nr. 2.62 Drucksache 14/272 Nr. 171

Ausschuß für Gesundheit Ausschuß für Bildung und Forschung Drucksache 13/4678 Nr. 2.16 und Technikfolgenabschätzung Drucksache 13/6129 Nr. 1.5 Drucksache 14/309 Nr. 1.2 Drucksache 13/7017 Nr. 2.1 Drucksache 14/309 Nr. 2.38 Drucksache 13/7017 Nr. 2.7 Drucksache 14/309 Nr. 2.39 Drucksache 13/7017 Nr. 2.15 Drucksache 14/309 Nr. 2.51 Drucksache 13/8106 Nr. 2.25 Drucksache 14/309 Nr. 2.60 Drucksache 13/8508 Nr. 2.1 Drucksache 13/8508 Nr. 2.2 Ausschuß für Angelegenheiten der Europäischen Union Drucksache 13/8508 Nr. 2.4 Drucksache 13/8508 Nr. 2.16 Drucksache 14/272 Nr. 1.98 Drucksache 13/8508 Nr. 2.28 Drucksache 14/309 Nr. 1.12 Drucksache 13/8615 Nr. 1.9 Drucksache 14/309 Nr. 1.13 Drucksache 13/8615 Nr. 2.1 Drucksache 14/309 Nr. 2.13 Drucksache 13/8615 Nr. 2.18 Drucksache 14/309 Nr. 2.55 Drucksache 13/8615 Nr. 2.112 Drucksache 14/309 Nr. 2.58 Drucksache 13/9312 Nr. 1.14 Drucksache 14/309 Nr. 2.61 (B) Drucksache 13/9819 Nr. 1.3 (D) Drucksache 13/10072 Nr. 2.13 Ausschuß für Kultur und Medien Drucksache 13/10361 Nr. 2.42 Drucksache 14/272 Nr. 216

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